Kunst in der DDR – 30 Jahre danach [1 ed.] 9783737011679, 9783847111672


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Kunst in der DDR – 30 Jahre danach [1 ed.]
 9783737011679, 9783847111672

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Kunst und Politik Band 22/2020

KUNST UND POLITIK JAHRBUCH DER GUERNICA-GESELLSCHAFT Begründet von Jutta Held Herausgegeben von Andrew Hemingway, Martin Papenbrock und Norbert Schneider (†)

Wissenschaftlicher Beirat Christoph Bertsch, Innsbruck Carol Duncan, New York Anna Greve, Bremen Jost Hermand, Madison/Berlin Annegret Jürgens-Kirchhoff, Tübingen Barbara McCloskey, Pittsburgh Frances Pohl, Claremont/California Ernst Seidl, Tübingen Ellen Spickernagel, Gießen Peter Weibel, Karlsruhe

KUNST UND POLITIK JAHRBUCH DER GUERNICA-GESELLSCHAFT Kunst und Politik Band 22/2020 Schwerpunkt: Kunst der DDR – 30 Jahre danach Herausgeberinnen dieses Bandes: April Eisman Gisela Schirmer

V&R unipress

Redaktion:

Alexandra Axtmann, Britta Borger, Anna Greve, Barbara Martin, Martin Papenbrock, Elke Wüst-Kralowetz

Redaktionsadresse:

Guernica-Gesellschaft, Klauprechtstraße 19, 76137 Karlsruhe, Tel. 07 21/3 52 93 79

Erscheinungsweise:

Jährlich

Abonnement:

Der Preis für ein einzelnes Jahrbuch beträgt EUR 22,50 im Abonnement EUR 19,50

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Kritische Kunst- und Kulturwissenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. 1. Aufl. 2021 © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Einbandgestaltung: Tevfik Göktepe Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1439-0205 ISBN 978-3-7370-1167-9

Inhalt

KUNST DER DDR – 30 JAHRE DANACH Vorwort.............................................................................................................................7 Introduction ......................................................................................................................9 Gerd Dietrich Die Aporien des sozialistischen Realismus.....................................................................11 Rüdiger Küttner Kunsthandel in der DDR. Geschichte und Geschichten. Die Phantasie ist schlimmer als die Wirklichkeit ...................................................................................29 Peter Michel Kompendium der DDR-Kunstgeschichte: Die Zeitschrift »Bildende Kunst«. Ein Chefredakteur erzählt ..............................................................................................39 Martin Papenbrock Westbesuche. Die »Tendenzen« und der »Verband Bildender Künstler Deutschlands« in den Jahren 1965/66 ...........................................................................53 Gisela Schirmer Willi Sitte und A.R. Penck: Zwei selbstbewusste Künstlerpersönlichkeiten treffen aufeinander .........................................................................................................71 April Eisman Art and Controversy in Dresden: Angela Hampel and Steffen Fischer’s Mural for the Jugendklub ›Eule‹ (1987) .........................................................................85 Angelika Weißbach Spuren. Suche. Entdeckungen – Ein grafisches Mappenwerk zwischen Auflösung und Neuformierung im Jahr 1990 .................................................................99

WEITERE BEITRÄGE Anna Greve Der Europa-Mythos in der Kunst: Identität – Krise – Ambivalenz im 20. und 21. Jahrhundert .......................................................................................... 111 Martin Papenbrock »Die Liebe ist die Freude der Armen.« Zuneigung und Intimität als soziale Motive in Bildern der zwanziger Jahre....................................................... 121 Anna Greve Museen in Zeiten von Corona: Ändert sich der gesellschaftpolitische Auftrag? ......... 137

NACHRUF Nachruf auf Norbert Schneider (Martin Papenbrock) .................................................. 147

ANHANG Autorinnen und Autoren............................................................................................... 153 Abbildungsverzeichnis ................................................................................................. 155

Vorwort

Mit diesem Band greifen wir 30 Jahre nach dem Ende der DDR einen Anstoß von Jutta Held auf. Sie hatte bereits 1996 die Aufarbeitung der DDR-Kunst in ihrem historischen Kontext gefordert, nicht zuletzt, um damit »die Phase der politisch motivierten Pauschalurteile zu überwinden«.1 Erinnert sei, dass nach der sogenannten »Wende« die Frühzeit des Kalten Krieges wiederbelebt worden war, in der sowohl im Osten wie im Westen die Kunst als Mittel der Macht eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Wie sie im Osten für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft durch Partei und Staat in den Dienst genommen wurde, ist hinlänglich bekannt. Heute ebenfalls bekannt, aber nur wenig problematisiert werden dagegen die geheimen Bemühungen der CIA um die kulturelle Vormachtstellung des Westens.2 Verbunden mit den Kampfbegriffen Frieden und Freiheit entwickelten sich einander ausschließende Kunstauffassungen, die sich im Westen als autonom verstand, im Osten dagegen die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers ins Zentrum rückte. Schon vor 1989 gab es auch in der DDR Kritik an einer spezifisch sozialistischen Kunst, doch erst der Anschluss an die Bundesrepublik brachte ihre totale Infragestellung und Abwertung, was die These bestätigt, dass »ästhetische Werte durch Macht gestützt werden müssen, um Geltung zu gewinnen«.3 In dieser Situation führte Jutta Held gegen die Behauptung, das Wesen der DDRKunst liege ausschließlich in ihrem Herrschaftsdienst, an der Universität Osnabrück zusammen mit der Guernica-Gesellschaft eine Tagung mit dem Titel Das soziale System der Künste der DDR durch. Es sei bei einer wissenschaftlichen Rekonstruktion des Systems der Künste unerlässlich, die Handlungsmotive und die Interessen aller beteiligten Seiten umfassend zu beschreiben. Um die komplexen Wechselbeziehungen zu erforschen, schlug Held vor, von einem Modell auszugehen, welches »die künstlerischen Verhältnisse in der DDR (und nicht nur dort) als ein Feld der Auseinandersetzung, der ideologischen und kulturellen Konflikte begreift«. Die politischen Vorgaben seien durch die künstlerischen Lösungen modifiziert, ständig verändert und auf ein neues Niveau gebracht worden. »Die Vorstellungen von Sozialismus konnten keineswegs nur von oben diktiert werden, sollten sie irgendwelche sozialisierende Kraft entfalten.«4 Inzwischen wird in repräsentativen Ausstellungen und sie begleitenden Katalogbüchern versucht, das Phänomen der Kunst aus der DDR differenzierter zu erklären, immer mit dem Anspruch verbunden, damit neue Wege zu beschreiten und neue Sichtweisen zu öffnen, die sich jedoch immer zur westlichen Kunstauffassung bekennen. Wortführer sind v. a. Kuratoren der jüngeren DDR-Generation, die die östliche Kunstgeschichte von ihrem Ende her beurteilen und ihre unterschiedlichen Phasen kaum berücksichtigen. Ein Perspektivwechsel zeigt sich indessen in der Erforschung der Kulturgeschichte der DDR, den Gerd Dietrich 2018 in einem dreibändigen Werk vorstellt. 5 Entgegen der bisherigen Annahme, »dass die SED-Politik die kulturellen Entwicklungen dominierte und ihre Richtung bestimmte«, versteht er die Kultur ähnlich wie Jutta Held als ein Feld gegenseitiger Einflussnahme, als ein Wechselspiel der Kräfte, in dem nicht selten die

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Gisela Schirmer

Politiker den Künstlern folgten anstatt umgekehrt. Wir freuen uns, dass wir ihn als Autor gewinnen konnten. Sein Beitrag Die Aporien des sozialistischen Realismus liefert einen profunden Überblick über den kämpferischen Umgang der Künstler und Schriftsteller mit dem Terminus des sozialistischen Realismus als kulturpolitischem Losungswort und den Bemühungen marxistischer Wissenschaftler, ihm ein theoretisches Fundament zu geben. Dieser systematischen Abhandlung, die auch eine Innensicht östlicher Debattenkultur öffnet, stellen wir einen Beitrag von Rüdiger Küttner über den Staatlichen Kunsthandel in der DDR gegenüber. Als Zeitzeuge erzählt er authentisch von seinen Erfahrungen, Erfolgen und Misserfolgen und davon, »dass man vieles erreichen konnte, wenn man wollte«; dazu gehörten auch seine weitreichenden Beziehungen zum Westen, die zur Liberalisierung der Kulturverhältnisse beitrugen. Mit Emotionen verbunden ist auch ein Bericht über die Zeitschrift Bildende Kunst, den wir Peter Michel verdanken. Als ihr Chefredakteur von 1974 bis 1987 führte er die Zeitschrift zu internationalem Ansehen. Trotz aller Widerstände gelang es ihm unter anderem, eine Diskussionsreihe einzurichten, in der zentrale Themen der Gegenwartskunst kontrovers verhandelt wurden. Um Kontakte zwischen West und Ost in den 60er Jahren geht es im Beitrag von Martin Papenbrock, der darstellt, wie die Künstler der DDR in ihrem Aufbegehren gegen den Dogmatismus der Kunstpolitik durch die westdeutschen tendenzen unterstützt wurden. Auch in meinem Beitrag, der sich zwei gegensätzlichen Künstlerpositionen widmet, spielen westliche Einflussnahmen eine wesentliche Rolle. Welche Bedeutung jungen Künstlern in der Endphase der DDR innerhalb der Gesellschaft zukam, weist April Eisman an einem umstrittenen Wandbild von Angela Hampel und Steffen Fischer nach. Die Umbruchszeit 1989/90 nimmt Angelika Weißbach anhand einer Grafikmappe in den Blick, die zum 100. Geburtstag von Johannes R. Becher vom Kulturbund in Auftrag gegeben worden war. Sie stellt fest, dass fast alle KünstlerInnnen die »Zerrissenheit Bechers zwischen künstlerischem Selbstverständnis und politischer Funktion«, beschäftigte, die half, »die eigene Situation zwischen Auflösung und Neuorientierung zu reflektieren«. Gisela Schirmer 1 Jutta Held: Vortragsmanuskript, April 1996 (Archiv der Autorin). 2 Vgl. Frances Stonor Saunders: Wer die Zeche zahlt …. Der CIA und die Kultur im Kalten

Krieg. Berlin 2001. Vgl. auch die Ausstellung Parapolitik: Kulturelle Freiheit und Kalter Krieg. Haus der Kulturen, Berlin, 03.11.2017–08.01.2018. 3 Wie Anm. 1. 4 Ebd. 5 Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. Göttingen 2018.

Introduction

This volume of Kunst und Politik focuses on art created in the German Democratic Republic.1 The intent was to bring together scholars socialized on both sides of the Iron Curtain and from differing generations for a scholarly engagement with the topic. The challenge faced was that, despite the passage of more than thirty years since unification, scholarship on East German art continues to be plagued by stereotypes stemming from lingering Cold War-era ideology and presentist thinking. Indeed, much mainstream scholarship published since 1990 falls into three of what I see as four levels of engagement with East German art, each more expansive than the previous. The first level, most frequently seen in the 1990s, is the idea that there was no art in East Germany. This is perhaps best encapsulated by Georg Baselitz’s oft-quoted statement from 1990, »Es gab keine Künstler in der DDR.«2 Often the term »commissioned art« emerges in such discussions, with the suggestion that art cannot be created in an »unfree« system. Similarly, exhibitions at this level tend to take place in history museums rather than in art museums. It is this approach that Jutta Held was arguing against in her 1996 call for a working through of East German art in its historical context mentioned in Gisela Schirmer’s introduction to this volume. The second level of engagement with East German art acknowledges that art was created in the GDR, but focuses on the so-called alternative scene. This view can be seen in those who challenged the Nationalgalerie’s 1994 exhibition that attempted to show art from the East and West on equal footing, and more concretely in the 1997 exhibition, Boheme + Diktatur, an early precursor to what would become the dominant approach to East German art in the new millennium. The focus on alternative artists, while a necessary expansion of our understanding of the breadth of art created in the GDR, becomes problematic when done to the exclusion of the so-called official scene because it often subtly and unconsciously (albeit sometimes also consciously) supports and promotes western views – about the types of art that should be valued and of the GDR as a repressive system incapable of fostering a lively artistic atmosphere. More recently a third approach has emerged in exhibitions like Hinter der Maske (2017). This approach acknowledges that art was created by both »alternative« and »State« artists, but nonetheless carefully distances them from the East German state in which they lived and worked, as if these artists worked in a vacuum. It is this third approach of a »Distanzverhalten« that Karin Thomas and Rüdiger Thomas call for in a recent article in APuZ in which they dismissed the »pauschalierende(n) Gegenüberstellung von Systemnähe und Opposition« of the second level.3 Their text, however, also offers insight into a belief that exists, often unconsciously, among many of those working in the first three levels: the belief that West Germany was better and that East Germans, were it not for the Berlin Wall, would have chosen to live there. As they state it early on in their article, not only did »90 Prozent der DDR-Bürger über Jahrzehnte hinweg die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik für besser hielten als die im eigenen

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April Eisman

Land«, but two thirds of them »wollten bereits Ende der 70er Jahre … lieber in der Bundesrepublik leben«.4 Such a view, however, ignores the fact that artists in East Germany were not ordinary citizens, they were intellectuals, and the majority of them actually saw the GDR as the better Germany, albeit in need of significant revision.5 There were also distinct advantages to being an artist in East Germany, including the ability to live as an artist without the need for a second job, time to think and create, and freedom from the pressures of the art market. The current volume seeks to contribute to scholarship at the fourth and final level: it attempts to understand East German art on its own terms and without the presentist politics evident in so much scholarship on the topic to date. It recognizes that the East German art world was one in which artists had both advantages and disadvantages, and that a nuanced study of it offers insight not only into a different art world but also, by comparison, into the western system. An important aspect of the current volume was the bringing together of a nearly equal number of eastern and western voices. The eastern German historian Gerd Dietrich examines the meaning of the term Socialist Realism, while Rüdiger Küttner and Peter Michel offer first-hand accounts of working at the Staatliche Kunsthandlung and the art journal Bildende Kunst, respectively. These eastern views are met by the western German art historians Martin Papenbrock and Gisela Schirmer, who examine the cross-Wall relationship between Tendenzen and the East German Artists Union (VBK), and between two very different artists within East Germany, Willi Sitte and A. R. Penck. The American April Eisman und Dresden-born Angelika Weißbach, both teenagers when Germany unified, offer the view of a younger generation, examining the controversy over a mural created in Dresden in 1987 and the impact of unification on a series of prints of Johannes R. Becher that were commissioned from a number of artists before the Peaceful Revolution began but not completed until 1991. Our sincere thanks to all the contributors for their texts and patience, and to Martin Papenbrock and the late Norbert Schneider for their support. April Eisman 1 In one case, it includes art begun in the GDR but finished after its dissolution. 2 Axel Hecht and Alfred Welti: »›Ein Meister, der Talent verschmäht‹: Interview mit Georg

Baselitz« In: Art. Das Kunstmagazin, 6 (1990), p. 70. 3 Karin Thomas, Rüdiger Thomas: »Bilderstörung. Fehlwahrnehmungen im deutschen Verstän-

digungsprozess am Beispiel der Kunst« In: APuZ, 28–29/2020, p. 40–44, here p. 40. 4 Ibid. It should be noted that the source they cite for these statistics is problematic. 5 For my research, I have interviewed dozens of artists who worked in the GDR, from famous

artists of the older generation like Bernhard Heisig and Willi Sitte, to lesser known artists of the youngest generation. Although there were varying levels of frustration, none expressed an interest in moving to West Germany.

Gerd Dietrich Die Aporien des sozialistischen Realismus

Anna Seghers leitete 1948 einen Aufsatz über den wichtigsten ›Ismus‹ mit dem anmutig schlichten Satz ein: »Der sozialistische Realismus wird bejahend und polemisch von Menschen erwähnt, die in Verlegenheit kommen, wenn man sie genau fragt, was das ist.«1 Arnold Zweig schrieb am 26. Februar 1951 an Lion Feuchtwanger: »Der sogenannte sozialistische Realismus […] hält die Kunst für ein Panoptikum und möchte am liebsten alle Gesetze der Form und Prinzipien der Kunst als Formalismus denunzieren und abschaffen.«2 Und Ernst Bloch sprach 1956 vor Studenten des Leipziger Literaturinstituts von »der Diktatur des kleinbürgerlichen Geschmacks im Namen des Proletariats«.3 Im gleichen Jahr antwortete Alexander Fadejew auf die Frage Michail Scholochows, was sozialistischer Realismus sei: »Wenn mich jemand danach fragen würde, müsste ich mit bestem Wissen und Gewissen antworten: der Teufel weiß, was das eigentlich ist.«4 Wenig später meinte Paul Dessau: »Der Sozialistische Realismus ist sozusagen wie das Glied der Anopheles-Mücke, keiner hat es je gesehen, aber es muss es wohl geben.«5 Und Edith Anderson erinnerte: »Schändlicher ›Kosmopolitismus‹ wurde abgelöst vom schönen sozialistischen Realismus mit seinen ›positiven‹ literarischen Helden und ›typischen‹ Nebenfiguren. […] Der sozialistische Realismus als solcher richtete nur geringen Schaden an. Erst nachdem er vom Schreckgespenst ›Formalismus‹ vergewaltigt worden war, gebar er ein wahnsinniges Monster.«6 Der Maler Bernhard Kretzschmar, ein sächsisches Original, meldete sich 1964 nach einem Referat über sozialistischen Realismus zu Wort und bekannte listig: »Liebe Kollejinnen, und liebe Kollejen ooch! Ich muss sagen, wir sollen dem Referenten sehr, sehr dankbar sein. Denn jetzt, liebe Kollejinnen, und liebe Kollejen, jetzt wissen wir: Was die Impressionisten waren, die ham jemalt, was sie gesehen ham. Und die Expressionisten, Kollejinnen und Kollejen, die ham jemalt, was die so in sich fühlten und was da raus wollte aus ihnen.« Der alte Maler aus Dresden hob die zittrige Hand in die Höhe und streckte den Zeigefinger aus. »Und wir, liebe Kollejinnen, liebe Kollejen, wir malen, was wir hören.«7 Der Terminus des sozialistischen Realismus war von Anfang an ein kulturpolitisches Losungswort, die ebenso genannte Doktrin in der Regel ein ideologisches Konstrukt und eine utilitaristische Scheinästhetik. Die sogenannten Kriterien des sozialistischen Realismus waren außerkünstlerische, d. h. sie konnten ohne Weiteres von der Literatur auf die bildende Kunst, den Film, die Architektur, das Design usw. übertragen werden. Ihre offizielle Erhebung in den Stand einer ästhetischen Kategorie sollte den zeitbedingten kulturpolitischen Forderungen universale Gültigkeit verschaffen. Gleichwohl suchten Künstler, die sich für die neue Gesellschaft entschieden hatten, den kulturpolitischen Prämissen zumindest zeitweise zu folgen und sie für sich produktiv zu machen, während marxistische Wissenschaftler bemüht waren, dieser Scheinästhetik ein theoretisches

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Gerd Dietrich

Fundament zu geben und es in die Geschichte der Ästhetik einzubauen. Versuchen wir, diesen Wendungen und Windungen zumindest ansatzweise zu folgen. I. Doktrin des sozialistischen Realismus Der Begriff selbst ging auf die 30er Jahre zurück. In der sowjetischen Presse war er zum ersten Mal in einem Leitartikel der Literaturnaja gaseta vom 29. Mai 1932 verwendet worden. Selbstverständlich galt Stalin als sein Initiator. Daneben wurde immer darauf verwiesen, dass Gorki ohne theoretische Vorgaben in seinem Roman Die Mutter von 1906/07 schon angewandt hätte, was Stalin später definitorisch aus Gorkis und anderen Werken ableitete. Durch diese Verklammerung sollte der Eindruck erweckt werden, Stalin fasse nur zusammen, was die Sowjetliteratur ohnehin schon geleistet habe. Ein weiterer Schritt war der 1. Allunionskongress der Schriftsteller von 1934. Die Marschrichtung gab A. Shdanow im Hauptreferat vor. Für ihn bestand sozialistischer Realismus vor allem darin, dass die »Ingenieure der menschlichen Seele«, wie Stalin die Schriftsteller genannt hatte, die Werktätigen ideologisch umzuformen hätten. Unmittelbar nach dem Krieg begann die sogenannte Shdanowtschina, gegründet auf den Beschlüssen des ZK der KPdSU von 1946 und 1948. Der ZK-Sekretär Shdanow, Kulturpapst und Sprachrohr Stalins in Ideologiefragen, demonstrierte Entschlossenheit, die während des Krieges gelockerten Zügel wieder fest anzuziehen. Während er 1946 noch gegen eine dem Volk fremde Kultur und gegen die »reaktionäre Losung« des l’art pour l’art eiferte, hatte sich 1948 das Wort vom »volksfeindlichen Formalismus« eingebürgert, verbunden mit Schmähreden und persönlichen Angriffen.8 Dabei ging es gar nicht um die Kunst, sondern um die Disziplinierung der Intellektuellen. Nach einem erstarrten Regelkanon von kulturpolitischen Restriktionen, kunstmoralischen Appellen und stilistischen Normen sollte eine ›Ästhetik‹ der Macht, genauer eine Ideologie der Macht durchgesetzt werden. Von den ansonsten rührigen sowjetischen Kulturoffizieren wurde der Begriff auch in die SBZ getragen. Während Alexander Dymschitz 1946 in Dresden noch differenziert davon sprach, dass man auf der I. Deutschen Kunstausstellung »den Kontrast einer echten realistischen Kunst mit feinen psychologischen Zügen gegenüber einer formalistischen Abstraktion, welche ideenarm und darum zukunftslos ist« spüre;9 eröffnete er im November 1948 mit dem Artikel in der Täglichen Rundschau »Über die formalistische Richtung in der Malerei« die erste Phase der Formalismus/Realismus-Kampagne in der SBZ/DDR. In dieser Phase war zwar noch Diskussion möglich, und Herbert Sandberg sah die eigentliche Gefahr in einem »Triumph der Mittelmäßigkeit«.10 Aber zugleich wurden die Folgen für die Künstler schon extrem sichtbar. Arno Mohr, der gemeinsam mit René Graetz und Horst Strempel an dem Wandbild Metallurgie Hennigsdorf gearbeitet hatte, das auf der II. Deutschen Kunstausstellung in Dresden 1949 zu sehen war, erinnerte: »Die Sache war nicht schlimm, das war alles Neuland, wir probierten was aus, gültige Rezepte hatte keiner; ich habe mich ja auch danach nicht in den Schmollwinkel zurückgezogen. Die Sache war nicht schlimm, die Methoden waren schlimm; davon ging einem die Puste aus. Man darf einem Menschen die Arbeitslust nicht nehmen. Ist gar nicht begriffen worden damals, was da kaputt gemacht wurde.«11

Die Aporien des sozialistischen Realismus

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Die zweite Phase der Kampagne wurde 1950 mit der Propagierung des sozialistischen Realismus eingeleitet und war gewissermaßen auf Dauer gestellt. Es ist heute leicht, diese Doktrin zu ironisieren. Damals wurde sie den Schriftstellern und Künstlern mit ziemlicher Härte und Rücksichtslosigkeit aufgedrängt. Dabei kümmerte es die Ideologen wenig, dass nach Marx eigentlich das Sein das Bewusstsein bestimmte und nicht umgekehrt. Denn hier sollte ja nun das Bewusstsein, mithilfe von Literatur und Kunst, das gesellschaftliche Sein umformen. So wurde z. B. am 5. Oktober 1951 im Neuen Deutschland zusammengefasst, worauf es »jetzt« ankam und mit welchen »Forderungen des sozialistischen Realismus“ sich jeder Künstler auseinanderzusetzen habe: »1. mit der Forderung Lenins nach dem Parteiergreifen, 2. mit Stalins genialer Analyse von dem nationalen Charakter der Kunst und Literatur und seiner Forderung, die nationale Kultur auf der Grundlage ihrer Traditionen zur höchsten Blüte zu entfalten, 3. mit der Forderung nach einer lebenswahren, historisch-konkreten Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung, 4. mit der Forderung nach dem erzieherischen Charakter der Kunst, 5. mit der Forderung J. W. Stalins nach der tiefen Lebens- und Sachkenntnis des Künstlers, 6. mit der Forderung Lenins durch unmittelbare Beobachtung im Leben den Verfall des Alten von den Keimen des Neuen zu unterscheiden, 7. mit der Forderung Gorkis, dass der Künstler das Ohr, Auge und Herz seiner Klasse und seines Landes, dass er die Stimme der Epoche sein muss, dass im Mittelpunkt des Kunstwerks die schöpferische Arbeit, der Held der Arbeit, der Baumeister der neuen Zeit zu stehen hat, 8. mit der Forderung nach hoher künstlerischer Meisterschaft«.12

Aus all diesen Lenin-, Stalin- und Gorkischen Prämissen wurden dann jene drei ›Grundprinzipien‹ abgeleitet, die da lauteten: wahrheitsgetreue Darstellung, sozialistische Parteilichkeit sowie Volksverbundenheit. Ich verzichte darauf, diese ›Kategorien‹ im Einzelnen zu erläutern. Da wäre dann noch vom Typischen zu reden, von künstlerischer Widerspiegelung und historischem Optimismus. Der kurze Abriss schon lässt ahnen, wie doktrinär diese Prinzipien auf Schriftsteller und Künstler wirken mussten, die für eine neue Gesellschaft eintraten, die eine Kunst für die Massen schaffen wollten, wenn auch keine volkstümliche Kunst, und die sich auf die eingreifende und kritische realistische Tradition beriefen. Bertolt Brecht drehte den Spieß um: »Solang man unter Realismus einen Stil und nicht eine Haltung versteht, ist man Formalist, nichts anderes. Ein realistischer Künstler ist, wer in künstlerischen Werken der Wirklichkeit gegenüber eine ergiebige Haltung einnimmt.«13 Der Grundwiderspruch bestand darin, dass realistisch nach stalinistischer Interpretation eben nicht das dargestellte Reale war, sondern nur das sich angeblich gesetzmäßig herausbildende Neue. Sozialistischer Realismus hatte also nicht die Gegenwart zu zeigen, wie sie war, sondern wie sie sein sollte. Das war mehr revolutionäre Romantik als realistisches Gestalten. Alle diese Formeln offenbarten schließlich, dass sozialistischer Realismus »eine verklausulierte Bezeichnung für das Primat der Politik in der Kunst war, d. h. für eine inhaltliche, propagandistische und pädagogische Orientierung und

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Gerd Dietrich

damit politische Instrumentalisierung der Künste auf die im Sinne der jeweiligen Parteilinie ›richtige‹, in die Zukunft weisende … Darstellung des Aufbaus des Sozialismus«.14 Die dritte Phase der Formalismus-Kampagne verlief von Anfang 1951 bis Mitte 1953. Sie wuchs sich »zu einem flächendeckenden Bombardement der DDRKunstszene« aus,15 war durch eine härtere Gangart und massiven ideologischen Druck gekennzeichnet. Die damit unmittelbar verbundenen administrativen Maßnahmen wurden dann nach dem 17. Juni 1953 und der Kritik der Intellektuellen wieder zurückgenommen.16 Aber was die SED-Führung in den 50er Jahren von den Künstlern verlangte, war Unmögliches: Sie sollten an die nationale Tradition anknüpfen, sich aber zugleich an der Sowjetkunst orientieren. Sie sollten die künstlerische Form nicht vernachlässigen, ihr jedoch keine selbständige Bedeutung zuerkennen. Sie sollten eine ergreifende Kunst schaffen, aber sich der jeweiligen Ideologie und Politik unterordnen. Da wurden Künstler, die bereitwillig die Bilderwünsche der Nationalsozialisten erfüllt hatten, jenen Antifaschisten vorgezogen, die in der Tradition der Moderne standen. Hans Grundig schrieb in einem Brief an Ministerpräsident Grotewohl von einem »Boykott unserer Arbeit«. Die »Aufträge und Aufkäufe zeigen, dass diese gerade den ›unpolitischen‹, uns ›neutral‹ gegenüberstehenden Künstlern zu teil werden, dass gerade diese besonders gefördert werden«.17 Was die Funktionäre wünschten, war freilich nicht Nazikunst, sondern eine bildnerische Tradition von der späten Romantik her und aus dem 19. Jahrhundert kommend, affirmativ und bieder. Aber diese bekam nun ein sozusagen fortschrittliches Etikett: sozialistischer Realismus. Gleichwohl sah jeder erfahrene Künstler die Nähe der sowjetisch-stalinistischen Kunst zur Naziästhetik. Die öffentliche Debatte darüber war tabu. Aber als ein sowjetischer Kollege im Gespräch das Bildnis eines Offiziers der kasernierten Volkspolizei von Gerhard Kurt Müller lobte, warnte Fritz Cremer vor der politischen Gefahr: »Weil das für uns zunächst eine Nazimalerei ist.«18 Dagegen Otto Grotewohl zur III. Kunstausstellung 1953: »Eine Kunst, die nicht die befreite Arbeit, die nicht den schöpferischen Menschen, diesen wahren Prometheus der menschlichen Kultur, seine Sehnsüchte und Leiden, seine Kämpfe und Siege in den Mittelpunkt ihrer gesamten Anschauung rückt, ist weltfremd und ohne Existenzberechtigung.«19 Freilich nahm nur etwa ein Fünftel der dort ausgestellten Werke Bezug auf die sogenannte neue Wirklichkeit. Im Katalog dagegen wurde der Eindruck erweckt, der neue Inhalt stehe im Vordergrund und im Mittelpunkt der Kunst. Die meisten dieser Bilder verschwanden bald danach in der Versenkung, bzw. wurden später als Negativbeispiele gehandelt, einschließlich das oben genannte. Allein das Hausfriedenskomitee von Rudolf Bergander und Junger Maurer von der Stalinallee von Otto Nagel und einige Porträts gewannen eine gewisse kunsthistorische Bedeutung. Vier Jahre später machte Lea Grundig klar, dass »das Üble der III. Deutschen Kunstausstellung kleinbürgerlicher Plüschsalon, billigste Repräsentation einer in Sonntagskleidern in die klischierte Morgenröte spazierenden Menschheit war, der Begriff der Meisterschaft dort zum technisch handwerklichen Können degradiert wurde und das kulturelle Erbe bei (Adolph) Menzel strammstand«.20 So war in der bildenden Kunst in den 50er Jahren eine künstlerisch anspruchslose und berichtende Malerei entstanden, die sowohl dem Massen-Geschmack als auch den Leitlinien der Kunstpolitik entgegenkam. Das hatte zu einer Art proletarischer Salonmalerei und zu einem sozialistisch-realistischen Biedermeier geführt. Als die SED-

Die Aporien des sozialistischen Realismus

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Kulturkommission am 19. Oktober 1959 Fragen der bildenden Kunst behandelte und Joachim Uhlitzsch die Frage stellte, was mit »Aneignung alles Wertvollen und Progressiven, was in der Geschichte unseres Volkes [...] geschaffen wurde«, gemeint sei und wie man malen sollte, rief Alfred Kurella spontan dazwischen: »Wie Cornelius malen!«. Diese Bemerkung erhellte »blitzartig die Nähe der von Kurella propagierten Vorstellung des Sozialistischen Realismus zum Nazarenertum der Lukasbrüder, die eine Symbiose von akademischem Klassizismus und Nationalromantik zu einer konservativen Ideenkunst erstrebten. Im Sinne einer Nationalpädagogik wollten sie mit ihrer Kunst, wie in den fünfziger Jahren Alfred Kurella und die SED, die Einheit von Kunst und Volk bzw. Nation in kollektiver Arbeit verwirklichen.«21 In stark dogmatischen Zeiten wurde der sozialistische Realismus als Normensystem und Stil, in weniger dogmatischen als Methode gehandhabt. Grundsätzlich handelte es sich um eine doktrinäre Formel. Darüber hinaus waren die Prinzipien so allgemein formuliert, dass sie einerseits für Geschmacks- und Einstellungsfragen offenblieben und andererseits das Interpretationsmonopol der Politiker festschrieben. Das Realismus- wie das Formalismusargument konnte als Allzweckwaffe gegen alles dienen, was diese selbst bzw. ›das Volk‹ nicht verstanden hatten und was dem eigenen Kunstverständnis widersprach. Denn die stalinistischen Funktionäre waren zumeist den ästhetischen Werturteilen des vorigen Jahrhunderts verhaftet. So stellte Ernst Bloch 1965 fest : »Alle Kulturpäpste und rote Oberlehrer reden von daher, soweit sie nicht noch den Geschmack der Gründerzeit hinzufügten. Woraus sich dann keine Sicherungen gegen reaktionären Spießbürger-Kitsch ergaben, vielmehr dessen Beförderung, auch noch im Namen der Revolution.«22 Ziemlich fassungslos stand die linke Intelligenz jener Dialektik gegenüber, dass eine auf Modernisierung ausgerichtete Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sich auf dem Feld der Kulturpolitik antimodern und repressiv gab. II. Theorie des sozialistischen Realismus Kein Wunder, dass sich gegen all das Widerstand regte und zwar nicht nur intern. So erschien gewichtige Literatur, die dem propagierten Konzept des sozialistischen Realismus widersprach und viele Künstler in ihrem abweichenden Angebot bestärkte. Zum Kultbuch schlechthin avancierte in jenen Jahren die erste DDR-Publikation Sergei Eisensteins im Henschelverlag 1960.23 Darin hatte Eisenstein das Kunstwerk als subjektive Konstruktion mit künstlerischen Mitteln bestimmt. Er verwies darauf, dass es im filmischen Werk nicht um den Inhalt an sich gehe, sondern um die Frage, mit welchen Mitteln er in der Komposition verwirklich wird. Für den Autor sei es wichtig, sich ein möglichst breites Spektrum an künstlerischen Mitteln anzueignen. Die Montage wird als ein Mittel beschrieben, dass den Zuschauer selbst zur schöpferischen Tätigkeit veranlasst und den Inhalt besonders verdichtet. Die Mittel seien dabei nicht vom Inhalt vorgegeben, sondern hingen in erster Linie vom Verhältnis des Autors zum Inhalt ab. Eisensteins Attraktions- und Montagemethoden haben die Debatten um die modernen Mittel wesentlich beeinflusst und den Widerspruch gegen die doktrinären Kompositionsauffassungen gefördert. »Unseren Dogmatikern war offensichtlich entgangen«, erinnerte Willi Sitte, dass »die Aufsatzsammlung Eisensteins eine Definition von sozialistischem Realismus anbot, die der ihrigen konträr entgegenstand«.24

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1961 erschien das erste der verdienstvollen Fundus-Bücher im Verlag der Kunst: Ernst Fischer Von der Notwendigkeit der Kunst. Darin wandte er sich gegen Kurellas Position, im Sozialismus gäbe es keine Entfremdung mehr, sowie gegen einseitige Dekadenz- und Formalismuszuschreibungen. Er unterstrich, dass Richtungen wie Expressionismus, Futurismus, Surrealismus zwar durchaus mit dem Verfall der Bourgeoisie zusammenhingen, aber in sich widerspruchsvoll waren und revoltierende Elemente enthielten. Beim sozialistischen Realismus gehe es nicht darum, einen einheitlichen Stil zu entwickeln, sondern einen neuen Inhalt künstlerisch zu bewältigen. »Man mag den sozialistischen Realismus auch als Methode definieren, wenn man sorgsam darauf achtet, dass dieser Begriff nicht zu eng gefasst wird.« Das könne eine Haltung, aber auch eine spezifische künstlerische und literarische Methode und ein eigener Stil sein. Er verwies auf die Unterschiede zwischen Gorki und Brecht, Majakowski und Becher, Makarenko und Scholochow, Pogodin und O’Casey – »und gerade der Reichtum an solch spezifischen Methoden, die Mannigfaltigkeit der Stile ist für den sozialistischen Realismus unentbehrlich«.25 Im Vorwort für den Katalog der Ausstellung Junge Kunst – Malerei, die am 15. September 1961 in der Akademie der Künste eröffnet wurde, schrieb Fritz Cremer: »Wir können uns unserer Verantwortung gemäß nicht damit abfinden, dass theoretisch zwar von den vielfältigen Möglichkeiten sozialistischer Kunst gesprochen wird, praktisch aber die suchende, schöpferische Eigenverantwortung [...] erstickt wird.«26 Das Vorwort wurde zwar gestrichen, aber die Ausstellung hatte eine große produktive Resonanz, weil sie offensiv den starren kunstpolitischen Kurs zu durchbrechen suchte. Die offizielle Kritik verdammte die Ausstellung, da der gewünschte Optimismus fehlte und das Bitterfelder Thema kaum vorhanden war. Lea Grundig erschienen die ausgestellten Werke gar »greisenhaft« und sie verdächtigte die Künstler, sich vom sozialistischen Realismus zu lösen. Fingierte Protestbriefe aus Berliner Betrieben eröffneten eine massive Pressekampagne, die von organisierten Diskussionen begleitet wurde. Das alles fiel in die aufgeheizte Atmosphäre nach dem Mauerbau. Und mit dem ›Kahlschlag‹ der 11. ZKTagung 1965, der vor allem die Filmschaffenden und Schriftsteller traf, hatte für viele Intellektuelle eine folgenschwere und lang wirkende Identitätskrise begonnen, die durch die Intervention in der ČSSR 1968 noch verstärkt worden war. Aber viele sahen keine Alternative, so Klaus Wischnewski: »Das ist nämlich das Schreckliche: Noch schien die Utopie nicht ausgereizt, schien Hoffnung möglich: es muss doch Vernunft beginnen und sich durchsetzen. Marx ist doch Vernunft und Denken! Eine Alternative gab es auch deshalb nicht, weil die damalige Bundesrepublik für uns – und damals noch für viele! – keine war.«27 Distanz und Selbstermunterung wie -behauptung waren notwendig, um unter den widrigen Verhältnissen weiter arbeiten zu können. »In der Mitte der Lebenszeit der DDR erreichten die Auseinandersetzungen um die bildende Kunst eine Pattsituation«, konstatierte Hermann Raum. »Auf der einen Seite rieb sich die ›offizielle‹ Kunstkritik immer wieder heftig an Werken und Künstlern, in denen sie den ›Verrat‹ am ›Sozialistischen Realismus‹ aufspürte. Andererseits setzte sich diese Kunst aber in Personal-, Überblicks- und Auslandsausstellungen und schließlich in Museumsankäufen zunehmend gegenüber der von dieser Kritik gepriesenen durch.«28 Die Widersprüche verwiesen auf das Chaotische in der praktischen Kunstpolitik: Einerseits gelang es Andersdenkenden immer wieder, auf Seitenpfaden und in Nischen listig Möglichkeiten zu finden, »ihre Kunstvorstellungen zu entwickeln und mitzu-

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teilen. Andererseits geschah es, dass innerhalb der kulturpolitischen Verhältnisse stets Kräfte am Werk waren, die den Kunst-Analphabetismus der Dogmatiker konterkarierten im Sinne eines weltoffenen, undogmatischen Sozialismus-Verständnisses«.29 Mit dem V. Kongress des Verbandes der Bildenden Künstler der DDR (VBK) 1964 wurde ein Durchbruch erreicht. Lea Grundig setzte sich für eine geistig intensive Kunst ein und erteilte dem Pseudorealismus eine Absage. Schärfer äußerten sich Cremer, Heisig, unterstützt von Sitte, und Raum. Cremer rechnete unverblümt mit der Kunstpolitik in »den Shdanowschen Ansichten und Formulierungen über ›sozialistischen Realismus‹« ab, die er als irrrationalistische, ja idealistische Denkweise bezeichnete, verlangte offene Verhaltensweisen gegenüber künstlerischen Experimenten und wandte sich gegen den einseitigen Erziehungsanspruch: »Wir brauchen eine Kunst, die die Menschen zum Denken veranlasst, und wir brauchen keine Kunst, die ihnen das Denken abnimmt.« Gegen alle Parteinormen forderte er das Recht des Künstlers zu Kritik und Zweifel »als Grundelement historisch-materialistischen Denkens« ein.30 Bernhard Heisig konstatierte eine deutlich erkennbare Stagnation und einen offenbaren Provinzialismus in der Kunstentwicklung in der DDR und sprach sich dagegen aus, den Künstler wie ein Kind zu behandeln, dass nicht auf die große Straße gelassen wird, damit es der Verkehr nicht gefährdet. Oder anders gesagt, damit es nicht den Einflüssen der Moderne unterliegt. Und Raum kritisierte vehement jenes Schubladendenken: in der linken Schublade die realistischen Gestaltungsformen, in der rechten die sogenannten Gestaltungsformen des Modernismus, ein Denken, das mit der Realität des künstlerischen Schaffens nichts zu tun habe. Sie alle plädierten für eine Aufdeckung der Widersprüche der Wirklichkeit mit allen künstlerischen Mitteln. Zwar folgten Versuche, die Kritiker wieder auf Parteilinie zu bringen, aber die Wortführer der Macht mussten sich einige der kritischen Thesen aneignen, um überhaupt weiter mitreden zu können. Nach dem Kongress tat sich für die Künstler wie für die Kunst »ein neues Koordinatensystem auf«: Nach den Vorgaben von stalinistischer Ästhetik und der Konzeption des Themabildes musste nicht mehr gearbeitet werden. Die Künstler »hatten sich auszurichten an der figürlichen Darstellung des Menschen und an den gesellschaftlichen Prozessen, sie konnten in verschiedenen Stilen arbeiten und sie hatten ein Recht auf eine individuelle Auffassung. Über das einzelne Werk konnte jeweils nach ideologischen Parametern entschieden werden [...]. Explizit ausgegrenzt wurde nur die abstrakte Kunst.«31 Und so unterstrich Wieland Förster 1968: »Kunst ist Metapher der Wirklichkeit, ist herausgeschält, verdichtet, gesteigert und sie ist immer einseitig und anfechtbar.«32 In der zweiten Hälfte der 60er Jahre setzte sich eine neue Generation von Malern und Grafikern durch. Lothar Lang sprach von Katastrophenjahren und einer »Hoch-Zeit der Kunst«. Hohe Zeit, weil damals die Kunst von den Künstlern und Intellektuellen erfolgreich verteidigt worden ist. Aus dieser Perspektive, betonte er, waren die 60er »eine erfolgreiche Zeit. Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit der künstlerischen Sprachformen waren ebenso zu beobachten wie das Entdecken neuer inhaltlicher Elemente und das Erproben unkonventioneller Gestaltungsweisen. Am Ende des Jahrzehnts waren Künstler wie Rezipienten anspruchsvoller geworden. Das Ergebnis war eine stilistisch vielgestaltige und reiche Kunst. Stichworte hierzu sind:  Akzeptanz der ästhetischen Prinzipien der ›Berliner Schule‹ um Harald Metzkes und Manfred Böttcher

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Auftritt des Leipziger Realismus und Ausarbeitung eines neuen Wertesystems für die Kunst des Historienbildes durch Bernhard Heisig, Willi Sitte und Werner Tübke und damit komplexes Eindringen in das ›Innere‹ geschichtlicher und sozialer Prozesse  zugleich Überwindung der deskriptiven Malerei durch Methoden der Simultaneität und Erfinden einer neuen ästhetischen Emblematik durch Wolfgang Mattheuer  Entwicklung neuer Zeichensysteme durch A. R. Penck und Carlfriedrich Claus  Renaissance der druckgrafischen Stecherkunst in Leipzig  zögerliche, doch zunehmende Hinnahme einer Kunst jenseits des staatlich oktroyierten Wertesystems (Gerhard Altenbourg, Hermann Glöckner, Robert Rehfeldt). Es war eine widerspruchsvolle Zeit der Kämpfe mit Niederlagen und Erfolgen kreativer Kunst.«33 Da hatte sich in der zweiten Hälfte der 60er auch eine neue »Ästhetik der Resistenz« herauszubilden begonnen.34 Ein beachtlicher Teil der Künstler und Schriftsteller ging andere Wege, als ihnen die Kunstpolitik vorschrieb. In diesen Jahren entstand auch ein verändertes Kulturbewusstsein: Hoffnung und Skepsis wurden auf neue Art in Beziehung gesetzt. In Kunst und Literatur zeichneten sich weitgehende Prozesse der Differenzierung ab. Die Haltung gegenüber der Gesellschaft wurde kritischer, auf Pathos und Heroisierung verzichtete man. Mangels einer politisch-publizistischen Öffentlichkeit begannen Autoren und Künstler, die Rolle der Aufklärung und einer Ersatzöffentlichkeit zu übernehmen. Festzuhalten ist, dass sich viele Intellektuelle von der Funktion zu lösen begannen, die ihnen die SED-Führung aufgetragen hatte, Volkserzieher, Sozialpädagogen oder gar »Ingenieure der menschlichen Seele« zu sein. Diese Vorgänge waren zugleich mit der Auflösung des Dekadenzbegriffs und mit neuen Akzenten in der Realismusdiskussion verbunden. Denn angeregt durch die Entwicklung in den Künsten und in der Gesellschaft sowie parallel zu internationalen Debatten, setzte auch in den ästhetischen Vorstellungen ein Wandel ein. Die Diskussion um den Realismus war bekanntlich in den 30er Jahren steckengeblieben. Eine neue Runde begann nach der Kafka-Konferenz von 1963. Es waren zunächst Ernst Fischer und Roger Garaudy, die die Defizite der stalinistischen Auffassungen vom sozialistischen Realismus und die Leerstellen der marxistischen Ästhetik benannten. In seinem Aufsatzband D’un Réalisme sans rivages von 1963, seinerzeit immer mit »Realismus ohne Ufer« übersetzt, was bald zu einem diffamierenden Schlagwort wurde, hatte Garaudy »drei Beispiele aus der Zahl der Irrtümer« gegeben: die Anwendung des Globalbegriffs Dekadenz, die Reduzierung der Kunst auf ideologischen Überbau und simple Spiegelung der Wirklichkeit sowie auf ihre Erkenntnisfunktion; und daraus geschlussfolgert: Für einen Marxisten ist »die Geschichte der Kunst nicht die Geschichte des eigenen Bewusstseins, wie Hegel glaubte, sondern die Geschichte des eigenen Schöpfertums«. Die Anerkennung der schöpferischen Rolle der Kunst »führt uns dazu, dass wir in der Kunst ebenso wie in den Wissenschaften, einen fruchtbaren Pluralismus der verschiedenen Stile und Schulen […] wünschen«.35 In der DDR war man auf diese Diskussion schlecht vorbereitet. In der zweiten Hälfte der 60er richteten sich die Bemühungen darauf, Literatur und Kunst aus den systemeigenen Grundlagen der Gesellschaft zu erklären. Man ging daran, eine entsprechende Ästhetik zu entwickeln, »Kernstück dieser systemimmanenten Ästhetik bildete die Vorstel-

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lung von der sozialistischen Menschengemeinschaft als prägnantesten Ausdruck eines gesellschaftlichen Reifeprozesses.«36 Eine solche abgehobene Ästhetik abstrahierte eher von den konkreten Problemen und dem bisher einseitigen Ausbau der RealismusTheorie. Freilich hatten die Enge und den passiven Abbildvorgang, die Fischer, Garaudy kritisierten, schon Brecht, Seghers u. a. in den 30er Jahren an Lukács’ ästhetischen Schriften bemängelt. Es war an der Zeit, deren Positionen nun in der DDR einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. So erschienen 1966 Brechts Schriften zur Literatur und Kunst in zwei Bänden und 1970/71 Anna Seghers dreibändige Ausgabe Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Gemeinsam mit einer systematischen Zusammenstellung der Äußerungen Johannes R. Bechers Über Literatur und Kunst (1962) sowie einer zweibändigen Ausgabe Marx’ und Engels’ Über Kunst und Literatur (1967) boten sie wesentliche Grundlagen für neue Überlegungen zum Problem des Realismus. Die Vorbereitung einer Realismuskonferenz an der Akademie der Wissenschaften aber, mit der die Grenzen des Realismus hätten ausgedehnt werden können, scheiterte. Der Kulturminister und die ZK-Kulturabteilung wollten sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen.37 Der Auftrag wurde an den Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Kultur- und Kunstwissenschaften am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED weitergereicht. Dort entstanden dann ein Grundriss sowie eine Einführung, die zwar auf Weite und Vielfalt des sozialistischen Realismus, auf eine dynamische und offene Realismusauffassung verwiesen, diesen aber zugleich als eine einheitliche Methode verstanden. Wobei der Methodenbegriff weiterhin umstritten blieb. Aber indem Volksverbundenheit und Parteilichkeit nach wie vor zu zentralen ästhetischen, nicht aber politischen Kategorien erklärt wurden, blieb es bei der Engführung der Prinzipien des sozialistischen Realismus auf die, wie es hieß, wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse. Auf eine »Kurzformel« gebracht, war die Theorie des sozialistischen Realismus danach »die exakte wissenschaftliche Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion sozialistischer Kunst und den jeweiligen – historisch sich ändernden – Bedingungen des Klassenkampfes der marxistischen Arbeiterbewegung. Sie umfasst gleichermaßen die sozialen, politischen und weltanschaulichen Bedingungen der Kunstproduktion wie der -rezeption sowie ihre Rückwirkung auf das Kunstschaffen.«38 Bewegung in die festgefahrenen Positionen brachte erst Werner Mittenzweis Aufsatz über die Brecht-Lukács-Debatte,39 der sich gegen den einseitigen Ausbau der Realismustheorie richtete. Er verwies darauf, dass sich seit den 30ern »zwei ganz verschiedene, in ihren wesentlichen Gedanken direkt entgegengesetzte Konzeptionen vom sozialistischen Realismus« herausgebildet hatten. Dabei handele es sich nicht um den Realismus »als Stilrichtung, sondern als methodisches Problem«. Während Lukács den Fortschrittsgedanken zum eigentlichen Drehpunkt seiner Realismusauffassung machte und darum die sogenannte Dekadenz ideologisch kritisierte, ging es Brecht darum, die realistische Methode aus den neuen gesellschaftlichen Bedingungen zu entwickeln und »bestimmte, von bürgerlichen Dichtern eingeführte Kunstmittel umzufunktionieren«. Während Lukács sich an den Realisten des 19. Jahrhunderts orientierte und aus deren Werken seine Konzeption ableitete, entwickelte Brecht eine Realismusauffassung der Weite und Vielfalt. Sie ging »nicht von bestimmten Mustern aus, […] sondern fragt nach den gesellschaftlichen Zwecken, denen die Kunstmittel zugeführt werden sollen«. Während für Lukács die Montagetechnik »der Sündenfall des modernen Künstlers« war,

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warnte Brecht davor, bei den reinen Formfragen »allzu unbedenklich im Namen des Marxismus zu sprechen. Das ist nicht marxistisch.«40 Brecht hatte seine Gedanken in zehn Arbeitsthesen zusammengefasst, die gewissermaßen den Endpunkt der BrechtLukács-Debatte darstellten. Einleitend hieß es: »Was sozialistischer Realismus ist, sollte nicht einfach an vorhandenen Werken oder Darstellungsweisen abgelesen werden. Das Kriterium sollte nicht sein, ob ein Werk oder eine Darstellung anderen Werken oder Darstellungen gleicht, die dem sozialistischen Realismus zugezählt werden, sondern ob es sozialistisch und realistisch ist.«41 Wie sich zeigte, waren die Debatten um den Realismus bisher vorwiegend auf literarische Themen fokussiert. Nicht nur bei Brecht und Lukács standen literaturästhetische bzw. -theoretische Fragen im Vordergrund. Mit den beiden Namen als Eckpunkten war das breite Spektrum umrissen, in dem sich alle Diskutanten bewegten, die sich als marxistisch verstanden. Das kam z. B. in dem Reclam-Band Positionen zum Ausdruck, in dem jüngere Wissenschaftler über marxistische Dichter und Gelehrte schrieben, um die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede ästhetischer, literaturtheoretischer und -wissenschaftlicher Positionen darzustellen.42 Der Band stellte den Marxismus als programmatische Vielfalt dar und dokumentierte, dass sich Ende der 60er »eine relativ geschlossene marxistische Kunstauffassung nicht mehr durchsetzen« ließ.43 Zumindest den Wissenschaftlern war klar geworden, dass es von der Marxschen Theorie her verschiedene Ansätze in der Literatur-, Kunst- und Kulturtheorie geben konnte. Zugleich kam die Mittel- und Formfrage in den Blick. Sie war bisher »weitgehend ungelöst, weil sich ein Inhaltsfetischismus verfestigt hatte, der dazu führte, das Kunstwerk als gesellschaftliches Produkt nur im Prozess der Entstehung der künstlerischen Produktion und seiner inhaltlichen Aussage zu betrachten«.44 Gegen jenen Inhaltsfetischismus bildete sich nun so etwas wie eine Solidargemeinschaft der Künstler heraus, eine bestimmte Art Kollektivität gegen die Dogmatiker und Konservativen. So war in der zweiten Hälfte der 60er Jahre mit den Rückgriffen auf Marx, auf Brecht und Anna Seghers, mit den Standortbestimmungen namhafter Autoren und Künstler, mit den neuen Werken der undogmatischen Maler, Musiker, Dichter und Schriftsteller sowie mit dem Paradigmenwechsel von der Widerspiegelungstheorie/Werkästhetik zur Kommunikationstheorie/Rezeptionsästhetik eine tatsächliche Weite der lebendigen Kunst und Literatur in Gang gesetzt worden. Sie bedurfte nicht erst der offiziellen kulturpolitischen »Enttabuisierung« oder des parteipolitischen Postulats von der Weite und Vielfalt am Anfang der 70er durch Kurt Hager und Erich Honecker. Im Gegenteil, die künstlerische und literarische Entwicklung war den offiziellen politischen Prämissen davongelaufen, die Schere zwischen den modernen Künsten und der orthodoxen und schwerfälligen Kulturpolitik hatte sich weit geöffnet. Oder anders gesagt und um einen alten Vorwurf umzukehren: Die Kulturpolitik war gegenüber der kulturellen Entwicklung zurückgeblieben. III. Historisierung des sozialistischen Realismus Während die Kulturpolitik gebetsmühlenhaft übergreifende Grundsätze sowie die Einheit von Tradition und Neuerertum betonte, interessierten sich die wenigsten Künstler überhaupt noch dafür, wer sozialistischen Realismus wie definierte. Sitte bekannte sich 1975 noch einmal öffentlich zum sozialistischen Realismus, »weil sich nur mit seiner

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Hilfe Einsichten in die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Hier und Heute mit der Freiheit aller bis zur Vollendung treibenden Handschriften und Ausdrucksmittel zu einer schönen und dialektischen Einheit verschmelzen lassen«.45 Für Heisig war dagegen intern »sozialistischer Realismus« 1978 schon ein »Reizwort« geworden, wie er im Plenum des VIII. VBK-Kongresses anmerkte. Er erinnerte daran, dass die früheren Forderungen, den Realismusbegriff zu erweitern, zwar zurückgewiesen worden waren, inzwischen aber hatte sich, »plötzlich oder kontinuierlich, wie man will, der Realismusbegriff von selbst erweitert, sogar ohne zentrale Arbeitsgruppe«.46 Eine historische Zäsur setzte die Ausstellung in Berlin Weggefährten – Zeitgenossen von 1979, die zugleich den rezeptionsästhetischen und historisch-deskriptiven Akzentwechsel für die bildende Kunst demonstrierte. Mit ihr wurde eine umfassende Retrospektive der ostdeutschen Kunstgeschichte seit 1945 vorgenommen. Der 30. Jahrestag der DDR bot einen willkommenen Anlass, eine Historisierung und Neubewertung der bildenden Kunst vorzunehmen. Die Verselbständigung der Kunst und das relativ breite künstlerische Spektrum einerseits und die erweiterten und veränderten Vorstellungen über Erbe und Tradition andererseits machten eine kritische Sicht auf die Kunstpolitik und die Kunstprozesse der Vergangenheit und einen neuen Entwurf für die Geschichte der Kunst in der DDR notwendig. Die Auffassung, dass die Kunst der DDR in den Nachkriegsjahren begründet worden war, hatte sich allmählich durchgesetzt und wurde mit Ausstellung und Katalog nun offiziell vertreten. Damit waren Künstler und Werke einbezogen, die zu ihrer Zeit weitgehend ignoriert oder gar als Formalisten verdammt worden waren. In deutlichem Unterschied zur bisher üblichen Praxis wurde der Beginn der Überschau auf das Jahr 1945 vorverlegt und der Periode von 1945 bis 1949 besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die Kunstentwicklung in dieser Zeit wurde nicht mehr als bloßer Übergang oder gar Ausläufer der Vorkriegskunst betrachtet und Werken wie Wilhelm Lachnits Tod von Dresden, Horst Strempels Nacht über Deutschland oder Hans Grundigs Den Opfern des Faschismus die gebührende Anerkennung zuteil. Günter Feist schrieb im Katalog, dass es nicht mehr darum ginge, diese Periode zu »überwinden«, sondern sie fortzusetzen. »Mit anderen Worten: Nicht in der III. Deutschen Kunstausstellung hat sich die Kunst der DDR formiert, sondern schon vorher: im gesellschaftlich-künstlerischen, auf die Asso-Tradition aufbauenden Engagement der Meister der Frühzeit. Mehr noch: Im Schaffen dieser Meister sind die ersten, im Wesentlichen bis heute gültigen Maßstäbe gesetzt worden. Im Lichte dieses anspruchsvollen Vergleichs sieht manches Spätere nicht mehr so gut aus, wie man es eine Zeitlang geglaubt hat, auch dann nicht, wenn man berücksichtigt, dass immer neue Fragestellungen immer neue Antworten erforderten.«47

Während für die Künstler der Begriff vom sozialistischen Realismus »eigentlich längst belanglos geworden war«, so Sitte, fanden in den Kunst- und Literaturwissenschaften noch intensive Diskussionen statt.48 Schließlich waren sie einem marxistischen Programm verpflichtet und konnten, und wollten auch zumeist, nur in dessen Rahmen neue Konzepte verankern. Aber die Festlegung dessen, was unter Realismus wie auch unter Kunst überhaupt zu fassen war, wurde mit dem sich ständig erweiternden künstlerischen Spektrum immer schwieriger. Bis Anfang der 70er Jahre war Realismus im Wesentlichen produktions- und darstellungsästhetisch aufgefasst worden, danach hatte die rezeptions- und handlungstheoretische Wende Folgen für dessen historisches Verständnis. So

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suchten Theoretiker den sozialistischen Realismus nicht mehr als Stil oder im Formalen, sondern von der Funktion her zu bestimmen. Das Postulat vom sozialistischen Realismus als Methode ermöglichte zwar eine Vielfalt der Handschriften, ging aber von einer grundsätzlichen ästhetischen und weltanschaulichen Übereinstimmung aus, die spätestens seit Ende 1976 nicht mehr gegeben war. Und das Vordringen alternativer Kunst ließ auch viele Kunstwissenschaftler erkennen, dass eine Kunst des sozialistischen Realismus schwerlich auf gegenständliche Werke zu reduzieren war. Auf der Jahrestagung der Sektion Kunstwissenschaft des VBK im März 1976 unterschied Peter H. Feist vier gleichwertige Typen »realistischer Gestaltung«: einen »unmittelbaren«, einen »expressiven«, einen »konstruktivistischen« und einen »metaphorischen oder imaginativen« Realismus. Als noch ungelöstes Problem benannte er die abstrakte Gestaltung, die inzwischen in der angewandten Kunst der DDR mit ihrer Methode der »assoziative(n) Ausdrucksfähigkeit gegenstandsloser Formen und Farben« einen Platz gefunden hatte. Er plädierte für die Einsicht, dass »bestimmte und sicherlich begrenzte Aussagen, die mit dem Wesen und Anliegen sozialistisch-realistischer Kunst übereinstimmen, auch mit abstrakter Gestaltung zu erzielen sind«.49 Als Beispiel interpretierte er eine geometrische Stahlplastik von Johannes Belz in Karl-Marx-Stadt und sprach sich für eine konsequente Historisierung der Vorstellung vom sozialistischen Realismus aus. In den weiteren Diskussionen um den Begriff des sozialistischen Realismus näherte sich dieser allmählich dem Begriff der Kunst überhaupt an. Das Spektrum der Kunst hatte sich dermaßen erweitert, dass es vor allem die Jüngeren nicht mehr als zeitgemäß empfanden, mit den alten Worthülsen abgespeist zu werden. »Ästhetisch ließ sich der sozialistische Realismus nicht mehr definieren«, allerdings wurde nach wie vor die Notwendigkeit betont, sich vom westlichen Kunstgeschehen abzugrenzen. »Der Ausweg war das sogenannte ›funktionale Realismusverständnis‹, das sich aus dem spezifischen, funktionalistisch orientierten Verständnis der Kunst und Architektur der 20er Jahre herleiten ließ. Damit wurde als sozialistische Kunst diejenige definiert, die in irgendeiner Weise der Gesellschaft nützlich sein sollte. Dieser Auffassung hatte bereits Horst Redeker den Weg bereitet, als er vorschlug, das Kunstwerk als Fixierung eines Kommunikationsprozesses zu begreifen, in dem alle Gestaltungsmittel legitim sind, die aus einem Künstler und Publikum gemeinsamen Zeichenvorrat stammen. Der Anspruch an die Kunst, gesellschaftsbezogen zu sein, entsprach dabei überwiegend den Vorstellungen der Künstler«.50

Es ging darum, »Realismus als offenes System« zu vertreten, als ein »großes Dach, unter das viel passt«.51 Der Realismusgehalt sollte vor allem von der Wirkung eines Werkes abhängig sein. Künstlerische Freiheiten sollten nicht eingeengt, andererseits aber Kunst von Nichtkunst abgegrenzt werden. Damit hatte sich Brechts funktionale Realismusauffassung durchgesetzt. Sie bedeutet, dass das Problem von Inhalt und Form nicht allein aus dem Verhältnis von Abbild und Realität betrachtet werden darf, sondern aus den Beziehungen heraus, die ein Werk innerhalb des gesamten Kunstprozesses durchläuft. Es war nur folgerichtig, dass damit in der gesamten Kunst- und Literaturtheorie ein Wandel einsetzte: von der bisherigen ideologiekritischen und ästhetisch-normativen Betrachtungsweise zu einem kunst- und literaturgeschichtlichen Ansatz, zu einem historisch-deskriptiven Wissenschaftskonzept. Im Zusammenhang damit vollzog sich nicht nur eine Neubewertung der Avantgarde, sondern auch die Neukonzeption des Gegenstandbereichs der Ästhetik überhaupt. Nicht

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mehr allein die Kunst, sondern ästhetische Phänomene aller Art in Alltag und Lebenswelt standen nunmehr im Blickfeld der Ästhetik als philosophischer Disziplin.52 Die SED-Kunstpolitik allerdings war nicht in der Lage, diesen Wandel nachzuvollziehen. Im Gegenteil. Den Ausgereisten und Ausgeschlossenen wies Honecker einen Platz zwischen den Klassenfronten zu. Nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 und dem Exodus vieler Künstler erschien die Kunstpolitik um 1980/81 »als ein Konglomerat unterschiedlichster Einzelaktionen. Ein Durcheinander von Drohungen und Konzessionen schuf ein Klima der Konfusion. Energien wurden zur Krisenbewältigung verbraucht, der Atem für ein längerfristiges strategisches Konzept schien ganz und gar ausgegangen«.53 Ebenso blieb das Kompetenzgewirr in der Kulturpolitik bestehen und mangels eines übergreifenden Konzepts konnten einzelne Bereiche ihre Einflussmöglichkeiten ausdehnen. Hager war ein »Mann, der, wie gerade die Stimmung war, gnädig den großen Gönner spielen oder mit Brachialgewalt das kulturelle Leben des Landes durcheinanderwirbeln konnte«. Es gab »die nahezu allmächtige Kulturabteilung« beim ZK, »deren Mitarbeiter den Zugang zum heiligen Gral bewachten«. Mächtige Kulturabteilungen bei den Massenorganisationen fühlten sich berufen, »das durchzusetzen, was sie als die ›kulturellen Intentionen der Werktätigen‹ verstanden«.54 SED-Bezirksekretäre machten zuweilen ihre eigene Kulturpolitik. Der intelligenzfeindliche und militante Konrad Naumann schien in Berlin in die Fußstapfen des Leipzigers Paul Fröhlich aus der Ulbricht-Ära treten zu wollen. Nicht zuletzt wurden auch interne und verdeckte Machtkämpfe auf dem Rücken der Kulturpolitik ausgetragen. Und zwischen allen lavierte der Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann mit seinem Ministerium, um der Politik Genüge zu leisten und die Künste, soweit es ging, zu beschützen. Die »wertloseste aller Theorien«, wurde von ihm überliefert, ist die »Theorie von der Wertlosigkeit des Künstlers«.55 So war es ein Ausdruck von Hilflosigkeit, dass der FDJ übertragen wurde, eindeutige Zeichen zu setzen. Von einer Kulturkonferenz der FDJ, die am 21. und 22. Oktober 1982 in Leipzig tagte, sollten Wirkungen ausgehen, die intellektuelle und jugendliche Aufsässigkeit einzudämmen und für klare Fronten zu sorgen. Offensichtlich war das ein Zugeständnis an jene Strömung in der SED-Führung, die eine offensivere Gangart befürwortete. Der vom ›Oktoberklub‹ zum Kultursekretär des FDJ-Zentralrats aufgestiegene Hartmut König hielt das Hauptreferat. Darin ging es zum einen um die kommunistische Erziehung und das Lebensniveau der Jugend, was die Abwehr westlicher Einflüsse einschloss. Zum anderen wurden Ansprüche an das künstlerische Gegenwartsschaffen formuliert, die die Kunst in das Feld des ideologischen Klassenkampfes zurückverwiesen. Damit trat die Kulturkonferenz in die Fußstapfen des »Formalismus«- Plenums von 1951 und des »Kahlschlag«- Plenums von 1965. König lieferte ein polemisches Referat auf platt dogmatischer Grundlage ab und unterstellte, dass die Mehrheit der Künstler und Schriftsteller in Treue zum sozialistischen Realismus stünde. Das war ebenso realitätsfremd und lächerlich wie die Tonart stalinistisch. Der angekündigte Konfrontationskurs aber blieb aus. Zum einen fanden offensichtlich Ratgeber Honeckers Ohr, die entschieden davon abrieten. Zum anderen war es eben nur die FDJ und nicht die SED, Leipzig und nicht Berlin, das wurde nicht mehr richtig ernst genommen. In der Folgezeit exponierte sich Kulturpolitik kaum noch ideologisch, verwaltete pragmatisch und vermied es, direkt Gegnerschaften zu provozieren. Der SED-Führung war die Steuerung des Kunstlebens weitgehend aus der Hand geglitten.

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In den 80ern kamen auch Aktionskunst, Performance, Objektkunst, Installation, Video und anderes auf und fanden Ausstellungsmöglichkeiten. Eine junge Generation machte sich daran, die Grenzen der traditionellen Genres zu sprengen. Gegenüber den Versuchen, der IX. Kunstausstellung 1982 ideologische Korsettstangen einzuziehen, hatte sich die bildnerische Eigenständigkeit der Künstler und ihre Absage an eine Propagandafunktion durchgesetzt. Man konnte dort »das Potential erleben, mit dem die Kunstszene in den folgenden Jahren vollständig verändert wurde, was mit der widersprüchlichen Entwicklung des ganzen Landes eng zusammenhing«. Damit stellte sich auch die Frage nach dem Realismusbegriff neu.56 Allerdings wurden in Dresden nur Werke ausgestellt, die sich in die traditionellen Kategorien von Malerei, Grafik, Plastik usw. einordnen und nach bewährten Normen beurteilen ließen. Bei Angeboten, die sich diesem Raster nicht einfügten, der Jury aber ausstellenswert erschienen, wurde geprüft, ob sie nicht einer benachbarten Disziplin zumindest teilweise zuzuschlagen waren. Aktivitäten aber, bei denen das nicht möglich war, aktionistische und intermediale Arbeiten etwa, sind nicht beachtet worden. Doch abseits vom Kunstbetrieb arbeiteten junge Künstler an der Erweiterung des Kunstbegriffs. Dabei blieben die Grenzen zwischen offizieller und inoffizieller Kunst immer fließend, denn die alternative Kunstszene war kein hermetisch abgeschlossenes Underground-Milieu. Ihre Behinderungen und Verbote gingen weder von den Kollegen noch vom VBK aus. Auch wenn die führenden Vertreter des Verbands am Kunstwert der Aktionen und Performances zweifelten, waren sie jedoch dagegen, diese zu verbieten. Man redete weder in die stilistischen Fragen hinein noch verdammte man die neuen Kunstwege, strebte aber selbstverständlich Diskussionen über deren künstlerische Qualität an. Auch die überwiegende Mehrzahl der Aktionskünstler war aus den künstlerischen Hochschulen in Berlin, Dresden und Leipzig hervorgegangen und fand erste Ausstellungsmöglichkeiten in den Galerien des Kulturbunds und des Kunsthandels. Wenn es dennoch zu Schließungen von Ausstellungen und Galerien kam, sorgte dafür entweder der Staatliche Kunsthandel, der dem MfK unterstand, oder der jeweilige Kreissekretär des Kulturbunds bzw. der SED. Der VBK hatte in der Regel darauf keinen Einfluss bzw. suchte solche Restriktionen dann zu verhindern, wenn er davon Kenntnis bekam. Mit neuen Überlegungen und Versuchen zur Realismustheorie und ihrer Historisierung traten Dieter Schlenstedt Wirkungsästhetische Analysen (1979) und Literarische Widerspiegelung (1982), Robert Weimann Realität und Realismus (1984), Karin Hirdina Realismus in der Diskussion (1984), Hans-Georg Werner Wahrheit der Dichtung (1986) und Rita Schober Wirklichkeitseffekt oder Realismus? (1986) hervor. Sie betrachteten Kunst und Literatur nun als eigene Form gesellschaftlicher Aneignung und nicht mehr als Funktion ideologischer Praktiken, eröffneten eine veränderte historische Perspektive und zugleich einen pragmatisch orientierten Ansatz. Besonders Weimann stellte in seinen Überlegungen die Realismustheorie sowohl in den internationalen und weltgeschichtlichen Kontext als auch ins Verhältnis zur Herausforderung der Medien und der Moderne bzw. Postmoderne. Weimann unterstrich den Zusammenhang zum erweiterten Kulturbegriff: »Damit wird der Kunst eine bescheidenere und im höheren Maße realistische Funktion zugewiesen: Bescheiden, weil die Kunst nicht als Kurbel zur Beschleunigung der Produktionsmaschinen überfordert wird; realistisch, weil dieser Kultur- und Aneignungsbegriff die tatsächlich gesetzten Grenzen wie auch die besonderen Leistungen der Kunst bewilligt,

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weil er sowohl ihre Einzigartigkeit als auch ihre Verbundenheit mit anderen Weisen der gesellschaftlichen Kommunikation und Weltaneignung beglaubigt.« Realistische Kunst im Sozialismus müsse demzufolge »das alte, allgemeine Prinzip ihrer Weite und Vielfalt zum wirklich funktionierenden Maßstab tatsächlich erzielter Kommunikation erheben: Die Wirksamkeit und der Verkehrsreichtum der Künste waren jetzt mehr denn je an die authentische Sozialisation und Verallgemeinerung vielfältiger Erfahrung unterschiedlicher Individuen geknüpft. Entsprechend vergrößerte sich das Spektrum der künstlerischen Themen, Mittel und Methoden.« Realistische Kunst, folgerte Weimann, »war hinfort mehr auf das Mitwissen als das Vorwissen des Künstlers verwiesen, vielmehr auf die Analyse als auf Resultate, auf treffende Fragen mehr als auf gezielte Antworten«, denn das neue Verhältnis von Künstler und Publikum war auf »zivile Mündigkeit und gleichgerichtete Erfahrungsmuster bezogen«.57 Gleichwohl blieb eine angestrebte Re-Vitalisierung im Sinne eines tragfähigen neuen Konzeptes aus. Es gelang nicht mehr, »einen modernen Realismusbegriff endlich einmal jenseits der klassisch-romantischen Kunsttradition zu fundieren«.58 Der Realismusbegriff war in den 80er Jahren »eher Gegenstand historischer Reflexion als Paradigma ernstzunehmender kunsttheoretischer Wertungen. Ab 1983 tauchte er in der Themenübersicht des DDR-Hochschullehrprogramms ›Marxistisch-leninistische Kulturtheorie und Ästhetik‹ nicht mehr auf. In der zweiten Hälfte der 80er ist seine Verwendung dann kaum noch nachweisbar.«59 Von einem »Begriffsgespenst« und »einem Glasperlenspiel unter Kulturtheoretikern und Kulturpolitikern«60 zu sprechen, betraf freilich allein die Vernutzung des Begriffs als politisches Losungswort wie als ideologische Leerformel. Dagegen war für viele Künstler in der DDR der Realismus, genauer die figurative Malerei, »die exklusivste Form der Malerei«, so Harald Metzkes: »Realismus ist keine Methode, zu ihm wird man geboren.«61 »Ich male gegenständlich«, sagte Wolfgang Mattheuer, »weil ich glaube, dass dies die wesentliche unverzichtbare Form von Bildkunst ist«.62 Auch Werner Tübke war gegenständliche Malerei Anliegen, weil »es mir sozusagen auf den Leib geschneidert ist. Und weil man verstanden werden will.«63 Und Willi Sitte »wollte die Hoffnung, dass der Realismus überdauern möge, nicht so schnell aufgeben«, denn »er ist alles andere als ein Korsett.«64 Ebenso plädierte die Mehrheit der marxistischen Kunst- und Literaturwissenschaftler dafür, den Realismusbegriff beizubehalten, »um die Gemeinsamkeiten der Erscheinungen« deutlich zu machen, in denen eine sozial eingreifende Kunst und Literatur entstand, sich ausbreitete, dominant wurde und zu einer »unerhörten Bereicherung und Erneuerung« der Traditionslinien realistischer Kunst und Literatur beitrug.65 1 Anna Seghers: Die Macht der Worte. Reden, Schriften, Briefe. Leipzig und Weimar 1979,

S. 112. 2 Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Briefwechsel 1933–1958. Bd. II 1949–1958, Frankfurt

am Main 1986, S. 106. 3 Ralph Giordano: Die Partei hat immer recht. Ein Erlebnisbericht über den Stalinismus auf

deutschem Boden. Freiburg im Breisgau 1990, S. 173.

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4 Romy Mestan: »Scholochows Reise nach Prag« In: Die Zeit, 3. Juli 1958. (Archiv: Zeit onli-

ne) 5 Frank Schneider: »›Westwärts schweift der Blick, ostwärts treibt das Schiff‹ – Die neue Musik

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in der DDR im Kontext der internationalen Musikgeschichte« In: Michael Berg, Albrecht von Massow, Nina Noeske (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR. Köln 2004, S. 75. Edith Anderson: Liebe im Exil. Erinnerungen einer amerikanischen Schriftstellerin an das Leben im Berlin der Nachkriegszeit. Hrsg. von Cornelia Schroeder. Berlin 2017, S. 375. Zit. nach: Wolfgang Hütt: Schattenlicht. Ein Leben im geteilten Deutschland. Halle 1999, S. 243 f. A. Shdanow: Über Kunst und Wissenschaft. Berlin 1951, S. 21, 33, 53. Alexander Dymschitz: »Rückblick und Ausblick« In: Alexander Dymschitz. Wissenschaftler Soldat, Internationalist. Hrsg. von Klaus Ziermann. Berlin 1977, S. 77 f. »Formalismus in der Sackgasse. Der Verlauf des Streitgesprächs« In: Neues Deutschland, 20. Februar 1949. Horst Drescher: MalerBilder. Werkstattbesuche und Erinnerungen. Berlin 1989, S. 169 f. Achim Wolter: »Die internationale Bedeutung des sozialistischen Realismus« In: Elimar Schubbe (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur und Kulturpolitik der SED. Stuttgart 1972, S. 212. Bertolt Brecht: Arbeitsjournal 1938–1955. Berlin und Weimar 1977, S. 460. Eckhart Gillen: Das Kunstkombinat DDR. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik. Berlin, Köln 2005, S. 21. Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000. Leipzig 2001, S. 93. Vgl. »Die drei Formalismuskampagnen« In: Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957. Göttingen 2019, S. 399–409. Hans Grundig. Kulturpolitisches Erbe. Wissenschaftliche Beiträge. Hochschule für Bildende Künste Dresden. Dresden 1984, S. 33 f. Fritz Cremer: Nur Wortgefechte? Aus Schriften, Reden, Briefen, Interviews 1949–1989. Ausgewählt und kommentiert von Maria Rüger. Potsdam 2004, S. 44. Dritte Deutsche Kunstausstellung Dresden 1953. Dresden 1953, S. 11. Lea Grundig: »Zur Frage des ›Modernen‹« In: Bildende Kunst, 2/1957, S. 129 f. Gillen 2005 (wie Anm. 14), S. 89. Ernst Bloch: »Liegt es am System?« In: Ernst Bloch: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt/Main 1985 (Werkausgabe, 11), S. 393. Sergei Eisenstein: Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1960. Gisela Schirmer: Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie. Leipzig 2003. S. 120. Ernst Fischer: Von der Notwendigkeit der Kunst. Dresden 1961, S. 87. Bildende Kunst, 11/1961. Zit. nach: Kunstkombinat DDR. Daten und Zitate zur Kunst- und Kulturpolitik der DDR 1945–1990. Zusammengestellt von Günter Feist unter Mitarbeit von Eckhart Gillen. Berlin 1990, S. 44. Klaus Wischnewski: »Die zornigen jungen Männer von Babelsberg« In: Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Hrsg. von Günter Agde. Berlin 1991, S. 171 f. Hermann Raum: Bildende Kunst in der DDR. Die andere Moderne. Werke – Tendenzen – Bleibendes. Berlin 2000, S. 88. Lothar Lang: Malerei und Graphik in Ostdeutschland. Leipzig 2002, S. 109.

Die Aporien des sozialistischen Realismus

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30 Cremer 2004 (wie Anm. 18), S. 120 ff. 31 Ulrike Goeschen: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der

Moderne in Kunst und Kunstwissenschaften der DDR. Berlin 2001, S. 147. 32 Wieland Förster: »Aufgeschriebenes I« In: Faltblatt Kleine Galerie Greifswald, 1968. Zit.

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nach: Weggefährten – Zeitgenossen. Bildende Kunst aus drei Jahrzehnten. Berlin 1979, S. 440. Ebd. S. 55. Rüdiger Thomas: »Selbst – Behauptung« In: Gabriele Muschter, Rüdiger Thomas (Hg.): Jenseits der Staatskultur. Traditionen autonomer Kunst in der DDR. München 1992, S. 18. Roger Garaudy: Für einen Realismus ohne Scheuklappen. Picasso, Saint-John Perse, Kafka. Mit einem Vorwort von Louis Aragon. Wien 1981, S. 195 ff. Werner Mittenzwei: Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriss der Brecht-Rezeption in der DDR 1945–1975. Berlin und Weimar 1978, S. 101 f. Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Eine kulturkritische Autobiographie. Leipzig 2004, S. 250 ff. Sozialistischer Realismus – Positionen, Probleme, Perspektiven. Eine Einführung. Hrsg. von Erwin Pracht und Werner Neubert. Berlin 1970, S. 30. Vgl. »Enge und Weite des sozialistischen Realismus« In: Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft, 1958–1976, Göttingen 2019, S. 1345–1354. Werner Mittenzwei: »Die Brecht-Lukács-Debatte« In: Sinn und Form, 1/1967, S. 235–269. Bertolt Brecht: »Glossen zu einer formalistischen Realismustheorie« In: Ders. Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. II, S. 43. Bertolt Brecht: »Über sozialistischen Realismus« In: Ebd. S. 360 f. Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie in der DDR. Leipzig 1969. Mittenzwei 2001 (wie Anm. 15), S. 210. Mittenzwei 1978 (wie Anm. 36), S. 112. Wille Sitte (Faltblatt zur Ausstellung im Hamburger Kunstverein). In: Peter Sager: Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit. Köln 1982, S. 249. Bernhard Heisig: »Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir?« In: Bildende Kunst, 3/1979, S. 107. Günter Feist: »Konturen einer Entwicklung. Zur Konzeption der Ausstellung« In: Weggefährten – Zeitgenossen 1979 (wie Anm. 32), S. 21. Schirmer 2003 (wie Anm. 24), S. 269. Peter H. Feist: »Sozialistischer Realismus. Positionen, Tendenzen, Probleme« In: Bildende Kunst, 8/1976, S. 411. Goeschen 2001 (wie Anm. 31), S. 227. Vgl. Horst Redeker: Abbildung und Aktion. Versuch über die Dialektik des Realismus. Halle 1967. Karl Max Kober: »Die Verantwortung des Künstlers in unserer Zeit« In: Bildende Kunst, 2/1980, S. 58 ff; Bernd Lindner: Nähe + Distanz. Bildende Kunst in der DDR. Erfurt 2017, S. 59. Vgl. Ästhetik heute. Autoren: Joachim Fiebach, Michael Franz, Heinz Hirdina, Günter Mayer, Erwin Pracht (Leitung), Renate Reschke. An der Ausarbeitung haben mitgewirkt: Irene Dölling, Wolfgang Heise, Arno Hochmuth, Norbert Krenzlin, Waltraud Schröder. Berlin 1978. Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln 1995, S. 187.

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Gerd Dietrich

54 Horst Grunert: »Er ließ sich nicht vertreiben« In: Gertraude Hoffmann, Klaus Höpcke (Hg.):

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»Das Sicherste ist die Veränderung«. Hans-Joachim Hoffmann, Kulturminister der DDR und häufig verdächtigter Demokrat. Berlin 2003, S. 119. Heinz Gundlach: »Es ist keinem gestattet, die Axt zu nehmen« In: Ebd., S. 83. Raum 2000 (wie Anm. 28), S. 199. Robert Weimann: »Realität und Realismus. Über Kunst und Theorie in dieser Zeit« In: Sinn und Form, 5/1984, S. 934 ff. Ebd., S. 950. Oliver Müller: »Sozialistischer Realismus – allmähliche Auflösung eines Leitbegriffs?« In: Wolfhart Henckmann, Günter Schandera (Hg.): Ästhetische Theorie in der DDR 1949–1990. Berlin 2001, S. 119. Jäger 1995 (wie Anm. 53), S. 41, 51. www.harald-metzkes.de/Äußerungen, Zugriff 09.07.2020; Lindner 2017 (wie Anm. 51), S. 59. Wolfgang Mattheuer: Äußerungen. Graphik, Texte. Leipzig 1990, S. 174. »Werner Tübke« In: Sager 1982 (wie Anm. 45), S. 254. Schirmer 2003 (wie Anm. 24), S. 343; »Wille Sitte« In: Sager 1982 (wie Anm. 45), S. 249. Rita Schober: »Wirklichkeitseffekt oder Realismus? Versuch einer Bilanz (1986)« In: Dies.: Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft. Essays. Halle/Leipzig 1988, S. 58.

Rüdiger Küttner Kunsthandel in der DDR. Geschichte und Geschichten eines Zeitzeugen. Die Phantasie ist schlimmer als die Wirklichkeit

Und das bis heute noch. Um es gleich zu sagen, der Kunsthandel hat Hervorragendes geleistet mit seinem Netz der Galerien zeitgenössischer Kunst, seinen Werkstätten, Antiquitätengalerien, Philatelie- und Numismatikgeschäften, Auktionen und nicht zuletzt dem Außenhandel mit Gegenwartskunst. 1974 erfolgte die Gründung des Staatlichen Kunsthandels der DDR, VEH Bildende Kunst und Antiquitäten, ein Name gut für Irritation. Bediente er doch alle Vorurteile von Reglementierung, Bevormundung und Zensur. Hinzu kommt die bis heute anhaltende Verwechselung mit der Kunst- und Antiquitäten GmbH, Bestandteil des Bereichs kommerzielle Koordinierung, der mit dem Namen Alexander Schalck-Golodkowski verbunden ist und ausschließlich und mit wenig redlichen Methoden für die Devisenbeschaffung zuständig war. 1974, die DDR hatte einen total unterentwickelten Kunsthandel und eine entwickelte Kunst. Ein Missverhältnis, das auch die Führenden in Staat (Ministerium für Kultur) und Partei (ZK der SED) schmerzte. Denn die Künstler machten Druck, waren immer emanzipierter. Der real existierende Kunsthandel (Johannes Kühl, Dresden, privat) und sechs Genossenschaften bildender Künstler (Berlin, Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Weimar, Hildburghausen) waren für die Künstler keine Alternative. Der Zeitpunkt 1974 ist wichtig, die Szene verändert sich, Kunst folgt immer stärker ihrer inneren Bestimmung, die Offiziellen finden in der Förderung einen Ausweg. Agreements haben Konjunktur. Die Front der Hardliner wird durch die Realisten vorsichtig zersetzt. Von den 50er und 60er Jahren distanzierten sie sich gemeinsam. Spätestens jetzt gibt es keine DDR-Kunst mehr (wenn es sie je gab) und keinen sozialistischen Realismus mehr (wenn es ihn je gab). Zu sprechen ist von einer Kunst in der DDR, die sehr verschiedene Zentren hat (Berlin, Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt) und die in den Zentren sehr verschiedene Künstler hat. Das Beispiel Dresden verdeutlicht 40 Jahre lang diese Situation. Unterschiedliche Förderung und Prominenz war natürlich von der Tagespolitik direkt beeinflusst. Das Beispiel Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, zeigt, wie mit der Gruppe Clara Mosch in den ca. letzten zehn Jahren der DDR, Künstler, die, oberflächlich betrachtet, eher der Dissidentenszene zuzurechnen waren, die für diesen Bezirk maßgebliche Künstlergruppe wurde. Es ist sehr banal. Da häufig von der DDR, der ehemaligen, als Ganzes und wie von einer Zeiteinheit gesprochen wird, übersieht man die große Verschiedenheit der Personen, der Zeit, des Faches und der Landschaft. Hier ist die Rede von den letzten 15 Jahren DDR, ca. 2.000 Malern, Grafikern und Bildhauern, dem Kunsthandel in 15 Bezirken und einer Kulturszene, die ihren eigenen Wertmaßstab hatte, immer schon liberalisierter war, als z. B. Literatur, Film oder Thea-

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ter, da sie abstrakter, weniger ideologisch besetzt war und sich damit den Mächtigen entzog. Man verstand vieles nicht mehr und wollte es nicht zugeben. Auch die Bildung des Staatlichen Kunsthandels war Förderung und Ausweg. Mit ihm sollten die Absatzmöglichkeiten und die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Künstler verbessert werden. Die Konstruktion, wie sie im Ministerratsbeschluss, dem politischen Gründungsdokument, fixiert war, und so wesentlich durch Peter Pachnicke, dem ersten Generaldirektor, ausgearbeitet war, hatte sehr spezifische, den Möglichkeiten der DDR entsprechende Gedanken. Grundidee war, den existierenden VEH Antiquitäten (VEH für Volkseigenen Handelsbetrieb) als wirtschaftlichen Sockel für die zeitgenössische Kunst zu nutzen und damit von Anfang an den ökonomischen Druck herauszunehmen. Der VEH Antiquitäten verfügte über eine kleinere Kette von Antiquitäten-Galerien von Erfurt bis Rostock und war wirtschaftlich sehr gesund. Diese beiden Säulen wurden parallel entwickelt, so dass der Betrieb weiter gewinnbringend arbeiten konnte. Es stellte sich bald heraus, dass Arbeits- und Produktionsgrundlagen für die Künstler fehlten bzw. unzureichend waren. Gute Farben, Papiere, Staffeleien etc., aber auch Werkstätten für Grafikdruck, Gießereien fehlten ganz bzw. vegetierten dahin. Hier entstand die dritte Säule: Produktion. Schließlich wurden noch Fachgeschäfte für Numismatik und Philatelie dem Kunsthandel angeschlossen und das Verkaufsnetz ausgebaut. Das führte zu einer nochmaligen ökonomischen Stabilisierung. Alle Maßnahmen orientierten sich an der zentralen Aufgabe, dem Handel mit bildender und angewandter Kunst. Dieses Netz der Galerien wurde zügig ausgebaut. Zwei Gründe sprachen dafür. Es gab eine junge und begeisterte Mannschaft mit einem Generaldirektor, der selbst der jüngste seines Berufsstandes damals war und mit einer für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen Energie ausgestattet war, und schließlich die Tatsache, dass man nur mit einem jungen Ministerratsbeschluss viel erreichen kann. Zwei Jahre später kräht kein Hahn mehr danach. Dann gibt es wieder wichtigere Aufgaben, mit deren Unterstützung sich die Bezirksverwaltungen schmücken konnten, bis auch diese wieder in der Bürokratie versacken. Also hatten wir nach ca. zwei Jahren die Grundstrukturen dieses neuen Betriebes in der DDR geschaffen. Der Betriebsbegriff ist nur bedingt berechtigt, da er anfangs ein offenes Gefüge war und stärker Strukturen einer Organisation trug. Dennoch war es ein zentral geleiteter, geplanter, abgerechneter, dem Ministerium für Kultur unterstellter Betrieb mit Sitz in Berlin. Er arbeitete nach der wirtschaftlichen Rechnungsführung und hatte den Gewinn, im Rahmen der Planauflage durch das Ministerium für Kultur, an den Staatshaushalt abzuführen. Die Struktur der Organisation ergab sich aus unserem Grundsatz und dem inhaltlichen Zwang, den Betrieb an der langen Leine zu führen. Oberste Prämisse war, kein zentraler Ankauf, keine zentrale Warenversorgung und möglichst selbständige Galerien. Das Profil einer Galerie wird durch die Persönlichkeit des Galerieleiters geprägt, so hofften wir. Der vernünftige ökonomische Rahmen sollte durch den Verantwortlichen mit Inhalten und Ideen gefüllt werden. Am Anfang, in der »Pionierzeit«, hat das noch ganz gut geklappt. Später nur noch in einzelnen Fällen, in den Fällen, die dann, wenn die Galerieleiter sich nicht nur als Angestellte sahen, sondern wie es in diesem Job, auch unter »sozialistischen« Bedingungen, erforderlich war, mit einer Vision ausgestattet waren, die nicht einfallslose Kulturbürokraten, sondern leidenschaftlich und besessen waren.

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Es herrschte für kurze Zeit Aufbruchstimmung. Sehr bald schon sickerte der DDRAlltag durch jede Ritze. Es existierte ein für die DDR atypisches Modell, das dennoch wie kein anderes für die DDR hätte gültig sein können, und es wurde durch das Gesamtverhalten mit der üblichen Einheitssoße verunreinigt. Ein Modell, das durch die Gegebenheiten zum Scheitern verurteilt war. Dabei scheiterte es nur an seiner Möglichkeit, Größeres zu erreichen, Kreativität aufzunehmen, intelligent und entschieden zu operieren und den Beteiligten einen größeren Lustgewinn zu garantieren. Trotzdem lief der Laden ganz gut, und er war immer noch ein bisschen besser als vieles andere. Mit zunehmender Größe des Betriebes verlangsamte sich seine Entwicklung, und es zeichneten sich Tendenzen der Verfettung ab. Die »Regierungszeit« von Erich Pachnicke neigte sich dem Ende zu, nach Apparaterfahrung wurde Ausschau gehalten. Zuvor aber versuchte Pachnicke noch die Aussöhnung der DDR mit Gerhard Altenbourg, und es konnte ihm nur die Normalisierung und Loyalisierung der Arbeit mit seinem westlichen Händler gelingen. Dennoch ein wichtiger Schritt, dem erste Ansätze der Internationalisierung des DDR-Kunsthandels folgten. Nicht ohne vorher den selben Versuch mit den sozialistischen Ländern zu unternehmen, der zunächst fehlschlug, aber den Spielregeln entsprach. Bevorzugt waren zunächst Partner außerhalb der Bundesrepublik, so z. B. Emilio Bertonati von der Galeria de la Vante in Mailand. Bertonati interessierte sich sehr für die DDR-Manieristen Werner Tübke und Heinz Zander, aber auch für Neusachliche wie Wilhelm Höpfner aus Magdeburg und den Dresdner Kreis. Außerdem bot er die Möglichkeit, über seine Dependance in der Stuck-Villa in München über den Süden in die Bundesrepublik vorzudringen. Das waren damals notwendige Taktierereien, die verhinderten, dass der Keim gleich wieder erstickt wurde. Schließlich war die ART Basel geradezu ein maßgeschneiderter Platz für den ersten Messestand des Kunsthandels der DDR auf neutralem Terrain. In Berlin hatte inzwischen der Verbandskongress der Bildenden Künstler getagt und ein neues Präsidium und einen neuen Präsidenten gewählt. Er hieß Willi Sitte. Einer seiner Vizepräsidenten wurde Bernhard Heisig, der, selbst als Präsident vorgeschlagen, den Posten ablehnte und seinerseits Willi Sitte vorschlug. Damit existierte eine neue Macht im Staate und für die bildenden Künstler. Die erste Entscheidung des Präsidiums war: Die Politik wird durch die Künstler und für die Künstler gemacht. Das mag selbstverständlich klingen, war es aber bis dahin nicht. Denn bisher machte das Sekretariat des Verbandes die Politik, angeleitet durch die Kulturabteilung der Partei. Die Künstler des Präsidiums segneten die Beschlüsse ab. Horst Weiß war bis dahin langjähriger 1. Sekretär des Verbandes und repräsentierte die alte Linie. Willi Sitte holte sich Horst Kolodziej und schickte Weiß nach Moskau zur Parteihochschule. Ein Jahr Denkpause, dagegen existierte kein Argument. Inzwischen drehte sich das Kaderkarussell, und Weiß landete auf Pachnickes Posten und Pachnicke in der Versenkung. Bernhard Heisig nahm sich seiner an und holte ihn an die Hochschule für Grafik und Buchkunst, deren Rektor er damals war. Das war ein übles Spiel, nicht die Entscheidung von Heisig, aber alle, die davor lagen. Mit Hilfe der ABI (Arbeiter-und-Bauern-Inspektion) und einzelner Hardliner der Leitung wurde Pachnicke »geschlachtet«. In der DDR-Bürokratie gab es fast ausschließlich Anordnungen, die, wenn man etwas verändern wollte, objektiv nicht einzuhalten waren. Es war ein leichtes Spiel, und Pachnicke hat es ihnen zusätzlich leicht gemacht. So intellektuell er war, so gutgläubig war er. Eine fatale Mischung. Die Zeit des Aufbruches und der

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schnellen Entscheidungen war beendet. Von nun an wurde Maß genommen. Die neue Linie lautete: »Sieben mal messen, bevor man einmal abschneidet« (O-Ton Horst Weiß). Es entstand eine eigentümliche Mischung aus Liberalität und Dogmatisierung. Pachnickes Devise »Tue Gutes und rede darüber« wurde ersetzt durch die Devise »Schweigen ist Gold«. Letztere Auffassung machte in dieser Zeit Sinn, besonders nachdem die Offiziellen auf den Betrieb aufmerksam geworden waren. Kaum jemand kannte die tatsächlichen Hintergründe, die zu der Leitungsveränderung geführt hatten. Ich selbst kann sie auch nicht belegen, sondern habe sie mir im Laufe der Jahre aus vielen Einzelgesprächen zusammengereimt (u. a. mit Willi Sitte, Horst Weiß, Dietmar Keller). Für viele der Offiziellen galt es, nun wachsam zu sein. Schließlich wurde der alte Generaldirektor mit einem Partei- und Disziplinarverfahren gestürzt. Weiß konzentrierte sich auf die Berichterstattung ökonomischer Erfolge. Das beruhigte die Gemüter. Überdies war inzwischen die Generaldirektion nahezu neu besetzt, und es wurden die Bezirksdirektionen entwickelt. Vielen der neuen Leiter war die Ausgangsidee des Kunsthandels nicht mehr zu vermitteln. Aus dem Kunsthandel wurde zusehends ein Kombinat kulturellen Charakters. Guter, teilweise sehr guter Kunsthandel fand nur noch in einigen wenigen Galerien statt, die trotz der Veränderungen sich selbst treu blieben. Gerechtigkeitshalber muss erwähnt werden, dass gerade diese Galerien besonders gefördert wurden. Es waren in Berlin die Galerie Arkade, geleitet von Dr. Klaus Werner, die sich durch umfangreiches Katalogprogramm mit wissenschaftlicher Prägung auszeichnete, später die Galerie am Strausberger Platz, die von Manfred Schmidt geleitet wurde und Auktionstätigkeit im zeitgenössischen Bereich einführte, und die von Inga Kondayne geleitete Galerie im Alten Museum, die die Berliner Schule vertrat. In Leipzig war es die Galerie am Sachsenplatz, geleitet von Hans Peter Schulz, die Künstler des Bauhauses und der Leipziger Schule im Programm hatte und umfangreichstes Katalogprogramm präsentierte. Weitere Galerien zu nennen, die diesem Qualitätslevel entsprachen, fällt schwer. Es gab ein breites Mittelfeld: Galerie Unter den Linden (Berlin), Neue Dresdner Galerie (Dresden), Galerie Spektrum (Karl-Marx-Stadt), HanseGalerie (Halle), GreifenGalerie (Greifswald) und eine Reihe bemühter Schlusslichter. Insgesamt am Ende 40 Galerien. Die Wirksamkeit von Kunsthandel für Eliten wurde nicht nur abgelehnt. So dümpelte das Schiff mehr und mehr im Brackwasser, und der Kapitän konnte von seiner Vorliebe, nicht unbedingt positiv auffallen zu wollen, auch dann nicht lassen, als der einstmals stolze Dreimaster zu einer Barkasse mutierte. Weiß wusste wohl, was da geschah, aber er wurde die Geister nicht mehr los, die er rief. Gerufen hatte er sie mit Hilfe seiner Kaderpolitik: die Ökonomen und vor allem die Bezirksdirektoren. Zu letzteren gehörte ich selber kurze Zeit. In dieser Funktion setzte ich mich sehr bald für die Auflösung dieser Leitung ein, da ich sie für völlig überflüssig hielt. Weil sie erstens fast ausschließlich inkompetent besetzt war und zweitens nicht zur Erleichterung der Arbeit beitrug. Von nun an wurden unsinnige Statistiken, Analysen, Kontrollen, Anleitungen, Besprechungen etc. Praxis. Alle diese »Aktivitäten« zeichneten sich dadurch aus, dass die Qualifizierungsmaßnahmen durch die Leiter der Einrichtungen (z. B. Bildende Kunst, Antiquitäten, Numismatik, Philatelie) dem Bezirksdirektor galten. Der Mangel an Kompetenz in der Leitung wurde mit Bürokratie aufgefüllt. Unkenntnis führt zu Ideologisierung, und so wehte in der Provinz ein starker »Ost«-Wind. Meine »Palastrevolte«

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führte dazu, dass ich überflüssig wurde, auch durch eigenen Wunsch, und alle anderen blieben. Auch in der Kaderpolitik wurden neue Kriterien gesetzt, und Horst Weiß sah darin seine wichtigste Leitungsverantwortung. Waren bei Pachnicke fachliche Qualifikation und Loyalität Voraussetzungen für Leitungsaufgaben, war für Horst Weiß politische Zuverlässigkeit ausschlaggebend. Fachliches Wissen konnte in der täglichen Praxis erworben werden. Das schloss natürlich nicht aus, dass beides willkommen war – nur die Priorität war anders gesetzt. Ein lustiges Beispiel: Ich war inzwischen Direktor der Abteilung Internationale Beziehungen und leitete eine wirkungsvolle, fleißige und junge Gruppe. Es waren qualifizierte und einsatzbereite Leute, die alle ihren Weg nach der Wende gefunden haben: Helle Coppi, Doris Leo und Rainer Ebert wie auch die technischen Mitarbeiter entsprachen nicht dem typischen Bild des »DDR-Arbeitnehmers«. Zu nennen sind auch Angelika Walter und Anka von Witzleben, die sich später in den Westen absetzten. Außerdem machte die Arbeit Spaß, und wir verstanden uns gut. Abgesehen davon, dass mit der »Republikflucht« von Walter und von Witzleben eine starke Belastung für unseren Bereich verbunden war, geschah wie durch ein Wunder nichts Wesentliches. Nur das Übliche in solch einem Fall: stärkere Wachsamkeit etc. Ich fürchtete schon das Ende der zarten Pflanze Außenhandel mit zeitgenössischer bildender Kunst. Zu viele der Künstler standen abseits, und zu viele der Funktionäre waren skeptisch. Es staute sich Frust. Die so entstandene Gelegenheit wäre zu nutzen gewesen. Doch das unterblieb. Stattdessen wurde nach neuen Kräften Ausschau gehalten. Horst Weiß fand schnell die Erlösung: eine Dame vom VEH Intertex (einem Außenhandelsbetrieb für Textilien). Besondere Kenntnisse: keine – außer: Sie war Delegierte des VIII. Parteitages der SED und damit besonders zuverlässig. Eine Delegierte eines Parteitages, es konnte einem nichts Besseres widerfahren! Horst Weiß war stolz auf seine Errungenschaft und ich entsetzt. Der Krach war vorprogrammiert, zumal schon alles klar war, Einstellungszusage etc. Wir einigten uns auf ein Agreement. Ich konnte sie »prüfen«. Wenn sie besteht, kommt sie dazu, wenn nicht, hat Weiß ein Kaderproblem. Ich stelle nur vier Fragen. Die erste: Welche Ausstellungen haben Sie in letzter Zeit gesehen? (Es war gerade die VIII. Kunstausstellung in Dresden zu Ende gegangen.) Antwort: keine. Die zweite: Welche Kunstwerke der jüngeren Zeit sind Ihnen in besonderer Erinnerung? Ich ahnte es: keine. Drittens: Die Tätigkeit, die Sie beginnen wollen, ist vergleichbar mit der eines Galerieleiters. Welches wären Ihre sechs liebsten Ausstellungen im ersten Jahr? Lassen Sie sich Zeit. Sie schonte ihre und meine Zeit. Und die letzte Frage: Ob sie mit dem einen oder anderen Künstler befreundet sei bzw. ihn besser kenne? Antwort: nur den Herrn Bentzien. (Es gab mal einen Kulturminister gleichen Namens.) Den kannte ich nun leider nicht, und ich stellte ihr noch eine Frage: Ob sie nicht bei VEB Minol (Tankstellenkette) beginnen wolle. Damit hatte Horst Weiß ein Kaderproblem und ich die freie Auswahl. Ich erzähle die Geschichte nur deshalb, weil sie deutlich macht, dass man vieles erreichen konnte, wenn man wollte. In der abstrakten Verurteilung der Verhältnisse scheinen mir diese Bedingungen immer zu wenig beachtet. Hier könnte ein langer Abschnitt über Wahrheit und Wirklichkeit folgen. Ich muss schon im Interesse des mir auferlegten Themas darauf verzichten. Nur so wenig: Besonders mit der Wende wurde mir immer bewusster, dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur Wirklichkeit. Was uns helfen kann, ist allein der Versuch, andere Wirklichkeiten zu verstehen und so füreinander Verständnis zu entwickeln. In der durchaus privilegierten Stellung eines Kunst-Außen-Händlers der DDR habe ich

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viele Vergleiche machen können: zwischen Ost und West, zwischen Künstlern und Künstlern, zwischen Händlern und Händlern, zwischen Künstlern und Händlern, zwischen offiziell und privat, zwischen Ost und Ost und West und West und vor allem zwischen »vor der Wende« und »nach der Wende«. Fazit: Die Interessen des Menschen sind der Mensch. Da der Mensch selten seine Interessen preisgibt, sondern allenfalls ihren Reflex, ist die Verwirrung schnell sehr groß. Also wieder zurück zur Auflösung der Verwirrung. Eine immer noch gängige Grundverwechselung ist die zwischen dem Staatlichen Kunsthandel und der Kunst- und Antiquitäten GmbH. Es tut mir leid, ich muss es nochmals sagen, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Der Kunsthandel der DDR war dem Ministerium für Kultur unterstellt und die Kunst- und Antiquitäten GmbH dem Bereich Kommerzielle Koordinierung (ein Spezialzweig des DDRAußenhandels mit weitreichenden Kompetenzen), allgemein bekannt geworden mit Schalck-Golodkowski. Dennoch gibt es »urzeitliche« und dauerhafte Verbindungen zwischen beiden Betrieben. Die »urzeitliche« ist folgende: Der VEH Antiquitäten, wie am Anfang erwähnt, der Gründungsbetrieb des Staatlichen Kunsthandels, hatte eine Planaufgabe dem Außenhandel gegenüber zu erfüllen. Diese sah vor, Antiquitäten im Wert von vier Millionen VM (Valuta Mark) im Jahr für den Export bereit zu stellen. Das gefiel uns überhaupt nicht, war aber die Eintrittskarte für den neuen Betrieb. Ein Erbe, das nicht ausgeschlagen werden konnte, mit dem aber auch eine Grundlage für Veränderung gegeben war. Etwa zeitgleich übernahm die kurze Zeit später gegründete Kunst- und Antiquitäten GmbH die Plansumme als dafür zuständiger Außenhandelsbetrieb. Es begann ein zähes Ringen, den Export von Antiquitäten abzubauen. Der Minister für Kultur konnte sich damit wahrhaftig nicht schmücken, doch der Außenhandel war mächtig. Der erste erreichte Kompromiss war, keine wertvollen Antiquitäten mehr zu exportieren. Die zeitliche Grenze wurde mit der Jahr 1850 gesetzt. Auch für die Folgezeit galten zusätzliche Einschränkungen. Das Schwergewicht wurde jetzt auf »Gebrauchsgut kulturellen Charakters« gelegt, auch als »Sperrmüll kulturellen Charakters« bezeichnet. Diese erreichte Verbesserung machte bald den Nachteil erkennbar, dass jetzt für den gleichen Wert, z. B. eines Schrankes, eine LKW-Ladung das Land verließ. Auch das ging an die kulturelle Substanz. Die war ohnehin schon sehr beschädigt, da generell nichts Adäquates ins Land kam und mit der weiter anhaltenden Ausreise, besonders der kulturell tragenden Schichten, die Decke immer dünner wurde. Auch räumte die Kunstund Antiquitäten GmbH professioneller die Reste ab. Beruhigend ist bei alledem, dass das meiste von Deutschland nach Deutschland ging und vieles dadurch gerettet wurde, was in der DDR längerfristig tatsächlich auf dem Müllplatz gelandet wäre. Es musste also ein Ausweg aus der Misere gefunden werden. Er bestand schließlich in der merklichen Reduzierung der Exportauflage von Antiquitäten durch die Entwicklung des Exports zeitgenössischer Kunst. Für diese Aufgabe war ich ca. zehn Jahre, bis zum Ende des Kunsthandels, verantwortlich. Ich war überzeugt von der Notwendigkeit und Richtigkeit dieser Entwicklung. Diese Arbeit half effizient, provinzielle Enge zu überwinden – für die Kunst, die Künstler und schließlich auch für uns selbst. Die Auswirkungen dieser Aktivitäten waren gewaltig. Sie führten zu mehr Liberalität und zu einer größeren Wertschätzung der Kunst im Osten, die Erfolge sprachen sich herum und konnten nicht mehr völlig ignoriert werden. Kunst, die bis dahin unbeachtet blieb, in Ausstellungen, in Ankäufen und Aufträgen, begann sich durchzusetzen, konnte nicht mehr so einfach bei Seite geschoben werden. Ein wunderbares Beispiel dazu:

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Hartwig Ebersbach, der bedeutende Leipziger Maler, war es gewohnt, übergangen zu werden. Er passte nicht ins Bild der Funktionäre vom »sozialistischen Realismus«. Zur VIII. Kunstausstellung in Dresden reichte er kein Bild mehr ein. Er war genügend gedemütigt. Inzwischen hatte er Ausstellungen in Frankfurt am Main, Düsseldorf (ihm wurde der Kunstpreis der Stadt Düsseldorf überreicht), war beteiligt an der ART Basel und Art Cologne, durch den Staatlichen Kunsthandel der DDR, und wurde leidenschaftlich durch Peter Ludwig gesammelt. Das hatte sich herumgesprochen. Wenn er nun nicht auf der erwähnten Ausstellung in Dresden dabei ist, handelt es sich um ein Politikum. Also erhielt ich einen Anruf aus dem Ministerium für Kultur. Ich sollte ihn überreden einzureichen. Er weigerte sich weiter. Die erlösende Idee war, Peter Ludwig um eine Leihgabe zu bitten. In meinem Büro wartete der fünfteilige Zyklus Kaspar / Abwicklung eines Porträts I auf die Auslieferung nach Aachen. Ludwig war sofort einverstanden, diese Gruppe nach Dresden zu geben, mit dem Zusatz, sie als Leihgabe der Sammlung Ludwig in der Ausstellung und schließlich im Katalog zu dokumentieren. Das machte dann auch Ebersbach Spaß und wurde in der Ausstellung stark beachtet. Es wird für den westlichen Leser schwer nachvollziehbar sein, welche Dogmen in diesem Prozess zu durchbrechen waren. Dass Kunstwerke für schnöden Mammon unwiederbringlich in »Feindesland verhökert« wurden, war für viele eine Ungeheuerlichkeit. Anders als in der darstellenden bzw. der technisch reproduzierbaren Kunst wurde hier das Unikat, das originäre, unersetzbare außer Landes verbracht. All das war natürlich dummes Zeug, spielte aber in den Auseinandersetzungen eine riesige Rolle. Wenn der Tenor Peter Schreier an der Metropolitan Oper in New York auftrat, konnte man das auf der ersten Seite der Zeitung Neues Deutschland als Erfolg der DDRKulturpolitik lesen. Wenn z. B. Werner Tübke eine (Verkaufs-)Ausstellung in New York hatte, war diese mit der Anweisung an die Presse verbunden, darüber keine Zeile zu schreiben. Der Mantel des Schweigens legte sich über dieses Kapitel, und hier benahm sich die »DDR« wieder mal wie eine Verlobte. Damit waren auch wieder Vorteile verbunden, z. B. dass man mehr machen konnte, als manch anderer, wenn man sich nur traute. Beispielsweise musste mein nichtkommerzieller Amtsbruder Wolfgang Polack als Direktor des Zentrums für Kunstausstellungen zu jeder noch so belanglosen Ausstellung eine Ministervorlage erarbeiten. Wir konnten dagegen z. B. auf der Art Cologne einen Messestand vorbereiten, der an diesem Ort objektiv eine große Beachtung fand, ohne jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Das waren ja »nur« kommerzielle Ausstellungen, die aber ein großes Wirkungsfeld in sich bargen. Die neu gewonnenen Möglichkeiten förderten die Kunst, sie entfesselten ungeahnte Leistungen bei den Künstlern. Hatten sie doch plötzlich neue und sehr attraktive Angebote vor Augen, eingeschlossen der damit verbundenen Geldquellen und Reiseziele. Ich wurde einmal, es ist schon lange her, auf dieser Messe gefragt, wer die Auswahl der Künstler bzw. der Kunstwerke gestattet habe. Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Wir selbst.« Das glaubte man nicht. Ich habe dann hinter vorgehaltener Hand zugegeben, dass es Erich Honecker persönlich war. Das wurde schon eher geglaubt. Die analoge Geschichte Jahre später, 1990 auf der Art Cologne. Diesmal schon als »Galerie Berlin«. Ein kompetenter Besucher (Kunstjournalist) freut sich: »Toll, wie schnell die neu gewonnene Freiheit die Kunst befreit hat.« Ich machte darauf aufmerksam, dass die Bilder (fast) alle noch in der DDR gemalt wurden. Antwort: »Dann durften sie aber nie gezeigt werden.« Leider wieder falsch. Ich sagte, welches Bild auf welcher

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Ausstellung in der DDR gezeigt wurde, unter anderem auf der Kunstausstellung in Dresden. Ergebnis: Ich rede die DDR schön. Wenn einem das auch noch gefällt, müssen wasserdichte Entschuldigungen her. Er wusste, wovon er spricht. Jetzt könnte ein Missverständnis auftreten. Das vorher Gesagte bedeutet nicht, dass wir immer entscheiden konnten und wollten, wer wo und in welcher Ausstellung beteiligt war. Das taten wir nur bei den Messen. Die übergroße Mehrheit der westlichen Kunsthändler und Galeristen entschieden selbst, welchen Künstler mit welchen Werken sie ausstellten. Im Verständnis der Beteiligten und Nichtbeteiligten sah das dann so aus: Beteiligt war man dank des Einsatzes des westlichen Partners, nicht beteiligt war man durch den Staatlichen Kunsthandel. Überhaupt wurde gerne die DDR dafür verantwortlich gemacht, keine oder geringe Chancen für Ausstellungen wahrnehmen zu können. War es nun mangelnde Begabung, Können, Fleiß oder einfach nur Pech. Der Staat in seiner mütterlichen Rolle: erziehend, tadelnd, belobigend, bestrafend, verhindernd, befördernd, lieferte dem Betroffenen eine willkommene Erklärung für seine Erfolglosigkeit. Die Wende brachte mehr Ehrlichkeit. Leider führen bis heute die schlechte Marktsituation und die allenthalben leeren Kassen zu einer brutalen Ehrlichkeit. Interessant ist die Teilnehmerliste unserer ersten großen Ausstellungen 1980 Malerei und Grafik aus der DDR und Zeitvergleich 1983. Die Namenslisten waren nahezu identisch. Ich nenne die Beteiligten des Zeitvergleich vollständig, da sie die in jeder Hinsicht repräsentativere war: Gerhard Altenbourg, Carlfriedrich Claus, Hartwig Ebersbach, Sighard Gille, Bernhard Heisig, Gerhard Kettner, Gregor Tosten Kozik, Walter Libuda, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte, Volker Stelzmann, Werner Tübke und Hans Vent. Inhaltlich vorbereitet wurde die Ausstellung von Dieter Brusberg, Axel Hecht, Eberhard Roters, Uwe M. Schneede und auf östlicher Seite vom Staatlichen Kunsthandel: 13 Künstler, zu denen im einen und anderen Fall natürlich verschiedene Auffassungen existierten, die aber heute immer noch jeder Kritik standhalten! Darunter sind fünf Künstler, die zum damaligen Zeitpunkt in der DDR keine offizielle Beachtung fanden. Bis zum heutigen Tag sind diese Künstler geachtet und in den östlichen wie westlichen Sammlungen, national und international, gut vertreten. Wen wundert es, bei dem Einblick und Weitblick der Auswahlgruppe. Um so mehr wundert es, wenn Karin Thomas noch 1990 in einer WDR-Talkshow den Staatlichen Kunsthandel für eine ihrer Auffassung nach angepasste und sterile Kunstszene verantwortlich machen wollte? Dabei ist einerseits erstaunlich, welchen Einfluss sie uns zugestanden hat, und andererseits die Begründung, die sie mitlieferte: Dass man heute einen Künstler wie Jörg Herold kennt, liege erstens an der Wende und zweitens an Gerd Harry Lybke. Dass seine Galerie Eigen + Art Jörg Herold frühzeitig entdeckte, ist völlig richtig. Was Karin Thomas unerwähnt ließ, ist die Tatsache, dass er 1990 gerade im zweiten Studienjahr an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee studierte. Hier war nicht nur das Beispiel schlecht gewählt, hier war die böse Absicht tonangebend, wie so oft und von so Vielen nach der Wende. Das Baselitz-Beispiel machte Schule, und es wird in der Erinnerung immer geschmackloser, je stärker die Wunden verheilen. Leider wurden wir damals in eine fatale Situation der Rechtfertigung gedrängt. Das hatten wir nicht nötig, aber es war schwer, dagegen anzukommen. Die Argumente werden heute besser verstanden. Hinzugekommen sind Künstler der nachwachsenden Generation, wie mit dem Beispiel Jörg Herold schon dargelegt. Unsere Zielgruppe waren Händler von Rang. Wir bemühten uns

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immer, große und professionell geführte Galeristen als Partner zu gewinnen. Die vorhandene Unkenntnis und die festsitzenden Vorurteile konnten nur mit Hilfe prominenter und geachteter Kunsthändler überwunden werden. Der wichtigste Partner war in all den Jahren Dieter Brusberg. Er hat für die Künstler und Kunst aus dem Osten viel geleistet, und es ist nicht unwesentlich sein Verdienst, dass Kunst der DDR auch im Westen Bewunderer und Freunde fand. Solche Persönlichkeiten ließen sich kein X für ein U vormachen und setzten ihre Auffassungen dem DDR-Kunsthandel gegenüber durch. Im Laufe der Zeit konnten auch zwischen uns Vorurteile und Skepsis abgebaut werden, und es entwickelte sich eine vertrauensvolle Übereinstimmung der Interessen. Bis zur Wende. Im nun gemeinsamen Markt wollte und konnte man nicht mehr gemeinsam handeln. So schwer es für die »Neuen« war, so schwer war es für die »Alten«, das will ich gerne eingestehen. Und doch können nicht völlig einseitig Spielregeln definiert werden, die nun für alle gelten sollen. Beim Aushandeln kam es zu Differenzen und Trennungen. Die Aufgaben des Staatlichen Kunsthandels waren in dieser Partnerschaft auf Leistungen, vergleichbar der einer Agentur, beschränkt. Wir vertraten die Künstler des Verbandes Bildender Künstler ebenfalls nach Spielregeln, die stärker formalen Charakters und durch das Selbstverständnis der DDR geprägt waren. Schließlich erfüllten wir Dienstleistungen, wie sie der Gegenstand abverlangte. Verbunden war mit all dem eine umfangreiche Papierproduktion. Genehmigungsverfahren, z. B. beim Ministerium für Kultur, der Kunstschutzkommission und dem Außenhandel waren einzuhalten, die Zollformalitäten zu erfüllen. Schließlich sicherten wir die Transporte, Versicherungen und Abrechnungen. Kalkuliert wurde nach folgendem Modell: Zum Honoar des Künstlers wurden 20 % Provision des Kunsthandels gerechnet. Dies bildete den Einkaufspreis für den Vertragspartner, der diese Summe gewöhnlich verdoppelte. Im Sinne der Förderung des innerdeutschen Handels war der westdeutsche Händler mehrwertsteuerbegünstigt und erhielt finanzielle Unterstützung aus dem innerdeutschen Ministerium für Katalogproduktion und Publizistik. Die Ware wurde auf Kommissionsbasis zur Verfügung gestellt, bei Kunstvereinen, die kein kommerzielles Interesse erkennen ließen, mit Abnahmegarantien bis maximal 20 % verbunden. Dadurch kamen einzelne Ausstellungen nicht zustande. Es sprach sich herum, dass die Organisation von Ausstellungen mit uns reibungslos klappte, und so kamen Partner auf den Plan, die mit dem Zentrum für Kunstausstellungen Probleme hatten. Wir mussten aber unseren kommerziellen Auftrag erfüllen und wollten die existierenden liberalen Möglichkeiten nicht gefährden. Die Zahl der Ausstellungen hatte so bis zum Jahr 1989 die Zahl 100 erreicht. Dass nun fast ausschließlich von Galeristen das Bild der Kunst der DDR im Westen formuliert wurde, machte speziell den Abteilungsleiter für Bildende Kunst im Ministerium für Kultur, Dr. Fritz Donner, nervös. Er erarbeitete einen unglaublichen Plan. Danach sollten alle entstehenden Bilder, Plastiken und Grafiken vom Staat gekauft werden. Aus diesem großen Fonds hätten sich dann westliche Kunsthändler und Sammler bedienen dürfen, nicht bevor diese Halde gründlich selektiert worden wäre. Nach unserer Frage, wieviel Geld dafür vorhanden wäre, war der Plan vom Tisch. Derartige Angriffe waren bis kurz vor der Wende abzuwehren. Ich will darauf nicht weiter eingehen – außer: Es war ein dauerhafter Seiltanz, der von außen unbemerkt blieb. Einer, der immer erfolgreich aus Sackgassen heraushalf, war Bernhard Heisig. Er setzte seine Autorität im eigenen wie im Interesse anderer ein. Die Abrechnung der Verkäufe erfolgte auf ValutaBasis. Der vom Kunsthandel in Rechnung gestellte Betrag war auf Konten des Außen-

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handels zu überweisen. 30 % des Valutaerlöses, später bis 45 %, erhielt das Ministerium für Kultur, der Rest blieb beim Außenhandel. Der Kunsthandel erhielt den Gegenwert in Mark (der DDR). Die 30 % des Ministeriums für Kultur erhielten zur Hälfte der ausstellende Künstler und zur anderen Hälfte der Verband Bildender Künstler. Davon wurden Studienreisen, Künstlermaterialien, Literatur und ähnliches finanziert. Das Honorar wurde abzüglich des Valutaanteils in Mark überwiesen. Das war’s. Und das war’s auch nicht. Es bleiben noch 1.000 Geschichten aus 40 Jahren DDR und 17 Jahren Kunsthandel. Sie müssten aufgeschrieben werden – oder auch nicht? Eines noch: Die Wende. Sie kam, wie allgemein bekannt, überraschend. Viele wussten, so kann es nicht weitergehen, und keiner war vorbereitet. So auch im Kunsthandel. Es begann die Zeit der großen Beratungen und Berater. Aus dem Staatlichen Kunsthandel der DDR wurde die Art Union GmbH. Doch es blieb alles beim Alten. Ich trat für konsequente Privatisierung ein. Die Devise lautete, den Kunsthandel so schnell wie möglich auflösen, um so viel wie möglich zu erhalten. Der Betrieb war in dieser Größe und Trägheit zum Scheitern verurteilt, und Konkursmasse ist bekanntlich nichts wert. Eberhard Roters sagte in seiner klassischen Pointierung: »Mit einem Doppelstockbus können sie nicht in einer Einzimmerwohnung wenden.« Immerhin entschied in Mehrheit der Geschäftsbereich Gegenwartskunst für Privatisierung und Auflösung. Nur wir waren die einzigen. Es kamen auch die falschen Berater. Sie wussten, wenn sie diesen Betrieb versuchen zusammen zu halten, sind sie lange im Geschäft. So war es dann auch, und es wurden beachtliche Honorare gezahlt. Das Ergebnis war Konkursmasse, die in ihrer Wertlosigkeit noch Schaden anrichtete. Schließlich wurden noch die Bestände an Kunst verramscht. Überleben konnten nur die, die sich früher oder später in die Privatisierung absetzten und die Leistungsvoraussetzungen erfüllten. Rainer Ebert und ich gründeten sehr früh, im April 1990, unsere GmbH, die Galerie Berlin, Küttner & Ebert GmbH. Sie existierte auf dem Papier und als Vorratskonstruktion. Eigentlich wollen wir uns nur nach den juristischen Voraussetzungen erkundigen. Die Juristin, zu der wir gingen, freute sich, das mit uns mal üben zu können. Schließlich wurden wir mit dem fehlerhaften GmbH-Vertrag ins Handelsregister eingetragen. Wir bemühten uns nun über ein halbes Jahr der Geschäftsleitung der Art Union GmbH gegenüber um den Mietvertrag und die Übernahme der Galerie Berlin. Am 30. Oktober 1990 unterschrieben wir einen sittenwidrigen Vertrag, der mehr als 16.000 DM Monatsmiete und die teure Bezahlung der gesamten Ausstattung enthielt. Ab dem 1. November waren wir privatisiert. Wir stabilisierten uns dank der Unterstützung maßgeblicher Künstler, einer erfolgreich verlaufenden Art Cologne und schließlich eines dritten Gesellschafters, eines kunstbegeisterten Industriellen. Mit ihm, Georg Hesselbach, sind wir eine vertrauensvolle Ost-West-Symbiose eingegangen.

Peter Michel Kompendium der DDR-Kunstgeschichte: Die Zeitschrift Bildende Kunst. Ein Chefredakteur erzählt

Die Kunstwissenschaftlerinnen Tanja Frank und Beatrice Vierneisel beschäftigten sich bereits 1999, also vor mehr als 20 Jahren, mit einigen Aspekten der Entwicklung der Zeitschrift Bildende Kunst.1 Ihre Texte sind – bezogen auf die Jahre 1947 bis etwa 1964 – Ergebnisse detaillierter Studien zeitgenössischer Quellen, u. a. des Bundesarchivs und des Archivs des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Sie sind um Sachlichkeit bemüht, spiegeln die komplizierten, widersprüchlichen Vorgänge – vor allem in der Zeit der Formalismusdebatte – wider und verfügen über jenen distanzierten Blick, der für wissenschaftliche Arbeit solcher Art gut und notwendig ist. Sie betrachteten diese Vorgänge als Nichtbeteiligte mit historischem Abstand. Diese Distanz ist mir nicht möglich, auch nach mehr als 30 Jahren. Es sind zu viele persönliche Erinnerungen, zu zahlreiche Ereignisse und Begegnungen, die auch mit Emotionen verbunden waren, die in die Zeit meiner Chefredakteurstätigkeit fielen – und sie gestatten mir nicht, gleichsam von außen darauf zu blicken. 1984 In seinem autobiografischen Roman Schattenlicht beschreibt der Hallenser Kunsthistoriker Wolfgang Hütt eine Sitzung des Redaktionskollegiums, die im Sitzungszimmer des Henschelverlages in der Berliner Oranienburger Straße stattfand. An diesem 13. Juni 1984 berichtete ich über eine Beratung der Kulturabteilung des ZK der SED mit den Chefredakteuren der Kulturzeitschriften und ließ dabei nichts aus. Die Abteilungsleiterin Ursula Ragwitz hatte dort u. a. gefordert, »so zu schreiben, daß durch die veröffentlichten Texte der ›Feind‹ keinen Anlass zu ›gezielten Schüssen‹ erhalte. Mit ihren Ausführungen verband die Rednerin eine heftige Polemik gegen Christa Wolfs Novelle ›Kassandra‹, besonders aber gegen die mit der Novelle veröffentlichten, in Frankfurt a. M. gehaltenen Reden. […] Außerdem habe die Autorin in einem Interview mit der italienischen Zeitung ›La Stampa‹ gefährliche pazifistische Ansichten geäußert. Kritik war auch … geübt worden … an der Stellungnahme des namhaften Wirtschaftswissenschaftlers Jürgen Kuczynski zum Rüstungswahnsinn, die er in der Zeitschrift ›Neue Deutsche Literatur‹ veröffentlicht hatte.« Und für uns galt, »endlich mit dem ›unproduktiven Aufkochen der Fünfzigerjahre‹ aufzuhören. […] Unter den Angehörigen des Kollegiums herrschte … eine tiefe Betroffenheit. Einer versuchte zu verharmlosen. Das seien die üblichen Vereinfachungen der Genossin aus der Kulturabteilung. Es gebe kein Zurück hinter das 11. Plenum.«2

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Wolfgang Hütts Erinnerungen stimmen mit meinen Aufzeichnungen überein. Ein Mitglied des Kollegiums, Hermann Peters, saß mit verbittertem Gesichtsausdruck lange Zeit still am Tisch. Ihn plagte der Widerspruch zwischen Parteidisziplin und Abneigung gegenüber Dogmatismus. Nach der Sitzung mahnte er mich, genauer zu überlegen, welche Informationen ich öffentlich ungefiltert weitergebe und welche nicht. Dass das Ansehen seiner Partei so viel Schaden erlitt, erfüllte ihn mit Scham. Dass er zugleich innerhalb der Partei mit Kritik nicht zurückhielt, war für ihn selbstverständlich. Auch in unserer redaktionellen Arbeit hatte er ständig auf Widersprüche hingewiesen, für eine breitere Realismusauffassung plädiert, für Toleranz gegenüber anderen Formen künstlerischer Arbeit geworben, ohne den eigenen Standpunkt aufzugeben. Deshalb war für ihn wie für uns dieser kulturpolitische Rückfall schmerzlich. Auch ihm war in der ›Wende‹-Zeit klar, dass die Umwälzungen von 1989/90 eine wesentliche Ursache in der Wirklichkeitsferne und im Starrsinn der Parteiführung hatten. Doch er blieb seinen Idealen treu und reagierte mit Schärfe auf die ungebremste Restauration kapitalistischer Verhältnisse – vor allem mit eindeutigen Karikaturen, die er am Rand von Demonstrationen verkaufte. Solange seine Frau noch lebte, verkraftete er die neuen, alten Zustände. Als diese Stütze weggefallen war, stürzte er sich am 16. April 1995 aus seiner Wohnung am ehemaligen Leninplatz3 in Berlin in den Tod.4 Die Anfänge Das erste deutsche Kunstjournal nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem klein geschriebenen Titel bildende kunst. zeitschrift für malerei, graphik, plastik und architektur, herausgegeben von den beiden Malern Carl Hofer und Oskar Nerlinger, erschien in Berlin vom April 1947 bis zum Herbst des Jahres 1949. Danach gab es zwei deutsche Staaten. Die Voraussetzungen für eine gesamtdeutsche Zeitschrift waren weggefallen. In beiden Staaten herrschte eine von den Besatzungsmächten gelenkte Kulturpolitik. Die Bundesrepublik Deutschland erlebte ein u. a. von der CIA gelenktes Aufblühen vor allem abstrakter Gestaltungsweisen; künstlerische ›Freiheit‹ äußerte sich in Verdrängungsstrategien gegenüber engagiertem Realismus. In der jungen DDR war die Formalismuskampagne schon in vollem Gange. Ende Februar 1953 gaben die Staatliche Kunstkommission und der Verband Bildender Künstler Deutschlands (VBKD) anlässlich der bevorstehenden Eröffnung der 3. Deutschen Kunstausstellung in Dresden das erste Heft des neuen Periodikums Bildende Kunst. Zeitschrift für Malerei, Plastik, Graphik, Angewandte Kunst, Kunsthandwerk heraus. Chefredakteur war Cay Brockdorff. Als 1954 Johannes R. Becher Kulturminister geworden war, wurde der VBKD alleiniger Herausgeber, und der Maler und Grafiker Herbert Sandberg übernahm die Chefredaktion. Schon drei Jahre später wurde er von dieser Funktion abgelöst. Horst Jähner, der Chef des Verlages der Kunst Dresden, leitete kurze Zeit die Zeitschrift kommissarisch, nach ihm die Kunstwissenschaftler Ulrich Kuhirt, Siegfried Heinz Begenau, Waltraud Westermann und Jutta Schmidt. Letztere starb 1972, so dass Ulrich Kuhirt wieder die kommissarische Leitung übernahm. Er übergab sie mir, als ich im August 1974 nach beendeter Aspirantur zunächst für ein Jahr als geschäftsführender Redakteur dieser Zeitschrift in den Henschelverlag kam. Ab dem 1. Juli 1975 war ich dann Chefredakteur.

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Auf der Suche Dieser Zeitpunkt war kulturpolitisch günstig. Von »Weite und Vielfalt« war die Rede und davon, dass es keine Tabus gebe, wenn man von den festen Positionen des Sozialismus ausgehe. Ein Jahr zuvor hatte Willi Sitte die Präsidentschaft im Verband Bildender Künstler der DDR übernommen; die Autorität des Verbandes war gewachsen. Man erwartete viel von mir – und ich war mir nicht sicher, ob ich diese Erwartungen erfüllen konnte, zumal ich in der Zeitschriftenarbeit noch unerfahren war. Es gab zwei ältere Redakteure, die z. T. schon mehr als ein Jahrzehnt bei der Bildenden Kunst arbeiteten, von denen man viel lernen konnte, die mich aber öfter vor zu schnellen Schritten warnten. Nach und nach kamen junge Nachwuchswissenschaftler von der HumboldtUniversität in die Redaktion. Natürlich gab es dann auch Spannungen, weil mit einer neuen Generation auch andere Auffassungen über Kunst eine immer wichtigere Rolle spielten. Eine meiner ersten Entscheidungen bestand darin, auf dem Heft 9/1974 das Gemälde Die Ausgezeichnete von Wolfgang Mattheuer als Titelbild zu veröffentlichen (Abb. 1). Ein paar Wochen später wurde bei einem Treffen mit Gewerkschaftsfunktionären dieses Bild heftig kritisiert. »Unsere Menschen freuen sich, wenn sie ausgezeichnet werden«, war der Grundtenor der Einwände. In dieser Diskussion erlebte ich zum ersten Mal die Solidarität von Künstlerkollegen, die es verstanden, Vorurteile abzubauen und Nachdenklichkeit hervorzurufen. Ein Jahr später, anlässlich einer Präsidiumssitzung des Verbandes fand Willi Sitte anerkennende Worte über die Veröffentlichung der Plastik einer Familiengruppe von Henry Moore als Titelbild (8/1975) (Abb. 2). Kurz danach erhob man in der Kulturabteilung des ZK der SED tadelnd den Zeigefinger. In den ersten Monaten meiner neuen Arbeit suchte ich zwei Kollegen auf, um aus ihren Erfahrungen zu lernen: Lothar Lang und Herbert Sandberg. Meine Absicht war, Lothar Lang, der damals in Freienbrink bei Berlin wohnte, wieder als Autor zu gewinnen. Doch er hatte in den Jahren zuvor viele Enttäuschungen erlebt. Seine eigenwilligen Beiträge waren vor 1974 zu oft abgelehnt worden, so dass er keine Lust mehr verspürte, für die Bildende Kunst zu schreiben; sein Publikationsorgan war seit langem die Weltbühne. Erst im Lauf der Jahre schwand sein Misstrauen, so dass er wieder für uns schrieb, wenn es auch nur wenige Beiträge waren. Abb. 1: Titelbild der Bildenden Kunst, Heft Den schon damals legendären Grafi9/1974, Wolfgang Mattheuer, Die Ausgezeichnete, 1974 ker, Karikaturisten und ehemaligen

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Abb. 2: Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 8/1975, Henry Moore, Familiengruppe, Modellskizze für Steinskulptur, 1944

Buchenwaldhäftling Herbert Sandberg traf ich in seinem Einfamilienhaus in Berlin-Pankow. Seine Hinweise für die redaktionelle Arbeit, für den Umgang mit Autoren und für das Wirken eines Redaktionskollegiums, das damals mehr oder weniger auf dem Papier stand, waren für mich wichtig. Er selbst hatte sich zu Anfang seiner Redaktionstätigkeit kompetente Leute eingeladen, mit denen er sich beraten konnte: Bertolt Brecht, dessen Mitarbeiter Hans Bunge, die Bildhauer Fritz Cremer und Gustav Seitz, den Philosophen Walter Besenbruch und seinen damaligen Nachbarn Alfred Kurella. Die Formalismuskampagne war in der Mitte der 50er Jahre in vollem Gange. Wir sprachen lange darüber, aber über die Gründe seines Ausscheidens aus der Redaktion nach nur drei Jahren sagte Sandberg nichts. Vielleicht wollte er mich nicht verunsichern. Später, als ich selbst schon im Ruhestand war, erfuhr ich beim Lesen seines Buches Spiegel eines Lebens die Ursache. In einem Abschnitt über den Bildhauer René Graetz schrieb er:

»Die Gespräche drehten sich jahrelang um dasselbe Thema. Wann bekommen wir Luft in der bildenden Kunst, wann hört das Sektierertum auf? 1954 hatte mir der Verband Bildender Künstler die Herausgabe der Bildenden Kunst übertragen, weil man eine moderne, zeitgemäße Linie brauchte. Obwohl meine Arbeit allgemein anerkannt wurde, verdonnerte man mich drei Jahre später zur Selbstkritik. Ich hatte zu viel mexikanische und italienische Realisten propagiert, ›die sowjetischen Künstler aber übersehen‹. Eine Parteiaktivtagung wurde einberufen, die Alfred Kurella leitete. Er formulierte eine Art Bannfluch. […] Ich fand Unterstützung bei Otto Nagel und Hans Pischner, aber die Leitung der Bildenden Kunst war ich los.«5

Einen Hinauswurf erlebte ich nicht; dazu war inzwischen die Durchsetzungskraft des Künstlerverbandes zu stark, aber ähnliche, z. T. deprimierende Erfahrungen blieben auch mir nicht erspart. Das Redaktionskollegium Für einen Neuling waren erfahrene Ratgeber notwendig. Solche Berater waren für mich keine Kontrolleure, ich brauchte sie, und ich habe sie nie als ›Bremser‹ empfunden. Die kulturpolitischen Verhältnisse hatten sich über die Jahre verändert und mit ihnen auch die Haltungen. 1974 leitete Ulrich Kuhirt noch dieses Kollegium; ihm gehörten der

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Pressezeichner und Karikaturist Alfred Beier-Red, die Bildhauer Johann Belz und Jürgen Raue, der Gebrauchsgrafiker Axel Bertram, die Maler Günther Brendel, Jutta Damme und Wolfram Schubert, die Kunstwissenschaftler Peter H. Feist und Wolfgang Hütt, Fritz Donner, Abteilungsleiter im Ministerium für Kultur, Antje Richter vom Henschelverlag und Waltraut Mai als Mitglied des Sekretariats des Künstlerverbandes an. Auch Sigbert Fliegel als Architekturtheoretiker gehörte dazu. Es gab in diesem ersten ›Probejahr‹ zwar gelegentliche Gespräche mit einzelnen Mitgliedern, aber an eine reguläre Zusammenkunft des Beirates während dieser Zeit kann ich mich nicht erinnern. Nur Peter H. Feist, Wolfgang Hütt, Sigbert Fliegel und Waltraut Mai blieben auch später ihrer Mitgliedschaft treu. Im Lauf der Zeit kamen auf Anregung des Verbandes und nach meinen eigenen Vorstellungen neue Berater hinzu, alle aus dem Bereich der Kunstwissenschaft: Günter Blutke, Matthias Flügge, Ina Gille, Gabriela Ivan, Wilfried Karger, Matthias Mainka, Helga Möbius, Peter Pachnicke, Hermann Peters, Gudrun Urbaniak und Siegfried Wege. Die Zusammenkünfte wurden regelmäßiger und die Diskussionen immer anregender, zum Teil konträr. Für die Planung der einzelnen Jahrgänge flossen hier die Vorschläge zusammen, die dann jeweils im Oktober im Sekretariat des Zentralvorstandes des Verbandes Bildender Künstler der DDR (VBK-DDR)6 und am Jahresende im Verbandspräsidium diskutiert und beschlossen wurden. Für die Bildende Kunst, das Organ des Künstlerverbandes, war dieser Weg normal. Als Kontrolldurchgang habe ich ihn nicht empfunden. Der Kulturabteilung des ZK der SED wurde durch die Redaktion der Jahresplan nicht vorgelegt. Sie griff nur ein, wenn sie »mangelnde Wachsamkeit« in erschienenen Heften konstatierte. In der unmittelbaren Vor›wende‹zeit wurde dieses Eingreifen immer seltener. Vielleicht war das schon ein Anzeichen von Hilflosigkeit den realen Prozessen gegenüber. Durch eine jüngere Generation von Künstlern und Kunstwissenschaftlern, die mit dem von den Älteren an kulturpolitischen Freiräumen Erreichten nicht mehr zufrieden war, kamen vor allem nach 1987 andere künstlerische Auffassungen zum Tragen. Das veranlasste z. B. Günter Blutke, im September 1989 aus dem Kollegium auszutreten. Für ihn, schrieb er, sei das inzwischen eine Sache der Selbstachtung geworden. »Die letzte Einladung für eine Zusammenkunft des Kollegiums erhielt ich … Ende Mai 1988. Als tote Seele will ich mich nicht führen lassen. Zudem will ich, wenn mein Name mit einer Sache vor der Öffentlichkeit verbunden ist, bitte schön, damit wenigstens etwas zu tun haben, fragwürdige Dinge fragwürdig nennen können, interessante und positive Entwicklungen (die es ja auch gab) unterstützen dürfen.«7

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon nicht mehr in der Redaktion. Für meinen Nachfolger Bernd Rosner war das Kollegium eine zu vernachlässigende Institution geworden. Gemeinsames Nachdenken wurde mehr und mehr durch persönliche Vorlieben – für Rosner war es der Postmodernismus – und durch die Vorstellung ersetzt, man müsse jetzt etwas nachholen, was den Anschluss an die Kunst des Westens sichere. Doch auch die Bildende Kunst wurde ein Opfer des Vereinigungsprozesses. Das letzte Heft erschien im März 1991 (39. Jahrgang). Das ganze Spektrum Am 1. Juni 1987 musste ich die Redaktion verlassen. Der 1. Sekretär des VBK-DDR, Horst Kolodziej, war schwer am Herzen erkrankt und musste operiert werden. Ich über-

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nahm seine Funktion als Geschäftsführender Sekretär des Verbandes in der Zeit der unmittelbaren Vorbereitung der X. Kunstausstellung der DDR in Dresden. Als am 3. Oktober 1987 diese Ausstellung eröffnet wurde, war Horst Kolodziej wieder unter den Offiziellen; ich trat in die zweite Reihe zurück, blieb aber – da er noch immer gesundheitlich gefährdet war – als sein Stellvertreter im Verband. Peter H. Feist schrieb mir damals: »Du hast die Bildende Kunst mit Geschick gesteuert; es war für mich eine angenehme Zusammenarbeit.«8 Und der Leipziger Kunstwissenschaftler Karl Max Kober übermittelte der Redaktion einen kurzen Artikel, in dem es u. a. hieß, vor 1975 habe man nicht selten kritische Stimmen von Kollegen gehört, »die der Bildenden Kunst vorwarfen, sie sei nicht recht auf der Höhe der Zeit. […] Festzuhalten ist vor allem, dass die Zeitschrift heute von vielen Lesern erwartet, also auch gelesen und nicht mehr – nach kurzem Durchblättern – nur noch abgelegt wird. Über manchen Beitrag wird längere Zeit diskutiert, und die Nachfrage nach Abonnements kann heute nicht mehr befriedigt werden. Seit 1975 weitete Peter Michel das Beitragsrepertoire von der bildenden Kunst im engeren Sinne auf das ganze Spektrum bildkünstlerischer Tätigkeit aus; er gewann Autoren, die über internationale Entwicklungen berichteten, und er richtete die FORUM-Reihe ein. […] Sie wurde zur gut genutzten Plattform, um den oft geforderten Streit der Meinungen zu führen. Sie einzurichten setzte Mut zum Risiko, Mut zur Demokratie voraus. […] Als Begleiter des aktuellen Prozesses weiß ich um den ›Gegenwartswert‹ der Beiträge, als Historiker aber bin ich mir zudem sicher, dass diese FORUM-Beiträge der späteren wissenschaftlichen Analyse ein unentbehrliches, authentisches Material liefern werden.«9 Natürlich war das alles nicht allein mein Verdienst. Heute sehe ich, dass ich manche redaktionelle Entscheidung falsch, zu schnell, zu uneinsichtig, zu sehr besorgt um den Bestand der DDR getroffen habe. Allen jenen, die heute unsere Vergangenheit verteufeln, wünsche ich eine ebensolche Erkenntnis, wenn sie nach einiger Zeit über ihren heutigen Eifer nachdenken. Solange die Bildende Kunst nach meinem Ausscheiden noch existierte, blieb ich trotz inhaltlicher Einwände mit ihr verbunden. Im Februar 1991 – einen Monat vor dem Erscheinen des letzten Heftes – schrieb ich an die damalige Stiftung Kulturfonds einen Brief mit der Bitte, alles zu tun, um die Zeitschrift zu retten. Denn weder der Verband noch der Henschelverlag waren noch in der Lage, die Redaktionsarbeit zu finanzieren: »Heute, da die Zeitschrift die Chance hätte, wieder als gesamtdeutsche ›bildende kunst‹ zu wirken, droht ihr der Tod. Es ist schon genug erdrückt worden im Beitrittsgewimmel. Gerade auf dem Gebiet der Kultur.«10 Doch das war nutzlos. Eine Antwort gab es nicht. FORUM-Reihe Bis 1975 hatte es immer wieder die Aufforderung zu einzelnen Artikeln gegeben: Zur Diskussion gestellt. Das Echo war meist mäßig, so dass das Kollegium zu dem Vorschlag kam, eine eigene Diskussionsreihe mit dem Titel FORUM zu entwickeln. Sie begann im Juli 1975 zum Thema »Gesellschaftliches und (oder?) Privates« mit Beiträgen von Klaus Weidner, Friedrich Nostiz, Günther Meißner, Herbert Goldhammer und Helga Möbius. Die Gelegenheit war günstig, denn das Seminar der Zentralen Sektionsleitung Kunstwissenschaft des VBK-DDR am 19. und 20. Februar 1975 in Gera beschäftigte sich mit diesem Thema. Es ging um die Fragen: Gibt es Grenzen zwischen Gesellschaftlichem und Individuellem; ist es richtig, solche Grenzen zu ziehen? Ist die

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Hinwendung zu intimen, privaten Sujets gleichbedeutend mit einer Abkehr von ›großen‹ Themen? Kunstwissenschaftler und Künstler meldeten sich in den folgenden Heften zu Wort. Der Maler und Grafiker Winfried Wolk brachte es auf den Punkt: »Es gibt kein ›Privates‹ oder ›Belangloses‹ bei echter künstlerischer Qualität, weil es kein ›Privates‹ ohne dialektische Bezogenheit zur Gesellschaft gibt.« (Heft 8/1975) Diese Diskussion zog sich bis ins Heft 12/1975. An ihr beteiligten sich 22 Künstler und Kunstwissenschaftler, darunter Sighard Gille, Gabriele Muschter, Horst Sakulowski und Ulrich Hachulla. Dieses Echo ermutigte uns zu weiteren Themen in dieser Diskussionsrunde. Das nächste hieß »Um das Bild der heutigen Arbeiterklasse« (Hefte 2/76 bis 6/76). Auch hier war das Echo erfreulich. Nicht nur Kunstwissenschaftler und Künstler meldeten sich mit Beiträgen – darunter Gerhard Rommel, Axel Wunsch und Karl-Erich Müller –, sondern auch ein Vertreter der Gewerkschaften und ein Chemieingenieur. Das Thema »Sozialistischer Realismus – Positionen, Tendenzen, Probleme« schloss sich an, vorbereitet durch eine Jahrestagung der Sektion Kunstwissenschaft des VBK-DDR in Rostock. Sie zog sich über ein Jahr hin (Hefte 7/1976 bis 7/77), wurde vorwiegend von Kunstwissenschaftlern geführt und kann heute bei aufmerksamem Lesen als ein Beweis dafür gelten, dass enge Realismusauffassungen schrittweise überwunden wurden. Weitere Diskussionsfelder waren »Erfahrungen der Kunstvermittlung« (8/77 bis 11/77), »Stimmen zur ›VIII.‹ « (12/77 bis 7/78 zur VIII. Kunstausstellung der DDR in Dresden), »Was will, was soll, was kann die Kunstkritik?« (8/78 bis 4/79), »Selbstbefragung. Über Augenschein und Ursachen nationaler Wesenszüge in der Kunst der DDR« (ab Heft 5/79), »Kunst im Auftrag – Auftrag der Kunst« (bis zum Heft 6/80), »Bekenntnis und Anspruch. Kunst und sozialistische Gesellschaft«, »Dialoge – Kunstwirkung und Kunstvermittlung in den achtziger Jahren« (bis 12/82), »Kunst – unserer Zeit gemäß« (wo u. a. im Heft 9/86 ein streitbarer Beitrag des Dresdener Malers Hubertus Giebe erschien; im Heft 7/87 wurde dieses Thema abgeschlossen). Nach meinem Ausscheiden aus der Redaktion wurde die Rubrik FORUM nicht weitergeführt. Diskussionen aber gab es nach wie vor. Unter der Schlagzeile »Zur Diskussion gestellt« hatte es z. B. schon im Heft 6/76 Beiträge zur Formgestaltung in der DDR gegeben, und mit dem Hinweis »Im Meinungsstreit« wurden später u. a. Probleme der Aktionskunst erörtert. Struktur Traditionsgemäß waren die Hefte in einen Haupt- und einen Werkdruckteil gegliedert. Den Hauptteil widmeten wir meist einem übergreifenden Thema, u. a. den zentralen Kunstausstellungen in Dresden, der architekturbezogenen Kunst und der Umweltgestaltung, der INTERGRAFIK und der Ostseebiennale, der Galerie des Palastes der Republik Berlin oder der Arbeit in den einzelnen Sektionen des Künstlerverbandes. Wenn wir z. B. der Plastik, der Grafik, der Restaurierung, der Plakat- und Buchkunst, der Szenografie, der Karikatur, der Fotografie, den unterschiedlichen Bereichen des Kunsthandwerks und des Designs ganze Hefte widmeten, so spiegelte sich darin die Struktur des Verbandes wider. Diese Hefte wurden meist mit den entsprechenden Sektionen oder Arbeitsgruppen des VBK-DDR erarbeitet. Die Kunstentwicklung in verschiedenen Territorien der DDR, kunstgeschichtliche Jubiläen, das Schaffen einzelner Künstler spielten ebenso eine Rolle wie der Blick über die Grenzen der DDR. Der Werkdruckteil mit dem Titel »Chronik. Kritik. Bibliographie« enthielt z. B. Tagungsberichte, Ergebnisse

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kunstwissenschaftlicher Forschungen, Rezensionen, Informationen über Ausstellungen und Auszeichnungen, Nachrufe auf verstorbene Künstler, Kunstnachrichten aus der DDR und aus aller Welt. Eine Zeitlang veröffentlichten wir auch Künstleranekdoten.11 Nach langen Bemühungen gelang es der Redaktion, in einige Hefte zusätzlich »Kunstwissenschaftliche Beiträge« einzubinden, deren Inhalt der Verbandssektion der Kunstwissenschaftler offen stand. Seit der Mitte der 70er Jahre – als sich die weltweite diplomatische Anerkennung der DDR mehr und mehr durchgesetzt hatte – schloss der Künstlerverband mit zahlreichen Verbänden und Künstlergewerkschaften neue Freundschaftsverträge. Solche Vereinbarungen hatte es schon längere Zeit mit allen sozialistischen Ländern gegeben; sie enthielten Festlegungen zum Austausch der Kunstzeitschriften und Abb. 3: Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 5/1978 mit Werken der Brigade Ramona zur Durchführung von internationalen Parra, Hernando Leons und José Venturellis, Treffen der Chefredakteure.12 Nun mit einer Wandmalerei in der Buchhandlung aber kamen mit Finnland, Dänemark, der Staatlichen Universität Santiago und Frankreich, Italien und Nicaragua weiArbeiten von Carlos Vasquez und Roberto Matta tere Verträge zustande, in denen der Künstleraustausch den Schwerpunkt bildete.13 Für die Zeitschrift Bildende Kunst boten sich jetzt weitere Möglichkeiten. Es entwickelte sich eine Reihe »Museen der Welt«. Gemeinsam mit der Münchener Zeitschrift tendenzen beschäftigten wir uns mit realistischer Kunst in der BRD (9/75). Auch künstlerische Zeugnisse aus Somalia, Zaire, Tansania und Ghana fanden Eingang in die Zeitschrift (11/75). Kubanische Kunst wurde vorgestellt (9/76). Es gab Heftschwerpunkte zur Kunst in der ČSSR und in anderen Ländern. In Moskau stand uns mit der Aquarellistin und Journalistin Jelisaweta Klutschewskaja eine Korrespondentin zur Seite, die uns in Ateliers führte, die nicht unbedingt zur Wunschliste des sowjetischen Künstlerverbandes gehörten. Manchmal waren ganze Hefte der bildenden Kunst anderer Länder gewidmet. Im August 1977 erschien – zufällig gleichzeitig mit dem Staatsbesuch Urho Kekkonens in der DDR – ein Heft über Kunst in Finnland, das von finnischen Autoren geschrieben war. Einen Monat später gab die Redaktion der finnischen Zeitschrift TAIDE ihr Sonderheft über Kunst in der DDR heraus. Beide Hefte waren das Ergebnis einer freundschaftlichen Zusammenarbeit. Gemeinsam mit einem Kollektiv chilenischer Autoren, die in der DDR im Exil lebten, entstand ein Heft zur Kunst in Chile (5/78) (Abb. 3). Bilden-

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der Kunst in Rumänien war das Heft 7/78 gewidmet. Weitere ›Auslandshefte‹ gab es u. a. zur Mongolei (7/79), zu Georgien und anderen Sowjetrepubliken (3/82), zu Polen (6/86), zu Dänemark (7/86), zu Mexiko (12/86) und zu Nicaragua (4/87). Auch Vietnam, Frankreich und Italien waren in dieser Reihe vertreten. Meist waren solche Hefte mit vorbereitenden Reisen in die entsprechenden Länder verbunden. Da unsere Zeitschrift zunehmend im Ausland gelesen wurde, gestalteten wir ab 1978 ein mehrsprachiges Inhaltsverzeichnis. Vielleicht stimmt es, dass Künstler in der DDR besser über Kunst im Ausland informiert waren als Künstler in westlichen Ländern über Kunst in der DDR. »Mangelnde Wachsamkeit« »Was mich interessiert, ist die Konzentration, die das Kind aufbringt, … die Konzentration auf das Wesentliche, die Direktheit, völlig losgelöst von jeder Effekthascherei. Bei Menzel war es noch gang und gäbe, alles detailreich vollzumalen. Heute machen wir das anders. Wir sagen: Fasse dich kurz. Äußere dich nur zum Thema. Deswegen interessieren uns die Kinderzeichnungen, weil sie so direkt sind, also loben wir das Direkte.«14

Diese Worte sagte der Berliner Grafiker und Hochschullehrer Arno Mohr 1976 in einem Redaktionsgespräch zu Problemen der Kunsterziehung an den Schulen. Wir hatten dazu gemeinsam mit der Zeitschrift Kunsterziehung Hochschuldozenten, Zeichenlehrer, Maler und Graphiker eingeladen, darunter Otto Knöpfer und Arno Mohr. Ein Hauptproblem war die Frage nach dem richtigen Verhältnis von pädagogischer Führung und kindlicher Phantasie. Das schloss auch Kritik am damals gültigen Lehrplan für die Kunsterziehung ein, und es wurde bedauert, dass nicht vorgesehen war, ihn zu verändern. Der Lehrplan aber war Gesetz. Die Folgen der Veröffentlichung dieses Gesprächs unter dem Titel »Loben wir das Direkte« in beiden Zeitschriften waren beklemmend. Eine Westberliner Zeitung reagierte schnell und setzte über einen ihrer Artikel die Schlagzeile »Kunsterzieher der DDR unzufrieden mit Lehrplan«. Das Ministerium für Volksbildung beschwerte sich umgehend beim Präsidenten des Künstlerverbandes, Willi Sitte, über unsere »mangelnde ideologische Wachsamkeit«. Beim Stellvertretenden Volksbildungsminister Parr fand eine Abb. 4: Titelbild der Bildenden Kunst, Heft Aussprache statt, zu der Vertreter des 12/1982, Pablo Picasso, Weinende Frau, 1937 Kulturministeriums, des Zentralrats der

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FDJ, Willi Sitte und ich eingeladen – vielleicht sollte man besser sagen: vorgeladen – wurden. Für mich als Initiator des Redaktionsgesprächs war es wohltuend zu erleben, wie sowohl Willi Sitte als auch Wilfried Maaß, der Stellvertretende Kulturminister, auf meiner Seite standen und mir halfen, denn ich hatte nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet. Vor allem Willi Sitte war ich dankbar für seine Solidarität. Der Kalte Krieg war noch voll im Gange, und die Losungen von »Weite und Vielfalt« usw. waren eben doch nicht jederzeit gültig. Friedrich Kühne, der langjährige Chefredakteur der Kunsterziehung, hatte es schwerer als ich. Seine im Verlag Volk und Wissen erscheinende Zeitschrift unterstand direkt dem Ministerium für Volksbildung. Er musste sich mit geharnischten Vorwürfen auseinandersetzen und zurückrudern. In seiner Monatsschrift Abb. 5: Titelbild der Bildenden Kunst, Heft erschien sofort nach unserer Veröffent11/1986, Gebäudeansicht des Bauhauses lichung der Beitrag einer Erfurter Dessau, 1986 Kunsterzieherin unter der Überschrift »Loben wir das Bewährte«. Arno Mohr betraf das alles kaum. Hätte er davon erfahren, wäre er wohl mit einem Schulterzucken darüber hinweggegangen oder hätte einen seiner trockenen Sprüche dazu geäußert. Nach zwei Jahren Chefredakteurstätigkeit war ich nun um eine Erfahrung reicher. Doch sie nütze mir wenig, als ich ohne ›feindliche‹ Absicht eine ›heilige Kuh‹ der Kulturpolitik der SED in Frage stellte. In der FORUM-Reihe »Sozialistischer Realismus – Positionen, Tendenzen, Probleme« hatte sich 1977 Helmut Maletzke, ein Maler und Grafiker aus Greifswald, zu Wort gemeldet mit der Auffassung, unser sozialistisches Kunstschaffen sei heute so eigenständig und unverwechselbar, dass es hinreichend als Synonym für sich selber stehen könne. Er stellte die Frage, ob das ›Herumdoktern‹ am Begriff »Sozialistischer Realismus« heute noch sinnvoll sei. In dieser Zeit hatte ich eine Begegnung mit der Tochter von Alfred Durus, der während seiner Emigration in Kasachstan gestorben war, aber als Kulturredakteur der KPD-Zeitung Rote Fahne Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre den Begriff ›dialektischer Realismus‹ genutzt hatte. Diesen Begriff fand ich besser. Mir war aber klar, dass es unter den aktuellen kulturpolitischen Bedingungen schwierig werden könnte, Helmut Maletzkes Zuschrift in die Zeitschrift zu setzen. Deshalb informierte ich ihn darüber, dass ich sie an den Lehrstuhl Kultur- und Kunstwissenschaften des damaligen Instituts für Gesellschaftswissenschaften weitergeleitet hatte, um dort in die Diskussion einbezogen zu werden. Das erwies sich schnell als schwerer Fehler. Der Direktor des Lehrstuhls, Hans Koch, schrieb mir

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am 14. März 1977 einen empörten Brief, bezeichnete die Argumente Helmut Maletzkes als »dubios«, benannte meine Überlegungen zu dialektischem Realismus als »nicht klassenmäßig«; sie seien ein ideologischer »Umfall« und eine »Unverschämtheit sondergleichen«. Er werde diesen Vorgang in der Parteiorganisation des Instituts gründlich auswerten und die Kulturabteilung des ZK der SED informieren. Das geschah dann auch; man diskutierte über mich, ohne dass ich dabei war; die Aberkennung des Doktortitels und die Entfernung aus dem Amt des Chefredakteurs lagen in der Luft. Die Kulturabteilung verdonnerte mich – wie vormals auch Herbert Sandberg – zur Selbstkritik. Ich schrieb am 18. April 1977 eine Stellungnahme, in der ich mich entschuldigte und zugleich klarzumachen versuchte, dass der Begriff ›dialektischer Realismus‹ nichts mit einer Entpolitisierung künstlerischen Schaffens zu tun hat und dass sozialistische Inhalte nicht nur mit realistischen Mitteln darstellbar sind.15 Nach dieser Erklärung zog etwas Ruhe ein. Vermutlich hatte Willi Sitte sich für mich eingesetzt; wir haben nie darüber gesprochen. Es dauerte nicht lange, bis Peter H. Feist unterschiedliche Formen des »sozialistischen Realismus« zur Diskussion stellte; auch er nutzte später, seit der ›Wende‹Zeit den Terminus ›dialektischer Realismus‹. Ich hatte ihn 1977 zu früh ausgesprochen und war damit gegen Wände gelaufen.16 In der Redaktion informierte ich die Kollegen nicht, um sie nicht zu verunsichern, aber auch deshalb, weil ich nicht als Opfer gelten wollte. Wer sich heute mit solchen Vorgängen beschäftigt, kann sie nur verstehen, wenn er die kulturpolitischen Zustände berücksichtigt, die auch vom Kalten Krieg bestimmt waren. In seinem Erinnerungsband Zwielicht beschreibt Werner Mittenzwei Hans Koch als einen klugen Wissenschaftler, der jedoch oftmals die politische Zuspitzung suchte und »dogmatische Anfälle« hatte.17 Christa Wolf stellt in ihrem Buch Leibhaftig18 Hans Koch in der Figur des Urban dar. Er hatte gemeinsam mit ihr an der Universität Jena studiert. Im Herbst 1986 beging Hans Koch Selbstmord; man fand ihn erst Tage später erhängt in einem Waldstück bei Berlin. Rückblick Trotz solcher Vorgänge waren für mich die Jahre in der Bildenden Kunst wichtig und fruchtbar. Bei allen Problemen arbeitete ich dort gern. Mit der Zeit lernte ich vorauszusehen, von wem man sich kritisieren ließ: vom ZK, von den Künstlern oder von jenen, die sich später als »Bürgerrechtler« zu profilieren versuchten. Oft war das eine Gratwanderung. Wenn man die Zeitschrift heute liest, hat sie schon eine geschichtliche Bedeutung. Sie wird immer mehr ein unverzichtbares Kompendium zur Erforschung der DDR-Kunstgeschichte. Was in der DDR über politische Eingriffe geschah, wird heute weit unauffälliger über das Geld und über Absprachen in Lobbys geregelt. Offiziell herrschen ›Demokratie‹ und ›Freiheit‹. Die Verhältnisse in der DDR – das machen die Jahrgänge der Bildenden Kunst deutlich – waren weit kunstfreundlicher als in der deutschen Gegenwart mit ihrem Marktgeschrei, ihren Verdrängungsstrategien und Vandalenakten. Die DDR war für mich – wie z. B. für Willi Sitte und viele andere Künstler – auch eingedenk ihrer Fehler und Schwächen das bessere Deutschland. Die Bildende Kunst ist nicht wiederholbar, solange kapitalistische Bedingungen das Leben bestimmen.19

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1 Beatrice Vierneisel: »Wechselbäder einer Verbandszeitschrift. Die Bildende Kunst« In: Simo-

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ne Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis (Hg.): Zwischen »Mosaik« und »Einheit«. Zeitschriften in der DDR. Berlin 1999, S. 276; Tanja Frank: »Auf der Suche nach dem denkenden Künstler. Debatten in der bildenden kunst (1947 bis 1949), ebd., S. 276. Die Zeitschriften, um die es in diesem Sammelband geht, sind nahezu alle, wie Wolfram Kempe in einem abschließenden Redaktionsgespräch unter dem Titel »Trümmer überall« sagte, »überschwemmt und totgemacht worden, … da hat ein Verdrängungswettbewerb stattgefunden, in dem mit allen Mitteln gekämpft worden ist.«, ebd., S. 714. Wolfgang Hütt: Schattenlicht. Ein Leben im geteilten Deutschland. Halle 1999, S. 383 f. Der Leninplatz wurde nach der ›Wende‹ in »Platz der Vereinten Nationen« umbenannt. Dieser Abschnitt bezieht sich auf mein Buch Künstler in der Zeitenwende I. Berlin und Böklund 2016, S. 229–232. Herbert Sandberg: Spiegel eines Lebens. Erinnerungen, Aufsätze, Notizen und Anekdoten. Berlin und Weimar 1988, S. 111–112. Die Abkürzung VBK-DDR wurde auf Beschluss des VI. Kongresses am 28. April 1970 eingeführt. Brief von Günter Blutke an den 1. Sekretär des VBK-DDR, Horst Kolodziej, vom 12. September 1989 (liegt dem Autor vor). Brief vom 13. Mai 1987. Karl Max Kober: Dank an Peter Michel. Dieses Manuskript wurde durch meinen Nachfolger Bernd Rosner nicht veröffentlicht. Brief vom 10. Februar 1991 an den Leiter der Stiftung Kulturfonds, Wolfgang Patig. Diese Anekdoten stammten u. a. aus den Sammlungen von Otto Nagel und Georg W. Pijet. Solche Treffen fanden in der ČSSR, in Ungarn und in der DDR statt und dienten dem Austausch von Erfahrungen und Informationen. So veröffentlichte ich z. B. einen Beitrag über das Tübke-Bild Frühbürgerliche Revolution in Deutschland (Panorama Bad Frankenhausen) in den Zeitschriften projekt (Polen), Müvészet (Ungarn), Výtvarná kultura und Výtvarný život (ČSSR), Iskusstvo (Bulgarien), Iskusstvo, Dekorativnoe iskusstvo, Chudoshnik und Tvortschestvo (Sowjetunion) und ARTA (Rumänien). Im Jahr 1988 konnten z. B. von den etwa 6.000 Mitgliedern des Verbandes etwa 1.000 ins kapitalistische Ausland zum Studium originaler Werke in den Museen und zur künstlerischen Arbeit reisen. Redaktionsgespräch der Zeitschrift Bildende Kunst, Heft 11/1976, S. 569, vgl. auch Peter Michel: Künstler in der Zeitenwende II. Berlin und Böklund 2018, S. 254–260. Kopien dieser Schriftstücke sind in meinem Besitz. Die Originale sind Bestandteil einer Sammlung von Texten, die ich 1995 dem Kunstforschungszentrum im Getty Center Santa Monica (USA), Chefbibliothekar Mel Edelstein, zur Archivierung und Forschung übergab. Es ist wohl richtig, die in der Stalin-Ära und danach in solchem Sinn entstandenen Werke als sozialistisch-realistisch zu charakterisieren, also den Begriff als Bezeichnung für idealtypische Charakteristika einer ganz bestimmten historischen Periode zu benutzen. Peter H. Feist betonte in seinen Überlegungen zur Spezifik der Malerei in der DDR, sie habe sich stilistisch fast immer entschiedener, als es zeitweise in anderen sozialistischen Ländern geschah, gegen die Übernahme des »Shdanow-Stils auf Repin-Basis« und Entsprechendes in der Plastik gesperrt. Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Eine kulturkritische Autobiographie. Leipzig 2004, S. 139. Christa Wolf: Leibhaftig. München 2002.

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19 Weitere Informationen über die Zeitschrift Bildende Kunst finden sich in: Michel 2016 (wie

Anm. 4) und Michel 2018 (wie Anm. 14). Lückenlose Jahrgänge der Bildenden Kunst besitzt u. a. die Deutsche Bücherei Leipzig.

Martin Papenbrock Westbesuche. Die Tendenzen und der Verband Bildender Künstler Deutschlands in den Jahren 1965/66

Nur für eine kurze Zeit war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland ein künstlerischer Austausch zwischen Ost und West möglich.1 Die Perspektive, die 1946 die Dresdner Allgemeine Deutsche Kunstausstellung eröffnet hatte,2 bestand nicht lange. Die Truman-Doktrin, die im März 1947 den Beginn des Kalten Krieges markierte, verhinderte weitere Kooperationen. Zu den ersten Opfern dieser Entwicklung gehörte der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, der im August 1945 mit Genehmigung der sowjetischen Besatzungsbehörden als überparteiliche und interzonale Bewegung gegründet und im Oktober 1947 zunächst von der amerikanischen und einen Monat später auch von der britischen Militärregierung im Westen verboten wurde.3 Als Reaktion darauf bekannte sich der Kulturbund 1948 offen zur SED. Im Westen bildeten sich unter neuen Namen regionale Ableger des Kulturbundes, die als Tarnorganisationen des Ostens galten und nach der Gründung der Bundesrepublik schnell die Aufmerksamkeit des Verfassungsschutzes auf sich zogen. Der westdeutsche Verfassungsschutz versuchte, die kulturbundnahen Organisation zu infiltrieren, um das Netzwerk ostdeutscher Einflussnahme im kulturellen Bereich der Bundesrepublik offenzulegen, was 1958 mit dem Fall ›Karl Richter‹ (d. i. Werner Sticken) spektakulär gelang.4 Das hinderte die Behörden der DDR nicht daran, weiterhin Kontakte zu Künstlern und Intellektuellen im Westen aufzubauen. Dies geschah bis zu ihrem Verbot 1956 über die KPD und die ihr angeschlossenen Organisationen, über die kulturbundnahen Verbände im Westen und seit den 1960er Jahren verstärkt auch über den ostdeutschen Verband bildender Künstler Deutschlands (1970 umbenannt in Verband Bildender Künstler der DDR). Den avisierten Kontaktpersonen bot man Ausstellungs- und Publikationsmöglichkeiten, die sie im Westen nicht oder nur eingeschränkt hatten. Als 1958 etwa die Ausstellung Künstler gegen Atomkrieg zu platzen drohte, weil die SPD und die Gewerkschaften kurzfristig ihre Unterstützungszusagen zurückzogen, vermittelte der ostdeutsche Kulturbund den Organisatoren der Ausstellung den Kontakt zu dem ihm nahestehenden Deutschen Kulturtag, der als Veranstalter einsprang.5 Aus den Künstlern dieser Ausstellung bildeten sich 1960 die Künstlergruppe Tendenz und die Zeitschrift tendenzen, die in den 1960er und 1970er Jahren zu den wichtigsten Kontakten und Fürsprechern der Kunst und der Kunstpolitik der DDR im Westen wurden, auch wenn ihr Verhältnis zu den ostdeutschen Kulturbehörden keineswegs spannungsfrei war. Vertrauensbildend war sicherlich, dass der Augsburger Maler und Grafiker Carlo Schellemann, der die Ausstellung Künstler gegen Atomkrieg konzipiert hatte und zusammen mit dem Münchner Kunsthistoriker Richard Hiepe, der den Katalogtext verfasst hatte,

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die Redaktion der tendenzen leitete, 1962 einem Anwerbungsversuch des bayerischen Verfassungsschutzes widerstanden hatte.6 Zu den frühen Ergebnissen des joint venture zwischen dem Kulturbund und dem Verband bildender Künstler Deutschlands einerseits und der Künstlergruppe Tendenz und der Zeitschrift tendenzen andererseits gehören das tendenzen-Sonderheft »Künstler in der DDR« von 1965 und die Ausstellung der Künstlergruppe Tendenz in Halle, Rostock und Berlin/DDR von 1966. Um diese beiden Ereignisse, ihre Vorbereitung, ihre Umsetzung und ihre Rezeption wird es im Folgenden gehen. Im unmittelbaren Vorfeld hatte Hiepe in seiner Neuen Münchner Galerie bereits Einzelausstellungen von DDRKünstlern wie Waldemar Grzimek (1964) und Willi Sitte (1965) gezeigt. Es sind Beispiele für vorsichtige Annäherungen zwischen Ost und West in den 1960er Jahren auf dem Gebiet der bildenden Kunst, nicht frei von Irritationen und gegenseitigem Misstrauen. Es waren erste Versuche, unter vermeintlich Gleichgesinnten ein gemeinsames Verständnis der gesellschaftlichen Funktion von Kunst herzustellen, angetrieben von der Absicht, daraus nicht nur künstlerisch, sondern durchaus auch politisch Kapital zu schlagen. Das Tendenzen-Sonderheft Künstler in der DDR (1965) Künstler in der DDR (Abb. 1), das »1. Sonderheft 1965« der tendenzen, bestand im Wesentlichen aus einem Reisebericht des tendenzen-Redaktionsmitglieds Reinhard Müller-Mehlis,7 der im April 1965, unterwegs in seinem Auto und in Begleitung eines Mitarbeiters des Kulturbundes (Berliner Bundessekretariat, Abteilung Nationale Politik), über 14 Tage Maler und Bildhauer der DDR in ihren Ateliers in Dresden, Halle, Thale, Eisleben, Berlin und Rostock besuchen und interviewen durfte.8 Das in den 1960er Jahren (und auch heute noch) populäre Format des ›Road Trip‹ sollte offenbar die aus westlicher Sicht mitunter etwas verkrampft und gezwungen wirkenden Aussagen der ostdeutschen Künstler und Kulturfunktionäre auflockern und sie nicht zuletzt auch einer jüngeren Leserschaft im Westen zugänglich machen. Schon formal steht der Bericht deshalb in deutlichem Kontrast zu dem am Ende des Heftes abgedruckten programmatischen Verlautbarungen und Reden aus den damals aktuellen kunstpolitischen Debatten der DDR. Müller-Mehlis machte gleich zu Beginn des Berichts seine subjektive Perspektive und seine unkonventionelle Herangehensweise an die gestellte Aufgabe deutlich. Nicht als Dokumentation über »›Die bildende Kunst in der DDR‹«, sondern als »Bericht einer Reise zu Künstlern, die in der DDR leben«, wollte er seinen Text verstanden wissen. 9 Im Gepäck hatte er einen Fragenkatalog, der auf den ersten Blick naiv erschien, in seiner Kürze und Klarheit aber durchaus provokativ wirkte: »Wen ich unterwegs nur für irgend zuständig hielt, fragte ich dieses: 1. Was ist ›Sozialistischer Realismus‹? Und wo steht geschrieben, was er will und wie er aussehen soll? 2. Hat die bildende Kunst in der DDR eine Funktion? 3. In wessen Auftrag handelt der Künstler und wovon lebt er? 4. Wie und was lernt der Künstler in der DDR?«10

Wie zu erwarten war, erhielt er auf die ersten beiden Fragen keine eindeutigen oder gar verbindlichen Antworten. Weder die Künstler noch die Kulturfunktionäre, die der Autor

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Abb. 1: tendenzen-Sonderheft Künstler in der DDR, 1965

befragte, wollten sich hier festlegen lassen (»Achten Sie mal auf das, was gerade in diesen Tagen zum 9. Plenum im ›Neuen Deutschland‹ steht. Da werden Sie einiges finden«11). Die Unsicherheit der Künstler, aber auch der Kulturfunktionäre bei Fragen nach der theoretischen Fundierung und den ideologischen Aspekten der Kunst war auffällig, und ihre Antworten glichen zuweilen einem Eiertanz. Die dritte und die vierte Frage, die auf die materiellen Aspekte der Kunstproduktion in der DDR zielten, wurden

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dagegen ausführlich beantwortet, so dass der Reisebericht für die westlichen Leser eine Fülle von Informationen über die Strukturen des Kunstbetriebs zutage förderte, die hinter dem journalistischen Duktus durchaus einen dokumentarischen Anspruch erkennen ließen. Müller-Mehlis betonte – nicht ohne leise Ironie (»Stets hilfreich: der Verband«12) – die zentrale Bedeutung der Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler Deutschlands, die den Künstlern neben einer nicht unbedeutenden Steuerersparnis auch die Vermittlung von öffentlichen und betrieblichen Aufträgen brachte. Auch bei der Verteilung der Mittel aus dem ›Kulturfonds‹, in dem die staatlichen Gelder für baugebundene Kunst verwaltet wurden, und bei der Einrichtung und der Unterhaltung von Galerien und Verkaufsläden spielte der Verband eine zentrale Rolle. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Verband war den Künstlern bewusst. Das Fehlen eines privaten Kunsthandels, der eine gewisse Unabhängigkeit geboten hätte, wurde deshalb bedauert, selbst von einem linientreuen Maler wie Rudolf Bergander, der seit 1964 Rektor der Hochschule für Bildende Künste in Dresden war.13 Wer keine staatliche Anstellung hatte und keine größeren staatlichen oder privaten Aufträge, konnte seine wirtschaftliche Existenz durch eine Anstellung als Betriebsmaler sichern. Ohne die einschlägigen kunstpolitischen Begriffe und Diskussionen explizit zu erwähnen, konnte Müller-Mehlis durch das Beschreiben der Strukturen aufzeigen, wie die zentralistische Organisation des Kunstbetriebs den ›Bitterfelder Weg‹, die staatlich gewollte Nähe zwischen Künstlern und Arbeitern in der DDR, förderte und ausbaute. Insbesondere für die Mehrheit der weniger bekannten Künstler war dieser Weg alternativlos, und zwar nicht aus ideologischen, sondern aus materiellen Gründen. Die Steuerung des Kunstbetriebs durch gezielte finanzielle Zuwendungen des Staates folgte den Prinzipien des ›Neuen Ökonomischen Systems‹ (NÖS), einer wirtschaftspolitischen Kurskorrektur, die der VI. Parteitag der SED im Januar 1963 beschlossen hatte. Kulturförderung wurde als Investitionsprogramm begriffen, das politische Rendite abwerfen sollte. Auch die finanzielle Unterstützung der tendenzen durch den Kulturbund ist in diesem Zusammenhang zu sehen.14 Es passte ins Bild, dass Müller-Mehlis auch in seinen Ausführungen zur Kunstausbildung in der DDR nicht die künstlerischen oder politischen Lehrinhalte, sondern die materiellen Bedingungen hervorhob. Auf die Mark genau nannte er jeweils die Höhe der Stipendien, die etwa 90% der Kunststudierenden – gestaffelt nach dem sozialen Status ihrer Eltern – in Anspruch nehmen durften, die Höhe der Gehälter für Meisterschüler und die Atelierpreise für Absolventen.15 Als Zwischenfazit stellte er fest: »Auch in der DDR tragen Maler und Bildhauer weiße Hemden mit Krawatte, auch dort steht ihr Trachten nach dem Erwerb eines Automobils. Nicht jeder schafft auf Anhieb gleich die 14.000 Mark für einen ›Wartburg‹ (ohne Extras, Standardausführung), doch bei ›guter Auftragslage‹ läßt sich das erreichen.«16

Das systembedingte Bild, das Müller-Mehlis von den Künstlern in der DDR zeichnete – zumindest bei den westdeutschen Lesern dürfte dieser Eindruck entstanden sein –, war nicht das Bild eines politischen oder zumindest politisch reflektierten, sondern das eines mit materiellen Absicherungen und Anreizen an den Staat gebundenen Künstlers. Im Rahmen dieses Systems einer politischen Bindung durch materielle Absicherung suchte

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Müller-Mehlis nach den Abweichlern unter den Künstlern, die sich nicht vom Staat vereinnahmen lassen wollten. Es war kein Zufall, dass er seinen Bericht mit Fritz Cremer begann und hervorhob, dass dieser 1964 unter Protest und aus Solidarität mit Willi Sitte aus der Jury der Ausstellung Unser Zeitgenosse ausgetreten sei, weil Sittes LeunaArbeiter unter der Dusche abgelehnt worden war.17 Auch der »Anhang« des Sonderheftes mit Diskussionsbeiträgen zur Kunstpolitik der DDR wird mit einer widerständigen Rede von Cremer eingeleitet, seinem inzwischen berühmt gewordenen Diskussionsbeitrag auf dem V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands vom März 1964, von dem noch die Rede sein wird.18 Weitere Stiche, die Müller-Mehlis gegen die ›offizielle‹ Kunst- und Kulturpolitik in der DDR setzte, waren das anonyme Bekenntnis junger Dresdner Bildhauer, sich an der westeuropäischen Abb. 2: Fritz Cremer, Aufsteigender, 1965 Avantgarde zu orientieren, an Bildhauern wie Henry Moore, Reg Butler, Lynn Chadwick oder Marino Marini,19 dann das Gerücht, in Rostock »habe es gerade eine Ausstellung einer Gruppe junger Künstler gegeben, unter denen einige abstrakt malten und sich um Mitgliedschaft im Verband gar nicht kümmerten«20 und schließlich der Hinweis auf eine Diskussion im Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz, bei der einige der Teilnehmer Sympathie mit Wolf Biermann bekundeten,21 der ein Jahr zuvor zum ersten Mal im Westen aufgetreten war und Ende 1965 in der DDR mit einem Auftritts- und Publikationsverbot belegt wurde. Der Bericht endet mit einem Ausblick auf eine nachrückende, kritische Künstlergeneration und einem Zitat Willi Sittes, der sich selbstbewusst eine Einmischung des Staates in künstlerische Belange verbat: »Die Generation der Jüngeren drängt nach. Sicher wird es Reibungen geben, die man lange tunlichst vermied. Die Entwicklung scheint den Jungen recht zu geben. Es klingt nicht wie Triumph, sondern ganz lapidar und nüchtern, wenn Willi Sitte sagt: ›Wir haben uns nicht vorschreiben lassen, was gemalt wird. Wir haben uns auch in der engherzigen Zeit gehalten und brauchen uns jetzt nicht zu ändern.‹«22

Mit Cremer und Sitte rahmte Müller-Mehlis seinen Reisebericht mit zwei kraftvollen Akzenten, nicht nur im Hinblick auf die Zitate, sondern auch auf die künstlerischen Werke der beiden, die den Text illustrierten. Cremers Gipsmodell des Aufsteigenden von 1965 (Abb. 2), aber auch Sittes Rufer von 1962, der als Titelillustration für das

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Sonderheft verwendet wurde, konnten beide auch – in Kombination mit dem Grundton des Reiseberichts – als Sinnbilder des Aufbegehrens verstanden werden. Noch zugespitzter als im Bericht von Müller-Mehlis kommt der latente Konflikt zwischen Künstlern und Kulturfunktionären, von dem sich nicht klar sagen lässt, bis zu welchem Grad er der kulturpolitischen Wirklichkeit der frühen 1960er Jahre entsprach oder vom Autor konstruiert wurde, im dokumentarischen Anhang des Sonderheftes zum Ausdruck. Die Zusammenstellung beginnt mit dem schon erwähnten Diskussionsbeitrag von Fritz Cremer auf dem V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands vom März 1964. Cremer stellte darin eine Reihe von Forderungen, die sich gegen Dogmatismus und Bevormundung richteten und den Anspruch auf Selbständigkeit erhoben. Dort heißt es unter anderem: »Wir brauchen auf dem Gebiet der Kultur und Kunst offenere und differenziertere Verhaltensweisen gegenüber experimentellen Entwicklungstendenzen und Erkenntnissen im praktischen wie im theoretischen Bereich. Und wir brauchen keine Verhaltensweisen, die jeder kleinsten Regung von irgend etwas Neuem, Unbekannten mit politischer Verdächtigung begegnen. Wir brauchen wahrhaftig und tatsächlich die Abschaffung dieses dogmatischen Teufels. […] Wir brauchen keine Kunst, in der Beschlüsse, Aufrufe und Dekrete über diese zum Ausdruck kommen, die den Künstler von Aufruf zum Termin einer Ausstellung bis zum nächsten Aufruf und Termin torkeln lassen, sondern wir brauchen eine Kunst, die der eigenen Verantwortung und möglichst den marxistischen Erkenntnistheorien der sich verändernden Welt zum Sozialismus hin entspricht und das Recht hat, auf diese Veränderungen schöpferisch zurückzuwirken …«23

Direkt im Anschluss an den Diskussionsbeitrag Cremers platzierte die Redaktion der tendenzen Auszüge aus den Beschlüssen des 9. Plenums der SED vom April 1965, die sich dadurch wie eine Antwort auf die Forderungen lesen, die Cremer ein Jahr zuvor erhoben hatte.24 Die Beschlüsse halten nachdrücklich am Leitbegriff des sozialistischen Realismus und an den kulturpolitischen Vorgaben des Bitterfelder Weges fest. Eine Erneuerung und Weiterentwicklung des sozialistischen Realismus sehen die Verfasser der Beschlüsse nicht in der »Öffnung seiner Grenzen gegenüber dem Modernismus«, sondern im Gegenteil in der Bekämpfung der westlichen Moderne: »Die wichtigste Voraussetzung für ein solches wahrhaftes Neuerertum in Literatur und Kunst ist der beharrliche Kampf gegen die Einflüsse der spätbürgerlichen Ideologie und dekadenter Kunstauffassungen.«25 Explizit wurde in den Beschlüssen der Vorwurf des Dogmatismus auf. Mit seiner Forderung nach der »Abschaffung dieses dogmatischen Teufels« hatte Cremer offensichtlich einen Nerv getroffen. Die Beschlüsse machten deutlich, dass diese Forderung als Angriff auf den Sozialismus verstanden wurde, weshalb sie scharf zurückgewiesen wurde: »Die Gegner unserer gesellschaftlichen Entwicklung entdeckten in jüngster Zeit eine merkwürdige Vorliebe für einen ›antidogmatischen‹ Sozialismus. Ihre Empfehlungen zur sogenannten Liberalisierung sind leicht zu durchschauen: Die Anziehungskraft des Sozialismus wird immer stärker; deshalb wird ein angeblicher Dogmatismus als Zielscheibe genommen, um den Sozialismus zu treffen. Eine Kritik, die unter der Flagge des Antidogmatismus die Grundfragen des Sozialismus angreift, ist

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keine Kritik am Dogmatismus, sondern am Sozialismus. Eine solche Kritik werden wir stets zurückweisen.«26

Nach den Auszügen aus den aktuellen Parteibeschlüssen wurden noch Auszüge von drei weiteren Rede- bzw. Textbeiträgen abgedruckt: Passagen aus Lea Grundigs Diskussionsbeitrag auf dem besagten Verbandskongress von 1964,27 Auszüge aus Sobolevs Schrift über Die Leninsche Abbildtheorie und Kunst von 195328 und aus Hans Kochs Marxismus und Ästhetik von 1962,29 die allesamt für eine Differenzierung des Realismusbegriffs eintraten und ihn vom bloßen Abbildrealismus abzugrenzen versuchten. Ein differenzierter Realismusbegriff führte zu einer differenzierten Bewertung der westlichen Moderne, wie sie insbesondere im Beitrag von Lea Grundig erkennbar ist, die als Verbandspräsidentin die Rolle der Vermittlerin zwischen Künstlern und Staat einnahm. Hans Koch warnte davor, den Begriff des Realismus zu sehr an das Konzept der künstlerischen Widerspiegelung zu binden und plädierte damit indirekt für mehr Toleranz in Stilfragen. Und er warnte vor einem ästhetischen Dogmatismus: »Auf alle Fälle aber führt es zu sehr schädlichen Folgen, ›den Realismus‹ in den verschiedenen Gattungen und Genres dogmatisch an ganz bestimmte Ausdrucks- und Stilmittel, ganz bestimmte Formen oder an eine ganz bestimmte Schreibweise binden zu wollen, um aus einer von vornherein als gegeben angenommenen Bestimmtheit der Mittel und Formen Kriterien des Realismus als künstlerische Methode abzuleiten. Ein solches Verfahren muß zwangsläufig zur Erstarrung führen.«30

Die Zusammenstellung der Textauszüge implizierte, dass die Parteibeschlüsse vom April 1965 deutlich hinter den Diskussionsstand zum sozialistischen Realismus zurückfielen. Zusammen mit der Akzentuierung der auf Emanzipation und Selbstbestimmung zielenden Künstlerstimmen im Reisebericht von Müller-Mehlis musste der Eindruck einer zunehmenden Distanzierung und Entfremdung zwischen den Künstlern und Wissenschaftlern auf der einen und den Kulturfunktionären und Politikern auf der anderen Seite entstehen, einer sich verschärfenden Konfrontation zwischen ›Anti-Dogmatikern‹ und ›Dogmatikern‹ im Kunst- und Kulturbetrieb der DDR. Den Kulturverantwortlichen der DDR war die Stoßrichtung des tendenzenSonderheftes nicht verborgen geblieben. Andreas Zimmer hat die Reaktionen der zuständigen Behörden (Kulturabteilung des ZK der SED, Abteilung Bildende Kunst und Museen im Ministerium für Kultur, Kulturbund, Verband Bildender Künstler Deutschlands) ausführlich dokumentiert und beschrieben.31 Klaus Weidner, Referent für bildende Kunst in der Kulturabteilung des ZK der SED, der schon ein Jahr zuvor den Diskussionsbeitrag Fritz Cremers auf dem Verbandskongress als »einen politischen Angriff auf die Grundprinzipien unserer sozialistischen Politik« eingestuft hatte,32 fürchtete »die Beeinflussung von Künstlern der DDR gegen die Kulturpolitik unserer Partei«, sah im tendenzen-Sonderheft den »Übergang zur offenen Anti-DDR-Hetze« und empfahl zu prüfen, »ob es richtig ist, die Zeitschrift über den Kulturbund weiter zu subventionieren«.33 Nachdem es mit Mühe gelungen war, einen unabhängigen, selbständigen Künstler wie Willi Sitte, der über Halle hinaus eine Orientierungsfigur für die Generation jüngerer Künstler in der DDR war, näher an den Staat und die Partei heranzuziehen, 34 musste man nun mitansehen, wie er von westlicher Seite als politisch emanzipierter, tendenziell obrigkeitskritischer Künstler herausgestellt wurde – und das mit finanzieller und organisatorischer Unterstützung aus dem eigenen Haus. Dass Sitte im selben Jahr

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(1965) in Hiepes Neuer Münchner Galerie seine erste Ausstellung in der Bundesrepublik hatte,35 dürfte die Angst vor einer drohenden Vereinnahmung durch den Westen noch verstärkt haben, zumal Christa und Gerhard Wolf in ihrem Katalogtext in auffälliger Weise den »Veränderungswillen« des Künstlers betonten.36 Die heftigen und unnachgiebigen Reaktionen der verantwortlichen Kulturfunktionäre auf die Forderungen der Künstler nach mehr Offenheit und Unabhängigkeit standen 1964 und 1965 noch ganz im Zeichen des politischen Isolationismus der frühen 1960er Jahre, dessen Höhepunkt der Mauerbau gewesen war. Kulturpolitisch gipfelte diese Haltung in den Beschlüssen des 11. (»Kahlschlag«-)Plenums des ZK der SED im Dezember 1965.37 Trotz der nachdrücklichen Autoritätsbekundungen seitens der staatlichen Kulturpolitik tat sich aber, ausgelöst durch den V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands, wie Ulrike Goeschen festgestellt hat, »für Künstler und Kunst ein neues Koordinatensystem auf«.38 Die stalinistische Ästhetik der 1950er Jahre mit ihren engen ikonografischen und stilistischen Vorgaben war kein Maßstab mehr. Die Spielräume, die man den Künstlern zugestand, wurden größer. Das tendenzenSonderheft »Künstler in der DDR« hat die Bestrebungen der Künstler nach mehr Unabhängigkeit unterstützt und in einer Situation, als sich die Konflikte zwischen den ›aufmüpfigen‹ Künstlern und dem Staat verschärften, Position für die Künstler bezogen. Damit haben die tendenzen ihren Beitrag zur Modernisierung der Kunst in der DDR geleistet. Die Irritationen, die durch das tendenzen-Sonderheft entstanden waren, wirkten lange nach. So kritisierte noch 1977 Hermann Raum in seinem Buch Die bildende Kunst der BRD und Westberlins unter der Überschrift »Theoretische Hemmnisse in der ›tendenzen‹-Bewegung in den 60er Jahren« die Position der tendenzen zur modernen Kunst als »Kompromißhaltung« und als potenziell revisionistisch39 – ein Vorwurf, dem er selber beim Verbandskongress von 1964 ausgesetzt war, nachdem er sich neben Fritz Cremer, Bernhard Heisig und Willi Sitte für eine Öffnung gegenüber der modernen Kunst stark gemacht hatte.40 Die Ausstellung Tendenzen in Halle, Rostock und Berlin/DDR (1966) Zu den unmittelbaren Folgen des Sonderheftes gehörte, dass die in Vorbereitung befindliche Ausstellung der Künstlergruppe Tendenz vorläufig gestoppt werden sollte.41 Außerdem wurde ein geplantes Symposium über westdeutsche Kunst, das unter der Leitung von Hermann Raum an der Universität Rostock stattfinden sollte, abgesagt.42 Carlo Schellemann, Mitherausgeber der tendenzen und Mitglied der Künstlergruppe Tendenz, wurde 1966 die Einreise in die DDR verweigert, weil er sich im Jahr zuvor mit Robert Havemann und Wolf Biermann getroffen hatte.43 Ungeachtet der Sanktionen, liefen die Vorbereitungen für die Ausstellung weiter. Ersichtlich wird dies aus einem Brief von Annelies Tschofen, die im Verband bildender Künstler Deutschlands die Abteilung »Internationale Verbindungen und Nationale Politik« leitete, an Klaus Weidner vom 12. Januar 1966.44 Durch ihre Dissertation über Carlo Schellemann45 stand Tschofen in engem Kontakt zum Umfeld der tendenzen und hat an vielen Treffen mit Hiepe und an den tendenzen-Gesprächen in Westdeutschland teilgenommen. In ihrem Brief an Weidner ging es um das geplante Vorwort von Richard Hiepe, das sie für »nicht verwendbar« hielt.46 Das Problem war Hiepes »weitgefasster,

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Abb. 3: Ausstellungskatalog Tendenzen, 1966

verschwommener Realismus-Begriff«47, der offenbar mit der Linie der SED nicht vereinbar schien. Da Hiepe aber nicht bereit war, Veränderungen vorzunehmen, erschien im Katalog (Abb. 3) ein zweites Vorwort von Annelies Tschofen. Von beiden wird noch die Rede sein. Die Gruppe Tendenz, wie sie sich zunächst nannte,48 oder auch Künstlergruppe Tendenzen, wie sie später bezeichnet wurde, bestand seit 1959, war nach der Veröffentlichung ihres Manifests im ersten Heft der tendenzen aber kaum in Erscheinung getreten. Die Ausstellung mit dem Titel »Tendenzen«, die von März bis August 1966 in Halle/Saale, Rostock und Berlin/DDR stattfand, war der erste öffentliche Auftritt der Gruppe.49 Danach gab nur noch eine weitere gemeinsame Ausstellung, die durch einen Katalog dokumentiert ist. Sie wurde 1974 unter dem Titel »Gruppe Tendenzen. Realistische

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Abb. 4: Carlo Schellemann, Ritter, Tod und Teufel, 1964

Bilder« in München gezeigt.50 Darüber hinaus ist über die Gruppe kaum etwas bekannt.51 Sie selbst sah sich in der Rückschau nicht als »festgefügte Gruppe«, sondern als »ein loser Zusammenschluß von gleichgesinnten Kollegen, die versuchten, durch Beteiligungen an den verschiedensten Ausstellungen engagierte und realistische Aspekte in die damals überwiegend formalistisch orientierte Kunstszene hineinzutragen«.52 In der westdeutschen Kunstszene scheint die Gruppe keine große Rolle gespielt zu haben. In der DDR dagegen wurde sie als Sammelbecken westdeutscher Künstler wahrgenommen, die sich dem Trend zur Abstraktion widersetzten und figürlich arbeiteten. Hermann Raum sprach später von der »Tendenzen-Bewegung der sechziger Jahre«.53 Der Kopf der Gruppe, deren Mitglieder überwiegend aus dem Münchner/Augsburger Raum stammten, war Carlo Schellemann. Anfangs gehörten auch bekanntere Namen wie Albert Birkle, Karl Hubbuch, Frans Masereel und Günter Strupp dazu. Den Kern der Gruppe, die Schellemann für die Ausstellung 1966 in der DDR zusammenstellte, bildeten politische Künstler wie Helmut Goettl, Jörg Scherkamp, Jürgen Weber, Guido Zingerl und Schellemann selbst. Dazu kamen Künstler, die sich aus unterschiedlichen Gründen und Motivationen heraus der Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschrieben hatten. Hiepe räumte in seinem Vorwort ein, dass »nur ein kleiner Teil dieser Gruppe politisch engagiert« sei, dass keinerlei Gruppencharakter oder Stilverwandtschaft erkennbar sei, dass die Künstler aber durch die gemeinsame Erfahrung der NS-Zeit, des Krieges

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Abb. 5: Guido Zingerl, Euphorie, 1965

und der Nachkriegszeit und eine gemeinsame künstlerische Grundhaltung miteinander verbunden seien, die sich durch »konsequentes Beharren auf Wirklichkeit« auszeichne.54 Er sprach von »Zweifeln [der jüngeren Künstlergeneration] an der Richtigkeit der formalistischen Kunstdoktrinen [des Westens]«, was in der Formulierung sicherlich als Zugeständnis an seine Partner in der DDR zu verstehen war, wollte aber auch nicht leugnen, dass in der Auswahl der in der Ausstellung gezeigten Werle »formale und geistige Einflüsse aller möglichen Stilrichtungen der modernen Kunst vom Expressionismus und Surrealismus bis zum Tachismus zu spüren sind«.55 Diese Akzentuierung ging deutlich über die offizielle kunstpolitische Linie der DDR hinaus, ebenso wie die ausdrückliche Würdigung von »ernsthaften Versuchen«, »die wachsenden realistischen Bedürfnisse der Menschen auf irgendeine Weise mit den Rezepten der formalistischen Kunstprinzipien zu befriedigen«.56 Er wertete die ausgestellten Werke abschließend als »bildnerische Versuche, eine zusammengebrochene Realität individuell neu zu ordnen«.57 Anders als der stalinistischen Kunstpolitik ging es ihm nicht darum, der Kunst die Pflicht aufzuerlegen, die Wirklichkeit abzubilden, sondern ihr das Recht zuzugestehen, die Wirklichkeit mit individuellen Mitteln zu gestalten. Diese Position deckte sich mit Fritz Cremers Wunsch nach einer »Kunst, die der eigenen Verantwortung und möglichst den marxistischen Erkenntnistheorien der sich verändernden Welt zum Sozialismus hin entspricht und das Recht hat, auf diese Veränderungen schöpferisch zurückzuwirken«,58 mit dem er beim Verbandstreffen 1964 die Kritik der Funktionäre auf sich gezogen hatte.

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Annelies Tschofen bemühte sich im zweiten Vorwort, das Bild, das Hiepe gezeichnet hatte, im Sinne der staatlichen Kunstpolitik der DDR zurechtzurücken. Den Mensch in den Mittelpunkt der Darstellung zu rücken, um im Sinne Alfred Kurellas und der Kunstpolitik der späten 1950er und frühen 1960er Jahre »humanistische Positionen in der Kunst zurückzugewinnen«, wollte sie als das Grundprinzip der Ausstellung verstanden wissen.59 »Tendenzen zum hektisch Gesteigerten, Schockhaften und SkurrilSeltsamen«60 – und damit bezog sie sich vermutlich auf sinnbild- und montagehafte Arbeiten wie Schellemanns Bleistiftzeichnung Ritter, Tod und Teufel von 1964 (Abb. 4) oder Zingerls Federzeichnung Euphorie (Abb. 5) von 1965, die für ostdeutsche Augen eher ungewohnt waren – interpretierte sie als Ausdruck »des Absurden und Morbiden der bürgerlichen Gesellschaft«.61 Erfreut nahm sie zur Kenntnis, dass sich die Künstler »dem gesellschaftlich bedeutsamen Thema« zuwandten,62 Anzeichen einer stalinistischen Ästhetik. Hiepe hatte dagegen in seinem Vorwort hervorgehoben: »…, die thematischen Darstellungen sind in der Minderheit, …«63 Es sind solche leichten, unscheinbaren Akzentverschiebungen, in denen die unterschiedlichen kunstpolitischen Positionen erkennbar werden. Bemerkenswert ist die Schlusssequenz des zweiten Vorworts, in der Tschofen die Perspektive einer künstlerischen Vereinigung zwischen Ost und West entwirft: »In diesen Strom des geschichtlich höchsten und reifsten Strebens nach Frieden und Humanismus [gemeint ist das Kunstschaffen in der DDR] fließen auch die Bemühungen jener westdeutschen Künstler ein, die schon heute bewußt und zielstrebig mit ihrer ganzen Persönlichkeit für eine demokratische Erneuerung der Kunst eintreten.«64

Bezeichnend in dieser Passage ist auch die (vermutlich ungewollte) Metapher der Künstler, die mit dem Strom schwimmen, als finales kunstpolitisches Wunschbild des realsozialistischen Staates. Die Eröffnungsrede zur Ausstellung in Halle hielt Willi Sitte. Der Text wurde dem Katalog als Faltblatt beigelegt.65 Sitte bezog sich in seiner Rede kaum auf die Ausstellung, die Künstler und die ausgestellten Werke, sondern nutzte sie eher dazu, einige grundsätzliche Gedanken über die Wahrnehmung und Bedeutung von Kunst, die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West und das gemeinsame »Bemühen um Realismus« zu formulieren. In zwei Sätzen machte er deutlich, worin er die Bedeutung der Ausstellung Tendenzen für die DDR sah: »[…] gemeinsam mit Ausstellungen in der DDR entstandener sozialistischer Kunst demonstriert sie [die Ausstellung] die M ö gl i c h ke i t e n des Realismus, seine Weite und Vielfalt macht zudem einmal mehr deutlich, daß Realismus nicht als Stil, sondern nur als Methode künstlerischer Welterkenntnis und -interpretation begriffen werden kann.«66

Sitte nahm die Ausstellung zum Anlass, um den stilgebundenen Realismusbegriff der 1950er und frühen 1960er Jahre in Frage zu stellen und für einen Realismusbegriff zu werben, der den Künstlern größere Spielräume eröffnet. Darin knüpfte er an die Forderungen an, die die Künstler schon zwei Jahre zuvor auf dem Verbandskongress gestellt hatten und die auch das tendenzen-Sonderheft von 1965 dokumentiert und argumentativ unterstützt hatte. Mit seinem Eintreten für »Weite und Vielfalt« des Realismus, die er in der Ausstellung Tendenzen gegeben sah, nahm er darüber hinaus das Motto für die

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Abb. 6: Ausstellungskatalog Situation 66, 1966

kunstpolitische Entspannung vorweg, das der VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 ausrief. Ganz neu war das Motto allerdings nicht. Schon Walter Ulbricht hatte es in seiner Rede auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 in Anspruch genommen. 67 Ebenso wie das tendenzen-Sonderheft ist auch die Ausstellung Tendenzen von 1966 als Versuch der tendenzen-Redaktion zu werten, den Emanzipationswillen der Künstler in den kunstpolitischen Auseinandersetzungen der DDR zu stärken und auf eine Liberalisierung hinzuwirken. Dies führte in beiden Fällen zu Konflikten mit dem Vorstand des Künstlerverbandes und mit der Kulturabteilung im ZK der SED im Hintergrund. Wie man der Autobiografie von Willi Sitte entnehmen kann, gab es freundschaftliche Kon-

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takte und persönliche Treffen zwischen den kritischen Künstlern der DDR und dem Kern der Tendenzen-Gruppe um Schellemann, die den Versuchen staatlicher Einflussnahmen offenbar widerstanden.68 Schellemann hatte wie schon erwähnt die Anwerbungsversuche des Bayerischen Verfassungsschutzes zurückgewiesen, Sitte auf der anderen Seite die Hoffnung der Staatssicherheit enttäuscht, ihn als GI oder IM aufbauen zu können.69 So bildete sich unter den Künstlern ein Bündnis, das sich während der kunstpolitischen Konflikte in der Mitte der 1960er Jahre als tragfähig erwies, um Veränderungen einzuleiten. Die Ausstellung Situation 66 in Augsburg Für die kleine Gruppe um Schellemann, die in der Kunstlandschaft der Bundesrepublik kaum eine Rolle spielte, bot die Tendenzen-Ausstellung in der DDR die Möglichkeit, ihr ›internationales‹ Netzwerk, ihre Bekanntheit und ihre Einflussmöglichkeiten zu erweitern. Welches Ziel Schellemann dabei vor Augen hatte, deutete die Ausstellung Situation 66 (Abb. 6) an,70 die er im selben Jahr in Augsburg organisierte: eine internationale Schau realistischer Kunst mit umfangreicher Beteiligung von Künstlern aus der Bundesrepublik (überwiegend tendenzen-Künstler) und der DDR (u. a. Fritz Cremer, Wieland Förster, Lea Grundig, Arno Mohr, Willi Neubert, Willi Sitte) und darüber hinaus aus vielen ost- und westeuropäischen Staaten. Das stilistische Spektrum reichte in der Malerei von Guttuso bis Dubuffet und in der Bildhauerei von Fritz Cremer bis Reg Butler. Prominente Namen wie Pablo Picasso und Henry Moore markierten die Anknüpfungsund Orientierungspunkte zur modernen Malerei und Bildhauerei. Der Ausstellung, die sowohl vom Bayerischen Kultusministerium als auch vom Künstlerverband der DDR unterstützt wurde, lag ein weitgefasstes Realismus-Konzept zugrunde, das künstlerische Positionen aus Ost und West zusammenführte. Die Ausstellung wollte zwar keine »›Gegen-Documenta‹ der Realisten«, aber immerhin »eine notwendige Vorstufe dazu« sein.71 Die gesamteuropäische Perspektive deutete an, dass die deutsch-deutsche Kooperation zwischen den tendenzen auf westlicher und dem Verband bildender Künstler Deutschlands auf östlicher Seite zumindest vom Westen her als Teil eines größeren Zusammenhangs begriffen wurde, in dem es darum ging, realistische Positionen in der europäischen Kunst zusammenzuführen und in ihrer Vielfalt zu dokumentieren und dabei sowohl eine Modernisierung des politischen Realismus als auch umgekehrt eine Politisierung der Moderne in Gang zu setzen. Und es ging darum, die schmale Brücke zwischen Ost und West weiter auszubauen. 1 Der folgende Beitrag schließt an meinen Aufsatz über Richard Hiepe und die Zeitschrift Ten-

denzen von 2018 an. Vgl. Martin Papenbrock: »Humanismus, Realismus, Nonkonformismus. Richard Hiepe, die Tendenzen und die Neue Münchner Galerie von 1958 bis 1968« In: Kunst und Politik, 20/2018, S. 69–86. Er greift ein Thema heraus, das in dem früheren Beitrag nur gestreift werden konnte, und vertieft es. 2 Vgl. Aust.-Kat. Allgemeine Deutsche Kunstausstellung Dresden 1946. Dresden 1946; Kurt Winkler: »Allgemeine Deutsche Kunstausstellung Dresden 1946« In: Ausst.-Kat. Stationen

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der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Berlinische Galerie. Berlin 1988, S. 352–377. Zum Kulturbund vgl.: Karl-Heinz Schulmeister: Auf dem Weg zu einer neuen Kultur. Der Kulturbund in den Jahren 1945–1949. Berlin/DDR 1977; Andreas Zimmer: Der Kulturbund in der SBZ und in der DDR. Eine ostdeutsche Kulturvereinigung im Wandel der Zeit zwischen 1945 und 1990. Wiesbaden 2019. Vgl. G. U. Ursoef: Das trojanische Pferd. Melsungen o. J. [1958]; Karl Richter: Die trojanische Herde. Ein dokumentarischer Bericht. Köln 1959; Wilhelm Mensing: Maulwürfe im Kulturbeet. DKP-Einfluß in Presse, Literatur und Kunst. Osnabrück 1983. In wissenschaftlicher Perspektive: Dirk Mellies: Trojanische Pferde der DDR? Das neutralistisch-pazifistische Netzwerk der frühen Bundesrepublik und die Deutsche Volkszeitung, 1953-1973. Frankfurt/Main 2007; Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hg.): Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945–1962). Berlin 2013, S. 53; Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 328 f. Aust.-Kat. Künstler gegen Atomkrieg. Hg. vom Deutschen Kulturtag. Zusammenstellung: Richard Hiepe. München o. J. [1959]. Zum Hintergrund und zur Geschichte der Ausstellung vgl. Rosa Rosinski: »Künstlerinitiativen in der Zeit des ›Kalten Krieges‹« In: Aust.-Kat. Zwischen Krieg und Frieden. Gegenständliche und realistische Tendenzen in der Kunst nach 45. Hg. vom Frankfurter Kunstverein. Berlin 1980, S. 86–95, hier S. 86–89, sowie ausführlich: Und die Taube fliegt (weiter). Bildende Künstler engagieren sich für Frieden. Hg. v. Kunst für Frieden e.V. Regensburg 2008, darin vor allem den Beitrag von Annegret Jürgens-Kirchhoff: »›Künstler gegen Atomkrieg‹ (1958–1962). Eine Wanderausstellung in der Zeit des Kalten Krieges«, S. 20–55. Vgl. Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 348. Zu Müller-Mehlis vgl. Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 341. Reinhard Müller-Mehlis: »Künstler in der DDR« In: tendenzen, 6. Jg. 1965, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 179–204. Vgl. ebd., S. 179. Ebd. Ebd. Ebd., S. 182. Vgl. ebd. Die Zahlungen, die die tendenzen aus der DDR erhielten, beliefen sich Mitte der 1960er Jahre auf einen jährlichen Betrag von ca. 5.000 DM und waren damit allenfalls ein Zuschuss zu den tatsächlichen Kosten der Zeitschrift, die zu diesem Zeitpunkt etwa 900 Abonnenten hatte. Vgl. eine Notiz in den Kulturbund-Akten vom 01.11.1965, SAPMO BArch DY 27, Nr. 4088, zit. nach Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 342. Vgl. ebd., S. 189. Ebd. Vgl. ebd., S. 181. Zu Cremers ›Konfrontationskurs‹ und seinen Folgen vgl. Gerd Brüne: Pathos und Sozialismus. Studien zum plastischen Werk Fritz Cremers (1906–1993). Weimar 2005, S. 258–260. Vgl. auch Gisela Schirmer: Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie. Leipzig 2003, S. 110 u. 395 (Anm. 8). »Aus der Diskussionsrede von Prof. Fritz Cremer auf dem V. Kongreß des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands März 1964« In: tendenzen, 6. Jg. 1965, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 205. Vgl. Müller-Mehlis 1965 (wie Anm. 3), S. 182.

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Ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 196. Ebd., S. 201. Vgl. Diskussionsrede von Prof. Fritz Cremer (wie Anm. 13), S. 205. »Aus den Beschlüssen des 9. Plenums der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Neues Deutschland, 28.4.65, S. 8« In: tendenzen, 6. Jg. 1965, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 208–209. Ebd., S. 209. Ebd. »Aus der Diskussionsrede von Prof. Lea Grundig auf dem V. Kongreß des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands März 1964« In: tendenzen, 6. Jg. 1965, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 213. »A. I. Sobolew, Die Leninsche Abbildtheorie und Kunst, Berlin 1953, S. 10 und 15–16« In: tendenzen, 6. Jg. 1965, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 214. »Aus dem Buch: Prof. Hans Koch, Marxismus und Ästhetik, Berlin 1962, S. 559 und 562« In: tendenzen, 6. Jg. 1965, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 215. Ebd. Vgl. Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 348 ff. Zit. nach Ulrike Goeschen: Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR. Berlin 2001, S. 146. Zit. nach Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 350. Nach Auseinandersetzungen mit der SED-Bezirksleitung hatte sich Sitte in einem Artikel in der Freiheit am 2. Februar 1963 »voll und ganz zu den Beschlüssen meiner Partei« bekannt. Vgl. Schirmer 2003 (wie Anm. 17), S. 103. Aust.-Kat. Willi Sitte. Gemälde und Zeichnungen. Ausstellung des Hallenser Künstlers anläßlich des 20. Jahrestages der Zerschlagung des Hitlerfaschismus. Neue Münchner Galerie. München 1965. Christa und Gerhard Wolf: »Sittes Atelier 1964« In: ebd. Vgl. Günter Agde (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin 1991. Goeschen 2001 (wie Anm. 32), S. 147. Hermann Raum: Die bildende Kunst der BRD und Westberlins. Leipzig 1977, S. 190–191. Vgl. Goeschen 2001 (wie Anm. 32), S. 144–146. Vgl. Zimmer 2019 (wie Anm. 3), S. 350. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 351. Brief von Annelies Tschofen an Klaus Weidner, 12.01.1966, Archiv der Akademie der Künste Berlin, Verband bildender Künstler der DDR, VBK-Zentralvorstand 176. Annelies Tschofen: Zur Problematik humanistischen Kunstschaffens in Westdeutschland untersucht und dargestellt an der Entwicklung des Malers und Grafikers Carlo Schellemann. Dissertation. Berlin 1964. Brief von Annelies Tschofen an Klaus Weidner, 12.01.1966 (wie Anm. 44). Ebd. »Gruppe Tendenz« In: Tendenzen. Blätter für engagierte Kunst, Nr. 1, Februar 1960, S. 16. Kleinere Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen der Tendenz-Künstler sind dem Verzeichnis der Ausstellungsbeteiligungen im Katalog der Schellemann-Ausstellung von 1984 zu

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entnehmen. Vgl. Ausst.-Kat. Carlo Schellemann, ein Maler und Graphiker aus Eggenfelden/BRD. Staatliche Museen zu Berlin. Berlin/DDR 1984, S. 27–30. Ausst.-Kat. Gruppe Tendenzen. Realistische Bilder. München 1974. Die Münchner Künstlergruppe TENDENZEN, von der Jost Maxim auf einer Arbeitstagung der DKP 1973 berichtete, war eine gegenüber der Ursprungsformation bereits stark veränderte Gruppe, die ihre Perspektive vor allem in Ausstellungen in Jugendzentren und Betrieben sah. Vgl. Jost Maxim: »Die Künstlergruppe TENDENZEN« In: Arbeitstagung der DKP zu Fragen der bildenden Kunst 31.5.–3.6.73 in Neuß. Referate, Diskussionsbeiträge, Materialien (Auszüge). München 1973, S. 117–118. Ausführlicher hat Gabriele Sprigath 1975 in der Bildenden Kunst über die Gruppe berichtet. Vgl. Gabriele Sprigath: »Die Münchner Künstlergruppe Tendenzen« In: Bildende Kunst, 1975, H. 5, S. 425–429. Vgl. Künstlergruppe tendenzen: »o. T.« In: Realistische Bilder (wie Anm. 50), n. p. Wie Anm. 39. Richard Hiepe: [Vorwort] In: Tendenzen. Ausstellung von Künstlern aus der deutschen Bundesrepublik in der Deutschen Demokratischen Republik. [o.O.] 1966, S. 5–6, hier S. 5. Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. Wie Anm. 23. Annelies Tschofen: [Vorwort] In: Tendenzen. Ausstellung von Künstlern aus der deutschen Bundesrepublik in der Deutschen Demokratischen Republik. [o.O.] 1966, S. 7–8, hier S. 7. Zum Humanismus-Begriff in der Kulturpolitik der DDR vgl. Horst Groschopp: »Der ganze Mensch«. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg 2013; Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. 3 Bde. Göttingen 2018/19, hier Bd. II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957–1976, S. 957-960 (zu Alfred Kurella: Der Mensch als Schöpfer seiner selbst. Beiträge zum sozialistischen Humanismus. Berlin/DDR 1958). Ebd. Ebd. Ebd. Hiepe 1966 (wie Anm. 52), S. 5. Tschofen 1966 (wie Anm. 57), S. 8. »Rede von Professor Willi Sitte, Mitglied des Zentralvorstandes des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands, zur Eröffnung der Ausstellung ›Tendenzen‹ in Halle« Beiblatt zu Ausst.-Kat.Tendenzen 1966 (wie Anm. 52), n. p. Ebd. »Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«. Rede Walter Ulbrichts auf dem VI. Parteitag der SED vom 15.–21. Januar 1963. In: Elimar Schubbe (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Stuttgart 1972, S. 811. Vgl. Schirmer 2003 (wie Anm. 17), S. 121–131. Nach Andreas Hüneke hatte die Stasi im September 1963 eine Operativ-Vorlaufakte über Sitte angelegt, 1964 dann eine IM-Vorlaufakte. Als Sitte im Mai 1965 zur Eröffnung seiner Ausstellung in Hiepes Neuer Münchner Galerie reiste, nahm die Stasi Kontaktgespräche mit ihm auf. Nach Hüneke erklärte sich Sitte zur Zusammenarbeit bereit, wurde aber nicht schriftlich verpflichtet. 1970 sei in seiner Akte vermerkt worden, dass er »operativ wenig Unterstützung« bot und sich im Zusammenhang mit den Ereignissen in Prag 1968 als »politisch unzuverlässig« erwiesen habe. Vgl. Andreas Hüneke: »Am Schaltpult. Versuch über Willi Sitte« In:

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Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945–1990. Hg. von Günter Feist, Eckhart Gillen und Beatrice Vierneisel. Köln 1996, S. 558–563, hier S. 558–560. Sitte selbst hat nach eigenen Angaben nicht gewusst, dass die Stasi ihn beobachtet hat und gewinnen wollte, und erst nach der Wende davon erfahren Vgl. Schirmer 2003 (wie Anm. 17), S. 124 und 395 (Anm. 9). 70 Ausst.-Kat. Situation 66. Europäische realistische Kunst. Augsburg (Rathaus) 1966. 71 Kurt Fassmann: [Vorwort] In: ebd., n. p.

Gisela Schirmer Willi Sitte und A.R. Penck: Zwei selbstbewusste Künstlerpersönlichkeiten treffen aufeinander

»Die größtmögliche Spannbreite von künstlerischen Positionen in der DDR bilden Willi Sitte auf der einen und A.R. Penck auf der anderen Seite.«1 Dieses Zitat stammt aus dem Katalog der Ausstellung Utopie und Untergang. Kunst in der DDR, die 2019 im Kunstpalast in Düsseldorf stattfand. In der Ausstellung waren die Bilder der beiden Künstler – die expressiv üppige Körperlichkeit und die lineare Zeichensetzung mit Strichmännchen – in trauter Nachbarschaft zu sehen. Die Saaltexte sorgten allerdings subtil für die seit 1990 gültige Sicht: Sitte habe sich 1963 öffentlich zur SED bekannt und seinen Stil gewechselt.2 Bei Penck werden dagegen seine Misserfolge in der DDR betont. Die allgemeine Abwertung der Kunst nach dem Ende der DDR konzentrierte sich besonders auf den »Staatskünstler« Willi Sitte, der 1974 Präsident des Verbandes Bildender Künstler (VBK) geworden war. 2001 wurde seine Verurteilung auf einem Symposion in Nürnberg »wissenschaftlich« untermauert.3 Herausgestellt wurde vor allem sein angebliches Vergehen an Penck. Obwohl sich gerade das dort als »quellenkritisch« ausgegebene Vorgehen als problematisch erwies,4 versperren die damaligen Unterstellungen noch heute vielen eine vorurteilsfreie Sichtweise. Im Folgenden soll die Beziehung dieser beiden Künstler zueinander sowie ihre Stellungen in der DDR und in der Bundesrepublik anhand von Quellen genauer untersucht werden, um mehr davon zu erfahren, was es mit der »größtmögliche(n) Spannbreite von künstlerischen Positionen in der DDR« auf sich hat. Erstmals trafen Bilder von Willi Sitte und A.R. Penck in der von Fritz Cremer 1961 organisierten Jahresausstellung der Deutschen Akademie der Künste Junge Künstler aufeinander. Cremer, der jungen Künstlern eine Ausstellungsmöglichkeit bieten wollte, verfolgte damit ein anspruchsvolles Ziel, wie sein Aufruf zur Beteiligung zeigt: »In dieser Ausstellung soll ein echtes und umfassendes Bild der jungen sozialistischen Kunst der DDR deutlich werden. In ihrer Verantwortung für die Gesamtentwicklung unseres Kunstschaffens verspricht sich die Deutsche Akademie der Künste hiervon eine allgemeine Anregung und Ermutigung unserer Künstler.«5

Willi Sitte gehörte mit 40 Jahren zu den älteren Künstlern, er war aber wegen seiner Orientierung an der westlichen Moderne wie kaum ein zweiter der Kritik ausgesetzt gewesen.6 Auch sein in Cremers Ausstellung gezeigtes Dreitafelbild Stalingrad nicht vergessen führte in der Presse zu einem heftigen Für und Wider. Viele der unterschiedlichen Stellungnahmen lassen erkennen, dass sie dem Künstler den rechten Weg weisen wollen.7 Sowohl als Kommunist und Widerstandskämpfer als auch als hervorragender Zeichner setzten die Kulturfunktionäre große Hoffnungen auf Sitte.8 Er selbst wollte mit seiner Kunst den Aufbau des Sozialismus unterstützen und wählte entsprechende In-

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Abb. 1: Willi Sitte, Stalingrad – nicht vergessen (Memento Stalingrad), 1961

halte, die in ihren großen Formaten Aufsehen erregten, in den 50er Jahren aber wegen ihrer als dekadent empfundenen formalen Gestaltung abgelehnt worden waren. Da die Formalismus-Debatte in den 60er Jahren abgeklungen war und im Zentrum nun ideologische Fragen standen, wurde bei Stalingrad nicht vergessen (Abb. 1) vor allem der Inhalt kritisiert. Zwar fand das Thema Lob, weil es sich gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik richtete, der dargestellte nachdenkliche Arbeiter aber wurde als zu passiv beanstandet. Es war in Cremers Ausstellung das einzige Werk mit einer dezidiert politischen Aussage, und während es mit teils ganzseitigen Presseartikeln bedacht wurde, wurden die

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Bilder der übrigen Künstler völlig verständnislos abgekanzelt und die Ausstellung als Skandal diffamiert.9 Im Katalog, der vermutlich wegen des kritischen Vorworts von Cremer erst nach Ende des Ausstellungsteils »Malerei« mit einem neuen Vorwort der Sektion Bildende Kunst der Akademie erscheinen konnte, findet sich dafür eine Erklärung: Eine Auswahl junger Künstler hätte sich trotz mehrfacher Aufforderung nicht beteiligt, »darunter gerade solche Maler, die sich ernsthaft um die Gestaltung der entscheidenden Inhalte unserer Epoche bemühen«. Man habe sich mit diesem Ergebnis abgefunden und »dadurch einigen Gemälden, die weder für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, noch für die Bestrebungen unserer jungen Künstler typisch sind, zu einer unverdienten Bedeutung, die von den Hauptfragen ablenkte«, verholfen.10 Mit diesem Schuldbekenntnis wertete die Sektion die an der Ausstellung beteiligten Künstler ab und bestätigte die allgemeine Kritik. Es waren vor allem die harmlos alltäglichen Themen der Exponate ohne den geforderten Optimismus, die dem von der Politik an die Kunst gestellten Anspruch für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nicht genügten. Das von A.R. Penck, damals noch Ralf Winkler, ausgestellte Selbstbildnis (Abb. 2) und ein Frauenbildnis fielen somit unter das allgemeine Verdikt. Eine Abbildung des Selbstbildnisses mit den etwas mürrischen Zügen und sein Name in der Aufzählung von Künstlern, die des Dilettantismus bezichtigt werden, finden sich in dem Verriss der Zeitschrift Junge Kunst.11 Diese Ablehnung hat seinen weiteren Weg bestimmt. Nachdem er von den Kunstakademien nicht zum Studium zugelassen worden war, hatte er auf die Einladung von Cremer große Hoffnungen gesetzt.12 Mit 22 Jahren stand Penck noch am Anfang seiner Entwicklung. Wie Sitte wollte er von Kindheit an Künstler werden und hatte sich intensiv mit Zeichnen beschäftigt. Für beide war in den 50er/60er Jahren Picasso das große Vorbild, und für beide hatte ein Freundeskreis mit gleichgesinnten Künstlern große Bedeutung. Gemeinsam war ihnen auch eine positive Einstellung zum Sozialismus bei gleichzeitiger Ablehnung der Kunstpolitik der DDR, der sie Eigenes entgegensetzen wollten. Penck war wie Sitte überzeugt, »mit meiner Kunst einen positiven Beitrag zum Sozialismus leisten zu können«.13 Auch in seiner Beurteilung des sozialistischen Realismus war Penck nicht weit von Sitte entfernt: »Die ganze Sache mit dem sozialistischen Realismus haben wir von Anfang an nicht so ernst genommen. Dass das nichts ist, das war offensichtlich.«14 Sitte nannte 1951 vor Studenten sozialistischen Realismus »prima, er habe jedoch noch nie welchen gesehen, aber viel Scheiße habe er schon gesehen«.15 Hier zeigt sich jedoch auch ein fundamentaler Gegensatz: Der 18 Jahre ältere Sitte war sich sicher, etwas ändern zu können, nämlich einen Realismus im Sinne Gorkis zu entwickeln.16 Kunst und Politik waren für ihn von Anfang an untrennbar verbunden. So hatte er, mit der Wehrmacht nach Italien versetzt, seit 1944 mit Partisanen zusammengearbeitet und mit seinem seit Kindertagen an den alten Meistern geschulten Stil einen Totentanz des Dritten Reichs gezeichnet. 1947 trat er in die SED ein und begann gegen alle Widerstände seiner Partei, sich eine eigenständige, moderne Ausdrucksweise zu erarbeiten, um der Utopie des Sozialismus gerecht zu werden. Penck verstand sich ebenfalls als politischer Künstler, aber in weiter gefasstem Sinn. Bereits 1961 hatte er begonnen, neben dem Malen traditioneller Motive mit den ihn bis heute charakterisierenden Strichmännchen-Kompositionen zu umfassenden Aussagen vorzudringen. In seinem Weltbild I (Abb. 3) habe er zum ersten Mal versucht, etwas Allgemeines darzustellen, »zu einer allgemeinen Aussage über Systeme, über die Welt,

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wie sie sich mir darstellte. Ich wollte Bilder malen, die als Signale funktionieren.«17 Im Jahr des Mauerbaus entstanden, stellte er dem westlichen System das östliche gegenüber, das er damals noch für das überlegene hielt. Aber er hatte auch die Vorteile des Westens gesehen. Bei einem Besuch bei seinem Freund Baselitz in Westberlin habe er mit dem Gedanken gespielt dazubleiben, sich aber letztlich für den Osten entschieden. »Ich hatte mich zwar eindeutig von der offiziellen Kunst, der Staatskunst, distanziert, wollte aber im Rahmen der Theorie und des Systems etwas erreichen.«18 Für Sitte hatten sich gleichzeitig ganz andersartige Verbindungen zum Westen ergeben. Vertreter der 1960 gegründeten Zeitschrift tendenzen – linke Künstler und der Kunsthistoriker Richard Hiepe – Abb. 2: A.R. Penck, Selbstbildnis, 1959 interessierten sich für ihn. Mit den westlichen Kunstverhältnissen unzufrieden, wollten sie der vorherrschenden Abstraktion einen engagierten Realismus entgegensetzen.19 Es entstand ein reger Austausch, der Sitte in seinen künstlerischen Bestrebungen und seiner politischen Wahrnehmung bestärkte. 1965 stellte Hiepe Werke von ihm in seiner Neuen Münchner Galerie aus. So fand seine erste Einzelausstellung im Westen statt, und seine Kunst stieß hier auf mehr Verständnis als im Osten. Sie brachte ihm das Angebot für eine Professur an der Münchner Akademie der Künste ein.20 Auch Pencks erste Einzelausstellung wurde im Westen ausgerichtet. Über Baselitz hatte er den Galeristen Michael Werner kennengelernt, der 1968 Werke von ihm in der Kölner Galerie Hake präsentierte. Dort wurde zum ersten Mal sein Pseudonym genannt, das sich auf den Geologen und Eiszeitforscher Alfred Penck bezieht, dessen Schriften der Künstler studiert hatte. Der Name A.R. Penck sei für ihn ein Symbol für ein Konzept gewesen, »das mit Information zu tun hat«. Er habe das Pseudonym aber auch als Tarnung gewählt.21 Drei Wochen vor Eröffnung der Ausstellung in Köln war Penck aus dem Künstlerverband ausgeschlossen worden, indem seine seit 1966 bestehende Kandidatur mit sieben gegen fünf Stimmen gestrichen wurde. Die Begründung: »Koll. Winkler hat sich während der Kandidatenzeit außerhalb des Verbandslebens gestellt. Die Arbeiten sind so, dass sie nicht den Bedingungen für eine Aufnahme entsprechen.«22 Penck reagierte in einem Brief an den Verband verletzt, aber auch mit Spott: Nach gründlicher Analyse seiner Situation wolle er sein Berufsziel fallenlassen. »Die Intensität, mit der ich dieses Ziel angestrebt habe, hat mich in den Augen meiner Mitbürger und Kollegen zum Narren, Wahnsinnigen, ja zum Feind des Staates werden lassen. Das bedaure ich sehr … Ich gebe es allen anderen auf, das Ideal

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Abb. 3: A.R. Penck, Weltbild I

menschheitsbewegender Kunst … im Stil des Sozialistischen Realismus zu verwirklichen. Ich bin frei davon.«23

Die Ablehnung im Osten war dem Galeristen Werner bei seinem Vorhaben, Penck dem Westen anzubieten, offensichtlich willkommen. 1963 hatte er es verstanden, den noch unentdeckten Baselitz durch lancierte Skandalmeldungen in der Presse bekannt zu machen.24 Dass er auch bei der Ausstellung für Penck marktstrategisch vorging, belegt ein Artikel im Kölner Stadtanzeiger, dem er Pencks Brief an den Verband zur Verfügung gestellt hatte. Unter der Überschrift »Traurige Bilder aus dem Alltag des Sozialismus« stellt der Autor die Frage »Wer ist a. r. penck?« Das sei der größte Maler der DDR, lässt er den Galeristen Franz Dahlem, der mit Werner zusammenarbeite, antworten. Beide glaubten, »dass ein noch kaum entdecktes Terrain deutscher Gegenwartskunst im Osten zu finden sei«. Penck sei ein Pseudonym, »und auch über seinen Wohnort soll Schweigen gebreitet werden […]. Wie diese Bilder aus dem östlichen Untergrund hierherkommen, mag des Händlers Geheimnis bleiben.« Der Vorstellung des in der DDR unterdrückten Künstlers diente auch die Beschreibung seiner Bilder, »die ›drüben‹ von den sozialistischen Kunstverfechtern offiziell nicht geduldet werden«.25 Die Angaben, die auf die Gefährdung des Künstlers im Falle seiner Identifizierung aufmerksam machen

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wollen, werden konterkariert durch den Hinweis auf das Ausschlussverfahren mit sieben gegen fünf Stimmen und mit Zitaten aus dem Brief Pencks. So geriet Penck durch den Kölner Artikel schnell in das Visier der Staatssicherheit. Maßnahmen wurden eingeleitet, um herauszufinden, wie die Arbeiten Winklers und die Information über das Ausschlussverfahren in den Westen gelangt waren. Aus dem Stasi-Bericht einer Freundin Pencks über ein Gespräch mit diesem geht hervor, dass ein MfSAngehöriger Penck besucht hatte. Die Informantin berichtete, Penck sei froh, dass »ein ehemaliger Schulkamerad von ihm und mir, der jetzt beim MfS beschäftigt ist, mit der Klärung dieser Sache beauftragt worden sei«. Er habe ihr von dem Ausschluss aus dem Verband erzählt und dass er Geldmittel aus Westdeutschland beziehe und diese VerAbb. 4: Von A.R. Penck »überarbeitete Reproduktion« von Willi Sittes Gemäldes Die rote Fahne – bindung mit ihrer praktischen AusKampf, Leid und Sieg wirkung auch in Zukunft beibehalten wolle.26 Die Einschätzung Pencks, er werde für wahnsinnig gehalten, war nicht aus der Luft gegriffen. Noch 1977 charakterisierte ihn Lothar Lang als »Schizophren«, der sowohl künstlerische als auch geistige Ansprüche nicht erfüllen könne.27 IMS »Winter« behauptete 1978, Penck »wird von den meisten Leuten als halbverrückt bezeichnet, es gibt niemanden, der ihn so ganz voll und ernst nimmt.«28 Im Westen jedoch nahm man ihn sehr ernst: »Ja, Penck hat mich immer interessiert. Das ist ein großer Kybernetiker, fantastischer Theoretiker und ich halte ihn für einen der interessantesten Künstler seiner Generation.« So äußerte sich Kasper König noch 2015.29 Er habe ihn oft besucht, auch mit dem Galeristen Werner zusammen, und ihm Ausstellungskataloge und Bücher mitgebracht. 1970 gab König die erste Veröffentlichung von Penck, Was ist Standart, heraus.30 Es folgten viele Ausstellungen und Veröffentlichungen, und bereits 1972 war Penck auf der documenta 5 vertreten. Das Jahr 1975 brachte sowohl für Penck als auch für Sitte einen vielbeachteten westlichen Auftritt. Eine Ausstellung im Hamburger Kunstverein für Sitte löste ein überwältigendes Presse-Echo aus und führte zum ersten Mal in der Bundesrepublik zu einer differenzierten, wenn auch extrem kontrovers geführten Auseinandersetzung mit DDRMalerei.31 Sie wurde als Versuch verstanden, »den Dialog mit der DDR aufzunehmen«,32 und bot den Anfang in der kulturellen Zusammenarbeit von Ost und West vor

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dem Abschluss eines Kulturabkommens. Ein »Dialog mit der DDR« war dagegen mit der Ausstellung in der Kunsthalle Bern für den als Dissidenten längst hochgeschätzten Penck nicht vorgesehen. Sie veranlasste in der DDR den Versuch, »eine grundsätzliche Regelung« für die Ausfuhr von Kunstwerken herbeizuführen. Fritz Donner, Abteilungsleiter Bildende Kunst im Ministerium für Kultur, der als GMS ›Fritz‹ mit der Stasi zusammenarbeitete, stellte in seiner Einschätzung der Berner Ausstellung eine Beziehung zu Sittes Ausstellung in München von 1965 her: »Derzeit gibt es durch westliche Stellen wieder ernste und aktive Bemühungen um Künstler in der DDR, die als sogenannte ›Nichtoffizielle‹ gelten und auf Grund ihrer künstlerischen Einstellung im Widerspruch zur Kunstpolitik unserer Partei und Regierung stehen. Nachdem der Gegner feststellen musste, dass ein Herausbrechen solcher Künstler wie Prof. Willi Sitte […], die auf Grund ihrer künstlerischen Handschriften Neues schufen, nicht möglich ist, da sich diese konkret zur Politik der Partei bekennen, versucht er es erneut bei solchen negativen Kräften, wie z.B. der Dresdener Maler und Grafiker Rainer (sic) Winkler.«33

Zu einem direkten Kontakt der beiden Künstler kam es 1976. Penck schickte Sitte eine von ihm überarbeitete Reproduktion von dessen Bild Die Rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg für den Palast der Republik (Abb. 4) und schrieb ihm dazu: »An Bewunderern wird es Ihnen nicht fehlen, nehmen Sie meine Kritik.« Sittes Problem sei das Schwarz, das sich als eine gegen den Inhalt richtende verselbständigte Gestalt entwickle. Er erwarte keine Antwort, »denn die Differenz von Repräsentation und Untergrund einerseits, als auch die Differenz von Untergrund und Repräsentation andererseits, werden das verbieten. Immerhin, ich habe Ihr Bild im Wesentlichen erhalten. Der Grad meiner Zerstörung, resp. Umarbeitung ist relativ gering. Dieses war der Punkt, wo wir uns berührten und trennen.«34 Provokant bezeichnet Penck die »größtmögliche Spannbreite von künstlerischen Positionen in der DDR« mit den Begriffen Repräsentation und Untergrund. Heute heißt es, Penck sei systematisch in den Untergrund getrieben worden.35 Er selbst sah das anders. Der Untergrundbegriff stand für ihn für eine selbstbewusst gewählte Position, war auch mit seinem Freundeskreis verbunden und verlor seine Bedeutung, als sich dieser in den frühen 70er Jahren aufgelöst hatte. »Wir waren menschlich, aber auch mit unserem Latein am Ende. […] auch politisch waren wir am Ende. Der ganze Untergrund, den wir uns in den 60er Jahren aufgebaut hatten, war am Ende.«36 In seinem Brief an Sitte benutzte er den Begriff, als der seinen ursprünglichen Sinn bereits eingebüßt hatte. In eine Krise geraten, hatte er versucht, der Aggression auf die Spur zu kommen: »Ich habe zum Beispiel Bilder anderer Maler übermalt oder zerstört. Auslöschen, vernichten, wegmachen.«37 Sitte bestätigte den Erhalt des Schreibens, »dem Sie eine verluderte Reproduktion aus der ›Bildenden Kunst‹ beifügten. Sowohl den Inhalt Ihres Schreibens als auch die ›Bearbeitung‹ dieser Reproduktion empfand ich reichlich konfus und konnte nichts damit anfangen. Es ist nicht einfach, den tiefgründigen Gedanken eines Kollegen zu folgen, der sich so weit ab von dem begeben hat, was sich vielleicht mit dem Begriff des Alltäglichen eines sozialistischen Landes umschreiben ließe. Ich selbst bin genötigt, mit beiden Beinen auf und in dieser Welt zu stehen – und zwar zu leben und zu arbeiten und repräsentiere dann und wann sehr ungern. Sie sollten Ihre Lage einmal gründlich überdenken, ob ein underground, den nicht wir geschaffen haben und nicht wollen, für Sie das richtige für Ihre weitere Entwicklung wäre.«38

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Als Sitte seine Antwort verfasste, war ihm bereits ein Schreiben von Penck an das Sekretariat des Verbandes bekannt, mit dem dieser offensichtlich auf Vorschläge reagierte, ihn in den Verband aufzunehmen. »Ich habe fast 12 Stunden intensiv über Ihre Worte nachgedacht«, schrieb Penck. »Ich habe die Situation gründlich analysiert und viele Fakten berücksichtigt sowie Möglichkeiten verglichen. Das Ergebnis, so verblüffend es erscheint, möchte ich Ihnen mitteilen. Wenn es im Verband wirklich Kräfte gibt, die an meiner Mitgliedschaft aus konzeptionellen, kulturpolitischen, ideologischen oder spielstrategischen Überlegungen interessiert sind, so schlage ich vor, dass diese es durchsetzen, mich zum Ehrenmitglied zu ernennen. Dies scheint auf den ersten Blick arrogant, anmaßend und unangemessen zu sein. Aber durch diese Tatsache würde ein prinzipielles Dilemma verschwinden und gäbe es keinen Grund für einen neuen Konflikt.«39

Sitte verlas diesen Brief auf der Zentralvorstands-Tagung vom 16./17.6.1976, auf der es um die Verbandsmitgliedschaft von Manfred Kastner ging.40 Nach zweimaliger Ablehnung durch den Bezirksvorstand in Rostock hatte sich Kastner bei der Zentralen Sektionsleitung Maler und Grafiker in Berlin beworben, die seinem Antrag zustimmte. Darüber wurde auf der ZV-Tagung heftig gestritten. Das Gerangel um Kompetenzen innerhalb des Verbandes wurde dadurch belastet, dass sich westliche Medien eingemischt hatten. Sitte vertrat die verbreitete Meinung, dass der Westen Künstler wie Kastner und Penck aussuche, um eine Opposition in der DDR zu schaffen. »Die Frage für uns als Verband lautet: Überlassen wir diese Leute dem Klassengegner? Das würde bedeuten, wir geben sie auf. Dann, wenn wir sie aufgeben, bin ich der Meinung, sollte man empfehlen, sie in die BRD zu schicken. Aber welche Konsequenzen erwachsen denn daraus innerhalb unseres Verbandes, wenn wir so verfahren wollten? Das heißt, uns bleibt im Grunde genommen fast nichts anderes übrig, als bis an die Grenze des Möglichen mit ihnen zusammenzuarbeiten und sie doch noch auf eine Position zu bringen, auf deren Grundlage wir vernünftig mit ihnen zusammenarbeiten können, ohne dass wir die Hoffnung aufgeben, dass sie vielleicht doch noch mal zum sozialistischen Realismus zurückkehren. […] Wir reden heute sehr viel über Berufsverbote in der BRD. Aber genauso kann der Gegner den Spieß umdrehen und sagen: Wieso redet ihr über Berufsverbote? Bei Euch sieht es nicht viel anders aus!«41

Man solle Penck auf das Verbandsstatut aufmerksam machen, in dem stehe, durch welche Verdienste jemand Ehrenmitglied wird. Man müsse ihn als Kandidaten aufnehmen und versuchen, »ihn zu gewinnen und nicht zu sagen: In einem Jahr werfen wir ihn sowieso wieder heraus und je mehr er daneben tritt, umso besser ist es.« Wolfgang Mattheuer, der an der ZV-Tagung teilnahm, berichtete auf der documenta 6 einem westlichen Journalisten, dass der Verband Penck die Mitgliedschaft angetragen hätte, doch dieser habe abgelehnt, weil er dann seinen Markt im Westen verlöre. Er sei dort nur als Dissident gefragt.42 Penck sah später selber, dass er schon 1966 in den Verband »gar nicht hineingepasst [habe]. Man hat mich nur aufgenommen wegen meiner spektakulären Auftritte in Dresden. Ich war dann drei Jahre lang Mitglied. Man kam aber schon nach drei Monaten zu der Entscheidung, dass ich dort überhaupt nicht hingehörte.«43 Seine Forderung der Ehrenmitgliedschaft war wohl ein Vorwand, um die Aufnahme unmöglich zu machen.

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1977 nahm die sechste documenta erstmals ›offizielle‹ Kunst aus der DDR in ihr Programm auf.44 Nachdem die Gegenständlichkeit im Westen längst hoffähig geworden war, taucht 1975 in einem Konzeptentwurf für die d6 unter dem Punkt »Interpretation der Wirklichkeit« wie selbstverständlich die Reihung der Namen Bacon, Baselitz, Sitte, Mattheuer, Penck und Lüpertz auf.45 Manfred Schneckenburger, Leiter der d6, lud die Maler Heisig, Mattheuer, Tübke und Sitte persönlich ein: Innerhalb der RealismusAbteilung werde dem Sozialistischem Realismus ein besonderer Stellenwert zukommen, »wobei z.B. die schöpferische Ausbildung einer fortschrittlichen Ikonographie oder die Neuformulierung des Geschichtsbildes eine Rolle spielen«.46 Er stellte ihnen einen eigenen Saal in Aussicht, doch da viel zu viele Künstler eingeladen worden waren, wurde in diesen Raum ein Zwischenboden eingezogen, sodass aus dem großzügigen Angebot eine sehr beengte Situation entstand. Trotz dieser Maßnahme gab es zu wenig Hängeflächen, und so ereilte die großformatigen Werken von Penck und Sitte das gleiche Schicksal: Beide, im Katalog bereits abgebildet, konnten aus Platzgründen nicht gehängt werden.47 In der Nachwendeliteratur wurde ausschließlich Pencks Abhängung problematisiert und Sitte in die Schuhe geschoben.48 Ein Gerücht wurde allerdings schon 1977 in die Welt gesetzt: Penck berichtete einem IMS, Galeristen aus der BRD hätten ihm mitgeteilt, dass Sitte sich gegen die Hängung seines Werkes gewehrt habe.49 Tatsache ist, dass für Pencks abgebildetes, aber zu großes Bild eine Serie von zwölf kleinen Bildern auf einem hochgelegenen Streifen gehängt wurden. Der Galerist Werner war mit diesem Platz nicht einverstanden und verfügte die Entfernung. Aus der Aktenlage lässt sich schließen, dass er Penck gegenüber Sitte dafür verantwortlich machte. In einer konzertierten Aktion hatte Werner die Bilder seiner Künstler Baselitz, Lüpertz und Penck gleichzeitig zurückziehen lassen.50 Nach Heiner Müller gehören in »Gesellschaften ohne Öffentlichkeit … Gerüchte zu den Grundnahrungsmitteln«.51 So bewirkte ein Gerücht auch, dass Sitte 1979 für die Abhängung eines Werkes von Penck in der Ausstellung von DDR-Kunst der Sammlung Ludwig in Aachen verantwortlich gemacht wurde und wird. Zwei Tage nach Eröffnung der Ausstellung schrieb Penck an Sitte, er habe aus Aachen »einige sehr seltsame Sachen gehört, von denen ich nicht so ganz weiß, was ich davon halten soll. So sollst Du zum Beispiel gesagt haben, offiziell und auch privat, dem Penck werden wir (oder ich) jetzt das Handwerk (ein übler Jargon) legen, den machen wir jetzt fertig […]. Wenn dieses keine böswillige Manipulation von einer ganz anderen Seite ist und Du stehst zu Deinen Worten, so hat das, wie Du Dir vielleicht denken kannst, für mich einige Bedeutung. […] Wieso machst Du Dich zu meinem direkten Gegner? […] Willst Du […], dass ich den Weg von Biermann, Faust, Kunze, Pannach, Fuchs oder anderen gehe. […] Dass Du oder Ihr durchgesetzt habt, dass mein Bild abgehängt wurde, na schön, ich bin nicht so empfindlich, aber Deine Äußerungen kann ich nicht so einfach hinnehmen … und ich bitte Dich, sie zurückzunehmen. Das ist vorläufig nur ein privater Brief. Ich hoffe auf eine Antwort.«52 Eine Abschrift des Briefes gelangte in die Stasi-Unterlagen von IMS ›Fritz‹, vermutlich durch Fritz Donner selbst, der Mitglied des Zentralvorstands des Verbandes war.53 In einer »Operativen Information« wird die Drohung, dies sei nur ein privater Brief, als »eine zielgerichtete Steuerung gegnerischer Kräfte« verstanden, die »eine offene Konfrontation zwischen dem Ralf Winkler und dem Präsidenten des VBK der DDR, Gen. Sitte, anstrebten«.54

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Sitte schickte Peter Ludwig eine Kopie von Pencks Brief und schrieb dazu: »Sein Inhalt befremdet mich außerordentlich. Ich habe dem Penck mitgeteilt, dass im Zusammenhang mit der Eröffnung der Ausstellung … Name und Werk von Penck in keiner Weise Gesprächs- oder Diskussionsgegenstand war. Mehr kann ich nicht sagen.«55 Ludwig zeigte sich entsetzt. Er habe es »als ein Gebot der Höflichkeit angesehen […], während der Ausstellung von Mitgliedern des Verbandes bildender Künstler der DDR Bilder von Herrn Penck, der diesem Verband demonstrativ nicht angehört, abzuhängen […]«.56 Etwa gleichzeitig teilt Penck Sitte mit, er wisse inzwischen, »wer was gesagt hat (es waren nicht nur DDR-Künstler in Aachen), leider inoffizieller Klatsch von inkompetenten Leuten«.57 Nach 1989 veranlasste die Einsicht in die Stasi-Akten, Pencks Biografie im Osten entlang dieser Akten zu rekonstruieren.58 Dokumente, die dort nicht abgelegt sind, wie Pencks Entschuldigung, werden nicht berücksichtigt und die Frage wurde nicht gestellt, warum Sitte und Ludwig in ihren Briefen den Tatbestand der Bildabhängung zehn Jahre vor der Wende verfälschen sollten. Die Ludwig unterstellte Lüge lässt sich mit »höflicher Kumpanei«59 nicht erklären. Auch die in der Forschung angezweifelte Formulierung Ludwigs, dass Penck dem »Verband demonstrativ nicht angehört«, hat seine Richtigkeit (s. o.). Im September 1979 schrieb Penck an die »lieben Kollegen« im Zentralvorstand des Verbandes, »um mit Euch doch noch im Gespräch zu bleiben.« Er warf ihnen vor, sie hätten ihn »bis jetzt offiziell totgeschwiegen, aber inoffiziell benutzt.« Angefangen habe das mit der Akademie-Ausstellung Junge Künstler 1961. »Die offiziellen prominenten Verbandsleute haben uns benutzt, damit wir Ihnen Ihr Gesicht retten, und die Ideologen haben einigen von uns das Schandmal des Negativen aufgedrückt! Nur damit Sie als Vertreter des Wahren, Guten, Schönen, Fortschrittlichen usw. erscheinen. […] Ich habe mit dieser Negativität wie ihr wisst, mindestens so erfolgreich operiert wie Ihr im ›Positiven‹. […] Seid Ihr bereit, meine Aktivitäten kunstwissenschaftlich (allerdings auf Tatsachen basierend) einzuordnen und zuzugeben, dass ich einen gewissen Einfluss auf die jüngere Generation habe? […] seid Ihr bereit, mir einen Rang, Stellenwert oder eine Position innerhalb Eurer Hierarchie und sei es die Duldung des bestehenden Status zu geben?«

Außerdem berichtet er über einen Einbruch, gegen den er nicht mit staatsrechtlichen Mitteln vorgehen könne, da »meine Existenz illegal und Untergrund ist«. Obwohl er den Täter kenne, wisse er nicht, »ob diese Sache nur eine private ist oder ob sie einen staatspolitischen Hintergrund hat und damit auch Eure Angelegenheit ist! […] Ich stehe jetzt an einer Grenze meiner Entwicklung von der aus ich verschiedene Wege einschlagen kann. Das hängt auch und wesentlich von Eurer Haltung ab. Das werdet Ihr einsehen.« Er könne das Negative verschärfen, was dazu führen würde, »dass ich die Position von Biermann allerdings im Untergrund rekonstruiere um meine Ausbürgerung zu erzwingen! Ich kann mich aber auch erneut mit Euch auseinandersetzen und eine Art theoretisches Zentrum bilden, […]. Das hängt allerdings auch wieder von Euch ab!«60 Fritz Donner vermutete, dass Penck »jetzt offenbar ein Kräftemessen, als Test, wie weit er gehen kann«, veranstalte, »eine Herausforderung, die so oder so, also gleich wie der Ausgang ist, ihn als eine zentrale Figur aus den Reihen mit uns im Streit liegenden künstlerischen Intellektuellen abhebt. Er übt dabei von vornherein erpresserischen Druck aus und rechnet sowohl mit seinen westlichen ›Förderern‹ als auch mit seiner

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nicht kleinen Schar von Anhängern und Sympathisierenden in der DDR. […] Er sucht den ›Skandal‹, gleich, ob wir ihm nahelegen würden, in die BRD auszureisen oder er von sich aus schließlich die Ausreise beantragt.« Aus dem Schreiben an den Minister für Kultur Hans Joachim Hoffmann geht auch hervor, dass Sitte veranlasst hatte, Gerhard Kettner um ein klärendes Gespräch mit Penck zu bitten. Donner meinte jedoch, vorher müsse dieser seine »Verdächtigungen gegen die Staatsorgane« zurücknehmen und eine Anzeige gegen den Einbrecher erwirken.61 1980, kurz nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik, bezeichnete Penck in einem Interview die Ausbürgerung als Ergebnis eines langen Prozesses, der mit der Akademieausstellung 1961 begonnen habe. Man könne nicht von »zwangsweise« oder »freiwillig« sprechen. »Es entspricht der Logik des Systems, dass man natürlich selbst den Antrag stellen muss, damit das System frei ist von dem Vorwurf, es hätte einen ausgebürgert.«62 Mit Sitte versuchte Penck, das Gespräch durch einen Text für den Katalog der Kölner Kunsthalle weiterzuführen: »Hager und Sitte wollten kein Gespräch, statt dessen wollten sie Machtapparatoperationen. Kettner sagte: Sie haben es mir aus der Hand genommen! FREUD euch nicht zu früh! […] Ich habe den Fuß in der Falle und Du hast den Kopf in der Schlinge. […] Noch reden wir miteinander, auch wenn Du schweigst.«63 »Sitte war mein Hauptfeind!« Diese Aussage machte Penck 1986, als er nach seiner Einstellung zu Sitte befragt wurde.64 Doch das war für ihn Vergangenheit, denn in der Ausstellung Menschenbilder – Kunst in der DDR, die im November 1986 in Bonn eröffnet wurde, begrüßte er Willi Sitte und seine Frau freundschaftlich. Von Feindschaft war nach Ingrid Sitte nichts zu spüren.65 Es ist eine Geschichte von oben und unten und umgekehrt, deren Verlauf wesentlich durch die politische und gesellschaftliche Situation in dem geteilten und wiedervereinten Land durch viele Beteiligte aus Ost und West gesteuert wurde und wird. 1 Steffen Krautzig: »Utopie und Untergang. Kunst in der DDR« In: Ausst.-Kat. Utopie und

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Untergang. Kunst in der DDR. Kunstpalast Düsseldorf. Dresden 2019, S. 11–17, hier S. 13. Zu Leben und Werk von Willi Sitte vgl. u. a. Wolfgang Hütt: Willi Sitte. Gemälde 1950–1994. Bönen o. J. [1995], zu A.R. Penck u. a. Lucius Grisebach, Thomas Kirchner, Jürgen Schweinebraden Freiherr von Wichmann-Eichhorn: »Biografie« In: Lucius Grisebach (Hg.): a.r. penck. Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin/West, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz. Berlin 1988, S.10–69. Gemeint ist hier die erzwungene Selbstkritik in der Presse, die nach 1989 gegen Sitte verwandt wurde. Vgl. dazu Gisela Schirmer: Willi Sitte – Lidice. Historienbild und Kunstpolitik in der DDR. Berlin 2011, S. 145 f., Anm. 330, zu Sittes Stilentwicklung ebd., S. 130 ff. Vgl. dazu Gisela Schirmer: »Zum Konflikt um die geplante Willi-Sitte-Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 2001« In: Karl-Siegbert Rehberg, Paul Kaiser (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Berlin/Kassel 2013, S. 166–178. Vgl. dazu unten Anm. 41. Zit. nach Kathleen Krenzlin: »Die Akademie-Ausstellung ›Junge Kunst‹ 1961 – Hintergründe und Folgen« In: Günter Agde (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Berlin 1991, S. 71–83, hier S. 74.

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Gisela Schirmer

6 Zwei Suizidversuche sprechen für sich. Vgl. dazu Gisela Schirmer: Willi Sitte. Farben und

Folgen. Eine Autobiographie. Leipzig 2003, S. 90–92. 7 Vgl. v. a. Horst Jähner: »Stalingrad nicht vergessen« In: Sonntag, 10.9.1961; Gerhard Pom-

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meranz-Liedtke: »Stalingrad – nicht vergessen« In: Neues Deutschland, 23.9.1961; Joachim Uhlitzsch: »Entscheidend ist, was man sieht« In: Neues Deutschland, 16.11.1961. Vgl. Schirmer 2003 (wie Anm. 6). Vgl. dazu ausführlich Krenzlin 1991 (wie Anm. 5). Sektion Bildende Kunst: »Zum Geleit« In: Ausst.-Kat. Junge Künstler, Deutsche Akademie der Künste. Berlin 1962, o. S. Es fehlten die Leipziger Künstler, die Kurella überredet hatte, die Ausstellung zu boykottieren, vgl. Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. Göttingen 2018, S. 1053. Eberhard Bartke: »Eine Ausstellung – aber kein Weg« In: Junge Kunst, 1961/11, S. 34. Vgl. Lucius Grisebach: »Ich sehe meine Arbeit nach wie vor als Bildforschung« In: Grisebach 1988 (wie Anm. 1), S. 70–88, hier S. 74. Wilfried Dickhoff (Hg.): A.R. Penck im Gespräch mit Wilfried Dickhoff. Kunst heute Nr. 6. Köln 1990, S. 16. Ebd. Stephan Stolz: Nachkriegsjahre. Erinnerungen 1945–1955. Frankfurt am Main 1984, S. 188. Vgl. Schirmer 2003 (wie Anm. 6), S. 68. Dickhoff 1990 (wie Anm. 13), S. 15. Ebd., S. 16. Schirmer 2003 (wie Anm. 6), S. 121–123. Zur Zeitschrift tendenzen vgl. Jost Hermand: »›Die Kunst der neuen Klasse‹. Die antikapitalistische ›Realismus‹-Thematik in der Zeitschrift tendenzen (1960-1989)« In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, 16/2014, S. 105–113. Es gibt ein Gerücht, Sitte habe in Zusammenhang mit der Akademiewerbung die Flucht aus der DDR geplant, vgl. Schirmer 2003 (wie Anm. 6), S. 395 f., Anm. 10. Tatsache ist dagegen, dass die Reise nach München zum Anlass genommen wurde, Sitte mittels Täuschungsmanöver für die Mitarbeit bei der Stasi zu werben, vgl. ebd., Anm. 9. Er selbst hatte davon keine Ahnung, ebd., S. 124. Zit. nach Wolf Schön: »Der Ärmste Reiche der DDR. Interview mit A.R. Penck« In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 29.8.1980, zit. nach Grisebach 1988 (wie Anm. 1), S. 32. Auszug des Protokolls der Gutachtertätigkeit der Sektion Malerei/Grafik, Bundesbeauftragte(r) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), MfS Allg. P 5174/73, Bl. 11. Zit. nach Eckhart Gillen: Das Kunstkombinat DDR. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik. Köln 2005, S. 101. Vgl. Martin G. Buttig: »Der Fall Baselitz« In: Der Monat 203/1965, S. 90 ff. Gisela Schirmer: DDR und documenta. Kunst im deutsch-deutschen Widerspruch. Berlin 2005, S. 155. Siegfried Bonk, Kölner Stadtanzeiger, 7./8.12.1968. Abschrift in: BStU, MfS Allg. P 5174/73, Bl. 4–6. Ebd., Bl. 19 f., Abteilung XV, Rostock, 22. 9. 1969, Bericht über weitere Ergebnisse zu Ralph Winkler, gez. Cäcilia. BStU, MfS AIM 1882/91; Bd.I/1, Bl. 199-205, hier 203 f. Treffbericht mit IM »Schreiber«. Es ist gut möglich, dass Lang mit seiner Einschätzung eine Verbesserung der Situation Pencks beabsichtigte, denn er schlägt vor, ihm und anderen Künstlern, die von westlichen Kräften als unterdrückte Künstler der DDR gesehen würden, »die Chance einer Ausstellung … zu geben,

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um diese Leute zu beruhigen und gar nicht erst eine Art ›Hintergrundkunst‹ (sic!) aufkommen zu lassen.« In seinem Buch Malerei und Graphik in der DDR, Edition Leipzig 1978, erwähnt er Penck als »vielseitig begabten Experimentator und Konzeptkünstler«, S. 207. BStU, Dsdn. OV 735//84/I. Dresden, 24.2,1978, Tonbandabschrift. Kasper König im Gespräch mit Franziska Leuthäußer, 2.5.2015 in: https://cafedeutschland.staedelmuseum.de. A.R. Penck: Was ist Standart. Verlag Gebrüder König Köln/New York 1970. 1973 initiierte König eine Penck-Ausstellung in Halifax (Kanada). Vgl. dazu BStU, Bln. AIM 6245/91 Teil II/Bd. 1, Bl. 51, 60 ff. Vgl. Schirmer 2005 (wie Anm. 24), S. 77–79; dies., »Zur Rezeption Willi Sittes in der Bundesrepublik« In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 16/2014, S. 115–127, hier S. 119 f. Uwe M. Schneede: »Autonomie und Eingriff – Ausstellungen als Politikum. Sieben Fälle« In: Ausst.-Kat. Stationen der Moderne. Die bedeutendsten Kunstausstellungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Berlinische Galerie Berlin/West 1988, S. 34–42, hier S. 40. Erste Überlegungen zur Hamburger Ausstellung reichen in das Jahr 1969 zurück, mit Sittes Stellung als Präsident hatte die Entscheidung des Kunstvereins nichts zu tun, vgl. Schirmer 2005 (wie Anm. 24), S. 76. Operative Information, 25.4.1975, BStU, Bln. AIM 6245/91 Teil II/Bd. 1, Bl. 234. Donner meinte vermutlich den Versuch, Sitte 1965 für eine Professur in München zu gewinnen, s. o. Ralf Winkler an Willi Sitte, o. D., AdK, Berlin, VBK-Zentralvorstand Nr. 421/2. Z.B. Gillen 2005 (wie Anm. 23), S. 101. Dickhoff 1990 (wie Anm. 13), S. 40. Ebd., S. 45 f. Willi Sitte an Ralf Winkler, 25.6.1976. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Archiv für Bildende Kunst (GNM, ABK), Fonds Willi Sitte. Ralf Winkler an Frau Eichler, 31.5.1976, AdK, Berlin, VBK-ZV, 174/2. Protokoll der ZV-Tagung vom 16./17.6.1976, AdK, Berlin, VBK-ZV, 5539/2. Ebd. Auf dem Nürnberger Sitte-Symposion 2001 wurde der Fall Kastner extrem unterschiedlich vorgestellt. Vgl. dazu Peter Arlt: »Hornberger Schießen. Kunst und Politik: Anmerkungen zum Sitte-Symposion in Nürnberg« In: Thüringer Allgemeine, 25.06. 2001: »Wie interessegeleitet Forschung sein kann, zeigt sich bspw. darin, wie von Kaiser unter anderen ein angebliches Zitat Sittes aus einer ›Operativen Information‹ der Stasi als authentisch angesehen wird, obwohl es am wortgetreuen stenografischen Protokoll in seltener Weise nachgeprüft werden kann. Der Dissens in Sprache und Inhalt ist deutlich. So konnte Schirmer nachweisen, dass Sittes Gesinntheit gegenüber Manfred Kastner keine feindlich taktische, sondern eine wohlgewogene war.« Reinhard Müller-Mehlis: »Des Kaisers neue Kleider«. Der Schwindel der Moderne. München 2003, S. 176. Andrea Schlieker: »The northern Darkness. Ein Gespräch mit A.R. Penck im Dezember 1986« In: A.R. Penck Ausst. Kat. Galerie Beyeler, Basel 1989, unpag. Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich Schirmer 2005 (wie Anm. 24). Ebd., S. 86. Ebd., S. 94. Ebd., S. 104–109, 121–123. Ebd., S. 166 f. BStU, MfS Dresden OV 735/84/I, Bl. 77.

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Schirmer 2005 (wie Anm. 24), S. 121–123. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln 2016 (3. Aufl.), S. 133. Ralf Winkler an Willi Sitte, 15.1.1979, AdK, Berlin, VBK-ZV Nr. 421/2. BStU, Bln. AIM 6245/91, TeiI II, Bd. 3, Bl. 136 f. BStU, Bln. AIM 6245/91, TeiI II, Bd. 4, Bl. 3 f. 6.2.1979. Nicht angezweifelt wird, dass Sitte verlangt habe, Pencks Bild zu entfernen. Willi Sitte an Peter Ludwig, 5.2.1979, GNM, ABK, Fonds Willi Sitte. Peter Ludwig an Willi Sitte, 19.2.1979, AdK, Berlin, VBK-ZV Nr. 174/1, Kopie BStU, Berlin, AIM 6245//91, Bd. II/ 3, Bl. 155. Ralf Winkler an Willi Sitte, o.D., Eingangsstempel vom 20.2.1979. AdK, Berlin, VBK-ZV Nr. 421/2. Vgl. v. a. Jürgen Schweinebraden Freiherr von Wichmann-Eichhorn: »Willi Sitte und A.R. Penck – Vom Wesen der Behinderung zum eigenen Vorteil« In: Großmann (Hg.) 2003 (wie Anm. 41), S. 51–59. Karl-Siegbert Rehberg: »›Formalist‹, Verbandspräsident, ›Sündenbock‹: Willi Sitte als ›Staatskünstler‹ in der ›Konsensdiktatur‹« In: Großmann (Hg.) 2003 (wie Anm. 41), S. 76–93, hier S. 85. AdK, Berlin. VBK-ZV Nr. 421/2 Kopie in BStU, Berlin, AIM 6245//91, Bd. II/ 3, Bl. 275– 284. BStU, Berlin, AIM 6245//91, Bd. II/ 3, Bl. 318 ff. Zit. nach Schön 1988 (wie Anm. 21), S. 55. Alpha ypsilon (a. r. penck): »A. R. Penck 81« In: A. R. Penck. Gemälde, Handzeichnungen, Ausst.Kat. Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln, 1981, S. 108. Schlieker 1986 (wie Anm. 43). Telefonat mit Ingrid Sitte am 6.4.2020.

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April Eisman Art and Controversy in Dresden: Angela Hampel and Steffen Fischer’s Mural for the Jugendklub ›Eule‹ (1987)1

Art created in East Germany is often assumed to have been created under repressive conditions. And indeed, artists sometimes faced harsh criticism of their work, which could focus on the work’s content or, more frequently, its style. In the most severe cases, artists were required to offer self criticisms that acknowledged wrong doing, or they had their work removed from view, sometimes destroyed.2 A famous example of the latter took place in 1951 when Horst Strempel’s murals for the Friedrichstrasse Bahnhof in Berlin fell victim to the formalism debates and were painted over. 3 Such confrontations stemmed from the fact that art mattered in East Germany: politicians believed that art had power, that it could influence people, a belief that goes back to the immediate postwar years, when in eastern Germany, the Soviets encouraged the creation of art that would offer people new models for behavior to help counteract twelve years of Nazi rule.4 Murals, by their nature as a public medium, were often at the center of such battles over art. While discussions about art in East Germany were commonplace and sometimes vehement, the destruction of murals was rare. For the majority of artists and the work they created, the stakes were far lower, especially as policies about style relaxed over time. In the mid 1960s, for example, Bernhard Heisig was at the center of a vehement debate over a series of murals he created for the Hotel Deutschland, the Picasso-inspired style for which was seen as too modern. Although he states he was worried at the time that the murals would be destroyed, they were not, and all but one can be seen today (the one exception having been covered up after unification). In East Germany, most of the debates were about the style of the works created rather than their content. Content was rarely an issue politically because most artists believed East Germany was the better Germany, albeit in need of significant change; and indeed, this was the case for both Strempel and Heisig.5 This article focuses on a forgotten controversy that took place in Dresden just a few years before the end of the GDR when two young up-and-coming artists, Angela Hampel (b. 1956) and Steffen Fischer (b. 1954), fulfilled a commission to create a mural for the Jugendklub ›Eule‹ (Youth Club ›Owl‹) on Marschner Street. The wall-sized Neoexpressionist mural they created, titled Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy) (Fig. 1), was at the center of considerable debate shortly before it was completed. 6 But the problem was not with the politicians so much as it was with the future users of the space. What a closer look at the mural for the Jugendklub ›Eule‹ shows is that not all disagreements over art in East Germany were the result of politics: some were simply a matter of taste and, in this case, a disagreement between those responsible for the work – both the art-

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Fig. 1: Steffen Fischer and Angela Hampel, Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy), Jugendklub Marschnerstraße, Dresden, 1987

ists and organizations – and those who were to use the space. It also shows the importance of art and artists in East Germany because, despite the tastes of those using the space, the art was given priority. Indeed, it was not until after the Berlin Wall fell that the work was destroyed, presumably at the hands of those who ran the club taking advantage of the chaos that directly preceded unification. Jugendklub ›Eule‹, Marschnerstraße The Jugendklub ›Eule‹ was one of three youth clubs that the architect Holm Pinkert was responsible for building in Dresden in the latter half of the 1980s. Each was intended as a gathering place for youths between the ages of roughly 16 and 24; a place to go for youth-oriented readings, theater, films, and concerts, as well as parties and discos. 7 As was typical for East Germany, 0.5% of the construction costs for each building was set aside for its artistic decoration.8 Pinkert chose the artists. For the first, Jürgen Haufe (1949-1999) painted a giant photomontage titled, The Beatles, that spread across two walls.9 For the third, Bärbel Töpfer (b. 1940) created a large, Bauhaus-inspired abstract textile-painting.10 Neither of these works resulted in controversy. The commission for the Jugendklub ›Eule‹ was originally intended for Hampel.11 Pinkert thought she would be a good choice. As he explained it, »she had a unique style that was known throughout the GDR … [one that was] influenced a bit by the whole punk culture … very expressive heads and faces as well as body language. […] I thought that would be really interesting for a club for young people ... «12 Not only well known in East Germany, Hampel was also known in the West by this time for creating Neoexpressionist paintings of strong women from mythology and the Bible such as the Amazonian queen Penthesilea (Fig. 2). According to her West German dealer Hedwig Döbele, who specialized in selling East German art in the West, »Hampel was a big hit« (der Renner).13 When offered the commission for the youth club, Hampel asked if she could work on it together with Steffen Fischer. Although the size of the work played a role, it was not her only motivation: she also loved collaborating with other artists. Just a year earlier,

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she had been offered a solo exhibition at the Galerie Mitte but invited three other women to join her; indeed, it was the second time she invited others to exhibit with her when offered an exhibition at that gallery.14 At the time of the commission, Hampel was already working with Fischer on another exhibition, AOrt-A, which would open on December 6, 1987, just a few days after the mural was officially unveiled. She would go on to work with him on two more installations before the Berlin Wall fell.15 Hampel and Fischer had been in the same class at the Hochschule für Bildende Künste Dresden, beginning their five-year degree program in 1977. Their class was a close-knit group of twelve students, although the two of them only began working together closely around the time of the youth club commission, about five years after they graduated. Like Hampel, Fischer worked in the Neoexpressionist style Fig. 2: Angela Hampel, Penthesilea, 1987/88 common for their generation in Dresden and had been part of a number of exhibitions, including one in West Germany.16 Both artists were also displayed prominently at the Tenth Art Exhibition of the GDR at the Albertinum in Dresden, which opened on October 3, 1987, just a few weeks before the controversy around the mural erupted. Hampel exhibited a brightly colored expressionist figurative triptych titled Paarungen (Pairings), each panel of which showed two punk-inspired figures; Fischer, a large painting titled, Wohin willst Du, Adam? (1986, Adam, where do you want to go?) (Fig. 3), with expressive greens, yellows, and browns. Both artists would also have work included at the Venice Biennale the following year. Hampel and Fischer each signed a contract with the Bureau of Architectural Art (Büro für Architekturbezogene Kunst, or BfAK) on January 13, 1987. 17 Founded in 1973 as part of the Rat des Bezirkes, the BfAK was intended to help with the planning and realization of architectural projects, including their artistic decoration; it employed architects like Pinkert as well as those who would carry out the construction.18 The contracts Hampel and Fischer signed stipulated that they would each receive 20.000 DDR-Marks for the »painterly graphic decoration of the youth club«, paid out in stages of completion.19 Initially, the intent had been for them to create two works: a painted mural for the interior, and a work for the exterior in a medium that »mirrored the function of the building«. The latter never materialized. According to Pinkert, there had

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initially been plans to have a frame outside the entrance that would include decoration, but difficulties with the construction process led to its being removed from the design.20 The contracts signed in January also provided a timeline for the process, with sketches due for approval in May, and the final work, at a point thereafter as construction on the building allowed. Despite the date in the contract, it was first in June that the artists met with officials to discuss their sketches. On June 10, Hampel and Fischer met with members of the cultural departments of the Rat des Stadtbezirkes DresdenMitte, which was the societal partner (gesellschaftlicher Partner), and the Rat der Stadt, which was the state institution (staatliches Organ) responsible for the project. Presumably Pinkert and other members of the BfAK were also in attendance.21 At this meeting, the artists presented two »conceptual« proFig. 3: Steffen Fischer, Wohin willst Du, posals for discussion. Those in attendAdam? (Adam, where do you want to go?), ance approved the style evidenced in 1986 the sketches and expressed preference for the two-color version presented. Meeting minutes show that the artists were encouraged to pay attention to colors of the space so that the mural would fit with the room’s interior design. The artists thus had received the green light for their plan, although it would be several months before they could begin painting the final work. The first indications of a problem emerged in early November, shortly before the mural was completed and just a few weeks before its official unveiling in early December. On November 4, a discussion took place in the Jugendklub between the artists, the club’s leadership, and some youths.22 It seems likely that the Free German Youth (Freie Deutsche Jugend, or FDJ) called for the meeting after some of its members had seen the nearly finished work.23 Pinkert recalls the youths saying that the mural »does not reflect the world in which we live. The positive qualities that make life beautiful (schön), that the GDR is attractive (schön), are missing.«24 According to Pinkert, Hampel questioned them about these impressions and stated that the work was not intended to be negative, but rather a reflection of life.25 A closer look at the mural shows a group of more than twenty youths dancing across the back wall of the club; a few of the figures cross over onto a side wall (Fig. 4).26 In a color palette of bright reds and yellows offset by black and white, the dancing figures emerge from quick, expressive strokes of the brush typical for other works by both

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Fig. 4: Photo of a discussion in front of Angela Hampel and Steffen Fischer’s mural Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy), Jugendklub Marschnerstraße, Dresden

Hampel and Fischer. The focus on young men and women dancing reflects the fact that youth clubs in the GDR often doubled as discotheques. The life-size figures, however, were nude, with male genitalia clearly visible on at least two of them; some of the figures also sported the spots and stripes of animals common in Hampel’s work. In looking back on the discussion of the mural, Pinkert believes those running the club were probably shocked by the life-size display of punks and nakedness, wanting instead something innocuous, like a landscape. It was, he states, »two different worlds colliding«, those who understood art and those who did not.27 This interpretation is further supported by an article about the mural that appeared in the national satirical magazine Eulenspiegel two months later: »The word ›obscene‹ is said to have passed across one prominent tongue with regard to this mural. Of course, no one will stand there and loudly say, ›I find it obscene!‹ […] Instead, one says, ›For me, the work doesn’t quite work in terms of the psychological program.‹ That sounds horribly academic and also utterly modest […] Or one says, ›Good, it’s a youth club. But who can guarantee that retirees or even kids won’t sometimes come into the club? And then these kids would see naked men with all the trappings. Isn’t it enough that our children see naked people in person at Moritzburg Lake?28 Or on the town hall tower with a giant […] in gold!‹«29

Hampel, for her part, believes the club had probably expected cartoon characters like Digedags, which, she states, was simply not typical of her or Fischer’s work.30 That said, she had done something more along those lines a few years earlier, in 1984, for an elementary school in Dresden (Fig. 5), together with another Dresden artist, Andreas

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Fig. 5: Andreas Dress and Angela Hampel, Untitled Mural, Kindergarten Schnorrstrasse, Dresden, 1984

Dress (1943–2019). That work was quite untypical for Hampel with its childlike imagery of animals, circus performers, and fanciful architecture, a reflection in part of it being done for a much younger audience and before Hampel had fully developed her own style, let alone become a well-known artist. The mural in the youth club, in comparison, was made for youths who were at least sixteen, people who were – or very nearly were – adults; in the GDR, the legal drinking age was 18, which was also the age at which one could join the army. In mid November, the artists sent a protest letter (Einspruch) to Colleague Dietz at the BfaK, stating that they disagreed with the FDJ’s plan to use a curtain to cover up the mural.31 They then pointed to their contract as well as to the law protecting their rights as the creators of the work (Urheberrechtsgesetz) before demanding they receive the last of their payment once their work was completed. Two weeks later, on December 2, 1987, the official »acceptance discussion« (Abnahmeberatung) took place at the Jugendklub ›Eule‹; this was just a few days before the club was officially opened for use. In attendance were more than twenty people representing seven groups, including the artists, the BfAK, the cultural departments of the Rat des Bezirkes and the Rat des Stadtbezirkes Dresden-Mitte, the FDJ, the Artists’ Union, and members of the Jugendklub.32 According to the minutes, Steffen Hamel, the first secretary of the FDJ-Stadtbezirksleitung, was the first to speak. He used the opportunity to criticize the BfaK and FDJ for not doing a better job guiding the work, which he believed should have gone in a different direction. He concluded more positively, however, by stating they would need to see how the mural would function »as part of the daily use of the space«. This wait-and-see decision was echoed later by the head of the Jugendklub and its council, which ultimately accepted the mural, as did the Rat der Stadt. The Eulenspiegel article, the author of which was at this meeting at the architect’s invitation, gives insight into these comments:

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»Or one acts tactically and says, ›Good, the art work will be taken in (abgenommen).‹ And mumbles, ›but whether it’s accepted (angenommen) or not is another story. And the Rat [der Stadt] will sign off on that.‹ If this stage is reached, the term ›functional curtain‹ emerges. Not simply a curtain; a functional curtain. That is also psychological. A functional curtain is not a permanent curtain, but rather for sometimes. Not a pull-in-front-of curtain, but an occasionally pull-in-front-of curtain. However, once it’s pulled, usually it remains pulled. Do you understand?«

Not everyone at the meeting was in agreement about accepting the mural. The Rat des Bezirkes felt the mural was not suitable for the space and its many uses. Similarly, the umbrella organization reponsible for architectural commissions, the HAG Stadt, felt it was not suitable for the space, nor did they think it appropriate for youth. 33 The artists responded to these criticisms by pointing to the commission and their fulfillment of it. While the meeting minutes do not go into detail, it is clear that they had done what they had been asked to do in their contract: they had created a »painterly graphic design« and employed their »painterly means in synthesis with the interior design«.34 Moreover, they followed the advice given to them in June when they presented their sketches: they created a work that »coordinated with the color of the furnishings« through the use of red (Fig. 6). They then rejected the idea of curtaining off the work for certain events. The local chapter of the artists union (VBK) joined Fischer and Hampel in rejecting the idea of covering up the work for some events and age groups. Johannes Heisig, who spoke for the VBK, also criticized how certain elements in the room – like the podium – interfered with the mural. But the biggest problem was the fact that users of the space were having direct influence on the work rather than the BfAK, whose responsibility was to offer the artists guidance.35 Between the lines, this comment suggests a discrepancy between art, in all its complexity, and the wants of ordinary people. He ended, like the FDJ’s Steffen Hamel, by suggesting they take some time with the work. Moritz from the Rat des Bezirkes, who had criticized the mural earlier, spoke up again at this point to clarify his view: he was not criticizing the mural as art, but rather the fact that it was not right for the space. Ultimately, he, too, agreed they would need to »collect data on how it works within the space when it’s in use«. The last to speak were Holm Pinkert and Hermann Dietz of the BfAK. They accepted the mural and stated that the problem was not with the artwork. Three weeks later, Dietz also filed a final report.36 In it, he pointed out the mistakes that had been made at each stage of the process and offered an evaluation of the mural. Problems he noted included the undemocratic way in which the artists were chosen, which necessarily predetermined what the finished work would look like, and the vagueness of the contract. He also pointed out that at the meeting to discuss the sketches in June, the works shown were not suitable for the size of the space, the theme of »youth« remained too vague, and the FDJ had not been invited, although the club leadership had been there. An additional problem was apparently also the fact that the director in charge of overseeing the work at the BfAK had often been absent due to vacation and illness. Nonetheless, Dietz deemed the mural successful because the artists had fulfilled the commission as stipulated. In evaluating the finished work, Dietz wrote that the mural »expresses the life feeling of youth«.37 He pointed out that activity was evident through movement (not dancing) and that the relationships and attitudes of the youths could be read in their body

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Fig. 6: Steffen Fischer and Angela Hampel, Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy), 1987

language and gestures, albeit not always positively. He pointed out that the image depicted not just a small slice of life, not just disco; and as such, it was appropriate for youth and the function of a youth club. He also pointed out that, stylistically, the work was typical for Hampel’s work, and it coordinated well with the interior, especially in its use of red. The debate about the mural did not remain behind closed doors. The already mentioned article in Eulenspiegel was published in January 1988. Written by Christian Klötzel, the cultural editor in Berlin, the satirical article pitched itself as the observations of a man who specializes in making curtains for murals and other public art; the name of his company is »Art Be Gone« (PGH Kunstweg). He states he had just come back from Dresden, where he had seen the mural by Hampel and Fischer on the Marschnerstraße and knew he would have work to do. Although inspired by the discussion at the Jugend-

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klub ›Eule‹, Klötzel’s text resonated because the debate around the Dresden mural was not a unique occurrence. Indeed, he mentions another that had taken place recently over two large murals at a café in Erfurt by the artist duo Hans-Peter Müller and Alexandra Müller-Jontschewa. In that case, the problem was both political and personal: a woman in the local SED did not like the artists’ use of Surrealism to depict Soviets. 38 »That’s not how people look.« As a result, the work was covered with a curtain. The controversy over Hampel and Fischer’s mural was also the subject of an article in the local newspaper, the Sächsische Zeitung. On December 16, 1987, Jens-Uwe Sommerschuh published, »Thoughts about a Commission. From a dispute over a mural to the rejection of a curtain«. In it, he reported on the controversy, stating the architect’s intent for the mural was »to engage young Dresden painters whose work to date lets us expect an artistically ambitious, distinctive work. A work that can move the young people for whom the club is being built.« When the selection fell on Angela Hampel and Steffen Fischer, Sommerschuh notes, no one at the RdS or FDJ vetoed the choice. »So what was the problem?«, he asks. To answer this question, he begins by pointing out that »no one should be surprised by the painterly style, color, and gestures of the figures, since Angela Hampel and Steffen Fischer were true to themselves, artists who made a name for themselves already at the 11. Bezirkskunstausstellung Dresden […] and currently have work at the 10. Kunstausstellung der DDR in the Albertinum.« He then goes on to describe the mural and states that »it is not easy to understand for those who want a clear message or a nice, encouraging word […] Do we see helplessness or longing? vanity or self confidence? aggression or belligerence? hate or love? Much is open. Is that what bothers some viewers?« He also points out that at the unveiling (Abnahme), there was almost universal approval of the work. By and large, it was not the governmental agencies that had a problem with the mural that Hampel and Fischer made, but rather the youth club’s leadership and the FDJ. The reason given was not the nudity and animalistic celebration of the figures, but rather the mural’s busyness, which would distract from anything taking place in front of it, a fact summarized in a question posed by the first secretary of the FDJ Dresden-Mitte at the December meeting: »doesn’t a fiery work like this shape the atmosphere, such that quieter, more reflective and cheerful events pale in comparison?«39 In his article in the Sächsische Zeitung, Sommerschuh responded to this question by pointing to the Beatles mural recently painted across two walls in another youth club in Dresden, stating that no one had had difficulties with that work. But then he relented, stating that each club is different, a fact that suggests the importance of individuals in the reception of art. Apparently a number of solutions were discussed for dealing with the vibrancy of the mural, including having song evenings and the pantomime program set against a different wall, one that was plain white. Toward the end of the article, Sommerschuh acknowledges the impact that the choice of artists has on the end result, stating that he »who plants a pepper can’t expect to harvest white cabbage. But even if one wants cabbage, one shouldn’t do without peppers.« This concluding sentence confirms the importance of art – something challenging – rather than just decoration.

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Conclusion The problem illustrated by the discussions around Jugend in Ekstase is the disconnect between those who know something about art and those who do not. In this case, it was not politicians or cultural functionaries who had the problem with the mural so much as it was those who ran the club. Whether the issue really was the »loudness« of the brightly colored Neoexpressionist painting distracting attention during quieter events, or if it was, in fact, the nudity of the life-sized figures – or most likely, a combination of both – cannot be definitively determined. But what becomes clear is that, despite the great strides East Germany had made with regard to educating the people about art, there were still people who were either uninterested or conservative in their tastes. And yet, even if more conservative voices did not like the work, they had to admit that it was good art, even if they found it unsuitable for their needs. They also had to come to terms with that fact and the work itself. At most, they could move a curtain in front of it for some events – even though this was frowned upon by the artists and the Artists Union. Although the tendency today is to assume the GDR destroyed art, this debate, and the mural itself, reveal just how much power art and artists had in the GDR, especially in its final years. Viewed as intellectuals who could help change the world with their art, artists had more flexibility and freedom than most, even if it was accompanied by greater scrutiny. Not only did the mural remain in the Jugendklub ›Eule‹, the Galerie Mitte organized a trip for youths to visit the work with Steffen Fischer; and photographs of the work were included in the catalog for the next Regional Art Exhibition in Dresden, which opened in Oktober 1989.40 Despite the discomfort the club members felt, the mural ultimately remained in place, although its days – like those of the GDR – were numbered. In the final months between the fall of the Berlin Wall in November 1989 and German unification in October 1990, the mural was destroyed. In a letter dated September 5, 1990, Ulf Göpfert, the department head of Culture and Tourism of the RdS in Dresden, reported that on August 29, Frau Heike Heinze had visited the Jugendklub ›Eule‹ and noted that the painting Jugend in Ekstase had been painted over in white latex and could not be recovered. According to Göpfert, this had to have taken place at some point in the preceding six and a half weeks as the mural was there when the building was last inspected, on July 16. Göpfert states that the responsible parties were former workers at the Jugendklub, including Heiko Menzel and Jens Hiob, both of whom had been at the meeting in December 1987. He had also informed the artists of the situation. Near the end of the letter, he pointed out the value of the destroyed work, which had belonged to the RdS, a value that »had risen significantly because of [the artists’] value on the international art market in recent years«. 1 I would like to thank Steffen Fischer, Angela Hampel, Johannes Heisig, Holm Pinkert, and

Jens-Uwe Sommerschuh for sharing their memories with me about the controversy; Anka Lazarus at the Museum der bildende Künste Leipzig and Dirk Görsch at the Bibliothek der Staatlichen Bücher- und Kupferstichsammlung Greiz for helping me acquire the Eulenspiegel article when unable to travel to Germany because of the pandemic; and Grant Arndt, Karin

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Müller-Kelwing, Mark Rectanus, and Gisela Schirmer for their feedback on an earlier draft of this article. Thanks also to photographer Matthias Lüttig for his permission to publish Fig. 4. Willi Sitte is an example of an artist who had to give a self criticism. Although artists in the Soviet Union and Nazi Germany could be imprisoned for art they created, this was generally not the case in East Germany. Two exceptions are Roger Loewig and Siegfried Pohl, both in 1963 and both for exhibiting works that directly challenged the legitimacy of the government and its policies in the immediate wake of the building of the Berlin Wall, something the East German government was particularly sensitive about. Lothar Lang, Malerei und Graphik in Ostdeutschland (Leipzig: Faber and Faber, 2002), p. 55. Gabriele Stötzer (Kachold), an artist who is often referred to in this regard, was imprisoned not for her art, but for starting a petition that criticized the government’s expatriation of Wolfgang Biermann in 1976. Strempel’s mural was completed in 1948 with the title Trümmer weg, baut auf! and initially received a positive response. Peter Guth: Wände der Verheissung. Leipzig 1995, p. 79. The formalism debates coincided with increasing political tensions between the eastern and western Allies and must be seen as an attempt to separate Socialist art from its western counterpart. The first phase of the formalism debates, which began in 1948, focused on the style of the work: whether it was modern or realist, with the latter being emphasized by those in power. In 1951, the second phase of the formalism debates focused on the tone conveyed by a work of art, preferring happy, optimistic works to more critical or cynical ones. For more on the formalism debates, see April Eisman: Bernhard Heisig and the Fight for Modern Art in East Germany. Rochester, NY 2018, pp. 22-30. Other artists who had murals destroyed at this time because of their modernist style include Hermann Bachmann, Fritz Rübbert, and Willi Sitte. Thanks to Gisela Schirmer for this list of additional artists. In the Soviet Union, this idea of art for the masses reaches even further back. Exceptions include Loewig and Pohl (see footnote 2). The mural’s title is taken from a 1990 letter quoted at the end of this article. »Gespräch mit P. Matzke, Ex-Jugendklub-Programmdirektor« In: MDR Zeit Reise, https://www.mdr.de/zeitreise/stoebern/damals/artikel75646.html. Last Accessed: June 16, 2020. In 1952, the »Anordnung über die künstlerische Ausgestaltung von Verwaltungsbauten« set aside 2 % of the project total for artwork such as murals, reliefs, and sculptures. The amount was lowered to 0.5 % in 1971, but broadened to include any kind of building (not just administration buildings). Antje Kirsch: Dresden. Kunst im Stadtraum. Architekturbezogene Kunst 1945-1989. Dresden 2015, p. 10. Pinkert’s first Jugendklub was located on Kohlenstrasse. The mural was approximately 35 square meters. Pinkert’s third Jugendklub was located on the Marienbergerstrasse. Phone conversation between Horst Pinkert and the author, June 2, 2020. Ibid. Conversation between Hedwig Döbele and the author in Dresden, May 30, 2017. The first exhibition was in 1984, when Hampel invited Wolfgang Adalbert Scheffler to join her. For the second exhibition, which opened in January 1987, she invited Eva Anderson (Backofen), Ulrike Rösner, and Gudrun Trendafilov to work with her. The latter exhibition, titled Inside/Outside, ended in controversy, but for very different reasons than the mural: it was controversial because it did not include any men. Fluss Uferzone (1988) and Offene Zweierbeziehung (1989).

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16 Fischer had shown work at a group exhibition at the Galerie kö24 in Hannover, West Germa-

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ny, in 1987. He had also had solo exhibitions at the Moritzbastei in Leipzig in 1984 and the Galerie Comenius in Dresden in 1986. Hauptstaatsarchiv Dresden – BfaK 11438-132. According to Pinkert, the BfAK had its own workshops. Phone conversation between Horst Pinkert and the author, June 2, 2020. Although this amount of money was significant – living expenses for more than four years – such sums were typical for architecture-related projects in East Germany. Candidates for membership in the Verband Bildende Künstler (VBK, Artists Union) in these years lived off of 400 Marks per month. A fairly high rent in the mid 1980s was around 180 marks per month. Phone conversation between Horst Pinkert and the author, June 2, 2020. Although their names are not in the meeting minutes, Pinkert states he had discussed the sketches with others at the BfAK. Phone conversation between Horst Pinkert and the author, June 2, 2020. A letter to Hampel from Dietz at the BfaK-Dr on November 18, 1987, requested that they complete the mural by November 30 and that the official unveiling was planned for the beginning of December. Although no documents of the event have survived, reference to this discussion appears in letters from the BfaK dated November 11, 1987 and December 28, 1987. Hauptstaatsarchiv Dresden – BfaK 11438-132. Unfortunately, there seem to be no minutes for this meeting. An interview with Pinkert suggests the meeting came in the wake of several youths seeing the work and finding it unacceptable. Phone conversation between Horst Pinkert and the author, June 2, 2020. Ibid. Ibid. The title Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy) comes from a letter dated September 5, 1990. Thanks to Angela Hampel for providing me with this document. This is the first time that a title was attached to the work, which was otherwise referred to as the mural in the Jugendklub ›Eule‹. »zwei verschiedene Welten, die aufeinander prallten« Discussion on June 17, 2020. East Germans are known for bathing naked, or going FKK (Freikörperkultur). The last ellipses was in the original text and allows the knowing reader to fill in the blank. The reference is to the giant gold sculpture of a nude Hercules located on the top of the town hall building in downtown Dresden. Christian Klötzel: »Die Kunst der Abdeckerei« In: Eulenspiegel, Nr. 3/88, p. 12. Digedags refers to the three main characters – Dig, Dag, and Digedag – in the East German comic book Mosaik from 1955–1975. The letter was dated November 18, 1987. Hauptstaatsarchiv Dresden – BfaK 11438-132. HAG Stadt was also in attendance. HAG is short for Hauptauftraggeber Komplexer Wohnungs- und Gesellschaftsbau. Vertrag, January 13, 1987. Leonore Adler, Hubertus Giebe, Andreas Küchler, Wolfgang Smy, and Johannes Heisig. »Stellugnahme zum Wandbild im Jugendklub Marschnerstraße in Dresden von Angela Hampel und Steffen Fischer«, December 28, 1987. Hauptstaatsarchiv Dresden – BfaK 11438-132. Ibid.

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38 Angelika Bohn: »Märchen im Kantinenfoyer: Das Wandbild zweier Ostthüringer Maler« In:

otz.de, August 21, 2010, https://www.otz.de/kultur/maerchen-im-kantinenfoyer-das-wandbildzweier-ostthueringer-maler-id217509961.html. Last Accessed: June 16, 2020. 39 As quoted in Jens-Uwe Sommerschuh: »Thoughts about a Commission. From a dispute over a mural to the rejection of a curtain« In: Sächsische Zeitung, December 16, 1987. 40 12. Kunstausstellung des Bezirkes Dresden, 1989, p. 37.

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»Die DDR, das war das grafische Land; sie war es in mehr als einer Hinsicht. Sie war das Land einer durch Werbeposter, Fassadenerneuerungen und SpraydosenSchmierereien unabgelenkten Vielfalt von Grautönen, und sie war das Land der Grafik – eine Kunstzone, in der gerade auch die Druckgrafik, diese demokratischste Form der Herstellung von Originalen, zu exemplarischer Höhe aufgewachsen war. Daran hatte das Interesse der Kenner und Liebhaber ebenso Anteil wie, nach der anderen Seite hin, das relative Desinteresse einer Kunstpolitik, deren Anforderungen vor allem dem Tafelbild und der Großplastik zusetzten.«1 In dieser Polarität entstand auch eine Vielzahl von druckgrafischen Mappenwerken. Sie wurden von staatlichen Institutionen in Auftrag gegeben, von den Galerien des Kulturbundes, vom Staatlichen Kunsthandel, von Betrieben, von den Kunsthochschulen, von Verlagen, oder sie entstanden im Eigenauftrag der Künstler*innen. Zum Bestand des Kunstarchivs Beeskow gehören zum Beispiel 140 verschiedene Grafikmappen aus den Jahren 1957–1990.2 Sie wurden in der »jubiläumsversessenen DDR«3 regelmäßig zu den Jahrestagen der Gründung der DDR, der Großen Sozialistischen Oktober-Revolution, der Französischen Revolution, des Bauernkrieges, aber genauso anlässlich der 750-Jahr-Feier von Berlin oder der runden Geburtstage historischer Persönlichkeiten wie Karl Marx und Johann Wolfgang von Goethe herausgegeben. Es war zudem immer wieder möglich und üblich, Grafikmappen jenseits von Jubiläen und Losungen herzustellen.4 Im Zentrum dieses Beitrages steht ein zeitgeschichtlich und ikonografisch besonders interessantes Mappenprojekt. Auftraggeber war der Kulturbund, die wichtigste Massenorganisation im Kunst- und Kulturbetrieb der DDR. Thema sollten Leben und literarisches Werk seines Gründungspräsidenten Johannes R. Becher sein, Anlass dessen 100. Geburtstag. Geplant war also eine weitere Becher-Ehrung in einem (erweiterten) Grafikmappen-Format, wie sie in der DDR seit den 1970er Jahren regelmäßig praktiziert wurde.5 Doch da die Projektlaufzeit parallel zu den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der Jahre 1989 bis 1991 verlief, ist das Ergebnis ein historisches und künstlerisches Zeugnis dieser Um- und Aufbruchszeit geworden. Im Frühjahr 1989 begann der Kulturbund mit den Planungen für Bechers 100. Geburtstag. Unter dem Motto »Spuren. Suche. Entdeckungen« sollten 18 Grafiker*innen, acht Fotograf*innen, fünf Plakatgestalter*innen, zehn Autor*innen (Lyrik und Prosa), zwei Musiker*innen sowie ein Dokumentarfilmregisseur gewonnen werden, um »mit interessanten, künstlerisch beeindruckenden Angeboten die Zeit-Genossenschaft und

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Zukunftswirkung der Künste und Künstlerpersönlichkeit des sozialistischen Erbes zu verdeutlichen.«6 Den teilnehmenden Künstler*innen wurde aufgetragen, »SPUREN der Wirkung des sozialistischen Erbes aufzuzeigen und im persönlichen Schaffen sichtbar zu machen; die SUCHE nach Beziehungen, geistiger Affinität und Dialog-Möglichkeiten zum sozialistischen Erbe zu zeigen und ENTDECKUNGEN von aktuellen wie in die Zukunft weisenden Impulsen im Vermächtnis sozialistischer Künstler öffentlich werden zu lassen.«7 Für die Annäherung an das Thema sollten sie ausgewählte Texte von Becher »zum Problemkreis Künstler-Kunst-Gesellschaft angeboten« bekommen.8 Die Honorar- und Herstellungskosten dieses interdisziplinären Projektes wurden mit 98.000 Mark kalkuliert. Die Konzeption stammt von Hans Peter Klausnitzer, der als Mitarbeiter des Kulturbundes explizit dafür zuständig war, die Erinnerung an Johannes R. Becher aufrechtzuerhalten.9 Anfang Februar 1990, drei Monate nach Öffnung der Mauer und mitten in der Phase der Umstrukturierung, welche die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorbereitete, konnte Klausnitzer dem Kulturbund mitteilen, dass per Vertragsabschluss immerhin von zwölf Künstler*innen, drei Plakatgestaltern, drei Fotografen und einem Schriftsteller eine Zusage für die Beteiligung am Projekt »Spurensuche« – das Wort Entdeckungen war weggefallen – vorliegt. Die Projektkosten hatten sich analog zur Anzahl der Beteiligten halbiert. Als kunstwissenschaftliche Betreuer waren Ulrich Domröse für die Fotografie und Jörg-Heiko Bruns für die Grafik dazu gekommen.10 In den Verträgen mit den bildenden Künstler*innen stand, dass sie auf Grundlage der vom Kulturbund formulierten Konzeption und nach ausgewählten Texten von Johannes R. Becher eine neugeschaffene Grafik bzw. vier Fotografien zur Verfügung stellen sollten. Grafiker*innen erhielten ein Honorar von 3.000 Mark, und die Herstellungskosten wurden erstattet, Fotograf*innen 2.700 Mark inkl. der Materialkosten. 11 Einer der Künstler, der seine Teilnahme zugesagt hatte, war Joachim John. Er hatte sich bereits im Januar 1990 bei Klausnitzer nach dem Fortgang des Projektes erkundigt: »Habe mal vorsichtig (mich vergewissernd) zu fragen: Gilt die Becher-Sache noch? Das Blättchen, das ich in Auftrag habe? Bitte Nachricht geben! Sturmgrüße bei Windstille!«12; und setzte im März nach: »Ist die Becher-Sache immer noch auf dem Tisch? Ich serviere sie oder nicht? Sie wird immer bitterer.«13 Zu diesem Zeitpunkt hatte Klausnitzer den Kulturbund verlassen, aber seine beiden Kolleginnen Almuth Bisky und Kerstin Noack bemühten sich um die Fortführung und den Abschluss der »Spurensuche« in »diesen etwas verworrenen Zeiten der Auflösung und Neuformierung«, wie es Ulrich Hachulla in einem Brief an Bisky formuliert hatte. 14 Letztere lud alle Beteiligten im Mai 1990 dann zu einem Treffen ein: »Trotz und wohl auch ein wenig wegen aller Veränderungen um uns wie mit uns, im Wissen um neue Sichten und Einsichten, ist uns daran gelegen, das im Herbst 1989 begonnene Projekt ›Spurensuche‹ weiterzuführen.«15 Die Künstler*innen blieben ebenfalls am Ball. In den kommenden Monaten schickten sie jeweils 25 Abzüge ihrer Grafiken und Fotografien sowie die Rechnungen, die nun – nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 – in D-Mark beglichen wurden. An die Gestalter Helmut Brade und Lutz Grumbach ging zudem der Auftrag für die Herstellung eines Plakates heraus, und der Buchbinder Andreas Richter wurde mit der Gestaltung einer Mappe beauftragt, die jedoch nicht mehr zur Ausführung kam.16

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Im Mai 1991, als sich der Geburtstag von Becher dann zum 100. Mal jährte, war die Luft aus dem Projekt raus. Lediglich im Becher-Haus in Bad Saarow und in der Kleinen Galerie der Martin-Luther-Universität in Halle konnte eine kleine Ausstellung mit einigen grafischen Arbeiten der geplanten Mappe organisiert werden.17 Auf einer undatierten letzten Aktennotiz von Noack ist schließlich zu lesen: »Die Zeit ist nun also doch nicht mehr ausreichend für die ›Spurensuche‹. […] Die Arbeiten liegen im Tresor, gleich links.«18 Aus diesem Tresor gelangten die Grafiken und Fotografien Anfang der 1990er Jahre ins brandenburgische Beeskow, wo Herbert Schirmer das »Sammlungsund Dokumentationszentrum Kunst der DDR« gegründet hat.19 Über die Jahrzehnte gerieten die Arbeiten etwas in Vergessenheit, bis sie bei der Generalinventur im Kunstarchiv Beeskow »wiederentdeckt« und 2019/20 in einer Ausstellung erstmals vollständig gezeigt wurden.20 Konkret handelte sich dabei um je ein grafisches Motiv von Ingo Arnold, Falko Behrendt, Ulrich Hachulla, Karl-Georg Hirsch, Joachim John, Horst Peter Meyer, Bernhard Michel, Otto Möhwald, Christine Perthen, Uwe Pfeifer, Volker Pfüller, Thomas Rug, Ursula Strozynski, Fotis Zaprasis sowie um jeweils vier fotografische Motive von Kurt Buchwald, Konstanze Göbel, Ingrid Hartmetz und Ulrich Wüst.21 Bis auf die Fotografien von Göbel sind sie 1990 datiert. Aber warum war es für alle diese Künstler*innen im Umbruchsjahr 1990 überhaupt noch interessant, sich mit einem der bekanntesten Kultur-Protagonisten der DDR auseinanderzusetzen? Was genau hat sie damals an Johannes R. Becher interessiert? An einem Mann, der 1891 geboren worden war, mit 19 Jahren den versuchten Doppel-Selbstmord mit seiner Freundin allein überlebte, 1911 den ersten von zahlreichen Lyrikbänden veröffentlichte, seine Morphiumsucht überwand, als Wortführer des Expressionismus in die Kommunistische Partei eintrat, nach Moskau emigrierte, Stalin verehrte, 1945 Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands wurde, den Text der Nationalhymne der DDR verfasste und von 1954 bis zu seinem Tod 1958 als erster Minister für Kultur in der DDR nicht gegen staatliche Willkür vorging, sich jedoch vergeblich um einen gesamtdeutschen Kulturaustausch bemühte?22 Ingo Arnold (Jg. 1931) hat sich künstlerisch tatsächlich erstmals 1990 mit Becher beschäftigt, obwohl für ihn die von Becher 1949 an der Akademie der Künste mitgegründete Zeitschrift Sinn und Form – Beiträge zur Literatur über Jahrzehnte eine besonders wichtige Quelle, »seine Universität«, war. Zudem war Arnold seit den 1950er Jahren mit den Gedichten und Texten des Dichters vertraut. Als die Anfrage vom Kulturbund kam, interessierte er sich vor allem für die »Fragilität seines Lebensweges« auch im Hinblick auf die eigene Situation zwischen »Aufbruch-Scheitern-Erinnern«.23 Er schuf daraufhin eine ganze Reihe von Arbeiten zu Becher. Daraus ausgewählt hat er eine – für ihn damals typische – metrische Collage aus zwei Porträtfotos. Eines zeigt Becher als jungen, das andere als älteren Mann. Aus beiden Vorlagen hat Arnold schmale Streifen ausgeschnitten und in das jeweils andere Gesicht wieder eingeklebt, sodass sich jung und alt vermischen, es kein oben und unten – kein gut oder schlecht, keine Eindeutigkeit mehr gibt. Der Offset-Druck erinnert an eine große Spielkarte.24 (Abb. 1) Als Quellentext gab Arnold damals folgendes Becher-Zitat an, da es »unser Heute scharf beleuchtet« und »so schmerzlich es ist, für uns Menschen wohl immer Gültigkeit« haben wird: » … und der Mensch selber ist nicht einer, der den Aufstand unternimmt. Der aufständische Mensch begegnet einer Totalität des Unmenschlichen, und das

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Unmenschliche schlägt, indem es den Namen des Ewig-Menschlichen oder der göttlichen Ordnung missbraucht, auf den in Aufruhr geratenen Menschen zurück, mit Drohungen und Verlockungen ihn überhäufend, bis er wieder in den gewohnten Verhältnissen unterduckt.«25 Über das Porträt haben sich auch Uwe Pfeifer (Jg. 1947), Volker Pfüller (Jg. 1939) und Thomas Rug (Jg. 1953) Becher genähert. Pfüller, dessen Bildsprache die Sprache des Theaters ist, zeichnete ihn skizzenhaftexpressiv, mehr Comic als Bildnis.26 Rug nahm Bechers Zeile »O Acker, mein Gesicht« fast wörtlich, indem er für seine Radierung mit Ätzungen experimentierte, die tiefe Furchen in der Platte hinterließen.27 In seinem Porträt sollte sich »die das Gesicht zerfurchende Zwickmühle des hoch Abb. 1: Ingo Arnold, o. T. (Porträt Johannes R. expressiven Dichterherzschlages und Becher), 1990 des vernünftig heiklen Pflichten nachkommenden Kulturministers« abbilden.28 Pfeifer platziert Becher unter der berühmten Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald, dem der Poet selbst ein Gedicht gewidmet hatte. Pfeifer beschränkt sich in seiner FarbLithografie auf das Detail der übereinander genagelten Füße, von denen das Blut Christi tropft. Es rinnt auf die Stirn von Becher, der im Kommunismus die neue Religion sah und mit dem so entstehenden markanten Muttermal zugleich an Michael Gorbatschow erinnert und an dessen Versuch, das sozialistische System durch Perestroika und Glasnost zu modernisieren.29 (Abb. 2) Kurt Buchwald (Jg. 1953), Karl-Georg Hirsch (Jg. 1938) und Joachim John (1933– 2018) kritisieren in ihren Arbeiten mit aller Deutlichkeit Bechers Verherrlichung von Stalin, für den er sogar Hymnen gedichtet hat. Hirsch, der privat die expressionistischen Bücher von Becher sammelt, haben immer wieder Gedichtzeilen von ihm, dagegen fast nie ein ganzes Gedicht zur künstlerischen Auseinandersetzung angeregt. Für seine Radierung spielte das in den 1980er Jahren erstmals erschienene Buch Der Aufstand im Menschen von Becher eine wichtige Rolle. Die Texte darin stammen aus der Zeit im sowjetischen Exil, als Becher im legendären Moskauer Hotel LUX lebte, das für viele deutsche Kommunisten zum Gefängnis wurde. Hirsch widmete sein Blatt mit dem Titel Licht + Finsternis stellvertretend der Schauspielerin Carola Neher, die damals wie viele Emigranten dem Großen Terror Stalins zum Opfer fiel: »Als Kommunist von den Faschisten ermordet zu werden, war selbstverständlich, von den eigenen Genossen war es

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grausamster Brüdermord«, so Hirsch.30 Die als Bilderbogen gestaltete Grafik ist mehrfach überarbeitet und geätzt und lädt zur intensiven Betrachtung ein.31 Bei John hält Stalin Becher den Mund zu oder füttert ihn, das ist nicht genau zu unterscheiden. Diese sarkastische Szene ist eingebettet in einen Strudel von symbolischen Motiven, zu denen auch die französische Nationalfigur Marianne gehört.32 Buchwald hatte im Januar 1990 in Paris an dem dreitägigen Kunstspektakel »L’autre Allemagne hors les Murs – Das andere Deutschland außerhalb der Mauern« in der Grande Halle de la Villette teilgenommen.33 Zusammen mit seinem Künstlerkollegen Joerg Waehner vollzog er dort mit Kernseife, Handbürste und einer Waschmaschine eine große Säuberung. Er jagte ein Stalin-Porträt auf knittrigem FotoAbb. 2: Uwe Pfeifer, Grünewald (Becher), Leinen mehrere Male durch einen ritu1990 ellen Waschgang, doch das Konterfei des russischen Diktators verschwand nicht vollständig. Für die Grafikmappe Spurensuche wählte Buchwald je zwei Fotos von den Performances Stalingraben und Große Säuberung – Hinter großen Männern aus, die zuerst in Berlin34 und dann in Paris stattgefunden hatten, denn ihm lag damals daran, etwas Aktuelles zu nehmen: Er habe zu dieser Zeit »vor allem Performance gemacht, weil es ja eine aufregende Zeit war« und er sich »abreagieren wollte«.35 Ein Motiv übermalte er anschließend mit schwarzer Tusche.36 (Abb. 3) Einen überraschend kritischen Text von Becher, den dieser nach dem Tod Stalins geschrieben hatte, gestaltete Lutz Grumbach (Jg. 1941) als klares, typografisches Plakat: »Wer vom Sozialismus träumt und schwärmt als von einem Erdenparadies und einem Glück für alle, der wird furchtbar belehrt werden in dem Sinne, dass die sozialistische Ordnung ganze Menschen hervorbringt, die aufs Ganze gehen, wenn auch nicht unter Anwendung der barbarischen Mittel der Vorzeit, aber auch diese bleiben noch eine Zeitlang im Gebrauch, wie es gerade in letzter Zeit bewiesen wurde, und dadurch, dass sich ihrer Sozialisten bedienten, übertreffen sie in ihrer Barbarei noch die vordem gebräuchlichen.«37

Das zweite Plakat hat Helmut Brade (Jg. 1937) angefertigt. Er verwendete dafür ein frühes, korrigiertes Autograf von Bechers Textentwurf der ersten Strophe der Nationalhymne der DDR.38 Damit verwies Brade auf die Ende der 1940er Jahre geführten Diskussionen um die Einheit Deutschlands, die für Becher wohl nie in Frage stand, doch erst 1990 wieder möglich werden sollte.

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Abb. 3: Kurt Buchwald, Stalingraben / Große Säuberung - Hinter großen Männern, 1990

Zerrissene Blätter mit Bechers Text und den Noten von Hanns Eisler für die Nationalhymne der DDR hat Ulrich Wüst (Jg.1949) fotografiert. Er hatte sie zusammen mit alten Zeitungsseiten hinter lang verschlossenen Türen im brandenburgischen Bülowssiege gefunden, wo Wüst gemeinsam mit Freunden in den 1980er Jahren ein ehemaliges Gut gekauft hatte. Beim Aufräumen und Wegwerfen der Hinterlassenschaften entstand eine größere Fotoserie mit dem Titel Vergangene Zukunft, aus der Wüst vier Fotografien für die Spurensuche ausgewählt39 und mit dem Becher-Zitat »Die Rechnung stimmt nicht. Unbekannte Größen erscheinen und verwirren die Berechnung« zusammengestellt hat.40 An das fatale Verhalten des Kulturministers Becher gegenüber staatlicher Willkür in der DDR erinnert Ursula Strozynski (Jg. 1954): Trotz besseren Wissens schwieg Becher, als Walter Janka, Leiter des Aufbau-Verlages, 1957 in Berlin in einem Schauprozess zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. In seinem Buch Schwierigkeiten mit der Wahrheit, dass erst 1990 erscheinen konnte, beschreibt Janka den unfairen Prozess und die unwürdigen Haftbedingungen.41 Strozynski sah in der Presse damals Fotos von der Gefängniszelle, in der Janka eingesperrt war, und entschied sich, nicht eine ihrer charakteristischen »Stadtlandschaften abzuliefern« – wie sie es selbst formulierte,42 sondern die Kargheit der Zelle wiederzugeben und die Radierung Janka zu widmen.43 (Abb. 4) Zum besseren Verständnis ihrer Arbeit schickte sie dem Kulturbund Zitate aus einem langen Brief von Becher an das ZK der SED aus dem Jahr 1957. Diese machten

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ihrer »Einschätzung nach den Zusammenhang zwischen der Verhaftung und Verurteilung Jankas zu fünf Jahren Haft und Bechers Verhalten in dieser Auseinandersetzung um ein menschlicheres Gesicht des Sozialismus klar.«44 Becher hatte diesen denunzierenden Brief zu seiner eigenen Rettung geschrieben, »um niemandem die Gelegenheit zu geben, zwischen der Parteiführung und mir zu differenzieren. Ich fühle mich mit Euch, mit der Partei eins.«45 Auch Ingrid Hartmetz’ (Jg. 1941) erster Impuls war 1990, nicht den von ihr geschätzten und oft gelesenen Dichter zu thematisieren, sondern Walter Janka zu porträtieren, nachdem sie sein Buch gelesen hatte und erschüttert war. Doch nachdem sie von Janka keine Antwort auf ihre Porträt-Anfrage bekommen hatte, entschied sie sich für eine symbolische Foto-Serie.46 In Abb. 4: Ursula Strozynski, Für W. Janka, 1990 reduzierter, sehr klarer Art und Weise fasste sie die Ambivalenz Bechers darin kongenial zusammen: eine Maske für seine Doppelgesichtigkeit, ein Fensterkreuz für sein Scheitern, eine Calla als Zeichen der Wertschätzung und ein Apfel als Symbol für die Hoffnung auf Erlösung.47 Alle anderen Künstler*innen des Grafikmappen-Projektes Spurensuche fanden Inspiration für ihre Arbeiten im frühen lyrischen Werk Bechers: Das Thema »Melancholie« griffen Ulrich Hachulla (Jg. 1943), Otto Möhwald (1933–2016), Christine Perthen (1948–2004) und Fotis Zaprasis (1940–2002) direkt auf. Hachulla und Möhwald befassten sich mit der Einsamkeit Einzelner in der Großstadt, ihre Protagonisten sitzen unter einem fragilen Glasdach, über das Menschen laufen, oder liegen allein und nackt vor einer Häuserfront.48 Zaprasis illustrierte das Gedicht Birken im Herbst, dessen letzte Strophe lautet: »Der Wipfel möchte leuchtend weiterschwingen / und mit den Vogelschwärmen südwärts ziehen, / In seinem Lichtgrün hörte er sie singen … / Und Blatt für Blatt treibt in den Wind dahin.«49 In unterschiedlicher Formensprache und aufwendigen, teils mehrfarbigen Druckverfahren entstanden Blätter von einer großen Eindringlichkeit. Falko Behrendt (Jg. 1951), Konstanze Göbel (Jg. 1950), Horst Peter Meyer (Jg. 1947) und Bernhard Michel (Jg. 1939) haben Gedichte ausgewählt, die ihnen für die damalige Umbruchsituation gültig erschienen.50 Göbels nüchtern-kritische Dokumentation vom Verfall und Abriss der Altbauviertel in Halle/Saale stammt aus den Jahren 1986 und1988.51 In Bechers Gedicht Die Geschichte geht weiter fand sie zu ihrer Fotoserie die passende Passage, die für jede Zeit Gültigkeit besitzt: »Was geschehen muß, geschieht. / Zu lange Pausen sind nicht erlaubt. / Wenn es die, die es eigentlich tun

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Abb. 5: Horst Peter Meyer, Zwischen dem was gestern war und heut?! oder Die verzweifelte Suche nach dem Ausgang, 1990

sollten, / Nicht tun, / Tun es eben andere – aber anders.«52 Michel entdeckte für sich einen aktuellen Bezug in den Zeilen »Oftmals am Beginn der Reise, / Weißt du nicht, wo endet sie? / Bringt sie eine neue Weise, / Eine alte Melodie?«53 Die zarte, verspielte Komposition von Meyer ist Teil einer Serie aus den Jahren 1989/90. Für ihn waren diese Radierungen ein Ausdruck dafür, was ihn »damals vor und nach der sogenannten Wende bewegte: Der blockierte Weg, der nicht mehr weitergegangen werden konnte, die Betonquader wurden immer mehr und unerträglich. Auch wenn der Aufbruch spät (aber nicht zu spät) erfolgte, der Umbau begann weitaus früher, teilweise auf und über den alten Bruchstücken … Eine Suche zwischen dem was gestern war und heut?« Diese Zeile aus dem Becher-Gedicht kam ihm entgegen und fügte sich ein in die inhaltlichen Überlegungen seinerzeit. Er ergänzte sie durch die Worte: »oder Die verzweifelte Suche nach dem Ausgang.«54 (Abb. 5) So unterschiedlich die Herangehensweisen der beteiligten Künstler*innen waren, fast alle interessierten sich im Jahr 1990 vor allem für die ambivalente Persönlichkeit Bechers. Sie schätzten ihn als Poeten, besonders für seine expressionistischen Gedichte, hatten aber weder Verständnis für seine Beteiligung am Stalinkult noch für sein Schweigen gegen Unrecht in der DDR. Die Zerrissenheit Bechers zwischen künstlerischem Selbstverständnis und politischer Funktion bot zudem in der Umbruchszeit 1989/90 eine

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Möglichkeit, die eigene Situation zwischen Auflösung und Neuorientierung zu reflektieren. Genau am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, schrieb der Lyriker und Essayist Peter Gosse (Jg. 1938) seinen Text für die Spurensuche-Mappe, der die damalige Situation wie in einem Schlusswort beschreibt: »Das Jahrhundert, das ein östliches (ja österliches!) zu werden versprochen hatte, ist, wie nunmehr deutlich zu sehen ist, ein westliches zu sein bestimmt. Die Welt, wo sie sich in das monochrome Licht des Kremlsterns stellte, fand sich arg schummerig ausgeleuchtet. Soviel war immerhin zu erkennen: nix da von wegen Abschaffung jedweder Herrschaft von Menschen über Menschen. Becher, indem er unser Jahrhundert auf das grandioseste preist, verkennt es auf das gründlichste. […] Ein geeintes Deutschland hat keiner zehrender herbeigesehnt als Becher. Dennoch frohlockte er mitnichten. Der Offenbarungseid, den der eine Landesteil geleistet hat, steht ja für den Offenbarungseid jener Weltreligion, die eine neue Artung sozialen Miteinanders versucht hatte: eben die des Schritts der Jahrhundertmitte.«55 1 Friedrich Dieckmann: »Verknotete Bilder aus einer verknäulten Welt« In: Die Zeit,

25.11.2003, Nr. 40. 2 Beim Gesamtbestand von 17.000 Werken der bildenden Künste machen die Grafikmappen mit

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insgesamt 4.100 Blättern rund 24 Prozent aus. Diese hohe Zahl kommt zustande, da es häufig mehrere Exemplare von einer Grafikmappe im Kunstarchiv gibt. Vgl. www.kunstarchivbeeskow.de/bestand. Dieter Zänker: »Prometheus ’82« In: Monika Flacke (Hg.): Auftragskunst der DDR 1949– 1990. Ausst.-Kat. Berlin 1995, S. 313. Im Bestand des Kunstarchivs befinden sich davon nur wenige Exemplare, aber zur Privatsammlung von Günter Lichtenstein, die insgesamt 120 Mappenwerke aus den Jahren 1958– 1990 umfasst, gehören zahlreiche Beispiele. Vgl.: Günter Lichtenstein (Hg.): Die Sammlung Lichtenstein. Grafische Mappenwerke. Altenburg 2015. Von den 140 Grafikmappen im Kunstarchiv Beeskow sind mehr als ein Dutzend Becher gewidmet: 1970/71 zum 80. Geburtstag von Becher erschienen u. a. die Mappen Landschaften mit acht Grafiken von Otto Möhwald und Uwe Pfeifer sowie Liebe ohne Ruh mit acht Radierungen von Fotis Zaprasis. 1981 zum 90. Geburtstag von Becher wurden u.a. Grafikmappen mit Arbeiten von Künstler*innen aus Leipzig, Frankfurt (Oder) und Schwerin herausgegeben. 1988, anlässlich des 30. Todestages von Becher, gab der Kulturbund unter dem Titel … und des Menschen Grösse eine umfangreiche Mappe mit 16 Grafiken und 12 Fotografien von 20 Künstler*innen heraus. Die Akten des Kulturbundes der DDR sind im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) zugänglich. Unter der Archivsignatur DY 27/10136 liegt ein Aktenbündel zur Spurensuche, aus dem im Folgenden zitiert wird. Bundesarchiv DY 27/10136. Bundesarchiv DY 27/10136. Diese Text-Auswahl hat sich weder in den Akten im Bundesarchiv noch bei den beteiligten Künstler*innen erhalten. Hans Peter Klausnitzer im Gespräch mit der Autorin am 17.12.2018. Klausnitzer hatte zu diesem Zweck schon mehrere Grafikmappen betreut, u.a. die ebenfalls interdisziplinär ange-

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legte Prometheus-Mappe, die 1982 wegen zu kritischer Texte der eingeladenen Schriftsteller nach Fertigstellung im Depot des Kulturbundes verschwand. Vgl. Zänker 1995 (wie Anm. 3), S. 312–319. Bundesarchiv DY 27/10136. Die erste Rate in Höhe von insgesamt 16.675 Mark war bereits an die Künstler*innen ausgezahlt worden, für die zweite Rate standen weitere 35.350 Mark zur Verfügung. Bundesarchiv DY 27/10136. Neben Blanko-Verträgen im Bundesarchiv haben sich bei einigen beteiligten Künstler*innen auch unterschriebene Exemplare erhalten, wie z. B. bei Ingrid Hartmetz und Horst Peter Meyer. Illustrierter Brief von Joachim John an Klausnitzer, 21.1.1990; Privatbesitz Hans Peter Klausnitzer. Illustrierter Brief von Joachim John an Klausnitzer, 12.3.1990; Privatbesitz Hans Peter Klausnitzer. Bundesarchiv DY 27/10136: Brief von Ulrich Hachulla an Almuth Bisky, undatiert. Bundesarchiv DY 27/10136: Brief von Almuth Bisky an die beteiligten Künstler*innen, 27.5.1990. Bundesarchiv DY 27/10136. Andreas Richter im Gespräch mit der Autorin am 7.8.2019. Bundesarchiv DY 27/10136: Übergabeprotokolle, 11.4.1991 und 12.11.1991. Bundesarchiv DY 27/10136. Vgl. Herbert Schirmer: »Das Beeskower Kunstarchiv« In: Ulrike Kremeier (Hg.): Schlaglichter. Sammlungsgeschichte(n). Ausst.-Kat. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus 2017, S. 231–236. Die Inventur wurde 2015-2019 von der Autorin dieses Beitrages durchgeführt. Die Ausstellung Spurensuche fand vom 6.10.2019 bis 1.3.2020 auf der Burg Beeskow statt. Im Vergleich zur Liste mit den Zusagen von Anfang Februar 1990 war Pfüller von den Plakatgestaltern zu den Grafikern ›gewechselt‹, und Hartmetz sowie Hirsch waren neu hinzugekommen. Von den neueren Veröffentlichungen ist folgende empfehlenswert: Jens-Fietje Dwars: Johannes R. Becher. Triumph und Verfall. Eine Biographie. Berlin 2003. Ingo Arnold im Gespräch mit der Autorin am 21.8.2019. Ingo Arnold, o. T. (Porträt Johannes R. Becher), 1990, Offsetdruck, 54 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Bundesarchiv DY 27/10136: Brief von Arnold an Almuth Bisky, 22.6.1990. Das Zitat stammt aus dem Buch: Johannes R. Becher: Der Aufstand im Menschen. Berlin 1986, S. 119. Volker Pfüller, o. T. (Porträt Johannes R. Becher), 1990, Lithografie, 54 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Thomas Rug, J. R. Becher: O Acker mein Gesicht, 1990, Aquatinta-Radierung, 53,5 x 39,5 cm, Kunstarchiv Beeskow. Mail von Thomas Rug an die Autorin vom 11.7.2019. Uwe Pfeifer, Grünewald (Becher), 1990, Farb-Lithografie, 47 x 34 cm, Kunstarchiv Beeskow. Brief von Karl-Georg Hirsch an die Autorin, 8.2019. Karl-Georg Hirsch, Licht+Finsternis, auch für Carola Neher, 1990, Radierung, 40 x 54,5 cm, Kunstarchiv Beeskow. Joachim John, o. T. (zu J. R. Becher), 1990, Kaltnadel-Radierung, 40 x 54 cm, Kunstarchiv Beeskow. Vgl. Ausst.-Kat. L’autre Allemagne hors les Murs. Champ libre aux jeunes artistes de R.D.A. Paris 1990.

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34 In Berlin hat die Performance am 21.12.1989 in der Galerie Weißer Elefant stattgefunden. 35 Mail von Kurt Buchwald an die Autorin, 9.7.2019. 36 Kurt Buchwald, Stalingraben / Große Säuberung – Hinter großen Männern, 1990, vier Foto-

grafien, je 30 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. 37 Lutz Grumbach, Wer vom Sozialismus träumt …, 1990, Offset-Druck, 80 x 54 cm, Privatbesitz

Lutz Grumbach. 38 Helmut Brade, Johannes R. Becher – Foto Anfang der 20er Jahre / Autograph Oktober 1949,

1990, Offset-Druck, 54 x 80 cm, Privatbesitz Helmut Brade. 39 Ulrich Wüst, Vergangene Zukunft Bülowssiege, 1990, vier Fotografien, je 30 x 40 cm,

Kunstarchiv Beeskow. 40 Mail von Ulrich Wüst an die Autorin, 13.8.2019. Die Zeilen stammen aus dem Gedicht Es 41 42 43 44 45 46 47 48

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nahen andere Zeiten von Johannes R. Becher, 1941/44. Vgl. Walter Janka: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Berlin 1990. Ursula Strozynski im Gespräch mit der Autorin am 26.8.2019. Ursula Strozynski, Für W. Janka, 1990, Radierung, 53,5x39 cm, Kunstarchiv Beeskow. Bundesarchiv DY 27/10136: Brief von Ursula Strozynski an Almuth Bisky, 12.7.1990. Brief von Johannes R. Becher an das Zentralkomitee der SED, 10.9.1957. In: Sinn und Form, Heft 2/1990. Ingrid Hartmetz im Gespräch mit der Autorin am 22.8.2019. Ingrid Hartmetz, o. T. (I-IV), 1990, vier Fotografien, je 30 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Ulrich Hachulla, Zu Melancholie von J. R. Becher, 1990, Farb-Radierung, 54 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Otto Möhwald, Melancholie, 1990, Lithografie, 40 x 54 cm, Kunstarchiv Beeskow. Christine Perthen, o. T., 1990, Farb-Lithografie, 54 x 39,5 cm, Kunstarchiv Beeskow. Fotis Zaprasis, Zu J. R. Becher Birken im Herbst, 1990, Radierung und Prägung, 54 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Falko Behrendt, Spuren, 1990, Farb-Radierung, 54 x 39,5 cm, Kunstarchiv Beeskow. Konstanze Göbel, o. T. (1–4), 1986, 1988, vier Fotografien, je 30 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Bundesarchiv DY 27/10136: Brief von Konstanze Göbel an den Kulturbund, undatiert. Bernhard Michel, Oftmals am Beginn der Reise, / Weißt du nicht, wo endet sie? / Bringt sie eine neue Weise, / Eine alte Melodie? J. R. Becher, 1990, Radierung, aquarelliert, 53,5 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Horst Peter Meyer in einem Brief an die Autorin am 17.9.2019. Horst Peter Meyer, Zwischen dem was gestern war und heut?! oder Die verzweifelte Suche nach dem Ausgang, 1990, Radierung, 40 x 54,5, Kunstarchiv Beeskow. Die Zeilen stammen aus dem Gedicht Ihr, Dichter meiner Zeit von Johannes R. Becher, 1930. Bundesarchiv DY 27/10136: Peter Gosse, JRB, 3.10.1990, Typoskript, vier Seiten.

WEITERE BEITRÄGE

Anna Greve Der Europa-Mythos in der Kunst: Identität – Krise – Ambivalenz im 20. und 21. Jahrhundert

»Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. Nicht nämlich nur zum Zweck des Handelns, sondern auch, wenn wir nicht zu handeln beabsichtigen, ziehen wir das Sehen so gut wie allen andern vor. Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt.« (Aristoteles: Metaphysik)1

Angesichts aktuell zu beobachtender gesellschaftlicher und politischer Radikalisierung – gerade auch in demokratisch gewählten politischen Gremien wie dem Bundestag – besinnen sich Intellektuelle auf den Kulturbegriff »Europa«.2 Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat in seinem viel beachteten Werk Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung3 betont, dass die sogenannten europäischen Werte nicht alleine den Europäer/innen, sondern allen Menschen gehören – entstanden sie doch auch in Auseinandersetzung Europas mit ›dem Rest der Welt‹ und insbesondere auch mit und durch den Kolonialismus. »Europa« ist seit der Antike eine geografische Bezeichnung, aber auch ein Mythos. Die Kunstwissenschaft ist dem vielfach nachgegangen,4 insbesondere die feministische Forschung hat durch die Analyse des Geschlechterverhältnisses zwischen Stier und Frau neue Perspektiven eröffnet.5 Meine Ausführungen durch die »postkoloniale Brille« verstehe ich als Weiterführung und Vertiefung, ist die Wahrnehmung des EuropaMythos mit den Augen doch im oben dargelegten Sinne von Aristoteles in besonderer Weise aufschlussreich. Das heutige kulturpolitische Dilemma – für alle Menschen attraktive Werte, die in unserem Wirtschaftssystem aber nur von einer Minderheit auf Kosten einer Mehrheit gelebt werden können – manifestiert sich auch in Werken der bildenden Kunst.

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Identität In der griechischen Antike war Europa eine geografische Bezeichnung.6 Erst später wird verstärkt der Mythos als Erzählung mit pädagogischer Funktion aktiviert. So bei Moschos (ca. 150 v. Chr.), wo der Stier als »braun« beschrieben wird.7 Bei den römischen Schriftstellern Horaz (geb. 65 v. Chr.) und Ovid (geb. 43 v. Chr.) wird zunächst die Europa, dann der Stier als »weiß« eingeführt.8 Obwohl der Europa-Mythos ein zentrales Thema in der europäischen Malerei ist, wurden die Fellfarbe des Stieres und die Körperfarbe der Europa bisher nur selten erwähnt und gar nicht weitergehend diskutiert.9 »Okzident« und »Abendland« als geografische Bezeichnungen für den der untergehenden Abendsonne am nächsten gelegenen Erdteil lassen sich ebenso wie »Europa« auf das phönizische erob (dunkel, Abend) zurückführen. Die ihnen entsprechenden Antonyme Orient und Morgenland sind dagegen ebenso wie Afrika (phönizisch afar: Staub, lateinisch apricus: sonnig) mit hell assoziiert. Insofern verwundert es nicht, dass die aus Phönizien (schmaler Landstreifen an der östlichen Mittelmehrküste) oder Afrika (Phönizien hatte eine Kolonie an der südlichen Mittelmeerküste) verschleppte mythologische Figur der Europa bereits bei Horaz hell gedacht war: »So ließ auch Europa dem list’gen Stier einst ihren weißen Leib.«10 In der Malerei wurde sie dies erst explizit im Zeitalter des Kolonialismus, sie avancierte zur identitätsstiftenden politischen Allegorie.11 Der einst von Moschos als »braun« bezeichnete Stier war in der Überlieferung von Ovid »schneeweiß« und wurde als solcher bis ins 20. Jahrhundert tradiert.12 Erst ab 1900 – im Angesicht eines durch Revolutionen, verlorene Kolonialgebiete und zwei Weltkriege bröckelnden Selbstbewusstseins – wurde wieder ein dunkler Stier in der Malerei dargestellt. Vom malerischen Standpunkt aus wäre ein dunkler Stier schon immer dafür geeignet gewesen, eine helle Europa zu kontrastieren. Da aber sowohl das männliche Weiß-Sein des Stieres als auch das weibliche Weiß-Sein der Europa von besonderer identitätsstiftender Bedeutung waren, wurde beides malerisch verhandelt.13 Der auf der Leinwand mehrfarbig hergestellte Weiß-Eindruck des Stieres (picture) verweist auf sein (inneres) Weiß-Sein (image).14 Dieses wird als Männlichkeit, Überlegenheit und letztendlich Göttlichkeit verstanden. Nur scheinbar kollidiert dieses mit dem Weiß-Sein (image) der Europa, das als Weiblichkeit, Schicksalsergebenheit und Tugendhaftigkeit aufgefasst und über ihre helle Körperfarbe (picture) vermittelt wird. Wird beides als zwei Seiten einer Medaille aufgefasst, wird der Kern von Weiß-Sein sichtbar: Die weibliche Tugend ist die Kehrseite der männlichen Dominanz, und beides ist Ausdruck des Privilegs, sich selbst als europäische Norm definieren zu können, ohne diese benennen zu müssen. Weibliche helle Körperfarbe als äußeres Zeichen strebt dem männlichen inneren Weiß als Tugendideal entgegen. Diese kunsthistorische Feststellung lässt sich ins Heute übersetzen: Weiße Menschen in Europa beschreiben sich über Alter, Geschlecht, Beruf, Religion, nicht aber in Bezug auf ihr Weiß-Sein. Wenn sie betonen, das habe keinen Einfluss auf ihre Person, dann suggerieren sie Neutralität und setzen zugleich Weiß-Sein als universelle, neutrale Norm, während »Rasse« als nur Schwarze Menschen betreffendes Problem definiert wird. Durch die Negierung des Unterschieds – aus Unwissen oder in wohlmeinender Absicht – werden die eigenen strukturellen Privilegierungen und die

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alltäglichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen Menschen geleugnet.15 Die Negation der Differenz erzeugt die Affirmation vermeintlicher Egalität. Krise In Arbeit am Mythos (1979) definiert Hans Blumenberg: »Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung.«16 Insbesondere in Zeiten europäischer Identitätsbildung und politischer Umbrüche wurde in den bildenden Künsten am Europa-Mythos gearbeitet. Entgegen der zahlreichen Variationen und vielschichtigen Interpretationen entschied man sich bezüglich des weißen Stieres bis ins 20. Jahrhundert für eine erstaunliche Texttreue. Nur sehr wenige Variationen des Europa-Mythos mit dunklem Stier sind auszumachen. Darin deutet stets eine weiße Fellpartie auf das innere Weiß-Sein des Stieres hin, also seine Makellosigkeit als positiven (europäischen) Wert. Paul Gauguin (1848–1903) verlegte den EuropaMythos nach Tahiti. Im Gegensatz zu den von ihm mehrfach gemalten TahitiBewohnerinnen mit dunkler Körperfarbe sind in diesem Holzschnitt sowohl Europa als auch der Stier hell ausgeführt.17 Die ab 1900 vermehrt auftretende »Verdunkelung« des Motivs erinnert daran, dass die Idee »Europa« von ihren Anfängen an auf Imperialismus/Kapitalismus und Selbstüberzeugung gegründet war. 1905 zeigte sich mit der ersten russischen Revolution, dass ein gesellschaftspolitisches »Weiter so« eventuell nicht mehr möglich sein würde. Es folgten der Erste Weltkrieg und die zweite russische Revolution. Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918) beschwor ein nahes Ende der westeuropäischen Kultur und war Wegbereiter nationalsozialistischer Ideologie.18 War die Europa in der Vergangenheit häufig bewusst auf den Stier gestiegen oder hatte sie sich positiv mit ihrer Entführung arrangiert, konnte sie nun vom Stierrücken herabfallen oder als charakterlose Beute davongetragen werden. Der dunkle Stier unterstreicht – in der europäischen Farbsymbolik – das heranziehende Unheil. Exemplarisch sei auf Felix Vallottons (1865–1925) Gemälde mit einem dunklen Stier verwiesen, von dessen Rücken die hellhäutige Europa rutscht.19 Dass ihm die malerischen Traditionen und Symboliken von heller und dunkler Haut-Darstellung bewusst waren, zeigt beispielsweise sein Gemälde Die Weiße und die Schwarze (1913).20 Nach dem Ersten Weltkrieg scheint der dunkle Stier den Niedergang der weltgeschichtlichen Bedeutung Europas verstärkt zu symbolisieren. Der Roman Der Neger Jupiter raubt Europa (1926) von Claire Goll will die rassistischen Klischees der Zeit ironisieren und bedient sie dennoch.21 Der Schwarze Kabinettschef des französischen Kolonialministeriums, Jupiter Djilbuti, erobert in diesem Text die weiße Kultur in Gestalt der weißen Alma Valery, die er aber letztendlich tötet – aus Eifersucht und dem Unvermögen heraus, sie absolut zu beherrschen. Unverkennbar sind die Anklänge an die Othello-Tragödie von William Shakespeare. Im selben Jahr malte der später von den Nationalsozialisten hoch geschätzte Werner Peiner (1897–1984) das Gemälde Moderne Europa (Abb. 1).22 Im Stil der Neuen Sachlichkeit ist eine helle Europa auf einem wei-

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ßen Stier dargestellt, beide sind allerdings stark verschattet. Als frivole Tänzerin zieht sie an seinem blutigen Nasenring, aber auch von anderer Seite scheint er bereits verletzt worden zu sein. Ein unheilvoller Ausgang des Ritts ist angedeutet. Ebenfalls 1926 schuf Lázlo Moholy-Nagy (1895–1946) in dem ebenfalls zeittypischen Stil seiner Fotoplastiken die ironische Allegorie Mutter Europa pflegt ihre Kolonien.23 Die »Anderen« haben eine dunkle Haut. Deutschland hatte durch den Versailler Vertrag seine Kolonialgebiete verloren, umso mehr bemühten sich die allerorts existierenden Kolonialvereine um den Gedanken einer Rückgewinnung der Kolonien. Gleichzeitig nahm die antikoloniale Bewegung in der linken Arbeiterschaft zu. Ein Flugblatt der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit ist mit dem Titel Nie wieder Kolonien! (1925) überschrieben. Der Rückblick auf diese gleichzeitig entstandenen Werke macht die Krise des Europa-Gedankens in den 1920er Jahren deutlich: Europa befindet sich im Verfall der eigenen Werte. Wenige Jahre später herrscht »Klarheit«. In einem Aquarell von Max Beckmann (1884–1950) aus dem Jahre 1933 stürmt ein explizit dunkel gemeinter Stier mit einer hilflos auf seinem RüAbb. 1: Werner Peiner, Moderne Europa, cken hängenden, hell ausgeführten 1926 Europa davon und thematisiert so die Kriegsbedrohung seiner Zeit (Abb. 2).24 Die Interpretation der Europa als Verlust-Figur berührt insofern das Konzept von WeißSein, als sie als allgegenwärtige und zugleich unmarkierte Norm charakterisiert wird. Beckmanns Zeitgenosse Paul Klee (1879–1940) wählte im gleichen Jahr eine sehr viel abstraktere Form zur Darstellung der Europa.25 Ambivalenz Die Tragik der Europa hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand. Unverkennbar rekurriert Gabriel Ludwig Schrieber (1907–1975) im Jahr 1948 auf das Formenrepertoire der 1920er und 1930er Jahre. 26 Europa ist als eigenständige Form nahezu

Der Europa-Mythos in der Kunst. Identität – Krise – Ambivalenz

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Abb. 2: Max Beckmann, Raub der Europa, 1933

verschwunden, umso mächtiger erinnert der – helle – Stier an ihre Tradition. Der allgemeinen Entwicklung der westlichen Malerei der Nachkriegszeit entsprechend, wäre es nicht verwunderlich gewesen, hätte sich das Europa-Motiv in den folgenden Jahren in der Abstraktion aufgelöst. Umso erstaunter sind wir im Angesicht der wiedererstandenen Form einer weiblichen Figur auf dem männlichen Stier am Rathausplatz in Köln, 1956 – also in der damaligen BRD – von Jürgen Hans Grümmer (1935–2008) geschaffen.27 Praktisch gleichzeitig knüpft auch der in der DDR lebende Maler Werner Tübke (1929–2004) an die alten Bildtraditionen an. Als Sieger eines Wettbewerbes entwirft er nach dem Vorbild des 17. Jahrhunderts – aber im sozialistischen Geiste – einen Kontinente-Zyklus für das neue Hotel Astoria in Leipzig. An diesem internationalen Messestandort sollte dem Publikum der sozialistische Realismus nähergebracht werden: Ausbeuter und Ausgebeutete stehen sich auf jedem Kontinent gegenüber. In Europa wird auf der linken Tafel die arbeitende Bevölkerung im kapitalistischen System gezeigt, auf der rechten Tafel ist in einem Teil Europas der Sozialismus bereits verwirklicht, so die offizielle Erklärung des Werkes.28 Indiz für diese Interpretation ist die im Hintergrund des Bildes zu sehende monumentale Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin von Wera Muchina (1889–1953), die 1937 auf der Weltausstellung in Paris den sowjetischen Pavillon bekrönt hatte und zum Inbegriff des sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung wurde. Interessant ist ein Vergleich mit der Afrika-Darstellung Tübkes. Links wird die koloniale Arbeiterausbeutung gezeigt, rechts erfreuen sich die vom Kolonialismus

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befreiten Menschen eines glücklichen Lebens und gehen der Plantagenwirtschaft zur eigenen Ernährung nach. Vollkommen ungebrochen ist zu dieser Zeit noch die Zuordnung »Weiß – Europa – komplexe Sozialstruktur« einerseits und »Schwarz – Afrika –einfaches Leben« andererseits. Mit dem Europa-Motiv – balancierend auf der Mauer – gewann Johannes Grützke (1937–2017) den 1976 ausgeschriebenen Wettbewerb zur Bemalung des Hauses am Checkpoint Charlie in West-Berlin.29 Die Maler/innen hatten die geschichtliche Bedeutung dieses Grenzübergangs erfassen sollen. Europa als Balanceakt – auch im wiedervereinten Deutschland erscheint uns das heute eine treffende Metapher. Wie Grützke gilt der 1968 geborene Michael Triegel als konservativer Provokateur.30 In Abgrenzung zu der abstrakten Malerei ihrer Zeit machten sie bewusst das Figurative stark, knüpften an ältere Maltraditionen und biblischmythologische Stoffe an und widmeten sich darüber hinaus politischen Themen der Gegenwart. Auf Empfehlung Tübkes erhielt Triegel Anfang der Abb. 3: Michael Triegel, Traum der Europa, 2000er-Jahre seinen ersten kirchlichen 2004 Auftrag. Bewusst hat er sich immer mehr auf die kirchliche Malerei konzentriert und begegnet Kitsch-Vorwürfen mit dem Argument, dass er der Vielschichtigkeit der europäischen Kulturtradition und ihrer Ambivalenz mit gegenständlicher Malerei in Renaissance-Tradition am besten gerecht werden könne.31 Triegels Traum der Europa aus dem Jahr 2004 greift vieles auf und lässt vieles offen (Abb. 3).32 Wir assoziieren: Im Zentrum die europäische Zeichen- und Baukunst der Renaissance, der weiße Vorhang als Attribut in Herrscherporträts, ein Baumstumpf zur Mahnung an die Vergänglichkeit, der Regenbogen als Zeichen der Versöhnung zwischen Gott und Mensch, der Efeu – die zarte Bodenbepflanzung – als Symbol der Hoffnung und Attribut der Maria, der nackte, weibliche, helle Körper als Verletzlichkeit der Europa und Quelle ihrer Kultur zugleich. Triegels Werk birgt viel Potential zur Analyse und Besinnung auf die europäische Tradition und setzt das Wissen um sie und ihre Kulturtechniken zugleich voraus – quasi als Bedingung der Möglichkeit einer authentischen Analyse. Ist der Rückblick Voraussetzung für eine neue Identitätsfindung im 21. Jahr-

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hundert, eine kreative Zukunftsgestaltung? Ja, insofern Zukunft nur aus Vergangenheit entstehen kann und dies als unabdingbare Voraussetzung hat. Als Kunsthistorikerin bin ich fasziniert von Triegels hyperrealistischer Malweise, mit der für die Leipziger Schule typischen Detailgenauigkeit in Verbindung mit kühler, verstörender Wirklichkeitsübersteigerung. Ist es nur die vermutete Ironie, die in mir ein tiefes Unbehagen auslöst? Kunstgeschichte verstehe ich als politische Wissenschaft. Mein emotionales Unbehagen angesichts Triegels Europa-Bild versuche ich entsprechend in Worte zu fassen. Denn Bilder erzeugen Emotionen, und Worte schaffen Wirklichkeit. Eine fundierte Auseinandersetzung mit der europäischen Geschichte und der damit einhergehenden Werteentwicklung – wie sie Triegel anregt – ist notwendig. Wichtig ist eine Disputation im klassischen Sinne, als Verteidigung und Streitgespräch, und eine Rückbesinnung auf die europäischen Werte »Freiheit«, »Gleichheit«, »Solidarität« und die damit verbundene Denktradition mit ihren Stärken und Tücken sowie ihre Tauglichkeitsprüfung für ein zukunftsgewandtes Europa. Mein Unbehagen angesichts Triegels Gemälde rührt in der Ambivalenz, dass ich nicht fassen kann, ob er dies einfordert oder für hinfällig hält. Um auf Blumenberg und Aristoteles zurückzukommen: In der »hochgradigen Beständigkeit« (Blumenberg, siehe Zitat oben) des gemalten Europa-Mythos entlang der Jahrhunderte sehen wir zugleich »viele Unterschiede aufgedeckt« (Aristoteles, siehe Zitat oben). Eines kann ich aufgrund meiner kunsthistorischen Recherche in unzähligen Datenbanken und Büchern sagen: Eine Europa mit dunkler Haut habe ich nicht gefunden. Während das Weiß des Stiers ab dem 20. Jahrhundert durchaus gelegentlich gebrochen wird, ist das Weiß-Sein der Europa weiterhin dominant, mit allen damit verbundenen humanistischen Idealen und praktischen Ausgrenzungsmechanismen. Was für die erste Annäherung an Kunstwerke gilt, gilt noch viel mehr für den alltäglichen Rassismus: »Denk nicht, sondern schau!«33 Der vorliegende Text geht zurück auf meinen Vortrag Der Europa-Mythos in der Kunst: Eine postkoloniale Analyse am 22. Januar 2020 am Zentrum für Klassikstudien der Universität Regensburg im Rahmen der Ringvorlesung Europa. Das antike Erbe im Wintersemester 2019/20. Johannes Dimpfl danke ich für sein kontinuierliches, kritisches Mitdenken und das ZurVerfügung-Stellen seiner immer wieder beeindruckenden Bibliothek. 1 Aristoteles: Metaphysik, Buch I, 980a21-27. In: Ders.: Philosophische Schriften in sechs

Bänden. Bd. 5. Nach der Übers. von Hermann Bonitz, bearb. von Horst Seidl. Hamburg 1995. 2 Vgl. Étienne François und Thomas Serrier (Hg.): Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte.

3 Bde. Darmstadt 2019. Zur früheren europäischen Identitätsforschung vgl. Giovanni Reale: Kulturelle und geistige Wurzeln Europas. Für eine Wiedergeburt des »europäischen Menschen«. Paderborn 2004; Klaus Bußmann und Elke Anna Werner (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004; Ingrid Baumgärtner, Claudia Brinker-von der Heyde, Andreas Gardt und Franziska Sick (Hg.): Nation – Europa – Welt. Identitätsentwürfe vom Mittelalter bis 1800. Frankfurt/M. 2007.

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3 Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung.

Frankfurt/M. 2020 (1. engl. Aufl. 2000). 4 Vgl. Heinz R. Hanke: Die Entführung der Europa. Eine ikonographische Untersuchung. Köln

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1963; Barbara Mundt (Hg.): Die Verführung der Europa. Ausst. Kat. Kunstgewerbemuseum Berlin. Frankfurt/M. 1988; Siegfried Salzmann (Hg.): Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation. Ausst. Kat. Kunsthalle Bremen, Bremen 1988; Marie-Louise von Plessen (Hg.): Idee Europa. Entwürfe zum »Ewigen Frieden«. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der prax romana zur Europäischen Union. Ausst. Kat. Deutsches Historisches Museum Berlin. Berlin 2003; Christian Lohnse und Josef Mittlmeier (Hg.): Europas Ursprung. Mythologie und Moderne. Regensburg 2007. Vgl. Annegret Friedrich: »Die Schöne und das Tier. Mythos einer Mesalliance?« In: Mundt 1988 (wie Anm. 4), S. 218–227. Vgl. u. a. Homerische Hymnen, 3. Hymnus: »An Apollon«, Vers. 250f. und 290f., gr.-dt., übers. und hrsg. von Anton Weiher. München 1970; Herodot: Historien, Buch IV, Kap. 45 u.ö., gr.-dt., übers. und hrsg. von Josef Feix. Düsseldorf/Zürich 2000; Thukydides: Der Peloponnesische Krieg, Buch I, Kap. 89, übers. und hrsg. von Georg Peter Landmann. Düsseldorf/Zürich 2002; Platon: Gorgias 524a u.ö. in ders.: Werke in acht Bänden, Bd. II, gr.-dt., übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1973; Aristoteles: Politik, Buch VII, Kap. 7, 1327b, S. 24 ff.. In: Ders.: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 4, übers. von Eugen Rolfes. Hamburg 1995. Vgl. Moschos: »Europa« In: Griechische Kleinepik, hrsg. und übers. von Horst Sitta u. a. Berlin 2019, 65–75. Vgl. Horaz: Oden, Buch III, Nr. 27, S. 25–26. In: Ders.: Werke in einem Band, hrsg. und übers. von Manfred Simon. Berlin/Weimar 1983, S. 87; Ovid: Metamorphosen, Buch II, Zeile 833–875, übers. von Erich Rösch. Zürich 1988, S. 76–77. Der Schwerpunkt in den Metamorphosen liegt auf der Szene auf der Wiese, wo sich Europa und der Stier begegnen. In den Fasten des Ovid liegt der Schwerpunkt hingegen auf der Meeresüberquerung und dient zusätzlich der Erklärung des Sternzeichens. Ovid: Die Fasten, Buch V, 14. Mai, hrsg., übers. und kommentiert von Franz Bömer, Bd. I. Heidelberg 1957, S. 251. Zur Weiß-Werdung des Europa-Mythos in der frühen Neuzeit vgl. exemplarisch die entsprechenden Gemälde von Tizian, Paolo Veronese und Guido Reni. Vgl. hierzu Anna Greve: »Der Europa-Mythos. Ein weißer Stier und eine hellhäutige Europa« In: Techniken des Bildes. Hrsg. von Martin Schulz und Beat Wyss. München 2010, S. 313–328. Horaz (wie Anm. 8). Vgl. Wolfgang Schmale: »Europa – die weibliche Form« In: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Nr. 11 (2000) 2, S. 211–233; Wolfgang Schmale: »Europa, Braut der Fürsten. Die politische Relevanz des Europamythos im 17. Jahrhundert« In: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, hrsg. von Klaus Bußmann und Elke Anna Werner. Stuttgart 2004, S. 241–261; Claudia Bruns: »Anthropomorphe Europakarten im Übergang zur Frühen Neuzeit« In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 21/2017, S. 1–42. Ovid: Metamorphosen (wie Anm. 8). Zur Kritischen Weißseinsforschung – die die mit der menschlichen hellen Haut assoziierten gesellschaftlichen Privilegien und damit »Weiß« als Schlüsselkategorie von Rassismus untersucht – vgl. Thomas Poiss: »Die Farbe der Philosophen. Zum Motiv des ›weißen Menschen‹ bei Aristoteles« In: Weiß. Hrsg. von Wolfgang Ullrich und Juliane Vogel. Frankfurt/M. 2003, S. 144–154; Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt (Hg.):

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Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005; Susan Arndt: »Weißsein – zur Genese eines Konzepts. Von der griechischen Antike zum postkolonialen ›racial turn‹« In: Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Jan Standke und Thomas Düllo. Berlin 2008, S. 95–129; Anna Greve: Farbe – Macht – Körper. Kritische Weißseinsforschung in der europäischen Kunstgeschichte. Karlsruhe 2013. Zur Definition von picture als das materialisierte Bild und image als das gedachte Bild vgl. William J. T. Mitchell: »What Is an Image?« In: New Literary History, Nr. 15 (Frühjahr 1984) 3, S. 503–537; Ders.: Bildtheorie. Frankfurt/M. 2008 (1. engl. Aufl. 1996). Vgl. hierzu Anna Greve: »Weißsein als expliziter Gegenstand der Kritischen Weißseinsforschung« In: Dies.: Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit. Bielefeld 2019, S. 30–33. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1996, S. 40 (1. Aufl. 1979). Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Alltagsmythen vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. 1964 (1. franz. Aufl. 1957). Paul Gauguin: L’Enlèvement d‘Europe, nach 1895, Holzschnitt, 24,5 x 23 cm, Berlin, Kupferstichkabinett, abgebildet in: Tobia Bezzola und Elizabeth Prelinger: Paul Gauguin – Das druckgrafische Werk. München u. a. 2012, S. 111. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Wien 1918. Felix Vallotton: Entführung der Europa, 1908, Öl auf Leinwand, 130 x 162 cm, Bern, Kunstmuseum, abgebildet in: Sasha M. Newman: Félix Vallotton, New Haven 1991, S. 37, Abb. 38. Felix Vallotton: Die Weiße und die Schwarze, 1913, Privatbesitz, abgebildet in: Ursula Perucchi-Petri: Felix Vallotton in der Villa Flora, Bern 2007, S. 53, Abb. 52. Clair Goll: Der Neger Jupiter raubt Europa. Basel 1926. Werner Peiner: Moderne Europa, 1926, abgebildet in: Anja Hesse: Malerei des Nationalsozialismus – Der Maler Werner Peiner, Hildesheim 1995, S. 386, Abb. 10. Lázlo Moholy-Nagy: Mutter Europa pflegt ihre Kolonien, 1926, abgebildet in: Irene-Charlotte Lusk: Montagen ins Blaue: Lázlo Moholy-Nagy, Fotomontagen u. -collagen (1922–1943). Gießen 1980, S. 85. Max Beckmann: Der Raub der Europa, 1933. Aquarell und Bleistift auf Papier, 51,1 x 69,9 cm, Bielefeld, Privatbesitz, abgebildet in: Mayen Beckmann (Hg.): Max Beckmann – Die Aquarelle und Pastelle. Köln 2006. S. 163, Abb. 62. Paul Klee: Europa, 1933, Gouach, 49 x 38,2 cm, Bielefeld, Kunsthalle, abgebildet in: Jutta Hülsewig-Johnen: Expressionismus und mehr ... Die graphische Sammlung der Kunsthalle Bielefeld. Bielefeld 2002, S. 97, Bildnachweis: http://www.kulturelles-erbe-köln.de/ documents/obj/40010182 (22.5.2020). Gabriel Ludwig Schrieber: Europa (Brennendes Dorf), 1948, abgebildet in: Manfred Fath, Inge Herold und Thomas Köllhofer (Hg.): Menschenbilder. Figur in Zeiten der Abstraktion (1945–1955). Ausst. Kat. Kunsthalle Mannheim. Ostfildern-Ruit 1998, S. 39. Jürgen Hans Grümmer: Europa und der Stier, 1956, Wandmosaik, Köln, Altstadt-Nord, Rathausplatz 1. Werner Tübke: Europa (aus dem Zyklus Fünf Kontinente), 1958, Öl in a la prima-Technik auf Holz, 245 x 245 cm, Bad Frankenhausen, Panorama Museum, siehe: https://www.hgbleipzig.de/kunstorte/fk_bild_europa.html (2.5.2020). Johannes Grützke: Europa auf dem Stier, auf der Mauer balancierend. Vorwärts oder rückwärts?, 1976, Pastell auf Packpapier, 100 x 72,5 cm, Berlin, Museum Haus Checkpoint Charlie, abgebildet in: von Plessen 2003 (wie Anm. 4), S. 296.

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30 Zum Werk Triegels vgl. Michael Koller und Jürgen Lenssen (Hg.): Michael Triegel – Sprache

der Dinge. Ausst. Kat. Museum am Dom Würzburg, Würzburg 2008; Karl Schwind (Hg.): Michael Triegel – Discordia concors, München 2018. 31 https://www.zeit.de/2017/53/leipziger-maler-michael-triegel-bistum-wuerzburg/seite-3 (01.01. 2020). 32 Michael Triegel: Traum der Europa, 2004, Mischtechnik auf MDF-Platte, 160 x 90 cm, Privatbesitz, abgebildet in: Schwind 2018 (wie Anm. 30), S. 77. 33 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Teil 1, Nr. 66 [1945]. In: Ders.: Werkausgabe, Bd.1. Frankfurt/M. 1984, S. 277.

Martin Papenbrock »Die Liebe ist die Freude der Armen.« Zuneigung und Intimität als soziale Motive in Bildern der zwanziger Jahre

Allegorische Darstellungen der Liebe sind in der bildenden Kunst keine Seltenheit.1 Oft werden sie in Form von Aktdarstellungen, meist in Darstellungen weiblicher Akte präsentiert. Seltener sind dagegen Bilder, die nicht die Erotik, sondern den emotionalen Austausch zwischen Mann und Frau in den Blick nehmen: Bilder der Zuneigung, der Zärtlichkeit, der Vertrautheit und Intimität. Solche Bilder finden sich auffallend häufig in Arbeiterdarstellungen der zwanziger Jahre, in Bildern des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Um dieses Phänomen soll es im Folgenden gehen. Die These ist, dass die Liebe – verstanden als das private Glück zwischen zwei Menschen – in diesen Bildern als soziales Motiv zu verstehen ist, das nicht nur die veränderten Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse in der Weimarer Republik abbildet, sondern den Anspruch der Arbeiter auf soziale Wertschätzung und gesellschaftliche Teilhabe kulturell und moralisch begründet, ähnlich wie die Fürsten der Renaissance ihren sozialen Status mit Darstellungen aus der antiken Mythologie kulturell zu begründen versuchten – nicht selten übrigens ebenfalls mit Darstellungen der Liebe. Die Beispiele, die vorgestellt werden, stammen von Conrad Felixmüller, Hans Baluschek, Hans Grundig, Max Lingner und Werner Hofmann. Auch ihre Bilder romantisieren und idealisieren die Liebe und sehen über die Folgen und Probleme hinweg, die sie in der sozialen Wirklichkeit der zwanziger Jahre insbesondere für die Frauen nach sich ziehen konnte. 2 Neu ist aber, dass die Liebe in den Darstellungen der Arbeiterpaare nicht mehr mythologisiert oder ritualisiert, sondern sozial codiert und damit als symbolische Form für eine gesellschaftliche Gruppe in Anspruch genommen wird, der eine entwickelte Gefühlskultur, die Grundlage und der Ausweis von Menschlichkeit, bis dahin – zumindest in der Kunst – nicht zugestanden wurde. Wenn man in der älteren Kunst nach Liebesdarstellungen im beschriebenen Sinne sucht, nicht nach konventionalisierten Verlöbnisbildern oder Ehepaarbildnissen, sondern nach Darstellungen der emotionalen Zuwendung und der körperlichen Nähe zwischen zwei Menschen, findet man nicht viele Beispiele. War es in der Zeit der Minne noch möglich, liebevolle, emotionale Paarbeziehungen in engem Körperkontakt zu zeichnen, wie etwa im Marburger Elisabethfester oder im Codex Manesse im 13. bzw. frühen 14. Jahrhundert zu sehen ist, erscheint das Verhältnis zwischen Mann und Frau bereits im Ausgang des Mittelalters, etwa im berühmten Gothaer Liebespaar aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bei aller Anmut schon rituell überformt. Diese Entwicklung setzte sich in der frühen Neuzeit fort.3 Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im Zuge der Lebensreformbewegung,4 taucht das Thema der emotionalen, intimen Zuwendung in der bildenden Kunst wieder verstärkt auf, insbesondere im Motiv des Kusses. Einige

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Abb. 1: Otto Mueller, Liebespaar, 1919

Martin Papenbrock

Abb. 2: Otto Schubert, Liebespaar, 1920

Beispiele sind inzwischen Klassiker der modernen Kunst: Auguste Rodins Kuss aus dem Jahr 1886 gehört dazu, ebenso Gustav Klimts Kuss aus den Jahren 1908/09 oder Constantin Brancusis Darstellung desselben Themas. In allen drei Fällen handelt es sich um Aktdarstellungen, wenn auch das Bild von Klimt durch das flächige Dekorum der Gewänder bzw. der Decke, die die beiden Liebenden umschließt, weitgehend körperlos sind. Bei aller emotionalen Nähe geht es doch in erster Linie um die Erotik als Metapher für die Liebe. Die Darstellungen sind daher eher als moderne Allegorien der Liebe zu verstehen, weniger als konkrete Zeugnisse der gesellschaftlichen Bedeutung der Liebe zu ihrer Zeit. Über den Expressionismus, der ebenfalls stark in der Tradition der Lebensreformbewegung wurzelt, gelangte das Thema der Liebe nach dem Ersten Weltkrieg in die Kunst der zwanziger Jahre. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ist – wie auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – eine Konjunktur dieses Motivs in den Künsten festzustellen. Liebe wird als Gegensatz zum Krieg gedacht – wie im Übrigen auch in vielen Mars- und Venusdarstellungen in verschiedenen Jahrhunderten – und ist in diesem Sinne eher als Friedensutopie denn als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse oder konkreter Konzepte im Hinblick auf das Verhältnis von Mann und Frau zu sehen. Darstellungen von Liebespaaren setzten weiterhin auf Nacktheit und Erotik, wie etwa das Liebespaar (Abb. 1)5 des Brücke-Malers Otto Mueller aus dem Jahr 1919 oder der Holzschnitt Liebespaar (Abb. 2)6 des Dresdner Malers und Grafikers Otto Schubert aus dem Jahr 1920. Typisch sind nach wie vor die Motive der Umarmung und die Nähe der Gesichter, allerdings auch die Inszenierung des weiblichen Akts, das Posieren, das schon bei Rodin und Klimt zu beobachten war und vor allem in dem Bild von Otto Mueller auffällt.

»Die Liebe ist die Freude der Armen.« Zuneigung und Intimität als soziale Motive

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Conrad Felixmüller Otto Schubert gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu den Mitbegründern der »Dresdner Sezession Gruppe 1919«, zu denen neben Otto Dix auch Conrad Felixmüller zählte.7 Felixmüller war in den zwanziger Jahren einer den ersten Künstler, die das Thema Liebe sozial definierten bzw. akzentuierten. Ein frühes Beispiel – und wenn man so will einer der Prototypen der Bildgattung ›Arbeiterliebe‹ – ist das Aquarell Liebespaar im Regen (Abb. 3)8 aus dem Jahr 1922, das sich heute in den Kunstsammlungen in Chemnitz befindet. Anders als in den meisten früheren Darstellungen ist die Liebe in diesem Bild räumlich und sozial situiert. Die Liebenden werden nicht mehr als Akte dargestellt, sondern als Menschen, die durch ihre Kleidung und insbesondere Abb. 3: Conrad Felixmüller, Liebespaar im durch die Kopfbedeckung des Mannes, Regen, 1922 die Ballonmütze, die in den zwanziger Jahren als Arbeitermütze galt, als Arbeiter definiert sind. Ihre Zuneigung, ihre Liebe hat ihren Ort nicht in geschlossenen Räumen, sondern draußen in der Natur. Felixmüller greift damit einen Topos auf, den schon die Brücke-Künstler verwendet hatten, den ›locus amoenus‹, den lieblichen Ort, der seit der antiken Schäferdichtung, seit Vergil, ein bekanntes Motiv sozialer und politischer Utopien in den Künsten ist. Felixmüller setzt auf den Kontrast zwischen der Natur als dem Ort der Liebenden und der Architektur im Hintergrund, einem bürgerlichen Wohnhaus, und setzt auf diese Weise mit seinem Arbeiterliebespaar einen symbolischen Gegenakzent zur bürgerlichen Kultur. Der Regen ist in diesem Zusammenhang wohl nicht als Einschränkung der Liebesidylle zu interpretieren, sondern als ›Segnung‹ der Liebenden durch die Natur. Sozialkultureller Hintergrund dieser romantiserenden Idylle waren die beengten Lebens- und Wohnverhältnisse in der Weimarer Republik, die den Arbeiterinnen und Arbeitern oft gar keine andere Möglichkeit ließen, als ihre Zweisamkeit in der Natur auszuleben.9 Insbesondere in seiner Druckgraphik und in seinen Zeichnungen hat Felixmüller das Motiv des zeitgenössischen Arbeiterliebespaares immer wieder aufgegriffen und variiert. 1920 hatte er den Sächsischen Staatspreis der Dresdner Kunstakademie erhalten und ihn nicht wie üblich für einen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom genutzt, sondern für Studienaufenthalte im sächsischen Steinkohlerevier und im Ruhrgebiet ›zweckentfremdet‹. Während seines Aufenthaltes im Ruhrgebiet entstanden Tuschezeichnungen wie Liebespaar am Fabriktor10 oder Liebespaar im Kohlenrevier (Abb. 4)11. Neben dem Kuss und der Umarmung ist es in diesen Darstellungen der Gleichschritt, der den Ein-

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Abb. 4: Conrad Felixmüller, Liebespaar im Kohlenrevier, 1922

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Abb. 5: Conrad Felixmüller, Liebespaar im Industriegelände, 1922

druck von Nähe, Vertrautheit und Gleichberechtigung zwischen den beiden unterstützt. Weitere Beispiele sind die Tuschezeichnungen Liebespaar im Industriegelände (Abb. 5)12 von 1922 und Liebespaar in Fabriklandschaft13 von 1923. Für diese Arbeiten sind typisch: der abgeschiedene Ort, an dem sich die Liebenden befinden, der Gegensatz zwischen dem städtischen Hintergrund und der natürlichen Umgebung der Liebenden im Vordergrund und die Fabrikarchitektur, die den sozialen Status der Liebenden definiert, das heißt sie als Arbeiter kennzeichnet. Das gilt auch für den Holzschnitt Nächtliche Vorstadtliebe14 aus dem Jahr 1923. Einige Muster aus seinen Darstellungen von Arbeiterliebespaaren hat Felixmüller später, in seiner neusachlichen Phase, im Selbstbildnis Liebespaar vor Dresden (Abb. 6)15 von 1928 wieder aufgegriffen, das ihn zusammen mit seiner Frau Londa zeigt. Auch hier finden wir wieder den Gegensatz zwischen Stadt und Land, die Umarmung, das Einander-zugeneigt-sein und den Gleichschritt bzw. den Parallelismus in der Haltung und den Bewegungen. Die Kleidung des Künstlers entspricht nicht der eines Arbeiters, sondern markiert seine Zugehörigkeit zum Bürgertum. Mit seiner Kopfbedeckung signalisiert er aber seine Sympathie für die Arbeiter und seine Identifikation mit ihrer Kultur und ihren Werten. Hans Baluschek Der Berliner Maler und Zeichner Hans Baluschek16 hatte im Gegensatz zu Felixmüller keinen Kontakt zur Avantgarde, das heißt keine direkte Verbindung zum Expressionismus. Er gehörte der Generation von Ernst Barlach und Käthe Kollwitz an, war im Ver-

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gleich zu diesen beiden aber stilistisch aus der Zeit gefallen. Man könnte ihn als Naturalisten bezeichnen, ein Etikett, das ihm auch von seinen Zeitgenossen angeheftet wurde, andere bezeichnen seine Arbeiten als ›proletarische Kunst‹, was aber nur zum Teil zutreffend ist.17 Baluschek war ein zu seiner Zeit etablierter Berliner Maler und Illustrator, der sich durch Porträts, vor allem aber durch Milieustudien einen Namen gemacht hat, in den zwanziger Jahren vor allem durch Darstellungen des Arbeiterlebens. Das Gouache/Pastell Feierabend (Abb. 7)18 aus dem Jahr 1925 zeigt ein Paar auf einer Brücke, angelehnt an ein Geländer und umgeben von einem Industriegelände mit Eisenbahn und rauchenden Schornsteinen im Hintergrund. Nicht nur die architektonische Umgebung, auch die Kleidung und die Kopfbedeckung des Mannes definieren das Paar als Arbeiterliebespaar. Die Fluchtlinien laufen auf die Köpfe der beiden Liebenden zu. Der Mann beugt Abb. 6: Conrad Felixmüller, Liebespaar vor sich zur Frau hin, ist ihr buchstäblich Dresden, 1928 ›zugeneigt‹, und sie erwidert diese Bewegung durch ihre Körperhaltung und die Neigung ihres Kopfes. Beide haben die Augen geschlossen, er scheint ihr etwas zuzuflüstern. Die Abendsonne fällt auf das Gebäude, das die Köpfe der beiden hinterfängt, und bringt es dadurch quasi zum Glühen. Dieses Motiv paraphrasiert die emotionale Nähe zwischen den beiden, die Wärme, die zwischen den beiden besteht. Eine Paraphrase der Situation sind auch die Graffitis an den Seiten des Geländers. Links, auf der Seite des Mannes, erkennt man eine kindliche Kreidezeichnung mit einem Mann neben einem Haus, rechts neben der Frau eine gezeichnete Frau mit einem Kinderwagen. Möglicherweise deutet sich in diesen Motiven das an, was der Mann der Frau zuflüstert bzw. beide im Sinn haben: eine gemeinsame Zukunft, die Gründung einer Familie, ein gemeinsames Zuhause: die Utopie einer bürgerlichen Zukunft, soweit sie für Arbeiterpaare in der damaligen Zeit denkbar war. Offenbar schien die Verbesserung der Lebens- und Arbeitssituation der Arbeiter in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre den Raum für solche Träume zu bieten. Das Motiv der vorsichtigen Annäherung der Geschlechter hat Baluschek in der Lithografie Arbeiterjugend (Abb. 8)19, einem Blatt aus seinem Zyklus Volk aus dem Jahr 1925, variiert. Hier haben wir wieder einen Ort außerhalb der Stadt (wie wir das bei Felixmüller gesehen haben) und jugendliche Paare, die vorsichtig Kontakt aufnehmen.

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Abb. 7: Hans Baluschek, Feierabend, 1925

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Abb. 8: Hans Baluschek, Arbeiterjugend, 1925

Baluschek zeigt unterschiedliche Phasen der Annäherung bzw. Vertrautheit, vom zaghaften Umfassen beim Paar rechts im Vordergrund bis zur engeren Umarmung beim sitzenden Paar im Mittelgrund des Bildes, bei dem die Zuneigung schon etwas ausgeprägter und enger ist. Dass diese Form der ›Arbeiterliebe‹ nicht allein ein individuelles Phänomen, sondern eine offenbar verbreitete kulturelle Praktik des Arbeitermilieus war, deutet sich in der Lithografie mit den drei Paaren bereits an. Deutlicher noch wird es in Baluscheks Bild Sommerabend (Abb. 9)20, einem Gemälde aus dem Jahr 1928, das sich heute in der Berlinischen Galerie befindet. Am Rande einer blockhaften Wohnbebauung, die im Hintergrund von Gleisanlagen und einem Fabrikgelände gerahmt wird (was die Szene im Vordergrund entsprechend situiert und sozial definiert) sehen wir Paare und kleine Gruppen, die sich im Mondschein treffen und in unterschiedlicher Weise vertraut miteinander sind: Paare, die in der uns bekannten Weise einander zugeneigt sind (wie das Paar links im Mittelgrund), aber auch Paare, die schon etwas weitergehen (wie in der Szene hinten links zu sehen ist). Die insgesamt entspannte Atmosphäre des Bildes wird vor allem durch das Paar links im Vordergrund bestimmt, bei dem der Mann seinen Kopf in den Schoß der Frau legt, die sich zu ihm herunterbeugt und ihn in den Arm nimmt. Die beiden sehen sich in die Augen, der Mann raucht eine Zigarette. Die Erholung von der Arbeit, die in diesem Motiv des sich in den Armen der Frau ausruhenden Mannes angesprochen ist, und die Praxis des Annäherung und des liebevol-

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Abb. 9: Hans Baluschek, Sommerabend, 1928

len Umgangs unter den Paaren gehören offenbar zusammen. Sozialgeschichtlicher Hintergrund ist die Einführung des Achtstundentages, eine der ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung und eine der wichtigsten Errungenschaften der Weimarer Republik, der den Arbeitenden Freizeit (die zuvor ein bürgerliches Privileg war) und die Möglichkeit der Erholung sicherte. Es ist sicher kein Zufall, dass die Darstellung von Arbeiterliebespaaren zeitlich mit der neuen Arbeitszeitbeschränkung zusammenfällt. Hans Grundig Das Motiv der liegenden (Arbeiter-)Liebespaare im Freien, in dem dieser Zusammenhang zwischen der längeren Erholung von der Arbeit und der Gelegenheit zur Liebe sinnfällig wird, speziell in der Akzentuierung der sich über den liegenden Mann beugenden Frau, findet sich nicht nur bei Baluschek, sondern zur selben Zeit auch beim Dresdner Maler Hans Grundig. Sein Liebespaar (Abb. 10)21 aus dem Jahr 1925 liegt im Grünen, in der freien Natur, offenbar weitab jeder Stadt oder Industrie, von der nichts zu sehen ist. Rechts im Hintergrund scheint sich das Motiv des Liebespaares, dieses Mal stehend und eng umschlungen, zu wiederholen. Beim Liebespaar im Vordergrund soll es sich um den Maler selbst und seine damalige Freundin handeln.

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Abb. 10: Hans Grundig, Liebespaar, 1925

Das Bild zählt zu den frühen Arbeiten von Hans Grundig. Als er es gemalt hat, war er noch Student an der Dresdner Akademie. Im Unterschied zu den Darstellungen etwa von Hans Baluschek, aber auch zu den Bildern von Felixmüller, ist das Motiv des zentralen Liebespaares etwas stärker erotisiert, durch die Kleidung und die Arbeitermütze des Mannes aber auch sozial definiert. In der Aufmachung der Frau klingt das Prostituiertenbild der zwanziger Jahre an. Grundig spielt aber nur mit dieser Assoziation. Zwar fällt auf, dass trotz Umarmung und körperlicher Nähe die Köpfe der beiden Dargestellten weit voneinander entfernt sind und sie sich nicht ansehen, ebenso auffällig ist aber auch, dass über eine subtile Pflanzensymbolik das Verhältnis zwischen den beiden als ein zärtliches beschrieben wird: durch die jungen Bäume im Mittelgrund, die einander zugeneigt sind, und durch die Geste des Mannes, der eine Blume berührt, genauer gesagt vorsichtig mit seinen Fingern zwischen die Blätter einer Blüte fasst. Den Rezensenten der Ausstellung, in der das Bild zum ersten Mal gezeigt wurde, ist die Zärtlichkeit dieser Geste offenbar entgangen. Das Bild rief starke Empörung hervor und stieß auf heftige Ablehnung. Hans Weigert schrieb in den Dresdner Nachrichten über Grundig: »Sein geistiger Bezirk ist ungefähr der eines stumpfen Fabrikarbeiters […]: wochentags Klassenhaß und sonntags die sogenannte Liebe (soweit man grobe Sexualität als Liebe bezeichnen kann).«22 In einer anderen, anonym verfassten Rezension hieß es: »Dafür taucht Grundig bis zum Ekel tief in das niedrigste Behagen ein.«23 Vielleicht kann Grundigs Bild als Arbeitervariante von Manets Frühstück im Freien gelesen werden, das zu seiner Zeit ebenso heftige Kritik erfahren hat. In diesem Fall

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Abb. 11: Max Lingner, Liebespaar I, 1926, Titelillustration für Monde, 1930

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Abb. 12: Max Lingner, Arbeiterliebe IV, 1929

müsste man das Bild auf einer Meta-Ebene als selbstbewusste Definition des Anspruchsniveaus der Arbeiterkunst und -kultur verstehen, die ihren Platz in der Kunstgeschichte wie in der Gesellschaft einfordert. Überhaupt scheint es in Grundigs Bild sehr stark um den Habitus des Künstlers, um die Suche nach seinem gesellschaftlichen Ort zwischen Boheme und Arbeiterklasse zu gehen. Wohin es gehen sollte, deutete sich in diesem Bild schon an, war aber zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht entschieden. Max Lingner Ganze Serien von Arbeiterliebespaaren, im Grunde alles Variationen desselben Typs, hat in den späten zwanziger Jahren Max Lingner gezeichnet, der in Leipzig geborene Maler und Pressezeichner, der seit 1928 in Paris lebte, dort zunächst als Illustrator für die Zeitschrift Monde arbeitete und seit den frühen dreißiger Jahren für L´Humanité zeichnete, die Zeitschrift der französischen kommunistischen Partei, deren Mitglied Lingner war.24 Die erste Folge von Liebespaaren, eine Serie von vier Lithografien, hatte er noch in Deutschland entworfen und sie an Käthe Kollwitz geschickt, die ihm zum Dank dafür schrieb: »Sehr geehrter Kollege, haben Sie Dank für die 4 schönen großen Lithos. Mir ist diese am liebsten, wo das Mädchen etwas bekleidet ist u. das küssende Profil des Mannes gegen ihren Kopf absetzt. Das Blatt ist sehr schön.«25 Dieses Blatt wurde später (1930) auch als Titel-Illustration für die der französischen KP nahestehende Wochenzeitung Monde (Abb. 11)26 eingesetzt.

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Die verschiedenen Versionen seiner ›Arbeiterliebe‹ unterscheiden sich nur in Details. Das Grundmuster, das hier erstmals auftaucht, ist in allen späteren Varianten dasselbe: Eine junge Frau sitzt auf dem Schoß eines Mannes, der sie zu küssen versucht. Sie haben sich an den Schultern umfasst und halten ihre Hand. Arme und Hände beschreiben einen Kreis, der das enge Verhältnis, die Zusammengehörigkeit der beiden versinnbildlicht (so wie der Ring das Symbol der Ehe ist). Das Gesicht des Mannes ist im Profil dargestellt, das der Frau frontalansichtig. Der Mann drängt, aber die Frau – und das ist das Besondere, vor allem im Gegensatz zu den früheren Kuss-Bildern der Jahrhundertwende – erliegt nicht willenlos seinem Drängen, indem sie seinen Kuss erwidert und in seinen Armen versinkt, Abb. 13: Werner Hofmann, Unter einer Brüsondern bleibt Herrin der Lage, bewahrt cke, 1931/32 buchstäblich ihre aufrechte Haltung. Dieses Selbstbewusstsein der Frau hat Lingner besonders interessiert, und er hat es deshalb in Nuancen immer wieder variiert, insbesondere in seiner Serie Arbeiterliebe (Abb. 12: Arbeiterliebe IV)27, einer Folge von fünf Gouachen aus dem Jahr 1929. Mal sind die Münder näher beieinander, mal weiter voneinander entfernt, mal hält die Frau ihren Kopf aufrecht, mal leicht geneigt. Lingner betont in diesen Bildern die Vitalität und das Selbstbewusstsein der jungen Arbeiterinnen, die in seinen Darstellungen nicht Opfer der sozialen Verhältnisse oder der untergeordnete Part in einer Zweierbeziehung sind, sondern selbstbestimmt auftreten. Wenn man das Werk von Max Lingner genauer ansieht, kann man feststellen, dass genau das seine Arbeiten auszeichnet. Lingner war ein Zeichner und Maler selbstbewusster junger Frauen, nicht nur in den zwanziger Jahren, sondern auch in den dreißiger Jahren in Paris und auch nach dem zweiten Weltkrieg, als er nach Deutschland, das heißt in die DDR, zurückkehrte. Werner Hofmann Von Werner Hofmann, einem der Mitbegründer der Dresdner ASSO, der heute kaum noch bekannt ist, stammt das Gemälde Unter einer Brücke (Abb. 13)28, entstanden in den Jahren 1931/32 und heute in der Galerie Neue Meister in Dresden. Dieses Bild, dessen Figurenstil an Hans Grundig orientiert ist, dessen Liebende aber enger umschlungen und stärker aufeinander bezogen sind (ihre Arme und Hände beschreiben einen Kreis, der sie umschließt), betont anders als die Künstler vor ihm die sozialen Gegensätze zwischen dem Arbeiterliebespaar, das seine Zweisamkeit unter einer

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dunklen Brücke lebt, und dem für sie offenbar unerreichbaren, mondänen ›Hotel Deutsches Haus‹ im Hintergrund mit dem teurem Auto vor dem hell erleuchteten Eingangs- und Empfangsbereich. Das ›Hotel Deutsches Haus‹ steht sinnbildlich für die deutsche Gesellschaft, an deren Wohlstand die Arbeiter offenbar nicht partizipieren. Auch ihre Liebe, die für ihre Kultur und ihre Werte steht, hat hier keinen Platz. Die Beiden finden hier keine Bleibe und müssen Schutz unter einer Brücke suchen, beinahe wie Maria und Josef bei ihrer Herbergssuche in Bethlehem. Der Ort, an dem sich die Liebenden befinden, ist ein ganz anderer als bei Felixmüller, Baluschek oder Grundig, kein ›locus amoenus‹, keine Naturidylle, sondern im Gegenteil ein – wie man heute mit Abb. 14: Werner Hofmann, Die Liebe ist die Freude der Armen, 1931/32 Augé sagen würde – Nicht-Ort, ein Ort, an dem man sich nicht aufhält, sondern den man eher meidet. Ein Rest von Natur findet sich noch im Löwenzahn, der aus dem Pflaster wächst. Zwei Pflanzenstengel, die verschlungen sind, paraphrasieren das Liebespaar, Blütenstand und Fruchtstand der Pflanze das Aufblühen und die Vergänglichkeit der Liebe. Auch die Liebe ist anders akzentuiert als in den früheren Bildern: nicht mehr als privates Glück, sondern als gegenseitiger Schutz. In dieser semantischen Verschiebung spiegeln sich die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen der Weimarer Zeit wider: von den Hoffnungen und der Zuversicht der frühen zwanziger Jahre bis zur sozialen Not und Aussichtlosigkeit gegen Ende des Jahrzehnts, in den Jahren der Weltwirtschaftskrise. Die Darstellungen der Liebe bzw. der Liebespaare können als Barometer dieser Entwicklung verstanden werden. Von dem Bild von Werner Hofmann gibt es eine Variante als Linolschnitt (Abb. 14)29, die sich in einigen Details vom Gemälde unterscheidet (es fehlen unter anderem das ›Hotel Deutsches Haus‹ im Hintergrund und die Pflanzensymbolik im Vordergrund). Auffällig ist insbesondere das Graffiti am Brückenpfeiler oberhalb des Liebespaares. In Sütterlin steht dort: »Die Liebe ist die Freude der Armen«. Das Graffiti markiert wie bei Baluschek den Aufenthaltsort der Liebenden als einen vernachlässigten Ort innerhalb der Stadt, eine ›dunkle Ecke‹, die sinnbildlich für einen sozialen Randbereich steht. Die Arbeiter, die sich in dem Bild von Baluschek noch in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft imaginierten (so jedenfalls waren die Graffitis in diesem Bild zu deuten), sind bei Hofmann wieder zurück an den Rand gedrängt.

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Liebe und Arbeit in der Weimarer Republik Die Gattung der Arbeiterliebespaare war eine Erscheinung der Weimarer Zeit. Schon Harald Olbrich30, Ursula Horn31 und Hannelore Gärtner32 haben in unterschiedlichen Zusammenhängen auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. In den Ausstellungen Revolution und Realismus (Berlin/DDR 1978) und Kunst im Aufbruch (Dresden 1980) wurden Beispiele gezeigt.33 Olbrich hat eine Reihe weiterer Darstellungen von Arbeiterliebespaaren in der Kunst der zwanziger Jahre aufgeführt.34 Die Bilder wurden als Sozialkritik, aber auch als Artikulation eines individuellen Glücksanspruchs interpretiert.35 1933 endete die kurze Geschichte der Arbeiterliebespaare in der Kunst. Zwar gab es auch in den Abb. 15: Rudolf Bergander, Liebespaar, 1932 ersten Jahren nach 1933 noch Darstellungen von liebenden Paaren, diese wurden aber unter den neuen politischen Bedingungen anders akzentuiert. Selbst Künstler aus dem politisch linken Spektrum blieben von den ästhetischen Normverschiebungen, die der Nationalsozialismus betrieb, nicht unberührt. Die Figuren und Umgebungen wurden tendenziell rustikaler dargestellt, das Verhältnis zwischen den Paaren kameradschaftlicher.36 Auch die Physiognomien wurden dem Stil der NS-Zeit angepasst. Vor allem aber fehlten die Hinweise auf das Arbeitermilieu und die Industriegesellschaft. Die Arbeiterliebespaare in der Kunst der zwanziger und frühen dreißiger Jahre lebten von dem Kontrast zwischen der körperlich harten und psychisch belastenden Arbeitswirklichkeit der Akteure, die den sozialen Hintergrund bildet, und den unvermutet zarten Gesten der Liebe und der Zuneigung, zu denen sie fähig sind, kurz dem Kontrast zwischen der Körperlichkeit der Arbeit und der Körperlichkeit der Liebe. Dass ausgerechnet die Arbeiter die Idee der romantischen Liebe umsetzten – zumindest in der Kunst –, kam in den Weimarer Jahren vielleicht unerwartet, aber nicht von ungefähr. Die sogenannte romantische Liebe, die auf emotionaler Zuwendung gründet, hatte ihren Ursprung in der Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. 37 In dieser Zeit war sie eher soziale Utopie als gesellschaftliche Realität, ein Ideal, mit dem sich das Bürgertum vor und nach der französischen Revolution gegenüber dem Adel, seinen Lebensweisen und kulturellen Formen abgrenzte, zugleich ein soziales Symbol friedlichen und gleichberechtigten Miteinanders, das die Ansprüche auf gesellschaftliche Par-

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tizipation des Bürgertums moralisch zu legitimieren versuchte. In der Realität setzte sich dieses Ideal im 19. Jahrhundert (noch) nicht durch – ebensowenig übrigens wie die Demokratie. Das präferierte soziale Modell war bis ins frühe 20. Jahrhundert nicht die romantische Liebe, sondern die ›vernünftige Liebe‹, die die ökonomische Basis für eine funktionierende Beziehung höher einschätzte als die emotionale Basis. Mit Blick auf die Ehe, die gesellschaftlich legitimierte und institutionalisierte Form der Liebe, gingen die Anstrengungen also vor allem dahin, die ökonomische Grundlage einer Beziehung zu sichern. Bessere Chancen hatte die romantische Liebe bei den besitzlosen Schichten. Karl Lenz hat dazu festgestellt: »Je weniger wichtig der Besitz für eine Ehe ist, sei es als Erwerbsquelle oder Mitgift, je stärker der Lebensunterhalt aus unselbständiger Arbeit bestritten wird und je mehr sich die Berufswelt – zumindest als Alternative – auch für die Frauen öffnet, desto mehr Raum kann den Gefühlen der Beteiligten zugestanden werden. Dies alles waren Bedingungen, die für die sich im Zuge der Industrialisierung Arbeiterschaft vorhanden waren. Aber ihre schlechte wirtschaftliche Lage und damit einhergehend geringerer Grad an Individualisierung scheinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert einer Übernahme des kulturellen Ideals der Liebesheirat entgegengewirkt zu haben. […] Erst mit der allmählichen Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und mit dem ›Erfolg‹ von moralisch-ideologischen Kampagnen, deren Adressat/innen vor allem die proletarischen Frauen waren, konnte die Norm der Liebesheirat auch verstärkt im Arbeitermilieu Fuß fassen.«38

Ein Ausdruck dieser Entwicklung sind die Bilder der Arbeiterliebespaare in der Kunst der zwanziger Jahre. Das Graffiti »Die Liebe ist die Freude der Armen«, offenbar eine zeitgenössische Volksweisheit, so wie Hofmann sie in seiner Grafik zitiert, bringt den Zusammenhang zwischen Besitz und romantischer Liebe, wie die Soziologie ihn darstellt, auf den Punkt. Nicht von ungefähr kommen diese Bilder erst in einer demokratisch verfassten Gesellschaft auf, die den Frauen das Wahlrecht bringt und die berufliche Selbständigkeit ermöglicht und zugleich der Arbeiterschicht eine höhere Wertschätzung entgegenbringt, ihr mehr Freizeit und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und – zumindest in der Mitte der zwanziger Jahre, als sich die Arbeiterliebespaare in der Kunst häufen – auch bescheidenen Wohlstand und eine bürgerliche Existenz in Aussicht stellt. Olbrich, der in den Bildern der romantischen Liebe unter Arbeitern im Übrigen eine Abgrenzung zu den Prostituiertenbildern der zwanziger Jahre sieht, spricht in diesem Zusammenhang von einem »Glücks- und Zukunftsanspruch von Arbeitern«39, der in diesen Bildern erhoben werde. Als sich gegen Ende der Weimarer Zeit die wirtschaftlichen Bedingungen wieder verschlechtern und die sozialen Konflikte zunehmen, sind bei den Arbeiterliebespaaren in der Kunst zunächst Akzentverschiebungen in Form von desillusionierten Darstellungen wie bei Werner Hofmann, aber etwa auch in einem Liebespaar (Abb. 15) von Rudolf Bergander aus dem selben Jahr,40 festzustellen, bevor sie schließlich ganz verschwinden. Was das Verhältnis der Arbeiterliebespaare zu den Prostituiertenbildern betrifft, von Arbeiterkultur und Prostitution insgesamt, so hat der sozialdemokratische und später rätekommunistische Politiker und Kulturhistoriker Otto Rühle 1930 in seiner Illustrier-

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ten Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats darauf hingewiesen, dass die Moral der Arbeiterschaft Prostitution und Prostituierte ablehnte. 41 Rühle selbst forderte dagegen die Arbeiter zur Solidarität mit den Prostituierten auf, weil sich beide aus seiner Sicht in derselben gesellschaftlichen Situation befanden. In den Bildern von Grundig und Hofmann, in denen sich das Arbeiter- und das Prostituiertenbild annähern, klingt dieses Argument an. Auf der anderen Seite begrüßte Rühle die »Tendenz zur Ausschaltung der Prostitution und zu ihrer Ersetzung durch würdigere Bindungen«42, wie er es formulierte, eine Entwicklung, die er insbesondere in den Reihen der Jugend feststellte. Mit Max Hodann, einem der Pioniere der marxistischen Sexualpädagogik, sah er darin eine »Wendung zum Besseren«43. Die Arbeiterliebespaare in der Kunst der Weimarer Republik sind einerseits ein Symptom sozialer Veränderungen und einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit und andererseits Ausdruck sozialer Hoffnungen, aber natürlich auch sozialer Enttäuschungen. Mit der Liebe, insbesondere mit der romantischen Liebe, wird in der Geschichte der Kunst oft eine gesellschaftliche Utopie verknüpft. Das gilt für das Motiv des ›locus amoenus‹ in der Antike und in der Renaissance ebenso wie für das der Liebesinsel Kythera im Barock und letztlich auch für die Arbeiterliebespaare der zwanziger Jahre. Dass dies funktioniert, ist ein Zeichen dafür, dass zumindest auf der Diskurs-Ebene der Wert der Liebe höher eingestuft wird als der von Besitz und Macht. Und in der Kunst funktioniert es nur, weil es für diese Wertsetzung einen Konsens, einen entsprechenden Rückhalt zumindest in Teilen der Gesellschaft gibt. Und das wiederum ist – unabhängig von der sozialen Wirklichkeit – ein gutes Zeichen. 1 Vgl. etwa die Zusammenstellungen in: Alfred Langer: Liebespaare in der Kunst. Leipzig

1973; Sabine Poeschel: Die Kunst der Liebe. Meisterwerke aus 2000 Jahren. Darmstadt 2018. 2 Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Carola Lipp: Carola Lipp: »Die Innenseite der Arbei-

terkultur. Sexualität im Arbeitermilieu des 19. und frühen 20. Jahrhunderts« In: Richard von Dülmen: Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt/Main 1990, S. 214–259; zuvor in gekürzter Form: Carola Lipp: »Sexualität und Heirat« In: Wolfgang Ruppert (Hg.): Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur von der Frühindustrialisierung bis zum »Wirtschaftswunder«. München 1986, S. 186–197. Eine der wichtigsten Quellen ist die autobiographische Darstellung von Adelheid Popp: Jugend einer Arbeiterin.Wien 2019 (zuerst anonym als Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin, von ihr selbst erzählt. Mit einführenden Worten von August Bebel. München 1909). Vgl. auch das Kapitel »Sexualität, Partnerwahl und Heirat« in: Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie. Frankfurt/Main 1987, S. 198–211. 3 Vgl. Berthold Hinz: Das Ehepaarbildnis. Seine Geschichte vom 15. bis 17. Jahrhundert. Diss. Münster 1969. Zum sozialhistorischen Hintergrund von Liebe und Ehe in der frühen Neuzeit vgl. Richard von Dülmen: »Fest der Liebe. Heirat und Ehe in der frühen Neuzeit« In: Ders. (Hg.): Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt/Main 1988, S. 67–106. 4 Zur Lebensreform und ihre Auswirkungen auf die Kunst vgl. Diethard Kerbs, Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Wuppertal 1998; Kai Buchholz (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Ausst.-Kat Mathildenhöhe Darmstadt. 2 Bde. Frankfurt/Main 2001.

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5 Otto Mueller: Liebespaar, 1919, Öl/Lw., Museum der bildenden Künste Leipzig. 6 Otto Schubert: Liebespaar, um 1920, Holzschnitt. Abb. in: Ausst.-Kat. Kunst im Aufbruch.

Dresden 1918-1933. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Dresden 1980, S. 320, Nr. 474. 7 Vgl. Fritz Löffler: »Die Dresdner Sezession, Gruppe 1919. 1919 bis 1925« In: Ausst.-Kat.

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Dresden 1980 (wie Anm. 1), S. 39–61. Zu Felixmüller vgl. Dieter Gleisberg: Conrad Felixmüller. Leben und Werk. Dresden 1982; Christian Rathke (Hg.): Conrad Felixmüller. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik, Skulpturen. Ausst.-Kat. SchleswigHolsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig. Neumünster 1990. Conrad Felixmüller: Liebespaar im Regen, 1922, Aquarell, Kunstsammlungen Chemnitz – Museum Gunzenhauser. Zu den Wohnverhältnissen vgl. Sieder 1987 (wie Anm. 2), S. 216–217. Conrad Felixmüller: Liebespaar am Fabriktor, 1920, Tuschezeichnung, Privatbesitz. Abb. in: Ausst.-Kat. Schleswig (wie Anm. 7), S. 192, Kat.-Nr. 120. Conrad Felixmüller: Liebespaar im Kohlenrevier, 1921, Tuschezeichnung, Privatbesitz. Abb. in: Ausst.-Kat. Schleswig (wie Anm. 7), S. 193, Kat.-Nr. 121. Conrad Felixmüller: Liebespaar im Industriegelände, 1922, Tuschezeichnung, Privatbesitz. Abb. in: Ausst.-Kat. Schleswig (wie Anm. 7), S. 198, Kat.-Nr. 129. Conrad Felixmüller: Liebespaar in Fabriklandschaft, 1923. Abb. in: Ausst.-Kat. Revolution und Realismus. Revolutionäre Kunst in Deutschland 1917 bis 1933. Staatliche Museen zu Berlin. Berlin/DDR 1978, S. 61. Conrad Felixmüller: Nächtliche Vorstadtliebe, Holzschnitt, 1923. Abb. in: Ausst.-Kat. Berlin/DDR 1978 (wie Anm. 13), S. 61. Conrad Felixmüller: Liebespaar von Dresden, 1928, Öl/Lw., Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Abb. in: Ausst.-Kat. Schleswig (wie Anm. 7), S. 115, Kat.-Nr. 36. Vgl. Ausst.-Kat. Hans Baluschek 1870-1935. Staatliche Kunsthalle Berlin. Berlin 1991. Darin besonders: Sigrid Jacobeit: »Hans Baluscheks Frauendarstellungen – Bildquellen zur Frauengeschichte« (S. 113–153). Vgl. auch: Sigrid Jacobeit: »Proletarierfrauen in der bildenden Kunst des 19./20. Jahrhunderts. Das Beispiel Hans Baluschek« In: Frauenalltag – Frauenforschung. Beiträge zur 2. Tagung der Kommission Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Freiburg 22.–25. Mai 1986. Frankfurt am Main 1988, S. 190–203. Zu dieser Diskussion vgl. Harald Olbrich: »Hans Baluschek und die proletarische Kunst« In: Ausst.-Kat. Berlin 1991 (wie Anm. 9), S. 18–27, hier S. 18. Hans Baluschek: Feierabend, 1925, Gouache-Pastell auf Papier, Märkisches Museum Berlin. Abb. in: Ausst.-Kat. Berlin 1991 (wie Anm. 9), S. 17, Kat. Nr. 112. Hans Baluschek: Arbeiterjugend, 1925, Lithographie, Bröhan-Museum Berlin. Abb. in: Ausst.-Kat. Berlin 1991 (wie Anm. 16), S. 148, Kat. Nr. 278. Hans Baluschek: Sommerabend, 1928, Öl/Lw., Berlinische Galerie. Abb. in: Ausst.-Kat. Berlin 1991 (wie Anm. 16), S. 39, Kat. Nr. 32. Hans Grundig: Liebespaar, 1925, Öl/Lw., Staatliche Museen Berlin. Abb. in: Günter Feist: Hans Grundig. Dresden 1979, Tafel 21. Zit. nach Feist 1979 (wie Anm. 21), S. 331, Anm. 21. Zit. nach ebd., S. 332, Anm. 21. Zu Lingner vgl. Max Lingner – Werkverzeichnis 1898 bis 1931/32. Bearbeitet von Eleonore Sent. Berlin 2004. Zit. nach ebd., S. 155.

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26 Max Lingner: Arbeiterliebe. Titelblatt Monde, Nr. 121, 27.09.1930. Abb. in: Max Lingner

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1888-1959. Gemälde, Zeichnungen, Pressegraphik. Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin. Berlin/DDR 1988, S. 161, Kat. Nr. 269. Max Lingner: Arbeiterliebe IV, um 1929, Privatbesitz. Abb. in: Ausst.-Kat. Berlin 1988 (wie Anm. 26), S. 68, Kat.-Nr. 69. Werner Hofmann: Unter einer Brücke, 1931/32, Öl/Lw., Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Abb. in: Birgit Dalbajewa (Hg.): Neue Sachlichkeit in Dresden. Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Dresden 2011, S. 243. Zu Werner Hofmann vgl. Ausst.-Kat. Werner Hofmann. Maler und Grafiker Dresden 1907–1983. Mitglied der ASSO. Bearbeitet von Arnold Orlik. Dresdner Schloss. Dresden 1983. Werner Hofmann: Die Liebe ist die Freude der Armen, 1932, Linolschnitt. Abb. in: Ausst.Kat. Dresden 1983 (wie Anm. 28), S. 29, Kat. Nr. 24. Harald Olbrich: Proletarische Kunst im Werden. Berlin/DDR 1986, S. 215–216. Ursula Horn: »Zur Ikonographie der deutschen proletarisch-revolutionären Kunst zwischen 1917 und 1933« In: Ausst.-Kat. Berlin/DDR 1978 (wie Anm. 13), S. 53–69, hier S. 65–66. Hannelore Gärtner: »Die Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands in Dresden« In: Ausst.-Kat. Dresden 1980 (wie Anm. 6), S. 69–90, hier S. 89–90. Vgl. Ausst.-Kat. Berlin/DDR 1978 (wie Anm. 13), S. 61–62; Ausst.-Kat. Dresden 1980 (wie Anm. 1), S. 86, 89, 320. Vgl. Olbrich 1986 (wie Anm. 30), S. 215–216. Ob allerdings die Arbeiterliebespaare, wie Ursula Horn es formuliert, »unübersehbare Hinweise auf menschenunwürdige Seiten des proletarischen Daseins, das wenig Platz für das Glück der Jugend läßt« oder »die bedrohte Menschenwürde der Liebenden unter kapitalistischen Verhältnissen« erkennen lassen, ist in Frage zu stellen, zumindest im Hinblick auf die frühen Beispiele. Vgl. Horn 1978 (wie Anm. 31), S. 65. Beispiele sind etwa das Liegende Paar von Rudolf Bergander aus dem Jahr 1936 oder das Doppelbildnis Fritz Schulze und Eva Schulze-Knabe von Fritz Schulze aus dem Jahr 1934. Abb. in: Dalbajewa 2011 (wie Anm. 28), S. 142 (Bergander) und Ausst.-Kat. Dresden 1980 (wie Anm. 6), S. 89 (Schulze). Vgl. Karl Lenz: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. Wiesbaden 22003, S. 259– 271. Ebd. S. 270–271. Olbrich 1986 (wie Anm. 30), S. 215. Rudolf Bergander: Liebespaar, 1932, Öl/Lw. Abb. in: ebd., Tafel 28. Vgl. Otto Rühle: Illustrierte Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats. Autorisierter Neudruck der Ausgabe von 1930. Genf 1970. Ebd., S. 488. Ebd., S. 489.

Anna Greve Museen in Zeiten von Corona: Ändert sich der gesellschaftpolitische Auftrag?

Am 18. März 2020 schlossen deutschlandweit die Museen ihre Türen, auch in Bremen. Noch ahnte niemand, dass dies für eine längere Zeit sein würde. Das Coronavirus breitete sich mit rasender Geschwindigkeit über die Welt aus. Erst eine Woche vorher hatte es geheißen, dass Veranstaltungen mit über 1.000 Besucher/innen verboten werden würden. Da wird so mancher Museumsmensch gedacht haben: »So viele Besucher/innen haben wir sowieso niemals auf einmal … .« Da zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Textes nicht absehbar war, wie sich die Corona-Krise bis zu seiner Veröffentlichung ändern würde, entschied ich mich dazu, von der Annahme auszugehen, dass es keine vollständige Rückkehr zum vorherigen Gesellschaftsleben geben wird. Mögen die Leser/innen entscheiden, ob es eine Dystopie oder Utopie ist, die diesen Überlegungen folgt. Anhand ihrer früheren Eigenfinanzierungsquoten lässt sich erahnen, wie hoch die Einnahmeausfälle durch fehlende Eintritts- und Sponsorengelder, Veranstaltungen und Vermietungsgeschäfte sein werden. Von entscheidender Bedeutung ist, wie lange der Ausnahmezustand anhält bzw. ob wir uns dauerhaft auf ein verändertes öffentliches Leben einzustellen haben. In jedem Fall muss es – wie für alle staatlich finanzierten Bereiche – in solchen Fällen angemessene und letztendlich auch gerechte Lösungen geben. Dass eine Eins-zu-eins-Refinanzierung nicht möglich ist, wissen wir alle. Umso interessanter ist es, darüber nachzudenken, wie sich der Museumsbetrieb verändern könnte. Gemeinhin gelten Museen als ›schwere Tanker‹, die sich nur langsam umsteuern lassen. Wir haben nun die Chance, dies zu überprüfen – ist es wirklich so? Habitus als modus operandi (Bourdieu) oder: Besucher/innen-Orientierung »Was erwarten meine Besucher/innen?« Diese Frage beschäftigt viele Museen. Einfache Antworten darauf sind nicht möglich. Zu verschieden sind die Individuen, die sich für einen Museumsbesuch in ihrer Freizeit, im Rahmen einer Bildungsreise oder als gesellschaftliches Event entscheiden. Zugleich haben die Museen davon unabhängige, eigene Ansprüche an sich selbst: Sie möchten Wissen vermitteln, Orientierung in der Welt anbieten und sich als beeindruckendes Erlebnis in die Erinnerung ihrer Besucher/innen einschreiben. Daraus haben sich in den letzten Jahren eine zunehmende Inszenierung im Museumsraum, ein wachsendes Veranstaltungsangebot, neue Kooperationsprojekte und die Zusammenarbeit mit Bürger/innen vor Ort entwickelt, was tatsächlich zur Steigerung von Besuchszahlen führte. Es sind die Angebote und nicht ein niedriger Eintrittspreis, die Menschen in die Häuser locken. Für diese Erkenntnis braucht es eigentlich keine umfassenden Studien mehr.1 Dennoch erweist sich das Thema ›Freier Eintritt‹ immer

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wieder als politisch opportun, suggeriert es doch auf den ersten Blick, eine Maßnahme zur Demokratisierung von Kultureinrichtungen zu sein. Profitieren würden aber bekanntlich nur die ›sowieso Museumsgänger/innen‹, auf die das Wahlversprechen in doppelter Hinsicht abzielt: 1. Diese Gruppe mittleren Einkommens kann ein durch Steuergelder finanziertes Freizeitvergnügen genießen und dabei 2. ein gutes Gewissen haben, da es ja ein potentielles Angebot auch für Menschen niedrigen Einkommens ist. Nahezu vergessen ist, dass die »Korrelation zwischen Häufigkeit des Museumsbesuchs und (Hoch-)Schulabschluß«2 bereits in den 1970er-Jahren statistisch nachgewiesen und von niemand Geringerem als Pierre Bourdieu diskutiert wurde. Der Umstand, dass in der Corona-Krise die Häuser mit den höchsten Eigenfinanzierungsquoten die gefährdetsten sind, hat seine Ursache wohl auch in der Tatsache, dass der Museumsbesuch als beliebtes touristisches Ereignis eine große Bedeutung hat. Der Internationale Museumsrat ICOM befürchtet, dass aus temporären Schließungen dauerhafte Abwicklungen von Institutionen werden könnten.3 Sofern die Ermöglichung eines analogen Besuchs der einzige Zweck von Museen wäre, stünden sie unter CoronaBedingungen wirklich unter einem grundsätzlichen Legitimationsdruck. Museen sind aber mehr als das: Sammeln, Bewahren und Erforschen des materiellen, kulturellen Erbes sind ihre traditionellen Aufgaben – für ein breites Publikum ausstellen und Vermitteln kamen erst sehr viel später hinzu. Im 17. Jahrhundert reiste man als Kavalier durch Europa, holte sich den Schlüssel oder ließ sich von einem Inspektor durch die Kunstsammlung führen. Für solche Exklusivangebote findet man auch heute zahlungskräftige Interessenten. Durch staatliche Subventionen könnte dies auch z. B. Stadtteilgruppen möglich gemacht werden. Das einstige Ziel, möglichst viele Besucher/innen pro Quadratmeter zu haben, wird angesichts der Abstandsregelungen zur Verhinderung der Ansteckung mit dem Coronavirus ad absurdum geführt. Durch die Corona-Pandemie sind wir alle schlauer: nicht mehr eindimensional planen, um schnelle Erfolge zu erzielen, die wie Kartenhäuser zusammenbrechen können. Dies gilt für die Produktion von Schutzmasken ebenso wie für die Besucher/innen-Orientierung von Museen. Das Potential der Häuser geht weit über Aktivitäten im Museumsraum hinaus. Das Aufsuchen von Altersheimen und Schulen mit Museumskoffern sowie OutreachProjekte in den Stadtteilen werden schon länger als Methoden erprobt, um sogenannte museumsferne Menschen zu erreichen. Mit Blick auf die ohnehin anstehende eigene Neuaufstellung hat die Corona-Krise das Focke-Museum in Bremen dazu inspiriert, noch stärker über diese Wege nachzudenken. Die Motivation ist gestiegen, neue Arbeitsweisen auszuprobieren: Wenn Fahrten durch die Stadt mit Maske unangenehm sind, sich der Unterricht auf die Kernfächer konzentrieren muss, Gruppenaktivitäten von Jugendlichen mit einem Abstand von zwei Metern realitätsfern sind, dann kann es eine Lösung sein, Jugendliche zu bitten, mit ihrem Handy in ihrem jeweiligen Stadtteil das zu filmen, was ihnen typisch erscheint. Und schon ist das Potential zur Vernetzung von Quartieren gegeben und kann eine neuartige Zusammenarbeit des Museums mit Bürgerhäusern und freischaffenden Künstler/innen entstehen. Denn letztere können die Jugendlichen einzeln oder in Minigruppen coachen, damit sie ihre Filme künstlerisch gestalten oder den Mut aufbringen, eigenes Singen oder Tanzen einzubauen. So können neue Aufträge für die von der Corona-Krise besonders betroffenen Solokünstler/innen entstehen, denen die Theater- oder Musikbühnen als Einkommensquellen abhandengekommen

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sind. Auch wer vormals sein Geld durch pädagogische Programme im Museumsraum verdiente, kann so eine adäquate Beschäftigung finden. Das Feld der kulturellen Bildung wandelt sich und passt sich schnell den neuen Gegebenheiten an. Grundlage für das Gelingen eines solchen Projektes ist die Bereitschaft des Museumsteams, Gestaltungsmacht zu teilen. Dazu gehört es, sich als Museumspersonal weniger als wissende Lehrende denn als agile Coaches und innovative Projektmanager zu verstehen. »Natürliche Bildnerei« (Goethe) oder: Digitale Vermittlung Mit beeindruckender Geschwindigkeit haben die Museen ihre Aktivitäten im Internet ausgeweitet. Sie haben bewiesen: Eine geschlossene analoge Ausstellung ist noch lange kein Grund dafür, sie nicht der Öffentlichkeit digital zu zeigen. Von der Erklärung einzelner Werke und Abteilungen über Künstler/innen-Interviews, virtuelle Rundgänge, Frage-Antwort-Spiele und Aufforderungen, Kunstwerke nachzustellen reicht das Vermittlungsangebot. Durch spannende Kameraschnitte und technische Tricks biegen sich stählerne Objekte grazil, wird Neugierde geweckt, Faszination erzeugt. Man muss es zugeben: Gut gemacht, kann ein Kurzfilm mit konzentriert zusammengeschnittenen Werkansichten und Erklärungen durch den/die Künstler/in selber mehr aussagen als die bloßen Objekte im neutralen Museumsraum. Das Gerhard-Marcks-Haus in Bremen hat dies unter Beweis gestellt. Die Angst davor, dass potentielle Besucher/innen sich dann nur mit dem 3-Minuten-Film zufriedengeben, ist unbegründet. Im Gegenteil, man bekommt durch den Film Lust darauf, sich auf den Weg zu machen, um die Stahlskulpturen von Robert Schad im Original anzuschauen. Durch den Film hat man erste Anregungen bekommen und Mut gefasst, sich diese im wahrsten Sinne des Wortes sperrigen Werke selbständig zu erschließen.4 Schon zur Zeit Goethes war das Nachstellen berühmter Kunstwerke ein beliebter gesellschaftlicher Zeitvertreib, so in den Wahlverwandtschaften (1809) beschrieben.5 Viele Museen haben dies in der Corona-Krise aufgegriffen, auch die Bremer Kunsthalle (Abb. 1). Sie rief über die sozialen Medien dazu auf, Werke aus ihrem Bestand nachzustellen und lockte damit, die Ergebnisse in einer analogen Ausstellung später zu zeigen.6 So wurde eine alte Methode mit einem neuen Medium verbunden. Denn auch heute lieben Menschen es noch viel mehr, Kunstwerke nachzustellen, zu kommentieren oder auch sich selbst mittels Selfies zu porträtieren und zu zeigen. Wie eine Umfrage der Kulturpolitischen Gesellschaft im letzten Jahr zeigte, interessiert Menschen am Kulturbereich heute weniger, passiv zu betrachten, zu lernen oder exquisite Qualität geboten zu bekommen, vielmehr wollen sie aktiv werden, anderen etwas zeigen und von ihnen bewundert werden.7 Der Soziologe Andreas Reckwitz schrieb: »Im Modus der Singularisierung wird das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert [Herv. i.O.]. Das spätmoderne Subjekt performed [Herv. i.O.] sein (dem Anspruch nach) besonderes Selbst vor den Anderen, die zum Publikum werden.«8

So überzeugend das klingt, sei daran erinnert, dass die Inszenierung vor anderen kein Alleinstellungsmerkmal der Moderne ist – das gab es schon immer.9 Neu sind lediglich die Technik und das Ausmaß, die die Darstellung des Selbst in Sekundenschnelle vor das Publikum katapultieren. Im Internet sind nicht nur Kulturinstitutionen und Künstler/innen frei in ihrem Schaffen, jeder/jede Bürger/in kann kreativ werden, Themen zur Debatte stellen und eine große Öffentlichkeit erreichen – genau das ist es, was die

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Abb. 1: Gemälde: Henri de Toulouse-Lautrec: Junges Mädchen im Atelier (Hélène Vary), um 1889, Gouache auf Pappe, Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen – Foto: Jette und Jörg Peterschewski

anziehende Wirkung von Instagram, Facebook und Twitter ausmacht. Das fachwissenschaftliche Interesse bzw. die Nutzung dieser Medien ist bislang unterrepräsentiert. Insofern stellt sich die Frage, ob tatsächlich Neugierde und Bedarf an den neuen digitalen Angeboten der Museen besteht. Ließe sich damit Geld verdienen? Was sind sie dem Publikum wert – gerade auch dann, wenn physische Museumsbesuche nicht – oder nur eingeschränkt – möglich sind? Hierzu dürfen wir auf Erhebungen, Experimente und Evalulationen gespannt sein. Das Netzwerk Europäischer Museumsorganisationen (NEMO) machte in der ersten Phase der Corona-Krise eine Umfrage zur Veränderung der Arbeitsbedingungen und dem Ausbau digitaler Angebote von Museen. Daraus geht hervor, dass 60 % der Museen ihr Online-Angebot in der Corona-Krise ausgeweitet haben. Viele konnten die Aufgaben ihrer Mitarbeiter/innnen entsprechend anpassen, das Online-Publikum konnte um 10 Prozent und mehr gesteigert werden. Inwiefern dies nur durch zusätzliche Finanzmittel gelang bzw. welche Überlegungen es gibt, um dieses Angebot zukünftig durch die Nutzer/innen finanzieren zu lassen, ist bisher noch nicht bekannt.10 Auf dem Online-Symposium Museen in Quarantäne wurden sowohl neue

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Projekte im Internet vorgestellt als auch Statistiken darüber, dass die Klickzahlen zu Beginn der Krise nach oben explodierten, dann aber auch schnell wieder zurückgingen.11 Wie oben dargestellt, ist die Frage nach kultureller Teilhabe insbesondere durch sogenannte bildungsferne Menschen in der analogen Welt weiterhin aktuell. Nun ist sie auch für die digitale Welt gegeben. Sind es nur Museumsfans, die sich die neuen Angebote im Internet anschauen oder ist die Möglichkeit gegeben, beispielsweise Jugendliche, die souverän auf Instagram unterwegs sind, dort auch auf das analoge Museum neugierig zu machen? Wie bei analogen Veranstaltungen auch, kommt es auf das konkrete Angebot und einen klaren Zuschnitt auf die Zielgruppe an: An einem wissenschaftlichen Webinar zu dem gesellschaftskritischen Potential abstrakter Gegenwartskunst werden sie nicht teilnehmen. Ein lustiges Bild aber teilen oder die Chance nutzen, einen von ihnen selber gedrehten Film zu einem Museumsthema einzustellen – dafür werden sie sich eher begeistern lassen. Letztendlich kommt es auf die Haltung des Museums an: Ist man neugierig auf das, was die Bürger/innen beschäftigt und bereit, in den Dialog zu gehen, sich als Serviceinstitution zu verstehen und den eigenen Raum anderen für ihre Themen zur Verfügung zu stellen? Bei dem Fachpersonal ist Kreativität gefragt, um die Alltags- und Gegenwartsfragen mit der eigenen Sammlung zu verbinden, sie historisch zu verorten und darauf aufbauend die Möglichkeit zur Diskussion von Zukunftsvisionen zu schaffen. »Was einer an sich selber hat« (Schopenhauer) oder: Besinnung auf Kernaufgaben Kulturschaffende werden plötzlich von Seiten der Politik als systemrelevante Akteur/innen bezeichnet, der Deutsche Kulturrat und die Kulturpolitische Gesellschaft können dem nur zustimmen. Gleichfalls betonen sie, dass Institutionen, Veranstaltungen, Förderlogiken und Haushalte zu überdenken sind.12 Denn es liegt nahe, die Grenzen des Wachstums nun auch für den Kulturbereich zu diskutieren, eine Erneuerung im Bestand vorzunehmen: Inwiefern ist Kultur systemrelevant? Gibt es tatsächlich nennenswert viele Menschen, die derzeit ein konkretes Kulturangebot vermissen? Nutzen sie die Möglichkeit, vom gemütlichen Sofa aus im Netz ein Konzert zu hören, sich ein Gemälde erklären zu lassen? Oder freuen sie sich über die (zurück)gewonnene Zeit, um sich auf das zu besinnen, was ihn/sie ›wirklich‹ interessiert? Glücklich ist in Zeiten von Corona, wer sich selbst zu beschäftigen weiß und nach Schopenhauers Motto lebt: »Also was Einer AN SICH SELBER HAT [Herv. i.O.] ist zu seinem Lebensglücke das Wesentlichste. Bloß weil Dieses, in der Regel, so gar wenig ist, fühlen die meisten von Denen, welche über den Kampf mit der Noth hinaus sind, sich im Grunde eben so unglücklich, wie Die, welche sich noch darin herumschlagen.«13

Museumsarbeit ist im Kern generell eine solche selbständige Beschäftigung mit den Sammlungsinhalten und erstmal Besucher/innen-unabhängig. Objekte werden gesammelt, konserviert und erforscht. Zwei Meter Abstand sind für Restaurator/innen und Wissenschaftler/innen normal, Schutzmasken und Handschuhe manchmal auch. Die gesellschaftliche Relevanz besteht auch hinter verschlossenen Türen. Denn die Sammlungsobjekte zeugen beispielsweise vom Bewältigen von Krisen (z.B. Seuchen, Revolutionen, Kriege) in früheren Zeiten und in anderen Gesellschaftskontexten, sie können also Handlungsalternativen eröffnen.14 Diese Erkenntnisse können der Gesellschaft

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mittels Ausstellungen und Vermittlungsprogrammen zur Verfügung gestellt werden, aber auch durch analoge Fachartikel und Bücher oder durch Interviews und Filme im Internet. Wenn der Publikumsverkehr nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, könnten Forschungsergebnisse und aus der Sammlung heraus entwickelte Fragestellungen beispielsweise auch mittels Tafeln unter freiem Himmel im öffentlichen Raum zur Debatte gestellt werden, vor denen man alleine denkt, zu zweit diskutiert oder über die man sich mit vielen anderen im digitalen Raum austauscht. Das wäre ein Modus radikaler Partizipation: barrierefrei, direktdemokratisch und die Deutungsmacht der Institution in Frage stellend, da nicht mehr kontrollierbar wäre, wie Museumsnutzer/innen über museumsbezogene Inhalte im Privaten, aber gerade auch Abb. 2: Originalkopf des Rolands, 1404, in der breiten Öffentlichkeit der soziaElmkalkstein, Focke-Museum. Bremer Lanlen Medien kommunizieren. desmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Wie andere landesgeschichtliche Museen auch, rief das Focke-Museum in Bremen über die sozialen Medien die Bürger/innen dazu auf, Fotos von Objekten einzureichen, die sie mit der Corona-Krise verbinden (Abb. 2).15 Es kam eine viel über die gegenwärtige Situation sagende Sammlung zustande, darunter eine ToilettenpapierGeburtstagstorte, eine Briefübergabe von Kindern durch einen Zaun und ein Brief, der nicht nach Südafrika zugestellt werden konnte. Museen der Zukunft: einige Vorschläge Rainer Mausfeld stellte beunruhigend und zugleich faszinierend klar heraus, dass das Schüren von Angst gerade auch in demokratischen Systemen insofern systemstabilisierend wirkt, dass selbst schwierigste und problematische Entscheidungen von Politik und Wirtschaft von den Bürger/innen weiniger angezweifelt werden.16 Häufig geht diese Strategie einher mit der Ablenkung von grundsätzlichen Gesellschaftsfragen wie nach der Verteilung von Kapital und sozialer Ungleichheit. Dies lässt sich auch aktuell gut an den Debatten um die Kultur in der Corona-Krise beobachten. Statt einer diffusen Angst vor dem Ende der Kultur nachzugeben, wäre es sinnvoller, sich auf das Kernproblem zu besinnen, dass es immer mehr Menschen gibt, die Kunst und Kultur produzieren/bearbeiten und davon leben wollen, ohne dass gleichzeitig die Menge entsprechender Rezipient/innen und Geldgeber/innen wachsen würde. Diesem Phänomen müssen sich Politik, Verwaltung und Museen gleichermaßen stellen.

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Der Ruf nach robusteren Strukturen im Kulturbereich bedeutet, in einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess zu gehen: In welchem Maße und auf der Basis welcher Qualitätskriterien handelt es sich um staatlich zu fördernde Pflichtaufgaben, wann ist das Subsidiaritätsprinzip anzuwenden und wann handelt es sich um Privatvergnügen. Die Grenze des Wachstums wird auf die Wirtschaft bezogen – insbesondere von sich als systemkritisch verstehenden Kreisen – diskutiert. Der Kulturbereich sollte von diesen Nachhaltigkeitsgedanken m. E. nicht ausgenommen werden. Die Grenze des Wachstums der Kulturbranche ist da erreicht, wo sehr viele Kunst machen bzw. ausstellen wollen und nur wenige sie finanzieren möchten oder können. Denn die Kulturschaffenden definieren ihre eigene Systemrelevanz vor allem durch ihr Potential, das herrschende, kapitalistische System durch kreative Ausdrucksformen in Frage zu stellen und zum Nachdenken darüber anzuregen. Dies funktioniert aber nur, wenn sie durch private Gelder (z. B. Sponsoren) oder öffentliche Mittel (z. B. Steuern) unterstützt werden. Ihre Existenz ist abhängig von dem System, welches sie kritisieren. Insofern fehlt m. E. häufig die Anerkennung der Relevanz des Systems durch die Künstler/innen für das eigene Schaffen bzw. eine selbstkritische Reflexion des beschriebenen Konstrukts. Die grundgesetzlich verankerte Freiheit der Kunst besteht für jedes Werk und Individuum. Die Grenzen zwischen zum Künstler/zur Künstlerin Berufenen und dem Gestaltungswillen aller Bürger/innen werden immer fließender. Letztendlich ist das ein Erfolg von Demokratisierungsprozessen – im Sinne von ›Kunst für alle‹ bzw. ›Kunst von allen‹. Insofern ist mit einem neuen Blick auf das Ehrenamt und gemeinnützige Vereine zu schauen: Welche Berufsbilder, Entlohnungssysteme und Tätigkeitskombinationen kann es geben, damit überlebenswichtige Aufgabenbereiche – wie beispielsweise die Altenpflege – attraktiv sind und zugleich Energie für die Entfaltung eigener Kreativität – etwa im Bürgerhausatelier – übrigbleibt. Und andersherum gilt es insbesondere in den Studiengängen für Kunst- und Kulturwissenschaftler/innen zu vermitteln: Wer von Kunst und Kultur leben möchte, muss auch ökonomische Verantwortung für das eigene Überleben übernehmen, Rücklagen bilden und so gut sein, dass er/sie andere überzeugt, sie mitzufinanzieren. Auf die Museen bezogen, wäre es ein radikaler Schritt, Investitionen in Museumsbauten und Gelder für thematische Sonderausstellungen hin zu mehr Objekterforschung, digitaler Sammlungserschließung und neuen partizipativen Programmformaten umzuverteilen. Museen sind nämlich nicht systemrelevant, wenn es um das nackte Überleben geht. Wenn es um den Erhalt des geistigen Überbaus unseres gesellschaftlichen Miteinanders, die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes, die Anregung und Eröffnung von Diskussionsräumen geht, dann sind Museen durchaus systemrelevant. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass dies aber nicht zwangsläufig mit einem Angebot kostspieliger Sonderausstellungen oder Vermittlungsprogrammen im Museumsraum verbunden sein muss. Es ist auch denkbar, das Museum als Objektarchiv zu begreifen, in das man auf Anfrage Einlass erhält, in dem einzelnen Fragen nachgegangen werden kann, das Keimzelle für Ideen ist, die an anderen Orten – in der Stadt oder im digitalen Raum – zur Diskussion gestellt werden. Radikal gedacht, wäre das das Ende des repräsentativen Museumsbaus. Die Chance für einen Paradigmenwechsel tut sich auf: weg von dem Anspruch, Andere (die Bürger/innen) für die eigenen (musealen) Themen zu begeistern – hin zu der Neugierde (des Museumspersonals) auf die Themen der Anderen (dem Gemeinwohl).

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Dieser Text wurde am 20. Juni 2020 fertiggestellt. Meinem Denk-Partner Johannes Dimpfl danke ich insbesondere für sein immer wiederkehrendes Widersprechen, denn mit dem Instrument des Widerspruchs lassen sich Argumente am besten schärfen. – Die beiden Zitate in den Zwischenüberschriften stammen aus den folgenden Werken: Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809), Berlin 1963, 2. Teil, 5. Kapitel, S. 169; Arthur Schopenhauer: »Aphorismen zur Lebensweisheit« (1851) in ders.: Parerga und Paralipomena I, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, S. 320. – Die erste Zwischenüberschrift ist an Bourdieu angelehnt: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt/M. 2020, S. 39 (1. franz. Aufl. 1979). 1 Aktuell dazu: KulturEvaluation Wegner: Evaluation des freien Eintritts in Dauerausstellungen

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für die baden-württembergischen Landesmuseen und das ZKM – Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. Im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst BadenWürttemberg, Juni 2019: https://mwk.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mwk/intern/dateien/Anlagen_PM/2019/Evaluationsbericht-freier-Eintritt-Landesmuseen_MWK-BW2019.pdf (18.06.2019). Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt/M. 2020, S. 39 (1. franz. Aufl. 1979). Vgl. ICOM-Stellungnahme vom 2.4.2020: https://uk.icom.museum/icom-statement-on-thenecessity-for-relief-funds-for-museums-during-the-covid-19-crisis/, 13.4.2020; ICOM-Webinar am 10.4.2020: https://icom.museum/en/news/webinar-coronavirus-covid-19-and-museums-impact-innovations-and-planning-for-post-crisis/, 13.04.2020. Vgl. https://www.facebook.com/GerhardMarcksHaus/?ref=page_internal, Eintrag vom 14. März 2020, Video auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=DK_OvUsJwg4&fbclid =IwAR1efRHHmPi5SjeEIQQ-UprzY0pXWDetHoaVtYNSfLLEZAiglXGMUMwU-dQ, 31.5. 2020. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809), Berlin 1963, 2. Teil, 5. Kapitel, S. 169–171; Birgit Jooss: »Lebende Bilder als Charakterbeschreibungen in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften« In: Erzählen und Wissen: Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes ›Wahlverwandtschaften‹, hrsg. von Gabriele Brandstetter, Freiburg 2003, S. 111–136. Vgl. https://www.facebook.com/KunsthalleBremen/, Eintrag vom 22. Mai 2020, 31.5.2020. Loccumer Kulturpolitisches Kolloquium Generation(en) Wechsel. Veränderte Ansprüche neuer Generationen und die Rolle der Kulturpolitik in institutionellen Veränderungsprozessen (15.–17.2.2019). Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 9. Bereits Ovid (geb. 43 v. Chr.) beschrieb im Mythos des Narcissus, wie das Betrachten des eigenen Bildes – als Selbstverliebtheit – langfristig unbefriedigend ist und im Mythos sogar zum Tod führt. Vgl. Ovid: Metamorphosen, Buch III, Zeile 344–503, hrsg. und übers. von Hermann Breitenbach, Stuttgart 1995, S. 102–109 (1. Aufl. 1971). In den Fasten bringt Ovid die Tragik auf den Punkt: »...du, Narkissos, hast einen Namen in den gepflegten Gärten, Unglücklicher, weil dein Bild nur ein Bild war (weil Du nicht [gleichzeitig] der eine und der andere warst).« Ovid: Die Fasten, Buch V, Zeile 225f., hrsg., übers. und kommentiert von Franz Bömer, Bd. I, Heidelberg 1957, S. 233.

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https://www.museumsbund.de/erste-ergebnisse-und-aufruf-zur-teilnahme-an-nemo-umfrage-zu-auswirkungen-der-coronavirus-pandemie-auf-museen/, 04.05.2020. Vgl. Museen in Quarantäne – Neue Chancen für Sammlungen. Online-Symposium am 7. Mai 2020 der Professur für Kulturgeschichte und Museale Sammlungswissenschaften der Universität Wien: https://www.donau-uni.ac.at/de/aktuelles/news/2020/museen-in-quarantaene-neuechancen-fuer-sammlungen.html, 31.05.2020. Vgl. Olaf Zimmermann (Hg.): Politik & Kultur. Zeitschrift des Deutschen Kulturrates, Ausg. 4/2020: https://www.kulturrat.de/publikationen/zeitung-pk/ausgabe-nr-042020/, 13.4.2020; 10 Thesen von Tobias J. Knoblich, Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft: https://kupoge.de/pressearchiv/pressedok/2020/Kulturpolitik_nach_der_Corona-Pandemie.pdf, 13.4.2020. Arthur Schopenhauer: »Aphorismen zur Lebensweisheit« (1851) In: ders.: Parerga und Paralipomena I, hrsg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, S. 320. – Die von Schopenhauer gemeinte Zufriedenheit mit sich selbst bezieht sich auf die Fähigkeit, sich geistig beschäftigen zu können und ist daher nicht mit der oberflächlichen Selbstverliebtheit in das eigene Bild zu verwechseln, die der Mythos des Narcissus meint (siehe hierzu Anm. 9). Allerdings gibt es Übergänge und Berührungen zwischen beiden Ideen, deren Grundgedanke auch schon Aristoteles differenzierter diskutierte als sein Lehrer Platon, der die natürliche (echte) von der negativ konnotierten übergroßen Selbstliebe (Egoismus) unterschied und sie als größtes Übel und Ursache aller Fehltritte bezeichnete. Vgl. beispielsweise Platon: Nomoi 731d9–732b4 in ders: Werke in acht Bänden, übers. und bearb. von Klaus Schöpfsdau, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1977, Aristoteles: Nikomachische Ethik 1168a28-1169b2, nach der Übers. von Eugen Rolfes, bearb. von Günther Bien, Hamburg 1995. So wie die Pest wird sich auch Corona in die Museumssammlungen einschreiben. Vgl. https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de/projector/s/coronarchiv/page/willkommen, 13. 4. 2020. Vgl. https://www.facebook.com/fockemuseum/, Eintrag vom 11. Mai 2020, 30.5.2020. Zur Angsterzeugung als Mittel der Gesellschaftslenkung vgl. Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlage bedrohen, Frankfurt/M. 2018; Ders.: Angst und Macht. Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien, Frankfurt/M. 2019.

NACHRUF

Nachruf auf Norbert Schneider (28.06.1945-17.11.2019) Im November des vergangenen Jahres mussten wir Abschied nehmen von Norbert Schneider, Gründungs-, langjähriges Vorstandsmitglied und Vorsitzender (2007–2009) der Guernica-Gesellschaft, einem Gelehrten alter Schule, einem politischen Beobachter seiner Zeit und einem der produktivsten Autoren seines Faches. Freunde wussten seit längerem von seiner schweren Erkrankung. Trotzdem kam der Tod am Ende bestürzend schnell und überraschend. Die Verbindung von klassischer Bildung und didaktischem Anspruch, die eine Grundlinie seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bildete, lag bereits in seinem Studium und in seinen Anfangsjahren als Hochschullehrer begründet. In Münster hat Norbert Schneider zwischen 1965 und 1970 Kunstgeschichte und Germanistik, Philosophie und Mittellateinische Philologie, Pädagogik und Evangelische Theologie studiert, politisiert durch die Studentenbewegung, die auch in der westfälischen Provinz ein starkes Echo gefunden hatte. Noch vor dem Abschluss seiner Dissertation (Civitas. Studien zur Stadttopik und zu den Prinzipien der Architekturdarstellung im frühen Mittelalter, 1971)1 machte er mit einem Kommentar zum Verlauf der inzwischen berühmten Reformsektion »Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung« des Kölner Kunsthistorikertages von 1970 auf sich aufmerksam.2 Die damit verbundene kritische Positionierung innerhalb des Faches führte dazu, dass ihn sein beruflicher Weg zunächst nicht an die alten Universitäten, sondern an Kunsthochschulen und Pädagogische Hochschulen führte, die seine didaktische Prägung verstärkten, bis er – über die Stationen Bremen, Münster, Bielefeld und Dortmund – 1997 auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Karlsruhe berufen wurde. Hier hat er das Institut für Kunstgeschichte über mehr als zwölf Jahre geleitet und ein Großteil seines wissenschaftlichen Werkes verfasst. Dieses Werk ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Es ist nicht die Summe von Einzelforschungen, sondern – was selten ist – etwas Ganzes. Wenn man sich die lange Liste der Bücher ansieht, die Norbert Schneider geschrieben hat, könnte man vermuten, dem Ganzen hätte von Beginn an ein Plan zugrunde gelegen. Es handelt sich ausnahmslos um Grundlagenwerke, die – mal exemplarisch, meist aber in historischen Längsschnitten – zusammen einen Grundriss kunstgeschichtlichen Wissens bilden. Die Summe seiner wissenschaftlichen Arbeit wird vor allem in den beiden Büchern sichtbar, die er gemeinsam mit seiner Frau, Jutta Held, verfasst hat: der Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (1993)3 und den Grundzügen der Kunstwissenschaft (2006)4. Ein Projekt, das normalerweise ganze Gruppen von Wissenschaftlern beschäftigen würde, hat er im Alleingang realisiert: einen Zyklus über die Gattungen der Malerei, jeweils ein Buch zur Geschichte des Stilllebens (1989)5, der Porträtmalerei (1992)6, der Landschaftsmalerei (1999)7, der Genremalerei (2004)8 und der Historienmalerei (2010)9. Norbert Schneider verstand die Kunstgeschichte als eine intellektuelle Wissenschaft, die sich mit den Theorieentwicklungen der Geistes- und Sozialwissenschaften auseinandersetzen sollte, und stellte in seinen Publikationen immer wieder die Verbindungen der Kunstgeschichte zur Philosophie, zur Wissenschaftsgeschichte und zur Kulturtheorie

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her, ebenso wie zu den gesellschaftlichen Feldern der Ökonomie, der Politik und der Sozialgeschichte. Bemerkenswert für einen Kunsthistoriker sind seine grundlegenden Publikationen auf dem Feld der Philosophie: die Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne (1996)10, die Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert (1998)11 und zuletzt die Geschichte der Metaphysik (2018)12. Eine Geschichte der Kunsttheorie von der Antike bis zum 18. Jahrhundert (2011)13 und ein Band über Theorien moderner Kunst vom Klassizismus bis zur Concept Art (2014)14 runden sein beeindruckendes theoriegeschichtliches Werk ab. Im erweiterten Sinne ist auch sein Buch Atelierbilder. Visuelle Reflexionen zum Status der Malerei von Spätmittelalter bis zum Beginn der Moderne (2018)15 dazu zu zählen. Das Kerngebiet seiner historisch und topographisch breit gefächerten Forschungsinteressen war die frühneuzeitliche Malerei in den Niederlanden und in Italien. Monographien zu Jan van Eyck (1986)16 und Jan Vermeer (1993)17 standen Epochenstudien zur Malerei der Frührenaissance (2002)18 und zum Manierismus (2012)19 in Italien sowie zur niederländischen Malerei im Zeitalter von Humanismus und Reformation (Von Bosch bis Bruegel, 2015)20 gegenüber. Seine Arbeiten zur niederländischen und italienischen Kunst waren in gewissem Sinne Gegenstücke zu den Arbeiten seiner Frau, deren Forschungsschwerpunkte im Bereich der frühneuzeitlichen Malerei Frankreichs und Spaniens lagen. Eine Synthese bot Schneiders zuletzt erschienener Band Malerei der frühen Neuzeit. Von Masaccio bis Delacroix (2017)21. Es ist eine seltene Ausnahme, dass ein Einzelner mit seinen Publikationen für sein Fach ein solch umfangreiches, gleichermaßen empirisch wie theoretisch fundiertes Lehrgebäude entwirft. Was Norbert Schneiders Arbeiten besonders auszeichnete, war seine Fähigkeit, Kunst- und Theorieentwicklungen über lange historische Zeiträume zu verfolgen. Das setzte ein beinahe enzyklopädisches und in höchstem Maße komplexes Wissen voraus, über das heute nur noch wenige verfügen. Norbert Schneider war auch ein Meister der ›kleinen Form‹. Ein besonderes Talent besaß er für das Skizzieren von intellektuellen Biographien von Philosophen und Kunsthistoriker*innen, mit denen er in einer Vielzahl von kürzeren Beiträgen immer wieder überraschte. Denkschulen zu rekonstruieren, intellektuelle Querverbindungen herzustellen, aber auch die politischen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung von Theorien herauszuarbeiten, gehörte zu seinen besonderen Stärken. Bemerkenswert war darüber hinaus die enge Verbindung zwischen wissenschaftlichem und ethischem Denken und Handeln. Norbert Schneider gehörte zur Generation kritischer Wissenschaftler, die sich im Zuge der Studentenbewegung für eine gesellschaftlich verantwortungsbewusste und sich auch politisch artikulierende Wissenschaft stark gemacht haben. Dem heute an den Universitäten verbreiteten Wissenschaftsbegriff, der zunehmend von Prestige- und Verwertungsinteressen bestimmt wird und sich in zahllosen Großprojekten manifestiert, setzte Norbert Schneider eine traditionelle wissenschaftliche Ethik entgegen, die selbstbewusst auf das intellektuelle und kritische Vermögen des Einzelnen baute. Für kritische Wissenschaftler wie ihn, die ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden versuchten, schien dies die exzellentere Strategie zu sein. Das methodische Konzept, das Norbert Schneider verfolgte, war eine Kombination aus klassischer Ikonologie und Ideologiekritik. Die Ikonologie bildete immer die Grundlage, die argumentative Absicherung seiner Thesen. Wie er argumentierte, auch gegen

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Einwände von links, und wie er sich theoretisch positionierte, wie er die Kunst und die Aufgaben der Kunstgeschichte sah, verdeutlicht ein Briefwechsel mit Werner Marschall, der 1984 in den tendenzen veröffentlicht wurde.22 Marschall, damals Chefredakteur der Zeitschrift, ging die ideologiekritische Perspektive, unter der Norbert Schneider die holländische Genremalerei untersuchte, zu weit. Er pochte auf die Unabhängigkeit des Künstlers bei der Aneignung gesellschaftliche Prozesse. Norbert Schneider war die Ironie der Situation, dass ausgerechnet ein ›Altlinker‹ wie Marschall das ›bürgerliche‹ Konzept der Autonomie der Kunst ins Feld führte, natürlich bewusst, aber er nutzte es nicht aus, sondern antwortete freundlich und versöhnlich: »Ihre Frage: ›ist Malerei, hier Genremalerei, Dienerin von Ideologie oder ist sie eine relativ unabhängige, eigenständige Form der Aneignung gesellschaftlicher Prozesse?‹ bringt mich in diesem Zusammenhang etwas in Verlegenheit. Sie ist weder nur das eine noch ausschließlich das andere; beide Aspekte schließen einander ja nicht aus. Gerade von materialistischer Seite wird man, zumal was die Untersuchung der Phase betrifft, in der sich die hegemoniale Stellung einer Klasse (hier des Bürgertums in Holland) festigt, die eminente Bedeutung der Malerei als publizistisches Medium zur Unterstützung einer Ideologie nicht in Abrede stellen können. ›Relative Autonomie‹ dagegen ist ein Bestimmungsmerkmal der bildenden Kunst, das ihr epochenübegreifend allgemein zukommt (mindestens seit sich Kunst oder bildhaftes Denken in der Urgesellschaft aus dem synkretitischen Wirklichkeitsbewußtsein heraussonderte). Insofern trifft dieses Moment auch für die Genremalerei des 17. Jahrhunderts zu. Ich vermute aber, daß Sie den Autonomiebegriff nicht so sehr bezogen auf die gesellschaftliche Institution Kunst verwendet wissen wollten, sondern mehr an die ästhetische ›Idealisierung‹ im Sinne des Entwurfs einer Utopie dachten, also an die Rücknahme zeitbedingter Faktoren zugunsten einer künstlerischen Verallgemeinerung, die ein Wirken des Kunstwerkes über den momentanen Anlaß und seine Funktion in der historischen Situation hinaus ermöglicht, so daß es, rezeptionsgeschichtlich gesehen, eine dauerhafte Existenz erfährt. Warum bestimmte Werke – wie die Vermeers oder Rembrandts – noch heute eine so große Wirkung ausüben und sie uns immer noch auf einer vorreflexiv-emotionalen Ebene ansprechen, kann man zwar zu einem wesentlichen Teil aus ihrer Struktur und den Stationen ihrer Rezeption erschließen, aber aus ihnen nicht allein; es müssen dialektisch auch die Be-

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dingungen ihrer Produktion, und das heißt die historische Situation ihrer Entstehung (obwohl sie sich ihr gerade zu entziehen scheinen) in die Analyse mit einbezogen werden.«23

Sein Verständnis einer kritischen Wissenschaft dokumentierte Norbert Schneider in seinen Schriften durch eine sozialgeschichtliche und ideologiekritische Perspektive auf die Kunst, darüber hinaus durch sein Engagement für die von seiner Frau gegründete Guernica-Gesellschaft und für das von ihm mitheraugegebene Jahrbuch Kunst und Politik sowie durch seine engen Kontakte zum Berliner Institut für Kritische Theorie und seine Mitarbeit am Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus. Außerhalb der Hochschule ist er gegen Berufsverbote eingetreten, nahm Wolfgang Harich nach dessen Verlassen der DDR eine zeitlang bei sich auf, hat gegen die Stationierung der Pershings und gegen den Krieg im Irak Stellung bezogen, friedlich und zivil, aber beharrlich und nachdrücklich. Sein friedenspolitisches Engagement entsprach nicht nur seiner politischen Überzeugung, sondern auch seiner Persönlichkeit, seinem zutiefst freundlichen Naturell. Sein zuvorkommendes Wesen, seine Gastfreundschaft und seine vollendete Höflichkeit, aber auch sein Talent als charmanter und gewitzter Unterhalter haben das Klima in seinem wissenschaftlichen Umfeld über viele Jahre geprägt. Der freundliche Gelehrte: Das ist das Bild, das sich über die Jahre festgesetzt hat und das in Erinnerung bleiben wird. Martin Papenbrock 1 Norbert Schneider: Civitas. Studien zur Stadtopik und zu den Prinzipien der Architekturdar-

stellung im frühen Mittelalter. Diss. Münster 1971. 2 Norbert Schneider: Bemerkungen zum Sektionsverlauf« In: Martin Warnke (Hg.): Das Kunst-

werk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Gütersloh 1970, S. 185–194. 3 Jutta Held, Norbert Schneider: Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins

20. Jahrhundert. Köln 1993. 4 Jutta Held, Norbert Schneider: Grundzüge der Kunstwissenschaft. Gegenstandsbereiche –

Institutionen – Problemfelder. Köln 2007. 5 Norbert Schneider: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der

frühen Neuzeit. Köln 1989. 6 Norbert Schneider: Porträtmalerei. Hauptwerke europäischer Bildniskunst 1420–1670. Köln

1992. 7 Norbert Schneider: Geschichte der Landschaftsmalerei. Vom Spätmittelalter bis zur Romantik.

Darmstadt 1999. 8 Norbert Schneider: Geschichte der Genremalerei. Die Entdeckung des Alltags in der Kunst

der Frühen Neuzeit. Berlin 2004. 9 Norbert Schneider: Historienmalerei. Vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert.

Köln/Weimar/Wien 2010. 10 Norbert Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zum Postmoderne. Stutt-

gart 1996. 11 Norbert Schneider: Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen. Stuttgart

1998. 12 Norbert Schneider: Grundriss Geschichte der Metaphysik. Von den Vorsokratikern bis Sartre.

Hamburg 2018.

Nachruf auf Norbert Schneider

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13 Norbert Schneider: Geschichte der Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert.

Köln 2011. 14 Norbert Schneider: Theorien moderner Kunst vom Klassizismus bis zur Concept Art.

Köln/Weimar/Wien 2014. 15 Norbert Schneider: Atelierbilder. Visuelle Reflexionen zum Status der Malerei vom Spätmit-

telalter bis zum Beginn der Moderne. Berlin/Münster 2018. 16 Norbert Schneider: Jan van Eyck. Der Genter Altar. Vorschläge zu einer Reform der Kirche.

Frankfurt/Main 1986. Norbert Schneider: Jan Vermeer 1632-1675. Verhüllung der Gefühle. Köln 1993. Norbert Schneider: Venezianische Malerei der Frührenaissance. Darmstadt 2002. Norbert Schneider: Die antiklassische Kunst. Malerei des Manierismus in Italien. Berlin 2012. Norbert Schneider: Von Bosch zu Bruegel. Niederländische Malerei im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin/Münster 2015. 21 Norbert Schneider: Malerei der frühen Neuzeit. Von Masaccio bis Delacroix. Interpretationen zentraler Werke. Münster 2017. 22 »Leitbild und Ideal. Briefwechsel über die Funktionen von Genrebildern von Werner Marschall und Norbert Schneider« In: tendenzen, 25. Jg. 1984, Nr. 148, S. 60–61. Vgl. auch den Beitrag im selben Heft, auf den Bezug genommen wird: Norbert Schneider: »Holländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts« In: ebd., S. 49–60. 23 Leitbild und Ideal (wie Anm. 22), S. 60–61. 17 18 19 20

ANHANG Autorinnen und Autoren GERD DIETRICH, Prof. Dr., geb, 1945 in Rudolstadt/Thür. Nach dem Abitur 1963/64 Hilfselektriker im EKB Bitterfeld und 1964/65 Spinner im Chemiefaserwerk Schwarza. 1965–1969 Studium Geschichte/Sport an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Diplomlehrer. 1970/71 Grundwehrdienst. Von 1971 bis 1987 wiss. Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus (IML) in Berlin, Abt. Geschichte nach 1945, Sektor 1945-1949. 1976 Verbot der Verteidigung der vorgelegten Diss. A (revisionist. Positionen) und 1978 Promotion zum Dr. phil. (gekürzt, keine Veröff.) 1987 Promotion zum Dr. sc. phil. Thema: Grundfragen der Kulturpolitik der SED 1945-1949 (keine Veröff.). 1987-1991 wiss. Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte, Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde. 1992-2010 Hochschullehrer an der Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl Zeitgeschichte (stets nur befristet). Wichtige Veröff.: Um die Erneuerung der deutschen Kultur. Dokumente zur Kulturpolitik 1945-1949, zus.gest u. eingel. von G. Dietrich, Berlin (Ost) 1983; G. Dietrich: Politik und Kultur in der SBZ 1945-1949, Bern/Berlin/Frankfurt/M. 1993; G. Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. Bd. I–III, Göttingen 2018/2019. APRIL EISMAN (MA Courtauld Institute of Art, PhD University of Pittsburgh) is Associate Professor of Art History at Iowa State University. Her research focuses on contemporary art and theory with an emphasis on East German art and its reception. Publications include Bernhard Heisig and the Fight for Modern Art in East Germany (Camden House, 2018); »East German Art and the Permeability of the Berlin Wall« In: German Studies Review; and »Painting the East German Experience: Neo Rauch in the Late 1990s« In: Oxford Art Journal. Co-founder of the Transatlantic lnstitute for East German Art, Eisman also co-organizes the »GDR and Socialisms Network« for the German Studies Association. https://www.design.iastate.edu/faculty/eismana/ ANNA GREVE, Prof. Dr., seit 2020 Direktorin des Focke-Museums. Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte. Zudem ist sie Honorarprofessorin an der Universität Bremen. Zuvor war sie seit 2016 zunächst Museumsreferentin, dann Leiterin des Referats »Museen, Staatsarchiv Bremen, Landesarchäologie Bremen, Landesamt für Denkmalpflege, Obere Denkmalschutzbehörde, Kulturgutschutz« beim Senator für Kultur der Freien Hansestadt Bremen. Sie hat Kunstgeschichte und Politikwissenschaft studiert. Ihre Forschungsschwerpunkte: Museologie, postkoloniale Theorie, Kulturpolitik. Aktuellste Publikation: Koloniales Erbe in Museen. Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit (Bielefeld: transcript 2019). RÜDIGER KÜTTNER, 1944 geboren; seit 1964 Verlagsbuchhänder im Aufbau-Verlag; seit 1967 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin; seit 1971 Leiter der Filmpublizistik beim Progress Filmverleih; seit 1974 Staatlicher Kunsthandel der DDR; in verschiedenen Funktionen, zuletzt Leiter des Außenhandels; seit 1990 Galerie Berlin, Küttner & Ebert GmbH.

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PETER MICHEL, geb. am 14.10.1938 in Freyburg (Unstrut). Volksschule in Freyburg und Berlin. 1956 Abitur. 1956 bis 1959 Studium am Pädagogischen Institut Erfurt (Germanistik und Kunsterziehung). 1970-1974 Aspirantur am Institut für Gesellschaftswissenschaften; Promotion im Bereich Kunstwissenschaften. 1974-1987 Chefredakteur der Zeitschrift Bildende Kunst. 1979-1991 Mitglied der UNESCOOrganisation AICA. Mitarbeit in den Jurys »100 Ausgewählte Graphiken« und »100 Beste Plakate« sowie in der Auswahlkommission »Malerei und Graphik« der X. Kunstausstellung der DDR. 1991-2003 Freier Mitarbeiter im pb-Verlag München. 20042012 Chefredakteur der Zeitschrift ICARUS. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Dokumentarfilmszenarien, Rezensionen für den Rundfunk, Beiträge für die Tagespresse sowie für nationale und internationale Kunstzeitschriften, Katalogtexte, Eröffnungsreden für Kunstausstellungen. 7 Buchpublikationen. MARTIN PAPENBROCK, apl. Professor am Institut für Kunst- und Baugeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Promotion 1991 an der Universität Osnabrück (bei Jutta Held) mit einer Dissertation über Funktionen christlicher Ikonographie in der Kunst der frühen Nachkriegszeit (1945-49), Habilitation 1999 mit einer Arbeit über die Kunst der niederländischen Glaubensflüchtlinge im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert (erschienen als Landschaften des Exils. Gillis van Coninxloo und die Frankenthaler Maler, Köln 2001). Forschungsschwerpunkte: Niederländische Malerei der frühen Neuzeit, Kunst und Politik im 20. Jahrhundert (Nationalsozialismus, Exil, Studentenbewegung), Urban Art (Graffiti, Kreative Interventionen, Aktivismus), Theorieund Fachgeschichte der neueren Kunstwissenschaft, Digitale Kunstgeschichte. Aktuelle Projekte: Informationssystem Graffiti in Deutschland (INGRID), zusammen mit Doris Tophinke (Universität Paderborn); Nachlass Myra Warhaftig. Emanzipatorisches Wohnen und Architektur im Exil. GISELA SCHIRMER, Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie in Freiburg und München, 1966 Magister bei Kurt Bauch. Nach Tätigkeiten für die Denkmalpflege, für das Bibliographische Institut Mannheim und für die Volkshochschule Osnabrück 1996 Promotion bei Jutta Held in Osnabrück. Ab 1998 Studien zur Kunst in der DDR. Buchveröffentlichungen u. a. Willi Sitte. Farben und Folgen, Leipzig 2003; DDR und documenta. Kunst im deutsch-deutschen Widerspruch, Berlin 2005; Willi Sitte – Lidice. Historienbild und Kunstpolitik in der DDR, Berlin 2011. ANGELIKA WEIßBACH, Studium der Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft in Berlin, Paris und Rom, 2008 Promotion zum Thema »Frühstück im Freien – Freiräume im offiziellen Kunstbetrieb der DDR« an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2009–2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im BMBF-Forschungsprojekt »Bildatlas: Kunst in der DDR« an der TU Dresden, 2012–2015 Rechercheprojekt und Herausgabe der QuellenEdition »Wassily Kandinsky – Unterricht am Bauhaus 1923–1933. Vorträge, Seminare, Übungen« am Centre Pompidou Paris, seit 2015 Vorstandsmitglied der Max-LingnerStiftung Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstarchiv Beeskow (https://angelikaweissbach.weebly.com/)

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Anhang

Abbildungsverzeichnis und -nachweis Beitrag Peter Michel: Abbildung 1: Abbildung 2:

Abbildung 3:

Abbildung 4: Abbildung 5:

Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 9/1974, Wolfgang Mattheuer, Die Ausgezeichnete, 1974, Öl, 124 x 100 cm Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 8/1075, Henry Moore, Familiengruppe, Modellskizze für Steinskulptur, 1944, Terrakotta, Höhe 17 cm Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 5/1978, mit Werken der Brigade Ramona Parra, Hernando Leons und José Venturellis, mit einer Wandmalerei in der Buchhandlung der Staatlichen Universität Santiago und Arbeiten von Carlos Vasquez und Roberto Matta Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 12/1982, Pablo Picasso, Weinende Frau, Graphit, Farbstift, Gouache auf Leinwandpapier, 13. Juni 1937 Titelbild der Bildenden Kunst, Heft 11/1986, Gebäudeansicht des Bauhauses Dessau, 1986

Beitrag Martin Papenbrock: Abbildung 1: Abbildung 2:

Abbildung 3: Abbildung 4:

Abbildung 5: Abbildung 6:

tendenzen, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR (Titelblatt) Fritz Cremer, Aufsteigender, 1965, Gipsmodell. Aus: tendenzen, 1. Sonderheft 1965: Künstler in der DDR, S. 180, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Ausstellungskatalog Tendenzen, Halle 1966 (Titelblatt) Carlo Schellemann, Ritter, Tod und Teufel, 1964. Aus: Ausstellungskatalog Tendenzen, Halle 1966, S. 57, Abb. 137, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Guido Zingerl, Euphorie, 1965. Aus: Ausstellungskatalog Tendenzen, Halle 1966, S. 67, Abb. 187, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Ausstellungskatalog Situation 66, Augsburg 1966 (Titelblatt)

Beitrag Gisela Schirmer: Abbildung 1:

Abbildung 2:

Willi Sitte: Stalingrad – nicht vergessen (Memento Stalingrad), 1961, Diptychon mit Predella, Mischtechnik auf Hartfaser, linker und rechter Flügel je 153,5 x 120 cm, Predella 123 x 240 cm, Akademie der Künste, Berlin. Aus: Ausst.-Kat. Europaweit. Kunst der 60er Jahre. Städtische Galerie Karlsruhe/Staatliche Galerie Moritzburg Halle. Ostfildern-Ruit 2002, S. 181A, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 A.R. Penck: Selbstbildnis, 1959, Öl auf Pappe, 53 x 41,7 cm, Privatsammlung. Aus: Eckhart Gillen, Das Kunstkombinat DDR. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik. Köln 2005, S. 101, © VG BildKunst, Bonn 2020

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Abbildung 3:

Abbildung 4:

A.R. Penck: Weltbild I, Öl auf Hartfaser, 122 x 160 cm, Kunsthaus Zürich. Aus: Eckhart Gillen, Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990. Berlin 2009, S. 197, © VG BildKunst, Bonn 2020 Von A.R. Penck »überarbeitete Reproduktion« von Willi Sittes Gemäldes Die rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg aus der Zeitschrift Bildende Kunst. Akademie der Künste, Berlin, VBK-Zentralvorstand Nr. 421/2, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Beitrag April Eisman: Figure 1:

Figure 2:

Figure 3:

Figure 4:

Figure 5:

Figure 6:

Steffen Fischer and Angela Hampel, Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy), Jugendklub Marschnerstraße, Dresden, 1987, Latex on plaster, from: 12. Kunstausstellung des Bezirkes Dresden, Albertinum, Ausstellungszentrum am Fučikplatz, 6. Oktober–26. November 1989 (Dresden: Rat des Bezirkes, 1989), p. 37, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Angela Hampel, Penthesilea, 1987/88, mixed media, 180 x 125 cm, from: 12. Kunstausstellung des Bezirkes Dresden, Albertinum, Ausstellungszentrum am Fučikplatz, 6. Oktober–26. November 1989 (Dresden: Rat des Bezirkes, 1989), p. 38, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Steffen Fischer, Wohin willst Du, Adam? (Adam, Where do you want to go?), 1986, dispersion paint, 189 cm x 134 cm, from: X. Kunstausstellung der DDR (Berlin: Verband Bildende Künstler der DDR, 1987), p. 80, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Photo of a discussion in front of Angela Hampel and Steffen Fischer’s mural Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy), Jugendklub Marschnerstraße, Dresden. Photo: Matthias Lüttig. Andreas Dress and Angela Hampel, Untitled Mural, Kindergarten Schnorrstrasse, Dresden, 1984, Latex on plaster. Thanks to Angela Hampel for the photograph, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Steffen Fischer and Angela Hampel, Jugend in Ekstase (Youth in Ecstasy), 1987, from: 12. Kunstausstellung des Bezirkes Dresden, Albertinum, Ausstellungszentrum am Fučikplatz, 6. October–26. November 1989 (Dresden: Rat des Bezirkes, 1989), p. 37

Beitrag Angelika Weißbach: Abbildung 1: Abbildung 2:

Abbildung 3:

Ingo Arnold, o. T. (Porträt Johannes R. Becher), 1990, Offsetdruck, 54 x 40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Foto: Armin Herrmann, © Künstler Uwe Pfeifer, Grünewald (Becher), 1990, Farb-Lithografie, 47 x 34 cm, Kunstarchiv Beeskow. Foto: Armin Herrmann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Kurt Buchwald, Stalingraben / Große Säuberung – Hinter großen Männern, 1990, 4 Fotografien, je 30x40 cm, Kunstarchiv Beeskow. Repro: Armin Herrmann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

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Anhang

Abbildung 4: Abbildung 5:

Ursula Strozynski, Für W. Janka, 1990, Radierung, 53,5 x 39 cm, Kunstarchiv Beeskow. Foto: Armin Herrmann, © Künstlerin Horst Peter Meyer, Zwischen dem was gestern war und heut?! oder verzweifelte Suche nach dem Ausgang, 1990, Radierung, 40 x 54,5, Kunstarchiv Beeskow. Foto: Armin Herrmann, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Beitrag Anna Greve: Abbildung 1:

Abbildung 2:

Abbildung 3:

Werner Peiner: Moderne Europa, 1926. Aus: Anja Hesse: Malerei des Nationalsozialismus – Der Maler Werner Peiner, Hildesheim 1995, S. 386, Abb. 10, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Max Beckmann: Der Raub der Europa, 1933. Aquarell und Bleistift auf Papier, 51,1 x 69,9 cm, Bielefeld, Privatbesitz. Aus: Mayen Beckmann (Hg.): Max Beckmann – Die Aquarelle und Pastelle, Köln 2006, S. 163, Abb. 62. Michael Triegel: Traum der Europa, 2004, Mischtechnik auf MDFPlatte, 160 x 90 cm, Privatbesitz. Aus: Karl Schwind (Hg.): Michael Triegel – Discordia concors, München 2018, S. 77, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Beitrag Martin Papenbrock: Abbildung 1: Abbildung 2:

Abbildung 3:

Abbildung 4:

Abbildung 5:

Abbildung 6:

Otto Mueller: Liebespaar, 1919, Öl/Lw., Museum der bildenden Künste Leipzig Otto Schubert: Liebespaar, um 1920, Holzschnitt. Aus: Ausst.-Kat. Kunst im Aufbruch. Dresden 1918–1933. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Dresden 1980, S. 320, Nr. 474 Conrad Felixmüller: Liebespaar im Regen, 1922, Aquarell, Kunstsammlungen Chemnitz – Museum Gunzenhauser, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Conrad Felixmüller: Liebespaar im Kohlenrevier, 1921, Tuschezeichnung, Privatbesitz. Aus: Christian Rathke (Hg.): Conrad Felixmüller. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik, Skulpturen. Ausst.Kat. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig. Neumünster 1990, S. 193, Kat.-Nr. 121m, © VG BildKunst, Bonn 2020 Conrad Felixmüller: Liebespaar im Industriegelände, 1922, Tuschezeichnung, Privatbesitz. Aus: Christian Rathke (Hg.): Conrad Felixmüller. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik, Skulpturen. Ausst.-Kat. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig. Neumünster 1990, S. 198, Kat.-Nr. 129, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Conrad Felixmüller: Liebespaar von Dresden, 1928, Öl/Lw., Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Aus: Christian Rathke (Hg.): Conrad Felixmüller. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Druckgraphik, Skulpturen. Ausst.-Kat. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss

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Abbildung 7:

Abbildung 8:

Abbildung 9:

Abbildung 10:

Abbildung 11:

Abbildung 12:

Abbildung 13:

Abbildung 14:

Abbildung 15:

Gottorf, Schleswig. Neumünster 1990, S. 115, Kat.-Nr. 36, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Hans Baluschek: Feierabend, 1925, Gouache-Pastell auf Papier, Märkisches Museum Berlin. Aus: Ausst.-Kat. Hans Baluschek 1870-1935. Staatliche Kunsthalle Berlin. Berlin 1991, S. 17, Kat. Nr. 112 Hans Baluschek: Arbeiterjugend, 1925, Lithographie, BröhanMuseum Berlin. Aus: Ausst.-Kat. Hans Baluschek 1870-1935. Staatliche Kunsthalle Berlin. Berlin 1991, S. 148, Kat. Nr. 278 Hans Baluschek: Sommerabend, 1928, Öl/Lw., Berlinische Galerie. Aus: Ausst.-Kat. Hans Baluschek 1870-1935. Staatliche Kunsthalle Berlin. Berlin 1991, S. 39, Kat. Nr. 32 Hans Grundig: Liebespaar, 1925, Öl/Lw., Staatliche Museen Berlin. Aus: Günter Feist: Hans Grundig. Dresden 1979, Tafel 21, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Max Lingner: Arbeiterliebe. Titelblatt Monde, Nr. 121, 27.09.1930. Aus: Max Lingner 1888-1959. Gemälde, Zeichnungen, Pressegraphik. Ausst.-Kat. Staatliche Museen zu Berlin. Berlin/DDR 1988, S. 161, Kat. Nr. 269 Max Lingner: Arbeiterliebe IV, um 1929, Privatbesitz. Aus: Max Lingner 1888-1959. Gemälde, Zeichnungen, Pressegraphik. Ausst.Kat. Staatliche Museen zu Berlin. Berlin/DDR 1988, S. 68, Kat.-Nr. 69, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Werner Hofmann: Unter einer Brücke, 1931/32, Öl/Lw., Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Abb. in: Birgit Dalbajewa (Hg.): Neue Sachlichkeit in Dresden. Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden. Dresden 2011, S. 243 Werner Hofmann: Die Liebe ist die Freude der Armen, 1932, Linolschnitt. Aus: Ausst.-Kat. Werner Hofmann. Maler und Grafiker Dresden 1907-1983. Mitglied der ASSO. Bearbeitet von Arnold Orlik. Dresdner Schloss. Dresden 1983, S. 29, Kat. Nr. 24 Rudolf Bergander: Liebespaar, 1932, Öl/Lw. Aus: Harald Olbrich: Proletarische Kunst im Werden. Berlin/DDR 1986, S. 215–216, Tafel 28, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Beitrag Anna Greve: Abbildung 1:

Abbildung 2:

Gemälde: Henri de Toulouse-Lautrec: Junges Mädchen im Atelier (Hélène Vary), um 1889, Gouache auf Pappe, Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen – Foto: Jette und Jörg Peterschewski Originalkopf des Roland, 1404, Elmkalkstein, Focke-Museum. Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte