50 Jahre danach - 50 Jahre davor: Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen 9783737003360, 9783847103363, 9783847003366


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German Pages [392] Year 2014

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50 Jahre danach - 50 Jahre davor: Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen
 9783737003360, 9783847103363, 9783847003366

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Rolf Koerber, Dirk Schumann, Detlef Siegfried, Barbara Stambolis für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Jahrbuch 9 / 2012 – 13

»Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch« ist die Fortsetzung der Reihe »Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung«. Die Bandzählung wird fortgeführt.

Jürgen Reulecke (Hg.)

50 Jahre danach – 50 Jahre davor Der Meißnertag 1963 und seine Folgen

Mit 14 Abbildungen

V& R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0336-3 ISBN 978-3-8470-0336-6 (E-Book) Redaktion: Susanne Rappe-Weber Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Wilhelm Geißler (1895 – 1977) für ein Plakat zur Archiv-Ausstellung des Archivs der deutschen Jugendbewegung in Bad Sooden-Allendorf zum Meißnertag 1963 Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Barbara Stambolis Die Ludwigsteintagung 2012 – mit Blick auf 1913 und 2013 . . . . . . . .

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Der Meißnertag von 1963 im Kontext Jürgen Reulecke 50 Jahre danach – 50 Jahre davor: Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Detlef Siegfried Die frühen 1960er-Jahre als »zweite Gründung« der Bundesrepublik . . .

27

Helmut Donat Hundert Jahre »Lukanga Mukara«. Anmerkungen zu Hans Paasche, Meißnerfahrer von 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günter C. Behrmann Der Bund deutscher Jungenschaften auf dem Meißnertag 1963 . . . . . .

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Gerhard Neudorf Vorgeschichte, Planung und Perspektiven des Meißnertreffens von 1963. Der Wandervogel Deutscher Bund (WVDB) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rückblicke und Einschätzungen aus der Distanz Renate Rosenau Das »Seminar junger Bünde«. Rückblicke und Einschätzungen aus der Distanz von fünfzig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

6

Inhalt

Johann P. Moyzes (mit einem Beitrag von Hermann Diehl) Die Kontroverse im Bund Deutscher Pfadfinder um die Teilnahme am Meißnertreffen 1963. Spuren im Schrifttum des BDP . . . . . . . . . . . 103 Norbert Schwarte Erinnerungen an den Meißnertag 1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Erdmann Linde Der Hortenring in den frühen 1960er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kay Schweigmann-Greve »1963 ist das an uns vorbeigegangen …«. Der Hohe Meißner, die Arbeiterjugend und »Die Falken« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Franz Riemer Fritz Jöde und der Hohe Meißner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Oss Kröher Die Festivalreihe »Chanson Folklore International« auf der Burg Waldeck von 1964 bis 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Aktivitäten, Anstöße, Weiterentwicklungen Hartmut Alphei Jugendbewegung und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Hans Heintze »… aber Glück ist schwer in diesem Land.« Die Jungen Bünde und der Ost-West-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Gerhard Neudorf Der Ring junger Bünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Eckard Holler Linke Strömungen in den Jungenschaften in der dj.1.11-Tradition nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Jürgen Reulecke Jugendbewegung auf dem Weg in den öffentlichen Raum. Dokumentation der Podiumsdiskussion (mit Beiträgen von Arno Klönne und Roland Eckert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Inhalt

Susanne Rappe-Weber Bilder des Meißnertages 1963

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Weiterer Beitrag Romin Heß Politische Momente im Selbstverständnis und in der Praxis des Jugendbundes dj.1.11 nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Werkstatt Susanne Heyn Neuere Forschungen zur historischen Jugendbewegung – ein Tagungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Rüdiger Ahrens Dissertationsprojekt: Eine neue Geschichte der bündischen Jugend (1918 – 1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Knut Bergbauer Dissertationsprojekt: Die jüdische Jugendbewegung in Breslau (1912 – 1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Elisabeth Meyer Dissertationsprojekt: Jugendbewegung und Sozialpädagogik . . . . . . . 305 Yorck Müller-Dieckert Jugendbewegung im Dissertationsprojekt: Der parteipolitische Bezug der Bündischen Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Simon Nußbruch Dissertationsprojekt: Musik der Bündischen Jugend nach 1945 . . . . . . 317 David Templin Jugendbewegung im Dissertationsprojekt: Auf der Suche nach einer »neuen Jugendbewegung«? Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . 321 Kristian Meyer Dissertationsprojekt: Von Friedenstauben und Wandervögeln, Sonnenblumen und Blauer Blume. Bündisch-jugendbewegtes Engagement in den Neuen Sozialen Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . 325

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Inhalt

Rezensionen G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verfìhrung (Alexander Schwitanski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen«. Biografische Ann•herungen an Siegfried Bernfeld (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts (Gudrun Fiedler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Rìdiger Ahrens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Ute Daniel, Inge Marszolek, Wolfram Pyta, Thomas Welskopp (Hg.): Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Uwe Puschner, Clemens Vollnhals (Hg.): Die vçlkisch-religiçse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Ulrich Herrmann: Vom HJ-Fìhrer zur Weißen Rose. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38 (Fritz Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Reinhard Hesse (Hg.): »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«. Die Geschichte von Hilde und Rose Berger (Barbara Stambolis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Eckart Conze, Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplin•rer Sicht (Rìdiger Ahrens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Rückblicke Norbert Schwarte Nachruf auf Diethart Kerbs (19. 08. 1937 – 27. 01. 2013) . . . . . . . . . . . 367

Inhalt

9

Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2012 . . . . . . 375 Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2012 und Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Wissenschaftliche Archivnutzung 2012 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

Barbara Stambolis

Die Ludwigsteintagung 2012 – mit Blick auf 1913 und 2013

Im Mittelpunkt des Programms der Ludwigsteintagung 2012 stand der Meißnertag 1963, und zwar bezogen zum einen auf das für die Jugendbewegung zentrale sinnstiftende und erinnerungskulturell bedeutsame Meißnertreffen 1913, zum anderen auf das Jahr 2013, in dem das 100-jährige Jubiläum jenes Freideutschen Jugendtages von 1913 begangen werden sollte. Allerdings ging es auf der Archivtagung 2012 nicht um die Qual der Zahl oder die Frage: »Wie rund müssen Jubiläen sein, um wissenschaftlich beachtet werden?« Es ging auch nicht nur um persönliche Erinnerungen derjenigen, die 1963 dabei gewesen waren, wenngleich es Jürgen Reulecke gelungen war, eine Reihe von Zeitzeugen mit eigenen Erfahrungen vom Meißnertag 1963 als Referenten zu gewinnen. Vielmehr spielte auf der Tagung die Tatsache eine wichtige Rolle, dass es mittlerweile eine ganze Reihe von Nachweisen dafür gibt, dass in der Jugendbewegung geprägte Personen bis weit in die 1960er-Jahre hinein in verantwortungsvollen Stellen gesellschaftlich Einfluss genommen haben. Auf manche Facetten dieser gesellschaftlichen Einmischung nahmen diejenigen Referenten Bezug, die auf eigene jugendbewegte Erfahrungen zurückblickten. Und sie griffen die Impulse auf, die von der Jugendbewegung ausgegangen waren und dann deutliche Spuren in der Gesellschaft der 1960er-Jahre hinterlassen haben. Gleichwohl schien sich aus der Sicht derjenigen, die 1963 auf dem Meißner dabei gewesen waren, und mehr noch aus der Wahrnehmung Außenstehender die historische Jugendbewegung scheinbar ihrem Ende genähert zu haben. Das Meißnerjubiläum 1963 erweist sich in diesem Zusammenhang in mehrfacher Hinsicht erinnerungskulturell als herausragend: Einige Vertreter der sogenannten Meißnergeneration des Jahres 1913 meldeten sich 1963 noch einmal zu Wort und formulierten Botschaften an Jüngere und Nachgeborene. Andere konzentrierten sich auf die jugendbewegte Generationenerzählung, der zufolge der Meißner 1913 geradezu der Beginn einer eigenen Zeitrechnung gewesen zu sein schien,

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Barbara Stambolis

die mit 1913 als einer Art »Jahr 0« oder »Jahr 1« begonnen habe und in der das Jahr 1963 eine besondere Zeitmarke darstellte.1 Anknüpfend an die bereits nach 1918 von Jugendbewegten begonnene und nach 1945 unter neuen Akzentsetzungen fortgesetzte Selbsthistorisierung, oft mit wissenschaftlichem Anspruch, entwickelte sich um 1963 zudem eine besonders intensive Gedenkdynamik. In diesem Jahr erschien der erste Teil der zwischen 1963 und 1974 in drei Bänden publizierten »Dokumentation der Jugendbewegung«,2 deren Bedeutung Theodor Schieder mit den Worten hervorhob, es gehe hier um das »historische[n] Gedächtnis« der Jugendbewegung.3 1963 erschienen ferner, ebenfalls aus Insidersicht und in deutender Absicht, Karl O. Paetels »Jugend in der Entscheidung«4 sowie Hermann Sieferts »Der bündische Aufbruch 1918 – 1923«.5 Eine ganze Reihe prominenter einstiger Jugendbewegter, unter ihnen z. B. Hans-Joachim Schoeps, kommentierte den Meißner ’63 ausführlich generationell und erfahrungsgeschichtlich. Ohne die 1957 bereits erschienenen Bücher mit breiter Resonanz »Die Skeptische Generation« (Helmut Schelsky) und »Jugend im Erziehungsfeld« (Wilhelm Roessler) – beide Autoren übrigens jugendbewegt – wäre um 1963 diese Fülle von jugendbewegten Selbstbestätigungs- wie auch Selbstreflexionsversuchen wohl ebenso wenig denkbar gewesen wie ohne die damals bereits sehr deutlichen gesellschaftlichen Umbruchsignale, die eine zeitgeschichtliche Hintergrundfolie für den Meißner ’63 darstellten.6 Nähere Einsichten in diese sowie weitere Zusammenhänge des Meißnertreffens 1963 zu gewinnen, war ebenso ein Anliegen der Archivtagung 2012 wie der Versuch, die unterschiedlichen Positionen der Teilnehmenden oder auch derjenigen Gruppierungen, die sich der Teilnahme verweigert hatten, zu rekonstruieren und einzuordnen. Wiederholt galt es auch noch einmal, sich einzelne dominante Protagonisten und deren Äußerungen zu Programm und Ablauf der 1 Vgl. Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013. 2 Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der Deutschen Jugendbewegung (= Dokumentation der Jugendbewegung; 1), Düsseldorf u. a. 1963. – Ders. (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896 – 1919 (= Dokumentation der Jugendbewegung; 2), Düsseldorf u. a. 1968. – Ders. (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit (= Dokumentation der Jugendbewegung; 3), Düsseldorf u. a. 1974. 3 Theodor Schieder : Vorwort, in: Kindt: Grundschriften (Anm. 2), S. 5 – 6, hier S. 5. 4 Karl O. Paetel: Jugend in der Entscheidung 1913 – 1933 – 1945, Bad Godesberg 1963. Dabei handelt es sich um die 2. stark erweiterte Auflage von »Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen«, Bad Godesberg 1961. 5 Hermann Siefert: Der Bündische Aufbruch 1918 – 1923, Bad Godesberg 1963. 6 Helmut Schelsky : Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. – Wilhelm Roessler : Jugend im Erziehungsfeld. Haltung und Verhalten der deutschen Jugend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der westdeutschen Jugend der Gegenwart, Düsseldorf 1957.

Die Ludwigsteintagung 2012 – mit Blick auf 1913 und 2013

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Veranstaltungen – in Göttingen und auf dem Meißner selbst – vor Augen zu führen und rückblickend zu deuten. Kritik wurde damals in unmittelbarer Reaktion bereits in vielfacher Hinsicht laut. Der Bund Christliche Pfadfinder (CP) etwa äußerte sich folgendermaßen distanziert: Man solle »vielleicht einmal […] eine Fahrt zu dem alten Germanen Wyneken in der Schule am Meer auf Sylt aus [rüsten], damit ihm klar gemacht« werde, »daß sowohl die Weimarer Republik mit ihren unglaublichen Freiheiten wie das Dritte Reich mit seinem unglaublichen Gegenteil der Geschichte« angehörten. Man verwies auch auf den Kampf um die Deutungshoheiten des Jahres 1963, die offenbar einen Höhepunkt darin fanden, dass Knud Ahlborn sich als eigentlicher »Erfinder« der Meißnerformel dargestellt habe. Ahlborn, so ein Bericht aus Kreisen der CP, habe »seine Ausführung mit der Feststellung [beendet], er sei einer derjenigen gewesen, die auf dem Gipfel des Hohen Meißner 1913 die Formel geprägt hätten, unter der sich alle Jugendbewegten in der Folge bis zu Hitlers Machtergreifung noch eins« gewusst hätten.7 1963 wurden jugendbewegungsintern ausgesprochen kontrovers die geschichtliche Bedeutung und die Zukunft der Jugendbewegung diskutiert. Die daran Beteiligten waren verschiedensten weltanschaulichen Positionen verpflichtet, gehörten unterschiedlichen Generationen an und hatten mehr oder weniger alle ein ausgeprägtes Bewusstsein für jugendbewegte Generationalität und ihre Folgen. Dass eine Zeit kommen werde, in der nicht mehr in erster Linie jugendbewegte Erlebens- und Erfahrungsgenerationen auch die Forschungen zur Geschichte der Jugendbewegung betreiben würden, war bereits zu Beginn der 1960er-Jahre geradezu ein Leitmotiv für diejenigen Jugendbewegten, die damals etwa 50 bis 80 Jahre alt waren. Schoeps, u. a. auch langjähriges Mitglied des Trägervereins der Burg Ludwigstein, meinte z. B., nachdem er die Meißnerformel zitiert, das Meißnerereignis 1913 mit starken Worten in seiner Wirkung umschrieben und die Folgen jugendbewegter Erfahrungen für die 50- bis 80-Jährigen als »einzigartig und einmalig« gekennzeichnet hatte, 1963 habe es eine völlig andere Ausgangslage gegeben: »Für die Jugendbewegung alten Stils« sei »hier kein Platz mehr« gewesen.8 Dass bald schon vornehmlich Außenstehende die Deutung der Jugendbewegung betreiben würden, hatte auch Gerhard Ziemer, einstmals dem Wandervogel angehörend und langjährig im Beirat des Archivs der deutschen Jugendbewegung tätig, im Blick. Im Vorwort zu dem mit dem Ludwigsteiner Burgarchivar und Wandervogel Hans Wolf herausgegebenen Band »Wandervogel und Freideutsche Jugend« stellte Ziemer fest: »Gegenüber 7 Paetel: Jugend (Anm. 4), S. 20. 8 Die »Überlebenden der alten Jugendbewegung« könnten allenfalls, wenn sie noch mal zum Hohen Meißner zögen, dadurch geehrt werden, dass die nachgewachsene Jugend einen eigenen Weg gehe und das Vermächtnis »in die eigene Gegenwart« übersetze: Hans Joachim Schoeps: Vor fünfzig Jahren: Hoher Meißner, in: Die Zeit, Nr. 41 vom 11. 10. 1963.

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Barbara Stambolis

Berichten über die Jugendbewegung durch Beteiligte wird bisweilen eingewendet, daß sie nicht kritisch genug seien, weil sie aus dem eigenen Erlebnis einen Mythos machen. Die unbefangene Geschichtsschreibung durch Außenstehende möge kommen.« Sie habe »bei dem Alter der früheren Wandervögel ohnehin bald das Feld für sich.«9 Dieser Auffassung stimmten nicht zuletzt unbeteiligte Außenstehende zu, beispielsweise der damals 23-jährige junge Historiker Lutz Niethammer, der für den Südwestfunk über den Meißnertag 1963 berichtete.10 Kritisch distanziert äußerte sich auch »Der Spiegel«: »Im Herzen Deutschlands, auf dem Hohen Meißner, trat rottenweise und feierlich eine Tausendschaft teils sehr alter, teils recht junger Männer zusammen«, beginnt der »Spiegel«-Bericht. »Die Jugendbewegten« hätten »zur Pilgerfahrt nach dem markanten Berg aufgerufen, um den 50. Jahrestag jenes Treffens zu feiern, das als Geburtsstunde der deutschen Jugendbewegung« gelte. Die zeitgenössische Jugendbewegung jedoch sei »tot«, trage nur noch »sektiererische Züge«.11 Ähnlich übrigens – ebenfalls im »Spiegel« – nahm 1964 der damals 36-jährige Kurt Sontheimer Stellung: Die Jugendbewegung sei nur noch ein historisches Phänomen, kein Wunder also, dass »die alten Kämpen der Bewegung ihre Erlebnisse in Druck« gäben und jüngere Historiker genug Stoff für Dissertationen fänden.12 Wie mag ein naiver Außenblick auf das Lager von 1963 ausgesehen haben, etwa von nachkriegsgeborenen, nicht jugendbewegten Schülern, die zufällig 1963 am Meißner vorbeikamen? Vielleicht finden sich eines Tages solche Zeugnisse! Wenn Walter Laqueur 1960 verwundert feststellte, dass ihm auf einer Reise in die Umgebung des Ludwigsteins Bündische begegnet seien, die wie schon Jungenschaftsgruppen vor 1933 »Die grauen Nebel hat das Licht durchdrungen« gesungen hätten,13 wie mag es erst Jugendlichen angesichts des Meißnerlagers 1963 gegangen sein, die zuvor möglicherweise die Beatles in Hamburg erlebt hatten? Dass es in den 1960er-Jahren jugendliche Parallelwelten gab und die Jugendbewegten nicht mehr zum jugendkulturellen Mainstream gehörten, dürfte auf der Hand liegen. Erhalten haben sich Dokumente nicht jugendbewegter Schüler, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg, also gewissermaßen mit Blick auf den Meißner 1913, ihre Wahrnehmung der Jugendbewegung als 9 Gerhard Ziemer, Hans Wolf: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961, S. 5. 10 Lutz Niethammer : Der Meißnertag 1963 – eine Nachlese: Beobachtungen und Anmerkungen, Ms. zu einer Sendung des Südwestfunks, Baden-Baden 1963. 11 »Lasst uns die Köpfe, nicht die Beine zählen«. Spiegel-Report über organisierte Jugendliche in der Bundesrepublik, in: Der Spiegel 1963, Nr. 42, S. 77 – 86, hier S. 77. 12 Kurt Sontheimer : Das Gift der Blauen Blume. Kurt Sontheimer über Harry Pross: »Jugend Eros Politik«, in: Der Spiegel, 1964, Nr. 39, S. 126 – 127. 13 Walter Laqueur : Jugendbewegung. Betrachtungen auf einer Reise, in: Der Monat, 1960, 12. Jg., Heft 142, S. 51 – 58, hier S. 52.

Die Ludwigsteintagung 2012 – mit Blick auf 1913 und 2013

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einer ihnen gänzlich fremden Welt beschrieben haben. Auszüge daraus wurden 1916 in der »Zeitschrift für angewandte Psychologie« kommentiert wiedergegeben. Ein Schüler hatte folgende Beobachtungen notiert, die wohl aus heutiger Sicht eher unfreiwillig harmlos witzig anmuten: »Ich sah ein großes Lager von Wandervögel. Es waren viele Zelte aufgeschlagen und darunter schliefen alle. Es war 4 Uhr nachts da wachten sie allmelich auf. Dann zündeten sie ein großes Feuer an und stellten drei Pfähle auf und hänkten einen großen Kessel darunter […] Jetzt verspeisten sie ihr Frühstück und dann gingen sie fort. Bald kamen sie in einen Wald […] plötzlich jachten alle einen Hasen nach und jetzt war er in die Falle. Einer hielt ihm bei den Löffel fest und jetzt wurde er geschlachtet. Am Mittag wurde er gebraten und verspeist. Das Fell wurde verkauft und sie bekamen 40 Pf. dafür.«14 Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Ludwigsteintagung des Jahres 2012 konnten eine solche Äußerung wie die eben zitierte natürlich nur beiläufig zur Kenntnis nehmen. Sie sollte vor allem in vorsichtiger Weise folgende Frage im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Meißnerjubiläum des Jahres 2013 andeuten: Wie werden Unbeteiligte die Archivtagung des Jahres 2012 sehen und was werden Außenstehende über das Meißnerlager 2013 berichten? Und wie werden künftige Wissenschaftler diese Ereignisse mit kritischem Abstand beurteilen? Werden sie mit ethnografischem Blick von letzten Resten eines »untergegangenen Kulturguts« sprechen? Oder werden sie das Phänomen Jugendbewegung nicht nur bezogen auf 1913, sondern auch auf 1963 als »Mikrokosmos« der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnen, wie es Walter Laqueur einmal getan hat?15 Und welche Ausstrahlungen werden ihr über 1963 hinaus nachzuweisen sein? Gegenwärtig scheinen wir uns an einer Schwelle zu befinden, an der eine um 1930 geborene, von der Jugendbewegung beeinflusste Altersgruppe und einige noch einmal rund zehn Jahre Jüngere darüber nachdenken, seit wann die Jugendbewegungsgeschichte des 20. Jahrhunderts möglicherweise nur noch als eine Art »Restgeschichte« betrachtet werden kann.16 14 Theodor Valentiner : Das Wandervogelbild, in: ders.: Die Phantasie im freien Aufsatze der Kinder und Jugendlichen (= Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 13), Leipzig 1916, S. 90 – 103, hier S. 94. 15 Vgl. G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Ausstellungskatalog, Nürnberg 2013. – Vgl. auch Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis (Hg.): 100 Jahre Hoher Meißner. Kommentierte Quellen (in Vorbereitung). 16 Vgl. mit Blick auf die in den 1930er-Jahren und um 1940 geborenen Jugendbewegten: Barbara Stambolis, Paul Ciupke: Politisch engagierte »Skeptiker«. Ein Zeitzeugengespräch zur Jugendbewegung und Jugend- sowie Erwachsenenbildung von den 1950er bis in die 1970er Jahre, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF 8, S. 248 – 297, sowie: Barbara Stambolis im Gespräch mit Arno Klönne und Jürgen Reulecke, in: Ebd., S. 400 – 413. – Siehe ferner : Stambolis: Jugendbewegt Anm. 1).

Der Meißnertag von 1963 im Kontext

Jürgen Reulecke

50 Jahre danach – 50 Jahre davor: Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen

Im Einführungstext auf dem Prospekt zu unserer Archivtagung befand sich ein Hinweis, der manche Leser etwas verblüfft haben mag. Die Tagung – so heißt es dort – solle auch ein Versuch sein, jenes Meißnerfest von 1963 aus Anlass der Erinnerung an den Freideutschen Jugendtag vom Oktober 1913 mit »durchaus ironischer Absicht« sowohl zeit- und generationengeschichtlich als auch erfahrungsgeschichtlich, das heißt also autobiographisch einzuordnen. Bei der Eröffnung der Archivtagung am Abend wurde diese »Absicht« in Richtung »Ironie« dann ein wenig erläutert, und in einer speziellen Form wurde sie schließlich durchaus, ohne dass dies an die große Glocke gehängt worden wäre, zu einem Leit- und Oberbegriff des Treffens sowohl für die fünfundzwanzig Vortragenden als auch für viele der etwa siebzig Tagungsteilnehmer. Ob und wie diese Idee von den Referenten/Referentinnen tatsächlich aufgegriffen worden ist, kann der Leser an den folgenden Textbeiträgen feststellen. Von vorn herein fiel damit jedoch der Stil dieser Archivtagung – es war die 38. seit dem Jahr 1967 – aus unserem sonst üblichen Tagungsstil deutlich heraus. Angesprochen wurde hier mit »Ironie« nicht die umgangssprachlich übliche Bedeutung dieses Begriffs, sondern – und das war den Referenten und Referentinnen im Vorhinein auch bereits schriftlich mitgeteilt worden – die »romantische Ironie« im Sinne des berühmten Romantikers und Kulturphilosophen Friedrich Schlegel (1772 – 1829). Schlegel hatte Anfang der 1790er-Jahre in Göttingen studiert, war dort unter anderem von einer für ihre Zeit bemerkenswert zur Ironie fähigen »Virtuosin der Freiheit«, nämlich der neun Jahre älteren Caroline Michaelis, verwitwete Böhmer (1763 – 1809), später Caroline Schlegel-Schelling, in ihn stark motivierenden Gesprächen dazu angeregt worden, sich dem Thema »Ironie« lebenslang zu widmen, so dass er schließlich zu folgender Definition kam: »Ironie«, so Schlegel, bedeute »im ursprünglichen Sokratischen Sinn […] nicht andres, als das Erstaunen des denkenden Geistes über sich selbst, was sich oft in ein leises Lächeln auflöst.« Und er fügte dann noch hinzu, dass sich dabei infolge von Selbstrelativierung und Selbstkritik auch das Gefühl von Komik einstellen könne, die jedoch eine wichtige Voraussetzung

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Jürgen Reulecke

für eine »höherliegende Ernsthaftigkeit« sei. »Klarheit und Heiterkeit« seien dann die Folge.1 Warum dieser Exkurs im Hinblick auf unsere Archivtagung? Wer die große Zahl von Deutungen der Jugendbewegung aus der Sicht von Beteiligten, wer auch die vielen programmatisch-pathetischen Äußerungen aus Anlass größerer Treffen – angefangen mit dem Meißnertreffen von 1913 über das Fünfzigjahrjubiläum von 1963 bis hin zur »Gemeinsamen Erklärung« der »Jungen Bünde« beim 1988er Meißnerlager2 – sowie die ältere wissenschaftliche Literatur zur Geschichte der Jugendbewegung, die oft von Autoren mit jugendbewegter Prägung verfasst wurde, ein wenig kennt, der weiß, dass ein selbstironischer Blick im Schlegel’schen Sinn dort praktisch nicht vorkommt. Im Vorfeld des Hundertjahrjubiläums im Herbst 2013 lag es daher nahe, zu versuchen, eine größere Zahl von Akteuren sowie Zeitzeugen des Meißnertreffens des Jahres 1963 einzuladen und dazu zu gewinnen, aus erfahrungsgeschichtlicher Sicht, aber mit dem Wissen, dass eine solche Sicht immer eine rückblickende Rekonstruktion ist, sowie mit selbstironischem Abstand einen Beitrag zu liefern. Zusätzlich sollten auch noch einige weitere Mitwirkende, die zwar keine unmittelbaren Beziehungen zu dem Ereignis besaßen, aber als Fachleute im Hinblick auf die mentalitätsgeschichtlich höchst bedeutsamen frühen 1960er-Jahre dazu beitragen, das Ereignis von 1963 abständig in seinen allgemeinhistorischen Kontext, der auch als »zweite Gründung der Bundesrepublik« bezeichnet wird, zu stellen.3 Insofern sollte unsere Archivtagung alles andere sein als ein nostalgisches Erinnerungstreffen, wie es das Meißnertreffen von 1963 noch für diejenigen gewesen war, die das damals fünfzig Jahre zurückliegende Ereignis von 1913 miterlebt hatten. Stattdessen ging es uns darum, einen deutlichen Anreiz zu liefern, sowohl in den Vorträgen als auch in den Diskussionen jenes bekannte Phänomen »ironisch« zu bewältigen, das mit dem Hinweis auf zwei Seelen in unserer Brust angesprochen ist – jene zwei Seelen nämlich, die vor allem dann – 1 Zitiert nach Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, 3. Aufl. Tübingen 2002, S. 81; hier auch Hinweise auf Bezüge zu Caroline Schlegel-Schelling, S. 93 – 97. Schlegels Zeitgenosse Hegel hat ihm übrigens vorgeworfen, er habe mit seiner Auffassung von Ironie zu einer übertriebenen Subjektivität mit der Folge verantwortungsloser Willkür und moralischer Zersetzung den Anstoß gegeben. Siehe dazu Oliver Zybok: Kein Ende der Ironie, in: Kunstforum International 2012, Bd. 213, S. 33 – 55, hier S. 34. 2 Vgl. Winfried Mogge, Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung; 5), Köln 1988. – Vgl. zu 1963: Deutscher Pfadfinderbund, Fälische Mark, Landesamt Hannover-Ricklingen (Hg.): Junge Bünde 1963. Jahrbuch bündischer Jugend. Zum Meißnertag am 12. und 13. Oktober 1963, Hannover, darin die »Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißner-Tag 1963«, S. 57. – Zu 1988: Verein zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 1988, Ring junger Bünde (Hg.): Meissner – Dokumentation, Witzenhausen 1989, dort die »Gemeinsame Erklärung 1988« der Bundesführerversammlung, S. 37. 3 Vgl. dazu den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band.

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in Form einer »Selbstparodie« — la Schlegel – in ein inneres Verhältnis zueinander gebracht werden müssen, wenn man einerseits Zeitzeuge eines Ereignisses ist und andererseits mit sachlicher Distanz rückblickend dessen Interpret sein will. Dass bei einer solchen Zwei-Seelen-Herausforderung in unsere Interpretationen und Analysen vieles mit einfließt, was wir seit dem Ereignis inzwischen alles erlebt, erfahren und betrieben haben, liegt auf der Hand. Die Beiträge im vorliegenden Band zeigen an vielen Stellen das Zusammenspiel dieser beiden Blickrichtungen: zum einen das Bestreben, objektiv und quellengesättigt die damalige Realität zu rekonstruieren, und zum anderen die Bereitschaft, durchaus subjektiv sein Erinnerungspotential und seine individuellen Deutungen aus heutiger Sicht mitzuteilen – und dabei dann möglicherweise manche Zuhörer und Leser mit entsprechenden eigenen Erinnerungen auch zu »provozieren«, also zu Gegendarstellungen herauszufordern. Dass es dabei dann durchaus vorkommen kann, dass damalige Kontroversen selbst heute noch wieder »hochkochen«, wenn sie ohne »romantische Ironie« erinnert und zur Kenntnis genommen werden, war uns klar! Gegenstand einiger der folgenden Beiträge ist es durchaus, dass es vor- und nach dem Meißnerjubiläum von 1963 sowie während der Feiern auf dem Meißner selbst eine Reihe von Kontroversen gegeben hat. Die meisten Vortragenden setzten bei unserer Tagung zwar voraus, dass der Ablauf des Treffens vom 11. bis zum 13. Oktober 1963 bekannt gewesen sein dürfte, dennoch soll im Folgenden zunächst noch einmal kurz das damalige Programm vorgestellt werden.4 Nach intensiven Vorüberlegungen und monatelangen Vorbereitungen5 begann das Meißnertreffen am Freitagvormittag zunächst mit der Einweihung des »Meißnerbaus« auf Burg Ludwigstein6, am Abend dann mit einem Singewettstreit der Bünde auf der »Hausener Hute« unterhalb des Meißnergipfels. Am Samstag folgte dann eine Reihe von parallelen Veranstaltungen. So fand am Vormittag ein feierlicher Festakt mit geladenen Gästen in der Aula der Universität Göttingen statt, wo unter anderem ein längeres Gruß4 Vor dem Jubiläum hatten bereits Elisabeth Korn, Otto Suppert und Karl Vogt im Auftrag des Vorbereitungsausschusses einen Sammelband mit Stellungnahmen aus der älteren Generation herausgegeben, der allerdings ausdrücklich nicht als »Festschrift« bezeichnet wurde. – Dies. (Hg.): Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung. Zur 50. Wiederkehr des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf u. a. 1963. 5 Vgl. dazu die Beiträge von Günter Behrmann, Gerhard Neudorf, Renate Rosenau, auch von Johann Moyzes in diesem Band. 6 Fälschlicherweise wird dieser erste Anbau an die seit 1920 von jugendbewegten Kreisen gekaufte und seither renovierte Burg neuerdings als »zweiter Ring« bezeichnet, dem dann noch ein »dritter Ring«, nämlich der vor etwa einem Jahr eingeweihte Enno-Narten-Bau, gefolgt sei. Unterschlagen wird bei dieser Zählung der umfangreiche Küchenanbau, der Anbau zweier neuer Wohntrakte und die intensive Innenrenovierung der Burg im Kontext des Meißnertreffens von 1988.

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wort des damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier7 (1906 – 1986) verlesen wurde, während auf dem Wiesengelände unterhalb des Meißnergipfels das große Kohtenlager der Bünde ausgebaut wurde. Eine Feierstunde an der Werra folgte mittags mit der anschließenden Veranstaltung von sechs Arbeitsgemeinschaften unter dem Oberbegriff »Lebensfragen und Gestaltungswille« in Bad Sooden-Allendorf am östlichen Fuß des Meißner, bei der fast ausschließlich Angehörige der Geburtsjahrgänge von etwa 1885 bis 1910 über aktuelle pädagogische Fragen, über die weltpolitische Lage und die soziale Ordnung, über Lebensweisen und den Naturschutz debattierten, ehe man sich am späten Nachmittag zur Eröffnung einer dortigen Kunst- und Archivausstellung traf.8 Gleichzeitig kamen viele der jungen Bünde in ihrem Kohtenlager unterhalb des Gipfels zusammen und luden sich gegenseitig zu Vorstellungen ein. So gab es Singetreffen am Lagerfeuer, Lichtbildervorträge, Puppen- und Marionettenspiele, Diskussionsrunden und ähnliches bis in die Nacht hinein. Nach Gottesdiensten am frühen Sonntagmorgen des 13. Oktober im Kohtenlager fand dann zunächst ein »Offenes Singen« unter Leitung von Fritz Jöde (1887 – 1970) auf dem Festplatz am Gipfel statt, ehe schließlich um 12 Uhr dort die »Gemeinsame Kundgebung aller Teilnehmer des Meißnerlagers« begann – mit musischen Einlagen, gemeinsamem Singen und Grußworten, von denen das Grußwort des Vertreters des Österreichischen Wandervogels einigen Protest auslöste. Es folgten zwei Festreden: die eine von Knud Ahlborn (1888 – 1977) als Vertreter der älteren Generation, der bereits 1913 eine bedeutende Rolle gespielt und damals die Meißnerformel mitformuliert hatte, die andere von Alexander Gruber (geb. 1937) aus dem Bund deutscher Jungenschaften als Vertreter der jungen Bünde. Es folgte anschließend die Uraufführung des Chorspiels »Kolumbus«, das Alexander Gruber zu diesem Anlass verfasst hatte9 und von einem Sprechchor des Bundes deutscher Jungenschaften präsentiert wurde, ehe dann der abschließende Höhepunkt des Ereignisses die vielbeachtete und häufig zitierte Festansprache von Helmut Gollwitzer10 (1908 – 1993) war. Die »Kundgebung« endete mit dem gemeinsamen Singen der dritten Strophe des Deutschlandliedes, und das Treffen klang schließlich am Sonntagabend mit einem großen »Lagerfeuer der Bünde« aus.11 7 Siehe zur jugendbewegten Prägung Gerstenmaiers Alexandra Schotte: Eugen Gerstenmaier, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 273 – 283. 8 Siehe dazu Archiv der deutschen Jugendbewegung (Hg.): Kunst der Jugendbewegung. Ein Querschnitt durch 50 Jahre zum Meißnertag 1963, Witzenhausen 1963. 9 Abgedruckt ist der Text des Chorspiels wie auch die Rede von Alexander Gruber in: Schrift 16 (= Schriften des Bundes deutscher Jungenschaften) 1963. 10 Zur jugendbewegten Prägung Gollwitzers siehe Detlef Siegfried: Helmut Gollwitzer, in: Stambolis, Jugendbewegt (Anm. 7), S. 285 – 293. 11 Alle Reden und Geleitworte sowie die Verlautbarung der Jungen Bünde zum Meißnertag und

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Bezogen auf das Meißnerjubiläum von 1963 sollte unsere Archivtagung in erster Linie keine abgehobenen Analysen präsentieren, sondern Stellungnahmen, in denen das Meißnerereignis von 1963 aus persönlicher Rückschau in die Aufbruchzeit der frühen 1960er-Jahre gestellt wurde. Der einleitende und einordnende Vortrag von Detlef Siegfried wurde zunächst durch eine weitere Eröffnung ergänzt. Helmut Donat erinnerte an die Publikation des Buches »Lukanga Mukara« von Hans Paasche (1881 – 1920) vor hundert Jahren.12 Danach folgten drei Themenblöcke sowie eine Präsentation von Bild- und Tonquellen zum Meißnertreffen 1963 am Samstagabend und eine abschließende Podiumsdiskussion im Laufe des Sonntagvormittags. Im ersten Block, gestaltet von Günter Behrmann und Gerhard Neudorf (1939 – 2014), ging es um die Vorbereitung des Meißnertreffens, ausgehend von persönlichen Erinnerungen der beiden Referenten, die damals als Delegierte die Planungsaktivitäten einschließlich diverser Auseinandersetzungen zwischen Jung und Alt und zum Teil auch die vorbereitenden Meißner-Seminare seit Anfang 1963 miterlebt hatten. Der umfangreiche zweite Block bestand aus sieben Referaten über Teilaspekte des Meißnertreffens, wobei sowohl damalige Teilnehmer aus der Perspektive ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu einem bestimmten jugendbewegten Umfeld als auch Kenner der Binnendiskussionen in einem der beteiligten Bünde oder einzelner Programmelemente Bericht erstatteten und ihre rückblickenden Beurteilungen zum Teil in breitere individuelle, gruppenbezogene und auch zeithistorische Kontexte stellten. Alexander Gruber schilderte das Zustandekommen seiner Rede, außerdem die Aktivitäten des Bundes deutscher Jungenschaften bei dessen Vorbereitung auf das Treffen mit dem Bemühen, als »Erlebnisgemeinschaft« die Möglichkeiten eines engagierten Aufbruchs zu neuen geistigen Horizonten zu zeigen, bei dem das Fahrtenleben und das Stadtleben das Programm sind abgedruckt in: Werner Kindt, Karl Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963, Düsseldorf u. a. 1964. Die höchst unterschiedliche, zum Teil recht kritische Medienresonanz ist mit über vierzig Beispielen dokumentiert in: Werner Kindt (Hg.): Pressespiegel des Meißnertages 1963, Hamburg 1964; siehe dort auch Kindts »Bilanz des Meißnertages 1963«, S. 127 – 133, und eine umfangreiche Gesamtbibliographie der Pressestimmen. 12 Paasche hatte die neun Briefe des »Afrikaners Lukanga Mukara« an seinen afrikanischen Häuptling von seiner »Forschungsreise ins innerste Deutschland« als Folge in der Zeitschrift Der Vortrupp. Monatsschrift für das Deutschtum unserer Zeit seit 1912 veröffentlicht. Die Briefe wurden nach Paasches Ermordung durch Freikorpssoldaten von Walter Hammer 1921 als Gesamtwerk gedruckt und erreichten hohe Auflagen. Seit Ende der 1970er-Jahre hat Helmut Donat mehrere Neuauflagen von Paasches Werken besorgt. Der Grabstein Paasches befindet sich unterhalb der Burg Ludwigstein, wo 1921 eine uralte Linde nach ihm benannt worden war. Als diese im Sturm umstürzte, pflanzten polnische Jugendliche im Rahmen einer Initiative der Jugendbildungsstätte Ludwigstein eine junge Linde von Hans Paasches ehemaligem Landgut im heutigen Polen dort ein. – Siehe dazu Stephan Sommerfeld: Die Paasche-Linde auf dem Ludwigstein – mehr als ein Baum, in: Historische Jugendbewegung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2008, NF 5, S. 95 – 108.

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nicht mehr als getrennte Welten gedeutet war. Renate Rosenau erläuterte anschließend zunächst das Zustandekommen und die Ziele dreier vorbereitender überbündischer Meißnerseminare seit Januar 1963, von denen das letzte die oben schon erwähnte »Grundsatzerklärung der jungen Bünde« verabschiedete. Ausführlich hat Renate Rosenau davon ausgehend die Weiterentwicklung der Jungen Bünde nach dem Meißnertreffen geschildert, die von einem zunehmenden überbündischen Selbstverständnis geprägt gewesen ist. Die erheblichen Auseinandersetzungen im BDP im Vorfeld des Meißnertreffens zwischen der Bundesführung und der Landesmark Hessen des BDP sowie die durchaus aktive gestalterische Rolle der Hessen bei dem Ereignis waren der Gegenstand des Referats von Johann Moyzes, dem es gelungen war, vor der Tagung noch mit einem der damaligen Hauptakteure, nämlich mit Hermann Diehl, ein Interview dazu zu führen. Die beiden folgenden Beiträge von Norbert Schwarte über die Beteiligung des Nerother Wandervogels unter Karl Oelbermann-oelb (1896 – 1974) auf dem Meißner und von Erdmann Linde über den Hortenring, eine recht spezielle Jungenschaftsgruppierung im Ruhrgebiet, erwiesen sich als eindrucksvolle persönliche Selbstverortungen in der jugendbewegten Gesamtszene Anfang der 1960er-Jahre. Die kritische Stellungnahme einer Organisation der Arbeiterjugend zum Meißnertreffen, an der sie bewusst nicht teilgenommen hat, nämlich der »Falken«, erläuterte dann Kay Schweigmann-Greve und interpretierte nach einem Überblick über deren Entwicklung die Hauptargumente vor allem des Bundesvorstands für dessen deutliche Distanzierung vom »Ungeist der deutschen Jugendbewegung« einschließlich der Meißnerformel von 1913. Das siebte Referat des zweiten Tagungsblocks widmete sich schließlich der Jugendmusikbewegung, die bei dem Meißnerereignis von 1963 durch den damals schon betagten Anreger dieser Bewegung Fritz Jöde die Chance zu einer breiten Selbstdarstellung nutzte. Der Musikwissenschaftler Franz Riemer lieferte in seinem Referat zunächst einen kurzen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Jugendmusikbewegung seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und schilderte anschließend auch mit Tonbeispielen die großen Auftritte Fritz Jödes mit Musikgruppen und deren Repertoire im Rahmen des Meißnertreffens. Exemplarisch wurden dann im dritten Tagungsblock »Aktivitäten, Anstöße, Weiterentwicklungen nach 1963« vorgestellt. Hartmut Alphei behandelte zunächst, zum Teil vom Beispiel der Odenwaldschule ausgehend, in Form eines Überblicks die Beziehung zwischen Jugendbewegung und schulreformerischen Bestrebungen bzw. Experimenten, ehe er dann die Frage nach Impulsen aus dem Umfeld der Meißnerseminare für das Schulwesen stellte, wobei er in den damaligen Debatten ein wohl letztes »Aufleuchten« von jugendbewegten Impulsen in Richtung Schule zu erkennen glaubte. Die Versuche, nach 1963 engere Beziehungen zur FDJ in der DDR zu knüpfen, wurden von Hans Heintze ebenso

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facettenreich geschildert wie deren schließliches Scheitern. Die Seminaraktivitäten des »Ringes junger Bünde« waren das Thema von Gerhard Neudorf, ehe anschließend Eckard Holler einen Überblick über die linken Strömungen in den Jungenschaften nach 1945 gab, das zum Teil kritische Verhältnis von Jungenschaftskreisen zum Meißnertreffen erläuterte und die Entwicklung von linken bündischen Zentren bis in die Zeit um 1968 darstellte. Ein anregender Ausklang war dann noch ein Bericht von Oss Kröher über die sechs Liederfeste auf Burg Waldeck von 1964 bis 1969 (Chanson Folklore International). Die Präsentation von Bildquellen, einigen Tonmitschnitten und des wohl einzigen Filmdokuments zum Meißnertreffen von 1963 durch Susanne RappeWeber am Samstagabend lieferte den anwesenden Zeitzeugen viele Impulse, sich noch einmal in ihre damalige Stimmungslage mit »romantischer Ironie« hineinzuversetzen und den anderen Tagungsteilnehmern wenigstens ansatzweise einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich im Oktober 1963 die beiden dominierenden Altersgruppen – die vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Veteranen der Jugendbewegung und die bündisch geprägten Kriegsjugendlichen bzw. Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs – mit Blick auf die Tradition, zu der man sich bekannte, jeweils »in Szene setzten«. Zum Teil bestimmten diese beiden Wahrnehmungsweisen dann auch die von Günter Behrmann moderierte abschließende Podiumsdiskussion, die zu einem munteren Austausch von fünf Diskutanten über unterschiedliche Blickweisen auf das 1963er-Ereignis sowie dessen Beurteilung und Einordnung aus einem Abstand von nun knapp fünfzig Jahren führte. Drei Teilnehmer – die Sozialwissenschaftler Roland Eckert, Arno Klönne und Hermann Korte – waren Zeitzeugen von 1963 mit intensiver eigener bündischer Erfahrung. Ein Teilnehmer – der Historiker Lutz Niethammer – war zwar ebenfalls Zeitzeuge, hatte aber das Meißnertreffen nicht als Jugendbewegter, sondern als interessierter Journalist für das Jugendprogramm des Südwestfunks beobachtet.13 Auch Dorothee Wierling – ebenfalls Historikerin und die jüngste Teilnehmerin an der Podiumsdiskussion – besaß zwar keine eigenen jugendbewegten Erfahrungen, hatte sich aber in ihren Forschungen intensiv mit den damaligen generationengeschichtlichen Verhältnissen und mit der Jugend der DDR zu Beginn der 1960er-Jahre auseinandergesetzt. Die beiden die Podiumsdiskussion einleitenden Beiträge von Arno Klönne und von Roland Eckert sind im vorliegenden Band dokumentiert. Zwei Ergänzungen im Programm der Archivtagung seien abschließend noch erwähnt: Zum einen erinnerte Oss Kröher mit einer Reihe von Bildbeispielen an das Zustandekommen eines Jungenkalenders mit dem Titel »Signale 63«, den er und sein Bruder Hein 1962 im damaligen Südmarkverlag herausgegeben 13 Lutz Niethammer : Der Meißnertag 1963 – ein Nachlass. Beobachtungen und Anmerkungen, Manuskript der Erstsendung am 02. 11. 1963.

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haben.14 Zum anderen berichteten einige junge Leuten, welche Aktivitäten im Herbst 2013 im Hinblick auf das bevorstehende Jahrhundertereignis zu erwarten waren. »Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben«, hat Sigmund Freud einmal in Anlehnung an Friedrich Nietzsche verkündet, doch was selbstverständlich zu haben ist, ist die rückblickende Rekonstruktion bzw. die subjektive Selbstvergewisserung aus der Sicht des Hier und Jetzt nach dem Sprichwort, dass Geschichte zwar vorwärts gelebt, aber erst rückwärts verstanden wird. Es lag auf der Hand, dass sich in den Beiträgen derjenigen, die 1963 dabei gewesen waren, und in den Stellungnahmen einiger jüngerer Beobachter dieses erfahrungs- und generationengeschichtliche Phänomen widerspiegeln würde. Die Vorstellung persönlicher Erinnerungen, zum Teil unter Hinzuziehung von Quellen war also ebenso wie die Aufforderung, gleichzeitig auch kritische Deutungsversuche des Fünfzigjahrjubiläums von 1963 zu liefern und dieses in die damalige kulturgeschichtliche Auf- und Umbruchphase der Bundesrepublik zu stellen, der Grundgedanke unserer Archivtagung vom Oktober 2012. Dass es nicht um eine, bei Jubiläumsereignissen häufig zu beobachtende nostalgische Selbstbespiegelung, hier bezogen auf die Jugendbewegung, gehen sollte, war also von vornherein klar. Viel mehr stand letztlich hinter unserem Treffen eine Aufforderung, bei der auch an das Meißnertreffen der Jungen Bünde im Jahr 2013 zu denken ist, die der Engländer Harold Macmillan einmal mit den Worten auf den Punkt gebracht hat: »Man soll Geschichte nicht als Hängematte, sondern als Sprungbrett benutzen!«

14 Hein und Oss Kröher (Hg.): Signale 63. Kalender der Jungen, Heidenheim 1962. – Nach der Vorstellung des Kalenders durch Oss Kröher kam der Wunsch nach einem Reprint auf, der dann tatsächlich vom Donat Verlag hergestellt wurde: Signale 63. Kalender der Jungen, Reprint, Bremen 2013.

Detlef Siegfried

Die frühen 1960er-Jahre als »zweite Gründung« der Bundesrepublik

In der Geschichte der alten Bundesrepublik sind vier Politisierungsperioden zu unterscheiden, die kurz genannt werden sollen, damit die lange Linie deutlich wird, in der die frühen 60er-Jahre zu verorten sind: Die erste Phase lässt sich als die Inkubationszeit einer demokratischen politischen Kultur in den 50er-Jahren charakterisieren, bei der von einer Politisierung im eigentlichen Sinne noch keine Rede sein kann – bestenfalls im Sinne einer Politisierung von oben insbesondere unter dem Vorzeichen des Antikommunismus –, wohl aber eine Infrastruktur und manche Diskursfelder einer Zivilgesellschaft sichtbar werden. Es folgte zweitens der Durchbruch von »Zeitkritik« und Reforminitiativen in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre. Dabei handelte es sich um den ersten signifikanten Politisierungsschub in der Geschichte der Bundesrepublik. Drittens folgten die von Engagement und Polarisierung geprägten späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre und viertens kam es schließlich zum Ausbau der partizipatorischen Demokratie bei gleichzeitiger partieller Rücknahme des Demokratisierungsversprechens in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren.1 Bevor ich auf die uns anlässlich unserer Tagung vor allem interessierenden frühen 1960er-Jahre zu sprechen komme, ist es nötig, etwas zu den vorangegangenen Jahren zu sagen, in denen sich die Bundesbürger erst langsam an eine politische Kultur der Demokratie gewöhnten. Denn erst vor diesem Hintergrund wird der Strukturbruch erkennbar, der die späten 1950er- und frühen 1960erJahre prägten und der von der Forschung pointiert als »zweite Gründung« der Bundesrepublik bezeichnet worden ist. Genauer gesagt, handelt es sich hier um die Inkubationsphase einer solchen »zweiten Gründung«, die sich dann über

1 Dieser Text rekapituliert zum Teil Befunde zur Entwicklung der politischen Kultur aus: Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009. – Siehe zu diesem Themenkomplex auch die Beiträge in FranzWerner Kersting, Jürgen Reulecke, Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955 – 1975 (= Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft; 8), Stuttgart 2010.

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einen längeren Zeitraum erstreckte – ungefähr von der Mitte der 1950er- bis zur Mitte der 1970er-Jahre.

Die langsame Gewöhnung an die politische Kultur einer Demokratie Nur vier Jahre nach Kriegsende hatten die Westdeutschen wieder eine parlamentarische Demokratie. Die Bundesrepublik war, ausdrücklich als Provisorium bis zur Wiederherstellung der nationalen Einheit mit dem Anspruch auf Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches und der Vertretung aller Deutschen gegründet, ebenso wie die gleichzeitig entstandene DDR, ein Kind des Kalten Krieges. Die politische Kultur befand sich im Schnittpunkt mehrerer Linien: Zum einen knüpfte man an die erste deutsche Demokratie an, wobei gleichzeitig die »Fehler von Weimar« vermieden werden sollten, die nicht zuletzt in einer verfehlten Verfassungskonstruktion gesucht wurden. Zum anderen war schon das Grundgesetz nicht ohne Einflussnahmen der Westalliierten, vor allem der USA, entstanden. Vor dem Hintergrund der Weimarer Demokratietradition und der neu implantierten parlamentarischen Verfassung, der realpolitisch allein möglichen Westoption und den prekären politischen Mentalitäten großer Teile der Bevölkerung, die der neuen Ordnung eher reserviert gegenüberstanden, gab es durchaus Hemmnisse für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur. Vor allem musste ein Weg gefunden werden, eine Integration nationalsozialistisch belasteter Teile der Bevölkerung und zentraler Funktionseliten zustande zu bringen und gleichzeitig einen glaubwürdigen Trennungsstrich zu den damit verbundenen politischen Belastungen zu ziehen. Diese schwierige Aufgabe der »Vergangenheitspolitik« (Norbert Frei) wiederum vollzog sich unter der Glocke eines allgegenwärtigen Antikommunismus, der ein schlichtes Freund-Feind-Denken mit strengen Sprachregelungen und einer bizarren Abendland-Ideologie gegen den »Bolschewismus« förderte, in der eben nicht die Demokratie gegen die stalinistische Diktatur, sondern eine angeblich seit Jahrhunderten gegebene westliche Freiheit in religiöser Bindung gegen einen immer schon vorhandenen östlichen Kollektivismus gestellt wurde. Es gab eine Spätblüte sittenstrenger Zensur bei den Medien und manifeste Versuche regierungsamtlicher Meinungslenkung. Veteranen- und Kameradschaftstreffen der Wehrmacht und Waffen-SS sowie Pfingstreffen der Vertriebenenverbände unter der Schirmherrschaft Bonner Politiker, auf denen ein Deutschland über die Grenzen von 1937 hinaus gefordert wurde, ließen nicht immer erkennen, dass sie nur der Erinnerungspflege dienten. Ein maßlos überstrapaziertes politisches Strafrecht gegen die ohnehin marginalisierten Kommunisten war nur die Spitze

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einer illiberalen Atmosphäre – kurz: Die verkrampfte politische Kultur der frühen 50er-Jahre war noch keineswegs die einer offenen Gesellschaft. Allerdings gab es durchaus virulente deutsche Demokratietraditionen und lokale Milieus sowie – von westlicher Seite teilweise initiierte und unterstützte – Akteure, Foren und Ideen, die allmählich zu einer Liberalisierung der politischen Kultur und Öffentlichkeit beitrugen. In der Gründerzeit der Bundesrepublik waren sie allerdings noch nicht tonangebend, ihr Durchbruch erfolgte erst im folgenden Jahrzehnt. Vorherrschend war eine konservative Abendland-Ideologie, derzufolge schon seit Jahrhunderten der christlich geprägte Westen dem Ansturm eines atheistisch-kollektivistischen Ostens sich hatte erwehren müssen. Von der konservativen Abendland-Ideologie lässt sich jedoch eine liberale Strömung unterscheiden, die sich 1947/48 im beginnenden Kalten Krieg nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Westeuropa konstituierte. Sie orientierte sich viel stärker auf den Zusammenschluss des gesamten Westens und damit auf eine »Westernisierung« der politischen Kultur hin. Der Abendland-Terminologie wurde zwar auch hier anfangs mitunter gehuldigt und auch der kompromisslose Antikommunismus keineswegs abgelehnt. Die zum Beispiel von der CIA über amerikanische Gewerkschaften insgeheim finanzierte Zeitschrift »Der Monat« hatte ihr erstes redaktionelles Vorwort im Oktober 1948 unter das Motto »Schicksal des Abendlandes« gestellt. Propagiert wurde hier die Verteidigung der »Freiheit« unter Führung der USA gegen den »Totalitarismus« und Bertrand Russell sowie Franz Borkenau erörterten, ob ein rascher präventiver Waffengang unternommen werden sollte, bevor die Gegenseite über ein umfassendes Atomwaffenarsenal verfüge. Allerdings mahnten die Intellektuellen dieser Strömung, die vor allem liberale Publizisten, nicht wenige enttäuschte ehemalige Kommunisten und westlich orientierte Sozialdemokraten umfasste, auf ihrem zweiten Kongress 1953 in Hamburg, der Kampf gegen den Totalitarismus dürfe nicht dazu führen, im politischen Kampf des Kalten Krieges selbst totalitäre Mittel anzuwenden. Dies wandte sich gegen die Exzesse der McCarthy-Ära, die auch nach Westeuropa ausstrahlten. Was von konservativen Abendland-Ideologen begeistert begrüßt wurde, führte bei Liberalen zu einer kritischen Wachsamkeit gegenüber dem Abbau bürgerlicher Freiheiten. Nicht eine einheitliche Ideologie dürfe dem Kommunismus entgegengestellt werden, wie es die konservativen AbendlandProtagonisten forderten, sondern pluralistische Gedankenfreiheit. Der Westen sollte dadurch attraktiv werden, dass er in diesem Sinne moderner war als der Osten. Die Modernität wiederum wurde präsentiert in der Propaganda für die marktwirtschaftliche Ordnung vor dem Hintergrund realer Konsumerfahrungen. Dieses Denken erhielt seit der Mitte der 1950er-Jahre immer größere Re-

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sonanz und war nun längst nicht mehr nur auf den »Monat« und verwandte Organe verwiesen. Der allmähliche Klimawechsel, der vom dezisionistischen Freund-FeindDenken zu einer entspannteren und dialogbereiteren politischen Kultur führte, lässt sich anhand der Entwicklung zahlreicher Foren verfolgen, so etwa in den Programmen der seit 1947 gegründeten evangelischen und – zeitversetzt – auch der katholischen Akademien. Die Zahl der Tagungen Evangelischer Akademien, am bekanntesten wurden jene in Bad Boll und in Loccum, verdreifachten sich von 1952 bis 1961 auf über 1 000, die Zahl der Teilnehmer wuchs von ca. 20 000 auf 50 000. Dort sowie auf zahlreichen Veranstaltungen anderer Bildungsstätten und bei Gelegenheiten zum Meinungsaustausch, etwa beim »Darmstädter Gespräch« (seit 1949), bei den wöchentlichen »Mittwochsgesprächen« im Kölner Hauptbahnhof (seit 1950) und ähnlichen Einrichtungen in beinahe jeder Stadt wurde der Dialog eingeübt und in einem permanenten Diskurs die Selbstbeschreibung der Gesellschaft allmählich differenziert. Schon in den frühen 1950er-Jahren begann – unter restriktiven Rahmenbedingungen der politischen Kultur – die Wandlung der westdeutschen Gesellschaft in Richtung auf eine diskutierende Öffentlichkeit. Während die konservative Regierung noch erfolgreich einen großen Teil der Medien direkt und indirekt mit ihren Sprachregelungen steuerte, veränderte sich die Diskurslandschaft allmählich. Traditionelle Orte des Politisierens wie der Stammtisch wurden dabei medial verhäuslicht, etwa von Werner Höfers »Internationalem Frühschoppen«, einer der beliebtesten Hörfunk- und Fernsehsendungen der 1950er- und 1960er-Jahre. Die Mischung der Imagination von Modernität durch internationale Gäste und männerbündischem Bezug – Frauen hatten in dieser Sendung lange Zeit nur die Aufgabe des Nachschenkens von Weißwein – passte offenbar ideal in die Zeit des Wiederaufbaus. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die Massenmedien in Gestalt der intellektuellen Nachtprogramme, die alle Rundfunkstationen seit 1947/48 einrichteten und die immerhin – selbst wenn es sich prozentual nur um Bruchteile der Hörer handelte – Hunderttausende erreichten. Man wollte dort, wie es immer wieder hieß, nicht links oder rechts, sondern »tiefsinnig« und anspruchsvoll sein, aber jedenfalls die Freiheit des Individuums an die erste Stelle rücken. Alfred Andersch gab dazu in einer Sendung über die »Europäische Avantgarde« dem Schweizer Publizisten Denis de Rougemont das Wort. Dieser ironisierte die von den Vereinten Nationen proklamierten Menschenrechte mit der Bemerkung, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, soziale Sicherheit und Schutz vor äußerer Aggression genössen vor allem »die Sträflinge in amerikanischen Gefängnissen. (Man gönnt ihnen sogar Kino am Samstag-Abend).« Wahre Freiheit aber werde nicht vom Staat, ob sowjetisch oder demokratisch,

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gewährt – »was wir brauchen, um frei zu sein, ist einzig und einfach: Mut.«2 In einer Terminologie, die an ältere geistesgeschichtliche Traditionen erinnerte, artikulierten sich mitten in der politisch-kulturell dunkelsten Zeit der Bundesrepublik bereits jene intellektuellen Kräfte, die zu einer liberalen Gesellschaft westlicher Provenienz drängten. Insofern erscheint sie auch als »Inkubationszeit« (Jürgen Habermas).

Die Politisierung des Alltags: Zeitkritik am Ende der Ära Adenauer Der Politisierungsschub, der die Bundesrepublik seit dem Ende der 1950er-Jahre erfasste, speiste sich also aus mehreren Quellen, wobei der Druck der traditionellen Konsumkritik und der Oppositionsgeist junger Intellektueller besonders stark wirkten und sich zum Teil auch gegeneinander aufbauten. Nachdem die Bereitschaft der Bevölkerung offenkundig geworden war, die neuen Möglichkeiten des Konsums auch zu nutzen, fürchteten viele Politiker, Publizisten und Erzieher um die moralische und politische Standfestigkeit insbesondere der Jugend und sie forderten kritisches Bewusstsein gegenüber den Verführungen der modernen Konsumgesellschaft. Hinzu kam: In der Zeit zwischen dem »Sputnikschock« von 1957 und dem Weltraumflug Juri Gagarins sowie dem Mauerbau von 1961 ging die Befürchtung um, dass der Kommunismus vielleicht doch das Wettrennen um die politische Vorherrschaft in der geteilten Welt gewinnen könnte.3 Kritikfähigkeit und Engagement galten als probate Mittel gegen wirtschaftliche und politische »Verführer« – so ein klassisches Schlagwort der Zeit. Aus dieser Perspektive erhielten Lederjacken, Lippenstift, Haartracht und Musikgeschmack eine politische Komponente. Sie wurden als Indikatoren mangelnder politischer und moralischer Zuverlässigkeit gedeutet. Wenn junge Intellektuelle eine Politisierung der Gesellschaft forderten, dann geschah dies in Abgrenzung gegen den »Zynismus der Gegenaufklärung«.4 Für sie war die Kritik an der Einförmigkeit und Saturiertheit der Wirtschaftswundergesellschaft Teil des aufklärerischen Projekts und bei ihnen hatte die Forderung nach Politisierung eine staatskritische Komponente, während sie aufseiten des »Establishments« gerade die Stabilität des Staatswesens befestigen sollte. Politisch standen die meisten Jungintellektuellen links. 1961 äußerten sie sich in dem von Martin Walser herausgegebenen Band »Die Alternative oder : 2 Denis de Rougemont: Über die Europäische Avantgarde, Radiosendung mit Alfred Andersch, zit. nach Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 91. 3 Emnid-Informationen, Nr. 36/1964. – DIVO-Pressedienst vom Juli 1961. 4 So Jürgen Habermas, zitiert nach Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 – 1970, Frankfurt a. M. 1997, S. 240.

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Brauchen wir eine neue Regierung« mit einer Stellungnahme zur Bundestagswahl erstmals auch parteipolitisch. Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Siegfried Lenz und andere sprachen sich für die Wahl der SPD aus, und 1962 rief die Verhaftung Rudolf Augsteins im Zuge der »Spiegelaffäre« den gesammelten Protest der Intellektuellen hervor. 1966 waren es schließlich die Notstandsgesetze. Nie wieder haben seither Intellektuelle so stark in die parteipolitische Konfrontation eingegriffen und den Wandel des geistigen Klimas mitbefördert wie in dem Jahrzehnt zwischen den frühen 1960er- und den frühen 1970erJahren. Bei einer zunehmenden Zahl von ihnen radikalisierte sich die Kritik an der Gesellschaft zusehends. Sie richtete sich gegen die »formierte Gesellschaft«, gegen die vermeintliche Tendenz der Massenmedien zur Betäubung und Verdummung. Derart direkte Interventionen seitens der »Mandarine« waren ungewohnt und es war Bundeskanzler Erhard, der einem latenten Antiintellektualismus regierungsamtliche Weihen verlieh. Wenn Erhard von Intellektuellen als »Pinschern« sprach, dann lag er damit ganz auf der Höhe der Volksmeinung. Unter den Begriff des »Intellektuellen« wurde, wie eine Meinungsumfrage ergab, von einem großen Teil der Bevölkerung alles subsumiert, was sich durch einen abweichenden Habitus auszeichnete: der Politisierungsdruck von oben und von unten, der Aufstieg des Fernsehens, der Streit um die Konturen des Deutschen in der Konsumgesellschaft – all dies bewirkte, dass in der Zeit zwischen den späten 1950er- und den späten 1960er-Jahren das politische Interesse der Bevölkerung stärker anstieg als je zuvor oder danach. Demokratie sollte also nicht mehr nur auf die Teilnahme an Wahlen und die Mitwirkung in Parteien begrenzt bleiben. Gefordert wurden jetzt Reformen – ein Zauberwort der 1960er-Jahre –, die eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, nicht zuletzt der Bildungseinrichtungen, zum Ziel hatten. Dabei richtete sich bei der Suche nach Vorbildern der Blick vor allem auf die USA, daneben auf west- und nordeuropäische Gesellschaften. Symbolisiert durch die Präsidentschaft von John F. Kennedy schien eine gemeinsame westliche liberale Werteordnung zu entstehen, die die westdeutsche Wirklichkeit in den Augen kritischer Intellektueller als anachronistisch erscheinen ließ, während gleichzeitig die Bemühungen zur Bewahrung traditionalistischer Grenzen zunahmen. Insbesondere die Konflikte der mittleren 1960er-Jahre waren geprägt von Versuchen, die kulturelle Liberalisierung einzugrenzen oder zurückzudrängen. Die als Reaktion auf Ingmar Bergmanns Film »Das Schweigen« 1964 gestartete Aktion »Saubere Leinwand« des CDU-Abgeordneten Adolf Süsterhenn, die 142 Bundestagsabgeordnete mobilisierte und eine Million Unterschriften gegen die angeblich übermäßige Sexualisierung der Medien sammelte, Ludwig Erhards Ideal einer »formierten Gesellschaft« oder der Aufstieg der NPD bei den Landtagswahlen seit 1966 waren Elemente dieses Rollback-Versuchs, der wie-

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derum starke Gegenreaktionen auslöste.5 Diese frühen Versuche, eine »Tendenzwende« gegen Liberalisierung und Demokratisierung herbeizuführen, richteten sich direkt gegen die vermuteten kulturellen Folgen der Konsumgesellschaft, die eine, wie es in einer Quelle heißt, »Verbrauchergemeinschaft mit halber Moral« erzeugt habe.6 Allerdings konnten sie gegen den sich verbreiternden Liberalisierungsstrom kaum etwas ausrichten. Nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch in Fragen der Moral fächerte sich das Spektrum dessen, was als zulässig erachtet wurde, weiter auf. Vor allem wurden normative Vorgaben von oben immer stärker infrage gestellt und das Konzept des »Pluralismus« über die Politik auch auf Moralfragen und das Alltagsverhalten übertragen. So erhielten im Liberalisierungsstrom jene Reformer mehr und mehr Spielraum, die noch in den 1950er-Jahren vor dem traditionalistischen Mainstream hatten klein beigeben müssen. In der politischen Kultur bekamen jene Oberwasser, die, um den Werbeslogan einer zeitgenössisch stark nachgefragten Zigarettenmarke zu zitieren, den »Duft der großen weiten Welt« verströmten und den Anschluss der Bundesrepublik an den Westen auch auf dem Gebiet der politischen Kultur erreichen wollten. Eine der zentralen Reformforderungen betraf die Bildungsreform, die zugleich eine wesentliche Ausgangsbasis des Politisierungsschubs in den späten 1960er-Jahren wurde. Sie wurde schon bald nicht mehr nur als eine »Erschließung des Begabungspotentials« verstanden, die den vermeintlichen Rückstand der Bundesrepublik im Wettkampf mit dem Kommunismus und den anderen westlichen Ländern ausgleichen sollte, sondern als Teil einer Gesellschaftsreform, als demokratisches Projekt zur Verbesserung der »Chancengleichheit«.7 Wie die soziale Gleichstellung über Bildung und die Zivilisierung der Deutschen konzeptionell ineinandergriffen, illustriert das von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung von 1969 skizzierte Ideal des Bundesbürgers: »Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten.«8 Wie auf anderen Gebieten auch, 5 Philipp von Hugo: »Eine zeitgemäße Erregung.« Der Skandal um Ingmar Bergmanns Film »Das Schweigen« (1963) und die Aktion »Saubere Leinwand«, in: Zeitgeschichtliche Forschungen, 2006, Nr. 3, S. 210 – 230. 6 Herbert Schäfer : Weiße-Kragen-Kriminalität und Jugendgefährdung. Ein Pinselstrich am Bild des professionellen Jugendgefährders, in: Ders. (Hg.): Grundlagen der Kriminalistik, Bd. 1: Jugendkriminalität, Hamburg 1965, S. 347 – 380, hier S. 380. 7 Jens Naumann: Entwicklungstendenzen des Bildungswesens der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen wirtschaftlicher und demographischer Veränderungen, in: Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Daten und Analysen, Bd. 1: Entwicklungen seit 1950, hg. vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Projektgruppe Bildungsbericht, Stuttgart 1980, S. 21 – 102, hier S. 39. 8 Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 6. Wahlperiode, 5. Sitzung (28. 10. 1969), S. 27.

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war der parteipolitische Konsens bei der Bildungsreform bis in die frühen 1970er-Jahre hinein groß. Erst danach lehnten konservative Kreise dezidiert das zuvor geteilte Ziel der Chancengleichheit als »sozialistische Gleichmacherei« ab.9 Neben der Bildungsreform stand in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre die Deutschlandpolitik im Mittelpunkt der politischen Debatten. Der Mauerbau vom 13. August 1961 hatte Hoffnungen auf eine baldige Wiedervereinigung zunichte gemacht. Während die Regierungen Adenauer und Erhard sich nun erst recht auf die Position der Nichtanerkennung der DDR versteiften, dachten Politiker der FDP und der SPD zunehmend über Möglichkeiten der Entspannung nach, um die verhärtete Konfrontationssituation aufzubrechen. Hinzu kam, dass nach der Teilung der Stadt gerade in Berlin die Notwendigkeit zu einer Übereinkunft mit der DDR besonders dringlich war, um die Folgen der Abschottung für die Bevölkerung zu mildern. Daher entwickelte Egon Bahr als Mitarbeiter des Westberliner Oberbürgermeisters Willy Brandt 1963 das Konzept des »Wandels durch Annäherung«, das darauf abzielte, durch eine Entspannung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten eine innere Liberalisierung der DDR zu befördern, die die Lage der Menschen verbessern würde.10 Das Ziel der Wiedervereinigung wurde dabei keineswegs aufgegeben. Auf dem Karlsruher Parteitag der SPD 1964 zierte die Bühnenwand eine Landkarte Deutschlands in den Grenzen von 1937, darunter das Motto: »Erbe und Auftrag«. Unterstützt wurde der weiter um sich greifende Gedanke der Entspannungspolitik durch den Druck aus den USA, die insbesondere nach der Kubakrise eine Lösung des Ost-West-Konflikts erleichtern wollten, indem sie die Lösung der deutschen Frage nicht mehr zur Conditio sine qua non erklärten, sondern Verhandlungen mit der Sowjetunion unter Umgehung dieses Stolpersteins einleiteten und auch die Bundesrepublik zum Arrangement mit der DDR drängten. Doch blieb in Westdeutschland insbesondere der Umgang mit den ehemals deutschen Gebieten im Osten nach wie vor ein Reizthema von erheblicher Brisanz. Als die EKD im Oktober 1965 eine sogenannte »Ostdenkschrift« über »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn« veröffentlichte, wurde dies vielfach als Provokation wahrgenommen.11 Erstmals wurde hier das stets eingeklagte »Recht auf Heimat« für die 9 Zitiert nach Alfons Kenkmann: Von der bundesdeutschen »Bildungsmisere« zur Bildungsreform in den 60er Jahren, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die beiden deutschen Gesellschaften in den 60er Jahren, Hamburg 2003, S. 402 – 423, hier S. 414. 10 Peter Bender : Neue Ostpolitik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag, München 1986 – Bernd Stöver: Der Kalte Krieg 1947 – 1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, Bonn 2007, S. 386 ff. 11 Martin Greschat: Die »Ostdenkschrift« zur Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn

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Vertriebenen auch auf die Millionen in den ehemaligen deutschen Gebieten geborenen Polen bezogen, und es fehlte nicht der Hinweis auf die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Obwohl damit eine Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nicht verbunden war, wurde die Denkschrift stark attackiert und von der Bundesregierung abgelehnt. Doch zeigte sich, dass das Insistieren der Bundesregierung auf ihrer unversöhnlichen Haltung gegenüber den osteuropäischen Staaten und das Festhalten an ihren Rechtspositionen mit den Erwartungen der Bevölkerung, die die Situation nüchterner beurteilte, immer stärker in Konflikt gerieten. Erhebungen des Instituts für Demoskopie Allensbach ergaben, dass sich der Anteil derjenigen, die Pommern, Schlesien und Ostpreußen für immer verloren gaben, im Laufe der 60er-Jahre erhöhte – von 32 % (1959) auf 46 % (1964) und 61 % (1967). Der Anteil derjenigen, die meinten, eines Tages würden diese Territorien wieder zu Deutschland gehören, halbierte sich gleichzeitig von 35 über 25 auf 18 %.12 Für die Mehrzahl der Bundesbürger war daher in der Mitte der 1960er-Jahre eine Wiedervereinigung nur noch als Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vorstellbar. Dabei unterschieden sich die politischen Kulturen der beiden deutschen Staaten mittlerweile viel tief greifender als diejenige der Bundesrepublik von ihren westeuropäischen Nachbarn. Die Kritik vieler Intellektueller an der ihnen anachronistisch erscheinenden »Gänsefüßchen- und Verbotspolitik«, die nach dem Mauerbau noch einmal für kurze Zeit wiederbelebt wurde, war eng verbunden mit Forderungen nach einer Liberalisierung der Bundesrepublik. Gleichzeitig befeuerten obrigkeitsstaatliche Reaktionen der Regierung auf publizistische Kritik den öffentlichen Protest. Zum ersten Mal öffentlich sichtbar wurde dieser Mechanismus bei der »Spiegelaffäre«. Die Besetzung der Redaktionsräume am 26. Oktober 1962 durch die Polizei und die Verhaftung des Herausgebers Rudolf Augstein, der Chefredakteure und eines Redakteurs mit der Begründung, das Blatt habe in einem kritischen Bericht zur Verteidigungspolitik Landesverrat begangen, riefen in der Öffentlichkeit derart massive Proteste hervor, dass die FDP-Minister aus dem Kabinett austraten und bei der nachfolgenden Regierungsumbildung der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß seinen Hut nehmen musste.13 Auf einen weiteren Bereich ist noch hinzuweisen, an dem sich der Wandel der Deutschlands, in: Christlicher Widerstand – Kirchlicher Neuanfang – Aussöhnung mit Polen, hg. von der Gesellschaft zur Förderung vergleichender Staat-Kirche-Forschung, Berlin 2005, S. 67 – 79. 12 Schildt, Siegfried: Kulturgeschichte (Anm. 1), S. 222 f. 13 Joachim Schoeps (Hg.): Die Spiegel-Affäre des Franz Josef Strauß, Reinbek 1983 – Dorothee Liehr : Von der »Aktion« gegen den »Spiegel« zur »Spiegel-Affäre«. Zur gesellschaftspolitischen Rolle der Intellektuellen, Frankfurt a. M. 2002.

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politischen Kultur in der Bundesrepublik zeigen lässt – die Haltung zu den USA. Schon seit den 1920er-Jahren wurde in Deutschland als »amerikanischer Kulturimperialismus« wahrgenommen, was lediglich Merkmale einer allgemeinen Modernisierung waren, die sich mit einer Verzögerung von zwanzig oder dreißig Jahren auch in Deutschland einstellen sollten: die Motorisierung und der Einzug der elektronischen Massenmedien in der Sozialkultur, die Ablösung der scharf geschiedenen Klassengesellschaft durch eine feiner diversifizierte »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) in der Sozialstruktur, die Demokratisierung und die Ablösung einer konsensualen politischen Kultur durch eine politische Kultur der Konfliktfähigkeit.14 Arnold Bergstraesser, ein Schüler Max Webers und Mitbegründer der westdeutschen Politikwissenschaft,15 setzte sich 1963 kritisch mit dem in der Bundesrepublik grassierenden Antiamerikanismus auseinander, der auch eine gesamteuropäische Erscheinung war und einen, wie er zu Recht meinte, »nationalen oder kontinentalen Kulturstolz« widerspiegelte.16 Antiamerikanische Stereotypen hatten weniger mit den Verhältnissen in den USA zu tun als mit Selbstbildern und Kulturidealen der Deutschen und Europäer. »Wer etwas nicht will oder doch aus Prinzip ablehnt, hat heute dann, wenn er es als amerikanisch bezeichnet, zu vermuten, dass er Zustimmung erfährt und dass diese Zustimmung von leichtem Schaudern begleitet ist.« Als Zeitgenosse kam Bergstraesser zu einer Beobachtung, die die zeitgeschichtliche Forschung inzwischen vielfach bestätigt gefunden hat: Antiamerikanismus war nicht auf allen Feldern gleich verbreitet; am wenigsten war er im Politischen präsent, wo die Bundesrepublik schon aus Selbsterhaltungsgründen den engen Schulterschluss mit den USA pflegte. Stärker gegenwärtig war er im Wirtschaftsleben und in der Technik, wo eine deutsche Besonderheit behauptet wurde. Allgegenwärtig aber war der Antiamerikanismus in der Kultur, die als ureigenes deutsches Terrain betrachtet wurde – auch und besonders nach dem politischen und militärischen Bankrott des »Dritten Reiches«. Als in den 1950er- und 1960er-Jahren amerikanische Einflüsse auf breiter Front auch die Wirtschaftsformen und Produktionsweisen in der Bundesrepublik veränderten, prallten die unterschiedlichen Auffassungen noch einmal heftig aufeinander. Fließbandfertigung, der Einfluss der Wer14 Axel Schildt: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. 15 Siehe zu dem jugendbewegt geprägten Bergstraesser den Beitrag von Günter C. Behrmann: Arnold Bergstraesser, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 103 – 124. 16 Dies und das Folgende bei Arnold Bergstraesser : Zum Problem der sogenannten Amerikanisierung Deutschlands, in: Jahrbuch für Amerikastudien, 1963, 8. Jg., S.13 – 23, hier S. 13 ff.

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bung, die Verdrängung des »Tante-Emma-Ladens« durch Supermärkte waren Themen, an denen sich damals die Gemüter erhitzten. Als der jüdische US-Remigrant Bergstraesser seinen Text veröffentlichte, hatte er wahrlich Anlass, den »deutschen dumm-stolzen Kulturhochmut« anzuprangern, der in den frühen 1960er-Jahren noch tonangebend war. Das Gebiet der klassischen Musik etwa betrachteten die Bundesbürger als urdeutsches Terrain. NS-belastete Größen wie Wilhelm Furtwängler, Carl Orff oder der Nachwuchsstar Herbert von Karajan konnten ihre Karrieren fortsetzen, während populäre Musikstile amerikanischen Ursprungs wie Jazz und Rock’n’Roll inständig bekämpft wurden. Auch auf dem Gebiet der Literatur galt amerikanische Kultur selbstredend als minderwertig, doch im Langzeittrend zeichnete sich ab, dass das Image der Amerikaner positiver wurde. Differenziert man nach Altersgruppen, dann zeigt sich, dass junge Leute den USA gegenüber stets positiver eingestellt waren als die Gesamtbevölkerung.17 1963 etwa hatten 73 % der 14- bis 24-Jährigen eine gute und sehr gute Meinung von den USA – deutlich mehr als etwa im Hinblick auf Frankreich, Großbritannien oder Italien.18 Wenn das Etikett »Antiamerikanismus« zu plakativ ist, um die tatsächlichen Verhältnisse zu erfassen – was war es dann, was Jugendliche an den USA anziehend fanden, und worin gründete die insbesondere von ihrer besser gebildeten Schicht geäußerte Skepsis? Politische Kritik an den USA artikulierte sich schon in den 1950er-Jahren an der Rassentrennung, wurde aber überlagert und zum Teil verdrängt insbesondere durch die Akzeptanz der von den »Liberals« forcierten Politik des gleichen Rechts für alle, aber sie nahm exponentiell im Verlauf des Vietnamkrieges zu. Am positivsten war die Haltung insbesondere junger Leute gegenüber den USA in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre, als Kennedy als jugendlicher Erneuerer auch in der Bundesrepublik Begeisterung auslöste. Nach seiner Ermordung, die in Deutschland noch unter dem unmittelbaren Eindruck seines Staatsbesuches wahrgenommen wurde, beteiligten sich 20 000 Schülerinnen und Schüler sowie Studierende am 22. November 1963 in Westberlin an einer Gedenkdemonstration. Als in den späten 1960er- und frühen 1970erJahren die Skepsis gegenüber dem militärischen Bündnis mit den Amerikanern zunahm, war sie in den jüngsten Altersgruppe am weitesten verbreitet, ebenso wie Neutralitätsvorstellungen. Es handelte sich um eine politische Kritik, die nicht antiliberal war, sondern im Gegenteil den Verstoß gegen liberale Grundsätze aufs Korn nahm. Auf der kulturellen Ebene hingegen hatte sich die positive Einstellung zu amerikanischen Impulsen verfestigt. Folkmusik, Hippiebewe17 Kaspar Maase: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992. 18 Die Zahlen nach Viggo Graf Blücher : Die Generation der Unbefangenen. Zur Soziologie der jungen Menschen heute, Düsseldorf/Köln 1966, S. 360.

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gung und Undergroundkultur, die – nach dem ihr wichtigster Kristallisationskern, die Burg Waldeck, den Weg gebahnt hatte – ,19 im Laufe der 1960er-Jahre auch immer mehr westdeutsche Jugendliche begeisterten, transportierten Botschaften, die sich gegen politische Verhältnisse in den USA sowie gegen die USAußenpolitik richteten und dort selbst entstanden waren. Auch dies war nicht »antiamerikanisch«, aber es knüpfte in der Bundesrepublik zum Teil durchaus an stereotype Vorstellungen von der amerikanischen Mentalität an, die eine lange Tradition hatten.

Schluss Die Skepsis der Bundesbürger gegenüber der Demokratie, ihre ausgeprägte Staatsloyalität, das Ideal politischer Harmonie, ihre Neigung zur Unterordnung und das geringe politische Engagement – diese Merkmale einer »Untertanenkultur« traten im Laufe der 1960er- und frühen 1970er-Jahre deutlich zurück.20 In den langen 1960er-Jahren entstand zunächst nur in Ansätzen eine politische Kultur der Teilhabe, die über den Rahmen der repräsentativen Demokratie hinausging. Indikatoren waren etwa das Interesse für Politik, das mit dem Reichtum der Gesellschaft, dem Anwachsen des Dienstleistungssektors, dem Bildungsgrad, der Medialisierung und der politischen Konflikte stark zunahm. Die Tatsache, dass 1966 das sozialdemokratische Ideal einer »mündigen Gesellschaft« viele Bürger bereits mehr ansprach als Visionen einer »formierten Gesellschaft«, signalisierte ihr wachsendes politisches Selbstbewusstsein.21 In den politischen »Wendejahren«, die mit dem Regierungseintritt der SPD im Rahmen der Großen Koalition von 1966 einsetzten, wurden die Demokratiedefizite der westdeutschen Gesellschaft immer vehementer thematisiert.22 Ins19 Siehe dazu Michael Kleff (Hg.): Die Burg Waldeck Festivals 1964 – 1969. Chansons – Folklore – International, Hambergen 2008. – Siehe außerdem Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, bes. S. 571 – 600. – Jürgen Reulecke: Von der Jungenschaft zur Studentenbewegung. Die bündische Jugend und die Festivals auf Burg Waldeck 1964 – 1969, in: Ders., Norbert Schwarte (Hg.): Anstöße. Diethart Kerbs als Kunstpädagoge, Fotohistoriker und Denkmalschützer. Eine Zusammenstellung aus Anlass seines 70. Geburtstages, Essen 2007, S. 9 – 27. – Hotte Schneider (Hg.): Die Waldeck. Lieder, Fahrten, Abenteuer, Berlin 2005, bes. S. 313 – 386. 20 Gabriel A. Almond, Sidney Verba: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Boston 1965. – Dies. (Hg.): The Civic Culture Revisited. An Analytic Study, Boston 1980. 21 Gabriele Metzler: Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift, 2002, Nr. 275, S. 57 – 103, hier S. 91 f. 22 Klaus Schönhoven: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966 – 1969, Bonn 2004.

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besondere forderten die Kritiker, die parlamentarische Ordnung durch eine demokratische Verankerung in der Gesellschaft zu vertiefen. Von den Kirchen und dem Städtebau über die Arbeitsplätze, Schulen und Hochschulen bis hin zu den Erziehungsheimen und der Bundeswehr sollten den Betroffenen mehr Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden – das war der Sinn der Losung »Mehr Demokratie wagen« des sozialliberalen Regierungsprogramms von 1969. Wie weit die Demokratisierung der Gesellschaft gehen sollte, ob sie etwa, wie beispielsweise Jürgen Habermas meinte, auf die soziale Teilhabe ausgedehnt werden oder sogar in sozialistische Verhältnisse münden sollte, wie einem Teil der Studentenbewegung vorschwebte, war Gegenstand der politischen Auseinandersetzung.23 Konservative Gegner der Demokratisierung betrachteten die politische Teilhabe der »Masse« als ein Grundübel der Moderne, liberale Kritiker sahen darin ein totalitäres Konzept, das die Regeln des Miteinanders in Staat und Gesellschaft unzulässig gleichsetzte und die Legitimität der staatlichen Institutionen unterlief. Insgesamt nahm in der Bundesrepublik die Bereitschaft, politische, soziale und kulturelle Gegebenheiten infrage zu stellen, ebenso zu wie das Selbstbewusstsein, sie verändern zu können. Zwischen 1959 und 1974 wuchs der Anteil derer, die meinten, politisch Einfluss nehmen zu können, stärker als in Großbritannien und den USA – insbesondere in der Jugend.24 Diese Entwicklung setzte die Institutionen in Staat und Gesellschaft unter Druck, stellte aber auch die mentale Wandlungsfähigkeit der Bürger auf die Probe. Eine konservative Gegenmobilisierung richtete sich insbesondere gegen »1968«, dem alle als negativ erachteten Zeiterscheinungen kultureller wie politischer Natur zugerechnet wurden. Sie begann nicht erst auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, sondern setzte bereits einige Jahre früher ein und mündete auch in staatlichen Maßnahmen wie dem Radikalenerlass von 1972, der die Polarisierung wiederum vorantrieb. Hier und in den überzogenen staatlichen Reaktionen auf den Terrorismus wurde das von Willy Brandt abgegebene Demokratisierungsversprechen, das so viele Bundesbürger mobilisiert hatte, teilweise wieder zurückgenommen. Dass die Demokratisierung jenseits des Staates, von unten her, dennoch weiterging, zeigten die Neuen Sozialen Bewegungen, in denen in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren so viele Menschen politisch aktiv wurden wie nie zuvor.

23 Moritz Scheibe: Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002, S. 245 – 277. 24 David P. Conradt: Changing German Political Culture, in: Almond, Verba (Hg.): Culture (Anm. 20), S. 212 – 272, hier S. 232.

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Hundert Jahre »Lukanga Mukara«. Anmerkungen zu Hans Paasche, Meißnerfahrer von 1913

Es muss etwa im Jahre 1978 gewesen sein, als ich in einem Hamburger Antiquariat eine Flugschrift aus dem Jahre 1919 mit dem Titel »Meine Mitschuld am Weltkriege« aufstöberte, verfasst von Kapitänleutnant a. D. Hans Paasche.1 Ich hatte zunächst keine Zeit, mich mit der Schrift zu beschäftigen, aber sie kostete nur eine Mark, also nahm ich sie mit. Bei einer späteren Zugfahrt las ich sie – und war wie erschlagen. Da sprach einer, der mit jeder Faser seines Wesens hinter seinen Worten stand. Ähnlich wie es Martin Niemöller nach dem Zweiten Weltkrieg getan hat, klagte sich Hans Paasche hier an, am Ersten Weltkrieg mitschuldig zu sein, obwohl er sich vehement gegen den Krieg gewandt hatte. Wer war dieser Hans Paasche?, fragte ich mich damals, recherchierte und fand viel über ihn heraus. Am 3. April 1881 in Rostock als Sohn des späteren nationalliberalen Reichstagsvizepräsidenten HermQnn Paasche geboren, besuchte Hans Paasche ein Gymnasium in Berlin und wurde danach Seekadett. Als Marineoffizier diente er auf dem Kreuzer SMS Bussard und war 1905/06 an der Niederschlagung von Eingeborenenaufständen in Deutsch-Ostafrika beteiligt. Die Erlebnisse in Afrika bewegten den inzwischen zum Kapitänleutnant beförderten Paasche schließlich 1908 zum Abschied von der Marine. Er wandelte sich vom Kolonialoffizier zum Ankläger des Militärwesens und zu einem »Freund Afrikas«, trat ein für Frieden und soziale Gerechtigkeit, für Umwelt-, Tier- und Naturschutz, bekämpfte den Hurrapatriotismus und Kolonialismus, die Todesstrafe und den Alkoholismus. Außerdem engagierte er sich als Schriftsteller und Redner für Vegetarismus, 1 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Hans Paasche: »Ändert Euren Sinn!« Schriften eines Revolutionärs, hg. von Helmut Donat und Helga Paasche, mit einem Nachwort von Robert Jungk (= Schriftenreihe Geschichte und Frieden; 2), Bremen 1992. – Ders.: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland. Mit Beiträgen von Iring Fetscher über »Hans Paasche – Kapitänleutnant a. D., Pazifist und Radikaldemokrat« sowie von Helmut Donat über »Hans Paasche, ›Lukanga Mukara‹ und ihr Echo in der deutschen Öffentlichkeit«, Bremen 2011. – Werner Lange: Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland – Eine Biographie, Bremen 1994.

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Bodenreform, Frauenstimmrecht und »natürliche Lebensweise«. Im August 1914 kehrte er zwar für kurze Zeit zu den Waffen zurück, begriff aber den Krieg schon bald als eine »Schändung des Evangeliums« und ließ fortan keinen Zweifel Qn seiner kriegsgegnerischen Haltung aufkommen. 1916 endgültig aus der Marine entlassen, ging er in den politischen Untergrund, nannte den Misthaufen auf seinem Landgut »Waldfrieden« (im Regierungsbezirk Bromberg, nahe dem heutigen Ort Krzyz˙) spöttisch »Hindenburg«, verfasste Flugblätter gegen die kaiserliche Kriegs- und Eroberungspolitik, rief zum Generalstreik in der Rüstungsindustrie auf und dichtete nach einem Lied von Georg Herwegh folgenden Vers: »Mann der Arbeit aufgewacht! Und erkenne Deine Macht! Die Kanonen schweigen still, Wenn Dein starker Arm es will!«2

Wegen seiner pazifistischen Tätigkeit verhaftete man Paasche im Jahre 1917, warf ihm Hochverrat vor und steckte ihn als Schutzhäftling in ein Berliner Nervensanatorium, aus dem ihn am 9. November 1918 revolutionäre Matrosen befreiten. Als Mitglied des Berliner Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte sowie als Vorstandsmitglied des pazifistischen Bundes Neues Vaterland forderte er eine Bestrafung der am Krieg Schuldigen und eine Abkehr vom Gewaltkult. Als sichtbares Zeichen für einen Neubeginn wollte er die »Puppen« in der Siegesallee in die Luft sprengen lassen. Ebenso setzte er sich für eine Aussöhnung mit Frankreich und Polen ein. Als einer der wenigen Offiziere begrüßte er den Verlust der deutschen Kolonien und schrieb im Jahre 1919: »Die alte Kolonialpolitik stand mit den Wundern der Cr_aen und den Bildern nackter Neger im Zeichen alldeutschen Fühlens. þöher stehende Rasse, Herrenmenschen, Kulturpioniere brachten den minderwertigen Farbigen die Segnungen der Zivilisation. Der Wilde bekam das Vorrecht, geprügelt zu werden […] Wer Qber zählt die Cränen, die das kostete. Den Eingeborenen, den schwarzen, den weißen Frauen; aller Seele, aller Natur.«3

Am 21. Mai 1920 wurde Hans Paasche auf seinem Gut Wandfrieden von rechtsradikal gesinnten Reichswehrsoldaten »auf der Flucht erschossen«, wie es damals hieß, und gehört damit zu den frühen Opfern rechtsextremer Lynchjustiz. Der Mord ist nie gesühnt worden. Seiner Erinnerung dient seit 1921 eine am Fuße der Burg Ludwigstein nach ihm bezeichnete Linde sowie ein auf dem Ludwigstein nach ihm benanntes Zimmer. Das Erlebnis »Afrika« hat ihn in besonderer Weise geprägt. Er schreibt: 2 Hans Paasche: Keine Generäle mehr!, in: ders.: Sinn (Anm. 1), S. 187. 3 Hans Paasche: Das verlorene Afrika, in: ders.: Sinn (Anm. 1), S. 238.

Hundert Jahre »Lukanga Mukara«

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»Nie werde ich die zerschossenen Menschen in der Sonnenglut zwischen den Pflanzen vergessen. Es ist so unsinnig, Menschen zu erschießen und zu erschlagen, ganz unsinnig aber, wenn es sich, wie immer am Ende des Krieges, herausstellt, dass nicht einmal das eine sicher war : Es war dein Feind, den du tötetest! Oft töten die Krieger aus Angst um ihr eigenes Leben, um sicher zu gehen, und das ist ihnen gar nicht mal zu verdenken; sie sehen Hinterhalt, sie fürchten Grausamkeit des Feindes, sie neigen dazu, sich selbst durch Abschreckung zu schützen, und Abschreckung wiederum ist ein Wahn.«4

Was Paasche hier beschreibt, ist ähnlich der Situation, in der sich heute deutsche Soldaten in Afghanistan befinden. Auch hier gibt es, wie Paasche es damals nannte, »keine Grenze zwischen Notwehr und Mord. So ist die Seelenverfassung von uns schwachen Menschen im Kriege. Scharfmacherei, Mordlust, Mitleidlosigkeit, Gereiztheit regieren.«5 Und, so fuhr Paasche weiter fort: »Ich merkte, Kriegermut ist nicht groß, er ist Kadavergehorsam, Gedankenlosigkeit, Mangel an Phantasie, Gleichgültigkeit.«6 Hans Paasche war ein Mensch, der frei sein wollte von Gewalt, Ausbeutung, Bevormundung und Knechtschaft. Wie wenige seiner Zeitgenossen hatte er schon lange vor 1914 die Hohlheit und Brüchigkeit der autoritär und militaristisch verfassten kaiserlichen Gesellschaft durchschaut – Einsichten, die ihn 1913 zum Hohen Meißner führen sollten. Sein weitgespanntes sozialkritisches Engagement dürfte einzigartig gewesen sein. Die meisten Zeitgenossen waren damals wohl kaum in der Lage, Paasches Weitsicht auch nur annähernd zu begreifen. Über den Naturschutz schrieb er zum Beispiel – und obwohl vor hundert Jahren verfasst, klingen seine Worte wie ein Aufruf aus unseren Tagen: »Das Leid der geschändeten Natur war niemals, seit die Erde besteht, so groß wie jetzt, unter der nichts schonenden Macht des Welthandels, des Verkehrs, der Industrie. Maßlos sind die im Nehmen, im Verschleppen und im Füttern ihrer Maschinen. Was irgend die Erde an lebender Schönheit und Pracht hervorbrachte, muss ihnen dienen. Solange noch eine Gazelle lebt, deren Fell auf dem Weltmarkt Wert hat, ein Wal im Eismeer, ein Paradiesvogel im Urbusch entlegener Inseln, solange ruht die geschäftige Betriebsamkeit nicht, gepaart mit menschenunwürdiger Gedankenlosigkeit und Kurzsicht […] Wo immer eine schützende Hand sich über lebende Naturschätze ausbreiten kann, da muß sie es jetzt tun. Alle wirtschaftlichen, alle künstlerischen Aufgaben können von den Menschen immer noch gelöst werden, und nichts ist verloren, wenn ein Volk ein paar Jahre später auf den Höhepunkt seines Reichtums kommt; wenn aber durch unsere Schuld Geschöpfe der Natur ganz vom Erdboden vertilgt werden, das ist nie wieder gut zu machen. Mit jeder Tierart, die uns von Urzeit

4 Hans Paasche: Meine Mitschuld am Weltkriege, in: ders.: Sinn (Anm. 1), S. 223. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 228.

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bis hierher begleitet hat, die unsrer Phantasie oft Nahrung war und uns in trüber Zeit wohl selbst zur Nahrung werden musste, verschwindet ein Stück unsrer selbst.«7

Hans Paasche war seiner Generation um Meilen voraus. Viele Themen, mit denen er sich beschäftigt hat, sind aktuell geblieben, und so fasziniert seine Weitsicht heute immer noch. Er stellte die angeblichen Errungenschaften der westlichen Zivilisation bloß, wandte sich gegen die Unterdrückung der Frau, geißelte den Massen- und verlogenen »Traumschiff«-Tourismus auf See, die Ausrottung von seltenen Vogelarten, forderte die Verminderung der Fangquoten für Robben und kritisierte die Naturzerstörung durch dem Vergnügen dienende Skianlagen und -pisten. Er engagierte sich für Völkerversöhnung, setzte sich für »Lebensreform« und für eine neue Welt mit den Worten ein: »Wer aber nicht auswandert aus seinem alten Menschen, der wird in keiner Steppe frei.«8 Nach 1918 forderte er die Deutschen auf, politisch erwachsen zu werden und zu gesunden, mit dem Indianerspielen und Gewaltdenken aufzuhören und sich künftig auf der Basis einer neuen Moral an Konfliktlösungen mit friedlichen Mitteln zu orientieren. Je mehr er sich bemühte, das alte System zu überwinden und einem neuen, nicht militaristisch und nicht nationalistisch gesinnten Deutschland den Weg zu ebnen, desto weniger blieb ihm verborgen, dass die einstmals führenden und weiter wirkenden Kreise nicht bereit waren, die nach 1918 geschaffenen Realitäten zu akzeptieren, geschweige denn, sich zu ändern. Ihre Reuelosigkeit und Unbußfertigkeit vor Augen, warnte er : »Erkenne deine Verführer, die Schuldigen des Weltkrieges, die Oberlehrer und Kriegspastoren, dies Gemisch von Biederkeit, Heuchelei, Opportunität, dies kriechende Untermenschentum mit Phrasenschwall. Es gibt keine Brücke zu dir, wenn du dir diese Sippe nicht unterordnest und deine Ehrfurcht an die richtige Stelle sendest: zu dem Menschen in dir selbst oder im andern, im gesteigerten Menschen, dem freien und schaffenden […] Alles was der Deutsche kann und hat, steht im Dienste brutaler Gewalt, und eines Tages braucht der eine, dem göttliche Weisheit zugeschrieben wird, nur auf den Knopf zu drücken, und alles Deutsche wälzt sich vernichtend über die Erde: Kanonen, Panzerplatten, chemische Industrie, Grenadierknochen, Philosophie, Menschenfleisch, Druckerschwärze, Zement. Ein wüster feldgrauer Brei. Nichts ist in diesem Volke, was nicht noch größer wäre in Verbindung mit dem Worte Krieg. Kriegsgeschichte, Kriegslyrik, Kriegsgötterei […] Ob es nicht ein ganzes Gebäude von Wissen, Bildung, Weltanschauung ist, aus dem der Deutsche auswandern muss?«9

Hans Paasche gehört zu den wenigen Deutschen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die Kultur der Afrikaner schätzten. In den Jahren 1909/10 unternahm er, begleitet von seiner jungen Frau Ellen, eine Expedition zu den Quellen des 7 Hans Paasche: Deutscher Naturschutz, in: ders.: Sinn (Anm. 1), S. 85. 8 Hans Paasche, Das verlorene Afrika, in: ders.: Sinn (Anm. 1), S. 236. 9 Ebd., S. 238 f.

Hundert Jahre »Lukanga Mukara«

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Nils. Unterwegs lernte er den Schwarzen Lukanga Mukara kennen. Dieser stammte von der sogenannten Insel Kitara im Viktoriasee und war bei Ruoma, dem König von Kitara, als Dolmetscher, Erzähler und Gerichtsberater tätig. Die Beobachtungsgabe Lukangas und dessen Auffassung über das, was ihm Paasche über die europäische Kultur, die Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche der Deutschen erzählte, gaben den Hintergrund ab für die »Briefe des Afrikaners Lukanga Mukara« – das populärste Werk Paasches. Im Auftrag seines Königs wird der von der europäischen Zivilisation unberührte Lukanga auf eine fiktive »Forschungsreise ins innerste Deutschland« geschickt, um seinem König mitzuteilen, wie die Weißen leben. Der erste Brief Lukangas handelt von »Münzen, Kultur und Briefen«. Die »Wasungu«, so nannte er die Deutschen, zahlten nicht mit Rindern und Ziegen, auch nicht mit Glasperlen, Muscheln oder Baumwollstoff. Ihre Münze seien kleine Metallstücke und Papier, das wertvoller als das Metall sei und sogar mehr Wert habe als alle Rinder des Königs von Kitara. Lukanga warnt ihn deshalb umso eindringlicher : »Die Eingeborenen des Landes empfinden diesen und noch viel größeren Unsinn als etwas Selbstverständliches, und sie sind so sehr daran gewöhnt, daß sie erschrecken würden, wenn es anders wäre. Ja, wenn ich ihnen sage, daß wir in unserem Lande mit anderer Münze zahlen, dann sagen sie, was sie hätten, sei besser, und fragen, ob sie kommen sollten und Dir das Bessere bringen. Sie nennen alles, was sie bringen wollen, mit einem Worte ›Kultur‹.«

Als Lukangas erster Brief in der von Hans Paasche und Hermann Popert gegründeten Zeitschrift »Der Vortrupp« am 1. Mai 1912, vor nunmehr also gut hundert Jahren, erschien, glaubten viele Leser tatsächlich, dass er wirklich von einem Afrikaner stammte – ein Eindruck, der sich noch verdichtete, als in den nächsten Monaten weitere Briefe folgten. Sie sind in einer erfrischend einfachen Sprache geschrieben und lösten ein unerwartetes Echo vor allem bei denen aus, die nach neuen Lebensformen suchten. Alles, was die Deutschen damals als besonders wertvoll und selbstverständlich ansahen, stellt Lukanga in Frage: den Hurrapatriotismus, die Heuchelei und Großmannssucht, den Korpsgeist und die Vergötzung der Macht, den Pflicht- und Ehrbegriff, das Erbrecht und die soziale Ungerechtigkeit, die Organisation des Arbeitslebens, die Volkswirtschaft, das Verkehrs- und Geldwesen, die Ess- und Trinkgewohnheiten, das »Rauchstinken«, die sinnlose Geschäftigkeit und Bierseligkeit, die »Unsitte des Bekleidens«, die Reklame und Buchstabengläubigkeit, die Schmutz- und Schundliteratur, die alltäglichen Lebenslügen und Verrücktheiten der Weißen. All das und mehr wird von Lukanga Mukara staunend betrachtet und anschaulich und geistreich, spöttisch und verabscheuend, aber auch mitfühlend für das Leid der Betroffenen geschildert.

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Bedenkt man, in welch geregelten und eher geruhsamen Bahnen sich das Leben vor dem Ersten Weltkrieg im Vergleich zu unserem heutigen vollzog, fällt auf, mit welchem Scharfblick Paasche die Missstände einer Gesellschaft aufs Korn nimmt, die »im Dienste der Unterdrückung steht«, den »Schwertglauben«, das heißt den Imperialismus und Gewaltkult, auf ihre Fahne geschrieben hat und »Gesichter, stumpf, ohne Glück« hervorbringt, aber keine freien Menschen mit Rückgrat und mit dem Wunsch, »allem zu mißtrauen, was sich der Macht verkauft hat.« Von den damals Mächtigen in Staat und Gesellschaft wurde Lukanga als Eindringling, seine »Botschaft« als gefährlich und störend empfunden. Während des Ersten Weltkrieges unterdrückten die Militärbehörden eine Buchausgabe der »Briefe«, zählte doch damals ein großes Kolonialreich in Afrika auf der Suche nach neuem »Lebensraum« zu den Kriegszielen deutscher Politiker und Militärs. Erst im Jahre 1921 konnte »Lukanga Mukara«, herausgegeben von Walter Hammer, wieder erscheinen. Das Buch fand rasch große Verbreitung. Die Nazis verboten es dann ebenso wie andere Schriften Paasches. Seit den 1970er-Jahren machte Lukanga jedoch wieder von sich reden. Inzwischen gibt es eine dänische, holländische und japanische Übersetzung der »Briefe« und im Laufe des Jahres 2015 soll eine niederdeutsche Ausgabe herauskommen. Klein- wie Großverlage haben sich der »Botschaft« Lukangas angenommen. Im deutschen Sprachraum sind seit 1921 mehrere Hunderttausend Exemplare erschienen. Wie ist dieser Erfolg zu erklären? Sicher nicht in erster Linie damit, dass der neunte Brief vom Treffen 1913 auf dem Hohen Meißner handelt. Das mag in der Jugendbewegung dazu beigetragen haben, Hans Paasche und seinen Lukanga Mukara nicht ganz aus den Augen zu verlieren oder zu vergessen. Lukanga hatte darin geschrieben, endlich sei er dort jungen Menschen begegnet, die »gehen konnten […] und springen, sprechen, lachen und singen. Sie hatten kein Leibgerüst und keine Zwangsschuhe. Sie trugen keine Steißfedern wilder Tiere auf dem Kopfe. Ihr eignes Haar hing in goldenen Flechten über den Rücken, und Kränze roter Beeren schmückten die Köpfe.« Und der Bericht endet dann in Abgrenzung von den Beschreibungen der vorherigen acht Briefe mit der Feststellung: »Ich sah die Gestalten von jungen Männern und Mädchen. Ich sah ihre Augen und Feuerglanz darin. Ich sah als Fremder die Zukunft eines Menschenvolkes.« Die Faszination der Briefe Lukangas bis heute geht jedoch von etwas anderem aus: Es ist die analytische Schärfe, gespickt mit Witz und Humor, die uns innehalten lässt und in der wir uns selbst wiedererkennen. Hinzu kommt die Vielfalt bzw. der Facettenreichtum der Beobachtungen. Vieles von dem, was uns auf den ersten Blick als selbstverständlich erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als fragwürdig. Des Weiteren spielt die Vielschichtigkeit eine wichtige Rolle, wobei die exotische Verfremdung nur das Vehikel für die zahlreichen

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Hinweise darauf ist, welchen Vorurteilen wir anhängen und ob es nicht besser ist, andere Erkenntnisse an ihre Stelle zu setzen. Lukanga stellt die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, unserer Tätigkeit und Geschäftigkeit. Warum tun wir, was wir tun? Und mit welchem Ziel? Fragen, die uns das ganze Leben lang immer wieder begleiten. Und ein weiterer Aspekt ist noch zu berücksichtigen: Wir sehen die Dinge in uns und um uns herum mit zwanzig Jahren anders als mit vierzig, fünfzig oder sechzig. So geht es dem Leser auch mit der Wahrnehmung der Briefe Lukangas. Plötzlich entdeckt man Themen, für die man zehn oder zwanzig Jahre zuvor kein Sensorium hatte. Man ist sensibler und für manches aufgeschlossener oder hellhöriger geworden. Harry Pross hat es 1984 auf den Punkt gebracht: »Hans Paasche hat mit diesen erfundenen Briefen sozialkritischen Inhalts der europäischen Expansion einen Spiegel vorgehalten, der auch heute nicht blind ist.«10 Ähnlich formulierte es Rolf Brockschmidt: »Auch der heutige Leser wird gezwungen, die vermeintliche Überlegenheit der Alten Welt gegenüber der Dritten Welt zu überdenken.«11 Acht Jahre später kam Christine Backhaus zu dem Schluss: »Paasche war ein Denker von beklemmender Modernität. Seine Themen – Krieg und Frieden, Eigensucht und Umwelt- oder Naturschutz, Afrika und Europa – schlagen einen Bogen von fast hundert Jahren. Ohne die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte sind seine Aussagen so gelungen, dass sie den Leser noch heute ins Mark treffen.«12 Viele andere Autoren haben sich ähnlich geäußert – und so ist die Erfolgsgeschichte Lukanga Mukaras in erster Linie dem Meißnerfahrer Hans Paasche zu verdanken, der mit diagnostischer Schärfe die Schwächen eines Gesellschaftssystems bloßlegt, das den Menschen fremdbestimmt und ihn von der Natur entfremdet. Abschließend zwei besonders exemplarische Themenfelder : Im sechsten Brief berichtet Lukanga von einer »Narrheit« der Weißen, die sie »Volkswirtschaft« nennen: Alle laufen und rennen irgendwie durcheinander, Hektik präge den Alltag, und selbst nachts kämen viele Menschen nicht zur Ruhe. Je deutlicher Lukanga Mukara aber solche Torheiten der »Wasungu« erkennt, desto mehr warnt er seinen König vor ihnen und empfiehlt ihm: »Das eine sage ich Dir : Hüte Dein Volk vor diesen Mördern und Räubern. Meine Tränen rinnen, wenn ich das schreibe: denn leider kannst Du weder Dein stolzes Volk noch Dein stilles Land vor Wesen schützen, die irre sind und nicht sehen, dass sie mit Feuerbränden die Strohdächer der Hütten segnen wollen. Sie sehen nicht, dass sie sich im Kreise drehen, dass sie nichts tun, als durcheinander werfen, was auf oder in der Erde ist, und dass sie die Schönheit und den Reichtum der Erde zerstören. Dabei haben sie einen Wetteifer gegeneinander. Nicht nur einzelne Menschen, auch Menschen 10 Harry Pross: Rezension, in: Süddeutsche Zeitung vom 02. 08. 1984. 11 Rolf Brockschmidt: Rezension, in: Tagesspiegel vom 25. 11. 1984. 12 Christine Backhaus: Rezension, in: Bremer Kirchenzeitung vom 31. 05. 1992.

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ganzer Gegenden und Völker wetteifern, wer von ihnen mehr Unsinniges tut, mehr Schätze zerstört, mehr hin und her rast. Sie nennen das Leben. Ich nenne es Tod. Sie nennen es gesund: ich sehe, dass es Krankheit ist. Der Narr, mit dem ich reiste, hieß Karl. Er war stolz, mir seine Narrheit zeigen zu können. […] [Er war] zur Herrschaft über ein Tal gekommen. In dem Tal aber hatte Karl viele Menschen zusammengebracht, die etwas taten, was er Arbeit nannte. Sie rannten hin und her. Einige verbesserten den Lauf eines Flusses, den Gott falsch angelegt hatte. Er ging, wie der Nyawarongo, in Windungen durch die Ebene. Jetzt wurde er gerade gemacht. Andere fuhren einen Berg ab, der unnütz war, wie Karl sagte, und warfen ihn in einen Sumpf, in dem bisher nur Reiher wohnten. Ein großer Bach war schnell zu Tal geflossen. Karl befahl, das dürfe nicht sein, ließ Erde davor schütten und gebärdete sich wie ein Irrsinniger vor Freude, weil das Wasser nicht über die Erde fließen konnte, sich sammelte und weil sich Räder drehten, auf die das überfließende Wasser fiel, was sich jedes Kind denken kann, wenn es unter einem Wasserfall badet. Diese Bewegung benutzte Karl dazu, von dem Brotgetreide, das er überall zusammenholte, etwas abkratzen zu lassen. Das Schlechte, was übrig blieb, bekamen die Menschen. Karl sorgte dafür, dass die Menschen nur dies Schlechte kaufen können und mehr Geld dafür geben müssen als für das Korn. Um das zu erreichen, fährt er mit dem Wagen hin und her. Er will aber, dass die armen Menschen von dem verschlechterten Korn krank und schwach werden, denn er hat Papiere, die bezeugen, dass er reicher wird, wenn die Menschen ein Kräftigungsmittel kaufen, das sein Bruder mischen lässt. Ein anderer Bruder von ihm ist Wundermann und bekommt von den Armen Geld dafür, dass sie ihm vorklagen dürfen, wie schwach sie sind, und dass er ihnen auf ein Stück Papier aufschreibt, wie das Kräftigungsmittel heißt, das sie kaufen sollen. Außerdem aber kaufen die Menschen täglich ein Papier, in dem Karl schreiben lässt, dass das Kräftigungsmittel gut sei. Ich fragte, was denn in dem Mittel enthalten sei? Darauf sagte mir Karl, das dürfe niemand wissen. Da sehe ich nun also Folgendes: Karl und seine Brüder fahren mit Wagen so viel umher, um dafür zu sorgen, dass die Menschen arm und dumm bleiben.«

Was hier beschrieben wird, mag zwar zunächst banal klingen, ist es aber nicht, sondern sehr genau beobachtet, und man wundert sich, woher Paasche seine Informationen hatte, um so präzise die Folgen einer denaturierten Ernährung darzulegen, durch die viele krank werden und zugleich viel Geld verdient wird. Wir wissen heute aus den Arbeiten und Veröffentlichungen von Fachleuten wie Werner Kollath, Weston Price oder Albert von Haller, dass Auszugs- oder Weißmehl Zivilisationskrankheiten hervorbringt und dem Naturprodukt Vollkorngetreide alles nimmt, was der Mensch braucht. Getreide, einst das ideale Lebensmittel, lässt sich, luftig gelagert, jahrelang aufbewahren. Heutzutage macht die Lebensmittelindustrie die Nahrung unbegrenzt lagerfähig und haltbar. Was faulen oder schimmeln kann, wird beseitigt, statt der Lebensmittel bietet man »Totmittel« an wie Auszugs- oder Weißmehl, gehärtete Fette, hoch raffinierte Öle, veredelten Zucker und ultrahocherhitzte Milch. Hinzu fügt man Konservierungs- und Säuerungsmittel, künstliche Aromen, Farbstoffe und Geschmacksverstärker. Mit anderen Worten: Wir sind von einem Überangebot

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minderwertiger und denaturierter »Lebensmittel« umgeben, die einen solchen Namen nicht verdienen. Doch auch hier gilt: Was den einen reicher macht, weil er das Schlechte produziert oder verkauft, macht die Betroffenen zu Opfern des verschlechterten Korns und damit krank und schwach. Also bietet man ihnen sogenannte Nahrungsergänzungsmittel an, Pillen und andere Dinge, die vorgeben, das auszugleichen, was zuvor dem Naturprodukt entzogen worden ist. Doch auch an dieser »Kräftigung« wird »kräftig« verdient; im Übrigen lösen die Ersatz- und Zusatzstoffe das Problem nicht, sondern verstärken es eher. Ähnlich verhält es sich mit der Herstellung und Verwendung des Zuckers. Auch hier ist Hans Paasche alias Lukanga Mukara seiner Zeit weit voraus. In seinem sechsten Brief ist Folgendes zu lesen: »Früher also standen […] Rüben mit süßem Saft auf den Feldern, und die Menschen kochten diesen Saft ein. Dann sah er braun aus und floss langsam wie Honig. Da bemühten sich die Leute vom Schlage Karls, diesen Saft durch Maschinen, die nur sie haben durften, zu verändern. Sie machten weiße, feste Körner daraus, die wie Quarzsand aussehen. Nun wurde ein großer Lärm gemacht, dass das gelungen sei, mehrere Karle durften sich ›Herr Ober‹ nennen und ein glänzendes Stück Messing über der Brustwarze befestigen, so dass die Menschen glauben mussten, das, was erfunden sei, sei etwas sehr viel Besseres und mache sie glücklicher, wenn sie es kauften. So gelang es den Karlen, dem Volk abzugewöhnen, das zu essen, was kostenlos auf den Feldern wächst, und es zu veranlassen, die Rüben an ein großes Haus abzuliefern, wo Feuer, Dampf, Rauch, verschiedener Radau und Gestank gemacht wurde, wo sich Räder drehten und angeschrieben stand ›Eintritt verboten‹ […] Mehrere Karle wurden sehr dick, trugen schöne Kleider, […] viele andere Menschen wurden blass und sahen dreckig aus. Die weißen Körner aber wurden sehr teuer verkauft. Jetzt wurden neue Zahlenkarle angestellt, die aufschreiben mussten, wie das dumme Volk jährlich mehr weiße Körner aß, wie viel Zähne deshalb verfaulten, wie viele Zahnzieher beschäftigt wurden und wie viel schneller die Menschen jetzt starben. Wenn jetzt einige Menschen sagten: wir wollen die weißen Körner nicht mehr herstellen, sondern wieder Rübensaft essen lassen, dann sagten die Zahnflicker : ›Wozu sind wir denn da; wir müssen doch zu tun haben.‹ Und sie zeigten, wie groß ihr Geschick war, Zähne mit Gold zu füllen und ganze Gebisse aus Gold und Stein zu machen. Und die Karle, die die weißen Körner machen lassen und dadurch reicher werden, ließen schreiben, das weiße Zeug sei gesund; denn nach Versuchen eines Geheimen Oberklugen, mit mehreren Metallstücken über den Brustwarzen, ginge es im Bauche des Menschen sofort ins Blut. Das glauben dann alle die [Weißen], die nicht Ober heißen, nichts Geheimes haben dürfen und keine Metallstücke auf der Brust tragen. Wie mit den süßen Rüben machen sie’s nun auch mit dem Korn. Sie machen ein ganz staubiges, weiches Mehl daraus und geben die Lebensstoffe, die abgekratzt werden, den Tieren. Dadurch erreichen sie es, dass die Menschen schwach und krank werden und zum Wundermann gehen.«

Auch hier beschreibt Hans Paasche präzise die Folgen einer falschen Ernährung, auf die sich ein ganzer Industriezweig gründet: die Zuckerindustrie. Wir wissen heute, dass zum Beispiel Karies im Wesentlichen eine Folge des Genusses de-

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naturierten Zuckers ist. Aber woher wusste Hans Paasche dies, und das vor nunmehr über hundert Jahren? Die Antwort darauf hängt vermutlich mit seinem Vater zusammen. Hermann Paasche war ein »Geschäftspolitiker en gros« und ließ nichts unversucht, um aus seinem politischen Einfluss Kapital zu schlagen. Unter anderem vertrat er die Zuckerindustrie als Lobbyist im Deutschen Reichstag. Wie man in dem »Zahlenkarl«, der die Afrikaner von der Teilnahme am Welthandel überzeugen will, unschwer den Wirtschaftswissenschaftler und -statistiker Hermann Paasche erkennen kann, so ist auch mit jenem »Karl«, der es dem Volke abgewöhnt zu essen, was kostenlos auf den Feldern wächst, um daraus Profit zu ziehen, der Vater von Hans Paasche gemeint. Anders ausgedrückt: Hermann Paasches Sohn Hans saß also »an der Quelle« und beobachtete aus nächster Nähe, wie sich industrielle Fertigungsverfahren eines Naturstoffes bemächtigten, um aus ihm ein der Gesundheit des Menschen abträgliches Produkt herzustellen. Kein Buch aus der Zeit vor hundert Jahren dürfte so »modern« sein wie Paasches »Lukanga Mukara«. Vieles verstehen wir ohnehin erst im Nachhinein richtig. Aber Paasche hat damals – das ist das Faszinierende an den LukangaBriefen – auf unverwechselbare Weise in die Zukunft geschaut. Ob Paasche 1963 eine Rolle im Rahmen der 50-Jahr-Jubiläums des Meißnerfestes gespielt hat bzw. ob und – falls ja – wie die Lukanga-Briefe seinerzeit wahrgenommen und gewürdigt worden sind, müsste noch untersucht werden. Man hat jedoch Paasche damals, wenn überhaupt, wohl eher eine untergeordnete Bedeutung beigemessen. Dass es inzwischen anders ist, zeigt, dass sich offenbar die Art und der Inhalt der Traditionspflege in jugendbewegten Kreisen und nicht zuletzt auf dem Ludwigstein gewandelt haben.

Günter C. Behrmann

Der Bund deutscher Jungenschaften auf dem Meißnertag 1963

Die Geschichte, die ich hier erzählen, erläutern und kommentieren möchte, beginnt mit einem an »Herrn Jürgen Laubscher. Bund deutscher Jungenschaften« adressierten Schreiben. Es enthielt die Einladung zu einem Treffen von Bundesführern der »heutigen Jugendbewegung« auf der Burg Ludwigstein. Dort sollte über deren Beteiligung an einem »Meißnertag 1963« gesprochen werden.1 Unterzeichnet war das Einladungsschreiben von Dr. Knud Ahlborn, einem der Hauptakteure des Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner am 13. Oktober 1913. Der Heidelberger Jurastudent Jürgen Laubscher, der damals der Führung des Bundes deutscher Jungenschaften (bdj) angehörte, antwortete ziemlich reserviert, er danke für die Einladung, der Führungskreis des Bundes werde darüber beraten, mit freundlichen Grüßen. Bevor ich mich der Frage zuwende, wie das Einladungsschreiben dort aufgenommen wurde, muss ich wohl einiges zum bdj und dessen Führungskreis sagen. Denn mittlerweile ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Der damals noch in jeder Hinsicht junge Bund – auf der Einladungsliste zum Treffen auf dem Ludwigstein war er zunächst nicht verzeichnet, den Einladenden also unbekannt – ist in der bündischen Szene längst nicht mehr präsent, mithin nur noch von historischem Interesse und dies auch nur in einem engen Ausschnitt der (west-) deutschen Jugendgeschichte.

Der Bund deutscher Jungenschaften Wie man dem Bundesnamen entnehmen kann, handelte es sich beim bdj um einen Jungenbund. In ihm hatten sich – deshalb der Plural »Jungenschaften« – 1959 kleinere, in der Tradition des Wandervogels und der Bündischen Jugend 1 Dieser Briefwechsel ist im Nachlass Achim Reis überliefert, der dem Archiv der deutschen Jugendbewegung seine Sammlung zum Bund deutscher Jungenschaften überlassen hat. – Vgl. AdJb, N 163.

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stehende Bünde zusammengeschlossen. Dabei waren die Fragen nach der Führung des neuen Bundes und nach seiner Identität im Unterschied zu früheren ›Bündigungen‹ auf unkonventionelle Weise gelöst worden: Statt auf einen Bundesführer einigte man sich auf ein im Turnus von ein bis zwei Jahren neu zu besetzendes Führungstrio. Das gelang auch deshalb, weil sich die meisten der beteiligten Gruppierungen von Bundesführern emanzipiert hatten. Ob man sich dabei bewusst von den in der Bündischen Jugend der 1920er-Jahre vorherrschenden Vorstellungen von Führung und Gefolgschaft getrennt hat, wäre einmal zu untersuchen. Ich weiß nur, dass sich der Bund, den ich selbst erst 1960 als Düsseldorfer Oberstufenschüler kennengelernt habe, in doppelter Hinsicht von den meisten mir bis dahin bekannten Bünden abhob: Es gab keine hierarchischen Führungsstrukturen. Hierin war der bdj wohl nur mit einigen anderen jungenschaftlichen Gruppierungen, so der Schwäbischen Jungenschaft und der deutschen jungenschaft e. V. (dj), vergleichbar. Noch ungewöhnlicher, wahrscheinlich sogar einzigartig, war die Vielfalt der Gruppenkulturen. In den Anfangszeiten konnte man im bdj so ziemlich alles vorfinden, was bei – und mit – den Wandervögeln, den Pfadfindern und der dj.1.11 einmal in Mode gekommen und von den Bünden im westlichen Nachkriegsdeutschland mit anfangs allenfalls geringen Veränderungen übernommen worden war. Da sich dem bdj nach der Gründung weitere Gruppierungen anschlossen, war er bald der größte Bund neben den nicht konfessionellen Pfadfinderbünden Bund Deutscher Pfadfinder und Deutscher Pfadfinderbund. Er hatte wohl um die 600 Mitglieder. Genau wusste man das nie, weil es keinerlei formelle Mitgliedschaft, also auch keine Mitgliederverwaltung gab. Umgekehrt betrachtet war die Bundeszugehörigkeit zumal in den ersten Jahren für die Jungen in den einzelnen Gruppen, die in dj.1.11-Tradition Horten genannt wurden, von sehr viel geringerer Bedeutung als die Zugehörigkeit zu ihrer Horte und den kleineren Verbänden von Horten. Erlebt wurde der Bund von den meisten Jungen nur auf den jährlichen Bundeslagern. Die verschiedenen Gruppierungen kamen sich auch deshalb nur dort näher, weil sie in einem im Norden durch Kiel und Schleswig, im Osten durch Uelzen und Erlangen, im Süden durch München, Schondorf und Freiburg, im Westen durch Heidelberg, Köln und Münster abgrenzten Raum weit verstreut waren. Es gab den Bund, weil und insoweit es die einzelnen Gruppen gab, nicht die Gruppen, weil es den Bund gab. Die Horten und Hortenverbände führten ein Eigenleben, das sich freilich in den Grundzügen glich. Man hatte häufig ein eigenes Heim, in dem man sich nicht nur zu »Heimabenden« traf, und eine Kohte als »mobile home«. Man unternahm damit in kurzen Abständen und zu allen Jahreszeiten Wochenendfahrten, ging in den Sommerferien auf »große Fahrt«, nahm in kleinerem Kreis an Osterlagern, dann an Pfingsten am Bundeslager, im Süden während der Weihnachtsferien auf Almhütten an Winterla-

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gern teil. Man sang viel, übte neue Lieder und kleine Stücke für Auftritte auf Lagern und Elternabenden ein, verfasste Fahrtenberichte und stellte sie zu in kleiner Auflage vervielfältigten Heften zusammen. Man erprobte sich in allerlei Künsten, kurz: Man trieb das, was jugendbewegte Gruppen in vielfältigen Varianten getrieben haben, seitdem sich im Wandervogel Gruppen gleichaltriger Jugendlicher verselbstständigt hatten.

Der Führungskreis und die Jugendsoziologie Um den Bund, also den Zusammenhalt und die Unterstützung der verschiedenen Gruppierungen, sorgte sich ein lockerer Kreis von Älteren, überwiegend Studenten, die aus den Gruppen herausgewachsen waren, aber mit ihnen noch in Verbindung standen. Das operative Zentrum dieses Kreises befand sich in einer Altbauwohnung in der Freiburger Erbprinzenstraße. Dort konnte man sich auch zu Abendzeiten im Studentenzimmer des den Bund mit Ideen und neuen Liedern versorgenden Nobelbajuwaren Roland Eckert einfinden. Wie der Name verrät, befindet sich diese Straße in einem der noch im Kaiserreich bebauten Wohnviertel. Es liegt in der Nähe der Freiburger Altstadt, also auch nahe der Universität. So wurde Rolands Studentenbude zum Treffpunkt der Freiburger Studenten aus dem Bund. Einige dieser Studenten verbanden auch gemeinsame Studieninteressen. Sie studierten im Haupt- oder Nebenfach oder daneben »Wissenschaftliche Politik und Soziologie«. Damals waren das noch keine etablierten Studienfächer. Einige ihrer Vertreter zogen allerdings schon viele Studenten an, so Arnold Bergstraesser, der 1954 in Freiburg auf eine der ersten politikwissenschaftlichen Professuren an deutschen Universitäten berufen worden war und zugleich Soziologie lehrte. Um ihn hatte sich ein Kreis von ebenso innovativen wie produktiven jüngeren Wissenschaftlern gebildet, denen er an seinem Lehrstuhl sowie an den von ihm gegründeten Forschungs- und Bildungseinrichtungen Arbeitsmöglichkeiten eröffnete. Einige von ihnen waren wie er selbst aus den USA zurückgekehrt, so die Soziologen Friedrich H. Tenbruck und dessen Freund Thomas Luckmann. Zu den Gebieten, die damals innerhalb der Soziologie wie in deren öffentlicher Wahrnehmung stark beachtet wurden, zählte die Jugendsoziologie. Wer sich für Soziologie interessierte und mit der organisierten oder nicht organisierten Jugend, der sogenannten Jugendarbeit, dem Bundesjugendplan oder kurz: mit der Jugend zu tun hatte, kannte zumindest Helmut Schelskys 1958 erschienenes Buch »Die skeptische Generation«.2 Darin war die Jugend im 2 Helmut Schelsky : Die skeptische Generation : Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957.

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westlichen Nachkriegsdeutschland von den beiden ihr vorausgegangenen Generationen und damit auch von der Jugendbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg abgehoben worden. Man kam an Schelskys Buch, in das viele Daten aus den empirischen Jugendstudien der 1950er-Jahre eingearbeitet waren, deshalb auch dann kaum vorbei, wenn man sich als Angehöriger bündischer Gruppen die Frage stellte – oder vor die Frage gestellt wurde –, ob man noch von Bund und Gruppe als der Jugend gemäßen Lebensformen sprechen konnte. Tenbruck zog daher Studenten und Studentinnen aus Bündischen Kreisen an, als er Seminare zur Jugendsoziologie anbot. Wie man in den nach abendlichen Seminaren in Freiburg üblichen Weinrunden erfuhr, war er bis in die Verbotszeit hinein Nerother gewesen. Gleichwohl blickte er im Gegensatz zu vielen deutschen Jugendforschern und -pädagogen, auch im Gegensatz zu Schelsky, nicht durch die Brille der ehemals Jugendbewegten auf die Jugend in der sich beim Wiederaufbau rasant modernisierenden Bundesrepublik. Sein Thema war die »Jugend in der modernen Gesellschaft«.3 Er fragte nicht nach Generationen und Generationsunterschieden in dieser Gesellschaft. Vielmehr suchte er jene strukturellen und kulturellen Differenzen zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften herauszuarbeiten, die für die Sozialisierung der Heranwachsenden bestimmend waren bzw. wurden. Jugend als verselbstständigte soziale Gruppe, so seine These, sei »eigentlich eine geschichtliche und zwar relativ neuartige Erscheinung«, deren Entstehen auf die Prozesse der Industrialisierung, der Verstädterung, insbesondere der Bildungsexpansion, d. h. des Vordringens überlokaler Organisationen mit je spezifischen Funktionen und der damit wachsenden Komplexität moderner Gesellschaften zurückzuführen sei. Die Jugendbewegung erschien damit in einem neuen Licht als eine Bewegung, welche die Verselbstständigung – soziologisch gesprochen: die Ausdifferenzierung – der Jugend als gesellschaftlicher Großgruppe auch dort vorangetrieben hat, wo sie die »Gemeinschaft« der »Gesellschaft« entgegensetzte, der Scholaren-, Ritter- und anderer Romantik frönte, den Massenmedien, zumal dem Film, den Kampf ansagte, sich also rundum modernitätskritisch, wenn nicht gar modernitätsfeindlich gebärdete. Zugleich wurde die Jugendbewegung aber auch relativiert. Denn im Unterschied zu den etwa gleichzeitig entstandenen Boy Scouts waren der Wandervogel und später dann auch seine bündischen Nachkommen trotz ihrer Übernahme vieler »scoutistischer« Formelemente sehr deutsche Erscheinungen geblieben. Jugend als eine Großgruppe, die sich auf mannigfache Weise von anderen Teilgruppen der Gesellschaft, zumal den »Erwachsenen«, abhob, gab es aber in allen modernen Gesellschaften.

3 Friedrich H. Tenbruck: Jugend und Gesellschaft. Soziologische Perspektiven, Freiburg 1962.

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Gegen Ende der 1950er-Jahre zeigte sich zudem, dass die Jugendorganisationen und -bünde die Stellung verloren, die sie neben den »Sozialisationsagenturen« Familie und Schule gewonnen hatten. Sie hatten – das gilt auch für große Teile des Wandervogels und der bündischen Jugend – den Heranwachsenden Freiräume für ein Eigenleben eröffnet, diese aber eingehegt und dabei gesellschaftlichen Vereinigungen Möglichkeiten einer Beeinflussung der Sozialisationsprozesse innerhalb der jugendlichen Gruppen eröffnet. Wie so vieles war diese Mittlerstellung in der frühen Nachkriegszeit restauriert worden. Im Verlauf der 1950er-Jahre wurde aber zunehmend deutlicher, dass die Verselbstständigung der Jugend weiter fortschritt. Tenbruck brachte dies auf die Formel einer Sozialisierung in eigener Regie. Freilich, das übersah er nicht, wurden die Verselbstständigung der Jugend und die zeitliche wie soziale Expansion der Altersgruppe insbesondere durch die Massenmedien vorangetrieben. Vor allem sie schufen Großräume gruppenspezifischer Kommunikation und Identifikation, in denen die Jugendverbände und -bünde ihre Mittlerstellung, wenn überhaupt, nur noch mühsam behaupten konnten.

Teilnahme? Zurück zum eingangs zitierten Einladungsschreiben des Herrn Ahlborn: Als es in Freiburg eintraf und dort besprochen werden konnte, war der darin genannte Termin schon ziemlich nahe gerückt. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich niemand vorbehaltlos für eine Teilnahme ausgesprochen. Es gab aber auch keine handfesten Gründe, die dagegen sprachen. Der bdj gehörte zweifellos zu den Bünden, die in der Tradition des Wandervogels und der Bündischen Jugend standen, ja er war einer der größten dieser Bünde. Und er vereinigte in sich ihre Traditionslinien. Mit dem Jungwandervogel gehörte ihm sogar eine der Gruppierungen an, die schon in der Wandervogelzeit vor dem Ersten Weltkrieg entstanden waren. So erhielten aus dem nachrückenden Führungstrio Ludwig Gernhardt-Keckes, – er wurde später Gymnasiallehrer und Wirtschaftsleiter der reformpädagogischen Internatsschule Schondorf – und ich als einer der Freiburger Studenten den Auftrag, doch »mal zu schauen, was da läuft«. Keckes war damals bereits motorisiert. Er besaß einen Messerschmitt-Kabinenroller. Das war eines jener Gefährte, mit denen man sich im Deutschland der Nachkriegszeit dem Zeitalter der motorisierten Fortbewegung näherte. Sein Erfinder hatte als ehemaliger Flugzeugbauer eine schmale Plexiglashaube über ein Dreirad gestülpt. Das Ganze wurde durch einen PS-schwachen Motor angetrieben. Unter der Haube hatten zwei hintereinander sitzende Personen Platz. Sie durften allerdings nicht schwergewichtig oder groß sein. Zum Schutz vor der Sonne hatte Keckes den hinteren Teil der Haube zugemalt. Ich saß also auf dem

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Rücksitz hinter ihm, dem Fahrer, mit weit ausgestreckten Beinen ziemlich im Dunkeln, bis wir nach längerem Hoppeln über die zum Teil noch aus dem »Dritten Reich« stammenden Betonplatten der heutigen A 5 etwas verspätet den Ludwigstein erreichten. Dort bot sich uns eine merkwürdige Szenerie: In einem ziemlich düsteren Burgraum waren unter einem großen Bild, der Hinternansicht eines mit gereckten Armen der Sonne zugewandten, etwas androgynen nackten Knaben, an einem langen Tisch überwiegend ältere Herren in bündischem Outfit versammelt, die der Ansprache eines noch älteren Herrn – es handelte sich allem Anschein nach um Knud Ahlborn – lauschten. Er sprach vom Freideutschen Jugendtag 1913, von der Meißnerformel, die er mitformuliert hatte, von ihrer immer noch großen Bedeutung, vom geplanten Meißnertag 1963 und dem Wunsch nach einer Beteiligung der eingeladenen Bünde. Schließlich stellte er Karl Vogt, den Vorsitzenden des Hauptausschusses zur Vorbereitung des Meißnertags 1963, vor. Uns und wohl auch den meisten anderen Anwesenden war dieser Karl Vogt unbekannt. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt, vielleicht auch etwas älter sein. Auftreten und Kleidung ließen auf eine leitende Tätigkeit in der Wirtschaft oder einer öffentlichen Einrichtung schließen. Schon in seinem Äußeren hob er sich von den Bundesführern ab, die da kurz- oder kniebundbehost im Bunt der Pfadfinderhemden und -halstücher oder im Cordwams mit einem vielzipfligen Barett auf dem Haupt vor ihm saßen. Vogt berichtete sehr sachlich von Initiativen, die vom Freideutschen Kreis und der Burgvereinigung ausgegangen waren, von der Zusammensetzung des Ausschusses und von dessen Planungen. Schließlich wiederholte er den Wunsch nach einer Beteiligung der eingeladenen Bünde. Dabei sprach er von den »jungen Bünden«, nicht oder zumindest nicht betont von der »heutigen Jugendbewegung«. Es folgte, was bei solchen Veranstaltungen mit Vertretern recht unterschiedlicher Gruppen fast immer folgt: ein ziemlich chaotisches Palaver. Nicht wenige der Bundesführer, die da über eine gemeinsame Selbstdarstellung der »jungen Bünde« nachdenken sollten, wirkten etwas ratlos. Zwar stimmten bald viele dem Vorschlag eines »überbündischen Lagers« auf dem Meißner zu. Eine Ansammlung von Bundeslagern mit dem üblichen Lagerleben war dem Anlass aber nicht angemessen, sollte doch eines Ereignisses gedacht werden, das nicht nur in der deutschen Jugendgeschichte, sondern auch in der Kultur- und Geistesgeschichte seinen festen Platz hatte. Die Bünde mussten auch eine eigene Antwort auf die Frage finden, was der Freideutsche Jugendtag 1913 und die viel beschworene Meißnerformel für sie bedeuten und wie sie zu der in die Irrungen und Wirrungen ihrer Zeit verstrickten Geschichte der Jugendbewegung stehen. In Verbindung damit oder unabhängig davon mussten sie auch ihren Ort in der gewandelten Gesellschaft und deren Jugend bestimmen.

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Dass eine sowohl historische als auch soziologische Selbstreflexion geboten sei, meinte freilich nur eine Minderheit. Ihr standen diejenigen gegenüber, für die klar war, dass es immer noch die eine, in ihren Bünden lebendige Jugendbewegung gab, und die dies auch nicht infrage stellen lassen wollten. Zwischen diesen Positionen gab es ein Mittelfeld. Das erleichterte eine Kompromissfindung. Weil man sich über die Veranstaltung eines Lagers mit großen Freiräumen für die einzelnen Bünden bald einig werden konnte – so hatte ja auch der Freideutsche Jugendtag 1913 stattgefunden – , ließen sich Parteibildungen und Konflikte vermeiden. Es war wohl Gerhard Neudorf vom Wandervogel Deutscher Bund, der vorschlug, parallel zur Vorbereitung des Lagers eine Seminarreihe zu starten, die sich den historischen, soziologischen und letztlich auch jugendpolitischen Fragen widmen sollte, um eine gemeinsame Erklärung zum Meißnertag 1963 vorzubereiten.

Das Engagement Über die Teilnahme des bdj konnten Keckes und ich – einige der auf dem Ludwigstein anwesenden Bundesführer haben dies nur schwer verstanden – nicht entscheiden. Nach dem Verlauf der Diskussionen und vielen Einzelgesprächen am Rande kamen wir aber zu dem Ergebnis, dass eine Beteiligung sinnvoll und möglich sein könnte. Die Traditionalisten waren erstaunlich anspruchslos geblieben. Es war absehbar, dass sie uns gewähren ließen, wenn wir sie gewähren ließen. Problematischer erschienen uns einige Nachfahren der schon im Wandervogel starken und in der Bündischen Jugend noch stärkeren völkischen Rechten. Indes hatte sich in den Diskussionen auf dem Ludwigstein gezeigt, dass eine große Gruppe innerhalb des Teilnehmerkreises ein klares gemeinsames Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie für unerlässlich hielt. Hierin waren wir uns, um nur die wichtigsten Bünde zu nennen, mit den Vertretern des Deutschen Pfadfinderbundes, den an einer Teilnahme interessierten Gruppierungen des Bundes deutscher Pfadfinder, den meisten der kleineren Pfadfinderbünde, des Wandervogels D. B. und der Deutschen Freischar einig. Gegen in sich schon problematische Versuche einer vorgängigen Gesinnungskontrolle sprachen also auch eindeutige Mehrheitsverhältnisse, war doch mit Sicherheit zu erwarten, dass die geplante gemeinsame Erklärung ein solches Bekenntnis enthalten würde. Wenngleich sich Karl Vogt bei allen inhaltlichen Fragen sehr zurückhielt, konnten wir in dieser Hinsicht auch auf eine eindeutige Haltung des Hauptausschusses rechnen. Während unsere Argumente für eine Mitwirkung in der Freiburger Studentengruppe geteilt wurden und sogleich allerlei Überlegungen zu deren Ausgestaltung auslösten, stieß unser Werben für eine Beteiligung in den Gruppie-

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rungen des bdj allerdings auf starke Vorbehalte. Man befürchtete, die Teilnahme werde von Nachteil sein, weil sie Kräfte koste, die in die Festigung von instabilen Horten und die innere Entwicklung des Bundes investiert werden müssten. In all den darüber geführten Gesprächen wurde nochmals deutlich, wie wenig jener historisch ferne Freideutsche Jugendtag den Gruppen bedeutete. Es galt also, sie nicht für eine Veranstaltung zu instrumentalisieren, deren vermeintlich oder tatsächlich höherer Sinn für sie kaum einsichtig sein konnte. Wir mussten ihnen auch zusichern, dass weder das Bundeslager noch die sommerlichen Großfahrten durch Vorbereitungen auf den Meißnertag beeinträchtigt werden. Den weiteren Verlauf der Planungen und Vorbereitungen überspringe ich, weil es wenig Sinn machen würde, ihn hier anhand von Daten der in immer kürzeren Abständen aufeinander folgenden Treffen und Absprachen nachzuzeichnen. Wie schon deutlich wurde, muss aus verschiedenen Gründen zwischen der Lagervorbereitung und der Seminarreihe unterschieden werden. Noch gar nicht erwähnt habe ich die Veranstaltung, die nach den Planungen des Hauptausschusses das ganze Vorhaben »Meißnertag 1963« krönen sollte: die Schlusskundgebung auf einer an den Lagerplatz angrenzenden Festwiese. Zuvor waren keine gemeinsamen Veranstaltungen der ehemaligen Angehörigen des Wandervogels und der Weimarer Bündischen Jugend mit den Jungen Bünden geplant. Diese sollten – und wollten – auf dem Meißner unter sich bleiben. Für jene war ein umfangreiches Programm mit Vorträgen, Gesprächskreisen etc. auf dem Ludwigstein und in Bad Sooden-Allendorf vorgesehen. Nachdem wir unsere Teilnahme zugesagt und uns stark für die Seminarreihe eingesetzt hatten, öffnete sich, was im amerikanischen politsoziologischen Jargon »window of opportunity« genannt wird. Als die Frage anstand, wer die Rolle des Sprechers der Jungen Bünde übernehmen könne, meldete niemand laut Ansprüche an. Wir versuchten deshalb, diese Chance zu nutzen, berieten uns intern und schlugen dann Alexander Gruber vor. Er gehörte seit seiner Rückkehr von einem Amerikastudium als literarisch gebildeter, sprachmächtiger Student dem Freiburger Studentenkreis an und war bündisch so wenig vorgeprägt, dass niemand aufgrund irgendeiner innerbündischen Interessenlage etwas gegen ihn haben konnte. Nachdem er akzeptiert war, wagten wir noch einen zweiten Vorschlag: Angesichts der langen Rednerliste sprach alles für eine kurze und prägnante Rede. Die Jungen Bünde drohten damit aber in eine Randrolle zu geraten. Da kam Alexander der Gedanke, die Rednerfolge durch einen Sprechchor zu unterbrechen. Die Sprechchortradition war im bdj damals noch recht lebendig. Alexander hatte auch eine Idee zu Form und Inhalt. Also schlugen wir vor, doch einen Sprechchor in das Programm der Abschlusskundgebung aufzunehmen. Auch dieser Vorschlag wurde angenommen. Das Engagement des Bundes hatte damit drei Schwerpunkte: die Abschlusskundgebung, die Seminarreihe und das Lager. Hermann von Schroedel-

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Siemau-Sim aus dem Deutschen Pfadfinderbund, der damals Inhaber eines der größten deutschen Schulbuchverlage war, schlug zur Seminarreihe eine gesonderte Publikation mit wissenschaftlichen Beiträgen vor. Sie erhielt den Titel »junge bünde. Jahrbuch bündischer Jugend 1963« und wurde mit einem stark von Tenbrucks Jugendsoziologie beeinflussten Beitrag des oben schon erwähnten Mitbegründers des bdj Roland Eckert eröffnet.4 Wenn auch nur mit Mühe ließen sich für das Meißnerlager einige der aktivsten Gruppen gewinnen. Wir brauchten, dies war sogleich klar, einen Raum für Einladungen. So entstand der Plan des »Tatzelwurms«, einer Frühform der Verbindung mehrerer Jurten als Raum für Theaterspiel und gemeinsames Singen. Wir wollten auf dem Meißner natürlich mit eigenen Liedern hervortreten und zudem demonstrieren, dass Jungengruppen zu einem kultivierten Chorsingen fähig sind. Hinzu kam die Idee eines nächtlich zu produzierenden Morgenblatts. Überdies beteiligten wir uns auch noch an einer Werkkunstausstellung. Schon früh standen wir bei all den Planungen aber vor einem Problem: Die Zugehörigkeit zum bdj war für Außenstehende nicht erkennbar. Halstücher wollten wir uns nicht zulegen, Barette auch nicht. So wurde an mehreren Abenden in der Freiburger Erbprinzenstraße eine Bundesuniform erfunden. Sie sollte auf Fahrt wie im Alltag gut tragbar, robust, kleidsam und farblich sehr neutral sein. So entstand als Pullover die dezent graue, auf der Vorder- und Rückseite geschlossene »Stadtjacke« mit einem spöttisch »Regenrinne« genannten Einsatz auf den Schultern. Alexanders Schwester verdanken wir den Schnitt, Keckes den Fund einer kleinen Textilfabrik, die die Jacken in verschiedenen Größen in passendem Stoff noch zeitgerecht liefern konnte.

Meißner 1913 und 1963 in wechselseitigem Bezug Die Handlungsrelevanz programmatischer Erklärungen wird häufig überschätzt. Für den Meißner 1963 gilt das ebenso wie für den Meißnertag 1913. So war das Lagerleben und -erleben in weiten Bereichen von all dem, was in den Seminaren, dem Jahrbuch, der Erklärung oder in der Rede Alexander Grubers zur Sprache kam, unabhängig. Unser Engagement resultierte auch nicht aus einer vorgegebenen Programmatik. Es war, wie beschrieben, Ergebnis eines nicht geplanten und nicht von vornherein auf ein bestimmtes Ziel zulaufenden Prozesses. Allerdings gab es insbesondere in der Freiburger Studentengruppe einige nicht explizit formulierte gemeinsame Überzeugungen und Einstellun4 Roland Eckert: Die Jugendbünde in der modernen Gesellschaft, in: Junge Bünde 1963. Jahrbuch bündischer Jugend. Zum Meißner-Tag am 12. und 13. Oktober 1963, S. 5 – 30.

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gen, also ein gemeinsames Hintergrundverständnis, von dem wir uns bei unseren Aktivitäten leiten ließen. Ich will versuchen, es auf meine Weise zu formulieren. Dazu wähle ich den Aufruf zum Freideutschen Jugendtag 1913 als Ausgangspunkt. Er begann mit den folgenden Worten:5 »Die deutsche Jugend steht an einem geschichtlichen Wendepunkt. Die Jugend, bisher aus dem öffentlichen Leben der Nation ausgeschaltet und angewiesen auf eine passive Rolle des Lernens, auf eine spielerisch-nichtige Geselligkeit und nur ein Anhängsel der älteren Generation, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig von den trägen Gewohnheiten der Alten und von den Geboten einer hässlichen Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten. Sie strebt nach einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht, die es ihr aber zugleich auch ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu nehmen und sich als einen besonderen Faktor in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern.«

Möge, so endet der Aufruf zu der »Gedenk- und Auferstehungsfeier jenes Geistes der Freiheitskämpfe, zu dem wir uns bekennen«, vom Ersten Freideutschen Jugendtag »eine neue Zeit deutschen Jugendlebens anheben, mit neuem Glauben an die eigene Kraft, mit neuem Willen zur eigenen Tat.« In der historischen Literatur wird dieser Aufruf dem Reformpädagogen Gustav Wyneken zugeschrieben. Er war 1913 bereits 38 Jahre alt, gehörte also in einer im Schnitt sehr jungen Gesellschaft fast schon zu den »Alten«. Die schätzungsweise 2 000 Jungen und Mädchen, jungen Frauen und Männer, die bei herbstkaltem Regenwetter auf den Meißner gezogen sind, bildeten eine verschwindend geringe Minderheit in noch sehr starken Altersjahrgängen. Denn 1913 lebten im Deutschen Reich rund zwanzig Millionen Jugendliche und junge Erwachsene in Alter der Meißnerfahrer. Schon die von Wyneken beschworene Einheit der Jugendbewegung, zu schweigen von einer Einheit der Jugend, war ein wirklichkeitsfernes Postulat. Geschichte wird indes auch mit Worten gemacht, die vordergründig betrachtet einen nur geringen Realitätsgehalt besitzen. Erlebt wurden das gemeinsame Lager in der freien Natur, der Kampf gegen das Wetter auf dem unwirtlichen Meißner, gemeinsame Spiele – darunter, wie Ulrich Herrmann herausgefunden hat, auch Fußballspiele – , Tanz- und Singerunden. Dass man an einem »geschichtlichen Wendepunkt« stand, die »trägen Gewohnheiten der Alten« hinter sich ließ und in eine »neue Zeit deutschen Jugendlebens« hineinschritt, war so nicht erlebbar und deshalb auch nicht bewusst. Für die meisten jungen Meißnerfahrer wurde der Freideutsche Jugendtag daher auch nicht zu einem nationalreligiösen Hochamt. 5 Vgl. Winfried Mogge, Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung; 5), Köln 1988, S. 67 – 69.

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Gleichwohl ist der Anspruch auf Selbstgestaltung jugendlichen Lebens nirgendwo so manifest geworden wie auf dem Freideutschen Jugendtag. Dort kam er in Wynekens Aufruf zur Sprache. Dort wurde er in der Meißnerformel zum Leitspruch. Und dort verband er sich sichtbar mit der Bewegung innerhalb der bürgerlichen Jugend, über die die vielen im späten 19. Jahrhundert entstandenen Lebens- und Kulturreformbewegungen in die junge Generation hineinwirkten. Der Aufruf, die Meißnerformel und die meisten auf dem Freideutschen Jugendtag gehaltenen Reden zeugen aber auch von der Politikferne, ja politischen Blindheit derer, die sich berufen fühlten, der Bewegung den Weg zu weisen. Dass der Anspruch auf »innere Freiheit« unbestimmt blieb und deshalb ins Leere zu gehen drohte, wenn er nicht in Beziehung zur äußeren Freiheit wie zu den Bedingungen ihrer institutionellen Sicherungen gesetzt wurde, wurde kaum gesehen. Und mehr noch als der in Leipzig pompös inszenierte Nationalpatriotismus trug der verinnerlichte »Geist der Freiheitskriege« 1914 zu jener Kriegsbegeisterung bei, mit der die Wandervögel als Kriegsfreiwillige in den Krieg zogen, der zur Jahrhundertkatastrophe wurde. Wir hielten das für so evident, dass wir die Frage nach dem Ort der Bünde in der sich bildenden und zunehmend neu orientierenden Gesellschaft der Bundesrepublik und nach ihrem Verhältnis zu deren politischer Ordnung für ungleich wichtiger hielten als eine extensive Beschäftigung mit der Geschichte der Jugendbewegung. Neben Werner Helwigs von vielen geschätztem Buch »Die blaue Blume des Wandervogels« (1960) war dazu ja gerade Walter Laqueurs »Die deutsche Jugendbewegung« (1962), die meines Erachtens immer noch beste zeitgeschichtliche Darstellung ihrer Geschichte, erschienen.6 Wir wussten zudem, dass eine mit renommierten Historikern besetzte »Wissenschaftliche Kommission zur Geschichte der Jugendbewegung« ein Großprojekt zur Dokumentation dieser Geschichte gestartet hatte. Deren Aufarbeitung war nach unserer Meinung in erster Linie ihre, nicht unsere Aufgabe. Viel kam bei der Beschäftigung mit dieser Thematik in der Seminarreihe denn auch nicht heraus. »In ihrer Entwicklung«, las man schließlich in der am Ende der Seminarreihe beschlossenen »Verlautbarung«,7 »nahm die deutsche Jugendbewegung verschiedene Stellungen zu Staat und Gesellschaft ein. Die Pachanten des Urwandervogels wandten sich von den gesellschaftlichen Formen ihrer Zeit ab. Auf dem Hohen-Meißner-Treffen zeigte sich eine gesellschafts6 Werner Helwig: Die blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung, Gütersloh 1960. – Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962. 7 Verlautbarung der Jungen Bünde zum Meißnertag, in: Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, hg. im Auftrage des Hauptausschusses für die Durchführung des Meißnertages von Werner Kindt und Karl Vogt, Düsseldorf-Köln 1964, S. 65 – 67.

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kritische Haltung. Der 1. Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kaiserreichs zwangen zu einer Klärung des Verhältnisses zum Staat. Der Vorkriegswandervogel zerbrach 1921 am Zwang zur politischen Entscheidung. Die bündische Jugend wandte sich bewusst den Problemen von Volk und Staat zu. Ihre Bünde forderten von ihren Mitgliedern Bereitschaft zum Dienst am Volk. Der fehlende Sinn für die politische Realität und die zunehmende Radikalisierung von Links und Rechts ließen die Ansätze politischer Aktivität nicht zum Tragen kommen. Mit der Auflösung des Großdeutschen Bundes 1933 setzte der nationalsozialistische Staat der freien Initiative der Bünde ein Ende.«

Das war nicht falsch, aber im Zeitgeist der Bundesrepublik der frühen 1960erJahre so formuliert, dass es schien, als sei man vom historischen Geschehen überwältigt worden und nicht Mithandelnder gewesen. Ähnlich wurde auch die Meißnerformel gedeutet. Sie war, wie in den Seminardiskussionen bald deutlich wurde, für viele Teilnehmer nach wie vor sakrosankt. So stand sie am Anfang der »Verlautbarung«, in der es dann hieß: »Die Meißnerformel verbindet auch heute die bündische Jugend. Sie ist zugleich Abgrenzung nach außen, gegen Interessengruppen, Ideologen und ungerechtfertigte Ansprüche der Erwachsenengeneration.« Deutete man die Meißnerformel so, dann war auch aus unserer Sicht wenig dagegen einzuwenden. Dann musste aber unverständlich bleiben, weshalb sie für nicht wenige Freideutsche eine hochproblematische existenzielle Bedeutung gewonnen und sie keineswegs gegen Ideologien immunisiert hatte. Wir haben daraus keinen Streitpunkt gemacht und die Passage zur Geschichte der Jugendbewegung akzeptiert, weil es uns vor allem um das die Verlautbarung abschließende Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat ging: »Es gilt auf dem Meißner auch zu dokumentieren, daß Bündische Jugend heute allein in einem demokratischen Rechtsstaat möglich ist. Daher bekennen sich die Bünde zum demokratischen Rechtsstaat. Sie fühlen sich verpflichtet, für eine friedliche Wiedervereinigung einzutreten. Die Bünde sind sich der Notwendigkeit der Existenz von Parteien und Interessenverbänden in unserer Gesellschaft bewusst. Sie zählen sich nicht zu diesen Gruppierungen, sondern erziehen ihre Mitglieder frei von Gruppeninteressen zu unvoreingenommener Betrachtung des Gesellschaftsganzen und zur Entscheidungsfähigkeit. Ziel dieser Erziehung ist, dass die Mitglieder der Bünde als Erwachsene politisch aktiv werden.«

Das Meißnerlager Das Meißnerlager wurde am Donnerstag eröffnet. Es endete am Sonntag nach der Schlusskundgebung. Die Zahl der Teilnehmer war deutlich größer als 1913, das Wetter sehr viel besser, das durch Kohten und Jurten geprägte Lagerbild offensichtlich sehr viel eindrucksvoller. Unsere acht Kohten und der bereits

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erwähnte Tatzelwurm standen schon, als die Gruppen ankamen und wir uns auch selbst erstmals im neumodischen Jungenschaftsgrau bewundern konnten. Wie das Lager verlief, mögen einige Daten aus unserem Tagesplan für den Samstag verdeutlichen: 6.00 Uhr 7.00 Uhr 9.30 Uhr 10.00 Uhr 11.00 Uhr 14.00 Uhr 16.00 Uhr 17.00 Uhr 19.30 Uhr

Wecken Gang zur »Zonengrenze« (die Beteiligung war freiwillig) Zweites Frühstück Spielrunde Offenes Chorsingen mit Liedern des Bundes, danach Gastmahl für ausgewählte Freunde aus Bundesführungen, Agitation der Horten im Lager, Werbung für unsere Bundeszeitschrift »schrift« etc. Mittagessen für die Horten, danach gemeinsame Lagerbesichtigung Chor und Sprechchorübungen Interne Führungsbesprechung, danach gemeinsames Abendessen Einladung anderer Gruppen

Im Juja- und Pfadfindertrachteneinerlei fielen wir rasch auf, auch durch ein beachtliches Selbstbewusstsein. »HOME«, unser Lagerblatt, war zwar nicht gerade ein Meisterstück dieser Gattung von Druckerzeugnissen, aber rotzfrech.8 Einigen Lesern gefiel das gar nicht. Deshalb klauten sie das Gerät, mit dem HOME vervielfältigt wurde. Das Blatt erschien trotzdem weiter, denn es gab ein gut verstecktes Ersatzgerät. Durch viele Sprechchorübungen gut trainiert und angestrengt, erholten wir uns in Rencontres mit anderen Bünden, wobei die Lautstärke, der gute Einsatz, vor allem jedoch die Qualität der spontan ersonnenen und gereimten Spottsprüche zählten. Gesungen wurde viel und im Chor der Mannheimer und Heidelberger auch gut. Natürlich sangen die Nerother lauter und markiger. Ihr Bundesführer Oelb beeindruckte unsere »Pimpfe« sehr. Die schönsten Stunden waren wohl die Stunden der Theateraufführungen am frühen Abend, als im großen, aufmerksam stillen Kreis Brechts »Ausnahme und die Regel«, Alexander Grubers »David« und ein weiteres kleines Stück – es war von Dürrenmatt – gespielt wurden. Es gab viele, wohl zu viele »überbündische« Begegnungen. Wieder einmal zeigte sich, dass die den Einzelnen und die Gruppen bewegenden Erlebnisse an die Überschaubarkeit der Gruppe und des Bundes, den kurzen Abstand zwischen Zentrum und Peripherie, die Möglichkeit einer Verdichtung des gemeinsamen Tuns und Erlebens gebunden waren. So blieb auch die Schlusskundgebung eine Veranstaltung, die sich von vergleichbaren Gedenkveranstaltungen mehr durch ihren Ort auf einer weiten feuchten Wiese über dem in ein milchiges Herbstlicht getauchten Kaufunger Wald als durch ihre Form unterschied. Wie üblich wurde zu viel geredet. »Der Vertreter des österreichischen Wandervogels«, vermeldete die in Eile produzierte letzte Ausgabe von HOME, »rührte völkische Emotionen auf. Er wurde 8 AdJb, Z 300 – 167, Home. Lagerzeitung des Meißnertages 1963, Hamburg 1963, 3 Hefte.

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nach seiner Rede denn auch gebührend mit Heilrufen bedacht. […] Knud Ahlborn langweilte mit Historie und Histörchen und frischte Jugenderinnerungen auf. Wir wussten gar nicht, wie lang die Geschichte der Jugendbewegung sein kann.« So blieb unser Part ein später Akt in einem zu langen Programm, dessen Botschaften im weiten, von der Elektrotechnik nur teilweise durchdrungenen Raum nicht überall zu hören waren. Wahrscheinlich war Alexander Grubers Rede zu nüchtern und die Botschaft seines Sprechchors »Kolumbus« zu ambivalent. Jedenfalls sprach der Theologe Helmut Gollwitzer als Hauptredner die Älteren, auch die Älteren aus den Bünden, unmittelbarer an, indem er sehr kritisch zurück- und auf die Gegenwart blickte. Obwohl er gewiss nicht ahnte, dass im Geist seiner Kritik weniger Jahre später eine neue Jugendbewegung aufbrechen würde, schlug er gleichsam über uns hinweg einen Bogen von der alten zur dieser neuen Jugendbewegung, die dann nach 1967 auch Jungenschaften mitriss.

Wertungen Die Wahrnehmung und die Wertung historischer Ereignisse unterliegen selbst dem historischen Wandel. Der Meißnertag 1963 gehört noch einer Epoche deutscher Kultur- und Jugendgeschichte an, deren Anfänge im späten 19. Jahrhundert liegen. Sie lief in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren auch deshalb aus, weil sich die Generationsverhältnisse mit dem Heranwachsen der Generation, die dann zur 68er-Generation wurde, ähnlich tiefgreifend verändert haben wie beim Entstehen der Jugendbewegung. Es ist deshalb unvermeidlich, dass der Meißnertag 1963 in Relation zu »68« gebracht und je nach der Deutung von »68« bewertet wird. Historisch wird man ihm damit jedoch nicht gerecht. Ich will versuchen, dies abschließend im Hinblick auf die Reden Helmut Gollwitzers und Alexander Grubers zu verdeutlichen.9 »Stimmen nicht alle Zitate«, fragte Gollwitzer gegen Ende seiner Rede, »mit denen man heute beweist, wie der Weg der Bündischen Jugend zielsicher ins Dritte Reich einmündete? Jawohl sie stimmen! Die Seuche des Nationalismus und des Antisemitismus war unter uns ebenso verbreitet wie unter den Erwachsenen. Die völkische Selbstanbetung fand auch unser Gefallen, und der Arierparagraph spukte schon früh in einigen Wandervogelgruppen. […] Wir wollen uns hüten, unsere Irrtümer mit unserer damaligen Jugend zu entschuldigen. Der Wahnsinn des Kriegs und die Greuel der Juden-, Zigeuner- und Polenermordung haben auch wir, ohne die Konsequenzen zu 9 Alexander Gruber – für die Jungen Bünde, in: Meißnertag (Anm. 7), S. 47 – 50; Helmut Gollwitzer – Festansprache, in: Meißnertag (Anm. 7), S. 51 – 63.

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ahnen und zu wollen, in Torheit und Blindheit mit vorbereitet. […] Deshalb muss der Tag des Hohen Meißners 1963 auch ein Tag des trauernden Nachdenkens sein, über das zweimalige Scheitern einer herrlichen Bewegung deutscher Jugend, – und zwar nicht einer verklärenden Trauer, sondern in einer schonungslosen: sie haben in ernstem, gläubigen, aber erkenntnislosen Idealismus sich führen lassen zu sinnlosem Morden.«

Daraus ergab sich für Gollwitzer zwingend ein gemeinsames Eintreten für die Demokratie und den Frieden: »Der gemeinsame Lebensstil schuf eine großartige Toleranz. […] Nur ein Teil von uns erkannte, dass die angemessene staatliche Form für […] dieses aufmerksame Dulden verschiedener Wege, für dieses Glück des bewegten Gesprächs, für dieses Ideal der eigenen freien Meinungsbildung, für diese Lust an den Spannungen und Gegensätzen des Geistes, für diese Bevorzugung der Qualität vor der Quantität heute die Demokratie ist. […] Wer sie will, muss den Menschen wollen, der sein Leben ›nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit‹ führen will. Er muss die Freiheit des aufrechten Bürgers, d. h. die Freiheit des Andersdenkenden, die Freiheit des Außenseiters, die Freiheit des Ketzers wollen, und zwar nicht nur dessen innere, sondern dessen äußere, reale Äußerungs- und Aktionsfreiheit. Wer diese Freiheit und diese Menschen will, der muss in der Demokratie für die Demokratie kämpfen, jeden Tag, gegen die totalitären Tendenzen in der eigenen Partei, gegen die Uniformierung der öffentlichen Meinung, für Spielräume der Selbstbestimmung.«

Dieser Kampf in der Demokratie für die Demokratie musste sich für Gollwitzer auch gegen Staatsorgane richten, die in der Demokratie gegen die Demokratie handeln und sich dabei auf die Demokratie berufen, denn: »Zur Demokratie bekennt sich der Verfassungsschutz, wenn er das Grundgesetz, das er schützen soll, missachtet; zur Demokratie bekennt sich die Regierung, wenn sie Notstandsgesetze von der Art vorlegt, dass mit ihnen im Anwendungsfall die demokratische Ordnung, die man zu schützen vorgibt, beseitigt wird.« Folgt man Kritikern aus Gruppierungen, die sich in den 1950er-Jahren politisch auf der Linken verortet und stark in der Ostermarschbewegung engagiert haben, so hätten die am Meißnertag teilnehmenden Bünde im Hinblick auf die Geschichte der Jugendbewegung, die Demokratie und das politische Engagement die gleiche Position einnehmen sollen wie Gollwitzer. Soweit ich sehe, hat er dies selbst nicht erwartet oder gefordert. Wir hatten jedenfalls Gründe für eine in Teilen davon abweichende Haltung, die man nicht teilen muss, mit denen man sich vor deren Bewertung aber fairerweise auseinandersetzen sollte. 1. Die »Aufarbeitung der Vergangenheit« in der Seminarreihe war zweifellos unzulänglich. Das verallgemeinernde »wir« in Gollwitzers Rede konnte sich aber nur auf die Mitschuld und Schuld älterer Jugendbewegter am »Wahnsinn des Krieges« und die Gräuel »der Juden-, Zigeuner- und Polenermordung« beziehen. Ihnen, nicht den in den späten Kriegs- und in den Nachkriegsjahren geborenen Jungen und Mädchen in den Bünden, musste sich die Schuldfrage stellen.

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2. Jede Übernahme von Traditionen ist selektiv : »Wir wollen«, so begann der Abschnitt »Unser Ziel« in der Rede Alexander Grubers, »das festhalten, was sich in der Jugendbewegung an Formen für das jugendliche Zusammenleben herausgebildet hat: die Gruppe und den Bund, ihre freundschaftliche Führung, ihre besondere Art, auf Fahrt zu gehen, zu spielen, zu singen; ihre besondere Weise, den Menschen und der Wirklichkeit zu begegnen; ihre besondere Weise, auf die Begegnung gestaltungsfähig, selbsttätig und vielseitig zu antworten.«

Das bezog sich, wie aus den in der Rede folgenden Worten eindeutig hervorging, auf das auch von Gollwitzer beschriebene Menschenbild und damit auf Bildungsprozesse, nicht auf eine der politischen Ideologien, die teils schon im Wandervogel, insbesondere aber in der Bündischen Jugend der 1920er- und frühen 1930er-Jahre virulent waren. 3. Obwohl die Reden nicht abgestimmt waren, unterschieden sich die Ausführungen Helmut Gollwitzers und Alexander Grubers dort, wo es um die Demokratie als Staats- und Lebensform ging, nur in Formulierungen. Dazu sei der gesamte Abschnitt »Die Grundlagen« aus der Rede Alexander Grubers zitiert: »Wir haben unser eigenes Ziel. Dennoch trennt uns kein Gegensatz von den Trägern der Institutionen und Verbände. Mit allen wissen wir uns einig, die mit uns als unabdingbare Grundlagen des sozialen, menschenwürdigen Lebens anerkennen, dass alle Menschen frei geboren sind, dass sie gleich sind vor dem Gesetz, dass es zu ihren ewigen Rechten und Pflichten gehört, Freiheit, Leben und Glückserfüllung jedes einzelnen unangetastet zu erhalten. Auf diesen Grundlagen allein können wir unser Leben sinnvoll aufbauen. Diesen Normen, und keineswegs nur einer ›inneren Freiheit‹, sind wir in unserem Handeln als einzelne und als Glieder einer Gruppe verantwortlich und verpflichtet. Nur wenn diese Grundlagen unverletzt vorhanden sind, kann jener Mensch, den wir als Ziel unseres Wollens bekennen, wachsen und leben.«

4. Das war ein in erkennbarer Anlehnung an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung formuliertes, insoweit idealistisches, nichtsdestoweniger in seinen »essentials« präzise bestimmtes Demokratieverständnis. Man sollte sich dazu die »Spiegel«-Krise und die Umfragedaten der 1950er- und frühen 1960erJahre vergegenwärtigen, die zeigen, dass es in großen Teilen der Gesellschaft wie in der Politik an Verständnis für fundamentale demokratische Grundsätze mangelte. Selbst die politische Bildung in Schulen und Jugendbildungsstätten war vielfach noch mehr auf Gemeinschaftstugenden als auf Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung orientiert. Wo uns eine Anpassung an herrschende Meinungen nachgesagt wird, kennt man die Rede nicht oder hat sie nicht verstanden.

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5. Viele Bündische sind in der Weimarer Republik auf ideologische Irrwege geraten, weil sich ihre Gemeinschaftsideale nicht mit der Gesellschaft, die sie vorfanden, vereinbaren ließen. Zwar hatte nach dem Zweiten Weltkrieg auch in den wieder- und neu gegründeten Bünden ein Prozess der Entideologisierung eingesetzt. Eine diffuse Antihaltung gegenüber der Gesellschaft, zumal der Rolle der Massenmedien, Parteien und organisierten Interessen in der politischen Meinungs- und Willensbildung war unter den Bundes- und Gruppenführern zu Beginn der 1960er-Jahre noch weit verbreitet. Es galt deshalb, in den Seminaren sowie durch das Jahrbuch und die Meißnerrede Verständnis dafür zu wecken, dass das Ziel der Bünde »nur eines sein kann […] neben den anderen Möglichkeiten zu arbeiten und zu leben, die unsere moderne Gesellschaft in großer Fülle neben- und miteinander gibt und geben muss.« Deshalb wurde in der Rede besonders betont, dass die Demokratie zu ihrem Bestand besondere Institutionen braucht, »welche die Information, das Erarbeiten einer fundierten Meinung über die öffentlichen Angelegenheiten und die Zielsetzung des politischen Willens leisten können. Unerlässlich sind Presse, Rundfunk und Fernsehen mit einer unabhängigen, allgemein zugänglichen Berichterstattung. Unerlässlich sind aufrichtige Parteien ohne Korruption und Verbände, die berechtigte Interessen durchschaubar vertreten. Innerhalb solcher Institutionen nämlich verwirklicht sich zum großen Teil die sachliche und verantwortliche Mitarbeit an Gemeinde und Staat, zu der wir als Bürger berechtigt, aber auch aufgerufen sind.«

6. Gollwitzer ging dort – aber auch nur dort – weiter, wo er zu einem konkreten politischen Engagement, insbesondere zu einem Engagement gegen die freilich schon weit fortgeschrittene Wiederaufrüstung in West und Ost und die Pläne einer Notstandsgesetzgebung aufrief. Er sprach dabei als Bürger der Bundesrepublik zu Bürgerinnen und Bürgern, mit denen ihn – er war damals 55 Jahre alt – die ehemalige Zugehörigkeit zur Jugendbewegung verband. Alexander Gruber war Sprecher von Jugendbünden, denen vorwiegend Jungen und Mädchen im frühen Jugendalter angehörten. Politik ist in diesem Alter für die meisten Jugendlichen von geringer subjektiver Bedeutung. Ihre Urteilsfähigkeit ist begrenzt. Die in der Jugendbewegung ausgebildeten Formen jugendlichen Zusammenseins sind an und für sich politisch neutral. Ihr politischer Gebrauch führt, wie nicht nur Staatsjugendorganisationen zeigen, unvermeidlich zu ihrer Instrumentalisierung für die jeweils verfolgten politischen Ziele, letztendlich oft zu politischer Überwältigung und Indoktrination. 7. Dies wurde nach »68« von jungen Lehrern und selbst von Hochschullehrern wieder verkannt. Der dadurch ausgelöste heftige öffentliche »Streit über die politische Bildung« währte Jahre. Er konnte erst 1976 durch eine Übereinkunft der Didaktiker über die folgenden Grundprinzipien überwunden werden:

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Günter C. Behrmann

»Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überwältigen. […] Indoktrination […] ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptzierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.«10

Jugendbünde und Schulen unterscheiden sich auch dort, wo sie politische Bildung zu fördern versuchen. Diese Grundprinzipien gelten indes allgemein. Sie galten auch schon 1963. Wer das Jahrbuch, die »Verlautbarung« und die Meißnerrede mit offenen Augen liest, wird sehen, dass wir ihnen ziemlich nahe kamen.

10 Der »Beutelsbacher Konsens« ist verfügbar unter http://www.bpb.de/de/die-bpb/51310/ beutelsbacher-konsens [25. 05. 2014].

Gerhard Neudorf

Vorgeschichte, Planung und Perspektiven des Meißnertreffens von 1963. Der Wandervogel Deutscher Bund (WVDB)1

Die Stimmungen im Wandervogel Deutscher Bund bis 1963 Bei Sitzungen des Kapitels des WVDBs, der höchsten Instanz aller Gaue, lernte ich seit 1958 auf Burg Ludwigstein und in Berlin die damalige Prominenz und die große Vielfalt des WVDB kennen. Im Gedächtnis geblieben sind mir die Erzählungen von den Fahrten des WVDB 1954 bis 1956 in die »Zone«, wo die mit ihrer Kluft deutlich auffallenden WVDB-Wandervögel am Schluss wegen offener Rede aus dem FDJ-Lager verwiesen, dann, zurückgekommen, vom westdeutschen Verfassungsschutz in Gewahrsam genommen worden seien. Ekkehard Krippendorff hatte als Bundesführer des WVDB diese Fahrten angeregt und organisiert. Die Bundesblätter des WVDB über das »Lob des Kommunismus« und die Ost-West-Erfahrungen, die man gesammelt hatte, legen lebendiges Zeugnis von dieser damaligen Zeit ab, die aber auch die weitere Zukunft des WVDB noch stark beeinflusste.2 Viele damalige Angehörige des WVDB-Kapitels waren Mitglieder des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, und ich staunte, welche Kenntnisse diese von den reichsten US-Amerikanern hatten. Zugleich wurde auch erzählt, wie durch die Politisierung des WVDB die Gruppenarbeit gelitten habe. So schlug Werner Smykatz-Kloss aus Göttingen, der sich seiner Bildung durch Jesuiten rühmte, vor, sich Gedanken zu machen, was das Wesen des WVDB ausmache, um dem Bund eine neue Linie zu geben. Gefunden wurde »das Musische«, das der neue Bundesführer Urs Müller kräftig förderte. Ergebnis war u. a. ein Theaterspiel-Bundestag 1960 in Hannoversch-Münden mit ca. 450 Teilnehmern. Den ganzen Pfingstsonntag spielten die WVDBGruppen auf zwei verschiedenen Bühnen. Am Abend gab es eine Aufführung 1 Wohl wegen meiner Leitung der ersten beiden Meißnerseminare der Jungen Bünde, dem bevorstehenden Meißnerfest und meiner hessischen Gauführung im WVDB seit 1960 wurde ich Pfingsten 1963 zum Bundesführer des Wandervogel Deutscher Bund gewählt. 2 Ekkehart Krippendorff: Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche, Heidelberg 2012, vor allem S. 329 ff. Außerdem berichtet Krippendorff in dieser Autobiografie im Kapitel »DDR« amüsant von diesen WVDB-Unternehmungen.

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von Goldonis »Diener zweier Herren« mit Kostümen des Berliner Schillertheaters unter Leitung des neuen Bundesführers Hartmut Eggert, woran wegen ausverkauftem Saal der WVDB leider nicht teilnehmen konnte. An den darauf folgenden Bundestagen des WVDB imponierten die gemeinsam singenden Mädchengaue Schwaben, Rheinland und Berlin durch ihre mitreißenden Lieder der »Klingenden Brücke«. Und bei einem Winterlager 1960/61 der Gaue Rheinland, Schwaben, Hessen und Berlin auf Burg Stahleck/ Rhein zogen sich die Älteren zurück, übten eine Nacht hindurch Negrospirituals und weckten dann die ca. 200 Teilnehmer mit ihren mitreißenden Gesängen. Die ganze Burg wurde von Dieter Woog-Knirps, dem damaligen Spitzenfotografen des WVDB, mit Fotos der Persönlichkeiten des Bundes geschmückt, worunter Katja Weise aus Schwaben das häufigste Motiv abgab. Über die trommelnden Niedersachsen, die nicht gekommen waren und wohl mit den Gauen Nordmark und Westfalen ihr eigenes Winterlager durchführten, wurde viel gespottet. Alle Bundesführer des WVDB von Ekkehart Krippendorff an über Urs Müller und Hartmut Eggert bis hin zu Rainer »Hannibal« Marggraf wurden später Professoren. Letzterer erzählte gerne, wie ihn der WVDB-Gau Rheinland gefordert habe, sodass er – nach Abbruch mehrerer Lehren arbeitslos – sich dann hochgearbeitet hatte. Die nachfolgenden Bundesführer, auch ich, wurden dann »nur« noch Gymnasiallehrer oder gingen in andere nicht so gehobene Berufe. Ich erlebte die Härte des WVDB bei meiner ersten Wandervogel-Sonnenwende 1958 im Gau Hessen, als ein Junge in der Kohte furchtbar hustete und ich auf meine Frage, warum sich niemand um ihn kümmere, die Antwort erhielt, bei der nächsten Fahrt werde er dann dafür sorgen, dass er warme Decken mitbringe. Am Sonnwendfeuer befremdete mich die Lesung eines Gedichts von Günter Eich mit der Aufforderung, Sand im Getriebe der Welt zu sein, hatte ich doch schon um 1948 eine Sonnenwende der Darmstädter Naturfreunde miterlebt, in der ihr Leiter Fritz Ammann von der Harmonie der Sterne und der Orientierung der Menschen an den Ordnungen der Natur sprach. – Eine WVDB-Gruppe wurde belohnt und durfte nach der Feuerrunde Wache halten. Gerne wäre ich dabei gewesen. Dies wurde abgelehnt. Es gab im WVDB strenge Regeln. Eine davon war, unbedingte Ordnung in und außerhalb der Kohte zu halten. Die lernte unsere neu gegründete Darmstädter WVDB-Gruppe u. a. von Ulrich »Peng« Krauß, dem hessischen Gauführer aus Wiesbaden, der uns Ostern 1959 auf einer Wanderung durch den Odenwald begleitete und uns bei Äußerung unserer Freude über das frische Frühlingsgrün stets entgegnete, das sei ja nur Chlorophyll. Das regelmäßige Morgen-Müsli mit Zitronensaft, weil Milch beim Bauern in unserer Wandergegend nicht zu bekommen war, machte uns so lebendig, dass wir es als Morgenmahlzeit im Darmstädter WVDB lange beibehielten. Und bei einer Wanderung im Sommer 1960 durch den Schwarzwald mit einem einwöchigen Lager im

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Naturschutzgebiet am Herrenwieser See erwischte uns am letzten Morgen unserer Fahrt ein Förster, der mehrmals um unseren Kohtenplatz herumging und nicht bemerkte, dass wir schon eine Woche hier waren – so penibel hatten wir immer aufgeräumt. Da ich manche Strenge wie gegenüber dem in der Kohte hustenden Jungen gemäß dem Kanon der Freideutschen »Getretner Quark wird weich, nicht stark« nicht teilte, erhielt ich prompt als hessischer Gauführer der Jahre 1960 bis 1963 den Namen »Gaujugendpfleger«, den etwa schlimmsten Vorwurf, den man jemandem im Wandervogel machen konnte. Ich engagierte mich als WVDBVertreter für die Meißnerseminare, die von den Bundesführern abgesegnet wurden, obwohl Karl »Oelb« Oelbermann vom Nerother Wandervogel einwandte, man solle lieber singen. Seine Meinung: Man könne sich zusammensingen, aber nur auseinanderreden. Ich organisierte dann vier Meißnerseminare, woran viele andere Bündische wie Jochen Franke vom Bund Deutscher Pfadfinder maßgeblichen Anteil hatten. Nach dem Meißnerlager vom Oktober 1963 folgten noch weitere Meißnerseminare, worüber Renate Rosenau von der Deutschen Reformjugend im vorliegenden Band berichtet. Nachdem ich 1963 bei einem von R. Marggraf organisierten Bundeslager an der holländischen Grenze mit einer knappen Mehrheit zum Bundesführer gewählt worden war, besuchte ich – trampend – viele Gruppen des Bundes. Mehrere Gruppenführer erzählten mir, sie könnten aus Geldgründen ihre Gruppenmitglieder nicht zum Meißnerlager mitbringen. Die Kassenwartin des WVDB, Margot Kamps, antwortete auf meine Frage, ob die WVDB-Bundeskasse einige Gruppen finanziell unterstützen könne, sinngemäß: Wenn die Leute nicht mehr kommen, hat sich die Idee des WVDB eben überholt. Zum Meißnerlager 1963 kamen dann ca. hundertachtzig Mitglieder des WVDB.

Der Wandervogel Deutscher Bund auf dem Meißnerfest 1963 Der WVDB nahm am Singewettstreit der Bünde am Freitagabend zwischen 20.00 und 23.00 Uhr teil und kam auf den ersten Platz; am Samstagmorgen AGs, nachmittags DDR-Kolloquium »mit drei guten Referaten und acht sehr gut vorbereiteten und interessanten AGs«.3 Am Sonntagmorgen zogen alle Bünde mit Fahnen zum Festakt. Karl Vogt begrüßte als Sprecher des Vorbereitungsausschusses die Versammelten in kurzer Rede; der hessische Minister Heinrich Hemsath freute sich über das Bekenntnis der Bünde zum demokratischen 3 Abends schloss sich ein Balladenabend an mit »urfröhlicher Gammelei«, die bis Montagmorgen durchgehalten wurde. – Vgl. Gerd Callesen: Das Wetter war aber schön, in: Wandervogel, 1963, 16. Jg., S. 37 – 39, hier S. 37.

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Rechtsstaat. Der Bund Deutscher Jungenschaften beeindruckte in seinen neu gefertigten grauen Jacken mit der Rede Alexander Grubers und einem Sprechchor. Knud Ahlborn hielt als Vertreter der Meißnergeneration von 1913 die längste Rede; Karl Thums vom Österreichischen Wandervogel wiederholte Gedanken von 1913 und zum Schluss sprach Professor Helmut Gollwitzer : Er sandte einen Gruß an Gustav Wyneken, der nicht gekommen war, weil er befürchtete, hier werde »frommes Wandervogelgeflügel gezüchtet«.4 Gollwitzer sagte dann Wichtiges u. a. zur Remilitarisierung Deutschlands und verlangte eine Neuorientierung der Bünde. Zum Abschluss sangen die rund fünftausend Besucher dann die dritte Strophe des Deutschlandliedes. Danach gab es Essen vom Deutschen Roten Kreuz. Anschließend führte der Gau Niedersachsen des WVDB seine Bettleroper auf; es folgte ein Gespräch über die Lage der Jugend in der »Zone« – statt eines Singens an der Zonengrenze. In meinem Vortrag berichtete ich, wie in der DDR aus der FDJ mit ihren vielen begeisterten Jugendlichen die jungen Führer zu einer Kaderschicht umerzogen wurden, wie der Verband dann auf unter eine Million Mitglieder schrumpfte und wie in der Bundesrepublik kurz danach der Bundesjugendring durch Gelder für Jugendleiterschulungen dem »Zonen«-Vorbild folgte – dies mit etwa der gleichen Folge des Verlusts an Jugendlichkeit, Ursprünglichkeit und Mitgliederschwund, sichtbar etwa in der Gewerkschaftsjugend. Abends folgte nach einer Filmvorführung noch ein Singen in der Jurte.5 Verschoben auf Sonntagabend wurde die für Samstag, 23.00 Uhr, vorgesehene Einladung zu einem interbündischen Gespräch »von vieler romantik und mancher mystik zu einer neuen kasuistik?«, die in der Jurte der Freikörperkultur-Jugend stattfinden sollte. Auf Einladung in die rheinländische Jurte des WVDB wurde dort ein Gespräch über Möglichkeiten einer neuen Aufgabenstellung der fahrenden Jugend vor zahlreichem Publikum aus vielen Bünden inszeniert, in dem »einfache Vorschläge« für Gruppen gemacht wurden, aber auch für mehr Öffentlichkeitsarbeit und Jugendkultur als Avantgarde einer neuen Gesellschaftskultur geworben wurde. »Die anschließende Diskussion erbrachte eine Vertiefung des in den Meißnerseminaren Erarbeiteten. Meine Initiative wurde begrüßt: Weitere Schritte zur Zusammenarbeit zwischen den Bünden wurden gefordert. Wesentliches Ergebnis bei diesem Gespräch war für mich, dass das Interesse an der geistigen Durchdringung unseres Tuns und an einer klaren Zielsetzung für unser Wollen allgemein festzustellen war.«6 Kullack-Futsch äußerte sich positiv zu diesem »interbündischen 4 Er ließ – leider – den ersten Teil seiner Rede weg, wofür er von den Versammelten allerdings Applaus erhielt. Dieser Teil wurde später jedoch veröffentlicht und ist wegen seines positiven Bezugs zur alten Jugendbewegung sehr lesenswert. 5 Zu dem Film vom Bundestag Pfingsten 1963 an der holländischen Grenze siehe den Bericht in: Wandervogel, 1963, 16. Jg., S. 39. 6 Siehe Gerhard Neudorf: Interbündisches Gespräch, Meißner 1963: Von vieler Romantik über

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Gespräch« und dem Vorschlag, alle vier Jahre ein Meißnerlager zu veranstalten: »Auf der suche nach neuen ideen, neuen bewegungen habe ich im ganzen lager nur diese eine gefunden, die von der bundesführung des wandervogels ausging.«7

Die Lage des Wandervogel Deutscher Bund im Jahr 1963 Inge Boorberg vom Gau Schwaben stellte damals kritisch fest: »Der Bund ist nicht das Forum für die geistige Auseinandersetzung, weil er in einzelne Grüppchen und Cliquen zerfallen ist, in die man sich zurückzieht, um seinen Spaß zu haben. […] In einem Bund wie dem unsrigen kommt es wesentlich auf die Haltung zum Bund und auf die persönliche Ausstrahlungskraft des Bundesführers an, damit eine derartige Auflösung, wie sie zur Zeit ganz deutlich zu spüren ist, aufgehalten wird; perfekte Organisation und die Aufteilung der Verantwortung in ›beamtete‹ Personen sind keine Mittel, einen Bund zu führen, dadurch kann höchstens nur das entstehen, was wir für Altjugendbewegte auf dem Meißner waren: Dekoration.«8

Dietmar Heybey kritisierte die Überzahl der Jüngeren und bemängelte, dass die Bünde nur sich selbst hätten darstellen wollen und nicht gesprächsbereit gewesen seien:9 »Unserem eigenen Bund fehlt die Fähigkeit zum tiefer gehenden Gespräch, unserem eigenen Bund fehlt die Fähigkeit, ein Gemeinschaftserlebnis zu haben, das mussten die letzten Bundestage deutlich zeigen. Uns fehlt die Mitte, die verpflichtende geistige Haltung, die allein Gemeinschaft und Gemeinschaftserlebnis begründen kann, sie ist eben jene Haltung der Bereitschaft und der Offenheit für den anderen.«10 Positiv wertete er die von den Niedersachsen aufgeführte, ausgezeichnete Bettleroper und den »Versuch eines Gesprächs im Kreise unseres Bundes über die Situation der Jugend in der Zone«.11 Er stellte weiterhin fest: »Die Gruppen im WVDB-Lager haben nebeneinander her gelebt, und nur wenige Gruppen haben sich gegenseitig besucht. […] Es fehlt uns das innere Gepräge, die Haltung, die uns verpflichtet. Dies aber fehlt uns, weil uns die Älteren fehlen, die durch ihr beispielhaftes Handeln die Anderen führen können. Ein geistiges Gesicht und damit

7 8 9 10 11

manche Mystik zu einer neuen Kasuistik. Möglichkeiten einer neuen Aufgabenstellung der fahrenden Jugend, in: Wandervogel, 1963, 16. Jg., S. 60. Ebd., S. 31. Ebd., S. 40. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd.

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eine tiefere Bedeutung für den einzelnen kann ein Bund, auch und gerade ein Jugendbund, nur durch Ältere erhalten.«12

Der Meißner habe gezeigt, so Heybey, »daß das Erlebnis der Gemeinsamkeit und der Gemeinschaft zwar proklamiert, aber nicht gelebt wird.«13 Er sprach ein eindeutiges Ja zu Alexander Grubers Rede aus und sagte dann: »Unser Ziel ist der Mensch, der die Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit, die Verantwortung gegen die Verantwortungslosigkeit, die Menschlichkeit gegen die Unmenschlichkeit, die Brüderlichkeit gegen die Feindschaft, den Frieden gegen den Krieg, das Verstehenwollen gegen Hass und die Freiheit gegen die innere und äußere Sklaverei setzt.« Gegen Schluss seines Aufsatzes ließ er noch ein Wort von Camus folgen: »Was heißt das, den Menschen retten? Es heißt, ihn nicht zu verstümmeln, und es heißt, der Gerechtigkeit, die er sich als einziger vorzustellen vermag, ihre Chance zu geben.«14 Er schloss dann mit den Worten Ortega y Gassets: »Leben heißt, etwas Aufgegebenes erfüllen« und sein Kommentar dazu lautete: »Und uns ist der Mensch aufgegeben, der Mensch als Partner in der Begegnung eines Gesprächs, als Partner einer Lebenssituation, die das Füreinanderdasein an die Stelle des Neben- und Gegeneinanders setzt.«15 Sigrid Heinrich, die mit Dietmar Heybey die Schriftleitung dieses Bundesblattes hatte, entgegnete: »Die Kritik trifft […] nicht das Meißnertreffen, sondern den Bund. […] Ich sage: Gemeinschaft entsteht durch gemeinsames Tun; Gemeinschaftserlebnis ist nicht Folge einer Bindung miteinander und an einen gemeinsamen Wert gebunden, sondern kann zu einer gemeinsamen Haltung, zu einem gemeinsamen Ausdruck führen. […] Es ist besser, Schritt für Schritt durch gegenseitiges Kennenlernen und durch gemeinsame Veranstaltungen, bei denen es bald keiner mehr nötig haben wird, eine Schau abzuziehen, eine größere Gemeinschaft aufzubauen. Und hoffen wir nicht, durch vorerst zu hoch schwebende Ideen, Werte, Ziele und Gedanken die Bünde zu sammeln.«16

Gerd Callesen, damals Kapitelsprecher, bemerkte dazu: »Gerhards Wollen und das tatsächliche Geschehen im Bund haben keine Verbindung miteinander und sind nicht koordinierbar. […] Da Gerhard nicht fähig und willens ist, sich umzustellen, kann das nur eine Konsequenz haben.«17 Sigrid Heinrichs Antwort darauf lautete jedoch: »Es ist leider nicht möglich, im Rahmen dieses Bundesblattes auf Gerds Vorwürfe gegenüber Gerhard einzugehen. Der Artikel wurde wegen seiner allgemeinen Kritik an 12 13 14 15 16 17

Ebd. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Ebd., S. 46 – 48. Ebd., S. 48.

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Lager und Bund gedruckt. Wir möchten aber betonen, dass wir – im Gegensatz zu anderen im Bund – Gerhards Einsatz für das Meißnertreffen nur bewundern. Mir ist es unbegreiflich, wie aus ›kleinwandervögelischer‹ Sicht nicht erkannt wird, wie viel wichtiger Gerhards Einsatz für das ganze Treffen (Meißnerseminare usw.) war, als für das Lagerleben unseres Bundes, das wirklich sehr gut von anderen hätte geleistet werden können. An dieser Stelle jedenfalls erscheinen mir Angriffe gegenüber Gerhard unberechtigt.«18

Ich selbst hatte als meine Meinung zuvor geäußert: »Dass in unseren Bünden sich Nationalisten, Pazifisten, Christen und sonstige -isten gegenseitig achten können, ist für uns entscheidend, nicht, dass die bj [bündische Jugend] sich zu irgendeinem politischen Ziel bekennt, und sei es die nationale Einheit. Der Weltfriede ist wichtiger als die deutsche Einheit […]! Der einzige Bund, der geschlossen und bewusst auf dem Hohen Meißner etwas erreichen wollte, war der Bund deutscher Jungenschaften, wenn man von Horst Schweitzer absieht, dem Zugpferd aller und besonders seiner großen Jäger.«19

Abschließende Beobachtungen zum WVDB Als nach dem Zweiten Weltkrieg der WVDB wieder erstand, machten sich die damaligen Aktiven bereits Gedanken über den Sinn ihres Tuns und fanden heraus, dass sie ihre Gemeinschaften als das ihnen Liebste durch Spielabende, gemeinsame Lagerfeuer, Märchen- und Erzählabende, einen Frageabend, Liedernachmittage, Zeltspiele und Singewettstreite fördern könnten.20 Evelis Heinzerling, Schriftleiterin des damaligen Bundesblattes, fügte hinzu, was sie neben dem Singen in ihrer Gruppenstunde noch pflegte, so zum Beispiel das Lesen des »Wanderers zwischen beiden Welten« von Walter Flex, das Spielen, das Führen von Gesprächen über schöpferische Werke und das Bauen von Schattentheatern oder auch die Herstellung eines Kalenders für das kommende Jahr.21 Ein großer Teil des Nachdenkens richtete sich auf die Möglichkeiten des »Tätig-Seins«, wie die ersten Jahrgänge der Bundeszeitschrift belegen, insbesondere bei Forsteinsätzen, bei der Unterstützung armer Kinder durch Basteln für deren Familien, durch die Mitarbeit in Stadtjugendringen sowie durch die Beteiligung an Werbewochen für Burg Ludwigstein – überhaupt durch die Teilnahme an freiwilligen Gemeinschaftsarbeiten, an Begegnungen mit ausländischer Jugend und durch die Hilfe für die deutsche und ausländische Flücht18 Ebd., S. 49. 19 Ebd., S. 25 f. 20 Wandervogel – Bund deutscher Jugend, 1947, 1. Jg, Nr. 1 vom 1. Oktober 1947, S. 1 – 2. – Der Wandervogel – Bund deutscher Jugend war Vorgänger des WVDB. 21 Ebd., 1947, 1. Jg., Nr. 2. – Ebd., 1949, 3. Jg., Nr. 4/5.

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lingsjugend. Manfred »Mampi« Köhne, Jungengruppenleiter in HannoverschMünden, berichtete von einem Elternabend im November 1949: »Die Mädchen sangen einige Madrigale, die Jungen mehrere Fahrtenlieder, und Jungen und Mädchen erzählten von den Erlebnissen auf Fahrten. Dann wurden einige Scharaden gespielt, und zum Schluss zeigten wir ein Handpuppenspiel. Wir hatten die Geschichte von Till Eulenspiegel im Bienenkorb zu einem Puppenspiel umgeschrieben und erzielten einen großen Applaus.«22 Ekkehart Krippendorff nennt in seiner gerade erschienenen Autobiografie als Inhalte seiner Ratinger Ortsgruppe des WVDB Lieder und harmlose Volkstänze, »Wochenenden in Jugendherbergen der Umgebung, Wandern mit der Gruppe, Ostern, Pfingsten, Sommerferien unterwegs mit Rucksack (,Affen‹), Schlafsack, Kochgeschirr […] und Gitarre – die Kreise wurden immer größer gezogen, Ziele im Inland wie Lüneburger Heide oder Odenwald reichten bald nicht mehr ; 1952 nach Italien, 1953 nach Finnland […] – immer getrampt und dann wieder lange Strecken gelaufen, das war Ehrensache.«23 Krippendorff charakterisiert dabei den damaligen Wandervogel als »nostalgisch-romantischen, losen Zusammenschluss von 15- bis 20-jährigen Jungen und Mädchen, die sich zu Jugendherbergs-Wochenenden trafen oder eben in kleinen Gruppen, auf Fahrt‹ gingen und darüber dann auf den jährlichen ,Bundestagen‹ ihre Erlebnisse und Lieder austauschten.«24 1954 wurde er Bundesführer des WVDB und veranlasste einzelne Gruppen des Bundes, in die DDR zu fahren und an FDJ-Treffen teilzunehmen. In seinem Buch schildert er diese Treffen, die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und die dadurch auch kritische Befassung mit den Verhältnissen der Bundesrepublik ausführlich, so etwa auch die wichtige Rolle der Begegnung mit Helmut Gollwitzer.25 Bei seinem Abschied auf dem Bundestag 1957, der gelungen und mitreißend war, plädierte Ekkehart Krippendorff für die Abschaffung des überholten Namens »Wandervogel«. Dem widersprach Ekkehard Hidde, der neu hinzugekommen war und die Leitung der Plöner Gruppe übernommen hatte. Die Ziele seien heute die alten. »Und nun frage ich euch alle, 22 Manfred »Mampi« Köhne hat 2008 eine Autobiografie veröffentlicht. Darin beschreibt er sehr offen seine Lebensgeschichte in der Kriegs- und Nachkriegszeit, wie er von seinem Vater Tetje geschlagen und gepeinigt wurde, wie er arbeitslos wurde und als Maurer beruflich sein Leben fristete, wie er für Mädchen schwärmte, wie der Wandervogel bis 1957 sein Hauptlebens- und Bildungsinhalt wurde und wie er dann mit der ihn innig liebenden Marianne »Muck«, damals Ortsringführerin des WVDB in Hamburg, in den Hafen der Ehe eintrat und mit ihr drei Kinder hatte, auf die er stolz ist. 23 Krippendorff: Lebensfäden (Anm. 2), S. 330. 24 Ebd., S. 332. In Anm. 6 stellt Krippendorff dann fest: »Obwohl sehr intensiv gelebt, bündelte sich die Wandervogel-Erfahrung doch nicht zu einem eigenständigen ›Lebensfaden‹, der die Phase der Jugendlichkeit überlebt hätte – wie es für die ältere Jugendbewegung noch der Fall war, die als ›Freideutscher Kreis‹ bis in die Neunziger Jahre ihren Zusammenhalt pflegte.« 25 Ebd., S. 332 – 344; zu Gollwitzer siehe dort S. 342. Interessant ist »Der dritte Weg«, den Krippendorff für die DDR mitvertrat; ebd., S. 344 ff.

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was sind heute eure Ziele, eure Ideale? Seid ehrlich: Viel steckt nicht hinter euren großen Reden, euren Kapitelsitzungen und euren Satzungen.«26 Beim Lesen der Bundesblätter »Wandervogel« der darauffolgenden Zeit fallen die vielen Einzelpersönlichkeiten auf, die wesentliche Fragen stellten und dann wieder verschwanden.27 Schicksalhaft erhielten sie in diesem Jugendbund keine weitergehenden Hilfen bei ihrer Suche nach Sinn und Gemeinschaft. Anders schien das im Österreichischen Wandervogel (ÖWV) zu sein: »Die ›Älteren‹ in Österreich halten viel stärker zusammen als bei uns, sie helfen in musischen und praktischen Dingen den Jüngeren, halten sich aber sonst zurück und lassen den ›Jungen Bund‹ seine eigenen Wege finden. Wenn aber Not am Mann ist, sind sie der Rückhalt, auf den sich die Jungen stützen können.«28 Gert Wolfram vom ÖWV sah die Lage seines Bundes aus geografischen Gründen (»Die Berge prägen den Menschen«) günstiger, weil naturverbundener als die des WVDB, dessen Mitglieder er »feine Kerle« nannte, »die auf jeden Fall Mensch bleiben, auch nachdem sie den Bund verlassen haben.«29

Der Wandervogel Deutscher Bund nach dem Meißner 1963 Eine interessante Herbsttagung über Volk, Vaterland, Nation, Staat und Gesellschaft mit einem vorbereitenden Bundesblatt und auch ein interessantes Bundeslager 1964 mit einem in Berlin spielenden Kriminalspiel ist Sigrid Heinrich und den Berlinern zu verdanken. Die Teilnehmerzahlen an diesem Bundeslager sanken auf unter hundert, und im darauf folgenden Bundeslager an der Krombachtalsperre waren es dann noch rund sechzig Teilnehmer. Es gab nur noch die Gehrdener, einige Duisburger und hessische Wandervogelgruppen. Das Kapitel wurde wegen fehlender Basis abgeschafft, stattdessen ein Führungskreis gebildet, der über längere Zeit den WVDB leiten und wieder nach vorn bringen sollte. Mit meiner Einstellung als Assessor an der Dreieichschule in Langen begann der Neuaufbau des Langener Wandervogels, der 1969 zusammen mit Frankfurter, Marburger, Homberger und Gehrdener Wandervögeln nach Finnland fuhr. Der Grundstein wurde hier für die rund zwanzigjährige Arbeit der Bundesführerin Gudrun »Caesar« Demski-Raab gelegt – dies vor allem mit meiner Unterstützung von Langen aus, wo der WVDB 1975 auf dem Höhepunkt seiner 26 Wandervogel, 1957, 10. Jg., Nr. 4, S. 10 f. 27 Ebd. und passim in den damaligen Bundesblättern. 28 Irmgard Heller, Rudolf Strey, Frank-Dietrich Pölert: Bericht vom Bundestag des Österreichischen Wandervogels, in: Wandervogel, 1957, 10. Jg., Nr. 6, S. 12 f. 29 Gert Wolfram: Eindrücke vom Bundestag des ÖWV, in: Wandervogel, 1957, 10. Jg., Nr. 6, S. 15 f.

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Entwicklung rund hundertfünfzig Mitglieder und ein Dutzend Gruppen hatte. Ältere aus dem Rheinland und der Gehrdener Wandervogel waren außerdem aktiv. Als ich mich auf Drängen verschiedener Personen aus der Langener WVDBFührung zurückzog, schmolz der Langener Wandervogel wieder zusammen. Theaterspielfahrten 1980, 1985 zusammen mit Gehrdenern und 1988 (nach zweijährigem Gruppenführerlehrgang in Langen) gaben die Grundlage für einen Neuanfang auch in Langen unter Kai Langhans. Durch dessen Weggang aus Langen wegen seines Studiums fiel dann bald die Verantwortung wieder auf mich und Manfred »Mischka« Feder zurück. Wir beide waren dann letztmalig 1989 auf einem Bundeslager des WVDB bei Rudolstadt, wo Friederike »Pagotata« v. Ketelhodt, die Bundesführerin des WVDB in den 1980er-Jahren und in Nachfolge Caesars auch Schriftleiterin der WVDB-Zeitschrift »Baugaringas«, ihre Hochzeit feierte. Die junge Bundesführung des WVDB lehnte ab etwa 1990 die Zusammenarbeit mit uns beiden »zu Alten« ab, versuchte verschiedentlich, junge Langener Gruppenführer abzuwerben, zuletzt meine beiden Kinder. Doch misslangen diese Versuche, und so versuchen Manfred »Mischka« Feder und ich den Langener und den nordhessisch-nordthüringischen Wandervogel lebendig zu erhalten. Ich selbst bin nach meiner Pensionierung nach Nordhessen gezogen und organisiere seitdem zusammen mit Mischka Werktreffen, Wildniswochen, Sonnwendfeiern, Fahrten, kümmere mich auch um den Aufbau des neuen Wandervogel-Verbundes. Auf den Meißner 2013 arbeiteten wir mit Theaterstücken, ferner durch unsere Mitarbeit im Ring junger Bünde Hessen e. V. hin. Im WVDB bestehen zurzeit noch drei Ortsringe: in Gehrden bei Hannover, der Mitte der 1960er-Jahre noch rund 40 Mitglieder hatte und über ein Heim in Form eines Oktogons als Mittelpunkt verfügt, dann in Hamburg und in Norderstedt. Diese haben aber keinen Kontakt mit der Ortsgruppe Langen bzw. dem neuen Wandervogel-Verbund. Nicht zu vergessen ist der Wandervogelhof Reinstorf, von Horst Harder im Wandervogel Uelzen und Freunden gegründet, der schon lange ein überbündisches Projekt ist, das auch WVDB-Gruppen anzieht. Fazit: Der Zeitgeist ist freien, sich zur Jugendbewegung zählenden Gruppen zurzeit nicht günstig gesonnen; der Meißner-Virus wirkt aber noch. Es bedarf wohl wieder wie um 1968 herum eines neuen geistigen Impulses für junge Menschen, sich auf eigene Füße stellen zu wollen.

Rückblicke und Einschätzungen aus der Distanz

Renate Rosenau

Das »Seminar junger Bünde«. Rückblicke und Einschätzungen aus der Distanz von fünfzig Jahren

Mein Rückblick auf die Institution »Seminar junger Bünde« beginnt im Frühjahr 1963 und endet um 1970 mit dem Ausscheiden aus meiner aktiven bündischen Zeit. Ich stütze mich dabei auf meine Sammlung der Protokolle der Seminare und des Schriftwechsels, den ich als Beteiligte in der Organisation der Seminare bewahrt und dem Archiv übergeben hatte.1 Es handelt sich dabei um drei Seminare vor dem Meißnertag und zwölf danach. Ich gehörte zu den Teams, die die Seminare vor- und nachbereiteten, die Protokolle zusammenstellten und verteilten. Von den Seminaren hatten die drei vor und vier weitere nach dem Meißnertag 1963 eine besondere Ausstrahlung, deshalb bilden sie den Schwerpunkt meines Berichts. Hinweise auf die übrigen Seminare sind der tabellarischen Übersicht zu entnehmen. Einfügung 1: Tabellarische Übersicht Seminare 1963 bis 1970 Meißner-Vorbereitungsseminare 1963 Jungenbünde-Seminar »Hoher Meißner«: Was erwartet die heutige Gesellschaft von der Jugend – Situation und Ziele. Was tut die Gesellschaft im 3. Erziehungsfeld? Der Lebens- und Wirkungsraum der bündischen Gruppe

1

Hofgeismar

25.–27. 01. 1963

2

Kronberg

17.–19. 05. 1963

3

Kronberg

30. 08.–01. 09. Grundsatzerklärung »Bündische Jugend 1963« 1963 Publikationen zum Meißnertag 1963, u. a. »Die Grundhaltung der bündischen Jugend heute«

1 Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), N 126, Nachlass Renate Rosenau, Seminar junger Bünde 1963 – 70 (15 Seminare): Schriftwechsel der Vorbereitungsgruppen und Seminarprotokolle. Von den Seminaren liegen mir alle Einladungen, die Protokolle jedoch nur bis einschließlich des 9. Seminars vor.

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Renate Rosenau

(Fortsetzung) Meißnertag 1963 aus Anlass der 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages 1913 auf dem Hohen Meißner vom 12. bis 13. Oktober 1968 Seminar junger Bünde 1963 bis 1970 4 Burg Ludwigstein 13.–15. 03. 1964 5a

Kronberg

5.–7. 06. 1964

5b

Leipzig, Eschwege/ Leipzig/ Tabarz

21. 11. 1964, 02.–09./ 10. 01. 1965

6

Kronberg

7

Kronberg

14.–16. 05. 1965 16.–21. 11. 1965

Beschlüsse zur künftigen Zusammenarbeit der Jungen Bünde und zur Älterenarbeit der Bünde Ostkontakte junger Bünde – Probleme und Möglichkeiten, mit drei Dozenten des Pädagogischen Instituts der Universität Leipzig Vorbereitungstreffen bei der FDJ Leipzig; Treffen des Seminars junger Bünde mit der FDJ-Bezirksleitung Leipzig Fragen der inneren Schulreform; Demokratisierung der Schule Die Bundesrepublik und die Kontakte der Jugend im geteilten Deutschland

Gründung des Ringes junger Bünde e. V. auf Burg Ludwigstein am 19. März 1966 8 Ludwigstein 21.–23. 10. Liedgut und Singen der Bünde heute 1966 9

Jugendhof Estetal

25.–27. 11. 1966

10

Roßdorf, Jugendhof des Bundes 01.–02. 07. Deutscher Jungenschaften im 1967 Bessunger Forst

11

Jugendhof im Bessunger Forst

28. 12. 1967– 4. 1. 1968

12

Jugendhof im Bessunger Forst

11.–15. 04. 1968

13

Jugendhof im Bessunger Forst

23.–24. 11. 1968

Junge Bünde und Entwicklungshilfe; Gemeinsame Gründung des AKE Arbeitskreis Entwicklungshilfe: RjB mit dem Boberhauskreis, den Internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten IJGD und mit Dienste in Übersee (später: Arbeitskreis Entwicklungspolitik, Vlotho) Modelle neuzeitlicher Schultypen in Deutschland: Waldorfschule und Montessorischule, Arbeitskreis für überbündische Seminare, Leitung: Udo Rennert Bildung in der Industriellen Gesellschaft; Arbeitskreis für politische und gruppenpädagogische Seminare im Ring junger Bünde, Leitung: Udo Rennert Die Krise der Demokratie am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland Jugendbewegung – Jugend in Bewegung? Fördern oder hemmen die Bünde die Unruhe unserer Zeit?

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Das »Seminar junger Bünde«

(Fortsetzung) 14 Jugendhof im Bessunger Forst

15

Schwarzenberg im Bregenzer Wald

15.–16. 11. 1969

»… für alle die eine Gruppe führen oder mitgestalten … wozu – was – warum? Wir – bauen selbst Lieder – drucken eine Stadt – formen eine Freiplastik aus Schrott – tanzen – planen Fahrten – spielen Theater. Ring und Seminar junger Bünde«

24.–30. März 1970

Gruppe, Umwelt, Erziehung, auf Initiative der Mädchentrucht, des Pfadfinderbundes Großer Jäger, der deutschen evangelischen jungenschaft, Ring junger Bünde, Leitung: Heidi Burmeister (Mädchentrucht und RjB-Vorstand)

Die Entstehung der Meißnerseminare der Jungen Bünde Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren noch keine zwei Jahrzehnte vergangen. Alte Jugendbünde hatten sich wiedergefunden und neue gegründet. An sie war der Aufruf zur Vorbereitung eines gemeinsamen, überbündischen »Meißner-Tages« aus »Anlass der 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages 1913 auf dem Hohen Meißner« gerichtet; er wurde von Karl Vogt als Vorsitzendem des »Hauptausschusses zur Vorbereitung des Meißnertages 1963 e. V.« am 49. Jahrestag versandt.2 Dieser Hauptausschuss koordinierte die Vorbereitungen der älteren und die der jungen Bünde. Die Bundesführungen der Jungen Bünde sahen nicht nur organisatorische und logistische Aufgaben vor, mit denen Horst Schweitzer vom Pfadfinderbund Großer Jäger betraut war. Obwohl bis zum Meißnertag kaum zwölf Monate zur Verfügung standen, wollten sie nicht weniger als den Standort der »Jungenbünde in der Industriegesellschaft«3 grundsätzlich aufarbeiten und Publikationen mit der Darstellung der »Wesenszüge der bündischen Jugend in ihrer Gemeinsamkeit und Vielfalt« herausgeben4 »Sinn dieses Tages ist es, einer vielfach voreingenommenen Öffentlichkeit zu zeigen, wie die heutige Jugend aussieht, was sie

2 Ebd., Rundbrief vom 13. 10. 1962. Karl Vogt (1907 – 2002) war ab 1964 der Sprecher des Ringes junger Bünde. 3 »Jungenbünde« war der in der ersten Einladung verwendete Begriff, siehe dazu das Kapitel »Einige persönliche Einschätzungen und Erfahrungen«. 4 AdJb, N 126, Beschluss der siebenundzwanzig am 09./10..03.1963 auf Burg Ludwigstein »aus eigenem Willen zusammengekommenen Führer der Bünde«.

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will und was sie leistet.«5 Die Bundesführer luden zu überbündischen Meißnerseminaren ein, deren Leitung Gerhard Neudorf, damals Student in Marburg (1939 – 2014), vom Wandervogel Deutscher Bund übernommen hatte. Zum ersten Junge-Bünde-Seminar Hoher Meißner trafen sich Ende Januar 1963 etwa siebzig Jugendliche und junge Erwachsene im Heim des Pfadfinderbundes Großer Jäger in Hofgeismar. Seine Arbeitsform – Hauptreferate/Koreferate, Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen, Konsensverfahren – prägte auch die folgenden Seminare. Der thematische Ansatz »Jugend und Industriegesellschaft« dieses ersten überbündischen Seminars war weit angelegt. Das Protokoll enthält Zusammenfassungen der Referate und Koreferate, die Niederschriften und Thesen der Arbeitsgemeinschaften aber in vollem Wortlaut. Als Hauptreferenten wurden externe Redner eingeladen, von denen viele selbst einen jugendbewegten Hintergrund hatten. Die Koreferenten kamen aus den Jungen Bünden; die Namen und Bünde werden möglichst vollständig angegeben, um den überbündischen Charakter der Seminare zu verdeutlichen: I. Was erwartet die heutige Gesellschaft der Bundesrepublik von der Jugend? Situation und Ziele (Prof. Hans Linde und Gerhard Neudorf) II. Was tut die Gesellschaft im dritten Erziehungsfeld? Situation und Pläne. Situation der Jugendarbeit und der Jugendverbände – Arno Klönne, Deutsche Freischar und Jugendsozialarbeit und Jugendpflege in der BRD – ohne Jugendfürsorgewesen – Helmut Reiser III. Verhaltensweisen der Jugend. Ihre Reaktion auf I. und II. – Dieter Sengling und Hermann Diehl, Deutscher Pfadfinderbund (DPB)6 Die Arbeitsgruppen diskutierten (1) Die Erziehung der Jugend durch Elternhaus und Schule, die religiöse Erziehung der Jugend, Sinn und Aufgaben der Schule, Gesundheit, Sport und musische Erziehung, (2) Die Lenkung der Jugend durch Öffentlichkeit und Staat (Gesellschaft/Recht/Finanzpolitik) sowie (3) Die Maßnahmen der Gesellschaft im dritten Erziehungsfeld; Verhaltensweisen und Interessen der Jugend heute: Jugendsozialarbeit, Jugendarbeit der Jugendverbände, offene Gruppen, geschlossene Gruppen.

5 Vorwort, in: Junge Bünde 1963. Jahrbuch bündischer Jugend. Zum Meißnertag am 12. und 13. Oktober 1963, Hannover 1963, S. 3. 6 Hans Linde (1913 – 1994), seit 1962 Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Hochschule Karlsruhe. – Arno Klönne, geb. 1931, Soziologe und Politikwissenschaftler, jugendsoziologische Studien. Einer der Sprecher der Ostermarschbewegung, später Professor an der Universität Paderborn. – Helmut Reiser, geb. 1942, Deutsche Gildenschaft, damals Student der Erziehungswissenschaften in Frankfurt, später Professor an den Universitäten Frankfurt am Main und Hannover. – Dieter Sengling (1936 – 1999), damals Student der Erziehungswissenschaften in Marburg, später Professor an der Universität Münster und langjähriger Vorsitzender des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Das »Seminar junger Bünde«

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Das zweite Meißnerseminar im Mai in Kronberg (Taunus) konzentrierte sich auf die bündischen Gruppen. In das Protokoll wurden nur noch die Ergebnisse der Arbeitsgemeinschaften, in Thesen zusammengefasst, und ihre Leitungen aufgenommen. Jochen Franke vom Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) berichtete über den »Lebens- und Wirkraum der bündischen Gruppe«, Elke Brands über » Ziele und Weltanschauung, ausgehend von der »Meißnerformel« von 1913 und Rüdiger Lancelle über »Jugendbewegung und Politik. Der Jugendbund als Schule politischer Verantwortung«.7 Hinzugefügt ist der Vermerk, dass die Thesen der Arbeitsgemeinschaften als Diskussionsgrundlage und zur Erarbeitung einer Publikation im Rahmen des nächsten Seminars dienen. Zudem appellierte Jochen Franke mit dem Protokoll, das mit der Einladung zum dritten Meißnerseminar versandt wurde: »Wir würden uns freuen, wenn diesmal alle Bünde vertreten wären.« Bei dem dritten Meißnerseminar vom 30. August bis 1. September 1963 in Kronberg formulierten die drei Arbeitsgemeinschaften, deren Leitung Helmut Reiser, Gerhard Neudorf und Jochen Franke hatten, die Ergebnisse der beiden vorangegangenen Seminare und fassten sie zusammen. Diese Ergebnisse der drei Seminare wurden von den Bundesführungen am 15. September 1963 beschlossen. Zudem wurde die Zusammenfassung wurde zum einen in die Grundsatzerklärung Meißner 1963 übernommen, die danach von einer Freiburger Gruppe redaktionell geformt und bei der Kundgebung am 13. Oktober von Alexander Gruber vorgetragen wurde. Zum anderen fand sie als »Bündische Jugend 1963« Eingang in das Jahrbuch mit den Kapiteln »Grundhaltung der Bündischen Jugend heute«, »Der Lebens- und Wirkraum der bündischen Gruppe« sowie »Stellung der Jugendbewegung und bündischen Jugend in Staat und Gesellschaft«. Das Jahrbuch enthielt zudem einen Aufsatz von Roland Ekkert, dem Sprecher des Bundes Deutscher Jungenschaften, über »Die Jugendbünde in der modernen Gesellschaft« sowie einen von Hermann Diehl über »Die pädagogische Bedeutung der heutigen Bünde«.8 Darauf folgten Selbstdarstellungen von 25 Bünden.

7 Jochen Franke, damals Lehrer, Jugenheim/Bergstraße; Elke Brands; Rüdiger Landelle, damals Lehramtsstudent in Frankfurt am Main und Vorsitzender der Deutschen Gildenschaft. 8 Junge Bünde (Anm. 5), Redaktion: Hans-Joachim Broeker, BDP; Hermann Diehl, BDP; Klaus Dürkop, Turnschar Volker in der Deutschen Turnerjugend; Jochen Franke, BDP; Ludwig Gernhardt, Bund Deutscher Jungenschaften; Hermann v. Schroedel, Deutscher Pfadfinderbund. Der Band wurde in den Bünden verteilt und war nicht über den Buchhandel erhältlich.

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Renate Rosenau

Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißner-Tag 1963 In den freien und eigenständigen bündischen Gruppen finden sich Jungen und Mädchen aller Schichten und Bekenntnisse zusammen. Ihre Zugehörigkeit gründet sich auf gegenseitiger Zuneigung und Hilfsbereitschaft. Kraft dieser menschlichen Übereinstimmung wollen Jüngere und Heranwachsende gemeinsam an der Gestaltung ihres Lebens arbeiten. Die Bünde sind um die ganze Fülle des Lebens bemüht. Neben der Fahrt, auf der sie das Erlebnis von Menschen und Ländern suchen, dem Lager und dem Wettkampf steht daher im gleichen Rang die handwerkliche, musische und geistige Anstrengung in Gespräch, Lesung, Laienspiel und Chorsingen. Dabei erfahren Jungen und Mädchen zum erstenmal, daß Gemeinschaft freiwillige Bindung ist. Disziplin des Körpers und des Geistes als Grundlage jeder Freiheit, ernster Leistungswille, Mut zur Auseinandersetzung mit dem anderen und Bewährung in der Verantwortung für den anderen wie für das Ganze bestimmen Lebensstil und Haltung der bündischen Jugend. Die Form der bündischen Gemeinschaft, die nur mitverantwortete Zugehörigkeit kennt, ist besser geeignet, Verantwortungsbewußtsein wachsen zu lassen, als der unverbindliche Gruppenstil der Jugendverbandsarbeit. Nur die Zielvorstellungen der Jugendverbandsarbeit sind für den Jugendlichen verbindlich. Sie sind von Erwachsenenorganisationen vorgegeben. Darin sehen wir die Gefahr, daß der Heranwachsende seiner Entscheidungsfreiheit beraubt wird. Wir wollen ihm eine Reifezeit sichern, in der er frei von Verbandsinteressen das Gesellschaftsganze betrachten und zur Entscheidungsfähigkeit gelangen kann. Ein politisches »Engagement« darf nur auf dem selbständigen Urteil eines erwachsenen Menschen beruhen, nicht auf Gewöhnung. Die bündische Gemeinschaft vermittelt humane Werte und Haltungen zweckfrei. Wir sind deshalb der Ansicht, daß sie besser auf eine freie Gesellschaft vorbereitet als die Gruppe eines Jugendverbandes, die frühzeitig an interessengebundenen Aktionen teilnimmt. Wir wissen, daß der Versuch der bündischen Jugend, ein Leben in Freiheit zu führen, für ihre Mitglieder wie für die Gesellschaft ein Wagnis bedeutet. Wir fordern von einer Gesellschaft, die der Freiheit verpflichtet ist, dieses Wagnis nicht nur zu dulden, sondern ihm den nötigen Raum zu sichern. Wir wehren uns gegen alle Bestrebungen, die uns diesen Raum einengen. Da unser Bemühen um Selbstverwirklichung nur in einem freien Staat gelingen kann, verpflichten wir uns, die uns anvertraute Jugend von der Idee des demokratischen Rechtsstaates zu überzeugen. Wir hoffen, daß auch der Teil der deutschen Jugend, dem alles dies verwehrt ist, eines Tages mit uns ein Leben in Freiheit führen kann. Für die Freiheit der Jugendlichen, sich mit Freunden zu einer Gruppe zusammenzuschließen, um in Verantwortung vor dem eigenen Gewissen wie in Verpflichtung für die Gesellschaft ein Jugendleben in eigener Bestimmung zu gestalten, tritt die bündische Jugend unter allen Umständen geschlossen ein. Beschlossen auf dem Hohen Meißner am 15. September 1963.

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Das Seminar junger Bünde nach dem Meißnertag – Vom Meißnerseminar 1963 zum Seminar junger Bünde 1964 Mit dem Meißnertag 1963 waren die Vorbereitungsaufgaben der Meißnerseminare erfüllt, die Grundzüge der bündischen Arbeit in der Gegenwart für die überbündische Handlungsebene formuliert und beschlossen. Jetzt konnten sie mit gemeinsamen konkreten Projekten belebt werden. Schon vorher hatten bündische Gruppen zu Begegnungen wie Tanz-, Singe- und Theatertreffen, Lagern, Fahrten und zu Seminaren für »Ältere« der »Mannschaften« mit jugend- , deutschland- und entwicklungspolitischen9 Themen, Musizieren und Tanzen überwiegend regional eingeladen. Sie öffneten sich jetzt einem größeren Kreis der Bünde. Rahmen und Stellenwert überbündischer Seminare beriet das vierte Meißnerseminar im März 1964 auf Burg Ludwigstein: Es formulierte Möglichkeiten, Ziele, Inhalte und Umfang des künftigen Zusammenwirkens für die örtliche Zusammenarbeit der Jungen Bünde in Ringen bündischer Jugend und für die Älterenarbeit der Bünde die Arbeit der (regionalen) Älterenkreise. Der Einladung waren nur dreiundzwanzig Teilnehmer aus dreizehn Bünden statt wie bisher zwischen fünfzig und siebzig Vertreter von über zwanzig Bünden gefolgt. Dazu bemerkte Karl Vogt im Vorwort des Protokolls: »Trotz geringerer Beteiligung als bei früheren Seminaren erwies es sich auch diesmal, dass die Meißnerseminare für die gemeinsame Arbeit der jungen Bünde wertvoll sind. Sie geben den älteren Freunden aus den Bünden die Möglichkeit gemeinsamer geistiger Arbeit und der Gesamtheit für ihre Zusammenarbeit wertvolle Ergebnisse. Die Arbeitsergebnisse (Thesen) des 4. Meißnerseminars […] geben einen Eindruck von den Möglichkeiten der Seminararbeit. Es wurde beschlossen, die Reihe der Seminare der jungen Bünde fortzusetzen. Für das Jahr 1964 sind noch zwei Seminare geplant.«10

Das »Seminar junger Bünde – SjB«, wie es ab jetzt hieß, verstand sich als Plattform überbündischer Kooperation der Älteren der Bünde: »Das Seminar Junger Bünde, vertreten durch seinen Vorbereitungsausschuß, versteht sich als eine unabhängige Einrichtung, die die Führungskräfte im Ring junger Bünde immer wieder neu anregen soll, sich schwerpunktmäßig sowohl über innere Fragen der heutigen Jugendgesellschaft als auch über ihr Verhältnis zur geistigen

9 Seit 1958 gab es jährliche überbündische Treffen in Maulbronn zum 1. November, initiiert von Siegfried Schmidt (1914 – 1986), dem Bundesführer der »Tatgemeinschaft«, und dem BdJ. – AdJb, N 126, Seminare des Boberhauskreises in Süditalien und Griechenland 1962 bis 1965, Deutschlandpolitisches Seminar des BDP LM Hessen, 1963: Arbeitskreis überbündische Seminare auf Burg Hohlenfels. 10 AdJb, N 126, Protokoll des 4. Meißnerseminars vom 13.–15. 03. 1964 auf Burg Ludwigstein.

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Umwelt, zur Geschichte, zur Bildung, zur Politik, zur Kunst, zum Volksbewußtsein Klarheit zu verschaffen.«11 1966 bestand im Vorfeld der formellen Gründung des Ringes junger Bünde als e. V. (RjB) erneut Gesprächsbedarf zu Seminarthemen, Organisation und Finanzierung, dem Sprecherkreis des RjB vorgetragen von Eike Rachor, der damals mit Jochen Franke, Ludwig Gernhardt und mir die Seminare organisierte.12 Karl Vogt antwortete: »Dazu kommt, dass wir uns im Sprecherkreis sehr eindeutig und einstimmig klar darüber geworden sind, dass die Arbeit des Seminars zu den wesentlichen Aktivitäten des RjB gehören muss.« Das abstimmende Gespräch fand am 19. März 1966 unmittelbar vor Beginn des Bundesführertreffens auf Burg Ludwigstein statt, der formellen Gründungsversammlung des »Ringes junger Bünde e. V.« In die Satzung wurde das Bekenntnis zur »Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißnertag 1963« aufgenommen. Von den vielfältigen Anregungen aus den Bünden zeichneten sich 1964 zwei dringende Handlungsfelder ab: die Jugendbegegnung in den beiden Teilen Deutschlands und die innere Schulreform. Sie waren die ersten Schwerpunkte, die das Seminar 1964 aufgriff. Hinzu kamen dann noch Seminare zum Musischen in den Bünden sowie zur Thematik »Dritte Welt«.

Innerdeutsche Jugendbewegung als Themenschwerpunkt des Seminars junger Bünde Das fünfte Seminar »Ostkontakte junger Bünde – Probleme und Möglichkeiten« im Juni 1964 löste eine Reihe weiterer Veranstaltungen aus: ein Treffen des Seminars Junger Bünde (SjB) mit der FDJ-Bezirksleitung Leipzig im Januar 1965 und das siebte SjB »Die Bundesrepublik und die Kontakte der Jugend im geteilten Deutschland« im November 1965. Die Ausgangslage: Der BDP Hessen, war Anfang 1963 mit Schülern und Studenten einer Einladung der Gewerkschaft für Erziehung nach Leipzig gefolgt. Der Gegenbesuch wurde »durch einen Wochenendlehrgang vorbereitet, an dem Vertreter der drei im Bundestag vertretenen Parteien ihre Vorstellungen zur Frage der Wiedervereinigung vortrugen.«13 Am Tag vor der Ankunft der Delegation erreichte den BDP ein Schreiben des Hessischen Innenministers mit der Anweisung: »Aus Rechtsgründen kann dieses Gespräch nicht stattfinden. Die ,Freie Deutsche Jugend‹ (FDJ) ist als 11 AdJb, N 126, Ludwig Gernhardt (BdJ) am 01. 12. 1965 im Vorwort zum Protokoll des 7. Seminars junger Bünde. 12 Eike Rachor, Fahrende Gesellen; Ludwig Gernhardt, Bund Deutscher Jungenschaften; Renate Rosenau, Deutsche Reform-Jugend und Deutsche Gildenschaft. 13 AdJb, N 126, Axel Hübner (BDP), Schreiben an den Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen vom 02. 11. 1963.

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verfassungsfeindliche Vereinigung durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. 07. 1954 […] unanfechtbar verboten worden.«14 Daraufhin wandte sich der BDP Hessen an den Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen mit der Bitte, »darauf hinzuwirken, daß die rechtlichen Grundlagen, die es verbieten, mit jungen Menschen zu sprechen, die nun einmal das Schicksal hatten, in der Zone geboren zu werden, geändert werden. Alle Versuche, trotz der Spaltung ein weiteres Auseinanderleben der Menschen, speziell der Jugend beider Teile Deutschlands zu verhindern, müssen auf Jahre hinaus zum Scheitern verurteilt sein, wenn es uns nicht erlaubt ist, mit Unternehmungen wie dieser geplanten die Mauer wenigstens an einigen Stellen durchlässig zu machen.«15

Der Briefwechsel mit Landes- und Bundesministerien und die Presseberichte, die Axel Hübner, Referat »Politische Bildung« des BDP Hessen, unter dem Titel »Ostkontakte? – Dokumentation eines Fehlschlags« dokumentiert hatte, wurden als Arbeitsunterlage mit der Einladung versandt. Sie trägt den Vermerk: »Das Treffen findet in Zivil statt!« Der Einladung folgten ca. achtzig Teilnehmer aus vierzehn Bünden. Es gelang, Referenten aus beiden Teilen Deutschlands einzuladen. Drei Referenten des pädagogischen Instituts der Karl-Marx-Universität Leipzig, nicht der FDJ, durften der Einladung folgen, an einem Vorprogramm mit Betriebsbesichtigungen und Hospitationen im Unterricht teilnehmen und beim Seminar sprechen. Für die meisten Teilnehmer war dies der erste direkte Kontakt mit Lehrern und zugleich Funktionären aus der Sowjetisch besetzten Zone, wie die DDR offiziell genannt wurde. Peter Flamme, wissenschaftlicher Assistent an der Karl-Marx-Universität Leipzig, sprach über »Die Rolle der Jugend und ihrer Organisation in der DDR«; Dr. Hans Wermes, Dozent für Methodik des Geschichtsunterrichts, über »Meine Vorstellungen über Demokratie«, gefolgt von einem Koreferat über »Grundlagen der Demokratie« von Alexander Gruber. Die beiden Gastreferenten sowie Dr. Wolfgang Mehnert, Dozent für allgemeine Pädagogik, beteiligten sich an den drei folgenden Arbeitsgruppen, die breiten Raum für Frage und Antwort ließen. Abschließend diskutierte ein Podium mit bundesdeutschen Vertretern von CDU, FDP und SPD 14 AdJb, N 126, Der Hessische Minister des Innern, Abt. II a, Schreiben vom 29. 10. 1963. – Die FDJ war erstmals während der NS-Zeit im Exil in Frankreich, Großbritannien und in der Tschechoslowakei von älteren deutsch-jüdischen Jugendlichen zur Unterstützung der jüdischen Kindertransportkinder gegründet worden. Die in den Westzonen 1945 neu gegründete FDJ wurde 1951 von der Bundesregierung sowie 1954 durch das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes als verfassungsfeindlich verboten. In der sowjetisch besetzten Zone wurde die FDJ im März 1946 nach Zustimmung der Sowjetunion zur Staatsjugend und Massenbewegung mit dem Ziel der Erziehung klassenbewusster Sozialisten erklärt. 15 AdJb, N 126.

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sowie Heiner Zeller vom BDP Probleme und Möglichkeiten von Ostkontakten der Jungen Bünde. Ein geladener Referent des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen hatte seine Zusage offiziell zurückgezogen, nachdem er von der Teilnahme der Referenten aus Leipzig erfahren hatte.16 Das Gesprächsergebnis wurde so zusammengefasst: »Das Seminar mit seinen Referaten, Diskussionen und zahlreichen Gesprächen hat gezeigt, wie komplex das Problem der Ostkontakte der Jugendverbände ist. Immerhin ist es beachtlich, dass wir zum ersten Mal die Möglichkeit hatten, Referenten aus beiden Teilen Deutschlands zu hören und mit ihnen hart und offen zu sprechen. […] Wir sind der Meinung, daß solche Informationsgespräche weiterhin geführt werden sollten. Dazu ist es erforderlich, daß Menschen aus beiden Teilen Deutschlands ohne Gefahr und ohne Einengung der Freizügigkeit reisen können. […] Wir befürworten gegenseitige Gruppenbesuche (auch mit FDJ-Gliederungen) unter Ausschaltung politischpropagandistischer Auswertung. Wir meinen, dass der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts betr. des Verbots der FDJ in der Bundesrepublik durchlässig gemacht werden sollte. […] Um diese Vorstellungen nicht nur beim Theoretischen bewenden zu lassen, hat der Vorbereitungsausschuß des Seminars junger Bünde beschlossen, dass demnächst eine Gruppe von ca. 20 Teilnehmern aus allen Bünden eine Informationsreise nach Leipzig oder Dresden durchführen wird.«17

Sie wollten nun die reale Gruppenarbeit der FDJ kennenlernen.

Das Treffen des Seminars Junger Bünde mit der FDJ-Bezirksleitung Leipzig im Januar 1965 Die Vorbereitungsgruppe mit Jochen Franke, Hannes Beck vom BDP und Ludwig Gernhardt nahm Kontakte mit der FDJ Leipzig auf und klärte die Reisebedingungen und »Sicherheitsgarantien für den Grenzübertritt« mit dem Hessischen Innenministerium und anderen zuständigen Stellen. Da es sich beim Seminar junger Bünde nicht um »verfassungsfeindliche Umtriebe« handelte, konnten wir uns seit 1964 einer stillschweigenden Duldung der für die Sicherheit verantwortlichen Behörden erfreuen, wie Ludwig Gernhardt im Protokoll des 7. Seminars festhielt. Am 21. November 1964 vereinbarte die Vorbereitungsgruppe mit der FDJ in Leipzig für Januar 1965 ein einwöchiges Besuchspro16 AdJb, N 126, Schreiben von Jochen Franke vom 25. 05. 1964 an die anderen Mitarbeiter des Vorbereitungsausschusses. 17 Ebd., Schlussbemerkungen des 5. Seminars Junger Bünde. Vorbereitungsausschuss: Eike Rachor, Jochen Franke, Heiner Zeller, Axel Hübner, Gerhart Schöll (Deutsche Freischar), Ludwig Gernhardt, Roland Eckert, Alexander Gruber (BDJ), Rüdiger Lancelle, Renate Rosenau. Außer den hier genannten Bünden waren vertreten: Boberhauskreis, Deutscher Wanderbund, Junge Adler, Pfadfinderbund Großer Jäger, Quickborn, Wandervogel deutscher Bund, Ring Bündischer Jugend Hamburg.

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gramm. Vorgesehen waren drei Tage in Leipzig zur Begegnung mit FDJ-Gruppen und drei Tage Teilnahme an einem Winterlager der FDJ im Thüringer Wald. Es kam jedoch anders. Die zwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Bünden, die sich nur zum Teil kannten, fuhren nach einem kurzen abendlichen Vorbereitungstreffen von Eschwege aus in sechs Pkws zur deutsch-deutschen Grenze und von dort im Konvoi, von zwei Gastgebern angeführt, nach Leipzig. Dort wurden sie mit einem neuen Standardbesuchsprogramm konfrontiert.18 Es war zu spüren, dass die Gastgeber offenbar keinen Handlungsspielraum hatten; daher wurde die neue, basisferne Planung akzeptiert. Vorgesehen war ein Treffen mit einer FDJ-Gruppe in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Brodau, der ersten vollgenossenschaftlich organisierten LPG sowie eine FDJZirkelleiterschulung in dem volkseigenen Betrieb Kombinat Otto Grotewohl, Böhlen. Es schlossen sich Hospitationen in Leipziger Schulen, Hospitationen und Gespräche mit Studenten am Pädagogischen Institut und an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig an sowie pädagogische Grundsatzdiskussionen im pädagogischen Bezirkskabinett für Lehrerfortbildung über das neue sozialistische Bildungssystem der zehnjährigen polytechnischen Oberschule und im Haus der Lehrer mit Rektoren, Lehrern, Funktionären und FDJlern. Zum Abschluss war ein Autorenabend mit jungen Lyrikern im Johannes R. Becher-Institut für Literatur an der Karl-Marx-Universität Leipzig vorgesehen. Anders als noch bei dem Kronberger Seminar wurden die Gruppe, zu der ich selbst gehörte, jetzt in allen Gesprächen mit der DDR-Pädagogik des »Hasses gegen die Feinde des Volkes«, der offiziellen Linie der FDJ, und ihren Standardvorwürfen von Faschismus und Revisionismus der Bundesrepublik konfrontiert. Aber unsere Befürchtungen, wir wären aufgrund unserer bündischen Vielfalt den dialektisch geschulten Gastgebern sowie den FDJ-Gruppen und Funktionären nicht gewachsen, bestätigten sich nicht. Im Gegenteil: Gesprächsverlauf und Gesprächsergebnisse entsprachen nicht den Erwartungen der Gastgeber. Wie groß der Gesprächsbedarf aber war, zeigte sich bei Randgesprächen mit Einzelpersonen vor den Türen der offiziellen Gesprächsrunden – von uns unauffällig, aber systematisch genutzt. Nach drei Tagen wurden wir vorzeitig in den Thüringer Wald geschickt, wo uns aber kein FDJ-Winterlager erwartete. Stattdessen zeigte man uns den wunderbaren Film »Der Stille Don« (fünf Stunden). Mit einer Gruppe Leipziger Studenten verbrachten wir einen Nachmittag und einen geselligen Abend, während unsere Gastgeber hinter verschlossenen Türen mit Personen konferierten, die aus Berlin angereist waren, darunter zwei junge Volkskammerabgeordnete. Die Auslage von Zeitungen und Druckwerken aus beiden Teilen Deutschlands – ein Teil der Vereinbarung – 18 Vgl. dazu den Beitrag von Hans Heintze in diesem Band.

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geriet nicht zum Grund, aber zum Aufhänger für den Abbruch und für unsere Ausweisung.19 Das Abschlussgespräch, bei dem alle unsere Gastgeber Gelegenheit hatten, mit Vorwürfen gegen die Bundesrepublik Deutschland sich selbst entlastende Kritik zu üben, endete mit der Feststellung: »Aus allen Gesprächen in Leipzig und Tabarz hat sich ergeben, daß wir in den Grundfragen keine Gemeinsamkeit finden konnten. […] Was soll aus weiteren Kontakten noch herauskommen?« und: »Das Gastrecht ist aufgehoben.«20 Aus unserer Sicht hatten die Gesprächsverläufe, für beide Seiten unerwartet, für unsere Gastgeber aber negativ, zum Abbruch geführt: »Zwanzig verschiedene Meinungen zwanzig westdeutscher Jugendlicher in der Begegnung mit Jugendlichen der FDJ, – dies Aufzeigen der Pluralität hat die anderen schockiert.«21 »Die Erfahrungen aus den offiziellen Diskussionen haben gezeigt, daß es unergiebig ist, der kommunistischen Ideologie irgendeine ,westliche‹ Weltanschauung entgegenzusetzen. Weit wirkungsvoller erwiesen sich unsere immer wieder vorgebrachten Hinweise auf den Pluralismus der westlichen Demokratien, auf die Möglichkeit der Konkurrenz verschiedener Wertsysteme, politischer Meinungen und Lebensformen. In der philosophischen Auseinandersetzung zeigte sich unser pragmatisch dem Pluralismus abgeleitete Begriff von Freiheit und von Demokratie den starren Definitionen der Gegenseite stets gewachsen, wenn nicht überlegen.«22

Unser als Broschüre gedruckter Bericht, der auch die Mitschrift des Abschlussgesprächs enthielt, wurde mit Rücksicht auf die offensichtlich prekäre Lage unserer Gastgeber nicht veröffentlicht, wohl aber intern verteilt. »Die Presse der Bundesrepublik wurde nicht informiert, um die Funktionäre der Leipziger FDJ, die sich vorsorglich einer Selbstkritik in Berlin stellen mußten, nicht zu gefährden und um bereits geplante Kontakte anderer Jugendverbände der Bundesrepublik zur FDJ nicht zu erschweren.«23 Über private Kontakte erfuhren wir, dass als Folge unserer Unternehmung das Politbüro der SED bis auf weiteres Kontakte zwischen FDJ und der »Bürgerlichen Jugend Westdeutschlands« verbot.24 Auf die Gegeneinladung des Seminars Junger Bünde an die FDJ19 Vgl. Johannes Beck, Heiner Boehncke: FDJ: »Das Gastrecht ist aufgehoben!« Eine Reise des Seminars junger Bünde in die DDR und zurück. Im Januar 1965, in: Jürgen Reulecke, Norbert Schwarte (Hg.): Momentaufnahmen. Weggefährten erinnern sich. Diethart Kerbs zum 70. Geburtstag, Essen 2007, S. 29 – 36. AdJb, N 126, Jochen Franke am 20. 09. 1964 an alle Mitarbeiter im Vorbereitungsausschuss des Seminars junger Bünde. 20 AdJb, N 126, Bericht über ein Treffen des Seminars junger Bünde mit der FDJ-Bezirksleitung Leipzig im Januar 1965. 21 AdJb, N 126, Jochen Franke: Protokoll des 7. Seminars junger Bünde, S. 20. 22 AdJb, N 126, Bericht über ein Treffen des Seminars Junger Bünde mit der FDJ-Bezirksleitung Leipzig im Januar 1965, S. 4. 23 Ebd., S. 2. 24 Nach einer privaten, nicht nachprüfbaren Information soll der Abbruch durch Albert

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Hochschulgruppenleitung der Hochschule für Körperkultur für zehn bis zwanzig Mitarbeiter vom 3. Februar für 1965 kam keine Antwort.25

Das 7. Seminar »Die Bundesrepublik und die Kontakte der Jugend im geteilten Deutschland« im November 1965 Unsere Erfahrungen und die anderer Gruppierungen sollten ausgetauscht und mit den verantwortlichen bundesdeutschen Stellen Möglichkeiten deutschdeutscher Jugendbegegnungen erarbeitet werden. Aber auch dieser Plan ging nur zum Teil auf. Die bundesdeutschen Stellen entsandten keine Gesprächspartner mit der Legitimation, ihre Standpunkte zu referieren. Das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen war um »Vorstellungen des Ministeriums zur Intensivierung der Ostkontakte westdeutscher Jugend, insbesondere zur Jugend Mitteldeutschlands« gebeten worden. Es gab die Anfrage an den Rednerdienst im Büro Bonner Berichte ab, das schließlich einen Referenten stellte, der sich jedoch nicht in der Lage sah, die Auffassungen des Ministeriums zu referieren und stattdessen das Thema »Kontakte ja – Kontakte wie?« mit »nichtamtlichem Charakter« vorschlug. Das Ministerium hatte ihm die erbetenen offiziellen Richtlinien nicht zur Verfügung gestellt. Der Wissenschaftliche Beirat für Fragen der Wiedervereinigung beim Ministerium für gesamtdeutsche Fragen war um eine politisch-wissenschaftliche Analyse der Situation der Jugend 1965 im geteilten Deutschland und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für Ostkontakte der Jugendverbände gebeten worden. Der Beirat antwortete, dass er für Jugendaustausch nicht kompetent sei, weil er wirtschaftliche Fragen bearbeite. Seine zugesagten Erfahrungsberichte kamen erst Wochen nach dem Seminar an. Das Kuratorium Unteilbares Deutschland war um eine aktuelle Stellungnahme zu den Möglichkeiten für eine verstärkte Begegnung westdeutscher Jugendverbände mit der Jugend Mitteldeutschlands gebeten worden. Es konnte dazu keinen Referenten entsenden. Stattdessen publizierte sein geschäftsführender Vorsitzender Dr. Wolfgang Schütz eine kurze Einführung in seiner gerade veröffentlichten Denkschrift zur »Reform der Deutschlandpolitik«.26 Das Seminar verlief daher anders als geplant: Die Inhalte, für die man sich Referenten der offiziellen Stellen gewünscht hatte, wurden anhand von Veröffentlichungen so weit wie möglich selbst erarbeitet und diskutiert. Peter Norden, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, Abgeordneter der Volkskammer und des Nationalen Verteidigungsrat der DDR, verfügt worden sein, siehe AdJb, N 126, Schreiben vom 19. 03. 1965 von Renate Rosenau an die Hessische Landjugend beim Versand des Berichts. 25 AdJb, N 126, Bericht (Anm. 22), S. 31. 26 Wolfgang Wilhelm Schütz: Reform der Deutschlandpolitik, Köln 1965.

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Hornberger, Jugendpolitischer Arbeitskreis der Evangelischen Kirche in Hessen, berichtete über den Besuch einer evangelischen Gruppe in der DDR und deren FDJ-Kontakte. Ein anschließendes gemeinsames Seminar über den Nationalsozialismus in Höchst und Eisenach wurde von DDR-Behörden verhindert. Horst Wilhelms schilderte unter dem Titel »Amtliches Westdeutschland und Ostkontakte der Jugend« eine fehlgeschlagene Oberhausener Begegnung junger Arbeitnehmer aus der Bundesrepublik und der DDR am 28. August 1965 unter dem Motto: »Diese Zeit – unsere Zeit verlangt Deutschlands Initiativen der Jugend«, bei der die FDJ-Teilnehmer auf Anordnung des Oberstaatsanwaltes förmlich festgenommen, abgeführt und am nächsten Tag abgeschoben worden waren. Martin Stankowski von der Quickborn-Jugend im Bund der deutschen katholischen Jugend hielt einen Vortrag zum Thema »Mit jungen Katholiken zur Information in die DDR«. Der Jugendbund Junge Adler informierte über »Informationsreisen in die DDR ohne FDJ-Kontakte« und Jochen Franke berichtete über die Begegnung des SjB mit der FDJ in Leipzig und Tabarz. Das Seminar teilte dem gesamtdeutschen Ministerium schließlich folgende »Überlegungen« als Tagungsergebnis mit: »Wir regen an, daß das Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen ein gemeinsames Informationsgespräch führt mit Vertretern der verschiedenen Gruppierungen, die in den vergangenen Jahren wesentliche Begegnungen privater und offizieller Art mit der mitteldeutschen Jugend durchgeführt haben. Hierbei sollten alle gemachten Erfahrungen gesammelt, ausgewertet und mit den Vorstellungen des Ministeriums in Beziehung gesetzt werden. Wir wären gerne bereit, Ihnen eine Zusammenstellung hierfür infrage kommender Gruppen und Personen zu Ihrer Verfügung zu halten. Wir sind der Meinung, daß die von Ihnen immer wieder (von Herrn Dr. Mende zuletzt in der Südfunk-Fernsehsendung »Report« am 22.11.) angeregte Verstärkung der Jugendkontakte im geteilten Deutschland dringend einer gemeinsamen Aussprache mit Ihnen bedarf. Gangbare Wege für solche Kontakte können wohl am besten konzipiert werden auf Grund praktischer Erfahrungen.«27

Nach meinen Unterlagen gab es daraufhin keine Einladung zu dem vorgeschlagenen Gespräch. Das Thema deutsch-deutscher Kontakte wurde in der überbündischen Arbeit des Seminars Teil der folgenden deutschlandpolitischen Veranstaltungen und darüber hinaus von einer Reihe von Bünden in regionaler Zusammenarbeit aufgegriffen.28

27 AdJb, N 126, Ludwig Gernhardt, Vorbereitungskreis, am 07. 12. 1965 an das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, geleitet von Erich Mende. 28 So berichtete Gerhart Schöll über die Teilnahme von Mitgliedern der Jungen Bünde am Arbeiterjugendkongress in Karl-Marx-Stadt im Herbst 1966.

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Bildung und Erziehung als Themenschwerpunkt des Seminars junger Bünde Die Bundesführerversammlung hatte im März 1964 als zweiten aktuellen Schwerpunkt »Fragen der inneren Schulreform« als Thema des 6. Seminars Junger Bünde am 14. bis 16. Mai 1964 in Kronberg gewählt. Anlass dazu gab die wachsende Verdrossenheit mit dem Schulleben und der bundesdeutschen Bildungspolitik. Hannes Beck und Heiner Zeller übernahmen die Vorbereitung. Als Referenten gewannen sie mehrere Hochschullehrer, Personen in leitenden Funktionen, die schon zur Jugendbewegung publiziert hatten und Lehrer mit Reformerfahrung. Das Podiumsgespräch, an dem außer den genannten Referenten auch Prof. Karl Seidelmann (1899 – 1974, Deutsche Freischar sowie von den Jungen Bünden Helmut Reiser und Hermann Diehl unter Leitung von Diethart Kerbs teilnahmen, bereitete ein Plenum vor, das vier Forderungen zur inneren Schulreform formulierte: (1) Ziele des Unterrichts, (2) Notwendigkeit der Schaffung äußerer Voraussetzungen für innere Arbeit, (3) Sozialerziehung – ein ungelöstes Problem und (4) Die Position des Lehrers und die Vorbildfrage. »Da die Einstellung zu den vielen Fragen der inneren Schulreform nicht in einem Wochenendseminar erarbeitet werden kann, sondern der dauernden Auseinandersetzung bedarf, legen wir diesmal das Protokoll in einer Form vor, die, wie wir meinen, bei der vertiefenden Auseinandersetzung behilflich sein kann.«29 Als wenige Monate später die Artikelserie »Die deutsche Bildungskatastrophe« eine öffentliche Diskussion über die Bildungsfinanzierung und die Chancenungleichheit auslöste, beteiligten sich zahlreiche bündische Gruppierungen an den bundesweiten Protestdemonstrationen der Studenten bei der »Aktion 1. Juli 1965«.30 Das SjB führte diese Thematik in Seminaren weiter. Im Juli 1967 ging es um Modelle die Waldorf- und die Montessorischulen, 1968 um die Krise der Demokratie in der Bundesrepublik und unter der Frage »Fördern oder hemmen die Bünde die Unruhe unserer Zeit?« um die die aktuelle Lage der Jugendbewegung – Jugend in Bewegung. Im März 1970 schließlich stand das Thema »Gruppe, Umwelt, Erziehung« auf dem Programm.

29 AdJb. N 126, Hannes Beck und Heiner Zeller im Vorwort des Protokolls. 30 Vgl. Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Freiburg im Breisgau 1964.

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Das Musische als Themenschwerpunkt des Seminars junger Bünde Auf vielfachen Wunsch der Bundesführer war das 8. Seminar junger Bünde dem »Liedgut und Singen der Bünde heute« gewidmet. Es fand unter Leitung von Gerhard Neudorf im Oktober 1966 auf Burg Ludwigstein statt. Eingeladen waren zudem »Liedexperten« der Bünde, um mit anerkannten Singeleitern »gemeinsam zu arbeiten, ihre Vorstellungen zum Singen heute zu hören und den Versuch zu machen, in Arbeitsgemeinschaften unser Liedgut kritisch zu prüfen.« Eine erfreulich große Zahl von namhaften Singeleitern aus dem Bundesgebiet hatte ihr Kommen zugesagt: Sepp Gregor, Gerd Watkinson, Rudi Rogoll, Helm König sowie aus den jungen Bünden Susanne Böcker und Christof Stählin. Aufschluss über das Liedgut und die Singepraxis sollte ein Fragebogen bringen, der den Teilnehmern von der Vorbereitungsgruppe vorab mit folgenden Fragen worden zugesandt war : »Nennt die zehn z. Zt. am häufigsten in Eurem Kreis gesungenen Lieder! Welche mehrstimmigen Lieder? Ausländischer Folklore? – Welche Lieder sind bei Euch verpönt und aus welchen Gründen? – Welche Liedgruppen werden bei Euch bevorzugt (Auswahlliste)? Gibt es ein Bundeslied? – Warum fanden diese Lieder Eurer Meinung nach besonderen Anklang? Entstanden in den letzten Jahren in Eurem Bund neue Lieder?« Es kamen zwar nur vierundzwanzig Rückläufe, aber die Antworten waren breit gestreut und ließen keine Tendenz erkennen. Was die einen bevorzugten, war bei anderen verpönt. Die höchste Zahl der Ablehnungen bekamen »Negeraufstand ist in Kuba« und »Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren« (jeweils dreizehn Stimmen), dicht gefolgt von »Wir lagen vor Madagaskar« und »Am Brunnen vor dem Tore« (jeweils zwölf) – dies mit Begründungen wie: zu oft gesungen, Bildersprache der Vergangenheit, Schullied, sentimental-kitschig, banal, unechte Identifikation, hochtrabend, überdrehte Fahrtromantik. Dagegen fanden die reflektierenden Gespräche über das Singen in den Bünden großen Anklang, und die Referate kamen gut an: Helm König sprach über »Das Singen im 20. Jahrhundert«. Er charakterisierte die Gründe für die Bevorzugung bestimmter Liedgattungen in ihrer Zeit – Volkslied, politisches Lied, die die Gemeinschaft überhöhenden Wir-Lieder, die ausländische Folklore – und erklärte ihre Wirksamkeit an einem System aus Primärschicht (Singen aus vollem Herzen, Gemeinschaftsbewusstsein) und einer Sekundärschicht (Überbau, Kunstwert, ästhetische, politische und andere Absichten). Sepp Gregor erläuterte Motive für das Singen ausländischer Lieder und mahnte, dass sie sprachlich verstanden werden müssten, um eine Einheit von Melodie und Text zu erreichen. Kritisches Bewusstsein weckten die Ausführungen über Lieder, die in der Zeit des Nationalsozialismus hoch im Kurs standen. In einer Ausstellung beeindruckten Zahl, Vielfalt und bei einigen die Gestaltung bündischer Liederblätter und -bücher.

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Nach diesem Seminar lud der Ring junger Bünde mehrmals zu Singetreffen mit Singewettstreiten ein, zunächst im Februar 1967, dann 1968 auf Burg Ludwigstein. Auch beim internationalen Lager des RjB »europolis« im August 1967 auf dem Hohen Meißner gab es das.31 Das Seminar Junger Bünde lud zudem im November 1969 zu einem musischen Seminar in den Jugendhof Bessunger Forst ein – gerichtet an alle, die eine Gruppe führten oder mitgestalteten: »Wir bauen selbst Lieder – drucken eine Stadt – formen eine Freiplastik aus Schrott – tanzen – planen Fahrten – spielen Theater …«.

»Dritte Welt« als Themenschwerpunkt des Seminars junger Bünde Dieses Thema wurde unter der Überschrift »Junge Bünde und Entwicklungshilfe« erstmals beim 9. Seminar im November 1966 unter der Leitung von Eike Rachor aufgegriffen. Nach der Gründung des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) 1963 wuchs das Interesse junger Menschen an diesem Freiwilligendienst, der anerkannten »Kriegsdienstverweigerern« als Alternative angeboten wurde. Die Junioren des Boberhauskreises hatten seit 1962 Erfahrungen bei längeren Aufenthalten in Südeuropa gewonnen, u. a. in Süditalien und Sizilien 1962, 1964 und 1966 sowie Griechenland 1965. Darauf baute das Seminar auf: »Das Seminar soll dazu dienen, der Mannschaft der Bünde einen Arbeitsbereich zu erschließen, der große und sinnvolle Aufgaben bietet. Der Boberhauskreis, und in Zusammenarbeit mit ihm auch die Saarbrücker Mannschaft der Deutschen Freischar, haben auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe schon beachtliche Arbeit geleistet, die für ähnliche bündische Unternehmungen richtungweisend sein kann.«32 Ziel war die Erarbeitung einer Konzeption für die weitere Arbeit. Dies Seminar bildete den Auftakt nicht nur zu überbündischen, sondern auch zu verbandsübergreifenden Kooperationen. Boberhauskreis, Dienste in Übersee, die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD) und der Ring jünger Bünde gründeten noch im Winter 1966 den Arbeitskreis Entwicklungshilfe (AKE) mit Sitz auf dem Jugendhof Vlotho und entwarfen ein Konzept für »Informationsseminare« mit mehrwöchigen Aufenthalten in Ländern der »Dritten Welt«, die sprachlich und entfernungsmäßig erreichbar waren.33 Der Anspruch der tätigen Mitarbeit, die der Boberhauskreis noch umgesetzt hatte, war jedoch für die drei- oder vierwöchigen Seminare des AKE im Gastland zu hoch und 31 Von dem Singetreffen im Februar 1967 ist eine Tonbandaufnahme in meiner Sammlung erhalten. 32 AdJb, N 126, Einladung vom 01. 11. 1966. 33 Der AKE gründete sich 1975 als Arbeitskreis Entwicklungspolitik e. V. um und ist bis heute ein etablierter Träger bildungspolitischer Jugendarbeit.

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wurde zugunsten von Hospitationen in Projekten aufgegeben. Im Vordergrund stand die Gewinnung von Einsichten in die Zusammenhänge der Entwicklungspolitik. Das Konzept dieser »Informationsseminare« stellte hohe zeitliche und inhaltliche Anforderungen: Nach einem mehrtägigen Grundlagenseminar konnten sich die Teilnehmer für ein mehrwöchiges Seminar im Ausland, zunächst in Tunesien, bewerben.34 Bei einem Vorbereitungswochenende über das Gastland bildeten sich Kleingruppen zu Themen wie Politik, Bildung, Landwirtschaft, Industrie, Tourismus. Dabei wurde auf die Mischung der Gruppe geachtet: Erforderlich waren sowohl französische Sprachkompetenz als auch fachliche Erfahrungen, denn nach einer Rundreise zu wichtigen Gesprächspartnern in der Hauptstadt (Ministerien, Botschaft) und Projekten im Land teilten sich die Kleingruppen zu selbstständiger Recherchearbeit auf und waren zumeist bei (deutschen) Entwicklungsprojekten zu Gast. Ein Leitungsteam in der Hauptstadt koordinierte die Gruppen und ihre Wünsche, z. B. die Genehmigung von Besuchen in staatlichen Einrichtungen irgendwo im Land. Eine erste Auswertung fand noch im Gastland, eine weitere nach der Rückkehr in Deutschland statt. Die Berichte erschienen als broschiertes Buch. Diese Seminarform erkannte das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit auch als geeignete Vorbereitung für junge Männer an, die anstatt des Wehrdienstes Entwicklungsarbeit leisten wollten.

Bündische Zerreißprobe und das Wesen der Jugendbewegung »Wer über die Berechtigung von bündischen Gruppen diskutieren will, beweist doch damit nur, dass er bündischer Führer ist und dass er vom Wesen der Jugendbewegung auch nicht die leiseste Ahnung hat. […] Gewiss werden am 15./16. November einige Leute im Bessunger Forst zusammenkommen, die keine Gruppen mehr führen und daher Zeit für derlei Veranstaltungen haben. Du kannst sicher sein, keinen unserer aktiven Führer dort anzutreffen; die führen nämlich ihre Gruppen, diskutieren aber nicht darüber.«35

Die Arbeitsform »Seminar« war und blieb, wie das Zitat belegt, zwischen den Bünden umstritten. Einige Bünde oder Teile von ihnen lehnten sie als überflüssig, problematisch, zu studienrätlich, als eine nicht dem Leben in den Bünden gemäße Arbeitsform ab. Dementsprechend beteiligten sich nicht alle Bünde an den Seminaren, auch nicht an den ersten Meißnerseminaren, in denen 34 Die Seminare wurden vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert, das für südeuropäische Länder nicht zuständig war. 35 AdJb, N 126, Martin Götze (Nerother Wandervogel), zitiert von Gerhard Neudorf in der Einladung zum Vorbereitungsgespräch vom 23. 06. 1969.

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die geplante Grundsatzerklärung inhaltlich vorbereitet wurde. Sie sollte aber das gemeinsame Selbstverständnis aller jungen Bünde repräsentieren. Als die Unruhen der späten 1960er-Jahre weite Teile der Jugend erfassten, war von einer »Zerreißprobe« der jungen Bünde die Rede. Das Osterseminar vom 11. bis 15. April 1968 zum Thema »Die Krise der Demokratie am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland« im Bessunger Forst hatte durch die Osterunruhen aktuelle Brisanz erhalten: Am 11. April wurde Rudi Dutschke angeschossen. Daraufhin hatten Studenten die Auslieferung der Zeitungen der Springerpresse blockiert, die harte Maßnahmen gegen die »Rädelsführer« gefordert hatte. Ein Seminarteilnehmer berichtete als Augenzeuge von den bisher schwersten Ausschreitungen. Die Diskussion um mögliche Standpunkte und Reaktionen ging tage- und nächtelang und setzte sich in den Bünden fort. Gab es noch ein gemeinsames Selbstverständnis im Ring junger Bünde? Ging es um einen Rückzug auf die »eigentliche bündische Arbeit« oder um ein gesellschaftliches Engagement? Klärung suchte der Ring junger Bünde im Herbst 1968 beim 13. Seminar : »Jugendbewegung – Jugend in Bewegung? Fördern oder hemmen die Bünde die Unruhe unserer Zeit?«. Ausgehend von der Grundsatzerklärung zum Meißnertag 1963 diskutierte zunächst ein Podium, moderiert von Dr. Fritz »Doc« Krapp, Deutsche Freischar, mit den Teilnehmern über »Bündisches Establishment: Wie retten wir unsere Pimpfe vor der Politik? Horte als Bewahranstalt oder Medium der Konfrontation? Welchen Stellenwert hat unsere Tätigkeit in Bund und Gruppe im gesellschaftlichen Engagement der Jugend?«. Anschließend sollten Möglichkeiten gesellschaftlichen Engagements erarbeitet und Themenbereiche für folgende Seminare vorbereitet werden. Das Ergebnisprotokoll liegt mir jedoch nicht vor, deshalb endet hier mein Bericht über die Arbeit des Seminars junger Bünde als einer Plattform der damaligen jungen Bünde für Meinungsbildung und gemeinsames Handeln.

Einige persönliche Einschätzungen und Erfahrungen Die im Hinblick auf unsere Archivtagung eingeforderte Einschätzung aus der Distanz von einem halben Jahrhundert – mehr als der Hälfte meines Lebens – fällt mir schwer. Zwar war mein Lebensweg in Beruf und bürgerschaftlichem Engagement von Aktionen in und mit Gruppen und Teams geprägt und in anderen Zusammenhängen wieder überregional vernetzt, wobei mir meine bündischen (Seminar-)Erfahrungen zu Gute kamen. Mit den meisten Bekannten und Freunden aus dieser Zeit schwand jedoch mein Kontakt im Laufe der Jahre und damit die Möglichkeit, dass eine personenübergreifende Einschätzung in gemeinsamer Reflexion hätte reifen können. Das Wachsen eines überbündischen Selbstverständnisses: Kleine, überseh-

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bare sprachliche Veränderungen kennzeichneten den Annäherungsprozess, den bereits das erste zweitägige überbündische Seminar bewirkte: Die in der Einladung gewählte Bezeichnung »Jungenbündeseminar« hatte zunächst der Unterscheidung von den Vorbereitungen des Jubiläumsprogramms der »älteren Bünde« gedient, die sich in eigenen Gesprächsrunden trafen. Sie zeigt aber auch, dass die Vorbereitungen von den Bünden männlichen Geschlechts ausgegangen waren. Die kleine Wortänderung von »Jungenbünde« in »junge Bünde« markiert daher auch die wachsende gegenseitige Wahrnehmung der Vielfalt, hier der sogenannten »reinen Jungenbünde« und der gemischten, manchmal als »unrein« ironisierten geschlechtsgemischten Bünde. Im ersten und in den folgenden Seminaren spielte diese Unterscheidung keine Rolle, jedoch anfangs bei den Organisatoren des Meißnerlagers. Sie hatten das Kohtenlager auf der Hausener Hute zunächst nur für Jungen vorgesehen, für die Mädchen dagegen Unterkunft in festen Häusern in Bad Sooden-Allendorf geplant, was nicht nur fürsorglich gemeint war. Sie befürchteten nämlich eine negative öffentliche Reaktion: »Wie sieht es denn aus, wenn das Fernsehen filmt und Mädchen aus den Kohten kommen?« Aber auch in der Runde der Bundesführungen stellte sich nach einem erregten Wortwechsel schließlich die gegenseitige Akzeptanz in dieser Frage ein, auch wenn ihre Sprache, z. B. Mannschaft, Jungmannschaft, Führer der Bünde noch lange männlich geprägt war. Mit dem Meißnertag verschwanden diese Vorbehalte jedoch. Arbeitsformen: Das Seminar verstand sich als selbstverwaltetes Organ und hatte, wie bündisch üblich, keine eigene formale Grundlage, keine Satzung, keinen Kooperationsvertrag. Das informelle Netzwerk, das sich zwischen Personen der Bünde gebildet hatte, war aber eine Zeit lang stabil, jedenfalls so lange, wie die jungen Menschen, meist in Ausbildung und erst wenige in Berufsarbeit und Familie, den nötigen zeitlichen Spielraum hatten. Die Arbeit des Seminars ergab sich aus den Protokollen der vorangegangenen Seminare und den Aufträgen der Bundesführerversammlung. Lediglich im Sommer 1964, als die Planung eines gemeinsamen Seminars mit der FDJ Leipzig einen auch formell fassbaren Partner in der Bundesrepublik plötzlich notwendig machte – zwei Jahre vor der formellen Gründung des »RjB e. V.« –, wurde ein Briefkopf »Seminar junger Bünde« entworfen und über Nacht gedruckt.36 Dieser scheinbar formelle Charakter des Seminars beschränkte sich jedoch auf diesen Briefkopf, dessen Anlass – die grenzüberschreitende deutsch-deutsche Jugendbegegnung – nicht einmal ein Jahr lang dauerte.37 Beim Vergleich der Einladungen zu den 36 Volker Neumann (deutsche reform-jugend), Drucker, hatte von seinem Chef die Erlaubnis zu dieser nächtlichen Arbeit erhalten. 37 AdJb, N 126, Briefkopf auf einem Schreiben vom 03. 02. 1965, im Protokoll des 5. Seminars junger Bünde.

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Seminaren fällt auf, dass sich die Bezeichnung »Seminar junger Bünde« nur kurze Zeit hielt, von 1964 bis 1968. Auch nur in diesem Zeitrum wurden die Seminarprotokolle als broschierter Druck im DIN-A4-Format herausgegeben und über den Teilnehmerkreis hinaus verteilt. Danach luden ein: Arbeitskreis überbündischer Seminare im RjB (1967), Seminare im Ring junger Bünde (1968), dann nur noch der Ring junger Bünde (1970). Überbündische Impulse: Der Wirkungshorizont umfasste nicht nur Seminare und den Ring junger Bünde, sondern auch eine Vielzahl weiterer Aktivitäten. Gemeinsam war ihnen der überbündische Anspruch, getragen von personeller Vernetzung. Aus dem Spektrum dieser Meißnerfolgen nenne ich folgende Initiativen: Ein Beispiel regionaler, überbündischer Arbeit waren die Seminare, zu denen die Deutsche Gildenschaft Bünde des Frankfurter Raumes eine Zeit lang in die Landvolkshochschule nach Friedrichsdorf einlud. Sie erarbeiteten in einer Reihe von Seminaren die Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn. Hinzu kamen Instrumentenbauwochen, organisiert vom Wandervogel Deutscher Bund und von der deutschen reform-jugend – sie lockten nach Bündheim im Harz. Überregionale Langzeitwirkung ging zudem von den folgenden überbündischen Initiativen aus: Mit den Festivals »Chanson Folklore International«, gegründet 1964 von einem studentischen Arbeitskreis der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck, begannen die Open–Air-Konzerte in Deutschland. Der Arbeitskreis Entwicklungspolitik, der sich 1975 als AKE-Bildungswerk eine neue Struktur gab, leistet bis heute entwicklungspolitische Bildungsarbeit.

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Johann P. Moyzes (mit einem Beitrag von Hermann Diehl)

Die Kontroverse im Bund Deutscher Pfadfinder um die Teilnahme am Meißnertreffen 1963. Spuren im Schrifttum des BDP »Zum Freideutschen Jugendtag wird die Landesmark eine starke und gut gerüstete Abordnung entsenden, um für das Zusammentreffen mit gehässigen Reportern, hochgestochenen Bündischen und knorrigen Urwandervögeln gewappnet zu sein und gleichzeitig zu beweisen, daß die Pfadfinderei ihren rechtmäßigen und ansehnlichen Platz in der deutschen Jugendbewegung gefunden hat.« BDP-Landesmark Hessen im September 19621

Obwohl der Inhalt dieser Zeilen humorvoll klingt und ironisch gemeint sein könnte, ist es doch erstaunlich, welche »ernsthaften« Wirkungen die Ankündigung, am Freideutschen Jugendtag 1963 auf dem Hohen Meißner teilnehmen zu wollen, im BDP hervorgerufen hat, denn sie sollte im BDP ab Ende 1962 zu ausführlichen und kontroversen Stellungnahmen führen. Dabei ging es um »grundsätzliche« Überlegungen zur Jugendbewegung, zum Meißnertreffen und zur Meißnerformel, zum »Bündischen« und »Jungenschaftlichen« sowie zum Konzept des »Pfadfinderischen«. Alles wurde etwa ein Jahr lang zwischen den beiden »Gegnern« – der Führung des BDP Hessen und der BDP-Bundesführung – vor allem im Schrifttum des BDP ausgetragen und führte auch zu entsprechenden Schriftwechseln. Die nachfolgende Darstellung folgt weitgehend dem »Schlagabtausch« zwischen den Kontrahenten. Kurz zum äußeren Ablauf der Kontroverse: Unmittelbar, nachdem die BDPLandesmark (LM) Hessen im Frühherbst 1962 die Entscheidung für eine Teilnahme am Meißnertreffen getroffen hatte, begann daran die Kritik durch die BDP-Bundesführung. Darauf reagierte wiederum die BDP-LM Hessen. Anfang März 1963 akzeptierte dann zwar das BDP-Bundesthing2 die Teilnahme der BDP1 Begründung des Beschlusses der LM Hessen des BDP vom 22./23. September 1962 unter dem Tagesordnungspunkt »Die Landesmark plant für die nächste Zeit […] eine Teilnahme an der Jubelfeier zur Erinnerung an den Freideutschen Jugendtag auf dem Meißner 1913«. – Archiv des BdP-Hessen Kronberg (ABdPHess), H/6.3/18.1, Protokoll des Landesthings vom 22./ 23. September 1962, veröffentlicht im 5. Rundbrief, Oktober 1962, S. 1. – Für den Hinweis darauf bedanken wir uns bei Ralf »Duden« Schröder. 2 Erklärungen: Landesmark = Landesverband; Landesthing: Versammlung des Landesfeldmeisters (LFM) mit allen regionalen und örtlichen Feldmeistern = Gruppenführern; Bun-

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LM Hessen am Meißnertreffen, doch wurden im Frühjahr und Sommer 1963 seitens der BDP-Bundesführung im Schrifttum des Bundes Gründe für eine Ablehnung der Teilnahme am Meißnertreffen ins Feld geführt. Dies veranlasste wiederum die BDP-LM Hessen, ihrerseits Gegenargumente zu publizieren. Selbst nach dem Meißnertreffen setzte sich am Jahresende 1963 die Debatte über das Für und Wider in den BDP-Zeitschriften fort. Den Spuren dieser Auseinandersetzungen wird im Folgenden nachgegangen, ehe abschließend mögliche Motive der BDP-Bundesführung für die Ablehnung erörtert werden sollen. Die Darstellung wird im Anhang ergänzt durch spontane Erinnerungen des Zeitzeugen Hermann Diehl.

Die Entscheidung der BDP-LM Hessen für eine Teilnahme am Meißnertreffen 1963 Bereits zu Beginn des Herbstes 1962 entschied sich das Landesthing der BDP-LM Hessen unter dem Stichwort »Die LM plant für die nächste Zeit« die »Teilnahme an der Jubelfeier zur Erinnerung an den Freideutschen Jugendtag auf dem Meißner 1913.«3 Zur Begründung diente die eingangs zitierte Erklärung.4 Diese Entscheidung der LM ist sehr wahrscheinlich unmittelbar darauf dem Bundesfeldmeister5 Jochen Senft schriftlich mitgeteilt worden. Offenbar hat Jochen Senft dazu dann in einem nicht mehr erhaltenen Brief an den Landesfeldmeister der LM Hessen, Peter Franke, Stellung genommen. In einem Schriftwechsel zwischen Jochen Franke und Peter Franke ab Ende September wird ein entsprechendes Schreiben von Jochen Senft erwähnt. Jochen Franke teilte Peter Franke mit, dass er »Jochen Senft eine grundsätzliche Antwort zu seinen Überlegungen geben« wolle. Dessen Gedanken seien »teilweise wenig einleuchtend, zu theoretisch und zu wenig wagend.«6 Demgegenüber vertrat Peter Franke eine gegensätzliche Meinung:

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desthing: Versammlung des Bundesfeldmeisters (BFM) mit allen LFM. Zum Begriff des LFM vgl. Anm. 5. Wie Anm. 1. Ebd. Der Begriff »Feldmeister« wurde in Anlehnung an den englischen Begriff »Scoutmaster« seit 1911 im Deutschen Pfadfinderbund (DPB) verwendet. Traditionell wurde er nach 1945 im BDP und anderen Pfadfinderbünden übernommen. Bundesfeldmeister (BFM) = Bundesführer bzw. Bundesvorsitzender. Landesfeldmeister (LFM) = Landesführer = Landesvorsitzender. Zur Begrifflichkeit siehe AdJb, A 214 (ZAP), Nr. 311, Bundesverfassung und Bundesordnung des BDP, beschlossen auf dem Bundesthing 1952 auf Burg Ludwigstein. ABdPHess, H/6.3./18.2, Schriftwechsel Peter Franke A–M.

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»Jochen Senfts Brief halte ich gar nicht für so zurückhaltend und theoretisch. Ich glaube, wenn wir dort in der geplanten Form auf dem Meißner auftreten, dann deckt sich das durchaus mit Jochens Vorstellungen und scheint mir nebenbei durchaus geeignet, bei den ausgetretenen Bündchen ein wenig Marktforschung wegen einer Rückkunft zum BDP zu treiben. Solche ›Heim in den Bund‹-Bewegungen kommen zwar nicht spontan, da sind die Führer der Bünde viel zu eigenwillig, aber man könnte mit den von uns mitgebrachten Führerkreisen durchaus die Vorurteile abbauen, der BDP sei ein engherziger Scoutistenklub.«7

Peter Franke gab Jochen Franke für sein Vorhaben daraufhin den Ratschlag: »Taktisch wäre es vielleicht gegenüber Jochen am besten, wenn Du gar nicht so sehr seine Einstellung aufs Korn nimmst, sondern Deine Vorstellungen und die Stimmung der LM vorträgst und um eine Stellungnahme bittest. Dann fühlt er sich nicht übergangen und kommt auf der anderen Seite auch nicht auf die Idee, die LM könnte dort den Bund verleugnen wollen.«8

BDP-Bundesthing: die Diskussion und der Beschluss für eine Teilnahme der BDP-LM Hessen am Meißnertreffen 1963 Mitte Januar 1963 ging beim BFM Jochen Senft ein Antrag der LM Bremen, unterschrieben von LFM Paul Wilms an das Bundesthing mit der Bitte ein, zum Meißnertag 1963 eine Stellungnahme abzugeben. Zur Begründung wurde ausgeführt: »Es ist im BDP bekannt, dass im Anschluss an ein Treffen bündischer Gruppen ein gemeinsames Kohtenlager am Meißner vom 10.–14. 10. 1963 unter organisatorischer Leitung von Horst Schweitzer, Pfadfinderbund Großer Jäger ; Jochen Franke, BDP LM Hessen, und Herman Diehl, Jugendburg Ludwigstein, durchgeführt werden soll.«9 Dieser Antrag führte auf dem BDP-Bundesthing in Lichtensee/Hoisdorf im März zu kontroversen Diskussionsbeiträgen. »Jochen Senft führt dazu aus, dass an dem Lager der jungen Bünde maßgeblich auch solche Bünde teilnähmen, die sich vom BDP getrennt hätten und durch ihre notorisch negative Haltung gegenüber dem BDP es diesem unmöglich machten, mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Daher habe er gegen die Teilnahme der LM Hessen, die er sowieso nicht verhindern könne, nichts einzuwenden. Der Bund könne aber offiziell nicht teilnehmen. 7 Von Beginn an standen der Pfadfinderbewegung in Deutschland entsprechende Vorurteile gegenüber. – Vgl. Johann P. (Hannes) Moyzes: Kurzberichte über das Seminar »Tradition und Fortschritt … im BDP« sowie die Referate »Der BDP und das Bündische« und »Der BDP und das Scoutistische«, in: Stichwort, 2000, Heft 2, S. 28 – 35 sowie Heft 3, S. 36 – 41. 8 ABdPHess, H/6.3./18.2. 9 AdJb A 202, Nr. 202, Anlage 1 zum Protokoll des Bundesthings. – Dokumentation der Diskussionsbeiträge ebenda: Auszug aus dem Protokoll des Bundesthings in Lichtensee/Hoisdorf vom 02. – 03. 03. 1963, S. 11 f.

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Hermann Diehl stellt richtig: Es sei leider weit verbreitet der Eindruck entstanden, dass einige kleine Bünde (und besonders Absplitterungen des BDP) das Meißnerfest als Plattform benutzten, um anerkannt und legalisiert zu werden. Die Entwicklung widerlege aber diese Version; auf Einladung des Freideutschen Kreises und der Ludwigstein-Vereinigung seien bereits im Oktober 1960 Vertreter von Bünden und Gemeinschaften der alten und jungen Generation zur Vorbereitung des Meißnerfestes zusammengekommen (bis zur Stunde etwa 50). Für den Part, den die jungen Bünde übernommen hätten, hätte sich bald aufgrund der Gegebenheiten ein Organisationsausschuss herausgebildet, und zwar aus den drei örtlichen Führern H. Schweitzer, J. Franke und ihm selbst. Es sei Unfug, daraus mehr zu entnehmen als die Absicht, gemeinsam ein eindrucksvolles bündisches Lager durchzuführen. Es ginge dabei allenfalls noch darum, für eine gemeinsame große Sache über die kleinlichen Differenzen hinwegsehen zu können. Kajus Roller stellt fest, dass es unbündisch sei, ein Jubiläum zu feiern. Hermann Diehl macht klar, dass es den Veranstaltern des Meißnerfestes nicht darauf ankomme, ein Jubiläum zu feiern. Man wolle fragen, was man in der Jugendbewegung geleistet habe, aber auch was man schuldig geblieben sei und ob sich aus den Erkenntnissen und Erlebnissen der Jugendbewegung auch heute noch ein gültiger, zukunftsträchtiger Sinn ergäbe.« Jochen Senft meint, dass auf dem Treffen Pfadfindertum nicht gefragt sei. Er stellt den Antrag, dass der BDP offiziell nicht am Meißnertreffen teilnimmt, wobei der LM Hessen die Teilnahme unbenommen bleibe. Hans J. Pootemans meint, dass die LM Hessen, wenn sie mit Billigung des Bundes am Meißnerfest teilnähme, dann den Bund vertreten oder, wenn der Bund nicht teilnehmen wolle, der LM Hessen die Teilnahme ausdrücklich untersagt werden müsse.«

Schließlich kam es dann mit fünfzehn Ja-Stimmen, einer Enthaltung und drei Gegenstimmen zu folgendem Beschluss: »Gemäß den schriftlichen Vereinbarungen zwischen dem BFM und der LM Hessen nimmt diese am Meißnerfest 1963 teil.«10

10 Ebd.– Stimmberechtigt waren der BFM sowie 19 LFM (bzw. deren Vertreter). – Ebd., S. 16. An dem BDP-Bundesthing nahm sowohl Jochen Franke (ohne Stimmrecht) als Referent der Bundesführung für die Kriegsgräberfürsorge als auch Peter Franke (mit Stimmrecht) als LFM der LM-Hessen teil.

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BDP-Bundesführung: Argumente gegen eine Teilnahme am Meißnertreffen 1963 Unmittelbar nach dem Bundesthing eröffnete Jochen Senft im März 1963 in der Informationsschrift »BRIEFE 76« mit dem Leitartikel »,Sankt Georg‹ 1963« eine Reihe von Stellungnahmen der Bundesführung des BDP gegen das Meißnertreffen 1963.11 In dem Text über den internationalen Schutzpatron der Pfadfinder St. Georg stellt er den St.-Georgstag dem Meißnertag entgegen: »In diesem Jahr steht der Georgstag im Gegensatz zum 13. Oktober, dem Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und der Meißner-Formel 1913. […] Der Blick unserer Feier am 23. April geht hinaus über unsere Grenzen, in alle Welt und hinaus in die Zukunft, während sich am 13. Oktober der Blick in die Vergangenheit senken muss und in Gefahr steht, sich wieder einmal auf ›deutsches Wesen‹ zu begrenzen. Niemand leugnet, dass wesentliche Merkmale unseres Bundes aus der Jugendbewegung am Anfang dieses Jahrhunderts herrühren. Wir bestehen aber darauf, uns nicht auf das Datum 1913 festlegen zu lassen, zumal die Meißnerformel […] schon zu ihren Lebzeiten unter den Jugendbewegten höchst unklar und umstritten war. Wir können es einfach nicht dulden, dass unser Bund zu einem Museum der Sehnsüchte der Väter und der Alten wird. […] Der Georgstag weist uns in die Zukunft. Der Meißnertag dagegen weist uns in die Vergangenheit und überkleidet uns mit etwas Fremden, das wir nicht mehr sind.«12

Anschließend folgt in dieser Informationsschrift unter der Überschrift »Meißnertag 1963. Die Bundesführung ist skeptisch« noch die folgende Erklärung: »An dem Meißnertreffen im Herbst 1963 nimmt die Landesmark Hessen auf eigenen Wunsch teil. Die Teilnahme der Landesmark wurde von einem ihrer Führer zugesagt, bevor die Bundesführung gefragt worden war.13 Bundesthing und Bundesführung haben den Schritt der Landesmark Hessen nachträglich gebilligt. Wenn wir nein gesagt hätten, würde es nur neuen Zank und Streit geben. Das ist die ganze Sache nicht wert. Es ist laut Bundesthingbeschluss außer den Hessen niemand berechtigt, für seine Landesmark oder für den Bund zu sprechen. Dagegen ist nicht daran gedacht, einzelnen Pfadfindern den Besuch des Treffens zu verbieten, denn der Bundesführung sind diktatorische Gelüste fremd.«14

11 Jochen Senft: »Sankt Georg« 1963, in: Briefe – Informationsschrift für Feldmeister, Gruppenführer und Rover im Bund Deutscher Pfadfinder, 1963, Heft 76, S. 1 – 3. 12 Ebd., S. 3. 13 Dieser Darstellung wurde von Jochen Franke widersprochen: »Die endgültige Zusage der Landesmark Hessen zur Teilnahme am Meißnertag 1963 erfolgte erst nach Deiner Zustimmung – Brief vom 9. Januar 1963.«, in: Briefe, 1963, Heft 77, S. S. 12 (Hervorhebung im Original). 14 Briefe, 1963, Heft 76, S. 4.

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Jochen Senft wirft anschließend die Frage auf: »Warum verhält sich der Bund Deutscher Pfadfinder als Ganzer zurückhaltend?« und geht ausführlich auf sechs Punkte ein: »Das Treffen verschafft dem Mythos der Meißnerformel […] neue Nahrung.« – Es wird »der Versuch unternommen, die Uhr der Geschichte um fünfzig Jahre zurückzustellen.« – Wir »halten […] uns heute für zu schade, die Komparserie für ein Erinnerungstreffen abzugeben.« – »Der Bund hat sich von dem gelöst, was an der Jugendbewegung idealistisch war.« – »Durch unsere Teilnahme werden wir mit Dingen identifiziert, die unser Bund nicht wünscht und will.« – »Manche hoffen, das Meißnertreffen könnte Bünde mit pfadfinderischen Tendenzen näher zusammenbringen oder gar einigen. Allerdings spricht die Erfahrung dagegen.«15 In den folgenden Nummern der »Briefe« des Jahrgangs 1963 werden von Mitgliedern der Bundesführung weitere Argumente gegen das Meißnertreffen vorgebracht, so von Hans-Gerd Warmann unter dem Titel »Konservierung oder Aufbruch?«: »Der Meißnertag 1963 rückt näher. […] Die Bundesführung unseres Bundes hat eindeutig Stellung bezogen. Und diese Stellungnahme ist richtig. […] Nur fürchte ich, daß es […] dazu kommen wird, eine alte Formel in unsere Zeit hinüberzuretten, eine Formel immer noch als beispielhaft und nachahmenswert hinzustellen […]. Man wird versuchen, den jungen Bünden eine Konserve anzubieten, die schal schmeckt. Darum hüten wir uns vor den falschen Propheten!«16

Und Moritz von Engelhardt stellt die Frage: »Was hatte die Jugendbewegung mit der Meißnerformel zu tun?« und führt dazu aus: »In allen Debatten und Polemiken um das Für und Wider spielt die ›Meißner-Formel‹ eine besondere Rolle. […] Es ist […] zu fragen, ob das, was die Jugendbewegung war und darstellte, im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner sichtbar wurde. Der BDP ist nicht denkbar ohne die Synthese, die sich in den zwanziger Jahren aus scoutistischer Tradition und aus dem Wandervogelerbe ergab. Aber mit der Meißner-Formel und dem Meißner-Fest haben die Einflüsse der Jugendbewegung […] nur sehr wenig zu tun.«17

15 Ebd., S. 4 f. 16 Hans-Gerd Warmann: Konservierung oder Aufbruch?, in: Briefe, 1963, Heft 77, S. 12 – 13, hier S. 12. 17 Moritz von Engelhardt: Was hatte die Jugendbewegung mit der Meißnerformel zu tun?, in: Briefe, 1963, Heft 77, S. 12, S. 14 f.

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BDP-LM Hessen: Argumente für eine Teilnahme am Meißnertreffen 1963 Unmittelbar nach dem Bundesthing und nach den ersten kritischen Stellungnahmen von Jochen Senft zum Meißnertreffen, kam es im April 1963 zwischen Peter Franke und Jochen Franke zu einem weiteren Briefwechsel mit dem Ziel, die Reaktion auf die Vorwürfe Jochen Senfts abzuklären. Peter Franke empfahl Jochen Franke: »Da Jochen Senft auf ideologischem Gebiet ein Fanatiker ist und hier trotz aller Argumente nur Worte und Vermutungen beider Seiten gegeneinander stehen, ohne dass eine Partei die andere überzeugen könnte, sollten wir uns unsere Antwort bis Ende Oktober vorbehalten. Wenn das Treffen so wird, wie wir es uns wünschen und wie Du es in den Vorbereitungen zu lenken suchst, haben wir eine weit bessere Entgegnung als eine logisch noch so fundierte Streitschrift.«18

Demgegenüber äußerte Jochen Franke in seiner Antwort vom 25. April 1963, er sei nicht der Meinung, dass man Jochen Senfts Ausführungen so hinnehmen solle: Die Auseinandersetzung müsse geführt werden und die »BRIEFE« seien die richtige Plattform dafür : »Bleiben seine Feststellungen unerwidert, so entsteht der Eindruck, dass dies die generelle Aussage der BDP ist. Unser Schweigen richtet dann mehr Schaden an, als wir ahnen. Dies ist auch Mennes [d. i. Hermann Diehl, JM] Meinung […]«.19 In der nächsten Ausgabe der »BRIEFE« wurde dann mit der Überschrift »Meißnertreffen 1963« unter der Rubrik »Leserbriefe« eine Stellungnahme von Jochen Franke zu den bisher veröffentlichten kritischen Meinungen zum Meißnertreffen 1963 abgedruckt. Dabei stellte er zunächst richtig: »Die endgültige Zusage der Landesmark Hessen zur Teilnahme am Meißnertag 1963 erfolgte erst nach Deiner Zustimmung [d.i. Jochen Senft, JM] – Brief vom 9. Januar 1963.«20 Dann führt er zu den Beweggründen der BDP-LM Hessen aus, man frage sich dort, »ob die Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse der Jugendbewegung auch heute noch gültig sind. […] Der BDP wäre in seiner Eigenart ohne das Ereignis Jugendbewegung heute nicht denkbar. […] auch die heutige Pädagogik […] [hat] von der Jugendbewegung gelernt. […] Es werden ca. 300 Jungen und Führer der LM Hessen am Meißnertreffen teilnehmen und es mitgestalten.«21 An anderer Stelle geht Jochen Franke noch auf weitere Kritikpunkte ein: »Erinnerung der Alten an Vergangenes? Rechtfertigung der Jugendbewegung? Meißnerformel längst überholt? Was sollen wir da? Es gibt Wichtigeres zu tun […] So und 18 19 20 21

ABdPHess, H/6.3./18.2, Schriftwechsel Peter Franke A–M (Hervorhebung im Original). Ebd. Jochen Franke: Offener Brief an Jochen Senft, in: Briefe, 1963, Heft 77, S. 12. Ebd.

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ähnlich schallt es seit Monaten durch die Lande […] Keiner von uns […] nimmt diese oberflächlichen Äußerungen ernst. Dabei sind wir bei allem, was die Alten tun, sehr kritisch. […] wir [sind] von Anfang an mit dabei, um dafür zu sorgen, dass die Meißnertage 1963 nicht ›Bündischer Zirkus‹ werden, sondern etwas aussagen über die Stellung und Aufgabe der Jugendverbände von heute. […] Es wird an uns liegen, der Öffentlichkeit, den Alten und den anderen Bünden klarzumachen, was der BDP will.«22

Und Peter Franke, LFM der LM Hessen, nimmt wie folgt Stellung: »Auf diesem Lager wird sich die seltene Gelegenheit ergeben, die meisten ›Bünde‹ auf einem Treffen zusammen zu erleben. […] Ich glaube fast, dass sich im Vergleich zum Meißnertag 1913 das Schwergewicht vom Wandervogel auf das Pfadfindertum verlagert hat. Vielleicht gelingt es uns, zusammen mit dem DPB, dem Großen Jäger und den Teilnehmern von CP und DPSG [offiziell nehmen die beiden letzten Bünde nicht teil] diese Vermutung zu untermauern.«23

Folgende Planzahlen zur Teilnahme von Pfadfindern am Meißnertreffen veröffentlichte die BDP-LM Hessen dann im September 1963:24 BDP DPB Großer Jäger Pfadfinderbund Nordbaden Grauer Reiter DPSG Aachen CP Hannover Freie Pfadfinderschaft

300 300 200 45 70 20 10 30

Pfadfinder insgesamt (Plan)

975

Wegen der Auseinandersetzungen um das Meißnerereignis 1963 wandte sich auch Hermann Diehl im Juli an Jochen Senft: »Es ist bedauerlich, dass der BDP sich so widersprüchlich zum Meißnertag verhält, und zwar deshalb, weil man durch die gemeinsame Arbeit die besten Voraussetzungen für ein Gespräch hätte schaffen können. Wirklich repräsentieren können wir nun den BDP nicht, da uns jeder die Polemik in den ›Briefen‹ vorhält. Dass der Meißnertag […] durch den DPB, den Bund der Jungenschaften, die Großen Jäger und uns entscheidend mitbestimmt wird, und zwar auch bei dem Part der Alten, ist eine so erfreuliche Tatsache, die mancherlei Hoffnungen wecken kann und sicherlich geweckt hätte, wenn statt der LM Hessen Du als Partner aufträtest.«25

Hermann Diehl war auch einem Aufruf zur Mitarbeit für das »Briefe«-Heft zum Thema »Der Meißnertag 1913 und 1963« gefolgt und kritisierte dort die Absage 22 ABdPHess, H/1.21/7.2, 2. Rundbrief, März 1963, Jochen Franke: Meißnertag 1963, hier S. 3 (Hervorhebung im Original). 23 Ebd., 4. Rundbrief, August 1963, S. 1. 24 Ebd., 5. Rundbrief, September 1963, S. 5. 25 AdJb, A 202, Nr. 1037, Brief vom 03. 07. 1963.

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mit den Worten: »Hans Gauch erzählte mir in Kronberg, dass es nicht, wie im letzten Dezember bei Dir besprochen, zu einer Nummer der Briefe über den Meißnertag käme. Ich fühle mich da ganz persönlich vor den Kopf gestoßen, da ich diese Nummer weitgehend machen wollte und inzwischen schon allerlei Vorarbeiten dafür geleistet habe.«26. Zum Meißnertag am 12. und 13. Oktober 1963 wurde dann ein Jahrbuch »junge bünde 1963. jahrbuch bündischer jugend« unter Beteiligung der LM Hessen herausgegeben. Dort heißt es zur Teilnahme des BDP an dem Meißnertreffen:27 »Für den Bund Deutscher Pfadfinder nimmt die Landesmark Hessen an dem Meißnertag 1963 teil, weil gerade sie sich der Bedeutung der Deutschen Jugendbewegung neben dem Pfadfindertum bewusst ist. Pfadfindertum aus dem Geist der Jugendbewegung zu leben, das war der Gründungsimpuls unseres Bundes. Aus diesem Geist heraus gilt es aber stets, die Tradition beider Bewegungen kritisch zu überprüfen und nach Formen zu suchen, die dem Leben in der modernen Gesellschaft gerecht werden.«28

Die Mitarbeit von älteren Mitgliedern des BDP Hessen zeigte sich jedoch nicht nur in der Schriftleitung des Jahrbuchs. Weitere erwachsene Mitglieder waren einem Aufruf Peter Frankes an den Feldmeisterkreis der LM Hessen im September gefolgt, in dem betont wird:29 »Wir hatten bereits im Februar besprochen, dass es sinnvoll ist, nicht nur mit guten Jungengruppen auf dem Meißner zu erscheinen, sondern auch eine Älterenmannschaft mitzubringen, die in der Lage ist, Repräsentationsaufgaben wahrzunehmen, sich an der Organisation des Gesamtlagers zu beteiligen, Besuchern, insbesondere Presseleuten, im Sinne der Bünde und mit Sachkenntnis das Lager zu zeigen, an Gesprächsgruppen teilzunehmen usw.«30

Das Für und Wider nach dem Meißnertreffen 1963 Das Für und Wider einer Teilnahme wurde auch nach dem Meißnertreffen im Schrifttum des BDP fortgesetzt, sowohl in den »Briefen« wie auch im »Jungenleben«.31 Sowohl Vertreter der LM Hessen als auch derBundesführung bewer26 Briefe, 1963, Heft 76, S. 16. 27 Junge Bünde 1963. Jahrbuch bündischer Jugend. Zum Meißnertag am 12. und 13. Oktober 1963, Hannover 1963. 28 Ebd., S. 63. 29 Der Feldmeisterkreis bestand 1962/63 aus vierzig älteren Gruppenleitern und Amtsträgern, die nach der Teilnahme an Ausbildungskursen des BDP zu Feldmeistern ernannt worden waren – ABdPHess, H/6.3/18.2, Handakte Peter Franke. 30 ABdPHess, H/1.21/7.2, Brief vom 19. 09. 1963 von Peter Franke an den Feldmeisterkreis der LM Hessen als Anlage zum 4. Rundbrief vom August 1963. 31 Wilhelm Stählin: Was bleibt?, in: Briefe, 1963, Heft 80, S. 13 – 20, hier S. 13. – Darin auch:

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teten dabei noch einmal das Meißnertreffen aus den verschiedenen Blickwinkeln.

Das Fazit der BDP-LM Hessen zum Meißnertreffen Zunächst einige Auszüge aus einem Fazit von Peter Franke: »Wer auf den Meißner kam, um eine geistige Neuerung mitzuerleben, wie das wohl 1913 der Fall gewesen ist, sah sich enttäuscht. […] – Wer auf den Meißner kam, um eine Feier der Selbstbeweihräucherung zu erleben, sah sich ebenfalls um das Ziel geprellt. […] Wir (als BDP) haben nicht die sektiererhafte Gruppe mit Pelzmütze und Stiefeln, die das jungengemäße Abenteuer so stark lebt, dass das Kosakentum, Balkan oder Wildwest fast zu ihrer Ausdrucksform wird. […] Die Landesmark hat auf dem Meißner sachliches Pfadfindertum gezeigt […] Gegenüber 1913 haben auf dem Meißnertag 1963 die Pfadfinderbünde eine sehr viel stärkere Stellung eingenommen. […] Der eine oder andere Ideologe wird mir vielleicht den Vorwurf machen, ich sähe den Meißnertag zu nüchtern. Die Bünde und ihre führenden Männer kennenzulernen und einen Teil der Vorurteile gegenüber dem BDP auszuräumen, das war der Grund für die Landesmark, an dem Kohtenlager teilzunehmen.«32 Axel Hübner, BDP Darmstadt, teilte die von Peter Franke geäußerte Kritik und urteilte im Hinblick auf einige der Meißnerteilnehmer, dass der Begriff »Bündische Jugend« nicht unbedingt mit Rotweingelagen, Kosakenstiefeln,

Helmut Gollwitzer : Der »Meißner Tag 1963«. Ein Tag trauernden Nachdenkens über das zweimalige Scheitern einer herrlichen Bewegung. Kurzbericht über die Rede. Abdruck einer dpa-Meldung in »Die Welt« vom 14. 10. 1963, in: ebd., S. 14. – Hermann Diehl: Die jungen Bünde und die Jugendbewegung, in: ebd., S. 15 f. – Meißnerseminar der jungen Bünde: Bündische Jugend 1963. Erarbeitete Grundsätze, in: ebd., S. 16 – 17. – Jochen Senft hat offenbar dazu einen kritischer Text zur Meißnerformel eingeschoben: »Begreifen die ›Bündischen‹ immer noch nicht, dass es auf den Menschen ankommt und nicht auf eine Formel?«, in: ebd., S.16. – Peter Pott: Das Ganze durch die Roverbrille gesehen, in: ebd., S. 17 – 18. – Gerhard Giese: »Blüten frischen Lebens.« So sahen es die Alten. Hoher Meißner. Leserbrief aus dem »Berliner Tagesspiegel«, in: ebd., S. 18. – Peter Franke: Das Lager der »Jungen Bünde«, in: ebd., S.19. – Bericht über die Lagerzeitung Home, in: ebd., S. 19. – Notiz über die Lieder des Meißnertages, in: ebd., S. 20. – Notiz über eine Ausstellung zu Fidus, in: ebd., S. 20. – Das Treffen im Spiegel der Presse. Tendenzen der Berichterstattung in den Schlagzeilen, in: ebd., S. 20. – Die Seiten »Meißner 1963« wurden zusammengestellt von Karl Heinz »Pinguin« Ballschmiter unter Mitarbeit von Peter Pott, Peter Franke und Hermann Diehl, in: ebd., S. 20. – Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 7/8. 32 ABdPHess, H/19.4/37.1, Peter Franke, Ausschnitte aus dem Bericht über den Meißnertag 1963. – Siehe den vollständigen Bericht unter dem Titel »Das Lager der ›Jungen Bünde‹«, in: Briefe, 1963, Heft 80, S. 19.

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Pelzmützen, Ritter- und Räuberromantik gleichzusetzen sei.33 Er bezeichnete den »Stil der ›alten bündischen Gestalten‹, die auf Fahrt und Lager vergessen, dass sie in Mitteleuropa leben und als Kosaken und Steppenreiter das Land unsicher machen«, als unerfreulich.34 Diese Kritik sollte auch das Titelblatt der »Tannennadeln« vermitteln, des Informationsblattes des Horstes Hohe TanneDarmstadt im Bund Deutscher Pfadfinder. Axel Hübner beklagte außerdem die ablehnende Haltung der BDP-Bundesführung gegenüber dem Meißnertreffen: »Es ist ein Jammer, dass der Bund in seiner herrschenden antibündischen Ideologie […] es ablehnte, geschlossen auf den Meißner zu ziehen. Dann wäre es nicht mehr so leicht möglich gewesen, daran vorbeizugehen, daß die ›Bündische Jugend‹ nicht nur aus Witzbolden besteht, die aus Fahrten und Lagern regelmäßig Fastnachtskampagnen machen. […] Dieses Meißnerlager wäre die Gelegenheit gewesen, zu zeigen, ob und wie die Vereinigung bündischer und pfadfinderischer Formen gelungen ist. Daß sie gelungen ist, geht jedem ein, der manche Pfadfinder in anderen Ländern sieht, wie sie marschieren, paradieren, inspizieren, organisieren, dekorieren, campieren, salutieren und was der Dinge mehr sind. Für mich persönlich ist das […] unerfreulich. […] Der BDP hat eine eigene Form gefunden, die aus beiden Richtungen genährt wurde und in der die unerfreulichen Extreme sich gegenseitig aufhoben. Die Landesführung ist zu beglückwünschen, daß sie den Mut aufbrachte, sich dazu zu bekennen […]«35

Und Hermann Diehl, einer der maßgeblichen BDP-Initiatoren und Vordenker des Meißnertreffens, erinnerte noch einmal an eine wichtige Zielsetzung der Teilnahme:36 »An einem halten die heutigen Bünde jedoch fest, nämlich an der besonderen Art der Jugendbewegung, den Menschen und der Welt zu begegnen und auf diese Begegnung selbsttätig und gestaltungsfähig zu antworten. Das sind die kritisch-emanzipativen Impulse der Jugendbewegung.«37

Das Fazit der BDP-Bundesführung zum Meißnertreffen Wesentlich grundsätzlicher fiel die Kritik von Vertretern der BDP-Bundesführung in den BDP-Zeitschriften aus. In der Führungsschrift »BRIEFE 80« urteilte Peter Pott: »Auf dem Meißner sollte ja eine neue Jugendbewegung ihren Anfang 33 Axel Hübner (BDP, Horst Hohe Tanne, Darmstadt): Zum Meißnertag 1963, in: Tannennadeln, 1963, Nr. 60, S. 3 – 6, hier S. 4 (AdJb Z 300 Nr. 2660). 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Siehe Hermann Diehl: Die pädagogische Bedeutung der heutigen Bünde, in: Junge Bünde (Anm. 27); S. 31 – 55. 37 Hermann Diehl: Die jungen Bünde und die Jugendbewegung, in: Briefe, 1963, Heft 80, S. 15 – 16, hier S. 15.

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Abb. 1: Tannennadeln. Zeitschrift des BDP-Horstes Hohe Tanne, Darmstadt

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nehmen. […] Der Meißnertag von 1963 war ein Erinnerungsfest an 1913, mehr nicht, er hat keine neuen Impulse gegeben.«38 Jochen Senft stellte dort fest: »Das Meißnertreffen sollte so etwas wie eine Erneuerung des Bündischen bringen. Nach alledem, was von Augenzeugen berichtet wurde, ist diese Erneuerung nicht eingetreten.«39 Und Moritz von Engelhardt meinte: »Der Bund Deutscher Pfadfinder versteht sich als […] Pfadfinder-Bund und nicht als […] Nachfolgeverband der bündischen Jugend.«40 Kritischen Anmerkungen wurden gleichzeitig auch in der Mitgliederzeitschrift »Jungenleben« veröffentlicht. Der Schriftleiter Klaus Elfers führte dort unter der Rubrik »Es geht alles vorüber« aus: »50 Jahre Jugendbewegung sind vorüber gegangen. Das Ergebnis ist mager – […] es schmeckte doch verdammt nach Firmenjubiläum. Die Energie, die in dieses verspätete Erntedankfest auf dem Hohen Meißner gesteckt wurde, wäre näherliegenden Dingen angemessener gewesen.«41 Teilweise wurden dort auch passende Anmerkungen aus der öffentlichen Presse übernommen, z. B. aus dem Magazin »Der Spiegel«: »Die zeitgenössische Jugendbewegung trägt sektiererische Züge. Die romantischen Ideen, die zwei Generationen bewegten, sind offenbar tot.«42 Ebenso wurden Passagen aus der »Stuttgarter Zeitung« abgedruckt: »Grubers Rede war verbindlich für alle Dreitausend, denn sie war in den vergangenen Monaten von allen Bünden gelesen und redigiert worden. Was dabei herauskam, entsprach nun tatsächlich dem Wunsch und dem Willen der heutigen Bündischen Jugend, ›die festhalten will an der bewährten Form der Gruppe und des Bundes, der freundschaftlichen Führung und besonderen Art, auf Fahrt zu gehen, zu spielen und zu singen‹. […] Die Thesensammlung der jungen Bünde zum Meißnertag […] [sieht aus] wie die Zusammenfassung einer soziologischen Doktorarbeit.«43

Kritische Anmerkungen wie diese, zwei Monate nach dem Meißnertreffen veröffentlicht, mussten Reaktionen bei aktiven BDP-Mitarbeitern aus Hessen hervorrufen. So wandte sich am 8. Januar 1964 Hajo Broeker44 in einem Brief an Jochen Senft: »Warum Du allerdings Deinen Feldzug gegen alles Bündische in 38 Peter Pott: Das Ganze durch die Roverbrille gesehen, in: ebd., S. 17 – 18, hier S. 18. 39 Jochen Senft: Der Bund Deutscher Pfadfinder nach fünfzehn Jahren, in: ebd., S. 1 – 3, hier S. 2. 40 Moritz von Engelhardt: Der zweite Schritt. Auf dem Wege zur Einigung des interkonfessionellen Pfadfindertums, in: ebd., S. 5 (Hervorhebung im Original). 41 Klaus Elfers unter der Rubrik »Es geht alles vorüber«, in: Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 7/8, S. 127. 42 Ebenda, S. 136. 43 Georg Kleemann: Sehnsucht nach der Welt – Aber wie?, zitiert nach ebenda, S. 134 – 135, hier S. 135. 44 Hans-Joachim »Hajo« Broeker arbeitete u. a. in der Organisation des Meißnertreffens und in der Schriftleitung für das Buch »junge bünde 1963« mit.

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der gleichen Nummer [»BRIEFE« 80] und auch im letzten ›Jungenleben‹45 so auf Hochtouren bringst, verstehe ich nicht ganz, denn meines Erachtens ist die Verärgerung bei den Bundesangehörigen, die sich noch als bündisch betrachten, größer als der Gewinn auf der anderen Seite.«46

Mögliche Motive der BDP-Bundesführung für die Ablehnung einer Teilnahme am Meißnertreffen In dem geschilderten Für und Wider zum Meißnertreffen zeigten sich seitens der führenden Teilnehmer aus dem BDP Verunsicherungen im Hinblick auf jugendbewegte Motive und Praktiken und zugleich auch auf die Pfadfinderei. Insbesondere bei einigen der Kritikpunkte kann vermutet werden, dass der Bundesfeldmeister des BDP Jochen Senft und seine jungen Mitarbeiter in der Meißnerfrage nicht unbeeinflusst waren durch Diskussionen z. B. im Deutschen Bundesjugendring, im Ring Deutscher Pfadfinderbünde, im Weltbund der Pfadfinder und in Pfadfinderbünden einiger Nachbarländer sowie in Kreisen der Erziehungs- und Sozialwissenschaftler. Dies ist an einer anderen Stelle schon verdeutlicht worden.47 Deshalb dazu nun nur einige Thesen bzw. kurze Nachweise, die im Folgenden näher erläutert werden sollen: (1) Der BDP orientierte sich an Entscheidungen des Bundesjugendringes. – (2) Der BDP fühlte sich im Ring Deutscher Pfadfinderbünde den Konzepten der Bruderbünde CP und DPSG verbunden – (3) Der BDP folgte als Mitglied des internationalen Pfadfinderweltbundes World Organization of the Scout Movement (WOSM) immer mehr dessen Zielsetzungen und den Scout-Traditionen. – (4) Der BDP entwickelte und verfolgte ab 1962 eine neue pädagogische Konzeption, die sogenannte Neue Linie.

Zur Orientierung des BDP an Entscheidungen des Bundesjugendringes Da die Schriftleitung der BDP-Mitgliederzeitschrift »Jungenleben« mehrfach Artikel aus der öffentlichen Presse abgedruckt hat, kann vermutet werden, dass 45 Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 7/8. 46 ABdPHess, H/6.3/18.2, Brief von Hajo Broeker an Jochen Senft vom 08. 01. 1964. 47 Johann P. Moyzes: Die »Neue Linie« – zum Wandel der »Pfadfinderpädagogik« im Bund Deutscher Pfadfinder. Eine Auswertung der »Briefe an die Führerschaft« (1959 – 1966), in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2009, NF 6, S. 124 – 164.

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die nachfolgenden Meldungen zur Stellungnahme des Bundesjugendrings bekannt waren. »Die F. A. Z. vom 3. Oktober teilte unter ›Kleine Meldungen‹ mit: ›Der Bundesjugendring wird nicht an den Feiern zur 50. Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages am 11. und 12. Oktober auf dem Hohen Meißner bei Kassel teilnehmen, weil darin kein Anknüpfungspunkt für die Jugendverbände zu sehen sei. (dpa)‹«48 »Bundesjugendring distanziert sich. Bonn (upi). Der Bundesjugendring hat beschlossen, an dem Erinnerungstreffen der bündischen Jugend am Hohen Meißner nicht teilzunehmen. Wie es in einer in Bonn herausgegebenen Erklärung heißt, hält der Bundesjugendring die Erinnerung an das Treffen der Jugendverbände auf dem Hohen Meißner im Jahre 1913 weder für einen Anknüpfungspunkt für die heute zu erfüllenden Aufgaben moderner Jugendverbände, noch für eine Plattform für Aussagen über künftige Ziele deutscher Jugendverbände. Nach Ansicht des Bundesjugendringes hat das Treffen auf dem Hohen Meißner zwar 1913 ›für das Wollen einer aktiven Minderheit der damaligen jungen Generation bestimmenden Charakter gehabt‹, jedoch müßten die heutigen Jugendverbände neu und andere Antworten auf die Fragen einer veränderten Zeitsituation finden. Die bündische Jugend gehört auf eigenen Wunsch dem Bundesjugendring nicht an.«49

Die Verbundenheit des BDP mit dem Ring Deutscher Pfadfinderbünde und den Konzepten der Bruderbünde CP und DPSG Direkt übernommen wurden dazu die folgenden Pressemeldungen: »Nein zu Meißner-Treffen: Die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands (CP) hat ihre Mitarbeit bei der Vorbereitung und die offizielle Beteiligung an den Feierlichkeiten zur 50-Jahr-Feier des Treffens auf dem Hohen Meißner abgelehnt. […] Der Verband könne sich heute durch eine Teilnahme an der Erinnerungsfeier nicht mehr unkritisch hinter die Ergebnisse von 1913 stellen.«50 »Kein Jugendreich: Auf dem Landesführertag der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG) am Wochenende […] in Homburg betonte der Bundesfeldmeister Dr. Fritz Kronenberger aus Düsseldorf, dass das Pfadfindertum keine Jugendbewegung sei, […] sondern eine Organisation. […] Die deutschen St. Georgs-Pfadfinder wendeten

48 Abgedruckt in: Erkenntnis und Tat. Briefe aus dem Geiste der Jugendbewegung, MeißnerHeft 1: Pressestimmen zum Meißnertag 1963, S. 10. 49 Schwäbische-Donau-Zeitung vom 03. 10. 1963, abgedruckt in: Erkenntnis und Tat (Anm. 48), S. 9 f. 50 Übernommen aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und aus: Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 5, S. 88.

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sich gegen längst überholte Bestrebungen, den Jugendlichen in der heutigen Zeit ein eigenes Jugendreich zu schaffen.«51

In diesem Zusammenhang forderte der Schriftleiter der BDP-Mitgliederzeitschrift Klaus Elfers eine deutliche Abwendung vom Bündischen: »Der Bund Deutscher Pfadfinder ist kein Bund mehr. Die Abwendung von der bündischen Struktur wurde in der letzten Zeit mit Bedacht vollzogen. […] CP und DPSG sind diesen Weg schon lange gegangen; nun folgen wir als letzte der anerkannten Pfadfinder-Organisationen.«52 Und Jochen Senft sah sich veranlasst, die Ausführungen von Klaus Elfers, die offenbar sehr viel Kritik hervorgerufen hatten, durch folgende Erklärungen abzuschwächen: »Wir stützen uns heute nicht mehr auf die bündische Tradition und haben unsere guten Gründe dafür. Wir jagen heute nicht mehr hohen Zielen nach, sondern greifbaren Zielen. […] Der Bund Deutscher Pfadfinder wird heute nicht mehr vom Gedanken des Bündischen zusammengehalten, sondern von einer Bruderschaft, die sich um Gesetz und Versprechen der Pfadfinder gebildet hat. Das ist die entscheidende Veränderung unseres Bundes nach 1948.«53

An anderer Stelle führte Jochen Senft aus: »Durch eine gute Führerausbildung, durch ein Leben nach dem Gesetz und Versprechen der Pfadfinder und durch den Willen zur Bruderschaft sind wir ein einiger starker Bund geworden.«54

Annäherung des BDP an die Scout-Traditionen des internationalen Pfadfinderweltbundes WOSM Im Sommer 1963 fand das Jamboree, das Weltpfadfindertreffen, in Griechenland statt, an dem auch eine BDP-Abordnung teilnahm. Darüber wurde ausführlich im »Jungenleben« berichtet, so u. a von Peter Pott: »Was […] das Pfadfindertum in fast allen Ländern vom deutschen trennt, das ist sein strenger Bezug zur Sache. Das deutsche Pfadfindertum – und das ist deutlich sein Erbe von der Jugendbewegung her – lebt viel stärker im Bereich des Personellen. [Wir wollen] […] gerade das als eine wesentliche Erfahrung vom Jamboree mitnehmen, dass dieses Erbe nicht nur ein glückliches Erbe ist, dass es uns schon viel gekostet hat, vielleicht auch die Bedeutung und das Ansehen, welches das Pfadfindertum in den meisten anderen Ländern besitzt. […] 51 Übernommen aus der Saarbrücker Zeitung und aus: Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 6, S. 119. 52 Elfers (Anm. 41), S. 127. 53 Senft: Bund (Anm. 39), S. 2 f. 54 Jochen Senft: Ausschnitt aus einem offenen Brief an Wölflinge und Pfadfinder zum Jahr 1963, in: Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 7/8, S. 144.

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Wir haben uns in vielen Dingen von dem Zopf der Jugendbewegung gelöst. Doch im Gegensatz zu den anderen Nationen wurde es deutlich, dass wir der Tradition der Jugendbewegung noch sehr stark verhaftet sind, was man im Jamboree vor den anderen Nationen als deutsche Eigenart noch ausdrücklich betonte. […] Die Frage aber bleibt, ob in dieser Mischung Pfadfindertum überhaupt möglich ist, oder, wenn es bisher möglich war, ob es auch in Zukunft noch so möglich sein wird. Müssen wir uns vielleicht nicht noch energischer von unserer Vergangenheit trennen?«55

Die BDP-Bundesführung und die Entwicklung einer neuen pädagogischen Konzeption seit 1962, der »Neuen Linie«56 Anlässlich der Wahl von Jochen Senft zum Bundesfeldmeister Anfang 1962 betonte Reinhard Schmoeckel in einem Grußwort: Die Konzeption von Jochen Senft »bringt uns zu einem noch bewussteren Erleben der pfadfinderischen Erziehungsmethoden Baden-Powells.«57 Seit 1962 griff die Bundesführung des BDP die Idee einer zeitgemäßen pfadfinderischen Erziehung auf und propagierte eine »Neue Linie«58.Dazu führte Jochen Senft im November 1964 aus: »Die Aktivität der Bundesführung im vergangenen Jahr und ihre Projekte für die kommende Zeit […] lassen sich am besten verstehen als Entfaltung des pfadfinderischen Grundansatzes.« Dabei sehe der BDP seine » Alternative zur traditionellen Pädagogik« im »Bereich der außer-schulischen Erziehung und der Erwachsenenbildung« besonders bei der »Erprobung angemessener Methoden für die pfadfinderische Erziehung« und der »Führerausbildung.«59 Die etwas unsicheren Haltungen des BDP zwischen den verschiedenen Zielsetzungen und Ausrichtungen wird auch sichtbar in einem Bericht von Peter Pott zur Situation beim Meißnertreffen.60 Dazu seien drei Aussagen angeführt. Zum Verhältnis des BDP zur Bündischen Jugend: Das Meißnerlager bot »eine bunte Vielfalt«, »fast alle (Bünde) ein wenig aufdringlich um das Prädikat ›bündisch‹ buhlend. […] der BDP mit gleichem Recht […] wie sich jeder Bund bemüht, dieses Wort ›bündisch‹ mit Leben und Sinn zu füllen, überzeugt, dass

55 Peter Pott: Viele Fragen, viele Wünsche blieben offen, in: Jungenleben, 1963, 14. Jg., Heft 6, S. 114 – 115, hier S. 115. 56 Vgl. Moyzes: Die Neue Linie (Anm. 47). 57 Reinhard Schmoeckel, LFM der LM Westfalen, in seinem Grußwort zum Bundesthing am 13. 01. 1962, abgedruckt in: Briefe, 1962, Heft 67, S. 1. – Vgl. Moyzes: Die Neue Linie (Anm. 47), S. 128. 58 Moyzes: Die Neue Linie (Anm. 47), S. 130. 59 Ebd., S. 130. – Vgl. Jochen Senft: Bericht des Bundesfeldmeisters, Gekürzte Fassung des auf dem Bundesthing in Kronberg gehaltenen Referats, in: Briefe, 1965, Heft 89, S. 2 f. 60 Peter Pott: Das Ganze durch die Roverbrille gesehen, in: Briefe, 1963, Heft 80, S. 17 f.

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nur er den wahren Sinn getroffen hat. […] hier haben fast alle ihr Vorbild gefunden, die ihr bündisches Herz erst neu entdeckt haben […]«.61 Zum Verhältnis des BDP zur Jungenschaft: »Mit diesen Gruppen nicht zu verwechseln ist der Bund Deutscher Jungenschaften. […] es war eine Weise der ›bündischen‹ Existenz, die Format hatte […] es ist eine Form, die nur im Kleinen möglich ist, die niemals in einen großen Bund münden kann, wie es etwa der BDP ist. […] Aber das mag der BDP nicht recht wissen. Er liebäugelt immer noch mit der jungenschaftlichen Existenz, will aber auf der anderen Seite auch das spezifisch Pfadfinderische nicht aufgeben.«62

Zum Verhältnis des BDP zum Pfadfinderischen: »Die Hessen vertraten den BDP auf dem Meißnertreffen keineswegs schlecht, er war durchaus eine der positivsten Erscheinungen des Lagers, wie z. B. auch die anderen beiden Pfadfinderbünde […] Während die Jungenschaft alle ihre Karten ausspielte, scheute sich der BDP, ganz Pfadfinder zu sein. Er hätte gut daran getan, diese Seite stärker zu betonen. […]. Es wurde trotz allem deutlich, dass der BDP im bunten Allerlei der Bünde eine Sonderrolle spielt.«63

Hermann Diehl als Zeitzeuge: Zur Teilnahme der BDP-LM Hessen am Meißnertreffen 196364 Dr. Hermann »Menne« Diehl, Jahrgang 1928, war im höheren Schuldienst tätig. Einige Zeit ließ er sich beurlauben, um das Amt des Burgvogts auf dem Ludwigstein wahrzunehmen. Er war lange Mitglied des BDP und fungierte Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre im BDP als Bundesbeauftragter für die Roverstufe. Während des Bundesthings in Geretsried am 16./18. Juni 1961 kandidierte er für das Amt des BFM gegen Jochen Senft, der mit großer Mehrheit gewählt wurde. Für das Meißnerlager 1963 organisierte Hermann Diehl die Vorbereitungstreffen auf der Burg Ludwigstein und arbeitete in der Schriftleitung für das Jahrbuch der Jungen Bünde mit«. Für den Inhalt des Jahrbuches 61 62 63 64

Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 18. Ebd. Tonband-Mitschnitte von Telefonaten mit Dr. Hermann Diehl, Berlin, im August und September 2012. Sprachliche Unebenheiten (Wiederholungen und Füllsel) wurden gestrichen. Es handelt sich um unvorbereitete spontane Äußerungen, denn die Telefonate dienten der näheren Verabredung für eine geplante Tonbandaufnahme in Berlin. Wegen eines Unfalles und eines längeren Krankenhausaufenthaltes von Hermann Diehl musste dieser Plan aufgeben werden. Deshalb wurden die vorherigen Tonbandaufnahmen der Telefonate für die Darbietung während der Tagung ausgewertet.

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trug er zu dem Text über die BDP-LM Hessen bei und erarbeitete den dort ebenfalls veröffentlichten Aufsatz »Die pädagogische Bedeutung der heutigen Bünde«.65 »Ich kann viel über den Meißnertag erzählen. Da war ich ja mitten drin, in beiden Vorbereitungsausschüssen, bei dem der alten und dem der jungen Bünde. Ich war auch noch Burgwart und kam mit vielen banalen Dingen in Berührung. Aber ich kann natürlich nicht mehr viel erzählen, welche Konsequenzen haben die Pfadfinder sozusagen gezogen, wie weit sind sie davon betroffen worden. Es ging eigentlich auch ein bisschen darum – wenn man das auf einen ideologischen Hintergrund abziehen will –, dass eben der Jochen [Senft] doch sehr doktrinär seine Thesen vertrat, Pfadfinder seien ein Erziehungssystem mit Vorgaben von ›Peter und Paul‹ [Baden-Powell], und etwas dagegen hatte, dass eine Jugendgruppe an sich schon ein Instrument der Selbstfindung und der Persönlichkeitsentwicklung auch von Jugendlichen war, unabhängig also. Ich meine, auch Baden-Powell war festgelegt auf christliche Werte, und da war man eigentlich ein bisschen offener. In der Praxis eigentlich auch nicht. Wesentlich anders als die allgemeine Pfadfinderei, die, wenn man sie auf einen Punkt bringen will, mehr auf Lager setzte. Während also die LM Hessen, zumindest in ihren maßgeblichen Leuten, so auch der Hajo Broeker unten in Frankfurt mit dem Pfadfinderbund – sie nannten sich ›Die Bären‹ [BDP-Stamm »Die Bären«] – mehr auf Fahrt setzte. Da war die Großfahrt eben das Entscheidende, sozusagen Erziehungsmittel. Das war ja bei den Pfadfindern mehr das Lager. Da muss ich noch ein bisschen drüber nachdenken. – Das ist mir gar nicht durch den Kopf gegangen, warum die Hessen so waren. Es hing auch einfach mit dem Zusammenhalt zusammen, der nun über Jahrzehnte oder länger bestand. Man kannte sich ja über den Feldmeisterkreis, den wir da hatten, ohne dass wir den damals schon so nannten. Natürlich, nun liegt der Meißner in Hessen. Man ist auf diese Weise doch stärker mit der Jugendbewegung in Berührung gekommen als eben andere Landesmarken. Man war ja auch innerhalb der Pfadfinderei, z. B. Niedersachsen war ja auch nicht nur gegen Kajus Roller, letztlich auch gegen Jochen Senft, obwohl das ja stramme Scouts waren, und Nordrhein-Westfalen erst recht. Es war eine bestimmte Tradition, wenn man so will, die einfach in Hessen seit 1948, seitdem die ersten Gruppen 47/48 entstanden, die die LM bestimmt hat. Das habe ich noch gar nicht so auf den literarischen Punkt gebracht. Ich kann präzise berichten von der ganzen Vorbereitung, vom Ablauf. Ich kann aber nachher nicht mehr berichten, was denn geblieben ist. Denn ich habe ja nach dem Meißnertag mit der Pfadfinderei aufgehört. Ich habe zwar noch Kontakte gehabt und wir haben dann ja damals 65 Hermann Diehl: BDP – Die Landesmark Hessen, in: Junge Bünde (Anm. 27), S. 61 – 63.; ders.: Bedeutung (Anm. 36).

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diese Kontakte auch zur Hochschule für Körperkultur in Leipzig gehabt, haben da etwas gemacht, aber so richtig kann ich nicht sagen, was ist also ideologisch geblieben. Man muss natürlich vorausschicken, dass der BDP die ständige Auseinandersetzung – mindestens in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre – gegen Kajus Roller hatte, der eine bestimmte Zentralisierung durchführen wollte, also die Bünde innerhalb des Pfadfinderbundes, jedenfalls aus der Sicht dieser Bünde, gleichzuschalten versuchte. Und deshalb kam es zu verschiedenen Austritten: Die ›Großen Jäger‹ waren bis 1959 im BDP, der Pfadfinderbund Nordbaden war bis 1960, die ›Grauen Reiter‹ ebenfalls, das war alles mal BDP. Das wirkte auch in der LM Hessen, die auf dem Standpunkt stand, dass der BDP ein Zusammenschluss kleiner Bünde ist. Das ging all diesen Dingen voraus. Aber ohne die BDPer, ohne Horst Schweitzer wäre das Lager nicht gelungen – immerhin sind es dreitausend Leute gewesen –, der hatte die ganze Organisation, die Strukturierung usw. weitgehend bestimmt. Er war ja der Vorsitzende des Ausschusses der jungen Bünde und er hat natürlich darauf geachtet, dass ihm da die Spinner – wie er meinte – nicht dazwischen redeten. Und es kommt auch noch das Meißnerseminar ins Spiel, das zum Beispiel die Festschrift vorbereitet hat, aber eben auch die Erklärung, die Standortbestimmung der jungen Bünde insgesamt nach fünfzig Jahren, die der Alexander Gruber auf dem Fest verlesen hat. Das ist das greifbare Ergebnis dieses Seminars, das ja auch stark von den Pfadfindern dominiert wurde. Jochen Franke, Hajo Broeker, auch Peter Franke, ich, wir waren ja alles BDPer. Auf der anderen Seite war es noch Hermann »Sim« Schroedel von Siemau, der vom DPB war. Die Folge dieses Seminars ist dann die Entstehung des Ringes junger Bünde, bei dem natürlich der BDP nicht mitmachte. Die Unterscheidung zwischen Organisation und Bund ist vielleicht ein Stichwort, um zu zeigen, warum die LM Hessen, die sich ja als Bund empfand, mitmachte und nicht nur Organisation sein wollte.«

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Abb. 2: Hermann Diehl als BB-Rover in Raron (Schweiz) 1960, Foto: privat

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Überzeugt, dass der Zeitzeuge der »natürliche Feind des Historikers« ist, und beeindruckt von der geballten Präsenz der historischen Zunft bei unserer Archivtagung, werde ich mich als Zeitzeuge nicht an der einst von Leopold Ranke gestellten Frage, »wie es denn eigentlich gewesen« sei, abarbeiten. Ich werde mich stattdessen auf das beziehen, was ich in jenen Oktobertagen des Jahres 1963 erlebt und wie ich es erlebt habe, was ich spontan oder unter Inanspruchnahme später publizierter Gedächtnisstützen wieder erinnere und welche Stimmungen und Empfindungen sich damit damals verbunden haben. Es geht mir also eher um eine »Archäologie der Gefühle« als um die Rekonstruktion und Deutung vergangener Ereignisse. Aber auch damit bewege ich mich auf dünnem Eis, denn das Gedächtnis funktioniert bekanntlich nicht so wie ein gut geführtes Archiv, wo man unverändert wieder hervorholen kann, was man vor fünfzig Jahren abgelegt hat. Um ein mir wichtiges Ergebnis meiner Erinnerung vorwegzunehmen: Den Meißnertag 1963 habe ich vor allem als das erste große Überbündische Treffen nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen: eindrucksvoll, vielfältig und herausfordernd für die weitere Gestaltung der eigenen Gruppe und des eigenen Bundes. Darin war das Lager der Jungen Bünde den voraufgegangenen, allenfalls von einem Dutzend und nicht von 37 Bünden getragenen Überbündischen Treffen 1958 auf der Burg Waldeck im Hunsrück und 1961 auf der Burg Hohlenfels im Vordertaunus weit überlegen. Dies stand für mich im Vordergrund – nicht die Begegnung der Generationen, nicht die gemeinsame Kundgebung und auch nicht die Rede Helmut Gollwitzers, von der Hans Ulrich Thamer schrieb und viele meinen, sie sei das »zentrale Ereignis des Meißner-Tages«1 gewesen. Überhaupt habe ich den Meißner ’63 als deutlich bipolare Veranstaltung in Erinnerung: hier das Lager der jungen Bünde, dort die diversen Veranstaltungen 1 Hans Ulrich Thamer : Der Meißner-Tag. Probleme einer jugendbündischen Erinnerungskultur, in: Botho Brachmann, Helmut Knüppel u. a. (Hg.): Die Kunst des Vernetzens. Festschrift für Wolfgang Hempel, Berlin 2006, S. 399 – 409, hier S. 403.

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der Älteren in Göttingen und Bad Sooden-Allendorf. Die gemeinsame Kundgebung am Sonntagmorgen auf dem Meißner hat die wechselseitige Fremdheit vielleicht überdeckt, überwunden hat sie sie nicht.2 Dass mich Gollwitzers Rede so sehr nicht bewegte, lag wohl auch daran, dass ihr schon etliche andere langatmige und weitschweifige Reden voraufgegangen waren. Aus dem Abstand von fünfzig Jahren betrachtet, enthält sie – ganz abgesehen von ihrer rhetorischen Brillanz – alles, was man damals zu Recht von einem historischen Rückblick an Nachdenklichkeit und selbstkritischer Vergewisserung erwarten durfte. Aber tiefer berührt hat sie mich trotzdem nicht. Ich hatte wohl mehr Zukunftsorientierung und weniger Vergangenheitsbewältigung, wie man damals sagte, erwartet, und ich vermute, dass diese Einschätzung von vielen Jüngeren geteilt worden ist. Jedenfalls erinnere ich mich daran, in dieser Weise über die Rede mit meinen Freunden gesprochen zu haben. Die Verstrickungen, von denen Gollwitzer sprach, waren nicht unsere Verstrickungen, und den alten Meißnerfahrern von 1913 wie auch den zahlreich anwesenden Bündischen der Zwischenkriegszeit galt unser freundlicher, aber doch auch distanzierter Gruß. Einzelne waren uns wichtig, aber als Kohorte waren uns diese Männer und Frauen doch eher fremd – und wir ihnen wahrscheinlich auch. Jedenfalls erinnere ich mich nicht, auch nur von einem dieser Älteren, den ich nicht schon vorher kannte, in diesen Tagen angesprochen worden zu sein – weder bei der Kundgebung noch in unserem Lager, durch das viele im Anschluss an die Kundgebung wie durch einen Zoo stiefelten. Wir wollten auch nicht immer mit den Älteren verglichen werden. Wir sahen uns weder in ungebrochener Nachfolge noch wollten wir abermals darüber belehrt werden, dass wir Epigonen einer längst abgeschlossenen Bewegung seien: nicht freundlich, wie von Werner Helwig, nicht abschätzig, wie von Harry Pross, und schon gar nicht anmaßend und arrogant, wie von Heinz Westphal, dem damaligen Sprecher der Großverbände im Bundesjugendring, der den Mitgliedsverbänden dringend von einer Teilnahme am Meißnertag abgeraten hatte.3

2 Das Meißnertreffen 1988 habe ich in dieser Hinsicht ganz anders wahrgenommen. Die Freideutschen suchten den Kontakt und interessierten sich sehr für das wiederum imposante und an Erfindungen reiche Kohten- und Jurtenlager der jungen Bünde – ich erinnere nur an die Heckenuni. 3 Werner Helwig: Die blaue Blume des Wandervogels, Gütersloh 1960. – Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Eine Geschichte der Jugendverbände, Bern/München 1964. – Rückblicke als Abgesang zu stilisieren, hat in der Historiografie der Jugendbewegung eine lange, letztlich auf Hans Blüher zurückgehende Tradition; Hans Blüher: Geschichte einer Jugendbewegung, Prien 1922. – Umso verwunderlicher, dass Heinz Westphal in einer Publikation über biografische Einflüsse der Jugendbewegung als »jugendbewegt geprägt« auftaucht. Siehe Meik Woyke: Heinz Westphal. Jugendpolitik als Beruf und familiäre Tradition, in: Barbara Stam-

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Peinlich berührt war ich bei dem Vortrag Helmut Gollwitzers über den lautstark und verbissen vorgebrachten Protest einer beachtlichen Anzahl vor allem älterer Teilnehmer an der Festveranstaltung. Ich hatte die, die jetzt protestierten, mehrheitlich vor der Kundgebung als seltsam beschwingte Teilnehmer an einem »Offenen Singen« unter der Leitung von Fritz Jöde wahrgenommen. Die ohnehin empfundene Fremdheit zwischen den Generationen war da noch gewachsen: Die Lieder, die dort gesungen wurden, waren nicht unsere Lieder. Sie erinnerten mich an das Repertoire qualvoll langweiliger Schulmusikstunden. Bis mich vor wenigen Tagen die von Karl Vogt und Werner Kindt herausgegebene Dokumentation4 eines anderen und Besseren belehrte, hätte ich geschworen, da oder gar während der Festveranstaltung selbst das unsäglich gereimte »Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera …« und »Gar fröhlich zu singen, so heben wir an …« gehört zu haben. Fritz Jöde – der Name war mir aus der Schule vertraut und meinerseits, ich gebe es zu, mit erheblichen Vorbehalten belastet. So glaubte ich den Gesang zu erinnern. Tatsächlich gesungen wurde aber, was vom textlichen und musikalischen Anspruch her – Simon Dach und Heinrich Schütz – unvergleichlich höher angesiedelt war. Trotzdem: Es waren nicht unsere Lieder. Wir hatten damals gerade die präpotenten »Wir sind …«- und »Wir haben…«-Lieder, wie sie der erste »Turm« in großer Zahl enthielt, hinter uns gelassen und sangen, ehe man zu später Stunde doch wieder in die altbekannten bündischen Gassenhauer verfiel, vor allem griechische, israelische und jiddische Lieder. »Samiotissa«, »Alti runi« und »Still, die Nacht ist oisgesternt« – das waren Lieder, die mich damals bewegten und die mir fremde Welten erschlossen.5 Die Gesänge der Festversammlung taten das nicht und die Nationalhymne als Schlusslied schon gar nicht. Die Hymne wurde an dieser Stelle offenbar auch von einem Teil der Veranstalter als so erratisch wahrgenommen, dass man dem Gesang eine einleitende Begründung vorausschickte. Was sollte dieses gesungene und von Bläsern geschmetterte nationale Bekenntnis an diesem Ort? Hatten die Meißnerfahrer 1913 etwa »Heil Dir, im Siegerkranz …« gesungen? Helmut Reisers wohlgesetzte Rechtfertigung – ich habe sie in diesen Tagen noch einmal nachgelesen – überzeugte mich damals nicht. Um verständlich zu machen, warum ich den Meißnertag so und nicht anders erlebt habe, muss ich wohl an dieser Stelle einige Angaben zur Person und zu dem Bund, dem ich damals angehörte, hinzufügen. Ich war im Oktober 1963 achtzehn Jahre alt und besuchte die Unterprima bolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiografischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 737-751. 4 Werner Kindt, Karl Vogt (Hg.): Der Meißnertag 1963. Reden und Geleitworte, Düsseldorf u. a. 1964. 5 Konrad Schilling, Helm König (Hg.): Der Turm A. Liedersammlung bündischer Jugend, Bad Godesberg 1962.

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(12. Klasse) des neusprachlichen Zweigs eines Gymnasiums in Siegen in Westfalen. »Eines« Gymnasiums? Das wäre ungenau! Es muss »des« Gymnasiums heißen, denn ein anderes gab es in dieser Stadt trotz ihrer mehr als siebzigtausend Einwohner nicht, und für die Mädchen gab es das Lyzeum. Werner Picht etikettierte diesen Sachverhalt 1964 als »Bildungsnotstand«. Die einzigen offiziell gebilligten Verbindungslinien zwischen den beiden traditionsverhafteten Siegener Bildungsstätten, wo in dem Deutschunterricht, den ich genossen habe, kein Autor vorkam, der nicht mindestens fünfzig Jahre tot war, und im Philosophieunterricht Heidegger nicht analysiert, sondern nur beraunt wurde, waren Tanzkurse und das gemeinsame Schultheaterspiel. Einen Tanzkurs habe ich damals nicht besucht, denn was man da lernte – Benimmregeln und abgezirkelte Schritte –, kam mir einfältig vor. Theater spielte ich dagegen mit Leidenschaft, trotz bescheidener Chancen bei den gleichaltrigen und schon allein deshalb überlegenen Mädchen, denn an den Wochenenden stand ich für Tanzvergnügen – »Kellerparties« waren damals angesagt – nicht zur Verfügung. Die Woche über glitt vieles, was mir nahegebracht werden sollte, an mir vorbei. In Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern fühlte ich mich überfordert, in Deutsch, Geschichte, Kunst, Musik und Religion eindeutig unterfordert. Alles in allem war ich ein schlechter Schüler, aber meine Lehrer waren auch nicht besser. An den Wochenenden ging ich mit meiner Gruppe – im Nerother Wandervogel (NWV) Fähnlein genannt – auf Fahrt oder wir trafen uns mit anderen Gruppen, vor allem auf der Burg Waldeck oder auf der Burg Hohlenfels. Finnland, Schweden, Lappland und Griechenland waren die Großfahrtenziele. Im Sommer 1963 war ich auf dem Berg Athos und beim internationalen Jamboree der Pfadfinder in der Ebene von Marathon und Athen gewesen. Anschluss an eine bündische Gruppe hatte ich mit dreizehn Jahren im Bergischen Land gefunden. Für mich war das wie die Entdeckung einer neuen Welt: Freunde, die mir die Brüder waren, die ich nicht hatte, starke Vaterfiguren, die mir zuhörten und mit denen ich auf gleicher Augenhöhe sprechen konnte, und keine ewig kränkelnde Mutter. Überhaupt keine Frauen. Eine männerbündische Welt. Ich glaube, hier, in dieser Gemeinschaft, habe ich zum ersten Mal wirklich Glück empfunden: raus aus der Freudlosigkeit der Familie, der hohlen Ansprüchlichkeit, den schulischen Niederlagen und Kränkungen. Wichtig war auch die Freundschaft zu Älteren, mit denen uns deren Herkunft aus der Bündischen Jugend verband. Ich nenne stellvertretend nur den Kölner Alt-Nerother Dr. Karl-Ernst Gruhl. Sein Fahrtenname war Gandhi. Er hatte aus seiner Verstrickung in das NS-Regime als Mitglied des nationalsozialistischen Studentenbundes und Soldat in einem verbrecherischen Krieg klare Konsequenzen gezogen, war unbedingter Pazifist geworden, Mitinitiator der Ostermärsche, Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft und hatte die Kölner Beratungsstelle für Wehrdienstverweigerer aufgebaut. Von der Anthroposophie

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beeinflusst, schenkte er mir ein Buch über Rudolf Steiner und stiftete einen Kontakt zu den Brüdern Vogel und deren Seminaren über die Idee der »Sozialen Dreigliederung«, die damals auf Burg Waldeck stattfanden. Ihm verdanke ich Impulse, die bis heute nachwirken. Er wusste so viel und war doch nicht fertig: An ihm habe ich erfahren, dass persönlich bedeutsames, prägendes Lernen nicht vom Gewordenen, sondern vom Werdenden ausgeht. Wir haben uns buchstäblich über Gott und die Welt gestritten, und dabei ging es nie um die schlichte Übernahme der Ansichten und Überzeugungen der Älteren. Wenn ich damals schon hätte wählen dürfen, hätte ich die Deutsche Friedensunion (DFU) gewählt.6 Für diese pazifistische Partei, an deren Spitze Renate Riemeck stand, hatte ich im Bundestagswahlkampf 1961 Flugblätter verteilt.7 Die Partei galt im Kalten Krieg als 5. Kolonne Moskaus, was sie – wie sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schlüssig nachweisen ließ – tatsächlich auch war. Damals hielt ich derartige Vermutungen für westliche Propaganda. Ich erwähne das hier so ausführlich, weil ich mit dieser politischen Positionierung im Nerother Wandervogel kein Außenseiter war und weil ich damit zu einer Korrektur des Bildes beitragen will, das sich in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf diesen Bund herausgebildet hat. Um 1968 gerieten nahezu alle Bünde in eine existenzielle Krise, kaum einer ging daraus unbeschadet hervor: Einige gingen darin unter ; wieder andere waren bis zur Unkenntlichkeit verändert. Soweit er in den zurückliegenden Jahrzehnten, abgesehen von verschrobenen Auslassungen des derzeitigen Bundesführers F. M. Schulz überhaupt noch in Erscheinung getreten ist, gehört der Nerother Wandervogel zu den letztgenannten Bünden.8 Der alte NachkriegsNWV war weder rechtslastig noch aggressiv, weder nationalistisch noch anti6 Ein Wahlerfolg dieser Partei schien damals keineswegs aussichtslos. Im »Spiegel« hieß es dazu: »Die Friedens-Freunde der Riemeck bieten dem Wähler des 17. September als einzige Partei eine Alternative zur außenpolitischen Vogel-Strauß-Politik der Christ-, Sozial- und Freidemokraten: Sie verlangen den Austritt Westdeutschlands aus der Nato und proklamieren den totalen Neutralismus. […] Dass diese Partei aber, kaum organisiert, Chancen hat, die Fünf-Prozent-Hürde des Wahlgesetzes zu überspringen – Bonner Schätzungen gehen auf vier bis sieben Prozent, und selbst Minister Strauß prophezeite 4,5 Prozent –, ist die bescheidene Sensation des Wohlstands-Wahlkampfes 1961.«; vgl. Rot und Rosa, in: Der Spiegel, 1961, Heft 31, S. 35. 7 Renate Riemeck (1920 – 2003), Pflegemutter von Ulrike Meinhof, kämpfte seit den 1950erJahren gegen Wiederbewaffnung und Wehrpflicht. 1955 wurde sie als jüngste westdeutsche Professorin an die Pädagogische Hochschule Wuppertal berufen, wo sie Geschichte und Politische Bildung lehrte. 1961 wurde ihr vom zuständigen Kultusminister aus politischen Gründen die Prüfungsberechtigung entzogen. Sie war Vorsitzende der Internationale der Kriegsdienstgegner (IDK) und engagierte sich in der Kampagne »Kampf dem Atomtod« gegen die Atomrüstung. 1961 war sie Spitzenkandidatin der DFU. 8 Fritz-Martin Schulz: Die letzten Wandervögel, 2. Aufl. Baunach 2002. – Vgl. auch: Die Jugendbewegung war nicht käuflich. Interview mit Fritz-Martin Schulz, in: Junge Freiheit vom 09. 11. 2001.

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demokratisch, und von dem zeitgeistgeprägten aristokratischen Gehabe, das den Bund allenfalls in den ersten Jahren nach seiner Gründung 1921 bestimmt haben mag, war wenig mehr geblieben als ein spielerischer und selbstironischer Umgang mit Knabenträumen und Ritterromantik. Vor allem aber war er in seinen sehr verschieden ausgeprägten Gliederungen – Orden genannt – nicht so dumpfbackig, wie er heute gelegentlich dargestellt wird.9 Der dort gepflegte Gesangstil und die Fahrtenkultur, die den Bund prägten, waren nicht ohne Grund für viele Jugendliche, in deren Lebenswelt Bündisches Platz hatte, attraktiv. Summarisch ließe sich der Nachkriegs-NWV als weltoffene und unbekümmert hedonistische Erlebnisgemeinschaft beschreiben. Unter den Bünden, die sich ambitionierter als eine Erziehungsgemeinschaft verstanden oder der Lebensreform zugetan waren, brachte ihm diese Grundhaltung, für die Werner Helwig die hedonistisch anmutende Parole »Dem Leben das Schönste abgewinnen, die Freude« ausgegeben hatte, wenig Sympathien ein. Wenn man sich ein einigermaßen zutreffendes und plastisches Bild vom damaligen NWV machen will, muss man den Blick auf den Zugvogel in seiner gegenwärtigen Gestalt und die kleineren Bünde richten, die in den Krisenjahren um 1968 und danach aus dem Nerotherbund hervorgegangen sind.10 Doch zurück zum Meißnertag 1963: Tiefer berührt hat mich der Sprechchor »Columbus« des Bundes deutscher Jungenschaften (BdJ). So etwas hatte ich zuvor noch nie gehört. Für mich war hier erstmals sprachmächtig und gültig ausgesagt, was als Aufbruch ins Ungewisse den Kern unserer Fahrtenerlebnisse ausmachte. Beim nächsten Bundestag der Nerother, 1964 bei der Burg Montfort in der Pfalz, habe ich mit einigen Freunden Ähnliches versucht.11 Es ging auch darin um Aufbruch, aber die Qualität des Sprechchors von Alexander Gruber auf dem Meißner hatte unser Versuch ganz gewiss nicht.12 Überhaupt schien mir der Beitrag der Jungen Bünde zum Meißnertag ’63 ganz im Zeichen des BdJ zu stehen. Daran galt es Maß zu nehmen, in diese Richtung wollten wir den eigenen Bund bringen. Der war auf dem Meißner eher schwach vertreten, und der Ein9 Hotte Schneider : Die Waldeck. Lieder, Fahrten, Abenteuer, Berlin 2005. 10 Zugvogel-Deutscher Fahrtenbund, 1953 aus dem NWV hervorgegangen, ferner Weinbacher Wandervogel, gegründet 1984 sowie Wandervogel. Bund für Jugendfahrten, gegründet 1982 und Jungenbund Phoenix, gegründet 1976. 11 Dieser Bundestag unterschied sich von den voraufgegangenen deutlich durch eine Vielzahl von Neuerungen: Es gab eine thematische Ausrichtung des Lagers, eine grafisch anspruchsvolle Lagerzeitung, ein Liederheft mit neuen Liedern, die sich von nerothanen Traditionsgesängen abhoben, eine sogenannte »Kunstjurte«, in der kunsthandwerkliche und künstlerische Arbeiten aus den Gruppen ausgestellt wurden, Leserunden und ein abendliches Cembalokonzert des Altnerothers Walter Tetzlaff vor der Kulisse des Kohtenlagers. Das alles ging über die übliche Trias Bundesfeuer, Kochwettbewerb und Sängerkrieg weit hinaus. 12 Dieser Aufbruch scheiterte wenige Jahre später am Beharrungsvermögen der Mehrheit, aber auch am eigenen Unvermögen, die aufgebrochenen Konflikte mit der nötigen Gelassenheit durchzustehen.

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druck, den er hinterließ, war zumindest uneinheitlich. Karl Oelbermann, Oelb genannt, und schon zu Lebzeiten legendär, war damals 67 Jahre, also aus der Sicht der Jungen steinalt. Dass er gleichwohl nicht bei den Alten zu finden war, beim Festakt in Göttingen oder bei den Arbeitsgemeinschaften in Bad SoodenAllendorf, sondern im Lager der Jungen Bünde agierte, war nicht nur für Außenstehende erstaunlich und befremdlich. Offenbar hatte er sich ewige Jugend geschworen. Er war auf Lebenszeit Bundesführer des Nerother Wandervogels. Für viele war das ein Stein des Anstoßes. Für Oelb war es ein Amt, das er nie hatte einnehmen wollen. Dass er es zu Beginn der 1950er-Jahre auf sich genommen hatte, glaubte er seinem im KZ Dachau durch Unterlassung medizinischer Hilfe umgebrachten Zwillingsbruder Robert schuldig zu sein. Robert Oelbermann stand für uns im Mittelpunkt der Erinnerung; um sein Schicksal kreiste der Gründungsmythos13 des Nerother Wandervogels der Nachkriegszeit: Kein Bundestag, kein Ritterkapitel, keine Feuerrede, in der seiner nicht gedacht wurde. Karl Oelbermann, der sich immer nur als Roberts Lehnsmann gesehen hatte, war als Nachfolger im Bund respektiert, trotz seines geradezu vorzeitlich wirkenden Auftretens, seiner unbeholfenen Rede und seiner ästhetischen Unbedarftheit, die vor allem in den formbetonten jungenschaftlichen Bünden mit nachvollziehbaren Argumenten abschätzig belächelt wurde. Die Gelegenheit, sich ohne allzu große geistige Anstrengungen von ihm abzugrenzen, nutzten viele. Wer sich davon zurückhielt, achtete ihn wegen seiner Lauterkeit und seines Schicksals unter dem NS-Regime und in der erzwungenen Emigration. Es wäre niemandem von uns in den Sinn gekommen, seine Abwahl zu betreiben. Aber wir wollten ihm einen loyalen Bundesjungenführer an die Seite stellen. Meine Aufgabe bestand im Herbst 1963 darin, Martin Goetze, den ehemaligen Kanzler des NWV, im Auftrag eines größeren Kreises von Ordensrittern für diese Aufgabe zu gewinnen. Martin Goetze war gerade aus Lappland zurückgekehrt, wo er mit Frau und einer dort in einer lappischen Kohte geborenen Tochter im Gebiet des Inarisees unter den damals noch in größerer Zahl nomadisierenden S‚mi gelebt hatte, um die für seine zoologische Dissertation erforderliche Feldforschung über das Wanderverhalten einer dort verbreiteten Nagetierart zu betreiben. Zum Meißnertag hatte er seine mit Rentierfellen ausgelegte Kohte etwas abseits des Nerotherlagers aufgebaut, wo ich ihn in weit ausholenden Gesprächen von der Notwendigkeit zu überzeugen versuchte, Bundesjungenführer zu werden und sich so auf Oelbs Nachfolge einzurichten. Aber Martin Goetze war in der lappischen Tundra noch wunderlicher geworden, als er schon immer gewesen war. Nach stundenlangen Bemühungen gab ich am Ende auf: Er war für 13 Über zentrale Aspekte der Vorgeschichte informieren Norbert Schwarte, Stefan Krolle (Hg.): »Wer Nerother war, war vogelfrei.« Dokumente zur Besetzung der Burg Waldeck und zur Auflösung des Nerother Wandervogels im Juni 1933, 2. erweiterte Aufl. Witzenhausen 2003.

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diese Aufgabe nicht mehr zu gewinnen, und ich war mir auch nicht mehr sicher, ob er wirklich der richtige gewesen wäre. Das hielt mich damals in Atem – nicht die Frage, wie sich die Bünde in der pluralistischen Massengesellschaft positionieren sollten. Dass sie dort »angekommen« waren, die Demokratie bejahten, sich längst keine Avantgarderolle mehr zuschrieben und im Kontext des – wie man heute sagen würde – jugendkulturellen Mainstreams Außenseiter waren, schien mir evident zu sein und keine Bekenntnisse oder rechtfertigenden Erklärungen zu erfordern. Nur schwach kann ich mich an die Ausstellung erinnern, die die beiden Nerother Uli Rauber14 und Klaus Th. Guenther15 arrangiert hatten. Sie sollte selbstironisch und mit einem gewissen Abstand Stationen der Jugendbewegung markieren. Das war gut gemeint und im Hinblick auf das zu befürchtende Pathos des Festgeschehens sicher berechtigt, in der Ausführung aber nicht sonderlich gelungen. Mag sein, dass ich die einzelnen Exponate, die den Weg zum sogenannten Pressezentrum säumten, nicht vergessen, sondern als misslungen aus der Erinnerung verdrängt habe. Unvergesslich ist mir dagegen das nächtliche Fest in der Jurte der Setoken. So nannte sich damals die ehemalige Pfadfinderjungenschaft Speerwache unter Hans-Jürgen Willeke, dem späteren Skipper des bündischen Segelschiffs Falado von Rhodos. Dieser kleine Bund war kurz zuvor dem NWV beigetreten. Es war ein rauschhaftes Fest im Zenit dieser Gemeinschaft. Spätestens hier bin ich auf dem Weg durch meine Erinnerungen an einem Punkt angekommen, wo der Zeitzeugenbericht vollends ins Anekdotische rutschen könnte. Deshalb will ich mich auf zwei Momente beschränken, die aber nur erwähnt und nicht mehr ausführlich gewürdigt werden sollen. Zum einen geht es um unseren Besuch bei Gustav Wyneken und zum anderen um die »Meißner-Erklärung der jungen Bünde« und unseren vergessenen Gegenentwurf. Gustav Wyneken grollte von Göttingen her, aus dem ehemals stolzen Wandervogel sei »zahmes Wandergeflügel« geworden, und blieb dem Meißnertag fern. Das nahmen einige Nerother zum Anlass, ihn in Göttingen zu besuchen. Wir waren nicht viele, vielleicht zehn oder zwölf Meißnerfahrer. Da stand er nun vor uns: gebeugt vom Alter, 89-jährig, nahezu blind, und hörte unseren Worten und unserem Gesang zu. Ob er ihm gefiel, blieb unklar. In seiner Antwort ging er darauf ebenso wenig ein wie auf den Meißnertag von 1913 oder von 1963, aber was er sagte, dürfte nicht nur mir in Erinnerung geblieben sein. Er sprach über die Lage der Dritten Welt und über die Bevölkerungsexplosion. Ihn beschäftigte 14 Uli Rauber war als zeitweiliger Kanzler des NWV Mitbegründer der »Bündischen Union«, einer Vorgängereinrichtung des »Ringes junger Bünde« (RjB). 15 Klaus Th. Guenther hatte 1961 das damals viel beachtete Taschenbuch »Protest der Jungen« herausgegeben, in dem er sich mit den Kultautoren Kerouac und Ginzburg sowie deren Einfluss auf die amerikanischen Beatniks auseinandergesetzt hatte.

Erinnerungen an den Meißnertag 1963

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die Zukunft, nicht die jugendbewegte Vergangenheit. Das machte auf mich mehr Eindruck als die allfälligen Rückblicke der Festveranstaltung. Die andere Episode war mir entfallen, bis ich vor einiger Zeit die Kopie eines Schriftstücks mit dem Titel »Die Meißner Forderung 1963« in die Hand bekam, das neben anderen auch meine Unterschrift trug. Jetzt erinnerte ich mich : Dieses Dokument war im NWV entstanden und als Gegenentwurf zur »Erklärung der Jungen Bünde« gedacht. Unsere »Meißner Forderung« war kaum mehr als eine Paraphrase der alten Meißnerformel und lautete: »Wir wollen auch heute unser Leben nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit gestalten. Wir glauben, dass diese Haltung über alle Grenzen hinweg notwendig ist. Wir fordern für die bündische Jugend freien Raum und Zeit zur Verwirklichung dieses Zieles.« Was mit der Forderung nach Freiraum und Zeit konkret gemeint war, ist mir entfallen. Ich vermute dahinter allzu opake Verweise auf die damals aufkommende Forderung nach Ganztagsunterricht an den allgemeinbildenden Schulen und die äußerst knapp bemessenen Urlaubsansprüche der Lehrlinge in unseren Reihen : Sie betrugen in der Regel nicht mehr als zwei Wochen pro Jahr und machten gemeinsame Großfahrten für Schüler und Auszubildende nahezu unmöglich. Aber das bleibt undeutlich, wobei einzuräumen ist, dass sich griffige Formeln und Parolen stets durch eine gewisse Unbestimmtheit auszeichnen. Die »Verlautbarung der Jungen Bünde« hatte dagegen ein ganz anderes Format : Gegliedert in die Abschnitte A, B, C und dann noch einmal untergliedert nach arabischen Ziffern – inhaltsschwer und differenziert kam sie daher wie das Expos¦ zu einer jugendsoziologischen Semesterarbeit. Dabei ist alles, was da festgehalten ist, gut und richtig, aber als Verlautbarung in der Nachfolge der Meißnerformel von 1913 blieb ihr die Wirkung, die sich der Vorbereitungskreis erhofft hatte, versagt. In der damals maßgeblichen Publizistik blieben wir »Nachlassverwalter der untergegangenen Jugendbewegung« – so der »Spiegel« in einem Abgesang auf den Meißnertag ’63.16 In der Tat: Gemessen am Erscheinungsbild der großen Jugendverbände waren wir damals exotisch, und ein Interesse kam erst auf, als man sich in der Jugendforschung auf die verschiedenen Jugendszenen einließ und die damals im öffentlichen Diskurs virulente »formierte Gesellschaft«, in die sich die großen Jugendverbände umstandsloser einsortieren ließen, diskreditiert war. Nimmt man alles in allem, dann war der Meißnertag von 1963 für die, die dabei waren, ein großartiges Erlebnis; ein historisches Ereignis war er dagegen nicht. Aber so ist es immer gewesen : Die Jugendbewegung und die Bünde, die sich später darauf beriefen, waren und sind – wie das Hermann

16 »Lasst uns die Köpfe, nicht die Beine zählen«, in: Der Spiegel, 1963, Heft 42, S. 77.

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Mau schon 1949 den Historikern gut begründet zu bedenken gegeben hat17 – erlebnisreich, aber ereignisarm.

17 Hermann Mau: Die deutsche Jugendbewegung, in: Walter Sauer (Hg.): Rückblicke und Ausblicke. Die deutsche Jugendbewegung im Urteil nach 1945, Heidenheim 1978, S. 95 – 110.

Erdmann Linde

Der Hortenring in den frühen 1960er-Jahren

Wer oder was war der Hortenring, der mit vollem Namen »dj.1.11 hortenring« hieß? Im Gegensatz zu anderen Bünden, die im Kontext unserer Tagung angesprochen werden, existiert der Hortenring nicht mehr. Er hatte nur ein kurzes Leben, nämlich von etwa 1959 bis gut 1964. Entstanden war er nicht in den großen Städten im Norden oder Süden, sondern er stammte aus dem industriellen Herzen der Republik, aus dem Ruhrrevier, also aus der Region »tief im Westen, dort wo die Sonne verglüht«. Über ihn sind Erinnerungsbilder und Beurteilungen verbreitet; der Hortenring sei die Jungenschaft der proletarischen Jugend, stark politisiert, aktivistisch, Ostermarschierer der ersten Stunde oder sogar der Schwarze Block der Jugendbewegung gewesen. Das ist alles fast richtig und alles allein auch wieder falsch. Solche Urteile erinnern mich an Phantomschmerzen, denn das genaue Hinsehen und das Beschreiben des Hortenrings fällt nach über fünfzig Jahren schwer. Mein Erinnern ist deshalb auch nur ein Versuch, subjektiv und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit ein paar Hinweise zu liefern. Die Jungenschafter aus dem Hortenring waren bereits vorher im weitesten Sinne bündisch vorgeprägt: Sie kamen aus kirchlichen Jugendgruppen, aus den Pfadfinderbünden (besonders aus dem Bund Deutscher Pfadfinder oder von der Christlichen Pfadfinderschaft) und kleineren freien Bünden. Altjungenschafter aus der Vorkriegszeit waren hier nicht zu finden. Der Hortenring war eine Neugründung ohne lange Ahnentafel; deshalb nannte man sich selbst auch »deutsche autonome jungenschaft«. Es war der Aufbruch einer neuen Generation. Oft waren die Mitglieder des Hortenrings in ihren bisherigen Bünden der Führernachwuchs, die kommenden Feldmeister und Rover der Pfadfinder gewesen, denen ihre Bünde zu eng geworden waren. Eine Zukunft mit noch mehr Knotenkünsten, mit Kartenlesen, Kompass und Morsealphabet konnte nicht mehr ihr Ding sein! Jungenschafter hatten sie in den Jugendherbergen zwischen Bonn und Hamm, zwischen Wesel und Siegen gesehen, und deren Auftritte waren so ganz anders gewesen: keine Halstücher, keine Hüte, keine Leistungsabzeichen und

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erst recht keine Sippenführer, die bestimmten, wer was zu tun oder zu lassen hatte, sondern sie trugen Russenkittel (Rubaschka), kürzeste Lederhosen, ein Koppel mit Koppelschloss, auf dem der Falke über drei Wellen schwebte, manchmal auch eine Lederpeitsche (Nageika) um den Hals und die blaue Jungenschaftsjacke, geschmückt mit rotgrauen Troddeln. Dieses Design zog an und machte neugierig. Und vor allem behaupteten die Jungenschafter, es gebe keinen Bund, keine Führer, keine Statuten oder Regeln, sie seien autonom – erkennbar an den rotgrauen Farben. Alle spielten ein Instrument, besonders gerne Gitarre oder Balaleika. Das Auftreten war recht breitbeinig oder – klarer gesagt – überheblich. In Jugendherbergen schliefen sie nicht, am Abend zogen sie lachend und singend in die Wälder. Sie sangen ganz andere Lieder als die üblichen: fremdsprachige, russische, aber auch solche mit einer eindeutigen Botschaft, die zum Beispiel hieß: »Verlasst die Tempel fremder Götter, glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt!« Von diesem Jungenschaftsstil waren wir magisch angezogen. Wir ließen unsere alten Bünde hinter uns, drehten uns die rotgrauen Troddeln, nähten die Russenkittel und suchten nach den Inhalten von dj.1.11. Die Dortmunder Neujungenschafter hatten Glück, denn sie fanden zwei Impulsgeber : Arno Klönne, der damals bei der Dortmunder Sozialforschungsstelle arbeitete, und Hajo Zenker, der als Chefredakteur das Dortmunder »Westdeutsche Tageblatt« leitete. Beide erzählten uns von tusk und der alten dj.1.11 und schenkten uns die kleine Schrift von Kay Tjaden »Rebellion der Jungen«. Sie wurde gewissermaßen unsere Bibel. Viel haben wir damals von dem Text zwar nicht verstanden, aber ein Etikett für die Jungenschafter ließ uns nicht mehr los: Sie bezeichneten sich als »Selbsterringende«. Es schien genau das auszudrücken, was auch wir fühlten und wonach wir uns sehnten: ganz selbstbestimmt zu leben, aus uns selbst unser Leben zu gestalten, dies gemeinsam, aber ohne Vorschriften von anderen oder gar von oben! Damals kommunizierten wir heftig und fast täglich mit Briefen, Postkarten und Telegrammen, da Telefone bei uns nicht weitverbreitet waren. Oft ging es dann dabei darum, was Selbsterringende sind und wie der Weg dorthin zu finden sei. Eine unserer damaligen Erkenntnisformeln lautete: »Selbsterringend ist man, wenn der Mensch dem Menschen ein Helfer ist auf dem Weg zum gerechteren und besseren Leben.« Der Begriff »Selbsterringende« dockte für uns später an die Meißnerformel an; es war für uns die Fortentwicklung von 1913. Die Horten bestanden zum Teil nur aus vier bis fünf Mitgliedern. Sie waren lose Gruppen. Nachwuchs wurde nicht gesucht, das heißt, »Pimpfe« wurden nicht geworben. Wer zu uns kommen wollte, hatte uns gesehen und war offenbar bereit, anders zu sein – und das war kein leichtes Unterfangen. In der Adenauerzeit zu Beginn der 1960er-Jahre regierte die CDU sowohl im Bund wie in unserem Heimatland NRW mit absoluter Mehrheit und strenger Hand. Es herrschte eiskalter Kalter Krieg und der Mauerbau von 1961 führte zu Stillstand

Der Hortenring in den frühen 1960er-Jahren

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und absurden Einschränkungen. Andrej Wajdas Film »Der Kanal« erhielt zum Beispiel 1957 in Cannes den Preis der Jury, trotzdem konnte er in der BRD auf Anordnung eines interministeriellen Ausschusses nur gekürzt gezeigt werden. Szenen besonderer Brutalität der SS, so hieß es, seien der bundesrepublikanischen Bevölkerung nicht zuzumuten. Arno Klönne beschenkte uns mit den »pläne«-Heften der neuen Folge. Sie wurden neben »konkret« und der damals in Hamburg erscheinenden »Anderen Zeitung« unsere Wegweiser in dem politischen Dschungel. Durch die Lektüre dieser Zeitschriften kannten wir den Kolonialismus und die Freiheitskämpfe in Algerien, Südafrika, Spanien, Portugal und anderswo. Die Bürgerrechtsbewegung in den USA um Martin Luther King und auch die Kennedys betrachteten wir voller Hoffnung, die Kubakrise und die Spiegelaffäre voller Sorge. Wir nahmen aufmerksam und engagiert am politischen Leben teil. Damals war das Volljährigkeitsalter 21 Jahre und der Urlaubsanspruch für 16- bis 18-jährige betrug zwölf Tage bei einer Sechstagewoche. Wer also im Sommer auf eine längere Großfahrt gehen wollte (und das wollten wir natürlich – wir waren ja Bündische!) und ausgelernt hatte, der kündigte und suchte sich nach der Fahrt einen neuen Betrieb. Da unsere Horten weitestgehend aus Lehrlingen und jungen Arbeitern bestanden, sind große Großfahrten bei uns allerdings nicht die Regel gewesen. Aber es gab sie dennoch – bis Israel oder nach Jugoslawien, Skandinavien oder Spanien. Gegründet wurde der Hortenring am 1. Mai 1960 im Wald in der Nähe der Jugendherberge Ratingen. Vertreter von fünfundzwanzig Horten aus dem Rhein-Ruhrgebiet waren erschienen und sich schnell einig geworden. Wir wollten zusammen zwar etwas machen, aber wir wollten keinen Bund gründen und brauchten keinen Bundesführer. Als Vertrauensperson und Postadresse bestimmte die Runde Toni Merkenich aus Bonn. Toni Merkenich verließ allerdings bald den Hortenring und seine Spur verliert sich. Allerdings ist sein Name in einem für die damalige Zeit typischen Dokument festgehalten. In einem Mitteilungsblatt des Landesjugendrings NRW heißt es 1960: »Direkt wohltuend wirkt auf uns ein Schreiben der Stadt Ratingen betr. Jugendschutz in der Öffentlichkeit. Im Waldgelände in der Umgebung der hiesigen Jugendherberge ist seit Monaten ein Treiben von Jugendlichen zu bemerken, das diese Gegend nachts zu einem jugendgefährdenden Ort gem. § 1 JSchÖG werden lässt. Größere und kleinere Horden von Jungen, zu denen sich immer wieder einzelne Mädchen gesellen, treiben dort ihr Unwesen, indem sie sich aus nahegelegenen Gaststätten Wermutwein und Branntwein besorgen und Orgien feiern, teilweise auch ›Verlobung‹ usw. Sie übernachten dann, sehr oft paarweise, unter Büschen, in Futterkrippen für das Wild, selbstgebauten Buden usw. Von den Gästen der Jugendherberge kommen Klagen, weil sie von diesen Jugendlichen belästigt und angepöbelt werden. Die meisten Jungen gehören sogenannten Jugendorganisationen an, und zwar 1. der Deutschen Autono-

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men Jungenschaft und 2. dem Nerother Bund e. V. Die Jungen kommen aus allen größeren Städten der Umgebung hierher. Zwei kürzlich gemeinsam mit Polizei, Ordnungs- und Forstbehörden durchgeführte durchgreifende Aktionen sorgten einstweilen für Ruhe. Am 10. 7. 1960 wurden aus ihrem Zuständigkeitsbereich folgende Jugendliche namentlich festgestellt. […] Es wird gebeten, sich der Jugendlichen anzunehmen. Die Autonome Jungenschaft hat angeblich weder Landes- noch Bundesleitung. Es existiert lediglich eine ›Repräsentative Person‹ und zwar Toni Merkenich aus Bonn. Diese Jugendgruppe hatte bereits Jugendherbergsverbot für ganz NordrheinWestfalen.«1

Der Artikel trug die Überschrift »Autonome Jungenschaft«. Ergebnis dieses Rundschreibens waren Besuche von Jugendpflegern bei einigen Jungenschaftern oder Vorladungen ins Jugendamt. Im Allgemeinen blieben diese jedoch folgenlos. Dieser Vorfall und die im Rundschreiben geschilderten Formen waren jedoch nur in Teilen typisch für uns. Typisch war die ständige Suche nach Orientierung für unser Leben. Wir lasen viel, besonders gern Texte von Bertold Brecht, der nach dem Mauerbau aus etlichen westdeutschen Theaterspielplänen verbannt wurde; wir probten kühn Stücke von ihm ein, so sein »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, und wir philosophierten quer durch die Zeit und erörterten dabei Streitfragen der Jungenschaft von den Selbsterringenden bis zum Zen-Buddhismus und wieder zurück. All das fand seinen Niederschlag in unserer Hortenring-Zeitschrift »stufe«.2 Sie sollte uns mit jeder Ausgabe eine Stufe voranbringen. Von ihr erschienen zwischen 1960 und 1963 neun Ausgaben. Zuerst nur aus sechs hektografierten und zusammengehefteten Seiten bestehend, umfasste die letzte Ausgabe sechzehn grafisch anspruchsvoll gestalteten Druckseiten. Neben den dj.1.11-internen Diskussionen über Weg und Ziel mit Aufrufen wie: »Reißt die Mauern ein! Nicht Fahrtenbund! Nicht Niveaubund! Nicht Ortsjungenschaft! Sondern dj.1.11!« reüssierte damals eine Parole in besonderer Weise: »Jugend ist Entwicklung. Entwicklung ist Hass gegen den bisherigen Zustand und die Liebe zum besseren Menschen. Das wieder ist Revolution!« Heute fallen besonders die selbstgeschriebenen Kurzgeschichten, Gedichte, Lieder und Fahrtenberichte, aber auch die Stellungnahmen zu tagesaktuellen Streitfragen wie zum Beispiel Wehrpflicht, Spiegelaffäre und Röhrenembargo auf. Typisch ist ein kleiner Aufsatz mit der Überschrift »Muss ein Jungenschafter Buddhist sein?! Antwort: Nein! Aber es hilft.« Die »stufe« und kleine, selbst gedruckte Gedichtheftchen wurden innerhalb des Hortenrings verteilt und verkauft und haben sicher zum Ruf beigetragen, diese »autonome jungenschaft« sei etwas Besonderes. Mit seiner »Schwarzweißen Aktion« zum 17. Juni 1961 ist der Hortenring 1 Mitteilungsblatt des Landesjugendrings NRW, Nr. 4 vom Oktober 1960. 2 Archiv der deutschen Jugendbewegung, Z 300, Nr. 2648.

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einmal in ganz besonderer Weise aufgefallen: Große DIN-A1-Plakate mit der Aufforderung an die Bundesbürger : »wacht doch endlich einmal auf« und einem Text, der diffus an die Opfer des DDR-Aufstandes vom 17. Juni 1953 erinnerte, der als Ergebnis nur einen arbeitsfreien Tag im Westen gebracht habe, wurden in der Nacht vor dem Feiertag »wild« in den Städten an Rhein und Ruhr an Wände und Litfaßsäulen geklebt. Die Politische Polizei beendete diese Aktion sehr schnell und wir fanden dann Eingang in diverse Polizeikarteien und Zeitungsberichte. So schrieben die Dortmunder »Ruhr-Nachrichten« am 19. Juni 1961 unter der Überschrift »Genehmigung fehlte«: »Am Vorabend des 17. Juni wurden von einigen Mitgliedern der Organisation ›Deutsche autonome Jungenschaft‹ im Stadtgebiet Plakate geklebt, die alle Deutschen aufforderten, endlich aufzuwachen und der in Unfreiheit Lebenden jenseits der Zonengrenze zu gedenken. Leider hatten die jungen Leute, denen diese Aktion sicherlich ein Herzensbedürfnis war, nicht die Genehmigung des Ordnungsamtes für das Plakatieren eingeholt. Das war für die Polizei Grund genug, eine Anzeige zu erstatten. Außerdem dürfte diese politisch neutrale Jugendgruppe mit einer Anzeige wegen Verstoßes gegen das Pressegesetz zu rechnen haben. Das mahnende Plakat trug weder den Namen des Verantwortlichen noch der Druckerei. Bei allem Wohlwollen für gutgemeinte Aktionen junger Menschen – die gesetzlichen Bestimmungen darf man halt nicht vergessen.«

Der Verfassungsschutz war damals schon mit »Durchblickern« bestückt, wie wir sie heutzutage aus dem NSU-Fall kennen. So wurde mir etwa vorgehalten, man wisse genau, was sich hinter unserem dj.1.11-Abzeichen verberge: Der Falke – das seien wir, und die drei Wellen, auf die wir uns stürzen, um sie zu zerschlagen, das seien Kirche, Staat und die Spießbürger. Diese Interpretation hat uns sehr erheitert! Die »Schwarzweiße Aktion« selbst blieb dann doch für uns widersprüchlich: Wir wollten zwar aufrütteln und provozieren, aber nicht in einer Reihe mit dem Kuratorium Unteilbares Deutschland stehen. Wir wollten an einen Arbeiteraufstand erinnern, der uns im Kalten Krieg einen freien Tag beschert, aber keine Diskussionen über das Leben hier und jetzt beflügelt hatte. Schon am 17. Juni 1960 waren wir zum Hohen Meißner getrampt und hatten dort eine offizielle Kundgebung mit dem damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke, über den wir uns als Person (»Opa!«) lustig machten und dessen Auftritt wir an diesem Ort für falsch hielten, gestört. Der Bundesjugendring hatte zu diesem Ereignis Busse voller beschlipster Jugendlicher geschickt, die Lübke zujubelten, während wir pfiffen und krakeelten. Ein Jahr später, direkt nach der Plakataktion, waren wir wieder auf dem Hohen Meißner und trafen uns dort mit dj.1.11-Gruppen aus Kassel, Moringen und Nürnberg unter der Wortführung von Johannes Ernst Seiffert. Er versuchte dort, aus uns »richtige dj.1.11-er« zu formen und dies durch Bogenschießen und Fechten ebenso wie durch Geschichten von Martin Buber und die Vermittlung von Weisheiten der Meister des Zen-Buddhismus. In mein Fahrtenliederbuch

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schrieb Seiffert damals: »Im großen Zweifel wächst großes Erwachen!« Und ich notierte mir den Satz von ihm: »Ihr seid was – ihr wisst bloß nicht, was!« Von da an bestanden zwischen dem Hortenring und vor allem einzelnen HortenringMitgliedern dauerhafte Kontakte zur »richtigen« dj.1.11 in Nürnberg, Kassel, Göttingen und Moringen. Für mich und meine Freunde gab es jedoch ein Hindernis, der alten und jetzt neu belebten dj.1.11 zu folgen: die starren Organisationsregeln, die von der »Kanzlei von dj.1.11« in Nürnberg als verbindlich verbreitet wurden. Besonders über die Teilnahme am Ostermarsch und über die Aufnahme von Mädchen in die Jungenschaft stritten wir heftig. Schon 1961 zogen einige von uns mit dem Ostermarsch von Duisburg nach Dortmund – dies allerdings ohne Kluft, denn das hatte der Hortenring abgelehnt, was wir akzeptierten, doch wir hielten uns an den Geist der späteren Plakate zum 17. Juni: »Wacht endlich auf heißt: tut was!« und an unser Verständnis von dj.1.11: »Lebe nach Deiner Aussage!« Im Ostermarsch der nächsten Jahre dann mit Kluft und Gitarren, Balaleikas und Banjos gehörten wir zu denen, die einen musikalischen freudigen und lebendigen Protest zeigen wollten – dies im Gegensatz zu einigen Ostermarschfunktionären, die lieber einen Trauermarsch der Überlebenden nach einer Atombombenexplosion inszenierten. Der Kanzlei von dj.1.11 passte unsere Teilnahme überhaupt nicht. Der Kanzler schrieb mir im März 1963: »wir sind dj.1.11 – unsere aktion ist nicht der ostermarsch, aber wir freuen uns, daß es menschen gibt, die atomexplosionen und kriege überhaupt verhindern wollen. Aber wir sind auch davon überzeugt, daß es wichtiger ist, uns für dj.1.11 einzusetzen, als für anderes – sonst wären viele von uns beim ostermarsch dabei.« Diese Vielen hätten uns beim Ostermarsch 1963 gutgetan, denn als wir gegen das Einreiseverbot englischer Ostermarschierer, die in einem Flugzeug auf dem Düsseldorfer Flughafen ausharrten, durch den damaligen NRW-Innenminister Dufhues mit einem Sitzstreik auf der Königsallee in Düsseldorf protestierten, waren in der Gruppe der Demonstranten nur fünfzehn Jungenschafter. Da der Pilot sich weigerte, wieder zu starten, stand das Flugzeug auf dem Rollfeld und keiner durfte aus- oder einsteigen. Mit diesem Sitzstreik (einem der ersten in der Bundesrepublik) wollten wir sowohl die Einreise erzwingen als auch die Ausreise einer deutschen Gruppe zum Ostermarsch in London ermöglichen. Doch es kam anders: Die Polizei setzte Wasserwerfer im Direktbeschuss ein und brachte uns ins Gefängnis. Dort saßen wir dicht gedrängt auf dem Boden und sangen uns Mut zu mit Liedern wie »Die Gedanken sind frei« und »Oh Freedom«. Nachdem wir auf Zellen verteilt waren, ertönte noch nach Mitternacht ein Kanon aus den verschiedenen Zellen: »Swing low sweet chariot, coming for to carry me home«. Am nächsten Morgen wurden wir erkennungsdienstlich mit Fingerabdruckabnahme und Fahndungsfotoaufnahmen behandelt und verhört. Anwälte waren nicht zugelassen! Neben Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt usw. wurde uns auch ein Verstoß gegen das KPD-Verbot vorge-

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worfen. In den späteren Prozessen gab es meist Urteile, die auf eine vierzehntägige Haft und/oder Geldstrafen hinausliefen. Solche Erfahrungen bestimmten auch unsere Teilnahme am Singewettstreit während der Feier auf dem Hohen Meißner im selben Jahr. Zum Schrecken etlicher bündischer Führer und ihres Gefolges sangen wir kein munteres Fahrtenlied, sondern den Ostermarschklassiker »Strontium 90, Strontium 90 vergiftet die ganze Welt …«. Damit waren wir als Querulanten erkannt und wurden kurzerhand nach unseren Protesten gegen die Rede eines Altwandervogelverteters aus Österreich als »Elemente, die sich eingeschlichen haben« bezeichnet und aus dem Lager verbannt. Für einige von uns war das der Schlussstrich unter die Suche nach einem Jungenreich. Auch altersgemäß gingen wir von nun an getrennte Wege, denn ein Weiterwirken in einem jugendbewegten »Lebensbund«, wie andere jugendbewegte Bünde es praktizierten, lehnten die Jungenschafter ab. Die Möglichkeit, das Abitur über den zweiten Bildungsweg nachzuholen, erwies sich für viele von uns als attraktiv und hatte zum Ergebnis, dass aus dem Hortenring vor allem Lehrer aller Schulformen hervorgingen. Und die Anderen? Da ist ziemlich viel vertreten: Juristen, Journalisten, Polizisten und Bankräuber, Künstler und Politiker, Berufssoldaten und Pazifisten und eben Lehrer, Lehrer, Lehrer. Wenn alle diese etwas aus ihrer Zeit im dj.1.11-Hortenring mit auf ihren weiteren Lebensweg genommen haben, dann ist viel gewonnen …

Kay Schweigmann-Greve

»1963 ist das an uns vorbeigegangen …«. Der Hohe Meißner, die Arbeiterjugend und »Die Falken«

»Eine Gruppe sozialdemokratisch gesonnener Wandervögel aus Hannover, darunter mein älterer Bruder Lorenz, nahm an dem berühmten Meißnertreffen 1913 teil. Über einem der auf der Hausener Hute aufgeschlagenen Zelte, wahrscheinlich lagerten dort Studenten, wehte eine schwarz-weiß-rote Fahne. Das hat die Freunde so geärgert, dass sie noch in der Nacht zurück nach Kassel fuhren, um dort von einem sozialdemokratischen Schneider ein großes rotes Stück Fahnentuch zu besorgen, um es über ihrem Zelt zu hissen. So wehten auf dem Hohen Meißner am nächsten Tag die rote und die schwarz-weiß-rote Fahne nebeneinander.«1

Das ambivalente Verhältnis der Arbeiterjugend zur Meißnertradition wird in dieser Anekdote deutlich, die Ernst Främke (1904 – 1995), Roter Falke und Gruppenhelfer bei den Kinderfreunden in der Weimarer Republik und später Gründungsmitglied der neuen Falkenbewegung ab 1945, gern erzählt hat. Optisch und in ihren Aktivitäten glich die frühe proletarische Jugendbewegung, wie sie sich ab 1904 von Berlin und Mannheim aus unter der deutschen Arbeiterjugend ausbreitete, der zeitgenössischen bürgerlichen: Schillerkragen, Wanderungen in der Natur, gemeinsames Singen, wildes »Abkochen« und ungezwungenes Zusammensein in der Gleichaltrigengruppe. Stilisierten sich die Wandervögel als mittelalterliche Scholaren, konnten die Arbeiterjugendlichen an die realen Erfahrungen wandernder Handwerker und die Migrationsbewegungen der armen Landbevölkerung und der neu entstandenen Industriearbeiterschaft anknüpfen. Abgesehen von der sozialen Lage und der jeweiligen Milieueinbindung scheinen Lebensgefühl und Ausdrucksformen dieser Bürgersöhne und jungen Arbeiter viel gemeinsam gehabt zu haben: Sie waren auf die Etablierung selbstbestimmter jugendlicher Freiräume gerichtet und frönten einer dezidierten Stadtflucht »aus grauer Städte Mauern«2 »hinaus in Wald und 1 Diese Anekdote erzählte Ernst Främke dem Autor zu Beginn der 1990er-Jahre. 2 »Aus grauer Städte Mauern«, Text: Hans Riedel, Melodie: Robert Götz, in: Die Mundorgel, Neubearbeitung, Köln u. a. 1982, Lied Nr. 170. – »Aus grauer Städte dunklen Mauern«, Text: R. Holzinger, polnische Melodie, in: Kali Prall (Hg.): Das Echo, 2. Aufl. Bonn 1957, S. 148.

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Feld«3. Diese Jugendlichen waren jedoch in stärkerem Maße Teil der allgemeinen Gesellschaft und der Erwachsenenwelt verhaftet, als ihnen selbst bewusst war. Die gesellschaftlichen Schranken und die politischen Gegensätze zwischen den Klassen waren so dominierend, dass bei Begegnungen die gefühlten Unterschiede die Gemeinsamkeiten überwogen. Am Verhältnis der Arbeiterjugendbewegung zum Meißnertreffen der Freideutschen 1913 und 1963 zu den Bündischen lässt sich dieser Umstand demonstrieren. Selbst nach dem Zerfall der kulturell unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus wirkt dieser Mechanismus bei den stark von ihren Traditionen bestimmten Bewegungen bis heute fort.

1913 und die Arbeiterjugendbewegung Der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 hat in den Annalen der Arbeiterjugendbewegung nahezu keine Spuren hinterlassen. Wenn man in der Zeitung »Arbeiter-Jugend«, dem Organ der sozialistischen Arbeiterjugend, die Ausgaben der Monate September bis November durchblättert, stellt man fest, dass dort das Treffen mit keinem Wort erwähnt wird – und dies, obwohl in der Zeitschrift eine monatlich erscheinende Rubrik »Aus der Jugendbewegung« existierte, die Berichte von Arbeiterjugendtagen und Konferenzen der regionalen Jugendausschüsse der Sozialdemokratie enthielt. Die Arbeiterjugendbewegung befand sich zu dieser Zeit in einer grundsätzlich anderen gesellschaftlichen Situation als die Freideutsche Jugend: Die Arbeiterjugendorganisationen waren nach dem Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes 1908 verboten und aufgelöst worden. Ihre Gruppentreffen und Veranstaltungen wurden oftmals mit massiver Polizeigewalt unterbunden. Gruppenleiter und Referenten auf Bildungsveranstaltungen waren als »Rädelsführer« von der Polizei misshandelt und nicht selten auch noch gerichtlich verfolgt worden. Karl Korn, Mitherausgeber der »Arbeiter-Jugend« und erster Chronist der Bewegung, sprach in seiner 1922 erschienenen »Geschichte der Arbeiterjugendbewegung« von einem »Sozialistengesetz gegen die Jungen« und beschrieb dieses brutale, repressive Vorgehen der kaiserlichen Polizei gegen die Organisationen und die Aktivitäten der freien Arbeiterjugend.4 Während auf juristischem Wege die Arbeiterjugendvereine zu »politischen Vereinen« erklärt, anschließend verboten und schließlich aufgelöst wurden, bemühten sich die lokalen Polizeibehörden darum, die tatsächlichen Aktivitäten der Arbeiterjugend zum Erliegen zu 3 »Wir sind jung, die Welt ist offen«, Text: Jürgen Brand (= Emil Sonnemann), Melodie: Michael Eggert, in: Prall: Echo (Anm. 2), S. 14. 4 Karl Korn: Die Arbeiterjugendbewegung. Eine Einführung in ihre Geschichte. Neudruck mit einer kritischen Einleitung von Arno Klönne (= Geschichte der Jugend; 3), Münster 1982, S. 203.

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bringen. Auch völlig unpolitische Wander- und Spielaktivitäten waren vor polizeilichen Übergriffen nicht sicher : »Wiederholt kam es schon in dieser Anfangsära des Reichsvereinsgesetzes vor, dass wandernde Jugendgruppen, die singend ihres Weges zogen, von uniformierten Gesetzeswächtern verfolgt und attackiert wurden. So ereignete sich auf einem Massenausflug, den der Berliner Jugendausschuss am 4. Juli 1909 nach einem Ausflugsort in der Nähe Berlins unternahm, dass berittene Gendarmen in die Züge der Ausflügler sprengten und sie in die Straßengräben jagten, wobei auch die Mädchen nicht geschont wurden und unter die Hufe der Pferde gerieten. In Charlottenburg ging die Polizei, angeführt von Leutnants, auf einem städtischen Spielplatz auf die im Spiel begriffene Jugend sogar mit Hunden los. Ähnliche Vorkommnisse wurden aus dem Rheinland, aus Düsseldorf, Köln und Delbrück gemeldet.«5

Auch einzelne Aktivisten unterlagen persönlicher Verfolgung: Der Bremer Lehrer Emil Sonnemann (1869 – 1950), der Verfasser bekannter Lieder der Arbeiterjugend wie »Wir sind jung, die Welt ist offen« und »Wenn die Arbeitszeit zu Ende«, wurde wegen von ihm geführter Wanderungen mit Arbeiterjugendlichen in die Natur, wegen seiner Vortragstätigkeit und seines schriftstellerischen Oeuvres im Februar 1913 aus dem Schuldienst entlassen.6 Selbst jugendliche Gruppenleiter mussten damit rechnen, auf Initiative der Polizei aus der Lehre entlassen zu werden: Dem Sohn eines »Vorwärts«-Redakteurs namens Bernhard Düwell wurde zum Beispiel wegen seiner Tätigkeit in der Arbeiterjugend in Berlin-Lichtenberg das Abiturexamen verweigert.7 Die Aktivitäten der Arbeiterjugend bewegten sich daher in einem engen, streng überwachten »unpolitischen« Rahmen. Die SPD richtete deshalb »Jugendausschüsse« ein, die die Arbeiterjugend bei der Abwehr staatlicher Übergriffe unterstützen, aber auch die politische Kontrolle der Partei über die Jugend gewährleisten sollten. Die »Freiheit« der Freideutschen Jugend, auf die diese so stolz war, war ein Privileg der Bürgerkinder. Bürgerliche Jugendorganisationen tauchten in der Arbeiterjugend ausschließlich unter dem Motto »Die Gegner an der Arbeit« auf. Allerdings verstand man dort unter diesem Motto nicht die Freideutsche Jugend. Bereits 1910 schrieb Karl Korn: »Unter der bürgerlichen Jugendbewegung in dem hier gemeinten, unsere Jugend angehenden Sinne wird in unseren Reihen gemeinhin die konfessionelle, die katholische und die evangelische Bewegung verstanden.«8 Hinzu trat der auf Initiative des Kriegsministeriums 1911 gegründete Jungdeutschlandbund des Generalfeldmarschalls Colmar von der Goltz, der die be5 6 7 8

Ebd., S. 204 f. Ebd., S. 218 f. Ebd., S. 219. Karl Korn: Die bürgerliche Jugendbewegung, hg. von der Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands, Berlin 1910, S. 3.

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reits bestehenden jugendlichen Wehrvereine zusammenfasste. Die bürgerliche Jugendbewegung interessierte Korn und die Arbeiterjugend nur insoweit, als sie bemüht war, Arbeiterjugendliche in ihre Reihen zu ziehen, um sie ideologisch gegen die Sozialdemokratie einzunehmen. Bürgerliche Jugendgruppen, die sich ausschließlich um die Jugend des Bürgertums bemühten, waren ausdrücklich nicht Gegenstand von Korns Ausführungen. In der »Arbeiter-Jugend« wurden neben staatlichen Übergriffen auf die eigene Arbeit vor allem die parteiische staatliche Jugendpflege und Veranstaltungen der jungdeutschen Wehrvereine sowie der katholischen Jugend kritisiert. Es ging also um Organisationen, die auch die auf dem Hohen Meißner vertretenen Bünde wohl nicht als ihresgleichen betrachtet hätten. Am 6. Dezember 1913 wurde in dieser Rubrik allerdings auch von einer Wehrübung von Wandervögeln in Cuxhaven berichtet, bei der es zu einem Todesfall unter den Übenden gekommen war.9 Die Zeitschrift »ArbeiterJugend« war das verbleibende wichtigste Ausdrucksmittel der jugendbewegten Arbeiter und ein zentrales Bindeglied zwischen den lokalen Arbeiterjugendvereinen mit einer großen Leserschaft.10 Bei ihrer Auswertung darf man allerdings nicht außer Acht lassen, dass sie im Wesentlichen die Perspektive der Zentralstelle für die Arbeitende Jugend, also den Blick der sozialdemokratischen Leitungsebene wiedergibt. Ob dieser immer mit der Perspektive der jugendlichen Leser übereinstimmte, darf bezweifelt werden. Die soziale Distanz zum Bürgertum, wie sie aus den Zeilen des Blattes spricht, dürfte der Lebenserfahrung der Leser jedoch weitgehend entsprochen haben. Auch die Naturfreundejugend als weitere jugendbewegte Organisation der Arbeiterbewegung nahm, soweit sich dies ihren Publikationen entnehmen lässt, vom Meißnertreffen von 1913 keine Notiz.11 In den Darstellungen der bürgerlichen Jugendbewegung finden sich ebenfalls kaum Bezüge zur Arbeiterjugend: Die Meißnerfahrer scheinen gar nicht auf den Gedanken gekommen zu sein, sie bei ihrem Treffen zu erwarten. Immerhin ist in der bekannten Dokumentensammlung von Werner Kindt aus den 1960er-Jahren in ihrem zweiten Band über die »Wandervogelzeit«, der selbstverständlich viele Dokumente über den Freideutschen Jugendtag 1913 enthält, auch ein kleiner Abschnitt über die Arbeiterjugendbewegung enthalten. Berührungen zwischen beiden sind jedoch aus diesem Band nicht ersichtlich. Einzig Ferdinand Avenarius, u. a. Gründer der Zeitschrift »Kunstwart« und des Dürerbundes, konstatierte auf dem Meißner in seiner Abschlussrede mit Bedauern, dass die or9 Ein Todesopfer unter den Jungdeutschen, in: Arbeiter-Jugend, 1913, 5. Jg., Heft 25, S. 391. 10 Im September 1913 teilt die Redaktion stolz mit, dass die Arbeiter-Jugend nunmehr 100 000 Abonnenten habe: 100.000, in: Arbeiter-Jugend, 1913, 5. Jg., Heft 20, S. 305. 11 In der Zeitschrift Der Naturfreund, 1913, 17. Jg., S. 69, erschien zwar ein Bericht über eine Wanderung in »der hessischen Schweiz«, bei der der Meißner gestreift wurde; das Treffen der bürgerlichen Jugendbewegung blieb jedoch unerwähnt.

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ganisierte Arbeiterjugend – die auch er unter die »Gegner« zählte – nicht anwesend gewesen sei: »Schade, dass nicht auch die Jungdeutschlandbünde, die Pfadfinder und andererseits die sozialdemokratischen Jugendvereine hier vertreten waren – das ging wohl noch nicht, aber das sollte erstrebt werden: Wir sollten uns mit ihnen allen aussprechen. Dann könnten wir uns mit diesem und jenem Gescheiten rechts und links vielleicht sogar verständigen, könnten jedenfalls allerlei besser begreifen und lernen, was wir jetzt nicht begreifen, und könnten ihnen unserseits zeigen, dass wir anders sind, als sie meinen, wenn sie in uns keine honorigen Leute sehen.«12

Vielen Arbeiterjugendlichen mag der Freideutsche Jugendtag auch einfach nicht besonders wichtig erschienen sein, veranstaltete die Arbeiterjugend unter dem Schutz der SPD doch selbst regionale und vergleichbar große »unpolitische« Jugendtage. In der »Arbeiter-Jugend« vom 13. September 1913 findet sich beispielsweise der folgende Bericht: »Am Nachmittag versammelten sich alle Gruppen im Hamburger ,Volkswohl‹. In einer breiten, vom Wald eingefassten Schlucht lagerten die 2500 Teilnehmer, malerisch über den Rasen verstreut. Massengesang durchbrauste die Schlucht und wechselte mit Musikvorträgen der ›Jugendkapelle‹ ab, in der Flöte, Geige, Mandoline und Gitarre vertreten sind. Der Sekretär des Jugendbundes wies mit wenigen Worten auf die Bedeutung der Veranstaltung hin. Der stürmische Jubel, den seine Worte hervorriefen, wich gespannter Aufmerksamkeit, als eine Gruppe Schauspieler und jugendliche Statisten aus dem waldigen Hintergrund der Schlucht hervortraten. Friedrich Schillers ewig junges Drama ›Die Räuber‹ wurde in vier Szenen in lebensvolle Darstellung gebracht. Volkstänze und gemeinsame Spiele beschlossen das Fest. Ein Festzug von imposanter Größe bewegte sich am Abend durch Hamburg nach dem Bahnhof. Das noch nicht dagewesene Ereignis eines Festzuges von 2500 jungen Arbeitern und Arbeiterinnen rief das größte Aufsehen hervor.«13

In derselben Ausgabe der »Arbeiter-Jugend« befindet sich ein Bericht von einem Bezirksjugendtag in Kiel mit mehr als 800 Jugendlichen mit dem Hinweis: »Ein Teil unserer Hamburger Freunde war auf der Ferienrückwanderung von Schweden begriffen und streifte von Kiel aus noch acht Tage die Holsteinische Schweiz ab.«14 Das Verhältnis der Arbeiterjugend zum Wandervogel, später zur Bündischen Jugend blieb ambivalent – zu sehr stand in ihrer Wahrnehmung bei den Wan12 Gustav Mittelstraß (Hg.): Freideutscher Jugendtag 1913. Reden von Bruno Lemke, Gottfried Traub, Knud Ahlborn, Gustav Wyneken, Ferdinand Avenarius, 2. Aufl. Hamburg 1919, S. 44 (nachgedruckt in: Winfried Mogge, Jürgen Reulecke: Hoher Meißner 1913. Der erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 304). 13 Rudolf Lindau: Massenausflug der Hamburger Arbeiterjugend, in: Arbeiter-Jugend, 1913, 5. Jg., Heft 19, S. 296. 14 Ebd., S. 295.

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dervögeln das Völkische, Nationale und Antimoderne im Vordergrund. Gleichzeitig bestanden jedoch viele Gemeinsamkeiten: das Gemeinschaftserleben bei Fahrt und Lager und bis in die 1960er-Jahre die Volkstänze. Einen geradezu überwältigenden Einfluss besaßen die Stilformen der Wandervögel und Lebensreformer auf den ersten Arbeiterjugendtag 1920 in Weimar. Nicht umsonst wurde dieser als »Wandervogelerlebnis, das Meißnerfest der deutschen Arbeiterjugendbewegung« tituliert.15 Dennoch blieben die weltanschaulichen Differenzen unübersehbar, wie Erich Ollenhauer bei diesem Treffen zu Füßen des Goethe-und-Schiller-Denkmals festgestellt hat: »Wir sind Arbeiterjugend, emporgewachsen aus der Not des Proletarierlebens; aber trotzdem lebte in uns der Geist eines Goethe und eines Schiller. Wir sind hergezogen, um an diesem Tage kundzutun, dass wir jetzt und in aller Zukunft unser Bestes geben werden, dass die Schätze der deutschen Literatur, geschaffen von diesen Meistern, ins Volk getragen werden, bis zu den Ärmsten unserer Klasse. Wir wollen aber in dieser Stunde auch der historischen Ereignisse gedenken, die sich vor Jahresfrist in diesen Mauern abspielten. Fast genau ein Jahr ist ins Land gegangen seit dem Tage, an welchem von dem Balkon dieses Hauses Reichspräsident Ebert der Volksmenge mitteilte, dass die Verfassung der jungen deutschen Republik soeben von der Nationalversammlung verabschiedet wurde. An der Geburtsstätte der deutschen Republik wollen wir nicht vergessen, dass sie uns erst unseren Aufstieg und diese Tagung ermöglichte.«16

Damit waren die Grundforderungen der sozialdemokratischen Arbeiterjugend formuliert: die Partizipation aller am kulturellen Reichtum der Nation und die demokratische Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Zu Beginn der 1920er-Jahre war die Auseinandersetzung um den »Geist von Weimar« der erste schwere innerorganisatorische Konflikt der sich neu formierenden Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Es setzte sich eine Position durch, die den jugendbewegten Formen des Zusammenseins ihr Recht einräumte, jedoch betonte, dass politische Bildung und die persönliche Qualifikation von Arbeiterjugendlichen – denen die fortbestehenden Klassenschranken eine höhere Bildung noch immer verwehrten – gleichermaßen zum Aufgaben- und Tätigkeitsfeld der organisierten Arbeiterjugendbewegung gehörten. Gleichzeitig formulierten Max Westphal und Erich Ollenhauer, die Vorsitzenden der SAJ, 15 Junges Deutschland 50/51 (1920) vom 23. 12. 1920, zitiert nach: Arbeiter-Jugend, 1921, 13. Jg., Heft 1, S. 23. 16 Das Weimar der Arbeitenden Jugend. Niederschriften und Bilder vom ersten Reichsjugendtag der Arbeiterjugend vom 28. bis 30. August 1920 in Weimar, hg. vom Hauptvorstand des Verbandes der Arbeiterjugendvereine Deutschlands, Sitz Berlin, bearb. von E.R. Müller, Magdeburg [1920], S. 25 – 26. – Zu Ollenhauer siehe Kay Schweigmann-Greve: Erich Ollenhauer, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 487 – 500.

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dass die Solidarität der Bewegung nicht klassenübergreifend der Jugend im Allgemeinen, sondern in besonderer Weise der Arbeiterbewegung gehöre, innerhalb derer der Jugendbewegung eine besondere Aufgabe zukomme. Am deutlichsten lässt sich in der Sozialistischen Jugendbewegung zum Ende der 1920er-Jahre eine Bezugnahme auf die Meißnertradition außerhalb der SAJ beim Bund freier sozialistischer Jugend (BFSJ) finden, einer kleinen linkssozialistischen Gruppierung, die neben proletarischen Wurzeln auf linke Bündische zurückging und sich um einen eigenständigen Weg zwischen SPD und KPD bemühte.17 Wolfgang Abendroth, Mitglied des Frankfurter BFSJ, schrieb 1928: »Die autonome Jugendbewegung erkennt immer mehr, dass es unmöglich ist, außerhalb der heutigen Gesellschaft ein Eigenleben aus eigener Verantwortung zu führen. Krieg, Revolution und vor allem die Jahre der siegreichen Reaktion haben die Illusionen des Hohen Meißner zerschlagen. Aber die Grundhaltung des Hohen Meißner, die Erkenntnis der Ungerechtigkeit und Unwahrhaftigkeit der heutigen Gesellschaftsordnung, ist geblieben.«18

Zwar hat Abendroth nicht nur in diesem Text die subjektive Ehrlichkeit und das wahrhaftige Bemühen der bündischen Führer betont, doch fuhr er dann oberlehrerhaft fort: »Aber alle diese bürgerlichen Jugendbewegler sind noch stark von bürgerlichen Illusionen beeinflusst. Deshalb werden wir ihnen helfen müssen, sie zu überwinden. Wir werden sie vor allen illusionären Scheinlösungen, vor Kelloggpakt und Völkerbund, vor Volksgemeinschaft und bürgerlicher Demokratie, vor jeder Kolonialpolitik und dem Mandatssystem des Völkerbundes warnen und versuchen, sie dem proletarischen Klassenkampf zu gewinnen.«19

Abendroth stand zu dieser Zeit den Kommunisten, die ihn 1928 ausschlossen, grundsätzlich näher als der Sozialdemokratie. Seine Sympathie für bündische Führer, etwa für Karl Otto Paetel (1906 – 1975)20, basierte auf der antiindividualistischen und antiliberalen Gemeinsamkeit mit diesem. Sozialdemokraten und Liberale standen auch für ihn auf der anderen Seite der Barrikade.

17 Wolfgang Abendroth: Die sozialistische Jugendbewegung Deutschlands, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 1926 – 1948, hg. von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler, Hannover 2006, S. 89 f. Siehe dort ebenfalls die Einleitung, S. 9 – 28, hier S. 11 ff. 18 Wolfgang Abendroth: Weltbund der Jugend und freisozialistische Bewegung, in: Ebd., S. 91 – 94, hier S. 91. – Zu Abendroth siehe Uli Schöler : Wolfgang Abendroth, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 16), S. 43 – 54. 19 Abendroth: Weltbund (Anm. 18), S. 94. 20 Ders.: Bündische Jugend, Jungnationalismus und revolutionäres Proletariat. Gibt es Bündischen Sozialismus? Antwort an Karl O. Paetel, in: ders.: Jugendbewegung (Anm. 17), S. 161 – 167, hier S. 161 ff.

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Neuformation nach 1945 Nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus entstand bereits im Sommer 1945 die Sozialistische Arbeiterjugendbewegung gemeinsam mit den Kinderfreunden neu, ab 1947 unter dem Namen Sozialistische Jugendbewegung Deutschlands – Die Falken – mit geringer zeitlicher Verzögerung gefolgt von den Pfadfindern, der Deutschen Freischar und den Wandervögeln. In der Nachkriegszeit war es zunächst die Arbeiterjugend, die große Jugendtage abhielt: 1947 in Stuttgart, 1951 in Hamburg und 1955 in Dortmund, jeweils mit 10 000 und mehr Teilnehmern.21 Diese Veranstaltungen hatten mit dem historischen Meißnerfest wenig gemeinsam: Es waren Veranstaltungen, die nach innen als emotionales Erleben der eigenen großen Gemeinschaft, nach außen als Demonstration einer starken wiedererstandenen internationalen Arbeiterjugendbewegung konzipiert waren. Sie fanden bewusst in Großstädten statt und waren – in einer Zeit ohne realistische Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung – Ausdruck eines sozialdemokratischen politischen Gestaltungsanspruchs. Mit einem großen Anteil an kulturellen Veranstaltungen, mit Konzerten, Sing- und Sprechchören, Laienspiel und Volkstanz sowie großen Sportturnieren war dennoch ihre Herkunft aus der Jugendbewegung deutlich erkennbar. Wichtig war auch die Zugehörigkeit zur internationalen Arbeiterjugend: Sie spiegelte sich in der Teilnahme prominenter internationaler Gäste. Über der Abschlusskundgebung im Neckarstadion 1947 prangte zum Beispiel ein großes Banner mit den Worten: »Friede, Freiheit, Sozialismus«, geschmückt mit den Fahnen der Länder, deren sozialistische Jugendbewegungen bereits zu diesen Zeitpunkt bereit waren, die »Falken« wieder in die IUSY, die Internationale der sozialdemokratischen und demokratisch-sozialistischen Jugendorganisationen, aufzunehmen. 1951 sprach Per Haekkerup (1915 – 1979), der damalige Generalsekretär der IUSYund spätere dänische Außen- und Wirtschaftsminister, und eine schwedische Genossin übergab den »Falken« eine rote IUSY-Fahne als Symbol der Verbundenheit.22 Auf dem Dortmunder Arbeiterjugendtag 1955 klangen bereits die politischen Themen an, die auch von Helmut Gollwitzer 1963 auf dem Meißnerfest angesprochen werden sollten: die Wiederbewaffnung und die Spaltung Europas in zwei Blöcke. Das Thema Wiederbewaffnung wurde in verschiedenen Arbeitsgruppen bearbeitet, und Heinz Westphal sagte auf der Abschlusskundgebung, jede Vorbereitung zum Krieg sei Wahnsinn und dafür

21 Bodo Brücher : Sozialistische Jugendtage »Quelle der Kraft«. Die Veranstaltungen in Stuttgart 1947, Hamburg 1951 und Dortmund 1955, in: Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugendbewegung, 2012, Heft 2, S. 25 – 33. 22 Ebd., S. 29.

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sei die Sozialistische Jugend nicht zu gewinnen.23 Erich Ollenhauer, inzwischen Vorsitzender der SPD, forderte – das Verfahren zum Verbot der KPD lief bereits –, »als Antwort auf die Jugendpolitik der Sowjetzone nicht zu klagen, sondern es in der Bundesrepublik noch besser zu machen und noch mehr für die Jugend zu tun.«24 Von Erich Lindstaedt (1906 – 1952), SAJ-Sekretär bis 1933, Emigrant und erster Bundesvorsitzender der Nachkriegs-Falken, erschien 1954 ein Buch zur Geschichte der Arbeiterjugendbewegung zum 50. Jahrestag ihrer Entstehung. Vor der eigentlichen Darstellung seines Themas begann Lindstaedt mit einer Darstellung der Gründung des Wandervogels 1901 in Steglitz und mit einer Würdigung des Treffens auf dem Hohen Meißner 1913. Rebellion gegen Elternhaus und Schule seien damals das Ziel gewesen: »Die revolutionäre Tat der Jungen liegt darin, dass sie sich ein Jugendleben aufbauen, das in seinen Formen der krasse Gegensatz zum Leben der Erwachsenen ist. […] Kurze Hose, Schillerkragen, Klampfe, Übernachtung beim Bauern, Hordentopfessen und Großfahrt waren damals Taten. Heute sind sie zur Selbstverständlichkeit geworden.«25 Es habe bereits die Beharrlichkeit einiger Jahrgänge gereicht, um das gesteckte Ziel zu erreichen: »Und wir wissen, dass die Erfüllung der gleichzeitige Tod ist, wenn das Erreichte nicht weiterentwickelt werden kann.« Bereits in der Festschrift zum Treffen auf dem Hohen Meißner von 1913 wurde der Einbruch der Lehrerschaft in den Wandervogel beklagt, und Lindstaedt brachte das Zitat, »dass heute weit über die Hälfte der deutschen Wandervogelortsgruppen von Oberlehrern und Lehrern geleitet werden. Dazu hat die Jugend sich den Wandervogel nicht geschaffen.« Das historische Ziel der Wandervogelbewegung – ein jugendgerechtes freies Freizeitleben unter Gleichaltrigen – sei heute erreicht. Die Grundlage dazu sei nach dem Ersten Weltkrieg eine Jugendpflege geworden, die den Jugendverbänden positiv gegenübergestanden habe, und er lieferte dann eine resümierende Darstellung des Meißnertages unter der Überschrift »Positive und Rechtsradikale«: »Auf dem Hohen Meißner trafen sich 1913 immerhin 3000 Jungen und Mädel aus 13 Bünden. Es waren jene, die den Geist der Jugendbewegung verkörperten. Ihre Aufgabe war es, mit den Alten zu ringen. Nicht alle gingen, wie die Zeit nach 1918 beweist, als Sieger hervor. […] Die Menschen aber waren nicht stark genug, um nach solchen Grundsätzen zu leben und das, was sich weiter bürgerliche ›Jugendbewegung‹ nannte, 23 Zu Westphal siehe Meik Woyke: Heinz Westphal, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 16), S. 737 – 751. 24 Brücher : Jugendtage (Anm. 21), S. 32. 25 Erich Lindstaedt: Mit uns zieht die neue Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung, Bonn 1954, S. 14. – Lindstaedt schrieb in der Mitgliederzeitung der Falken »Junge Gemeinschaft« eine Serie von Artikeln zur Geschichte der Arbeiterjugendbewegung, die nach seinem Tod 1952 als Buch herausgegeben wurden.

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positiv zu gestalten. Das bewies die Haltung des größeren Teils unter ihnen, als das Jahr 1918 eine Entscheidung forderte. Gewiss, es gab Positive. Sie stießen ins Lager der Sozialisten. Der größere Teil verschrieb sich aber dem Rechtsradikalismus. Sie wurden allzu empfänglich für das, vor dem Wyneken sie auf dem Hohen Meißner gewarnt hatte. Hitler hatte 1933 mit ihnen leichtes Spiel. Was an Jugendbünden vorhanden war, war längst Geist vom gleichen Geiste. Nur an wenigen Stellen gab es Widerstand. Aber Hand aufs Herz; war er geboren aus der Überlegung, dass man dem nationalsozialistischen Gedankengut den Kampf ansagen muss oder weil man um ›seine Jugendgruppe‹ kämpfte? Wirklichen Widerstand gab es nur im sozialistischen und kirchlichen Raum. […] Ich habe mich oft gefragt, ob jene, die von Steglitz über den Meißner zu Positiven nach 1918 wurden, ihren Weg aus eigener Kraft hätten zu Ende gehen können, wenn die Arbeiterjugend ihnen nicht den Weg geebnet hätte? […] Es gab in der Arbeit der beiden Bewegungen Dinge, die sich berührten, z. B. den riesigen Bildungshunger und den Trieb ins Freie. Gewiss, es reicht bei der Arbeiterjugend nicht zur Großfahrt, und die Wandervogelkluft hatte für sie keinen Sinn. Sie brauchten sie nicht als Ausdruck des Protestes gegen ihre Alten.«26

Hier liege auch die wesentliche Differenz: Während die bürgerliche Jugend mit ihrem Protest gegen Eltern und Lehrer einen Konflikt innerhalb der eigenen Klasse austrage, richte sich der Protest der Arbeiterjugend gegen Fabrik- und Lehrherren. Während der Wandervogel dem Freiheitsbedürfnis Berliner Gymnasiasten entsprungen war, stand am Beginn der Arbeiterjugendbewegung der Selbstmord eines Lehrlings aus Berlin-Grunewald, der sich vor den Misshandlungen seines Lehrherrn nicht anders zu retten wusste. Lindstaedt schrieb dies in der Mitgliederzeitschrift für die jugendlichen »Falken«, seine Wertungen dürften einen starken Einfluss auf deren Auffassungen gehabt haben. Die zweite in diesen Jahren verbreitete Darstellung der Geschichte der Arbeiterjugend »Aufbruch einer Jugend. Der Weg der deutschen Arbeiterjugendbewegung« fasst sich hinsichtlich der Freideutschen Jugend kürzer, ist wenig differenziert und wertet negativer :27 »Dass die freideutsche Bewegung eine Auflehnung gegen die Lebensformen eines allzu satten Bürgertums war, soll anerkannt werden. Es war auch eine mutige Tat, die blechdröhnende Jahrhundertfeier der Schlacht bei Leipzig abzulehnen und in der Naturstille auf dem Hohen Meißner bei einem Lagerfeuer den moralischen Gehalt der bürgerlichen Gesellschaft zu überprüfen, wobei zunächst nur Negatives herauskam. Auch der Führer dieser Bewegung [sic!] Gustav Wyneken, ein sehr verspäteter Liberaler, stieß nicht zur eigentlichen gesellschaftlichen Problematik durch. Dieser Mangel erklärt es, daß die bündische Jugend nach dem ersten Weltkrieg zu allem fähig war, dass ein sehr aktiver Teil zu den Kommunisten und ein anderer ins Lager der Bombenleger ging, der Rest aber politisch heimatlos wurde. Die viel zitierte und bewunderte 26 Ebd., S. 15 ff. 27 Johannes Schult: Aufbruch einer Jugend. Der Weg der deutschen Arbeiterjugendbewegung, Bonn 1956.

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Meißnerformel ist doch inhaltlich recht mager, wenn sie gelobt, dass die Jugend ›ihr Leben aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und mit innerer Wahrhaftigkeit gestalten‹ wolle. Damit können wir diesen Zweig der Jugendbewegung verlassen.«28

1963 waren die Fronten unverändert: Am fünfzigjährigen Gedenktreffen der bündischen Jugend nahmen die Gewerkschaftsjugend, die »Falken« und die »Naturfreunde« nicht teil. Sie standen der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung ablehnend gegenüber. Die Protokolle der Sitzungen des Bundesvorstandes der »Falken« erwähnen keine Beschäftigung mit dem Meißnertreffen. Das Protokoll der Oktobersitzung 1963 weist die Befassung mit einer Vielzahl verbandsinterner Themen auf: Es ging um die Planung einer Gruppenleiterkonferenz, um Berichte über einzelne Bezirksgliederungen und deren Sommerzeltlager, um den »Tag des Kindes« (einer bundesweit durchgeführten Veranstaltung zum Thema Kinderrechte), um Berichte von der Teilnahme an einem internationalen Zeltlager der Falkeninternationale (IFM-SEI) und einem Kongress der Internationale der sozialistischen Jugend (IUSY) sowie um einen Bericht aus dem Bundesjugendring. Weiterhin wurden ausführlich der Bericht von einer Gedenkstättenfahrt nach Lidice und Theresienstadt und das Besuchsprogramm für eine Delegation des Jugendrates der UdSSR sowie die Entstehung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes diskutiert.29 In der »Jungen Gemeinschaft«, der Mitgliederzeitung der Falken, erschien allerdings ein ablehnender Kommentar zu dem Treffen auf dem Hohen Meißner, geschrieben von Heinz Warmbold, dem Redakteur. Dieser sprach bereits in der Überschrift »Vom Ungeist der deutschen Jugendbewegung«.30 Dem allgemeinen Lob, das nunmehr allerorten für die »Ideen der deutschen Jugendbewegung« zu hören sei, mochte er nicht beipflichten und unterzog die Formulierungen der Meißnerformel einer kritischen Überprüfung: »Was bedeutet, nüchtern betrachtet, ›eigene Bestimmung‹ – ›vor innerer Wahrhaftigkeit‹ und ›innere Freiheit‹? ›Eigene Bestimmung‹. Das heißt doch wohl Ablehnung jeder Fremdbestimmung. Das ist ein utopisches, in der komplizierten Großgesellschaft damals und heute nicht zu verwirklichendes Programm. Die Gesellschaft verliert ihren Zusammenhang, wenn totale Selbstbestimmung stattfindet; teilweise Fremdbestimmung, teilweise Anpassung aus mitmenschlicher Verpflichtung ist ihr Lebensgesetz. Insofern ist in ihr allein das Bestreben sinnvoll, den Freiheitsraum des Einzelnen zu erkämpfen, ihn weit zu halten und zu sichern, nicht aber, Thesen von einer Totalen Freiheit aufzustellen.« 28 Ebd., S. 92. 29 Archiv der Arbeiterjugendbewegung, SJD-BV 32/25, Protokoll der Sitzung des Bundesvorstandes vom 5./6. Oktober 1963 in Ludwigshafen. 30 Heinz Warmbold: Vom Ungeist der deutschen Jugendbewegung, in: Junge Gemeinschaft, 1963, 15. Jg., Heft 10, S. 2 – 3.

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Man fragt sich unwillkürlich, ob dieses Missverständnis nicht vorsätzlicher Natur war. Die Kritik an einer Jugendbewegung, die die Gebundenheit des Individuums an seine Gemeinschaft – im schlechten Fall über den Jugendbund hinaus national oder völkisch verstanden – in den Mittelpunkt stellt und die das »Gemeinschaftserlebnis« für ihren Kern ausgibt, und der Vorwurf, es handele sich um individualistische Anarchisten, sind ziemlich absurd! Zur Eingangsthese wenig passend wird von Warmbold sodann die Formulierung der »inneren Freiheit« angegriffen: »Hier wird gegen bestehende Verhältnisse protestiert, aber der Protest meldet zugleich seinen eigenen Rückzug an. Weder wird eine Reform des politischen Staates und der Gesellschaftsordnung erstrebt, noch gar Revolution angemeldet. Stattdessen erbittet man – indem man die Gesellschaft scheinbar ganz und gar ablehnt – von ihr einige Fluchtinseln für eine gebildete Elite.« Hier taucht die bekannte und berechtigte Kritik an der antimodernen Weltflucht der Wandervögel wieder auf, die bereits 1930 den zum Kommunisten gewordenen früheren Wandervogel Erich Weinert veranlasste, sein berühmtes Spottgedicht über die Wandervögel zu schreiben.31 Die positiven Fernwirkungen der Jugendbewegung, fuhr Warmbold schließlich zwar etwas versöhnlicher fort, wolle er gar nicht verkleinern: »Mancher Schulversuch hätte nicht stattgefunden, manches Volkslied wäre verschollen ohne die Jugendbewegung«, und kam jedoch dann zum gesellschaftspolitischen Kern seiner Kritik: »Die schweren und wesentlichen Krankheiten der Zeit hätten jedoch anderer Heilmittel bedurft: der Internationalität statt der Volkhaftigkeit, der Teilnahme am Kampf um die Reform von Staat und Gesellschaft statt der Verinnerlichung, der Solidarität und Gleichheit aller Staatsbürger statt der Bildung einer Elite von innerlich Wahrhaftigen.«32 Der idealistische Todesmut, mit dem die freideutschen Studenten im Ersten Weltkrieg bei Langemarck verbluteten, nötige ihm keinen Respekt ab: Es sei bedrückend. Das »Stahlgewitter« habe jedoch die Überlebenden erneut in Richtung der Irrationalität geprägt, auch deshalb hätten sie »in der Republik, im Volksstaat von Weimar, nicht in den Alltag, in die konkrete Wirklichkeit« zurückgefunden. »Ihr wilder Protest richtet sich bald gegen die angebliche Durchschnittlichkeit und Idealitätsferne des neuen Staates, gegen das anscheinend in ihm Gestalt gewordene nationale Elend. Gegnerschaft bildet um 1930 die ›Revolution von Rechts‹. An die Stelle der Forderungen nach Echtheit, Volkhaftigkeit, Wahrhaftigkeit treten nun andere, nämlich: Zerstörung des unwahrhaftigen, unechten, volksfeindlichen ›Systems‹, Auf31 Erich Weinert: Gesang der Edellatscher, in: ders.: Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin/ Weimar 1976, S. 67 f. 32 Warmbold: Ungeist (Anm. 30), S. 2 f.

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bruch zur totalen Aktion und totale Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber einem kommenden großen Führer, der die Antworten auf die Rätsel der Zeit weiß […]«

Fairerweise fuhr er jedoch dann fort: »Die meisten Wortführer dieser Revolution aus dem Geist der Jugendbewegung sehen den kommenden Führer nicht in Hitler, und vieles am rohen Treiben der Nationalsozialisten stößt sie ab. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass im geistigen Klima ihres revolutionären Irrationalismus ohne festen Bauplan der schnelle Einbruch des braunen Ungeistes gerade bei der jüngeren Generation des gebildeten Bürgertums möglich wird […]«

Und abschließend resümiert er : »Bei aller Anerkennung einiger Leistungen der alten Jugendbewegung: Ihren ›Geist‹ wollen wir nicht wiedererweckt haben.« So zutreffend hiermit Kritik an dem großen antimodernen, völkischen und antidemokratischen Teil der historischen bürgerlichen Jugendbewegung formuliert ist – den aktuell formulierten Positionen der bündischen Jugend von 1963 wurden die Ausführungen nicht gerecht! Eine im September 1963 beschlossene »Grundsatzerklärung der jungen Bünde« bekannte sich zur Offenheit ihrer Gruppen für jedermann, der Beschreibung der eigenen Arbeitsformen und Definition des Bundes als »freiwillige, selbstverantwortete Bindung« – dies in Abgrenzung: zur »modernen« Jugendverbandsarbeit, die ihre Inhalte regelmäßig von Erwachsenenorganisationen erhalte: Dort – so heißt es in der Grundsatzerklärung – »sehen wir die Gefahr, dass der Heranwachsende seiner Entscheidungsfreiheit beraubt wird. Wir wollen ihm eine Reifezeit sichern, in der er frei von Verbandsinteressen das Gesellschaftsganze betrachten und zur Entscheidungsfähigkeit gelangen kann. Ein politisches Engagement darf nur auf dem selbstständigen Urteil eines erwachsenen Menschen beruhen, nicht auf Gewöhnung. Die bündische Gemeinschaft vermittelt humane Werte und Haltungen zweckfrei. Wir sind deshalb der Ansicht, dass sie besser auf eine freie Gesellschaft vorbereitet als die Gruppe eines Jugendverbandes, der frühzeitig an interessengebundenen Aktionen teilnimmt.«33

Hieran kann man als »Falke«, dem ein solches von den gesellschaftlichen Verhältnissen und der eigenen Sozialisation abstrahierendes Politik- und Gesellschaftsverständnis vielleicht naiv erscheint, Kritik üben – mit einem Verweis auf die unheilvolle Geschichte der »Konservativen Revolution« und deren Beitrag zum Ende der Weimarer Republik ist dieses gewandelte und demokratisierte bündische Selbstverständnis jedenfalls nicht einfach abzutun. Dies gilt angesichts des Schlussbekenntnisses der bündischen Erklärung umso mehr : »Da 33 Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißnertag 1963. Verfügbar unter : http:// www.burgludwigstein.de/fileadmin/LudMedia/0620_AlljaehrlicheTreffen/RjB-Grundsatzerklaerung.pdf [21. 06. 2013].

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unser Bemühen um Selbstverwirklichung nur in einem freien Staat gelingen kann, verpflichten wir uns, die uns anvertraute Jugend von der Idee des demokratischen Rechtsstaates zu überzeugen.«34 Der Festredner Helmut Gollwitzer, Bündischer der1920er-Jahre, prominentes Mitglied der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit und christlicher Sozialist, artikulierte auf dem Meißnertag 1963 Positionen, mit denen sich die Falken ohne Weiteres hätten identifizieren können.35 Dies beginnt bei der schonungslosen Analyse des historischen Versagens eines großen Teils der deutschen Jugendbewegung und ihrer Mitschuld am Hitlerfaschismus. Hinzu kommt die Ableitung der Demokratie aus der Meißnerformel: »Die Meißner-Formel ließen wir Bündische oft als individualistisch verleumden, statt zu erkennen, dass man sie als die Kernformel eines demokratischen Bewusstseins verstehen kann […] Warum wollen wir [die Demokratie] trotz aller ihrer Nachteile? Weil sie die Staatsform für erwachsene Menschen ist! Wer sie will, darf also den Staat nicht als Kindergarten und nicht als Kaserne wollen […] Er muss den Menschen wollen, der sein Leben ›nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit‹ führen will. Er muss die Freiheit des aufrechten Bürgers, d. h. aber die Freiheit des Andersdenkenden, die Freiheit des Außenseiters, die Freiheit des Ketzers wollen und zwar nicht nur dessen innere, sondern dessen äußere, reale Äußerungs- und Aktionsfreiheit. Wer diese Freiheit und diesen Menschen will, der muss in der Demokratie für die Demokratie kämpfen, jeden Tag, gegen die totalitären Tendenzen in der eigenen Partei, gegen die Uniformierung der öffentlichen Meinung, für die Spielräume der Selbstbestimmung. Wollt ihr das? Tut ihr das? Wir haben die Demokratie in Westdeutschland noch nicht gewonnen, wir haben sie noch kaum begonnen […]«.

Gollwitzer verwies anschließend auf den Ungeist des Nationalismus, des Antisemitismus und des Militarismus und grüßte ausdrücklich die Überlebenden der jüdischen Jugendbünde in Israel: Angesichts des Kalten Kriegs sei Friedenswille und Solidarität mit den Völkern des Ostens erforderlich – man hört hier den Aktivisten der Bewegung »Kampf dem Atomtod« und den Unterstützer der Ostermärsche heraus! Der Weltfrieden sei nur gemeinsam erreichbar »mit der kommunistischen Jugend der Sowjetunion und der anderen Ostblockstaaten, nur mit der ,Freien Deutschen Jugend‹, wie sie sich selbst nennt, ohne es leider zu sein, mit den jungen SED-Leuten und den jungen Christen in der DDR – und sicher auch nur zusammen mit der Jugend Chinas und der farbigen Völker.« Hier hatte der bürgerliche Jugendbewegte Gollwitzer die zeitgenössischen Falken eindeutig links überholt! Die Auseinandersetzung mit Anhängern der Ostermarschbewegung und deren Ausschluss aus der Falkenbewegung war ein 34 Ebd. 35 Zu Gollwitzer siehe Detlef Siegfried: Helmut Gollwitzer, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 16), S. 285 – 293.

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wesentlicher innerverbandlicher Konflikt bei den Falken in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre. »Gollwitzers Rede wurde nicht einstimmig akzeptiert, aber sie wurde von 5000 Menschen angehört, um sich mit ihr auseinanderzusetzen«, so merkte ein zeitgenössischer Bericht an.36 Der Bundesjugendring, dem immerhin einige mitveranstaltende Organisationen des Meißnertreffens angehörten (Bund Deutscher Pfadfinder, Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg als Teil des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend und evangelische Pfadfinder, die zur Evangelischen Jugend Deutschlands gehörten), nahm als Ganzer nicht teil. Er verabschiedete stattdessen eine Stellungnahme, die sich mühsam zu einer Anerkennung historischer Verdienste der deutschen Jugendbewegung durchrang, jedoch gleichzeitig einen Strich zwischen sich und die alte Jugendbewegung sowie die sie repräsentierenden Bünde zog. Ganz wollte man diese Tradition nicht aufgeben, und obwohl man das bündische Verständnis eines »eigenen Jugendreichs« als »romantisch verklärt und von den Aufgaben der Jugend in der Gesellschaft ablenkend« ablehnte, konnte man offenbar deren fortwirkende Prägewirkung nicht leugnen: »Auch in den Jugendverbänden unserer Zeit ist ein Teil dieses geschichtlichen Entwicklungsabschnitts deutschen Jugendgemeinschaftslebens aufgenommen, verarbeitet und fortentwickelt worden. Besonders die selbsterzieherische Wirkung des Zusammenlebens junger Menschen in frei gewählten Gemeinschaften wurde als positiver Wert zum festen Bestandteil pädagogischer und methodischer Leitvorstellungen ihrer Jugendgruppenarbeit. […] Darüber hinaus haben [jedoch] die heutigen Jugendverbände neue und andere Antworten auf die Fragen einer veränderten Zeitsituation finden und geben müssen. Der ›Hohe Meißner‹ ist so für sie ein Teil des zu verarbeitenden geschichtlichen Erbes, nicht aber Ansatzpunkt für ihre heutigen und künftigen Aufgaben.«

Es folgte dann eine positive Bestimmung der eigenen Aufgaben: »Jugend steht heute mitten in den politischen und gesellschaftlichen Aufgaben unserer Welt. Die Festigung eines politischen Zusammenlebens der Völker, die Durchsetzung der Freiheitsrechte für alle Menschen, die friedliche und freiheitliche Wiedervereinigung unseres Landes, die Förderung sozialer Gerechtigkeit, die feste Verankerung einer demokratischen Lebensordnung durch politische Bildung, die Befähigung zu menschenwürdiger Selbstbehauptung im Arbeitsleben und in der Freizeit einer hochindustrialisierten Gesellschaft sind die Hauptaufgaben, bei deren Lösung die Jugendverbände unserer Zeit ihren Teil erfüllen müssen und wollen.«37

36 Ernst Günter : Der Meißnertag 1963. Wiedersehen der Alten – Debüt der bündischen Jugend, in: Blickpunkt, 1963, 13. Jg., Heft 124, S. 21 – 22, hier S. 22. 37 Stellungnahme des Deutschen Bundesjugendrings vom 01. 10. 1963, in: Solidarität. Monatsschrift für gewerkschaftliche Jugendarbeit, 1963, 13. Jg., Heft 11, S. 214 f.

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Beschäftigt mit der Umsetzung dieser hehren Ziele grüßten die Mitgliedsverbände des Bundesjugendrignes dann zwar die Repräsentanten der alten Jugendbewegung, teilten jedoch mit, dass sie an dem Treffen nicht teilnehmen würden, »da die Erinnerung an das bedeutende Ereignis von 1913 weder Anknüpfungspunkt für die heute zu erfüllenden Aufgaben moderner Jugendverbände, noch diese Veranstaltung Plattform für Aussagen über künftige Ziele deutscher Jugendarbeit sein« könne.38 Diese Position lag ganz auf der Linie der »Erklärung von St. Martin« vom 28./ 29. Juni 1962. In dieser hatten sich die Verbände des Bundesjugendringes zum Abschluss einer mehrjährigen Diskussion über ihr Selbstverständnis unter Punkt 1 als »Glieder der Gesellschaft« definiert, deren Aufgaben im außerschulischen Bildungs- und Erziehungsbereich liege – dies mit einer Ergänzungsfunktion zu den Aufgaben von Elternhaus und Schule. Ausdrücklich distanzierte man sich von der Vorstellung eines »autonomen Jugendreiches«, wie es die Jugendbewegung angestrebt hatte.39 Selbst die räumlich nächste, lokale Gliederung der Falken, der Bezirk HessenNord mit Hauptsitz in Kassel, nahm das Meißnerlager 1963 nicht zur Kenntnis: »Das ist an uns vorbeigegangen! Unsere Bündnispartner waren die ›Naturfreunde‹, die ›Solidarität-Jugend‹ und die ›DGB-Jugend‹. Mit der bündischen Jugend hatten wir keine Berührung« – so Fritz Kistner, der damalige Bezirksvorsitzende.40 Die Position der Bündischen war nicht weniger brüsk: Man grenzte sich energisch ab von den »Jugendabteilungen gesellschaftlicher Großorganisationen, die unter dem irreführenden Namen ›Jugendverbände‹ im Bundesjugendring zusammengeschlossen sind. Diese ›Jugendverbände‹ haben in der Vergangenheit die Gelegenheit oft und gern ergriffen, sich von uns und der Jugendbewegung überhaupt zu distanzieren; lasst uns ihnen dafür danken und ihnen versichern, dass das vielleicht der einzige Punkt ist, in dem wir übereinstimmen […] Die, die uns als ›Restformen eines überholten Stils des Jugendgemeinschaftslebens‹ abtun wollen, haben selbst nie einen Stil gehabt, den sie hätten wandeln können; bestenfalls hatten sie etwas Methode, vor allem aber Taktik.«41

Und Hans-Albrecht Pflästerer, Bundesvorsitzender der »deutschen evangelischen jungenschaft«, sekundierte: »Manchmal glaubt ein Bund, die Ebenbürtigkeit mit den ›großen Jugendverbänden‹ hebe ihn. Er irrt.«42 38 Ebd. 39 Deutscher Bundesjugendring (Hg.): Gesellschaftliches Engagement und politische Interessenvertretung – Jugendverbände in der Verantwortung. 50 Jahre Deutscher Bundesjugendring, Berlin 2003, S. 254. 40 Fritz Kistner in einem Telefongespräch mit dem Autor am 31. 08. 2012. 41 Kommentar in »der eisbrecher«, zitiert nach: Internationaler Jugendpressedienst, 1963, 13. Jg., Folge 532 (10. 10. 1963), S. 6. 42 Ebd.

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Wenn man sich die genannten Tagesordnungspunkte der Bundesvorstandssitzung der Falken und die Zielsetzung der Entschließung des Bundesjugendringes ansieht und mit der »Grundsatzerklärung der jungen Bünde« oder gar den Ausführungen Helmut Gollwitzers vergleicht, so fragt man sich, worin die Gründe der scharfen wechselseitigen Abgrenzung gelegen haben mögen, denn trotz deutlich erkennbarer unterschiedlicher Gewichtungen im Detail überwiegen die inhaltlichen Gemeinsamkeiten. Die kulturellen Differenzen waren jedoch scheinbar wichtiger. Allerdings dürften das Selbstverständnis und das Auftreten der unterschiedlichen bündischen Gruppen im Lande sich oft deutlich von den Positionen Gollwitzers unterschieden haben: Das noch immer oft martialisch-soldatische Auftreten und die Landsknechtsromantik mancher Bünde überdeckten für Außenstehende oft die inzwischen durchaus vorhandene demokratische Substanz.

Ein Vorausblick auf das Meißnerereignis von 2013: Getrennte Feiern Zunächst gilt es festzuhalten, dass sich seit Jahren das Umfeld der Jugendarbeit verändert hat: Die alten sozialen Milieus haben sich weitgehend aufgelöst und die Entscheidung, zu den Falken oder zu den Pfadfindern oder, wo es sie überhaupt noch gibt, zu den Wandervögeln zu gehen, wird heute kaum noch durch die eigene gesellschaftliche Lage bestimmt. Entscheidend sind Freundschaften oder gänzlich zufällige Begegnungen geworden, die einem Heranwachsenden vielleicht Zugang zu der einen oder der anderen Gruppe verschaffen.43 Auch die Falken als organisatorische Erben der historischen Arbeiterjugendbewegung organisieren nur selten Kinder und Jugendliche aus dem heutigen Prekariat, und es fällt ihnen wie allen anderen deutschen Jugendverbänden schwer, junge Leute mit Migrationshintergrund über die Teilnahme an einzelnen Zeltlagermaßnahmen im Kindesalter hinaus an sich zu binden. Dennoch ist das Bedürfnis der Bündischen nach Abgrenzung ungebrochen: Bereits auf ihrer zweiten Sitzung 2010 in Hofgeismar entschied die Bundesführerversammlung zur Vorbereitung des hundertjährigen Meißnerjubiläums, dass dort die Falken als politischer Jugendverband unerwünscht seien. Auch sonst ist die Bereitschaft der bündischen Veranstalter zum Zusammenwirken gering: Der Ring Junger Bünde in Hessen ist deshalb inzwischen aus der Vorbereitung des zentralen bündischen Gedächtniszeltlagers ausgestiegen, und einige heute noch 43 Kay Schweigmann-Greve: Mit uns zieht die neue Zeit! Sozialistische Jugend zwischen Sozialdemokratie, Reformpädagogik und Jugendbewegung, in: ders., Ilse Wellershoff-Schuur (Hg.): Auf dem Weg. Festschrift für Peter Lampasiak, Hannover 2008, S. 149 – 169.

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bestehende Bünde, die 1963 zu den Mitveranstaltern zählten, werden dort nicht auftauchen. Offensichtlich reichen die Gemeinsamkeiten unter den »Erben ersten Grades« für eine gemeinsame Veranstaltung selbst der bürgerlichen Jugendbewegung nicht mehr aus. Einige Falken und eine Reihe Gruppen weiterer Jugendbünde werden sich deshalb Ende August 2013 in Weimar treffen ; dort gehören inzwischen in Deutschland heimisch gewordene Jugendliche anderer kultureller Herkunft zu den Mitveranstaltern, so aus der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair und dem Bund der Alevitischen Jugend. Auch aufgeschlossene Bündische werden dort mitarbeiten. Ort und Zeitpunkt dieser Veranstaltung sollen die beiden Traditionslinien des Arbeiterjugendtages in Weimar 1920 und die Meißnertradition zusammenführen, die historisch erst gemeinsam die Grundlage zukunftsweisender Jugendarbeit darstellten. Für die »neuen« Jugendverbände bedeutet der gemeinsame Aufruf mit traditionellen deutschen Jugendverbänden, sich positiv mit der Geschichte der Jugend in Deutschland zu identifizieren und vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Wurzeln ein Teil von ihr zu werden. Das jugendliche Bedürfnis nach »Selbstbestimmung in innerer Wahrhaftigkeit und vor eigener Verantwortung« ist und bleibt ein Anliegen jeder Jugend. Der historische Kampf der Arbeiterjugend für den Jugendschutz in Fabriken und Handwerksbetrieben speiste sich aus demselben Impetus: Es ist der Kampf gegen Fremdbestimmung und Ohnmachtserfahrungen. Existenzieller noch als nur bezogen auf den Streit mit den übermächtigen Vätern oder furchteinflößenden Gymnasiallehrern ging es damals bereits um die Behauptung der eigenen Menschenwürde und um die Sicherung der eigenen körperlichen und seelischen Unversehrtheit in den Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen. Dem Bekenntnis zur Demokratie folgte dann die Forderung nach Partizipation am kulturellen Reichtum der Gesellschaft auf der Grundlage sozial und materiell menschenwürdiger Lebensbedingungen. Diese Perspektive prägte nicht nur den Weimarer Arbeiterjugendtag 1920, sondern die Arbeiterjugendbewegung insgesamt. Wenn man über die eigene Sondergruppe hinaus Aussagen über Jugend heute formulieren will, gilt es außer dieser Grundorientierung den Veränderungen Rechnung zu tragen, die insbesondere die letzten Jahrzehnte für die Lebenswelt junger Menschen gebracht haben: Neben den neuen sozialen Differenzierungen müssen die multikulturellen Differenzen und gleichzeitig die Wirkungen globaler jugendkultureller Trends Beachtung finden. Auch die mediale Durchdringung des Alltags versetzt junge Menschen heute in eine veränderte Realität, die wir wahrnehmen und ernstnehmen müssen. Wenn die für den Herbst 2013 geplanten Veranstaltungen genauso aktuell Ausdruck ihrer Zeit sein sollen, wie es die Meißnerereignisse vor hundert und vor

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fünfzig Jahren waren, müssen sie sich nicht nur in die Geschichte der Jugendbewegungen in Deutschland stellen, sondern auch diesen veränderten Umständen Rechnung tragen.

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Fritz Jöde (1887 – 1970) war neben Walther Hensel, dessen ursprünglicher Name Julius Janicek war (1887 – 1956), der Protagonist der Jugendmusikbewegung. Beide Persönlichkeiten konnten eine Reihe von Anhängern um sich scharen; beiden war der aktive Umgang mit dem deutschen (Volks-)Lied sehr wichtig und das lebendige Musizieren ein großes Anliegen. Der eine gründete und führte die Musikantengilden, ausgehend vom Norden Deutschlands, der andere den Finkensteiner Bund, der im Süden Deutschlands angesiedelt war. Beide waren auch in der Lage, sich gut zu organisieren und Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. So kooperierte jeder mit einem Verlag: Jöde mit dem Kallmeyer-, später MöselerVerlag in Wolfenbüttel und Hensel mit dem Bärenreiter-Verlag, gegründet von Karl Vöttele in Augsburg, später Kassel. Die Jugendmusikbewegung als »Epochenbegriff« innerhalb der Musikpädagogik rahmt den Zeitraum von etwa 1918 bis (mindestens) 1933 ein. Ausläufer der Bewegung konnten sich durch das Verständnis einer »musischen Bildung« in der Nachkriegszeit und durch das aktive Wirken Fritz Jödes bis in die 1960erJahre hinein halten. Lassen wir Jöde selbst zu Wort kommen! In dem kleinen Band »Vom Wesen und Werden der Jugendmusik« schreibt er : »Die Jugendmusik ist kurz nach der Jahrhundertwende aus der Jugendbewegung hervorgegangen. Der erste Schritt bestand darin, daß die Bündische Jugend das Lied als notwendigen Bestandteil ihres Lebens forderte und es wieder zum klingenden Ausdruck der Gemeinsamkeit dieses Lebens werden ließ.«1 Und weiter : »Auf dieser neuen Grundlage führte das Lied die Jugend zwangsläufig Schritt für Schritt zu immer vielgestaltigeren Musizierformen, einmal in Richtung auf die strenge Chorübung jugendlicher Singkreise, zum anderen in Richtung auf die verschiedensten neuen Instrumentalformen.«2 Für Jöde schien sich also eine Bewegung gebildet zu haben, die über die Besinnung auf das gemeinsame Volksliedsingen zu einer umfassenderen Musikausübung (Chor- und Instru1 Fritz Jöde: Vom Wesen und Werden der Jugendmusik, Mainz 1954, S. 8. 2 Ebd., S. 10.

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mentalmusik) gelangt war. Er setzte sich dafür ein, für diese Bewegung eine Infrastruktur zu schaffen, indem er die musizierenden Gruppen in einem Verbandswesen – den Musikantengilden – ordnete und beheimatete und ihnen Material zur Verfügung stellte. Jöde selbst schrieb unendlich viel an Liedern, Sätzen, Übersetzungen, Monografien für den Gebrauch der Jugendmusikbewegten. Seine engen Anhänger, der Arbeitskreis um Jöde, unterstützten ihn dabei.3 In einer »Kurzchronik« zu dem Beitrag »Die Anfänge der Jugendmusikbewegung« hat Jöde den Weg konkret skizziert: »Die Musikbewegung der deutschen Jugend in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, die später den Namen Jugendmusikbewegung erhielt, ist nicht eines Tages neben der Jugendbewegung gegründet worden, sondern ist in ihr, zunächst ihrer selbst nicht bewußt, aus innerer Notwendigkeit entstanden.«4 Bereits Hans Breuer habe 1908 der Jugendmusikbewegung mit dem »Zupfgeigenhansl« den Weg gewiesen. Bis 1913 sieht Jöde noch einige Lieder- und Lautenbuchveröffentlichungen als hilfreich für die Entstehung der Bewegung an. »Und als sich dann im Herbst desselben Jahres auf dem Hohen Meißner diejenigen Jugendverbände, die sich in ihrem Streben einig fühlten, zur freideutschen Jugend vereinigten, war der Gedanke einer neuen Jugendkultur, für den Gustav Wyneken von der Freien Schulgemeinde Wickersdorf am nachdrücklichsten gekämpft hatte, so weit in die Jugend eingedrungen, daß alle Tore offen schienen, ihn auch in den einzelnen musischen Gebieten des Lebens, also auch in der Musik, zu verwirklichen.«5

Die folgenden Kriegsjahre seien für die Entwicklung hemmend gewesen, aber man habe Gelegenheit gehabt, »sich innerlich weiter zu sammeln, zu ordnen und zu festigen«.6 Ab 1917 hätten dann wieder einige Veröffentlichungen zur Weiterentwicklung beigetragen: das »Jenaer Liederblatt« von Fritz von Baußnern, das von Jöde herausgegebene Musiksonderheft der Zeitschrift »Der Wanderer«, das Sonderheft »Lied und Musik der Jugend« der Wandervogel-Zeitschrift, herausgegeben von Georg Kötschau, und die Gründung der Zeitschrift »Die Laute« von Richard Möller, bis dann 1918 der Sammelband »Musikalische Jugendkultur« (Herausgeber : Fritz Jöde) den Durchbruch gab. »Und als die Jugendmusikzeitschrift ›Die Laute‹ durch den Tod Richard Möllers [1918] herrenlos geworden war, übergab sie ihr Verleger Georg Kallmeyer dem Herausgeber der ›Musikalischen Jugendkultur‹ und damit dem Kreise derjenigen jun3 Vgl. Franz Riemer: Wege zur Jugendmusikbewegung nach individuellen Mustern, in: Mechthild von Schönebeck (Hg.): Vom Umgang des Faches Musikpädagogik mit seiner Geschichte, Essen 2001, S. 153 – 163, hier S. 156. 4 Werner Kindt (Hg.): Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung (1896 – 1919) (Dokumentation der Jugendbewegung; 2), Düsseldorf 1968, S. 1006 ff. 5 Ebd., S. 1007. 6 Ebd.

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gen Musiker und Musikanten, die hinter diesem Werk standen.«7 Mit der darauf folgenden Netzwerkorganisation und der Verbandsorientierung in sogenannten Gilden war dann die Jugendmusikbewegung im Sinne Jödes geboren. Ihr Beginn wird in der einschlägigen Literatur um das Jahr 1918 angesetzt.8

Fritz Jöde – Jugendmusikbewegung – Hoher Meißner: Einige wichtige Stationen Im Folgenden sollen einige Stationen von Fritz Jöde aufgezeigt werden, die während seiner mittleren Lebensjahre überwiegend auch Stationen der Jugendmusikbewegung waren. 1913 und 1963, also die Meißnertage, stellen dabei mehr Randdaten dar, denn 1913 hatte die Jugendmusikbewegung noch nicht wirklich begonnen und 1963 war ihre Zeit im Wesentlichen schon wieder vorbei. 1887 – Fritz Jöde wurde am 2. August in Hamburg geboren. Nach Absolvierung der Volksschule besuchte er von 1902 bis 1908 das Lehrerseminar, wurde danach Volksschullehrer, zunächst auf einer Hilfslehrerstelle, und wechselte 1909 an die private Realschule Dr. Wahnschaff, an der er bis 1914 unterrichtete. 1913 – Meißnertag: Jöde war 26 Jahre alt und mittlerweile in der Jugendarbeit aktiv. Wilhelm Burmeister schreibt in seinen Erinnerungen an Fritz Jöde: »Du gründetest mit den Jungen Deiner Schule eine Gruppe des ›Zugvogels‹, des Hamburger Bundes für Jungwandern, dessen Bundesleiter Du später wurdest.«9 Auf dem Meißnertreffen war Jöde allerdings nicht dabei. Er selbst berichtet: »1913 war noch der freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner. Da war ich schon Bundesleiter vom Zugvogel geworden. […] Und meine Freunde und Kameraden im Bund, die zogen zum Hohen Meißner, auch meine Gruppe. Ich selbst aber lag damals mit einer Grippe im Bett.«10 1917/18 – Beginn der Jugendmusikbewegung: Zum Schlüsselwerk für die Idee 7 Ebd., S. 1008. 8 Vgl. Hilmar Höckner : Die Musik der deutschen Jugendbewegung, Wolfenbüttel 1927; Reinhart Stephani: Die deutsche musikalische Jugendbewegung, Diss. Marburg 1952; Johannes Hodek: Musikpädagogische Bewegung zwischen Demokratie und Faschismus, Weinheim 1977; Dorothea Kolland: Die Jugendmusikbewegung, Stuttgart 1979. 9 Wilhelm Burmeister : Lehrjahre, in: Reinhold Stapelberg (Hg.): Fritz Jöde. Leben und Werk, Wolfenbüttel 1957, S. 23. 10 Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), A 228 (Archiv der Jugendmusikbewegung), Akte 35.35, »Wie ich zur Jugend-Musik-Bewegung kam (Ulf erzählt und dabei auf Tonband genommen)«, 8 Blätter, hier Blatt 4. – In den 1960er-Jahren hatte Jöde offensichtlich die Neigung, mithilfe von Tonbandaufnahmen Originaltöne von Mitstreitern der Jugendmusikbewegung festzuhalten. In diesem Zuge sprach Jöde von seinem eigenen Weg in die Bewegung und nahm den Bericht auf Tonband auf, während gleichzeitig sein Sohn Ulf zuhörte. Die Aufnahme wurde später transkribiert.

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der Jugendmusikbewegung wurde die »Musikalische Jugendkultur« von 1918. In dieser von Jöde herausgegebenen Aufsatzsammlung kamen Autoren wie August Halm, Gustav Wyneken, Jöde selbst und Mitstreiter aus seinem Kreis wie Herman Reichenbach und Richard Möller zu Wort.11 Der Band ist inhaltlich gegliedert in »Ausgang« (hier wird über Musik in Volk und Leben geschrieben), »Musik und Jugend« (vom Grundsätzlichem geht es über Kunstfragen zur musikalischen Jugendkultur), »Die Führerfrage« (hier stehen neben Grundsätzlichem musikbezogene Porträts der Persönlichkeiten August Halm und Robert Kothe), »Das Lied« (Aufsätze über das Volkslied bilden den Schwerpunkt des Kapitels), »Der Rhythmus« (hier geht es vorwiegend um Tanz, Volkstanz und Bewegungserziehung) und »Von den Instrumenten« (den deutlichen Schwerpunkt bildet hier die Laute als das »Lieblingsinstrument« der Jugendmusikbewegung). Jugendkultur, also gesellschaftliche Fragen wie »Ausgang«, »Musik und Jugend« und »Die Führerfrage« sowie Musik, also musikerzieherische Fragen wie »Das Lied«, »Der Rhythmus« und »Von den Instrumenten«, werden zu gleichen Teilen in dieser programmatischen Schrift zur davon ausgehenden Jugendmusikbewegung behandelt. 1929 – Krise: Die »Führer« der Bewegung trafen sich zu einer Situationsbesprechung in Oberhof. Jöde erbat von den Teilnehmenden eine schriftliche Rückmeldung. Ein Ausschnitt aus der Stellungnahme von Georg Götsch mag einen Eindruck von der Stimmung im Führungskreis der Jugendmusikbewegung um 1929 geben:12 »Wir haben zu rasch und oberflächlich Worte gesucht für unsere Inhalte. […] In diesem Zusammenhange muß ich erwähnen, lieber Fritz, daß Du besonders zu rasch ins Zeug gegangen bist. Deine theoretischen und stark weltanschaulich durchsetzten Schriften haben leider viel zu häufig auf mindere als auf vornehme und klare Menschen gewirkt. […] Es hat zu geschehen: Gründlichste Säuberung unserer ›Partei‹. Verkleinerung auf die wenigen wirklich selbständigen und tragfähigen Menschen. Es hat zu unterbleiben: Die ›wilde Produktion‹ an Büchern, Aufsätzen und Vorträgen. Die zu optimistische Propaganda durch zahllose offene Singstunden, Radiovorträge, Kommissionsbeteiligungen und eigene Zeitschrift-Werbung. Besinnung allein tut uns not. […] In dieser möglichst mehrjährigen Produktionspause solltest Du einmal wirklich auf lange Zeit ins Ausland reisen und ganz Anderes denken und tun als Musikpädagogik. Oder, wenn Dir dieser Ratschlag privat zu nahe geht, solltest Du jede Führung der Bewegung weitgehend auf andere Schultern legen.«13

Dieser Empfehlung gedachte Jöde allerdings nicht zu folgen. 11 Fritz Jöde (Hg.): Musikalische Jugendkultur. Anregungen aus der Jugendbewegung, Hamburg 1918. 12 Georg Götsch (1895 – 1956), Leiter des Musikheims Frankfurt/Oder von 1929 bis 1941. 13 Archiv der Jugendmusikbewegung (Hg.): Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933, Wolfenbüttel 1980, S. 965 f.

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1933 – 45 – »Gleichschaltung«: Wolfgang Stumme äußerte sich dazu in seiner unveröffentlichten Dokumentation »Musik und Musikerziehung in der Hitlerjugend«:14 »Der 30. Januar wirkte auf alle Lehrgangsteilnehmer15 wie ein Schock. Bald darauf, im Frühjahr 1933, fand in Berlin-Lankwitz im Hause von Fritz Jöde eine von ihm einberufene Mitarbeiterbesprechung statt, die unter der entscheidenden Frage stand, ›was nun – nach dem 30. Januar –›zu tun sei‹. Nach langer kontroverser Diskussion, die auch zum Abschluß keine Übereinstimmung brachte, empfahl Fritz Jöde den jüngeren Mitarbeitern, durch Übernahme von Aufgaben in der Hitlerjugend das bisher Erreichte der Jugendmusikbewegung innerhalb dieser Jugendorganisation zu erhalten.«16

Nach 1945: Fritz Jöde versuchte, mit einigen Mitstreitern die Idee der Jugendmusikbewegung wieder zu beleben; er skizziert die Entwicklung bis 1953 in dem Heft »Vom Wesen und Werden der Jugendmusik«:17 Neben der Gründung des Bundes deutscher Sing- und Spielkreise »Die Musikantengilde e. V.« 1947 (1953 Umbenennung in »Arbeitskreis Junge Musik«) fanden Singtreffen statt (ab 1948) und es wurden neue Zeitschriften herausgegeben (»Musikant« ab 1948, »Junge Musik« ab 1950). »Die letzte Einrichtung, die Fritz Jöde im Alter von 72 Jahren gründete, war das Archiv der Jugendmusikbewegung, das am 27. Juni 1959 in einem Klassenraum der Hamburger Schule ›Am Borgesch‹ ins Leben gerufen wurde.«18 In den 1960er-Jahren war Jöde viel unterwegs, um das Leben der Jugendmusikbewegung für das Archiv zu dokumentieren, insbesondere durch Originaltöne auf Tonband von ehemaligen Mitstreitern, die von ihrem Weg in die Jugendmusikbewegung berichten sollten.19 1963 – 50 Jahre Meißnertag: Siehe dazu die folgenden Ausführungen. 1970 – Am 19. Oktober starb Jöde in Hamburg.

14 Wolfgang Stumme (1910 – 1994), Leiter der Musikabteilung in der Reichsjugendführung von 1933 – 1945. 15 Gemeint sind die Teilnehmer des Fortbildungslehrgangs für Jugend- und Volksmusikpflege an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin bei Fritz Jöde. 16 AdJb, A 228 (AdJMb), Wolfgang Stumme: Musik und Musikerziehung in der Hitlerjugend. Dokumentation der Jahre 1933 – 1945, Bd. 1, Kap. 1 »Gesamtinhaltsverzeichnis«, o. O. 1985, S. 5 (unveröffentlichtes Manuskript). 17 Jöde: Wesen (Anm. 1), S. 61 ff. 18 Heinrich Schumann: Das Archiv der Jugendmusikbewegung. Aufbau und Entwicklung, in: Karl-Heinz Reinfandt (Hg.): Die Jugendmusikbewegung. Impulse und Wirklungen, Wolfenbüttel 1987, S. 321. 19 Vgl. Riemer : Wege (Anm. 3).

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Jöde und der Meißnertag 1963 1963 wurde Fritz Jöde 77 Jahre alt und lebte damals seit gut zehn Jahren im Ruhestand. Er war in seinen Aktivitäten etwas ruhiger geworden und beschränkte sich vorwiegend darauf, für das Archiv der Jugendmusikbewegung in Hamburg zu arbeiten und Materialien für das Archiv zusammenzutragen. Dennoch erhielt er die Möglichkeit bzw. den Auftrag, im »Hauptausschuss zur Vorbereitung des Meißnertages 1963« mitzuwirken. Dieses Angebot nahm er ganz offensichtlich gerne an. Jöde sollte sich Gedanken über Organisation und Durchführung des musikalischen Anteils am Meißnertag machen und seine Ideen maßgeblich in die Vorbereitungsarbeit einbringen: »Als ich vom ›Hauptausschuss zur Vorbereitung des Meißnertages 1963‹ den Auftrag erhielt, für die musikalische Ausgestaltung dieses festlichen Ereignisses zu sorgen, mußte ich für mich zuerst die Aufgabe umreißen, die ich dabei lösen wollte. Unmöglich konnte es sich darum handeln, die Veranstaltungen nur mit Musik zu umrahmen. Nicht um die Hinzufügung eines Schmucks, der im übrigen mit dem Geschehen selbst nichts zu tun hatte, ging es hier, sondern um eine Eingliederung eines so wesentlich eigenen Teilinhalts im Gemeinschaftsleben der Bewegung.«20

In Jödes Verständnis war der Musik auf dem Meißnertag ein exponierter Platz einzuräumen. Daher spricht er auch von musikalischer Ausgestaltung und nicht etwa von musikalischer Umrahmung. Das sah er in seiner Zielsetzung begründet: »Zusammengefaßt also: die musikalische Ausgestaltung des Meißnertages 1963 sollte erweisen, daß und wie Lied und Musik aus dem Geiste der Jugendbewegung als musischer Ausdruck in unser Volk hineinragt, d. h. dass [sich] das, was von Anfang an für das Lied aller galt, nun auch für die Musik der Musikanten im Sinne aller bewahrheitete.«21 In einer Veranstaltung im Nachgang zum Meißnertag machte er erneut mit großem Selbstbewusstsein deutlich, dass die Musik eine Mittelpunktstellung einzunehmen habe, »weil man [der Hauptausschuss] sich sagte, dass die Musikarbeit in der ganzen Jugendarbeit wahrscheinlich das Gebiet gewesen ist, das am wirksamsten äußerlich für alle sichtbar in den 50 Jahren von 1900 bis 1950 unser Volk in seinem Musizieren verändert hat«22. Für die Ausgestaltung waren drei Teile vorgesehen: 20 AdJb, A 228 (AdJMb), Akte 14.29, »Lied und Musik auf dem Meißnertag 1963. Aufgabenstellung, Vorbereitung und Durchführung«, 16 Blätter, Zitat auf Blatt 1. 21 Ebd., S. 2. Die Aussage ist ein Beispiel für den Anteil an Irrationalität in den Ansichten Fritz Jödes; vgl. dazu Matthias Kruse: Irrationale Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts; in: Ute Jung-Kaiser, Matthias Kruse (Hg.): Weltenspiele – Musik um 1912, Hildesheim 2012, S. 249 ff. 22 AdJb, A 228 (AdJMb), Tonband 41.1, Zeitlauf 5’18” – 5’40”.

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1. Ein Festakt in der Aula der Universität Göttingen am 12. Oktober vormittags. Hier sollte der erste Satz eines Concerto grosso (Oboe, Violine) von Georg Friedrich Händel zu Gehör kommen. Darüber hinaus war die Bach-Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« vorgesehen und am Schluss ein gemeinsamer Choral »Unsre Saat, die wir gesäet«. 2. Eine »festliche Einzelveranstaltung« in Bad Sooden-Allendorf, vorgesehen für den 12. Oktober nachmittags. Dies sollte das eigentliche »Festkonzert« werden und Jöde nannte es die »klingende Berichterstattung« aus der Jugendmusikbewegung. Das Repertoire für dieses Konzert bestand aus Werken von Hugo Distler, Helmut Bräutigam, Hans-Joachim Weber, Armin Knab, Walter Rein, Karl Marx und Heinrich Schütz. Jöde diskutierte die Auswahl der Komponisten und Stücke leidenschaftlich und ausführlich.23 Er stellte dar, welche Komponisten keinesfalls in Frage kämen, welche zwar dabei sein müssten, aber wegen des Zeitrahmens keinen Platz mehr finden könnten und welche schließlich als die bedeutendsten übrig blieben. Als finalen Höhepunkt setzte er Heinrich Schütz, den er neben Johann Sebastian Bach für den größten Meister hielt. Auffällig ist, dass es sich hier um Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert handelt und zwar – abgesehen von Hugo Distler – von Jugendmusikbewegten, die selbst aktiv für die Bewegung geschrieben haben. Hinzu kam mit Heinrich Schütz ein Komponist aus dem 17. Jahrhundert. Diese Auswahl ist typisch für die Jugendmusikbewegung, die rein rezeptiv erlebbare Konzertmusik etwa aus der Romantik ausklammerte, ein Repertoire suchte, das mit Spiel- und Singkreisen zu bewältigen war, und – im Idealfall – dem Publikum eine aktive Mitgestaltung, hier als »gemeinsamer Chor« des Festaktes, ermöglichte. Mit Blick auf die Komponisten des 20. Jahrhunderts kann man nicht von der künstlerischen Elite im Sinne solcher Komponisten sprechen, die innovativ die Musikgeschichte vorangetrieben hätten. Es handelte sich vielmehr um Zeitgenossen, die bereit waren, den Gemeinschaftsgedanken ihrem Schaffen entweder bewusst überzuordnen (und sich somit im freien künstlerischen Ausdruck zurückzunehmen) oder im Sinne ihres (eher bescheidenen) künstlerischen Vermögens zu nutzen. In jedem Fall stand für Jöde die Sing- und Spielbarkeit für den Laienbereich mehr im Vordergrund als die künstlerische Raffinesse.

23 AdJb, A 228 (AdJMb), Akte 14.29.

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3. Offenes Singen24 Das »Offene Singen« war ein Wesensmerkmal der Jugendmusikbewegung überhaupt, denn Publikum war immer dann besonders erwünscht, wenn es nicht nur zuhörte, sondern wenn es bereit war, an einer Veranstaltung aktiv mitzuwirken. Fritz Jöde darf für die Jugendmusik als »Erfinder« dieser Veranstaltungsform gelten, denn einen deutlichen Schwerpunkt in seiner Arbeit legte er auf »Lied und Musikpflege in Jugend und Volk. Im Zusammenhang damit schuf Jöde 1926 die Offene Singstunde als neue Form zur Verbreitung des Liedes im Volk und gab so einen wesentlichen Beitrag zur Aktivierung breitester Volksschichten im Sinne der Erneuerung des Volksgesanges.«25 Der Leiter eines Offenen Singens übte vor der Veranstaltung mit einem Ansingechor einfache Kanons und meist ein-, gelegentlich auch mehrstimmige Lieder und Liedsätze ein. Eventuell nahm man zur instrumentalen Unterstützung ein kleines Laienorchester hinzu. Entweder in einem großen Vortragssaal oder – sehr beliebt – im Freien wurden dann die vorgesehenen Musikstücke mit dem Publikum einstudiert und gesungen. Bei dieser Form von Gemeinschaftsmusik (im besten Sinne) wurden teilweise mehrere Tausend Personen zum gemeinschaftlichen Singen gebracht. Das Repertoire bei der »Kundgebung« bzw. dem »Offenen Singen« auf dem Meißner 1963, in diesem Fall die Lieder, die in einer kleinen achtseitigen, ungebundenen Ausgabe in ausreichender Auflage für den Anlass gedruckt zur Verfügung standen, enthält zwölf (bis zur Dreistimmigkeit ausgesetzte) Lieder.26 Eine Anmerkung auf der letzten Seite verweist auf die Quelle: »Die Lieder dieser Feiergabe wurden entnommen dem Sammelband ›Die Singstunden. Lieder für alle‹ herausgegeben von Fritz Jöde im Möselerverlag.«27 Es handelt sich um eine Ausgabe von 1959 und um Lieder, die von Komponisten der Jugendmusikbewegung und von alten Meistern stammten: – »Freude, schöner Götterfunken«: Ludwig van Beethoven (1770 – 1827); Text: Friedrich Schiller (1759 – 1805) – »Unsre Saat, die wir gesäet«: aus dem 16. Jahrhundert, Satz nach Johann Sebastian Bach (1685 – 1750); Text: Ludwig Andreas Gotter (1661 – 1735)

24 Ebd., »Lied und Musik auf dem Meißnertag 1963«, Blatt 3: »und drittens für die einzelnen Interessengruppen eine Kundgebung aller Teilnehmer von den Ältesten bis zu den Jüngsten auf dem Hohen Meißner selbst Sonntag den 13. Oktober vormittags«. 25 Reinhold Stapelberg: Der Weg, in: ders. (Hg.): Fritz Jöde. Leben und Werk, Wolfenbüttel 1957, S. 12. 26 AdJb, A 228 (AdJMb), Tonarchiv 65 A dokumentiert einen Großteil des originalen Offenen Singens auf dem Hohen Meißner 1963 klanglich. 27 Fritz Jöde: Die Singstunden: Lieder für alle. In 36 Singblättern mit Satzanlagen und Bezifferungen für alle möglichen Instrumentalbegleitungen, geordnet zum Gebrauch bei allen Gelegenheiten des Tages-, Jahres u. Lebenskreises. Gesamtausgabe, Wolfenbüttel 1959.

Fritz Jöde und der Hohe Meißner

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– »Immer strebe zum Ganzen«: Armin Knab (1881 – 1951); Text: Friedrich von Schiller (1759 – 1805) – »Mich brennts in meinen Reiseschuhn«: Cesar Bresgen (1913 – 1988); Text: Joseph von Eichendorff (1788 – 1857) – »Geh aus, mein Herz«: August Harder (1775 – 1813); Text: Paul Gerhard (1607 – 1676) – »Jeden Morgen geht die Sonne auf«: Karl Marx (1897 – 1985); Text: Hermann Claudius (1878 – 1980) – »Der Mensch hat nichts so eigen«: Heinrich Albert (1604 – 1651); Text: Simon Dach (1605 – 1659) – »Wahre Freundschaft«: aus Franken – »Grünet die Hoffnung«: Jacob Kremberg (1650 – 1718) (Dresden 1689) – »Frau Musica singt«: Aus dem »Groß Kirchen Gesangbuch«, Straßburg 1572; Text: Martin Luther (1483 – 1546) – »Was noch frisch und jung an Jahren«: aus Franken (Satz: Kurt Müller) – »Aus allen Birken«: Cesar Bresgen Auch hier zeigt sich, dass die Liedauswahl eine Mischung aus Kompositionen vorwiegend Alter Meister und der Jugendmusikbewegung nahestehender Zeitgenossen war. Vom Wesen her hätte das Repertoire, das hier 1963 angeboten wurde, auch in das Jahr 1913 gepasst. Als Interpreten für die ersten beiden Veranstaltungen und als Ansingechor und Begleitmusik für das Offene Singen suchte sich Jöde ihm wohlbekannte Musikanten: »Zur Lösung dieser Aufgabe habe ich dann Hans Grischkat und seinen Schwäbischen Singkreis, Willi Träder und seinen Niedersächsischen Singkreis, Barbara Boehr und ihr Jugend-Sinfonieorchester und Ludwig Dietz und seinen Jungen Bläserchor Hannover gebeten, mitzuhelfen, den Ablauf des Festes von der Musik her mitzugestalten.«28

Schluss – Musik der Zeit: Auswahl und Geschmack Jöde erkannte schon im Vorfeld die Problematik, die mit der Repertoireauswahl verbunden war : »Die Frage war nur: Würden wir, die Jungen von 1913 und die Jungen von 1963, noch über das gleiche Liedgut verfügen, und würde unser Singen noch den gleichen Sinn haben? Oder bedeutete ein inzwischen in die Jugend hereingekommenes neues Liedgut neuer Art etwas ganz anderes für sie als das alte Lied der Älteren für diese bedeutet hatte? Das waren zwei viel zu schwer wiegende Fragen, als daß sie von uns bei der 28 AdJb, A 228 (AdJMb), Akte 14.29: »Lied und Musik auf dem Meißnertag 1963«, Blatt 2.

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Vorbereitung für die Meißnerfrage bewältigt werden konnte[n]. Verbarg sich doch die ganze Wandlung der Zeit von damals bis heute mit allen seinen heute noch gar nicht zu lösenden Problemen darin.«29

Die Nummer-eins-Hits aus der Schlagerwelt des Jahres 1963 gingen vom verträumten »Junge, komm bald wieder« (Freddy Quinn) bis zum kessen »Ich will ’nen Cowboy als Mann« (Gitte). Für die junge Generation der Zeit standen sicherlich viel mehr die Beatles im Mittelpunkt (Welthits von 1963: »She Loves You« und »I Want to Hold Your Hand«). Dass Jöde auf den Musikgeschmack der Zeit keine Rücksicht nehmen konnte, liegt auf der Hand, denn das war nicht die Musik der Jugendbewegung und schon gar nicht der Jugendmusikbewegung. Aus dem oben genannten Zitat wird darüber hinaus deutlich, dass er sich mit diesem Problem auch gar nicht befassen wollte. Die Auswahl der Lieder für das Offene Singen hat er aus seiner eigenen Sammlung entnommen. Hier spiegelt sich die Musikauffassung der Vorkriegszeit wider. Im Herbst 2013 jährt sich das Meißnerfest zum hundertsten Mal. Wieder wird sich ein Ausschuss Gedanken darüber machen, wie dieses Fest begangen werden soll, und auch dann wird – aller Voraussicht nach – die Frage nach einer passenden Musik gestellt werden. Es wird sich dann wohl feststellen lassen, dass – wie schon nach Jödes Ansicht 1963 – die einen »bei dem alten Liedgut aus dem Geiste des Zupfgeigenhansl stehen geblieben« sein werden (oder zumindest die historische Notwenigkeit sehen, es aufzugreifen) und andere »ein neues Liedgut erworben«30 haben oder eine völlig neue, zeitgemäße musikalische Konzeption verwirklicht sehen wollen. Und wieder wird sich die Frage stellen, wie man damit umgehen soll …

29 Ebd., S. 11 f. 30 Ebd., S. 12.

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Die Festivalreihe »Chanson Folklore International« auf der Burg Waldeck von 1964 bis 1969

Ursachen Mit sechs jährlichen Liederfesten zwischen 1964 bis 1969 gesellte sich die deutsche Jugendbewegung zur Internationale der neuen Populärmusik, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Kulturnationen ausgeübt wurde. Durch den Rundfunk, das Fernsehen und die Tonträger verbreitete sich diese Singekultur. Osteuropa war durch den Eisernen Vorhang davon abgetrennt, doch seine Musik kam dennoch »gut rüber«. Das Alexandrow-Ensemble der Roten Armee wie auch die Musikgruppen »Lusˇnica« (Slowakei) und »Tanecˇ« (Jugoslawien). Dazu kamen die Rembetika aus Griechenland. Besonders das amerikanische »Folksong Revival« (Wiedererwachen des Volkslieds) fand hierzulande bei der singenden Jugend großen Anklang, zumal der US-Kulturimperialismus über die elektronischen Medien schon damals weltweit den Ton angab und diese Macht bis heute ausübt. Die Leitbilder aus Amerika ermöglichten jetzt jungen Sängerpoeten in Deutschland, leichter als vorher Anerkennung für ihre Lieder zu finden. Woody Guthrie und Pete Seeger, bekannte Folksinger der USA, trugen viel dazu bei, neben dem Gesangstrio »Peter, Paul and Mary« und dem Quartett »The Weavers« – um nur die bekanntesten zu nennen. Auch das französische Chanson hatte hierzulande seine Liebhaber gefunden, weil z. B. Georges Brassens und Juliette Gr¦co mit ihrer Gesangskunst durch Radio und LP beliebt wurden. Warum die Burg Waldeck im Hunsrück als Ausgangspunkt für die Liederfeste infrage kam und die Festivalreihe über sechs Jahre lang ausgerechnet dort stattfand, soll hier aufgezeigt werden. Auf der einsamen Burgruine über dem Baybachtal hatte sich bereits in den 1920er-Jahren der Nerother Wandervogel angesiedelt. Die Bundesführer Robert und Karl Oelbermann aus Bonn pflegten nicht nur rheinische Liedkultur zum Saitenspiel auf der Gitarre. Mit sangesfrohen Spielscharen zogen diese Wandervögel in die Welt hinaus und brachten aus der Fremde neue Lieder mit nach Hause. Seither verbreitete sich der weltoffene Geist dieser rheinischen Sänger auch in anderen Bünden. So finden wir in

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ihren Liederbüchern der frühen 1930er-Jahre nicht nur deutsche Volkslieder, sondern auch englische Sea-Shantys (Haul Away) und russische Kosakenlieder, Südseemelodien neben spanischen Weisen und anderen. Diese internationale Liedkultur verbreitete sich bis zum Kriegsende in verdeckten Kreisen des Deutschen Jungvolks, wo ehemalige bündische Jugendführer diese Kulturgüter am Leben erhielten. So lernten Hein und ich bereits 1937/38 Kosakenlieder wie »Platoff preisen wir, den Helden«, Cowboylieder wie »The last round up« und andere fremdländische Gesänge kennen. Besonders die Edelweißpiraten im Rheinland pflegten solche Romanzen wie »Nischni Nowgorod« und »In der Latteria Bianca« zum Gitarrenspiel. Ja, der Rumbaschlag aus dem rechten Handgelenk heraus galt als Erkennungszeichen für Eingeweihte der Szene im Untergrund. Die »Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck« (ABW) konnte ihre Liegenschaft über die NS-Zeit hinweg retten, sodass der Emigrant Karl Oelbermann nach seiner Heimkehr aus dem Exil Südafrika im Jahr 1950 einige Jahre später in das alte Säulenhaus einziehen konnte. Sein ehemaliger Fahrtenbruder Karl Mohri hatte sich bereits mit seiner Familie in der ehemaligen Bauhütte niedergelassen. Für seine Filme, die er im Auftrage der Deutschen Kriegsgräberfürsorge um die Mitte der 1950er-Jahre im Ausland drehte, rekrutierte er junge Leute aus der Schwäbischen Jungenschaft. Sie erbauten sich dann das »Schwabenhaus«, in dem Peter Rohland mit seinen Gefährten auf der Burg Platz fand. »Pitter« hat mit seinen von ihm entdeckten jiddischen Liedern und den demokratischen Volksliedern von 1848 neue Welten erschlossen. Aus der Freundschaft zu ihm und der sangesbrüderlichen Verbundenheit zwischen ihm und uns Zwillingen »Hein & Oss« sprudelte eine der Quellen des neuen Liederfrühlings der 1960er-Jahre. Wir beide hatten bereits zu Pfingsten 1948 auf die Burg gefunden, als unsere Pirmasenser Horte, die »Backbordwache«, zusammen mit Siegfried Schmidt und seiner »Tatgemeinschaft« auf Schusters Rappen über den Hunsrück »auf die Waldeck« zogen. Auf meiner 18 000 Kilometer langen Indienfahrt, der ersten Motorradreise vom Rhein zum Ganges, hatte ich bereits 1951/52 in über einhundert öffentlichen Auftritten als Sänger eine internationale Bühnenroutine erworben. Im Jahr 1954 entdeckte Hein in Paris auf dem Montmartre das berühmte Singkabarett »Au Lapin Agile«, mit dem wir seither durch gemeinsame Arbeiten verbunden sind. Unsere Erfahrungen im Showbusiness konnten wir also einbringen. Im Jahre 1962 wandelte sich das Jazzfestival von Newport in Rhode Island in das Newport Folk Festival, auf dem die 18-jährige Sängerin Joan Baez und der ebenso junge Bob Dylan auftraten. Pete Seeger, der »Granddaddy des USFolksongs«, sang dort auf Englisch »Die Gedanken sind frei« mit dem deutschen Kehrreim. Das machte uns Mut. Und so lagen wir drei Sänger gemeinsam dem Vorstand der ABW in den Ohren, ein solches Folk-Festival »auf der Burg«

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durchzuführen: Das ist doch der Genius Loci! Dort gehört es hin. Der Vorstand beauftragte dann den studentischen Arbeitskreis mit der Planung. Voller Freude stürzten sich Diethart Kerbs, Rolf Gekeler, Alf Schuhmann und Jürgen Kahle in die Arbeit.

Die sechs großen Liederfeste »Chanson Folklore International« Über die Pfingstfeiertage des Jahres 1964, vom Freitag, dem 15. Mai, bis Donnerstag, den 21. Mai, konnte das erste Festival geplant werden. Ein knappes Jahr stand für die Vorbereitungen zur Verfügung. Eine Riesenarbeit! Dass das zeitgenössische Chanson eine große Rolle spielen müsste, war uns allen bewusst, und die Vorfreude auf das Kommende befeuerte sowohl die Planer als auch die Mitwirkenden. Was müssen wir vorbereiten? Welche Künstler laden wir ein? Wo bringen wir sie unter? Was für eine Bühne ist zu erbauen? An welcher Stelle? Wer kümmert sich um die Mikrofone, die Lautsprecher, die Beleuchtung? Fragen über Fragen! Eines stand fest: Wir können keine Gage bezahlen! Daraus ergab sich schon ein gewaltiger Nachteil: Denn welche namhaften Künstler treten gratis auf ? Dafür boten wir freie Kost und Unterkunft über die Tage des Festivals. So sollte es denn auch bleiben. Ganze zwölf »Nummern« mit 31 Titeln brachten wir im ersten Jahr auf die Bühne – vor 350 Zuschauern. Aus Schweden kam das Gesangsduo »Hai und Topsy«, alte nerothane Bekannte mit ihren internationalen Liedern. Franz Josef Degenhardt, der neue Dichtersänger, verzauberte das Publikum mit den Chansons »Zwischen Null Uhr Null und Mitternacht« – so lautete sein erster Plattentitel. Seine Grotesken im fantastischen Realismus erzählten von der unheimlichen »Tarantella« und den »drei glänzenden Kugeln neun Meilen gegen die Nacht«. Atemlos lauschten alle dem Gesang dieses großen Sängerpoeten, der sich auf einer schwedischen Levin-Gitarre begleitete. Dieter Süverkrüp trat auf: Mit beißender Ironie traf er ins Ziel, wobei er sich mit seinem jazzigem Saitenspiel besonders profilierte. Den »D¦serteur« von Boris Vian sang er auf Deutsch in der Übersetzung von Gerd Semmer. Auch wir hatten dieses Lied im Originaltext für unseren Auftritt eingeplant, nun musste er entfallen und auf einen Vortrag am Lagerfeuer warten. Außerdem stand ich allein auf der Bühne, weil Hein aus persönlichen Gründen verhindert war. Wie peinlich! Fasia Jansen ließ ihre Sirenenstimme mit Politsongs gegen die atomare Aufrüstung und für die Bürgerrechte der Schwarzen in den USA ertönen. Die drei »Conrads« zupften ihr Tenorbanjo und auf den Gitarren die Saiten dazu. Da tat sie sich viel leichter als wir, die wir uns selbst begleiten mussten! Carol Culbertson, die große Blonde aus den USA, hatte ich mitgebracht, weil sie in meiner Heimatstadt an der Army Dependents School als Lehrerin beschäftigt

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war. Dort habe ich sie für das Festival gewinnen können. Sie gab US-Folksongs zum Besten – und spielte Gitarre dazu. Pitter Rohland sang seine jiddischen Weisen zum eigenen Saitenspiel. Gesine Köhler legte ihre Altstimme darüber, und Hanno Botsch spielte Geige dazu. Was für ein Klang! Das Quartett »Die Neußer« ließ südamerikanische Klänge ertönen, die es auf der letztjährigen Nerotherfahrt mit Jupp Müller in Brasilien, Chile und Argentinien vor Ort gelernt hatte, und der blutjunge Reinhard Mey stimmte seine kleine Banditenballade an. Seinen kometenhaften Aufstieg ahnte keiner von uns. Zwei weitere Sänger aus den USA, Russ Samson und Shields Flynn, muss ich noch erwähnen, obgleich sie nur für die Internationalität des Festivals eine Rolle spielten, wie auch ihre Sangesschwester Karen Litell. Diethart Kerbs, einer der Initiatoren an unserer Seite, trug eine begeisternde Einführung vor. Darin erklärte er den Journalisten von Funk und Presse unser Wollen und Streben. Er fand allerorts freudige Zustimmung, und seine Worte blieben haften. Sie gelten bis heute! Für den WDR berichtete der Reporter Hilmar Bachor in einer Abendsendung ausführlich über die Tage und Nächte auf Burg Waldeck, und der Südwestfunk hatte den jungen Schriftsteller Hans Christian Kirsch damit beauftragt. Dessen Sendung konnten wir in der Pfalz hören. So ging das erste Festival drei Tage lang glatt über die Bühne. Wenn es auch in Presse und Rundfunk nur wenig Resonanz fand, so wirkte es doch in die Zukunft der kommenden Jahre. Der Sender Freies Berlin lud die wichtigsten Künstler für den Herbst zu einem glänzenden Auftritt in den Großen Sendesaal im Hause des Rundfunks unter dem Funkturm im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt ein. Der öffentliche Liederabend »JAMBOREE 1964« wurde von fünf Fernsehkameras aufgenommen und ein paar Wochen später zur Primetime von der ARD bundesweit an einem Sonntagabend ausgestrahlt. Vom Lagerfeuer ins Rampenlicht! Zum zweiten Festival vom Mittwoch, dem 26. Mai, bis zum Dienstag, den 1. Juni, im folgenden Jahr 1965 erschienen bereits tausend Besucher. Hatte sie das geniale Plakat des Grafikers Breker mit den schrägen Vögeln aus Fingerabdrücken dazu bewogen? »Die Rheinpfalz« warnte ihre Leser, sie möchten nicht unvorbereitet die Burg besuchen, dort gehe es rustikal und vergammelt zu; es werde gesoffen, und Kommunisten seien auch dabei. Das war nicht mal falsch, denn die Waldeck bot kein Kurkonzert — la Baden-Baden. Hein hatte eine unbeschreiblich perfekte Jurte erbaut, mit Rauchfleisch oben drin und Bärenfellen auf Tannenreisern. Alles zog dorthin, und 120 Liter Kaiserstühler Weißherbst wurden dort getrunken aus italienischen Doppelkonusfässern. Vom Jurtenrauch brannten unsere Stimmbänder, und die Kehlen wurden heiser vom endlosen Singen und Quasseln. Ich hatte Walter Mossmann und seinen Begleiter Michael Werner aus Freiburg im Breisgau mit meinem CitroÚn

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DS 19 abgeholt und zum Festival kutschiert. Wie das? Beide gehörten zum Bund deutscher Jungenschaften, mit dem uns enge Gefährtenschaft verband. Auch Christoph Stählin, der leise Sängerpoet, stammte aus dessen Reihen und gehörte zu unseren Sangesbrüdern. Er brachte Charlie MacLean aus Schottland mit auf die Burg, der in Marburg studierte und seine zwölfseitige »Klampfe« mit dem Plektrum als Instrumentalbegleitung zu seinen schottischen Balladen zupfte. Dass Franz Josef Degenhardt und sein Bruder Martin als Knaben in demselben Bund (Deutsche Jungenschaft) die Fahrtenlieder gesungen und Gitarre spielen gelernt hatten, haben sie dem Hein und mir freudig verkündet. Auch das verbindet uns über den Tod der beiden hinaus. Franz Josef, genannt »Karratsch«, fand höchste Wertschätzung mit seinen neuen Chansons, darunter sein bekanntestes »Spiel nicht mit den Schmuddelkindern«. Auch Dieter Süverkrüp konnte an seine letztjährigen Erfolge anknüpfen – nicht enden wollender Beifall … Das zweite Festival übertraf alle unsere Erwartungen an Inhalten und Format. Shirley Hart und Colin Wilkie brachten ihre hinreißenden Songs aus England dar, zweistimmig. Die Frauenstimme im strahlenden Glanz der Jugend, kraftvoll und sinnlich, dazu Colins Bariton, wohltönend zum Klang seines kultivierten Spiels auf den Saiten: echtes Fingerpicking! Pitter hatte sich Schobert Schulz als Begleiter für die zweite Stimme und sein Spiel auf der Concertina, einem kleinen Balginstrument, zugelegt. Kristin BauerHorn begleitete ihre eigenen Chansons auf dem Klavier, ein gänzlich neuer Sound mit stichfeinen Texten wie z. B. »Die Ameisenstraße«. Die beiden kleinen Katalanen Juan und Jos¦ trugen Lieder gegen Franco vor, kaum des Gesanges mächtig, aber authentisch und glaubhaft. Walter Hedemann, fast ein Kabarettist, unterhielt das Publikum mit eigenen Chansons zum Klavierspiel, leise und stark. Was für ein schönes Gefühl, im Applaus zu baden! Hein sang an meiner Seite – das fetzte! Unser neuer Titel »Ot Wolgi Da Dona« bediente sich einer alten Kosakenmelodie vom Don. Das Festival tönte und klang, es sang und sprang, und die Nächte wollten nicht enden im Rausch der Lieder an den Lagerfeuern und im Sälchen des Säulenhaues: »Chanson Folklore International« hatte seine Bestätigung gefunden und wusste auch sich selbst zu feiern! Alle großen Zeitungen berichteten in Wort und Bild, und der Südwestfunk aus Baden-Baden schickte ein Fernsehteam mit großem Ü-Wagen auf das Fest und zeichnete eifrig auf. Der Sender Freies Berlin lud uns anschließend wieder ein zum öffentlichen Auftritt im Großen Sendesaal vom Haus des Rundfunks mit fünf Kameras, zum Mitschnitt für eine sonntagabendliche Ausstrahlung der ARD. Darüber hinaus drehten die wichtigsten Waldecksänger im Herbst unter der Regie von Tom Toelle in neun Nächten am Kurfürstendamm bei der Gedächtniskirche einen Fernsehfilm. Die beachtliche Gage machte manches Manko wett!

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Das dritte Festival fand über Pfingsten 1966 an elf Tagen in drei Etappen statt, beginnend mit Liederwerkstätten vor den großen Konzerten über die Feiertage. Abschließend folgte eine »Folksongwoche« mit Lehrveranstaltungen zum Fingerpicking oder Flamencospiel, aber auch für elisabethanische Balladen und Banjozupfen. Diethart Kerbs konnte in seiner Eröffnungsrede stolz auf die ersten beiden Festivals verweisen und Erfolge melden: Die Besucherzahl hatte sich verdoppelt und die neue Freilichtbühne war gerade rechtzeitig fertig geworden. Fünf Fernsehkameras störten mit ihren rücksichtslosen Aufzeichnungen die bisher so wohltuende Atmosphäre. »Was als workshop und Diskussionstreffen gedacht war, wurde in diesem Jahr zur Massenveranstaltung. Zweitausend kamen zum Sängerkrieg«, schrieb Ann Thönnissen im »twen« vom August 1966. Auch Hannes Wader hatte sich auf den Weg zur Burg gemacht und trug seine zwei ersten selbst gemachten Lieder vor. Seither sind wir in sangesbrüderlicher Treue miteinander verbunden. Hanns Dieter Hüsch trat ebenso erstmals bei uns im Hunsrück auf. Er hatte sich anlässlich eines öffentlichen Auftritts beim Sender Saarbrücken an Hein und mich gewandt – und wir wussten die Ehre als Vermittler zu schätzen. In der ersten Nummer der neuen Zeitschrift »song«, herausgegeben unter dem Motto »Politisch Lied, ein garstig Lied«, stand der Nachruf auf Peter Rohland. Der vielleicht hoffnungsvollste »Volkssänger«, Mitgründer des Festivals an unserer Seite, war im letzten Frühsommer plötzlich gestorben, gerade 32 Jahre alt. Nirgends im Programm des Festes war ein Wörtchen, eine Note der Erinnerung an ihn zu hören. Ein böses Omen? Im Spätsommer ging die hölzerne Bühne in Flammen auf. Brandstiftung? 1967 hieß das vierte Festival nicht mehr »Chanson Folklore International«, sondern »Das engagierte Lied.« Ein Zug zur Politisierung begann sich abzuzeichnen Die Folklore rückte mehr in den Hintergrund, und den frei werdenden Raum besetzte der »protest song«, ein Begriff, der damals hohe Wellen schlug. Das neue Plakat im Querformat ohne Schmiss und Schmackes ließ den kommenden Niedergang ahnen, obgleich über dreitausend Besucher die Festwiese vom Mittwoch, dem 24., bis Sonntag, den 28. Mai., bevölkerten. Wir hatten ein großes Zelt aufgeschlagen, um von der Witterung unabhängig zu sein. Das Thema des Festivals hing wie ein Damoklesschwert über den Höhen und Tälern des Hunsrücks. Während in kleinen Kreisen referiert, anschließend diskutiert und auch zensiert wurde, ging es anderswo fließender zu, und mitunter kam auch etwas dabei heraus. Aus Paris war Jacques Canetti angereist, jener PhilipsDirektor, der in den frühen Fünfzigern den damals 32-jährigen Georges Brassens entdeckt hatte. Was für eine anerkennende Geste aus Frankreich für uns! Er brachte seine komplette Truppe mit: Marc Molo und Monique Goddard verzauberten das Publikum mit brandneuen Chansons en franÅais. Schnuckenack Reinhardt spielte mit seinem Ensemble – lauter Sinti – eine so feine deutsche Zigeunermusik aus Jazzelementen vom Hot Club de France, Swing-Walzern und

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ungarischen Weisen, wie man sie bisher auf der Burg noch niemals gehört hatte. Riesenapplaus! »Störtrupps, rechte Provos, Feld-, Wald- und Wiesen-Anarchisten wollten diesmal mit SA-Methoden dem Festival ein paar flegelhafte Hörner aufsetzen. Es wurden Kabel und Autoreifen zerstochen und durchgeschnitten, Licht und Leitungen für Rundfunk und Fernsehen beschädigt und unterbrochen … gezielte Aktionen. Denn einige, ganz andere Leute auf der Waldeck hören nicht gern das kritisch engagierte Lied.« (Hanns Dieter Hüsch). Sie sprengten die neu erbaute Bühne kurz nach dem Ende des Liederfestes in die Luft. Sabotage! Das fünfte und das sechste Festival versanken in den Jahren 1968 und 1969 im Politchaos jener Jahre und wiesen kaum mehr künstlerische Qualitäten auf. Es waren die Stunden der Zukurzgekommenen, die Chance der Neider, der Auftritt der Kunstlosen. Die schrägen Vögel auf dem ersten Plakat hatten sich leibhaftig bei uns eingefunden, nur konnten sie leider nicht schön singen! Einer von ihnen, Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter aus Wien, des Gesanges nicht mächtig, quäkte mit dünner Stimme: »Die Speisesucht / ist eine leise Sucht« und schlug dazu eine verbeulte Blechtrommel, die er vor seinem » Ranzen« festgebunden hatte. Seine Liedertexte waren in eine Plastiktüte gestopft. Wir fragten uns, was das sollte. »Lied 68« hieß das Motto, unter dem bereits zu Beginn der Veranstaltung massive Störaktionen die Auftritte der Sänger unterbrachen. Reinhard Mey wurde ausgebuht – »zu unpolitisch«! Und Hanns Dieter Hüsch durch Zurufe und lauthalsiges Geschrei von der Bühne vertrieben. »Stellt die Gitarren in die Ecke«, forderte Eckard Holler, ein alter Jungenschaftler. Der musische Burgfrieden war gestört, an die fünftausend Besucher überschritten unsere Kapazitäten. Gewaltige Flurschäden hatten sie beim Parken ihrer Fahrzeuge angerichtet. »Politik statt Musik« hieß jetzt das Motto. Dazu allerdings bedurfte es keiner Liederfeste mehr. Als das 1969er-Festival im infernalischen Gestank von Buttersäure endete, hatte die ABW lediglich das Gelände zur Verfügung gestellt und trat nicht mehr als Veranstalter in Aktion. Eine neunzehnköpfige Projektgruppe nannte das Arbeitstreffen »Waldeck 69 – Gegenkultur«. Deutschlands Linke war sich nicht einig, und rund ein Dutzend Splittergruppen wurden nicht müde, sich gegenseitig als Revisionisten oder Konterrevolutionäre zu beschimpfen. Die Happening-Künstler der »First Vienna Working Group« mischten sich mit Spontanaktionen fröhlich in das chaotische Treiben ein. Zweitausend Besucher erlebten eine Antikultur in der Hunsrück-Einsamkeit. »Selbst der provokative Angriff auf die Konsumunterhaltung wird vom überwiegenden Teil der Zuschauer bloß konsumiert, vom Rest mißerstanden und nur von ganz wenigen als Angriff auf die im Ritus festgefrorenen Theaterformen erkannt. Spontaneität muss gelernt werden«, schrieb Klaus Theweleit in der »ZEIT« vom 19. September 1969.

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Folgen und Auswirkungen Diethart Kerbs resümierte die zurückliegenden Ereignisse so: Die Festivals waren das sichtbarste Bindeglied zwischen der Bündischen Jugend und der Studentenbewegung. – Vielen jungen Leuten dienten sie als Aufheizer auf dem Wege zur politischen Aktivität. – Sie waren konzentrierte Vorläufer zu den sozialen Bewegungen der kommenden Jahre mit Improvisation, Spontaneität und Toleranz und führten bei den Teilnehmern zu Weltoffenheit, Freude am Experiment, zu Schöpferkraft und Medienkompetenz. – Die Festivals boten vielen Sängerinnen und Sängern erstmals Gelegenheit zum öffentlichen Auftritt und zur Anerkennung. – Sie führten zur Wiederentdeckung deutscher Volkslieder demokratischen Charakters. – Die jiddischen Lieder Osteuropas wurden durch die Festivals bekannt. – Neue, politische Lieder entstanden durch die Festivals und kamen an die Öffentlichkeit. Später würgte sie der Boykott durch die Medien wieder ab. – Die Lieder von Carl Michael Bellman und Fritz Graßhoff erlebten eine Renaissance. »Die Waldeck war gut und schön und wahr – und wichtig! Sie hat einer neuen Musikkultur das erste Podium gegeben. Sie hat die Liedermacher hervorgebracht. Sie hat eine Alternative zur unerträglichen, piefigen, stumpfen deutschen Unterhaltungsmusik aufgezeigt. Auch wenn Hannes [Wader] […] sang: ›Von uns allen, die auch schöne Lieder schrieben, sind nur noch wir beide übrig geblieben’, weiß ich doch: Wir sind noch eine Menge – und wir leben noch, und der Mythos Waldeck auch«, so Reinhard Mey 2011.

Aktivitäten, Anstöße, Weiterentwicklungen

Hartmut Alphei

Jugendbewegung und Schule

Vorbemerkung Mein Beitrag stößt mitten hinein in die aufgeheizte Diskussion um das Thema Kindesmissbrauch und insbesondere um die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule, an der ich über dreißig Jahre lang Mitarbeiter gewesen bin. In dieser Diskussion spielt auch die Frage eine wichtige Rolle, inwieweit die Reformpädagogik und die Jugendbewegung Wegbereiter oder gar Ermöglicher dieser Vorkommnisse gewesen sind. »Distanz« und »Nähe« ist ähnlich wie »Führen« oder »Wachsenlassen« ein Gegensatzpaar, an dem sich immer schon gegensätzliche Positionen in der Auseinandersetzung um die richtige Pädagogik festgemacht haben. Einerseits brauchen Menschen die Nähe und Zuwendung anderer und das Gefühl, angenommen zu sein, doch kann andererseits falsche Nähe auch bedrohlich werden, zu Missbrauch führen und für ein gesundes Heranwachsen zu einer Gefahr werden. Aber das Gegenteil, also Distanz, ist ebenso lebensnotwendig, denn es ist zwar schlimm für Menschen, wenn andere sich von ihnen distanzieren, aber bisweilen ist es ebenso wichtig, gelernt zu haben, sich von anderen distanzieren zu können. Wer sich mit Grundfragen der Erziehung und insbesondere mit Fragen der Heimerziehung beschäftigt hat, der weiß, dass Nähe und Zuwendung wichtige Elemente im Umgang mit Menschen sind – und das nicht nur in der Familie, sondern auch in familienähnlichen Konstellationen. Das galt und gilt erst recht für Internate ebenso wie für SOSKinderdörfer usw., die nicht selten emotional unterversorgte Kinder und Jugendliche als Klientel haben. Was meine Zeit an der Odenwaldschule angeht, möchte ich die heutige Gelegenheit nutzen, wenigstens in dieser beschränkten Öffentlichkeit dazu Stellung zu nehmen. Behauptungen von Journalisten, es habe in der Odenwaldschule ein Netzwerk von »bündischen Lehrern« bestanden, die nur im Sinne gehabt hätten, sich wechselseitig Kinder zum Missbrauch zuzuführen, und auch ich sei ein Teil dieses Systems gewesen, sind eine Unterstellung, die nicht der Wahrheit entspricht. Ich wurde aus ganz anderen Gründen Mitarbeiter an der

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Odenwaldschule. Nach meinem Lehramtsstudium in Göttingen und einer Zeit als Assistent an der Universität Bielefeld war ich 1970 als Studienreferendar an die Odenwaldschule gegangen, weil ich von dieser Schule bereits in meinem Elternhaus, aber auch während des Studiums gehört hatte. Ich wollte die Gelegenheit wahrnehmen, einerseits als Referendar an öffentlichen Schulen zu arbeiten, zugleich aber mit der privaten Odenwaldschule eine Reformschule kennenzulernen. Nach dem 2. Staatsexamen bin ich dort in der üblichen Doppelaufgabe als Lehrer und Betreuer einer Heimgruppe für die nächsten dreißig Jahre geblieben. Gerold Becker war damals Schulleiter. Ich war – wie übrigens viele andere Menschen, Eltern, Lehrer, Schüler und auch große Teile der Öffentlichkeit –, fasziniert von der intellektuellen Kraft dieses Gerold Becker, seiner charismatischen Ausstrahlung und seinen Äußerungen zu aktuellen pädagogischen Fragen. Dass seine Hinwendung zu Kindern und Jugendlichen auch eine andere Seite hatte, blieb dabei unerkannt. Was heute gegen ihn vorgebracht wird, überstieg lange meine Vorstellungskraft, und da war und bin ich vermutlich nicht der Einzige. Ich war damals ohne Arg. Meine Haltung war ähnlich der von Bernhard Bueb, der kürzlich in einem Interview mit der »Welt am Sonntag« gesagt hat: »Meine Kritik an Becker damals [als er 1972/73 Lehrer an der Odenwaldschule war] betraf nicht das Sexuelle, weil wir alle seine Verbrechen nicht einmal vermutet, geschweige denn wahrgenommen hatten.«1 Trotzdem: Aus heutiger Sicht und mit dem Wissen von heute bin ich beschämt, nicht wahrgenommen zu haben, dass Gerold Becker eine noch gänzlich andere Seite hatte, die etlichen jungen Menschen tiefe Verletzungen zugefügt hat. Im Nachhinein denke ich, ich hatte ihm gegenüber eine zu unkritische Gutgläubigkeit. Es tut mir leid, was damals Schülern passiert ist, und ich bitte alle davon Betroffenen für mein damaliges Nicht-Handeln um Verzeihung. Nun stehe ich also heute hier und damit vor der mir angetragenen Aufgabe, über Jugendbewegung und Schule im Zusammenhang mit dem Meißnertreffen 1963 zu sprechen.

Einige grundsätzliche Anmerkungen zum Thema »Jugend« Beide Institutionen – Schule wie Jugendbewegung – haben es mit der Lebensphase Jugend zu tun. Mindestens um 1900, aber noch lange bis in das 20. Jahrhundert hinein, galt »Jugend« nur als eine Übergangsphase zwischen »nicht mehr Kind« und »noch nicht erwachsen sein«. Der früher benutzte 1 »Disziplin ist nicht alles«. Bernhard Bueb im Gespräch mit Alan Posener, in: »Welt am Sonntag« vom 09. 09. 2012.

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Ausdruck »Halbstarke«, erfunden bereits vor dem Ersten Weltkrieg, bringt das anschaulich zum Ausdruck. Es war das Verdienst der Jugendbewegung und speziell der in der Meißnerformel zum Ausdruck gebrachten Programmatik der »Selbstbestimmung« und des »Selbsterringens«, dass man heute von Jugend als einer eigenen Lebensphase spricht, die an die Institution Schule andere Anforderungen stellt, als Lehrer sie im Umgang mit »Kindern« gewohnt sind. Jugendliche lassen sich nicht mit indirekt vermittelten Lebenswelten und Lebenswirklichkeiten zufrieden stellen – sie haben einen großen Hunger nach selbst gemachten Erfahrungen und unmittelbaren Erlebnissen; sie wollen sich in der Realität des Lebens bewähren und lassen sich nicht davon beeindrucken, wenn Erwachsene auf möglicherweise drohende Gefahren hinweisen. Wer in bündischen Gruppen gewesen ist, kennt diese Grundhaltung und hat sie vielfach besonders auf Trampfahrten erlebt. Auch den Schulen der Reformpädagogik ging es darum, für die Schülerinnen und Schüler Erfahrungsräume zu eröffnen, in denen neben das kognitive Lernen das Lernen durch Erfahrung trat. Ich nenne zur Verdeutlichung nur ein paar Namen, die für diese pädagogische Grundhaltung stehen: John Dewey, Paul Goodman, Ivan Illich, Hartmut von Hentig, Enja Riegel, Jesper Juul. Durch »Entschulung« sollte der Schwerpunkt weg vom theorieorientierten Faktenlernen hin zur Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit gelenkt werden – ein Anliegen, das auch zur pädagogischen Grundhaltung der Jugendbewegung gehörte und gehört. Nach 1900 nahm die sich bildende Jugendbewegung mit besonderer Intensität das unter Schülern zunehmend sich ausbreitende Gefühl auf, eine neue Generation zu sein, die über die Welt anders dachte als ihre Eltern und Voreltern und die es drängte, Alternativen zu entdecken und zu leben.2 Von Schülerinnen war damals allerdings noch kaum die Rede und die Gleichstellung der Geschlechter in der Schule im Rahmen der »Koedukation« wurde in den öffentlichen Schulen überhaupt erst in den 1970er-Jahren ernsthaft in Angriff genommen. Die Odenwaldschule war allerdings in dieser Hinsicht mit der seit ihrer Gründung im Jahre 1910 praktizierten Koedukation eine Ausnahme. Die Jugendbewegung entstand »in der Schule«, aber auch »gegen die Schule«: Zunächst waren es überwiegend Gymnasiasten, die in der Jugendbewegung aktiv wurden. Zwar machten in Deutschland Gymnasiasten und Oberschüler noch bis in die 1960er-Jahre hinein nur etwa fünf Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs aus, aber die bürgerliche Jugend hatte eine Leitfunktion. Mit Recht sprechen wir deshalb von der »bürgerlichen Jugendbewegung«. Jugendliche aus der damals noch so genannten »unteren Mittelschicht« assimilierten sich an die Gewohnheiten des gehobenen Bürgertums, das in der Gesellschaft den Ton 2 Vgl. Barbara Stambolis: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom (= Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung,; 11), Schwalbach 2003.

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angab. Die Fahrenden Gesellen aus dem Deutschen Handlungsgehilfen-Verband und ihre Nähe zur Jugendbewegung sind ein Beispiel dafür, wie »mittlere Schichten« sich »nach oben« orientierten. Das Selbstbewusstsein der Arbeiterjugend und der Drang, ebenfalls »auf Fahrt zu gehen«, entwickelten sich damals erst langsam. Viel zu lang war der Arbeitstag junger Arbeiter, um noch Zeit und Kraft für solche »Sperenzchen« zu haben. Und so gab es in der organisierten Arbeiterschaft zwar von Erwachsenen veranstaltete »Jugendarbeit«, aber eine »Arbeiterjugendbewegung« keimte erst langsam auf – und das nicht nur zur Freude der Verbandsoberen. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, auf ein besonderes Phänomen in Bezug auf Jugendbewegung und Schule hinzuweisen: Die Gesellschaft war damals in einem rasanten Umschichtungsprozess und gerade durch die Jugendbewegung war etwas in Gang gekommen, was man in den 1960er-Jahren die »Mobilisierung von Bildungsreserven« genannt hat. Dazu ein persönliches Beispiel aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Mein 1898 geborener Vater, Sohn eines Handwerksmeisters in dem Ackerbürgerstädtchen Bockenem am Harz, war seinen Lehrern als begabt aufgefallen und die Schule empfahl den Eltern, ihn in die »Präparandenanstalt« nach Einbeck zu schicken. Das war eine Art Vorbereitung auf die Lehrerausbildung und entsprach etwa der heutigen gymnasialen Oberstufe. Im Einbecker Seminar lernte er den Wandervogel kennen. Er wurde Lehrer und war später als Bezirksjugendpfleger für die öffentliche Jugendarbeit im Regierungsbezirk Hildesheim zuständig. In diese Funktion brachte er viele Erfahrungen aus der Jugendbewegung und vor allem aus seinen Tätigkeiten in der Jugendmusikbewegung mit ein. Dieser Berufsweg bewirkte also einen gesellschaftlichen Aufstieg angesichts seiner Herkunft aus einer Handwerkerfamilie. Er war damals nicht der Einzige mit solch einer Biografie. Viele ehemals Jugendbewegte wurden Lehrer. Fünfzig Jahre später war das ähnlich: Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fanden sich in der Bündischen Jugend nicht nur Oberschüler. Wir hatten im Ring Hildesheim der Deutschen Freischar viele Lehrlinge und Jungarbeiter in unseren Gruppen. Jahrelang war ich der einzige Gymnasiast. Das war in anderen Stadtkreisen allerdings teilweise anders; dort war der Anteil der Mittelschüler und Gymnasiasten oft größer. Durch das Leben in den bündischen Horten gab es viele Bildungsanregungen. Es wurden ausländische Lieder gesungen, dadurch in Ansätzen Sprache und Kultur anderer Länder kennengelernt und auf Auslandsfahrten weitete sich der Blick. Wichtig waren die Gaulager und das jährliche Bundeslager : Dort stellten sich die einzelnen Horten vor und damit gab es immer einen Wettstreit darüber, wer am besten singen konnte, wer gut Theater spielte, wer schöne Werkstücke zeigen konnte usw. Wichtig waren auch die Impulse, die die Hortenführer einbrachten. Ich habe zum Beispiel aus Literatur vorgelesen, die ich in der Schule kennengelernt hatte, habe, als wir nach Griechenland fahren wollten, den Ge-

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fährten in der Gruppe die Philosophen Platon und Sokrates nahegebracht oder einen Besuch einer Freilichtaufführung des »Faust I« vor der 1000-jährigen Kirche in Bad Gandersheim organisiert, kurzum: die Gruppenmitglieder mit Themen in Verbindung gebracht, die bei ihnen zu Hause keine Rolle spielten. Die Folge war : Zwei Drittel der Horten-Mitglieder haben sich fortgebildet und wechselseitig dazu angestachelt, etwas aus sich zu machen. Etliche sind bis zur Mittleren Reife zur Abendschule gegangen; mehrere haben das Abitur draufgesetzt und studiert; einige sind Lehrer geworden. Die Horte war hier so etwas wie ein gesellschaftlicher Paternoster : Man musste nur einsteigen, und schon ging die Reise »nach oben«. Jürgen Reulecke hat unlängst in einem Aufsatz seinerseits darüber berichtet, dass es in den Gruppen des Hortenrings im Ruhrgebiet ebenfalls eine große Zahl von Arbeiterkindern gegeben habe, für die die Anregungen zum Weiterlernen nicht von der Schule, sondern von Gruppen aus der Jugendbewegung ausgegangen sind.3 Das alles war in gewisser Weise eine Vorwegnahme dessen, was man später als »Bildungswerbung« bezeichnet hat – eine Initiative, die von Studenten aus Freiburg angestoßen wurde und bei der es darum ging, die Eltern des karikierend sogenannten »katholischen Arbeitermädchens vom Lande« davon zu überzeugen, ihre Kinder auf weiterführende Schulen zu schicken. Aus der eigenen Erfahrung als Schüler wissen wir : Jugendliche verbringen die meiste Zeit ihres Lebens schulisch bestimmt. Heute machen 40 % bis 60 % eines Jahrgangs Abitur und Heranwachsende gehen heute viel länger zur Schule, als es noch vor fünfzig Jahren der Fall war. Ebenso wissen wir : Schule war für viele Jugendliche immer auch eine Belastung; Schule hielt ab von Betätigungen, die man für wichtiger hielt, zum Beispiel als Jugendbewegter unbeschwert von Hausaufgaben, Referaten und Klassenarbeiten an den Wochenenden »auf Fahrt gehen« zu können. Schule galt als etwas »Sekundäres« und eine Zeile aus einem Nerother-Lied bringt das auf den Punkt: »Hey, die wilde Fahrt wird gemacht, wo das Leben, das wahre Erleben uns lacht«.4 Schule war nicht das wirkliche Leben; einem solchen fühlte man sich in der bündischen Gruppe sehr viel näher.

3 Jürgen Reulecke: Der »Hortenring« im Ruhrgebiet in den frühen 1960er Jahren, in: Eckard Holler (Hg.): »Hier gibt es Jungen, die nicht einmal ein eigenes Bett haben«. Tusks KPDEintritt 1932 und die jungenschaftliche Linke nach 1945 (= Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis; 6), Berlin 2012, S. 103 – 112. 4 Refrain zu dem Lied »Trampt durch Länder, Kontinente«, in: Oliver Becker, Paul Rode (Hg.): Codex Patomomomensis, Hamburg 2007, S. 15.

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Jugendbewegung und Schule in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts In der Zeit der Weimarer Republik waren Schule und Jugendbewegung in einem Maße wie nie zuvor und nie mehr danach aufeinander bezogen. Im Hinblick auf die großen Veränderungen in Schule, Studium, Ausbildung und Selbstverständnis der Erziehungswissenschaften, die in den 1960er-Jahren stattgefunden haben, ist deshalb noch etwas auf die Situation von Jugendbewegung und Schule in den 1920er-/30er-Jahren einzugehen. Wenn es um die frühen Zusammenhänge zwischen Jugendbewegung und Schule geht, denkt man in erster Linie an die Landerziehungsheime. Von Hermann Lietz und seinen Internatsschulen hatte mancher Wandervogel schon einmal etwas gehört, außerdem hatten die Meißnerfahrer von 1913 dort Gustav Wyneken und die Wickersdorfer Schüler mit ihren weißen Baretten erlebt. Zudem hatte auch das Landschulheim am Solling bei Holzminden zu den Mitunterzeichnern des Meißneraufrufes gehört und mit einer Abordnung 1913 am Meißnertreffen teilgenommen. Für die Neugründung der Odenwaldschule durch Paul Geheeb 1910 waren zwar einerseits Schülerinnen und Schüler, die bei der Sezession aus Wickersdorf mit den Geheebs in den Odenwald gekommen waren, die Basis für den Neuanfang, aber andererseits war es vor allem eine Wandervogelgruppe aus Darmstadt, deren Mitglieder auf Initiative ihres Lehrers und Gruppenführers Otto Erdmann und mit Unterstützung ihrer Eltern vom Darmstädter Gymnasium in die Odenwaldschule nach Oberhambach wechselten. In den Landerziehungsheimen entwickelte sich oft ein Schulleben, das vom Leben einer jugendbewegten Gruppe nicht allzu weit entfernt war. Häufig besuchten Fahrtengruppen bei ihren Fahrten diese am Wege liegenden Heime. Nicht immer waren die Landerziehungsheime jedoch beglückt über die durchwandernden Gruppen, aber solche Besuche trugen zur Verbreitung der Landerziehungsheim-Ideen bei. Ein anderes wichtiges Element in der Verbindung Schule und Jugendbewegung waren die Lehrer. Viele ehemals Jugendbewegte ergriffen den Lehrerberuf. Es lag nahe, das, was man als älterer Schüler oder Student gemacht hatte, nämlich sich um Jüngere zu kümmern, mit ihnen zu wandern, zu singen, zu musizieren, ihnen vorzulesen, mit ihnen Theater zu spielen, ihnen den Weg ins Leben zu zeigen, später auch zu seinem Beruf zu machen. Ich kenne zwar keine Statistik, die ausweisen würde, wie viele Menschen aus der Jugendbewegung als Erwachsene Lehrer geworden sind, aber es waren sicher nicht wenige. Natürlich nahmen sie ihre Erfahrungen aus Fahrt und Lager mit in ihren Lehrerberuf. Für sie war die damalige Verpflichtung, dass ein Volksschullehrer ein Instrument spielen müsse, keine Zumutung – sie spielten in der Regel schon eines. So zog

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mit den jungen Lehrern eine neue Schulkultur ein, die von den Schülern meist freudig begrüßt wurde. Diesen »reformerischen Lehrern« ging es nicht nur um neue Unterrichtsinhalte, sondern sie wollten die gesamte Schulkultur verändern. Der Gedanke, Schule als Gemeinschaft zu verstehen, mit der Schule Feste zu feiern, Schüler und Lehrer sich auch außerhalb des Unterrichts begegnen zu lassen, gemeinsame Wanderungen mit Schülern, Lehrern und Eltern zu veranstalten, im Schullandheim sowohl Unterricht zu machen als auch die Freizeit gemeinsam zu verbringen, waren von außen argwöhnisch beäugte Tendenzen. Ich verweise hier wieder auf den Begriff »Nähe«. Nicht selten spaltete sich das Kollegium und die jüngeren Lehrer, die sich auch altersmäßig ihren Schülern enger verbunden fühlten, fanden große Resonanz, was dann für die älteren Kollegen oft nicht leicht zu verkraften war und zu gewissen Verdächtigungen führen konnte. Aber die jugendbewegten Lehrer ließen sich nicht darin beirren, das Richtige zu wollen und damit der Schule eine neue Richtung zu geben. Es gab aber auch an anderen Stellen neue Formen des Unterrichts wie die Einführung des Arbeitsschulprinzips, wie das Lernen durch Anschauung und Schüler-Experimente, wie die Selbsttätigkeit statt Rezeption und wie das von Maria Montessori entwickelte Prinzip »Hilf mir, es selbst zu tun«. Im Rahmen der Neuorientierung nach dem verlorenen Krieg 1914 – 1918 begannen an vielen Orten in den Schulen Phasen des Experimentierens mit veränderten Formen und Inhalten von schulischer Arbeit und auch organisatorischen Veränderungen, bei denen jugendbewegte Lehrer eine wichtige Rolle spielten. Die verbindliche Grundschule für alle Kinder wurde etabliert; die Volksschule wurde neu gestaltet und das Mittelschulwesen entwickelt. Zudem wurde ein Hilfsschulwesen aufgebaut und die Berufsschule eingeführt. Außerdem erhielt die Erwachsenenbildung durch die Gründung von Volkshochschulen wichtige Impulse: Heimvolkshochschulen wurden gegründet, die Sozialarbeit entwickelte sich und sogar die Höheren Schulen wurden modernisiert. An manchen Orten wurden darüber hinaus Experimentalschulen gegründet und es kamen im Schulalltag neue Betätigungsfelder hinzu wie Wanderungen, Landschulheimaufenthalte, mehrtägige Wanderfahrten, ein neuer Umgang mit der Natur durch Exkursionen, Erkundungen von Naturphänomenen, auf musischem Gebiet Theaterspiel, Puppenspiel, Singen, Werkarbeit u. Ä. Kurzum: Es war die Zeit, in der das Platz griff, was man später unter dem Begriff »Reformpädagogik« zusammengefasst hat. In den damals noch zahlreich vorhandenen einklassigen Volksschulen auf dem Lande, wo in der Regel der Lehrer der geistige und kulturelle Mittelpunkt des Dorfes war, ließen sich solche Neuerungen leichter durchsetzen und entsprachen dem, was schon vor dem Ersten Weltkrieg ansatzweise gefordert worden war : die Erneuerung des Volkes aus einer Wiederbelebung der verlorenen Dorfkultur. Man wollte den Menschen das

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Singen und Tanzen zurückbringen, gemeinsam Feste feiern und als Dorfgemeinschaft miteinander leben. Für all diese Neuerungen brauchte man einen neuen Lehrertyp, und die neuen Lehrer kamen häufig aus der Jugendbewegung. Der damalige preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker integrierte die verschiedenen Reformbestrebungen in die staatliche Schulpolitik durch die Einrichtung der »Reichsschulkonferenz«, in der die wichtigsten Reformbewegungen vertreten waren, vor allem aber dadurch, dass er in die Lehrkörper der neu errichteten Pädagogischen Akademien für Lehrerbildung junge Wissenschaftler aus der Jugendbewegung als Lehrerbildner berief und auf diese Weise vielerlei neue Impulse für das gesamte Schulwesen nutzbar machte. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Adolf Reichwein5, der aus dem Wandervogel kam, Lehrer geworden war, als Professor in Halle (Saale) lehrte, dann aber von der NS-Regierung entlassen wurde und in einer Dorfschule in Tiefensee bei Berlin doch noch jugendbewegte Leitideen zu realisieren versuchte. Er war bereits 1919 bei der »Heppenheimer Tagung« dabei, als unter der Leitung von Martin Buber Visionen für ein neues Bildungswesen entwickelt wurden.6 Dass in den Landerziehungsheimen viele ehemals Jugendbewegte arbeiteten, ist bereits erwähnt worden, aber auch bei anderen Schulprojekten der 1920erJahre wie den Jena-Plan-Schulen, den Initiativen des Hamburger Wendekreises, der Lichtwarkschule, den Arbeitsschulen im Sinne von Georg Kerschensteiner und Berthold Otto, den Waldorfschulen, der Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln – um nur einige zu nennen – waren ehemals Jugendbewegte als Mitarbeiter und Mitgestalter tätig.

Jugendbewegung und Schule in der NS-Zeit Es waren nicht wenige aus der Jugendbewegung erwachsene Lehrer zu Beginn der NS-Zeit noch der Meinung, im »neuen Staat« besonders günstige und unterstützende Bedingungen zur Realisierung ihrer Vorstellungen von guter Schule und Volksbildung bekommen zu können. Doch bald stellte sich heraus, dass es eher umgekehrt war. Es wurde nicht eine Zeit der »Jugendbewegung für alle«, sondern das Gegenteil trat ein: Die zentralen Inhalte der Jugendbewegung, wie sie sich aus der Meißnerformel ergaben, waren eher eine Gefahr für diesen Staat, 5 Siehe zu Reichwein Alfons Kenkmann: Adolf Reichwein, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013 (Formen der Erinnerung; 52), S. 546 – 556. 6 Vgl. Hartmut Alphei: Martin Buber und die Odenwaldschule, in: Ansgar Koschel, Annette Mehlhorn (Hg.): Vergegenwärtigung. Martin Buber als Lehrer und Übersetzer, Berlin 2006, S. 94 – 111.

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und so wurde die Jugendbewegung bekämpft und verboten. In der Folge machte mancher seinen Frieden mit dem NS-System; andere wurden zu verdeckten Gegnern des Regimes oder suchten sich irgendwo eine Nische zum Überleben, z. B. in den immer noch zahlreich vorhandenen Volksschulen auf dem Lande. Die jugendbewegten Professoren an den Pädagogischen Akademien wurden aus diesen Institutionen entlassen, fanden sich als Lehrer an beliebigen Schulen irgendwo im Lande wieder und wurden möglichst so verstreut, dass es keine Zusammenrottungen geben konnte. Ein fruchtbares Zusammenwirken von Jugendbewegung und Schule gab es deshalb nicht mehr.

Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg – Die 1950er- und 1960er-Jahre In der ersten Jahreshälfte 1945 herrschte in Deutschland totales Chaos. Die Schulen blieben geschlossen und begannen erst zum 1. Oktober 1945 wieder mit ihrer Arbeit. Die äußeren Verhältnisse waren schwierig: zerstörte Gebäude, kein Heizmaterial, fehlende Unterrichtsmaterialen usw. Ältere Lehrer und Lehrerinnen gab es zwar noch genug, aber sie hatten die unterschiedlichsten Vorbildungen und divergierende Vorstellungen. Bald rückte jedoch die Frage in den Vordergrund: Wie soll es weitergehen, was soll werden? Und so lag es nahe, auch in der Schule dort wieder anzuknüpfen, wo man 1933, spätestens 1936 bzw. 1938 hatte aufhören müssen. Im neu gegründeten Land Niedersachsen wurde Adolf Grimme von der britischen Besatzungsregierung als Kultusminister eingesetzt. Er war von 1930 bis 1932 als Nachfolger von Carl Heinrich Becker preußischer Kultusminister in Berlin gewesen. Aus dieser Zeit waren ihm zahlreiche aus der Jugendbewegung stammende Professoren der früheren Pädagogischen Akademien bekannt, die er nun an die Pädagogischen Hochschulen des Landes Niedersachsen holte. Um ein paar Professoren mit Jugendbewegungsprägung zu nennen: Hans Bohnenkamp (erst Pädagogische Hochschule Celle, dann Osnabrück)7 und Hermann Mitgau (Pädagogische Hochschule Göttingen), aber auch Elisabeth Siegel und Hans Eyfferth (Pädagogische Hochschule Lüneburg) sowie in der niedersächsischen Schulverwaltung Hans Alfken, Otto Haase und Günther Rönnebeck, der Schwiegersohn von Hermann Lietz. Auf diese Weise ist hier also personell eine Brücke zur reformpädagogischen Bewegung der Weimarer Zeit geschlagen worden. In den 1950er-Jahren wurde dann der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen (1953 – 1965) gegründet. Er war der Vorgänger des 7 Zu Bohnenkamp siehe Barbara Stambolis: Hans Bohnenkamp, in: dies., Jugendbewegt (Anm. 2), S. 137 – 148.

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späteren Deutschen Bildungsrates (1965 – 1975). Auch in ihm waren ehemals Jugendbewegte Mitglied und trugen zur Weiterentwicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik bei. Nicht ganz ohne Einfluss auf die Pädagogik im westlichen Nachkriegsdeutschland war zudem der Freideutsche Kreis, der sich verschiedentlich auf seinen Treffen mit Bildungsfragen beschäftigte und ein Netzwerk bildete, aus dem einige Fachleute mit der Entwicklung der Pädagogik in den 1950er-/60er-Jahren eng verbunden waren, so z. B. Karl Seidelmann in Marburg und Fritz Uplegger in Kassel. Gerade diese beiden haben sich während der Meißnerseminare 1963/64 mehrfach mit ihren Berufserfahrungen und ihren Reflexionen über die Querverbindungen von der Pädagogik zur Jugendbewegung in den Diskurs eingebracht. In diesem Zusammenhang ist auch der Göttinger Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth zu nennen, der ein anregendes Referat in einem der Meißnerseminare gehalten hat. Er war im Wandervogel gewesen und gehörte in den 1920er-Jahren zu den wichtigen Sprechern der bündischen Jugend in Württemberg. In dem Weg, den Heinrich Roth gegangen ist, zeigt sich einerseits, wie Jugendbewegte der 1920er-Jahre den Lehrerberuf ergriffen haben und in der Lehrerausbildung tätig wurden. Andererseits scheint er mir aber auch ein besonderer Motor für die große Wende gewesen zu sein, die die Pädagogik im Laufe der 1960er-Jahre genommen hat. Wie viele Jugendbewegte war auch er zunächst den herkömmlichen Weg gegangen: Ausbildung zum Volksschullehrer, in Zeiten der Lehrerarbeitslosigkeit Aufnahme eines Studiums, zwischenzeitlich dann Lehrer an einer Ulmer Schule, dann wieder Studium mit dem Abschluss Staatsexamen und Promotion. In den Jahren 1934 bis 1938 vermarktete er seine Ausbildung im NS-Staat durch die Arbeit als Heerespsychologe in der Wehrmacht, und ab 1943 begann für ihn der Kriegsdienst. Nach 1947 wurde er Dozent für Lehrerbildung am Pädagogischen Institut Künzelsau. Wichtige Impulse brachten ihm dann aber wohl eine siebenmonatige Studienreise in die USA und seine fünfjährige Tätigkeit an der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. Seine Perspektive hatte sich mittlerweile gewandelt von einem jugendbewegt orientierten Lehrer zu einem international orientierten Wissenschaftler. Schließlich bekam er 1961 eine Professur an der Universität Göttingen. Als Mitglied im Deutschen Bildungsrat gingen von ihm wichtige Impulse aus: Der von ihm 1969 herausgegebene Sammelband »Begabung und Lernen« – er umfasst fast 600 Seiten – war zum Beispiel eine wichtige Arbeitsgrundlage für die »Empfehlungen« der Bildungskommission des Bildungsrates.8 Ihm ging es darum, Impulse aus anderen Ländern aufzunehmen, 8 Heinrich Roth (Hg.): Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Stuttgart 1968; Deutscher Bildungsrat (Hg.): Empfehlungen der Bildungskommission: Strukturplan für das Bildungswesen, Stuttgart 1970.

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die Pädagogik in Deutschland neu zu verorten und eine fruchtbringende Auseinandersetzung zwischen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik der Weimarer Jahre hin zu einer mehr empirisch orientierten Erziehungswissenschaft zu befördern. Dass Hartmut von Hentig 1963 ebenfalls als Pädagogikprofessor nach Göttingen berufen wurde, führte zu einer höchst anregenden Konstellation, denn wir Studenten erlebten damals zwei sehr unterschiedliche Ansätze in zentralen Fragen der Erziehungswissenschaft. Heinrich Roth stand der Jugendbewegung zwar verständlicherweise nicht ablehnend, aber doch durchaus distanziert gegenüber, denn neuere gesellschaftliche Entwicklungen hatten ihn zu einer anderen Betrachtungsweise geführt, und so schien es damals, als hätten Jugendbewegung und Schule eigentlich nichts (mehr?) miteinander zu tun. Zudem wurde von manchen Pädagogen der Vorwurf erhoben, die Jugendbewegung sei Steigbügelhalter der Nationalsozialisten gewesen. Aus damaliger Sicht war die Umorientierung von der geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik hin zu einer Erziehungswissenschaft im Sinne einer empirischen Sozialwissenschaft eine unverzichtbare Notwendigkeit, wenn die Schule den Anforderungen einer veränderten Zeit gewachsen sein sollte. Der damalige Paradigmenwechsel erwies sich als eine notwendige Wende, doch aus heutiger Sicht kann man den dadurch ausgelösten Wandel durchaus auch als den Beginn einer problematischen Entwicklung sehen.

Veränderungen im Grundverständnis von Schule Um zu zeigen, wie stark die Veränderungen in den 1960er-Jahren waren und warum sich die Beziehung zwischen Jugendbewegung und Schule heute anders darstellt als in den 1920er-/30er-Jahren, ist noch ein wenig auf das einzugehen, was sich im Zuge der Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates im Verständnis von Schule geändert hat. Ich stütze mich dabei auf Ausführungen von Bernhard Hassenstein in seinem Aufsatz »Schule in der Krise«9, den ich jedem, der der heutigen Schule kritisch gegenübersteht, zur Lektüre empfehle. Nach Hassenstein postulierte der Bildungsrat in seinem Strukturplan von 1970 für das Schulwesen eine neue pädagogische Grundlinie, »die Wissenschaftsbestimmheit sowohl der Lerninhalte als auch ihrer Vermittlung«. Er meinte damit, dass »eine lediglich ›volkstümlich-praktische Bildung‹ oder eine ›nur berufliche Bildung‹, die nicht zugleich wissenschaftsorientiert sei, […] an 9 Bernhard Hassenstein: Schule in der Krise, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 21, 9. Aufl. Mannheim 1977, S. 303 – 307; vgl. auch die Volltexte zum Strukturplan des Bildungsrates von 1970 unter http://bernhard-hassenstein.de/literatur_online/Schule-in-der-Krise [31. 05. 2014].

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keiner Stelle mehr als gerechtfertigtes pädagogisches Ziel gelten« solle: »Man könne und solle darum von nun an im Schulbereich auf traditionell volkstümliches und wissenschaftlich ungeprüftes praktisches Erziehungswissen verzichten.« Hassenstein fasste die radikale Andersartigkeit der neuen pädagogischen Leitgedanken im Vergleich zu den traditionellen zusammen, indem er den Wandel in Bezug auf die vier entscheidenden Bereiche des Schulwesens folgendermaßen beschrieb: – das führende pädagogische Prinzip der Wissenschaftsorientierung anstelle pädagogischer Erfahrungsorientierung, – der Unterricht: lernzielorientiert statt herkömmlich kindgemäß, Fachunterricht statt Gesamtunterricht, – das Beurteilungswesen: standardisierte Tests statt Lehrerurteil, Auslese-Erheblichkeit aller Notenstufen, gerichtliche Kontrollierbarkeit jeder Lehrerentscheidung, – die Struktur des Schulsystems: Aufheben der Schularten-Unterschiede, horizontale statt vertikale Gliederung, große Schulen und Hinnahme langer Schulwege, um der stärkeren inneren Differenzierung willen. Auswirkungen dieses Umsteuerns waren aus seiner Sicht: – eine Anonymisierung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, – eine Überbewertung der Noten und Zeugnisse, – eine Akzentverlagerung vom Künstlerischen, Seelischen und Sozialen auf das Intellektuelle, – eine Schwächung und ein vermehrtes Zerreißen sozialer Bindungen, – gesundheitliche Belastungen und die Zunahme psychophysischer Fehleinstellungen. Hassensteins Gesamtbeurteilung der neuen pädagogischen Prinzipien des Bildungsrates aus dem Jahre 1970 lautete folglich: »Durch diese Erscheinungen spiegelt das staatliche Schulwesen viele Nöte des mitmenschlichen Zusammenlebens in der Industrie- und Massengesellschaft wider anstatt ihnen zu begegnen und zu versuchen, sie aufzufangen. Gelegentlich erhebt sich zwar eine gewisse – gemessen an dem, was auf dem Spiel steht, allerdings nur geringfügige – Unruhe in der Bevölkerung, deren Denken und politisches Entscheidungsverhalten allerdings nach wie vor im wesentlichen wirtschaftlich orientiert ist.«10

Die nun beginnende Neuorientierung der Bildungspolitik und die Umgestaltung der Schule wurden von der Mehrzahl der damaligen Pädagogen und Erziehungswissenschaftler gutgeheißen, doch bildeten die Prinzipien der Reform10 Hassenstein: Schule (Anm. 9).

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pädagogik dazu das schiere Gegenteil. Reformpädagogen versuchten deshalb dagegen zu halten, hatten aber gegenüber den Interessen der tonangebenden gesellschaftlichen Gruppen keine Chance. Ihre Position wurde als »Eia-popeiaPädagogik« verhöhnt, die den Schülerinnen und Schülern angeblich die Realitäten der heutigen Zeit vorenthielt. Die vielen verändernden Impulse der 1960er-Jahre, die mit ihren Folgen diesen Wandel der erziehungswissenschaftlich-pädagogischen Zielrichtungen bewirkt hatten, können hier nicht ausführlich behandelt werden, sollen hier nur durch einige Stichworte angedeutet werden: der Ost-West-Konflikt und der Sputnik-Schock, die Integration Westdeutschlands in das westliche Bündnissystem, die Wiederaufrüstung, die zunehmende Orientierung an Leben und Denken der USA, die Expansion der Wirtschaft im Zusammenhang mit dem »Wirtschaftswunder«, die Verknappung qualifizierter Arbeitskräfte und der Bedarf an höheren Qualifikationen für mehr Heranwachsende sowie neue Wege zur Erschließung von Begabungsreserven, politische Neuorientierungen zwischen Ost und West, der Ausbau der Demokratisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen, die verstärkte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit usw.

Idee und Ertrag der Seminare im Umfeld des Meißnerereignisses von 1963 Die im Umfeld der geplanten Feier zur fünfzigsten Wiederkehr des Freideutschen Jugendtages stattfindenden »Meißnerseminare« waren in jener Zeit der Umorientierung und Neuorientierung für mich und meine bündische Alterskohorte, die wir uns jetzt im Studium befanden und an unserer Weltorientierung arbeiteten, eine wichtige Bereicherung – ähnlich wie es in dieser Zeit für mich die Älterenseminare waren, die wir im Bund deutscher Jungenschaften veranstalteten. Zum ersten Mal gab es bei den Meißnerseminaren in größerem Stil Begegnungen von Mitgliedern verschiedenster Bünde und ein Austausch untereinander : Die genannten Seminare waren für das Selbstverständnis der Gruppierung, die sich mit Blick auf die Älteren aus der frühen Jugendbewegung die »jungen Bünde« nannte, von großer Bedeutung. Die Planer und Teilnehmer des Ereignisses »Meißner 1963« waren zwei Altersgruppen: einerseits die Meißnerfahrer von 1913, die zugleich die Wandervögel der ersten Jahre gewesen waren. Sie waren damals etwa sechzig, siebzig Jahre alt und begannen, ihr Leben rückblickend zu reflektieren und ihre Gedanken und Erinnerungen an die jüngere Generation weiterzugeben. Andererseits war es die Gruppe der etwa zwischen 1935 und 1945 geborenen aktiven Bündischen. Sie waren zu Beginn der 1960er-Jahre alt genug gewesen, um von

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Eltern und Freunden noch unmittelbare Erinnerungen an die jugendbewegte Anfangszeit gehört zu haben, und zu jung, um an die Weimarer Republik und die NS-Zeit eigene Erinnerungen zu haben oder gar in Machenschaften des NSStaates verwickelt gewesen zu sein. Sie waren in dem Alter, in dem man in Jugendgruppen Leitungsfunktionen übernimmt und darüber reflektiert, was war, was ist und was werden soll. So lag es nahe, dass diese beiden Gruppierungen im Zentrum der Erinnerungs- und Jubelfeierlichkeiten für das Ereignis »50 Jahre Hoher Meißner« standen. In einer dritten Gruppe, den »Bundesführern«, traf man vor allem Angehörige der Generation, die auf dem Hintergrund ihrer HJ-Erfahrungen den Wiederaufbau der Jugendbewegung nach dem Kriege betrieben hatten. Sie trugen für uns Jüngere zum Teil schon geradezu greisenhafte Züge. Zwar kam es im Vorfeld und über weite Strecken der Veranstaltung, wenn man von der großen Festveranstaltung auf der Festwiese am Sonntagvormittag absieht, kaum zum direkten Austausch der Generationen, aber bei den älter werdenden Jüngeren aus den Bünden stand doch immer die Frage im Hintergrund, die in der von Erich Scholz-olka so genial gedichteten Liedzeile zum Ausdruck kommt: »Was ließen jene, die vor uns schon waren, was ließen jene zurück für unsre Schar?« Die 20- bis 30-jährigen Studentinnen und Studenten waren dementsprechend auch die Klientel, die sich – aus verschiedenen Bünden kommend – in wechselnden Konstellationen während der Meißnerseminare traf. Für sie stand im Vordergrund »Was hat uns unsere Zeit in der Jugendbewegung bedeutet?« und »Was bedeutet Jugendbewegung heute?«, aber auch die Frage: »In welchen Zeiten leben wir heute?« Es gab bei jedem der Treffen ein zentrales Thema, zu dem dann oft ältere Jugendbewegte, aber bisweilen auch externe Referenten eingeladen wurden. Die relativ große Resonanz, die das Meißnerfest von 1963 damals in der Öffentlichkeit fand, war aus meiner heutigen Sicht ein letztes Aufleuchten und zugleich ein Abgesang auf eine Zeit, in der wichtige Impulse von der Jugendbewegung ausgegangen waren. In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren hatte die Jugendbewegung Impulse gesetzt, die nicht zuletzt in den Schulen aufgenommen und gelebt worden waren. Aber so, wie Schule und Jugendbewegung vor dieser Zeit, also im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, gegensätzliche Welten gewesen waren, hatten auch Schule und Jugendbewegung nach den 1960er-Jahren keine inhaltlichen Schnittmengen mehr. Die Jugendbewegung (oder was es davon in den 1960er-Jahren noch gab) hat sich dann in der Zeit nach dem Meißnertag deutlich auseinanderdividiert. Die einen ließen die Jugendbewegung hinter sich und gingen in die Studentenbewegung, während andere versuchten, wieder Gruppen aufzubauen und ein bündisches Leben mit allem, was dazugehört, weiterzuführen oder neu anzustoßen. Insofern gab es nicht mehr »die« Jugendbewegung, die dann lautstark ihre Stimme hätte erheben können und auch von der Öffentlichkeit gehört worden wäre. Und so gingen

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die weitere gesellschaftliche Entwicklung und vor allem auch die schulische Entwicklung an der Jugendbewegung vorbei. Eine aktive Rolle in der Gestaltung des Schulwesens haben die Bündischen in den letzten fünfzig Jahren nicht mehr gespielt. Zwar kamen immer wieder noch ehemals Jugendbewegte als Lehrer in die Schulen, aber sie konnten bestenfalls in ihren Schulen kleine Biotope mit gestaltenden Elementen der Jugendbewegung aufbauen, vielleicht sogar als Lehrer mit ihren Schülerinnen und Schülern eine Art jugendbewegtes Lebens führen und damit so etwas wie eine am Kind orientierte Schule leben, aber dieses blieb alles im Rahmen lokaler Begrenztheit. Es liegt nahe, danach zu fragen, ob es gesellschaftliche Auswirkungen der Meißnerseminare gab. Realistischerweise muss man antworten, nein, es gab keinerlei bemerkenswerte Auswirkungen: Es wurden keine jugendbewegten Schulen gegründet; kein Jugendbewegter wurde Kultusminister ; die Freie Deutsche Jugend und der Ring junger Bünde haben keinen Freundschaftsvertrag geschlossen und es gab auch keine »Partei der Jugendbewegung«, um einmal ein paar mögliche Ideen zu nennen. Jugendpolitische Auswirkungen waren schon deshalb nicht zu erwarten, weil sich der die Jugendpolitik beherrschende Bundesjugendring von dem Treiben auf dem Meißner deutlich distanziert hatte. Andererseits gab es aber sehr wohl Folgewirkungen der Meißnerseminare bei einzelnen Beteiligten oder bei Gruppierungen, die sich bei den Begegnungen näher gekommen waren. Bei mir hat zum Beispiel das Thema Jugendbewegung und Schule während meines Studiums und bei der Berufswahl und Berufstätigkeit eine wichtige Rolle gespielt. Gesellschaftliche Verantwortungsübernahme im pädagogischen Bereich drückte sich etwa auch in einer von Hans Heintze und mir veranstalteten Freizeit für Berliner Kinder aus, und eine Folge der Seminare war die vom Bundesführer der »Großen Jäger« nicht goutierte Gründung der »Jungenschaft Meißner«. Zudem war die Chance groß, sich während der Seminare auszutauschen und über die zur damaligen Zeit relevanten Themen kontrovers zu diskutieren. Immerhin deutete sich 1963 bereits an, dass einige bündische Gruppierungen sich zunehmend den Problemstellungen zuwandten, die sich aus dem Umbruch der Zeit und den neuen Herausforderungen ergaben. Viele sind später in der Folkloreszene, bei den Clubs Voltaire und/oder bei den »Grünen« aktiv geworden. Während die einen sich fragten »Wer war es, der den Lorbeer brach?«, sangen die anderen »Strontium 90, Strontium 90 fällt auf die ganze Welt.« Zur Frage der zunehmenden Politisierung in den damaligen jugendbewegten Szenen sei hier auf den Beitrag von Eckard Holler in diesem Band verwiesen.

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Hartmut Alphei

Schule und Jugendbewegung heute und in Zukunft? Dass Schule heute weit entfernt von Erfahrungen aus der Jugendbewegung ist, wurde wohl bereits deutlich. Ein Schritt zurück in die 1920er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts wäre angesichts der erheblich veränderten Welt völlig unsinnig. Andererseits gibt es jedoch immer wieder Kritik am bestehenden Schulsystem und verschiedene Versuche, den mit der »Modernisierung« verbundenen Veränderungen und Verlusten entgegenzuwirken. Das Anwachsen der Schulen in freier Trägerschaft, insbesondere die Ausweitung der Waldorfschulen, der Montessorischulen und vor allem der Freien Schulen machen deutlich, dass Eltern und Kinder nach etwas verlangen, was die heutige Schule nicht mehr zu leisten vermag. In den Selbstdarstellungen der Freien Schulen heißt es: »Freie Alternativschulen lernen anders« oder auch: »Beziehungsarbeit zwischen Lernenden und Lehrenden steht im Mittelpunkt der Arbeit an Freien Alternativschulen«. Damit sind offenbar Bereiche angesprochen, die in den Regelschulen zu kurz kommen. Für die Anhänger der reformpädagogischen Ideen ist es tröstlich, feststellen zu können: so viel reformpädagogische Schule wie heute gab es noch nie. Nicht nur Grundschulen arbeiten seit längerem nach reformpädagogischen Prinzipien, nein auch andere Schulformen kommen heute nicht mehr ohne solche Methoden aus, wie Selbsttätigkeit statt Frontalunterricht, Kooperation statt Konkurrenzprinzip, Gemeinschaft statt Vereinzelung, Anschauung statt Rezeption oder selber herausfinden, wie’s geht statt gesagt bekommen, wie’s funktioniert. Dabei wird die alte Pestalozzi-Forderung nach einem »Lernen mit Kopf, Herz und Hand« wieder ernst genommen. Da kann es wohl nicht schaden, wenn man sich auf Veranstaltungen wie dieser Archivtagung mit Zeiten, aber auch mit Schulen beschäftigt, die den positiven Aspekten der Jugendbewegung ihr Profil verdankten. Dass daran allerdings gegenwärtig kein großes Interesse besteht, sieht man daran, dass an den Hochschulen derzeit manche Lehrstühle für Historische Bildungsforschung in Lehrstühle umgewidmet werden, auf die dann reine Empiriker gesetzt werden. An dieser Stelle sei es gestattet, auf das anregende Engagement von Gerhard Neudorf und der »Kulturinitiative« für die Veranstaltung der Bildungskongresse auf Burg Ludwigstein zu verweisen. Sie vermitteln nachwachsenden Lehrern in Theorie und Praxis etwas davon, was an positiven Anregungen dem Erbe der Jugendbewegung zu verdanken ist.

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Schlusswort Die bisherigen Ausführungen sollen mit einem Zitat aus einem Aufruf der Aktion »Schule im Aufbruch« zusammengefasst und abgerundet werden. Dieser Aktion sind seit August 2012 über 100 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland, der Schweiz und Österreich beigetreten11. Den Hinweis darauf verdanke ich Otto Herz. Auch er ist ein Meißnerfahrer von 1963; er kam aus der Evangelischen Jungenschaft bzw. aus der Gemeindejugend in Weinheim und hat als Lehrling und Industriestipendiat der Firma Freudenberg an der Odenwaldschule sein Abitur gemacht. In dem Aufruf heißt es: »Die Zukunft unseres Landes und unserer Welt wird von den Kindern und Jugendlichen gestaltet, die heute heranwachsen. In unseren Schulen sollten sich diese jungen Menschen deshalb zu wirkungsvollen Akteuren des 21. Jahrhunderts entwickeln können. Doch die Kluft zwischen den neuen Anforderungen unserer Zeit und einem Bildungssystem, das noch auf den Paradigmen eines vergangenen Zeitalters beruht, wird immer größer. Noch mehr Schulreformen, die Anhebung von Standards, zusätzlicher Lernstoff und Wettbewerb helfen da nicht weiter. Einzelkämpfer, angepasste Pflichterfüller und Auswendiglerner werden nicht mehr gebraucht. Ein Schulsystem, das die Vielfalt vorhandener Potenziale und Fähigkeiten auf das Gleichmaß eines definierten Lernstoffes reduziert, ist keine passende Antwort auf eine sich rasant verändernde Welt. Gebraucht werden junge Menschen, die sich aktiv, kreativ, mutig, begeisternd, eigensinnig, selbstverantwortlich und mit Zuversicht an der Gestaltung der Zukunft beteiligen. Es darf nicht sein, dass Schüler in unserem gegenwärtigen Bildungssystem diese Fähigkeiten zunehmend verlieren. Kinder und Jugendliche, die mit Gleichgültigkeit, Widerstand oder gar Angst zur Schule gehen, die ihre angeborene Begeisterung am Lernen, Entdecken und Entwickeln verloren haben, darf es nicht länger geben. Deshalb rufen wir auf zu einer neuen Lern- und Beziehungskultur an unseren Schulen: Weg von der reinen Wissensvermittlung und dem Kampf um gute Noten, hin zu einer Kultur der Potenzialentfaltung. Damit aus Lernfrust wieder Lernlust wird!«12

11 Neben »Schule im Aufbruch« gibt es noch einige andere Initiativen, in denen sich Einzelpersonen und pädagogische Institutionen zusammengeschlossen haben, um sich für eine bessere Schule einzusetzen, stellvertretend seien genannt »Archiv der Zukunft«, »Blick über den Zaun«, »Bundesverband der Freien Alternativschulen«. 12 Vgl. dazu http://schule-im-aufbruch.de [31. 05. 2014].

Hans Heintze

»… aber Glück ist schwer in diesem Land.« Die Jungen Bünde und der Ost-West-Konflikt

Es gibt so etwas wie das »Marienborn-Gefühl«: Gemeint ist damit ein Unbehagen, das einen packt und sich bis zu echter Angst steigern kann, wenn man auf der Autobahn A 2 in Richtung Berlin fährt und in der Nähe von Helmstedt zum ersten Mal den Ortsnamen »Marienborn« liest. Ich kenne diese Empfindung seit 1957, als ich mich zu meiner ersten Berlinfahrt mit Pfadfinderfreunden aus Hannoversch Münden der DDR-Grenzkontrollstelle näherte. Aber das Marienborn-Gefühl berührt mich auch heute noch regelmäßig, ob im Auto oder in der Eisenbahn. Wir sind später noch oft nach Berlin gefahren, um befreundete Gruppen zu besuchen, und dabei haben wir uns immer wieder gewünscht, unsere Zelte endlich auch einmal im Thüringer Wald, in der Sächsischen Schweiz oder auf Rügen aufbauen zu können, doch der Ost-West-Konflikt und besonders die Teilung Deutschlands in zwei Staaten verhinderten die Erfüllung dieser Wünsche. Zugleich prägten sie unser Weltbild wie unsere Alltagserfahrungen; und selbstverständlich waren sie deshalb ein wichtiges Thema unserer Auseinandersetzung mit der politischen Situation, in der wir aufwuchsen und uns zu bewegen lernten. Im Folgenden wird es darum gehen zu beschreiben, wie uns damals dieses Thema im Gruppen- und Bundesalltag beschäftigt hat. Es handelt sich also um einen persönlich gefärbten Erinnerungsbericht, der sich auf Fahrtenchroniken und Briefe, auf persönliche Aufzeichnungen meines Freundes Uwe Hiersemenzel, auf eigene Notizen und auf Gespräche stützt. Zunächst geht es um die Aktivitäten unserer Gruppen bis Januar 1965. Es folgt eine knappe Darstellung der Begegnung des Seminars Junger Bünde mit der Bezirksleitung Leipzig der Freien Deutschen Jugend (FDJ) im Januar 1965. Im dritten Abschnitt untersuche ich, wiederum auf unsere Gruppen in Hannoversch Münden bezogen, welche Auswirkungen das Leipziger Treffen von 1965 auf unsere Praxis hatte. Wir Mündener Pfadfinder gehörten zum Pfadfinderbund Großer Jäger (bis 1958 Gau Großer Jäger im Bund Deutscher Pfadfinder, Landesmark Hessen) mit Gruppen in Nordhessen, Südniedersachsen und Berlin. Im Februar 1965 verließen wir diesen Bund wegen unlösbarer Konflikte mit dem damaligen Bun-

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desführer Horst Schweitzer. Wenig später schlossen wir uns mit anderen Gruppen aus Nordhessen als Jungenschaft Meißner dem Bund deutscher Jungenschaften an. Diese Gruppierungen möchte ich nun als Beispiel für meine Darstellung auswählen.

Der Pfadfinderbund Großer Jäger und der Ost-West-Konflikt Alle Gruppen der Großen Jäger lebten in Orten nahe der damaligen DDR. Jeder von uns kannte das Bild der Wachttürme und der kahlen Grenzschneisen, wie man sie etwa hinter Oberrieden am Berghang jenseits der Werra sah. Wenn wir auf dem Ludwigstein waren, gingen unsere sehnsüchtigen Blicke oft genug hinüber zum Hanstein, den wir wohl niemals würden betreten dürfen. Fast täglich hörten wir von gelungenen oder gescheiterten Fluchtversuchen; oft versuchten die Flüchtlinge die Werra zu durchschwimmen – viele sind daran gescheitert. Das Grenzdurchgangslager Friedland lag vor unserer Haustür. Diese räumliche Nähe zur Grenze prägte bei den meisten von uns auch das politische Bewusstsein: Wir brauchten keine Kalter-Krieg-Propaganda, um uns über diese Grenze zu empören. Doch so gerieten wir zugleich in den Mainstream der »Macht-das-Tor-auf«-Rhetorik, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass vielleicht auch westliche Baumeister an der Errichtung der innerdeutschen Grenze und ihrer Minengürtel mitgewirkt hatten. Aber nicht nur der Konflikt mit der DDR beschäftigte uns als biografisch betroffene Jugendliche. Wir waren nicht nur Kriegskinder, sondern viele von uns waren auch Flüchtlinge oder Vertriebene. Allein in meiner Gruppe stammten mehrere Familien aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze oder aus der DDR: Dietmar, Rolf und Burkhard waren Flüchtlinge aus Ostpreußen, waren über das Haff geflüchtet oder aus Masuren vertrieben worden. Uwe kam aus Pommern, Reinhard war mit einem Treck aus Schlesien nach Niedersachsen gelangt. Frieder war in den 50er-Jahren aus Thüringen geflüchtet und auch die Familie meines Vaters stammte aus Thüringen. Was erfuhren diese Jungen aus den Erzählungen ihrer Familien und wie prägten diese Narrative ihr Weltbild? Es war kein Wunder, dass wir wie selbstverständlich das Recht auf Rückkehr in die alte Heimat und eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 forderten, und es dauerte einige Zeit, bis wir den friedenspolitischen Sprengstoff in diesen Forderungen wahrzunehmen vermochten. Es gehört auch nicht viel Fantasie dazu, sich die Erfahrungen, ja Traumatisierungen unserer Freunde aus den Berliner Gruppen vorzustellen. Ich erinnere mich an einen Tag, an dem solche Erfahrungen mit denen von uns westdeutschen Jugendlichen zusammentrafen: Im Sommer 1961 wanderte eine Berliner Pfadfindersippe unseres Bundes von Hofgeismar aus durch den Reinhardswald

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nach Hannoversch Münden, um uns zu besuchen. Am Sonntagmorgen saßen die Berliner in unserer Wohnung am Kaffeetisch, meine Mutter hatte einen Kuchen gebacken, wir feierten unsere Freundschaft. Doch dann hörten wir zufällig die Nachrichten im Hessischen Rundfunk: In Berlin hatten DDR-Grenzsoldaten die Sektorengrenze abgeriegelt und errichteten einen Stacheldrahtzaun. Es war Sonntag, der 13. August. Ich weiß noch, wie blass die Gesichter unserer Berliner Freunde wurden. Hieß das Krieg? Würden sie überhaupt noch nach Berlin zurückkommen? Waren Eltern und Geschwister in Sicherheit? Solche Situationen machen deutlich, wie sehr die deutsche Teilung – als für uns wichtigster Austragungsbereich des Ost-West-Konflikts – auch unser Gruppenleben berührte.

Wie haben wir darauf reagiert? Die Aktion »Päckchen nach drüben« kannten wir aus der Schule und beteiligten uns oft mit unseren Gruppen daran. Neben der Gelegenheit, Menschen eine Freude zu machen und gleichzeitig Versorgungsmängel zu lindern, konnten wir damit Kontakte anknüpfen, und manchmal entstanden so regelrechte Brieffreundschaften. Um 1957/58 hatte ich einen solchen Brieffreund in Meißen, Helmut P., der die Erweiterte Oberschule besuchte. In dem letzten Brief, den ich von ihm erhielt, teilte er mir mit, er habe sein Abitur bestanden und komme nun zur Armee (»zur Fahne«), deshalb müsse er leider seine Westkontakte einstellen. Er berichtete aber ausführlich von seiner Abiturprüfung und nannte mir zwei wunderbare Aufsatzthemen, unter denen er wählen konnte. Das erste hieß: »›Durch vorzeitig ans Netz gebrachte Energie zwingen wir Adenauer in die Knie.‹ Erläutern Sie diesen Satz und beweisen Sie seine Richtigkeit!« Auch das zweite Thema erreichte dieses Niveau: »›Sozialistisch denken, arbeiten, leben heißt, den westdeutschen Imperialisten den Todesstoß geben!‹ Erläutern Sie diesen Satz und beweisen Sie seine Richtigkeit!« Helmut kommentierte unverblümt, er habe gewusst, was der Lehrer erwartete, und habe den Text entsprechend geschrieben. Die Arbeit sei mit »sehr gut« beurteilt worden. Ein wichtiges Fahrtenziel für Gruppen und Stämme war Berlin. Wir trafen uns mit unseren Berliner Gruppen und durchstreiften West- und Ostsektoren. Einmal haben wir sogar auf Schwanenwerder gezeltet, mit Kohten und Jurten. Neben den üblichen touristischen Zielen suchten wir auch kulturelle Erlebnisse in Theater und Oper, Museen und Ausstellungen. Wir verglichen bewusst und unbewusst miteinander, was wir im Westen und im Osten sahen, und erkundeten manchmal auch planmäßig die Lebenswirklichkeit im Ostberlin. Oft sahen wir uns die sehr fremdartig wirkenden DEFA-Wochenschauen im Kino am Bahnhof Friedrichstraße an und lernten so, das Weltgeschehen aus einem un-

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gewohnten Blickwinkel zu betrachten. Meine Gruppe erforschte im Juni 1960 in Kleingruppen Preise und Löhne, Städtebau und Kulturbetrieb in Ost- und Westberlin. Zum ersten Mal findet sich in unserer Chronik eine Art Satire auf westliche Propagandaklischees. Ecki schrieb einen kritischen Text: »Wie sich der kleine Max den Osten vorstellt«; hier äußerte sich der Wunsch, selbstbestimmt die Wirklichkeit zu entdecken, sein eigenes Bild zu entwickeln, sich von den Bildern jeglicher Propaganda zu emanzipieren.1 Die sogenannte Zonengrenze war oft das Ziel von Wanderungen, aber auch von demonstrativen Gesängen über den Grenzzaun hinweg. Die Burg Hanstein und thüringische Dörfer wie Lindewerra oder Asbach bei Bad Sooden-Allendorf boten uns Gelegenheiten, für unsere Wünsche nach Überwindung der Grenze jeweils einen symbolischen Ort zu finden. In den 60er-Jahren fuhren unsere Mündener Gruppen einmal an einem 17. Juni mit Fahrrädern nach Eichenberg an einen Platz unterhalb der Burg Arnstein, wo wir uns mit dem Jugendbuchautor Hans-Georg Noack trafen, der aus seinem Buch »Stern über der Mauer« las und durchaus kritisch mit uns über Deutschlandpolitik diskutierte. Zum Bundesfest der Großen Jäger Ostern 1960 fertigte jeder Junge des Bundes eine Jahresarbeit an, die sich mit »Mittel- und Ostdeutschland« befasste; wir folgten, wie man sieht, auch in der Wahl der Bezeichnungen durchaus dem allgemein üblichen Sprachgebrauch. Mehr als 150 Arbeiten wurden eingereicht und in der Burg Tannenberg bei Sontra ausgestellt. Sie beeindruckten wegen der methodischen Vielfalt und Qualität außerordentlich. Modelle, Webarbeiten, Wandteppiche, grafische Arbeiten oder schriftliche Ausarbeitungen – manchmal vom Autor selbst als Buch gebunden – präsentierten Themen, mit denen sich die Jungen oft monatelang beschäftigt hatten: nachhaltiges Lernen mit allen Sinnen. Ich selbst hatte ein Buch über die Elbe als »Strom der Mitte« verfasst und darin auch erörtert, warum wir den anderen deutschen Staat nicht mehr »Sowjetzone«, sondern mit seiner Eigenbezeichnung DDR nennen sollten. – Übrigens: Das gleiche Thema »Mittel- und Ostdeutschland« hatten unsere Mündener Gruppen schon einmal im November 1956 auf dem Ludwigstein in den Mittelpunkt eines Stammeslagers gestellt. Genau an diesem Wochenende, am 3./ 4. November, spitzte sich in Budapest der Ungarnaufstand zu, der kurz darauf von der Roten Armee niedergeworfen wurde. Einige Wochen später luden Kasseler Große Jäger geflohene ungarische Studenten zu einer Weihnachtsfeier ein. Schon im Jahre 1957 luden Kasseler Große Jäger vom Stamm Luchs erstmals Berliner Kinder in den Sommerferien in das Landheim Hofgeismar ein. 35 Jungen erlebten ein paar fröhliche, unbeschwerte Wochen in Nordhessen weitab 1 Chronik 2 der Sippe »Herzog Erich« im Stamm »Junge Kameradschaft« Hannoversch Münden im Pfadfinderbund Großer Jäger (1958 – 1961), Privatbesitz.

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von der Enge der isolierten Großstadt Westberlin. Solche Aktionen gab es in den folgenden Jahren immer wieder, mit Betreuern aus verschiedenen Gruppen des Bundes. Mehrere Hundert Berliner Jungen werden es gewesen sein, die in Hofgeismar als unsere Gäste Ferien machten und zu deren Gunsten Gruppen auf ihre Großfahrt verzichteten (!). Später kooperierten wir auch mit dem Verein »Student für Berlin – Student für Europa«, der noch heute für seine stets weiter wachsende Liederheftsammlung bekannt ist. Das Grenzdurchgangslager Friedland war oft die erste Station für entlassene Kriegsgefangene, Übersiedler und Flüchtlinge. Hier wurden stets Helfer gebraucht und es fanden sich immer wieder einzelne Jungen und ganze Gruppen, die nach Friedland radelten, um an Wochenenden oder in den Ferien dort anzupacken. Zusammenfassend betrachtet, reagierten also der Bund und die Gruppen der Großen Jäger sehr vielfältig und mit ihren spezifischen Methoden auf die Probleme des Ost-West-Konflikts. Jugendbündische können gut auf andere Menschen zugehen, das geschah in Paket- und Briefkontakten, Berlinkinderfreizeiten, bei Hilfseinsätzen. Sie können projektartig und mit sehr unterschiedlichen Methoden Probleme bearbeiten und darstellen, das zeigte sich u. a. an den Jahresarbeiten. Und sie verstehen sich auf Erkundungen in der Fremde, zu Fuß oder per Fahrrad, jedoch meist in eigener ausdauernder Kraftanstrengung – ob in Berlin oder an der DDR-Grenze. Bemerkenswert erscheint mir auch, dass die Beschäftigung mit der gesamtdeutschen Thematik nicht nur eine Angelegenheit der älteren Bundesmitglieder war, sondern dass sie auch für die Jüngeren in den Gruppen selbstverständlich war. Inhaltlich-politisch bewegten wir uns meist innerhalb des allgemeinen gesellschaftlichen Konsenses, aber bei intensiver Sachbeschäftigung begannen erste Zweifel auch an den offiziellen bundesdeutschen Doktrinen zu wachsen, aus meiner Sicht etwa seit 1959/60, als ich eine interessante Streitschrift fand, das Buch von Erich Kuby »Das ist des Deutschen Vaterland. 70 Millionen in zwei Wartesälen«.2 Hier stellte Kuby unter anderem die Hallstein-Doktrin, also den Alleinvertretungsanspruch der BRD, infrage und formulierte bereits Konzepte wie die Anerkennung der DDR, um einer Verständigung zwischen den Deutschen näher zu kommen. Zwölf Jahre später begann Willy Brandt, beraten von Egon Bahr, diese Überlegungen in praktische Ostpolitik umzusetzen.

2 Erich Kuby : Das ist des Deutschen Vaterland. 70 Millionen in zwei Wartesälen, Stuttgart 1957.

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Das Seminar Junger Bünde und das Treffen mit der FDJ-Leipzig im Januar 1965 Im Januar 1965 reisten zwanzig junge Frauen und Männer aus verschiedenen Jugendbünden bei Wartha in die DDR ein, um in Leipzig die Bezirksleitung der FDJ zu treffen. Zweck war eine Begegnung des westdeutschen Seminars Junger Bünde mit Jugendfunktionären des anderen deutschen Staats; die Bezirksleitung Leipzig gehörte dabei zu den allerersten Adressen, weil ihre Mitglieder sich als relativ offen gegenüber westdeutschen Jugendverbänden zeigten. Geplant waren ein viertägiger Besuch in Leipzig mit einem anspruchsvollen Programm an Besichtigungen und Begegnungen sowie drei Tage im Thüringer Wald in dem Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes »Theo Neubauer« in Tabarz. Ich nahm als einfacher Teilnehmer an der Fahrt teil, vorbereitet wurde sie vor allem von Jochen Franke und Axel Hübner (BDP Hessen).3 Für uns war wichtig, dass dieser »Ostkontakt« vom Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen und von der Hessischen Landesregierung unterstützt und gefördert wurde. Das gab uns etwas Rückendeckung, schützte aber nicht davor, dass dieses Unternehmen kurz vor Schluss auf überraschende Weise endete. Für mich ergab sich ein erster Höhepunkt schon auf der Hinfahrt, als wir die Wartburg besuchen konnten, einen dieser Sehnsuchtsorte, die mir immer vor Augen standen, wenn ich an Thüringen dachte. – In Leipzig selbst wohnten wir in der Jugendherberge Dimitroffstraße, nahe dem früheren Reichsgericht. Dieser Zusammenhang bewegte mich als Geschichtsstudenten sehr stark – hier hatte Georgij Dimitroff vor den Richtern des Reichstagsbrandprozesses gestanden. Das erste offizielle Gespräch mit unseren Gastgebern, ein Abtasten der wechselseitigen Vorstellungen, Wünsche und Angebote, fand im Haus der FDJ statt. Ich erinnere mich daran, dass die Gastgeber zu meiner Überraschung sogar ihre Erlebnisse am 17. Juni 1953 ansprachen, selbstverständlich in DDRoffizieller Version. Einer der Wortführer berichtete, wie er physisch von Aufständischen mit einem Klappspaten bedroht worden sei, als das FDJ-Haus gestürmt wurde. Längst verschwundene »Elemente« seien plötzlich wieder aufgetaucht, darunter auch Damen aus dem horizontalen Gewerbe. (Mein Freund Uwe merkte trocken dazu an: »Ich denke, das gab’s hier gar nicht.«) Mehrere direkte Begegnungen mit Menschen sind mir aus diesen Tagen in Erinnerung geblieben: Eine Hospitation in einer 3. Klasse einer Schule, ein Gespräch im Pädagogischen Kabinett der Universität mit einer Unterrichtsbeobachtung durch Einwegscheiben, parallel dazu lief ein Treffen mit Studenten der Deutschen Hochschule für Körperkultur, der berühmten Sporthochschule.

3 Vgl. dazu den Beitrag von Renate Rosenau.

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Im Bereich der Universität nahm ich auch an einer Seminarsitzung mit Lehrerstudenten über deutsche Literatur teil; dabei arbeitete die Seminargruppe an dem frühen Strittmatter-Stück »Katzgraben«, einem recht plakativen Werk, das sich mit den Problemen der »demokratischen Bodenreform« 1946/47 befasste und die überraschende und kaum verdiente Sympathie des großen Bert Brecht genossen hatte. Diese Exkursionen und Hospitationen waren arbeitsteilig in kleineren Gruppen geplant. Als gesamte Gruppe fuhren wir dann nach auswärts: In Delitzsch nahmen wir an einer Vollversammlung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft teil, in Böhlen südlich von Leipzig an einer Betriebsjugendversammlung des großen Industriekombinats. Schließlich – und für mich folgenreich – wurden wir zu einem Lyrikforum mit Lesung von fünf jungen Autoren und offener Diskussion in das Johannes-R.-Becher-Institut eingeladen. Hier lernten wir u. a. die später bedeutenden Lyriker Sarah und Rainer Kirsch kennen.

Exkurs: Beobachtungen in Leipzig In der Grundschule wurde unsere kleine Hospitantengruppe in den Raum einer 3. Klasse geführt. Die Kinder sprangen aus den Bänken, nahmen Haltung an. Ein kleiner Junge im weißen Hemd mit Halstuch trat vor die Klasse, salutierte mit Pioniergruß: »Die Pioniere der Klasse 3a zum Lernen bereit. Seid bereit!« »Immer bereit!«, lautete die gut im Sprechchor eingeübte Antwort des jungen »Lernkollektivs«. Im Übrigen herrschte strenger Frontalunterricht. Die Kinder erhoben sich bei der Wortmeldung. Die Lehrerin wirkte streng, aber mütterlichfürsorglich. Der Unterricht erinnerte mich sehr an konservative Grundschulen im Westen, allerdings mit etwas Pionier-Folklore. In der LPG Delitzsch nahmen wir an der Vollversammlung einer der ersten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR teil. Wir erfuhren einiges über den Alltag eines LPG-Kollektivs, hörten einen Bericht über die Erträge des Jahres 1964 und beobachteten ein Gespräch über Rückvergütungen aus den Jahreserträgen an die Genossenschaftsmitglieder. Es gab einen Ausblick auf die Frühjahrsbestellung 1965. Für mich relativierte sich das westliche Propagandaklischee von der »sowjet-ähnlichen Kolchose«. Die Bauern bildeten eine Genossenschaft, waren – in den Grenzen des Plans – wohl auch Herren ihrer Produktion, hatten geregelte Arbeitszeiten, von denen ein bundesdeutscher Bauer nur träumen konnte, und anscheinend eine größere wirtschaftliche Sicherheit als viele ihrer westdeutschen Kollegen. Ich erfuhr auch, dass im Grundbuch die persönlichen Eigentumsverhältnisse weiterhin galten. Ich hatte allerdings nicht vergessen, dass um 1960/61 die Kollektivierung der Landwirtschaft mit viel Zwang und Sanktionen durchgesetzt worden, also fremdbe-

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stimmt war. Und Fremdbestimmung ist das Gegenteil von Genossenschaft. Diese Kampagne führte zu den großen Widerständen vieler Bauern und zur Massenflucht nach Westen, zum Bau der Mauer und zur Verschärfung des Grenzregimes. In Delitzsch haben wir also LPG-Alltag erlebt – drei Jahre nach dem Mauerbau und in einer wohl verbesserten wirtschaftlichen Situation, die Hoffnungen auf mehr Wohlstand weckte. In der Betriebsjugendversammlung des Industriekombinats Böhlen wurden wir als »westdeutsche Jugendfreunde« begrüßt und hörten einen Vortrag über aktuelle politische Fragen, darunter auch über die Atomminen der NATO in Westdeutschland in der Nähe der Grenze zur DDR. Ein Referent stammte aus Hannover (es gab offenbar auch Flüchtlinge von West nach Ost). Bei der Diskussion über die politischen Fragen traten die üblichen Verständigungsprobleme auf. Diethart Kerbs erzählte hier die Anekdote vom Besuch eines USBürgers in Moskau und speziell der »Metro«. Der Amerikaner, so Kerbs, bewunderte die Pracht der Station, den Marmor, die Kronleuchter, die langen Rolltreppen und fragte dann seinen Gastgeber, warum denn seit Minuten kein Zug angekommen sei. Prompt antwortete der russische Freund: »Und was macht ihr mit den Negern in Alabama?« Diethart Kerbs erzählte diese Anekdote immer dann, wenn er rhetorische Ablenkungsmanöver verdeutlichen wollte. Auch wir äußerten uns spontan sehr skeptisch zu den Atomminen, obwohl wir eigentlich wenig über die jeweiligen politischen Meinungen innerhalb unserer Gruppe wussten. Unsere Gastgeber horchten auf und schlugen eine gemeinsame Resolution vor, die sich »gegen die verhängnisvolle Atomminenpolitik des ErhardRegimes« richten sollte. In diese Falle konnten und wollten wir jedoch nicht tappen, deshalb erklärten wir unsere Bereitschaft zu einer »gemeinsamen Resolution gegen Minen an der innerdeutschen Grenze«. Damit war das Problem erledigt und der Resolutionsvorschlag vom Tisch, aber unseren Gastgebern wurde unser Verhalten immer rätselhafter. Und wir stellten fest, dass wir den angeblich so raffiniert geschulten kommunistischen Funktionären in jeder Diskussion gewachsen waren. Das Johannes-R.-Becher-Institut, nach dem bedeutenden Lyriker und DDRKulturminister benannt, war eine richtige Dichterschule, in der Studierende – mit ordentlichen Stipendien abgesichert – unter Anleitung erfahrener Autoren das schriftstellerische Handwerk erlernen konnten. Zur Zeit unseres Besuchs herrschte kulturpolitisch ein gewisses »Tauwetter«, und deshalb konnten die jungen Lyrikerinnen und Lyriker nicht nur Experimente wagen, sondern auch offen mit den Zuhörern diskutieren. Doch auch das war immer noch ein Wagnis. Von den jungen Dichterinnen und Dichtern sind mir namentlich Sarah und Rainer Kirsch sowie Uwe Gressmann in Erinnerung. Ihre Gedichte boten einen aufregenden Einblick in die Gedankenwelt und die Motive sensibler, weltoffener junger Leute in der DDR. Zugleich versuchten sie, formal Anschluss an expe-

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rimentelle Formen von Lyrik in der Außenwelt zu finden. Dabei beeindruckte mich besonders Sarah Kirsch, heute die vielleicht bedeutendste Lyrikerin deutscher Sprache. Rainer Kirsch blieb noch eher traditionellen Formen verbunden, zeigte aber, so schien mir, ein besonderes Beispiel des politischen Diskurses in lyrischer Form – ein kritischer junger Sozialist auf der Suche nach einer demokratischen Zukunft der Gesellschaft, der Erfüllung eines historischen Versprechens: eines emanzipatorischen Sozialismus. Die Diskussion im Publikum war kontrovers und sehr lebendig. Einige Traditionalisten warnten vor dem Erstarken eines dekadenten Formalismus (so hat man Pasternak in der UdSSR kaltgestellt), andere Zuhörer lobten die offenen Formen und das Streben nach Weltniveau (ein Argument, das in der Messestadt Leipzig immer hilfreich war). Mit ein paar Teilnehmern unserer Gruppe zogen wir anschließend mit dem Ehepaar Kirsch in die Innenstadt, durften aber mangels Krawatten kein Lokal betreten. Schließlich leerten wir mit unseren Gastgebern eine Flasche bulgarischen Rotweins in einem Raum des Instituts und verabredeten eine Gegeneinladung zu uns, beispielsweise nach Hannoversch Münden, wo ich mir ebenfalls ein öffentliches Forum mit junger Lyrik aus der DDR vorstellen konnte. Die Einladung fand gute Aufnahme und aus dem Besuch von Sarah und Rainer Kirsch an der Weser wäre beinahe etwas geworden, doch waren innerdeutsche Kontakte damals immer wieder überraschenden Veränderungen ausgesetzt.

Ende des Tauwetters: Kälteeinbruch im Thüringer Wald Nach diesem dichten und sehr ergiebigen Programm, das meine bisherigen Vorstellungen über die Realität der DDR teilweise bestätigte, aber auch in einigen Punkten korrigieren half, folgte der erholsamere Teil mit ein paar winterlichen Tagen im Thüringer Wald. Hier ist mir noch die Fahrt auf den eindrucksvoll verschneiten Inselsberg in Erinnerung, aber auch ein langer Spaziergang nach Friedrichroda, dem bekannten Kurort in der Nachbarschaft. Für den letzten Tag unseres Aufenthalts war ein Besuch in Weimar geplant: Goethehaus, KZ-Gedenkstätte Buchenwald und am Abend »Iphigenie« im Nationaltheater. Wieder ein stark bewegendes Programm. Aber leider kam es nicht dazu. Denn am Vorabend wurden wir hinausgeworfen – wir mussten die DDR am nächsten Morgen verlassen. Man sagte uns, wir hätten die Gastfreundschaft der DDR missbraucht. Vorwand für diesen Abbruch war , dass ein Teilnehmer eine »Berliner Illustrirte« aus dem Springer-Verlag ausgelegt hatte; darin wurde auf demagogische Weise Walter Ulbricht mit Hitler verglichen – ein übles Propagandablatt mit einer platten Ausprägung der üblichen Totalitarismus-Theorie. Ich entschuldigte mich noch für meinen Freund Uwe, der diesen Fauxpas begangen hatte – erfolglos! Später erfuhren wir, dass in der vorhergehenden

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Nacht der Zentralrat der FDJ beschlossen hatte, die Kontakte zu bürgerlichen Jugendverbänden der BRD abzubrechen.

Die Folgen der Leipziger Begegnung Es ist kaum möglich, die allgemeinen politischen Folgen einer einwöchigen Fahrt von zwanzig jungen Leuten zu messen. Vielleicht kann man sagen, dass unser Hinauswurf den Beginn einer Verhärtung der Fronten im Bereich von innerdeutschen Jugendkontakten signalisierte. Vielleicht hatten aber die Veränderungen sich längst im Zentralrat der FDJ angebahnt und die entscheidenden Kader an der Spitze suchten und fanden in unserem Verhalten nur einen Vorwand, um die Kontakte zu so unberechenbaren Partnern wie uns Bündischen zu beenden. Vielleicht gibt es noch in Archiven Unterlagen aus dem Zentralrat, die hier eine Antwort ermöglichen? Jedenfalls sind mir nennenswerte Kontakte Junger Bünde in den Jahren unmittelbar nach Leipzig/Tabarz nicht bekannt. Zugleich ist aber sicher anzunehmen, dass die Ereignisse dieser Fahrt nennenswerte Spuren bei den Teilnehmern und vielleicht in ihren Gruppen und Bünden hinterlassen haben. Verstärker dieser Wirkungen waren sicherlich auch die atmosphärischen Veränderungen in der westdeutschen Gesellschaft, insbesondere an den Universitäten, in denen sich eine neue studentische Linke zu artikulieren begann und scheinbar unumstößliche Gewissheiten in Frage stellte. Ich wähle erneut das Beispiel meiner Mündener Freunde, bei denen ich auch meine neuen Erfahrungen und Einschätzungen von der DDR-Begegnung zur Sprache brachte. Diese Gruppen nannten sich aber nun nicht mehr Pfadfinder, sondern – seit Februar 1965 –Jungenschaft Meißner. Diese neue Jungenschaft trat Pfingsten 1965 dem Bund deutscher Jungenschaften bei. Ich war in dieser Zeit auch Vorsitzender des Stadtjugendrings Münden und regte im Vorstand an, die traditionelle jährliche Mündener »Woche der Jugend« im Frühjahr 1966 umzuwidmen in »Woche der Jugend der DDR«. Es war nicht leicht durchzusetzen, die Bezeichnung DDR ohne Anführungszeichen auf die Plakate zu drucken. Konservative Mitgliedsverbände, vor allem die sehr rechtslastige Deutsche Jugend des Ostens (DJO), wollten ohnehin diese Öffnung verhindern. Noch schwieriger war es, einen Literaturabend ins Programm aufzunehmen und dazu die jungen Lyriker Sarah und Rainer Kirsch einzuladen. Aber : Die Kirschs sagten zu, das Programm wurde vervollständigt, wir konnten zu der Lesung »Junge Lyrik aus der DDR« offiziell einladen. Dann kam der Schock: Sarah und Rainer Kirsch mussten wenige Tage vorher absagen, weil der Schriftstellerverband der DDR dem Ausreiseantrag nicht zugestimmt hatte. Die Begründung: Zu dem Stadtjugendring gehöre auch die »revanchistische DJO« und es sei DDRBürgern nicht zumutbar, auf einer Veranstaltung zu lesen, an der diese frie-

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densfeindliche Organisation teilnehme. Die Ironie der Situation war leider nur, dass wir gerade gegen diese DJO die Veranstaltung mit großer Mühe durchgesetzt hatten. Heiner Luthardt war der rechts außen agierende Leiter dieser Gruppe, die vorher den rechtsextremistischen Bund Heimattreuer Jugend angehört hatte. Vom Übertritt zur DJO erhoffte er sich die Unterstützung durch den Bund der Vertriebenen, nicht zuletzt mit finanziellen Mitteln und guten kommunalpolitischen Beziehungen. Heiner Luthardt konnte triumphieren, ausgerechnet mit Hilfe der Hardliner des DDR-Schriftstellerverbandes. Übrigens: Die Gedichte aus der DDR haben wir dann selbst hektographiert und vorgelesen, bei guter öffentlicher Resonanz und unter dem strengen Blick des rechtslastigen Oberstudiendirektors Dr. Kausch.4 Übrigens fanden die Lesung und überhaupt die »Woche der Jugend der DDR« eine durchaus positive Resonanz in der Öffentlichkeit unserer kleinen Stadt. Zwei Jahre später war das ein wenig anders. Am 17. Juni 1968 übernahm unsere Mündener Jungenschaft die Gestaltung der offiziellen Feier der Stadt Münden zum »Tag der deutschen Einheit«. Inzwischen war viel geschehen. Nach der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 thematisierten wir in der Feier – vor den Honoratioren der Stadt in der historischen Rathaushalle – autoritäre Tendenzen und die Unterdrückung gesellschaftlicher Minderheiten in unserem Staat. Wir rezitierten im Sprechchor den berühmten Text von Günter Eich »Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht …« und betonten besonders den Schlussappell: »Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt«. In der »Festrede« forderte ich als Stadtjugendringvorsitzender schließlich die Anerkennung der DDR als Voraussetzung zu einer Annäherung der Menschen in beiden deutschen Staaten. In der Lokalzeitung durften wir am nächsten Tag lesen, man könne ja über vieles diskutieren, aber ob gerade der 17. Juni der rechte Augenblick für eine solche Forderung sei, müsse doch bezweifelt werden. Etwa in dieser Zeit endete mein Engagement in der Jungenschaft in Hannoversch-Münden. Inzwischen war ich Referendar an einem Gymnasium in Hannover geworden und versuchte dort als Lehrer mit jugendbewegter Herkunft, mich in die Veränderungen jener Jahre einzuklinken – auch in Hinblick auf den Ost-West-Konflikt und die deutsche Teilung. Aber das ist ein anderes Thema. Wenn ich mich heute frage, welche der Begegnungen jener Jahre für mich besonders nachhaltig waren, komme ich immer wieder auf den Lyrik-Abend in Leipzig zurück. Hier wurden wirklich – von mutigen jungen Menschen mit Hilfe ebenso mutiger älterer Mentoren – Tore zur Zukunft aufgestoßen. Ich möchte 4 Der Schulleiter Karl-Heinz Kausch verlor 1978 wegen rechtsextremistischer Positionen seinen Posten am Grotefend-Gymnasium; vgl. Klaus Leggewie: SS-Waffenbruder als Schulleiter? Hannoversch Münden und der Fall Kausch, in: Die Zeit vom 7. 5. 1982.

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Hans Heintze

deshalb zum Abschluss meines Beitrags ein Gedicht zitieren, ein Sonett, das Rainer Kirsch an jenem Abend vorgetragen hat:

Rainer Kirsch Meinen Freunden, den alten Genossen Wenn ihr unsre Ungeduld bedauert Und uns sagt, dass wirs heut leichter hätten, Denn wir lägen in gemachten Betten, und ihr hättet uns das Haus gemauert – Schwerer ist es heut, genau zu hassen Und im Freund die Fronten klar zu scheiden Und die Unbequemen nicht zu meiden Und die Kälte nicht ins Herz zu lassen. Denn es träumt sich leicht von Glückssemestern; Aber Glück ist schwer in diesem Land. Anders lieben müssen wir als gestern Und mit schärferem Verstand. Und die Träume ganz beim Namen nennen; Und die ganze Last der Wahrheit kennen.5

5 Rainer Kirsch: Werke, Bd. I Ó 2004 Eulenspiegel Verlag, Berlin.

Gerhard Neudorf

Der Ring junger Bünde

Zunächst soll es darum gehen, die Vorgeschichte des Ringes junger Bünde (RjB) bis zu seiner Gründung 1966 darzustellen, ehe ich anschließend meine Erinnerungen an die Zeit danach bis 1977 schildern und mich schließlich den historischen Geschehnissen seit 1961 zuwenden werde. Dabei soll vor allem aufgezeigt werden, wie sich die Bemühungen auf den Bundesführerversammlungen und den Meißnerseminaren gegenseitig verstärkten. In den Anmerkungen werden einige zum Teil amüsante Begleiterscheinungen der Entwicklung hinzugefügt.1

Die Anfänge Am 10. Juni 1964 versandte Karl Vogt von Paderborn aus mit dem Briefkopf »Ring junger Bünde« seine »Mitteilungen« mit dem Protokoll der Beratung der Sprecher der jungen Bünde am 11. April 1964, an der Karl Vogt, Günter Knitschky, Horst Schweitzer und Hermann von Schroedel teilgenommen hatten.2 Es enthält viel Grundsätzliches über den RjB, was im Folgenden kurz aufgezählt werden soll: Zunächst geht Karl Vogt in diesem Protokoll auf die Zugehörigkeit von Meißnerbünden zu einem zu gründenden RjB ein, bevor er dann die Ergebnisse einer Besprechung vom 25./26. Januar 1964 erwähnt, in der zu den möglichen Aufgaben eines RjB festgestellt worden war, dass dieser nicht das Ziel haben könne, Bündigungsbestrebungen zu unterstützen oder einzuleiten, die zu einem »Großbund« führen könnten. Seine Aufgaben sollten lediglich ein Interessenbündnis, die Vertretung der Jungen Bünde nach außen und die Kontaktpflege der Bünde untereinander sein. Im Punkt 3 des Protokolls wird die Fortführung der Meißnerseminare begrüßt, die in Zukunft Veranstaltungen des 1 Die neun Meißnerseminare 1963 bis 1966 sowie die darauf noch folgenden Seminare behandelt Renate Rosenau in ihrem Beitrag. 2 Ring junger Bünde – Mitteilungen, 1964, Heft 1.

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Gerhard Neudorf

RjB sein sollten. Anschließend werden die Kontaktaufnahme zum Bundesjugendministerium und die Anerkennung der Förderungswürdigkeit der RjBBünde auf Bundesebene sowie eine Anregung von Horst Schweitzer mitgeteilt, mit dem Bundesverteidigungsministerium wegen einer Zurückstellung von Gruppenführern vom Wehrdienst zu verhandeln. Die Herausgabe laufender RjBMitteilungen (Punkt 6) wird sodann ebenso angekündigt wie die Auflösung der bestehenden Bündischen Union für Ende 1964 (Punkt 7). Weiterhin wurde bei dem Treffen die Empfehlung zur Bildung von örtlichen Ringen bündischer Jugend aufrechterhalten, deren Existenz jedoch nicht zu Zweigleisigkeit und Zersplitterung führen dürfe. Von der Gründung eines Fördergremiums des RjB wurde zunächst noch Abstand genommen; ebenso wurde laut Punkt 10 auf die Schaffung eines zentralen Heimes des RjB verzichtet, da genügend bündische Heime und die Burg Ludwigstein zur Verfügung stünden. Die Kasse des RjB, so bestimmte abschließend Punkt 11 des Protokolls, sollte von nun an von Gerhard Schirmer (Pfadfinderbund Großer Jäger) übernommen werden, dem zunächst die Überschüsse vom Meißnertreffen 1963 laut Bundesführerbeschluss zur Verfügung stünden. Bei einem 3. Bundesführertreffen im März 1965 wurde der Satzungsentwurf für den geplanten RjB beraten, sodass dieser dann beim 4. Bundesführertreffen am 6./7. November 1965 zur Verabschiedung vorgelegt werden konnte. Wegen weiterer Veränderungswünsche wurde die Verabschiedung jedoch auf die nächste Bundesführerversammlung am 19./20. März 1966 verschoben.3 Am 19. März 1966 wurde der RjB dann schließlich offiziell gegründet: die Satzung wurde einstimmig verabschiedet; an den Sprecherkreis erging der Auftrag, den Verein in das Vereinsregister eintragen zu lassen.4 Als Vorsitzender des RjB wurde Karl Vogt gewählt, als sein Stellvertreter Hermann »Sim« von SchroedelSiemau und als Beisitzer Günter Knitschky und Karlheinz Everding. Ein weiterer Beschluss der Bundesführerversammlung lautete, 1967 ein internationales Meißnerlager, später unter dem Namen »Europolis« bekannt, durchzuführen. Zudem wurde ein Grundkanon im Hinblick auf das Verhalten der Bünde untereinander angenommen und dem Protokoll als Anlage 3 beigelegt. Die ebenfalls von der Bundesführerversammlung beschlossene Schriftenreihe des RjB, die auch die Meißnerseminar-Protokolle enthalten sollte, ist allerdings wohl nie in Angriff genommen worden – ein Menetekel? Als eine weitere Anlage zu diesen Mitteilungen wurde außerdem die verabschiedete Satzung mitverschickt, der

3 Karl Vogt: Protokoll, in: Ring junger Bünde – Mitteilungen, 1965, Heft 2. Im Tagesordnungspunkt 5 wird ersichtlich, dass in diesem Jahr bereits Bundesjugendplan-Zuschüsse an Mitgliedsbünde des RjB geflossen waren. 4 Ring junger Bünde – Mitteilungen, 1966, Heft 1.

Der Ring junger Bünde

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auch die »Grundsatzerklärung der jungen Bünde zum Meißnertag 1963« beigefügt war.

Persönliche Erinnerungen an die Zeiten nach der Gründung des RjB 1. Die Anfangszeit im RjB war sehr lebendig. Höhepunkte waren die EuropolisLager, wozu Horst Schweitzer seine spanischen Gruppen einlud. 2. Mein zweites interbündisches musisches Treffen im Jugendhof Bessunger Forst des Bundes Deutscher Jungenschaften um 1968 wurde vor allem von Jungenschaftlern massiv gestört. Sie sagten, dieses musische Programm verwehre den jungen Menschen die Wahrnehmung ihrer Interessen. Als ich nachfragte, was die denn seien, antwortete mir ein Jungenschaftler spitz: »Gruppensex«. Die Aggressionen gingen nicht zum wenigsten von Mitgliedern des Hamburger Ringes bündischer Jugend (RbJ) aus, vor allem der Mädchentrucht, die ihren Umgang mit jungen Männern als vorbildlich hinstellten. Eine Fortsetzung solcher musischer Treffen war unerwünscht, und ich erhielt keine Möglichkeiten mehr zum Weiterwirken. 3. Eine Frankfurter Zusammenkunft der Bundesführer des RjB um 1969 herum beendete die fruchtbare Arbeit des RjB. Die politischen Auseinandersetzungen zwischen Hamburgs RbJ und Jochen Dürings Pfadfindern in Lübeck waren nicht durch Gespräche zu schlichten. Ich hatte Jochen Düring veranlasst, junge Mitglieder seines Bundes mitzubringen, damit die anderen Bünde sehen sollten, dass auch die Lübecker Pfadfinder Menschen seien. Die Angriffe der Hamburger wurden im Verlauf der Sitzung immer heftiger. Der Nerother Wandervogel unterbrach die Diskussionen mehrfach durch Gesang. Karl Vogt drohte den Nerothern um Fritz-Martin Schulz-FM mit dem Ausschluss aus der Versammlung. FM kam dem durch den Austritt des Nerother Wandervogels aus dem RjB zuvor. 4. Zu den Bundesführerversammlungen hatten besonders die radikalen linken Bünde viele Mitglieder mitgebracht, die sich bei Abstimmungen damit die Mehrheit zu sichern suchten. So entschied Karl Vogt als erster Sprecher des RjB, dass jeder Bund nur noch eine Stimme haben solle. Das aber hatte gravierende Folgen für den RjB, denn zuvor hatten die gemeinsam angereisten Angehörigen eines Bundes untereinander abwägen und abstimmen können, ob ihr Bund eine größere Aufgaben für ein RjB-Projekt wie z. B. Europolis übernehmen könnte. Ab sofort fehlte nun den einsamen Bundesführern die Möglichkeit, sich bei Diskussionen um Veranstaltungen unmittelbar mit ihren Bundesmitgliedern abzustimmen. Deshalb kam es bei Bundesführerversammlungen des Rjb kaum noch zur Planung überbündischer Veranstaltungen. 5. Ein von mir 1970 mitveranstalteter Singewettstreit des RjB auf Burg Lud-

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Gerhard Neudorf

wigstein wurde unterbrochen, als der Nerother Wandervogel sein Kommen ankündigte. Tatsächlich marschierten die Nerother in einem Fackelzug zur Burg herauf und tanzten dann im Meißnersaal einen bayerischen Schuhplattler. Plötzlich ein Aufschrei und ein Mädchen musste ins Krankenhaus gefahren werden. Das Gerücht ging um, FM habe einen Knochen in den Saal geschleudert, der dieses Mädchen traf. 6. Die Verhandlungen um die Finanzzuschüsse des Bundesjugendplans nahmen bei RjB-Bundesführerversammlungen immer mehr Zeit in Anspruch. Als dann Karl Vogt zurückgetreten war und Waldemar Wagner-Wawa, der Kassenwart des RjB, seine Position eingenommen hatte, konnte von lebendigen Projekten kaum noch die Rede sein. Als ich Wawa deswegen kritisierte, meinte dieser, ich solle doch den RjB verlassen und einen hessischen RjB aufbauen. Das tat ich dann auch – es war nach 1967 mein zweiter, diesmal erfolgreicher Versuch. Ich lud dazu 1975 ein, wurde dort bis etwa 1980 der erste Sprecher des Ringes junger Bünde Hessen (RjBH). An Sitzungen des großen Rjb nahm ich danach nur noch selten teil. 7. Wie es zu dem Überbündischen Treffen im Allensbacher Hof 1977 kam, konnte ich nicht mehr herausfinden. Als Teilnehmer des Wandervogel Deutscher Bund (WVDB) an diesem Lager ist mir vielerlei Schönes in Erinnerung, z. B. das Ansingen eines Pfadfinderbundes gegen einen gewaltigen Regen – mit einer Hundertschaft standen sie draußen in Badehosen –, das Singen mit Alexej Stachowitsch-Axi, der Singewettstreit, aber auch der Fahnenklau durch Nerother Wandervögel, wodurch die Gruppe »Argonauten« des Langener WVDB ihren wunderschönen Wimpel verlor, den dann FM voll Stolz Besuchern wie mir auf Burg Waldeck zeigte.

Bundesführerversammlungen, Meißnerseminare und Kontakte vor und nach 1963 Vorbemerkung: Der Ring junger Bünde war das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit herausragender Persönlichkeiten aus den Jungen Bünden im Alter von circa zwanzig bis sechzig Jahren, herausgefordert durch den äußeren Anlass des 50-jährigen Meißnerjubiläums im Jahr 1963. Auf Bundesführertreffen ab 1961 und in den von diesen beschlossenen Meißnerseminaren entfalteten sich ungeahnte organisatorische und geistige Kräfte der bis dahin in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Bünde. Es waren wohl vor allem dann die bereits erwähnten politischen Streitigkeiten, die den Charme der Meißner-Jubiläumszeit um 1963 wieder zum Verschwinden brachten. Im Folgenden soll

Der Ring junger Bünde

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zusammengefasst werden, wie sich die Bünde den größten Höhepunkt ihrer Wirksamkeit nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeiteten. Am 21./22. Oktober 1961 stellten die Bünde fest, »dass wir auf keinen Fall nur ›eine würdige Umrahmung‹ für die Jubiläumsfeier abgeben wollen.« Sie stimmten der Meinung zu, dass die Meißnerformel von 1913 heutzutage allein nicht mehr als gültige Aussage der bündischen Jugend ausreiche.5 Bis 1963 sollten sich die Bünde näher kennenlernen und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Die Bundessatzungen sollten an Peter Plette geschickt werden, um solche Gemeinsamkeiten daraus zu erarbeiten.6 Am 17. und 18. Februar 1962 fand das erste Vorbereitungstreffen der »Führer der Bünde« zur Vorbereitung des Meißnerlagers 1963 auf Burg Ludwigstein statt. Horst Schweitzer schickte am 12. März 1962 ein Kurzprotokoll. Danach bejahten alle Teilnehmer »den Gedanken eines Treffens der bündischen Jugend im Herbst 1963 auf dem Meißner.« Es wurden drei Ausschüsse gebildet: Der erste Ausschuss sollte die Frage prüfen, ob die bündische Jugend von heute eine Aussage zu machen hat und eventuell einige Vorschläge dazu erarbeiten. Zum Ausschuss gehörten Peter Plette, Helmut Benze, Eike Rachow, Hans-Albrecht Pflästerer, Hans Heintze und ich. Der zweite Ausschuss sollte Vorschläge zum Ablauf des Treffens erarbeiten (Programmgestaltung). Zum Ausschuss gehörten Jochen Franke, Karl Oelbermann, Hermann Diehl, Elke Brandes, Burkhard MüllerUsing, Hans-Albrecht Pflästerer. Drittens wurde Horst Schweitzer beauftragt, mit einigen Führern seines Bundes die gesamte Organisation des Treffens in die Hand zu nehmen und mit der Vereinigung Jugendburg Ludwigsstein Kontakt zu halten.7 Beschlossen wurden auf dieser Bundesführerversammlung das Erscheinen eines Jahrbuchs und die Veranstaltung von Meißnerseminaren, als Leiter für letztere wurde ich gewählt. Als Ort wurde wieder Hofgeismar gewählt. Auf diesem Treffen wurde das zweite Treffen der Bundesführer verabredet. Am 22. und 23. September 1962 lud Horst Schweitzer als Bundesführer des Pfadfinderbundes Großer Jäger nach Hofgeismar ein. Sim (DPB) übernahm die Planung des Jahrbuchs der jungen Bünde zum 50. Jahrestag des Hohen Meißner5 Brief von Peter Plette, in: Die Gefährtenschaft (1962). 6 Ebd. 7 Als Vorsitzende des »Hauptausschusses des Meißnertages« nennt Peter Plette (Gefährtenschaft) sich selbst und Jochen Franke. Auch Karl Vogt gehörte dazu. Am 15. 04. 1962 schrieb Peter Plette »an alle Bünde, die ihre Teilnahme und Gestaltung an der Meißnerfeier 1963 zugesagt haben« mit Bezug auf das Protokoll von Horst Schweitzer : »Bekanntlich sind auf dieser Runde drei Ausschüsse gebildet worden, die spezielle Aufgaben zur Vorbereitung des Meißnertages 1963 übernommen haben. Hagal (BduJ), Eike (FG), Hapf (dej), Hans Heintze (Großer Jäger), Gerhard (WVDB) und ich gehören dem Ausschuß an, der versuchen will, eine Formulierung zu finden, die 1963 als eine Aussage über die heutige bündische Jugend gelten kann. – Lustig: Die Mädchen wurden von Horst Schweitzer in der Hofgeismarer Jugendherberge extra untergebracht.«

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Festes, Titel: »Bündische Jugend 1963«. Sim plante zwei Teile: zum einen eine wissenschaftlich, pädagogisch und soziologisch fundierte Einführung in die Grundlagen der heutigen bündischen Jugend und zum anderen eine Selbstdarstellung der Bünde in Wort und Bild, pro Bund bis zu sechs Seiten. Vom 25. bis 27. Januar 1963 fand das erste Meißnerseminar statt. Am 24. Oktober 1962 hatte ich mein erstes »Rundschreiben an die auf dem Treffen in Hofgeismar anwesenden Bundesführer und deren Vertreter« abgeschickt. Ich schrieb dazu: »Es [das Seminar] befasst sich mit drei Themen, die einen Aufriss der heutigen Situation, der wir gegenüberstehen, geben sollen. Sie lauten: 1. Was erwartet die heutige Gesellschaft der Bundesrepublik von der Jugend? 2. Was tut die Gesellschaft im dritten Erziehungsfeld? 3. Verhaltensweisen der Jugend (ihre Reaktion auf 1. und 2.).«8 Die Teilnehmenden mussten sich vorab anmelden und erhielten Materialien zur Vorbereitung. Zudem wurde der genaue Zuschnitt des Themas intensiv diskutiert, u. a. von Horst Schweitzer, Hermann »Menne« Diehl, Dr. Heinz Stettner und Karl Vogt. Renate Rosenau tippte die beiden ersten Vorträge mit Koreferaten vom Band: 1. Referat Prof. Linde: »Was erwartet die heutige Gesellschaft der Bundesrepublik von der Jugend?«, Koreferat von mir ; 2. Referat von Peter Sengling: »Die Verhaltensweisen der Jugendlichen heute, soweit man das genauer fassen und verstehen kann«. Das Protokoll des 1. Meißnerseminars in Hofgeismar wurde erarbeitet von Hannes Falkson, Franziska Heber und Helmut Steckel, der verantwortlich zeichnete. Folgende Schriften wurden zu dem Meißnerseminar von Seiten der Bünde zur Verfügung gestellt: Peter Plette (Gefährtenschaft): Der Jugendbund als Schule politischer Verantwortung; Gerhard Neudorf (WVDB): Falsche Jugendpolitik als Grund der Krise in den Jugendgemeinschaften; Hannes Beck: Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Jugend bis zur Gegenwart, Selbstverständnis und Wirklichkeit der heutigen Verbandsarbeit«; Helmut Reiser (DG): »Jugendsozialarbeit und Jugendpflege in der Bundesrepublik Deutschland«. Am 9. und 10. März 1963 fand die nächste Bundesführerversammlung auf Burg Ludwigstein statt.9 Zwischenzeitlich hatten sich Horst Schweitzer, Menne 8 Dazu die Anmerkungen: 1. Referenten werden gesucht, 2. Wir, Menne, Helmut Reiser, Hermann v. Schroedel und ich verpflichteten uns, ein Positionspapier zu erarbeiten und allen Teilnehmern am 1. Meißnerseminar zur Vorbereitung zuzusenden. Bis zum 20. 11. 1962 sollten die Anmeldungen der Bünde bei mir eingegangen sein, um sich gründlich auf die Themen vorzubereiten. Am 24. 10. 1962 schickte ich meinen ersten Rundbrief an die Bünde heraus. Am 28. 10. 1962 schickte mir Horst Schweitzer einen Brief mit der Anmeldung der Teilnehmer seines Bundes, lehnte meinen Vorschlag ab, die Hann. Mündener Mädchen mit dem Kochen zu beauftragen, benannte den eigenen »Chefkoch«. Schluss seines Briefes: »Allah behüte uns vor Fußvolk!« Gemeint: Die Bünde sollten nur kompetente Vertreter schicken. 9 Beschlossen wurde dabei die Publikation der Bücher »Bündische Jugend 1963« und Elisabeth Korn, Otto Suppert, Karl Vogt (Hg.): Die Jugendbewegung. Welt und Wirkung : Zur 50. Wiederkehr des freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner, Düsseldorf u. a. 1963.

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Diehl, Jochen Franke, Hermann »Sim« Schroeder und Karl Vogt zur Vorbereitung des Meißnertages getroffen. Die Einladung dazu enthielt starke Kritik am Verlauf des ersten Meißnerseminars. Vom 17. bis 19. Mai 1963 folgte das zweite Meißnerseminar in Kronberg/ Taunus zum Thema »Die bündische Jugend heute – eine Selbstdarstellung der Bünde; ihr Tun und ihre Ziele« mit vier Arbeitsgruppen: »Der Lebens- und der Wirkungsraum der bündischen Gruppe«, Leiter Jochen Franke (BDP); »Der Bund«, Leitung: Wolf Schöde (Deutsche Freischar) und Menne Diehl (Großer Jäger und BDP); »Ziele und Weltanschauung«: a) »Haltungsfragen«, Leiterin: Elke Brandes (Bund der unitarischen Jugend), b) »Gestaltungsfragen«, Leitung: Gerhard Neudorf (WVDB); »Das Verhältnis der Jugendbewegung/bündischen Jugend zu Gesellschaft und Staat«, Leiter : Rüdiger Lancelle (Deutsche Gildenschaft). Vom 30. August bis zum 1. September 1963 wurde das dritte Meißnerseminar in Kronberg/Taunus veranstaltet. Hauptergebnis war die Publikation für den Meißnertag »Bündische Jugend 1963«.10 Es gab ein einleitendes Referat von mir über die Jugendbewegung und ihre Stellung zur Gesellschaft. Eine erste AG erarbeitete unter Leitung von Helmut Reiser die oben bereits erwähnte »Grundsatzerklärung Meißner 1963«. Die zweite AG legte unter meiner Leitung einen alternativen Entwurf zum selben Thema vor. Die dritte AG behandelte die Publikation »Bündische Jugend 1963« als das Ergebnis der bisherigen drei Seminare der jungen Bünde. Jochen Franke, ihr Leiter, gliederte dieses Ergebnis in A. Grundhaltungen der bündischen Jugend heute, B. Der Lebens- und Wirkraum der bündischen Gruppe, C. Die Stellung der Jugendbewegung und bündischen Jugend zu Staat und Gesellschaft. Eine vierte AG mit Hajo Broeker an der Spitze formulierte schließlich »Forderungen« und unterteilte ihr Ergebnis in »Grundlagen« und »Folge dieser Thesen«. Das Meißnerfest selbst fand vom 10. bis 14. Oktober statt. Die jungen Bünde brachten das »jahrbuch der bündischen jugend 1963« heraus und entwarfen ein Programm »Meißner-Tag 1963 – Kohtenlager der jungen Bünde«. Auf dem Lager selbst erschien in bescheidener Qualität eine satirische Lagerzeitung »HOME« – unterschrieben von Günter Knitschky, und Roland Eckert (BdJ) gab zur Pressekonferenz am 13. Oktober 1963 ein Flugblatt mit dem Titel »Bündische Jugend und Jugendverbände« heraus. Das Treffen begann am Freitagabend 20.00 Uhr mit einem »Sängerwettstreit der Bünde«; es folgten am Sonnabend jeweils eigene Programme der jungen Bünde. Abendprogramme boten vor allem der BDP, der Nerother Wandervogel, 10 Folgende Personen haben als AG-Leiter fungiert: Jochen Franke, Günter Behrmann, Hans Heintze, Helmut Reiser, Hartmut Müller, Rüdiger Lancelle, Volker Zillmann, Volker Tonnätt und ich.

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die Schwarze Schar, der Wandervogel, Deutscher Bund und der Pfadfinderbund Großer Jäger an. Ein evangelischer Gottesdienst fand am Sonntagmorgen um 8.30 Uhr auf der Hausener Hute statt. Die Predigt hielt Rüdiger Beil von der Evangelischen Jungenschaft 58, unterstützt von deren Chor. Ab 10.00 Uhr veranstalteten die Älteren ein offenes Singen mit Fritz Jöde und um 12.00 Uhr fand dann die große Kundgebung mit der Rede von Helmut Gollwitzer als Höhepunkt statt. Ab 14.30 Uhr servierte das Rote Kreuz für alle ein Mittagessen. Einige Bünde fuhren dann zum Singen an die Zonengrenze; andere hatten eigene Programme, so zum Beispiel der WVDB ein Gespräch über die Jugend beiderseits der Zonengrenze. Am Sonntagabend lud schließlich der BDP um 21.00 Uhr zu einem Kabarettprogramm »Schlaf mein Bund …« ein, während der WVDB am Sonntagabend ein interbündischen Gespräch in der fkk-Jurte durchführte, von dem in meinem Beitrag über den WVDB in diesem Band die Rede ist.11 Am 25. und 26. Januar 1964 versammelten sich die Bundesführer auf Burg Ludwigstein. Zuvor war direkt im Anschluss an das Meißnerfest 1963 eine »Denkschrift zum Meißnertag« von Volker Tonnätt erschienen, worin er den Zusammenschluss von Gruppen und Bünden auf höheren Ebenen empfahl.12 Bei dieser Bundesführerversammlung wurde wohl die Idee geboren, einen Ring junger Bünde zu gründen. Zuvor hatte der RbJ Hamburg am 18./19. 1. 1964 zum Thema »Vorbereitung von Ringgründungen auf Orts- und Landesebene« nach dem Vorbild des RbJ Hamburg norddeutsche Bünde zu einem Treffen eingeladen. Hier war bereits eine überregionale Zusammenarbeit von Bünden be-

11 Die Presse nahm den Meißnertag in allen Facetten zur Kenntnis. So berichtete die FAZ am Montag, den 14. 10. 1963, mit dem Artikel »Die Zukunft lässt sich nicht mit Pathos bewältigen«. Dieser bezog sich auf den Festvortrag von Altbischof Stählin, der gesagt hatte, es gehe der Jugendbewegung um das Heil der Welt«. – »Die Welt« referierte am gleichen Tag die Reden von Gollwitzer und Stählin und würdigte die Absicht, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. In der gleichen Zeitung erschien am 15. 10. 1963 ein Verriss der Meißnertages von Bernd Nellesen: »Bilanz des Meißner-Tages 1913«, in dem die geistige Arbeit der Meißnerseminare nicht erwähnt wurde. Schon am 05. 10. 1963 hatte Bernd Nellesen in der »Welt« festgestellt: »Heute führt kein Weg mehr zum Hohen Meißner zurück.« Die Jungen Bünde seien »Traditionsgemeinschaften ohne Zukunft«, sie glaubten (immer noch) »an ein autonomes Jugendreich«. Daneben stand ein Aufsatz von Werner Helwig, der das Lebendige und Spontane jugendbewegten Lebens mit seiner Wirkung im Privaten würdigte. – Am 15. 10. 1963 druckte die FAZ eine Leserzuschrift von »Professor a. D. Adamheit, Celle« ab, der den Deutschen Bundesjugendring wegen dessen Absage an die Jugendbewegung geißelte. – Leserbriefe erschienen auch in der »Welt« vom 01. 11. 1963 von Dierk Krause (BDP Lübeck) und von mir. – Die »Oberhessische Presse« aus Marburg stellte fest, der Deutsche Bundesjugendring sei zwar ferngeblieben, sende aber »Glückwünsche zum Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner«. Aus der Vorstellungswelt der Freideutschen ergebe sich »kein Ansatzpunkt für heutige Aufgaben«. – Die »Kasseler Post« titulierte am 14. 10. 1963 ihren Bericht vom Meißnerlager »Mehr als ein Erinnerungstreffen«. 12 Volker Tonnätt: Denkschrift zum Meissnertag 1963, Hamburg 1963.

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sprochen worden. Ein Rundschreiben von Ulrich Rauber berichtete vom Zusammenschluss der Bündischen Union. Zum vierten Meißnerseminar vom 13. bis 15. März 1964 auf Burg Ludwigstein hatte Karl Vogt Helmut Gollwitzer eingeladen, der aber absagte. Das Protokoll des Seminars, das nur dreiundzwanzig Teilnehmer aufführt, berichtet von drei Arbeitsgemeinschaften: »Thesen zur örtlichen Zusammenarbeit der jungen Bünde in ›Ringen bündischer Jugend‹« unter Leitung von Volker Tonnätt, »Thesen zur Älterenschaft der Bünde« unter Leitung von Gerhard Neudorf und »Thesen zur Arbeit der Älterenkreise (Jungmannschaften) der jungen Bünde« unter Leitung von Jochen Franke. Das fünfte Meißnerseminar fand vom 5. bis 7. Juli 1964 im Fritz-Emmel-Heim des BDP in Kronberg/Taunus unter dem Thema: »Ostkontakte der Bünde – Probleme und Möglichkeiten« statt. Verantwortlich waren Jochen Franke, Eike Rachor von den Fahrenden Gesellen, Gerhart Schöll und Johannes Groß von der Deutschen Freischar sowie Rüdiger Lancelle. Der BDP legte dazu eine Dokumentation vor, die den eben zuvor gescheiterten Versuch der BDP-Landesmark Hessen dokumentierte, eine FDJ-Delegation in die Bundesrepublik einzuladen. Der hessische Innenminister hatte die bereits erfolgte Einladung der FDJ-Delegation verboten.

Eckard Holler

Linke Strömungen in den Jungenschaften in der dj.1.11-Tradition nach 1945

Nach 1945 versuchte Eberhard »tusk« Koebel, zuerst aus der Emigration, später aus Ostberlin, mit »Londoner« und »Berliner Briefen« sowie mit einer intensiven persönlichen Korrespondenz Einfluss auf die in Westdeutschland neu entstehenden Jungenschaften in der dj.1.11-Tradition zu nehmen, als wenn er noch Bundesführer der dj.1.11 wäre bzw. wieder werden wollte. In der Organisationsfrage vertrat er die kommunistische Position, in der SBZ/DDR nur die Freie Deutsche Jugend (FDJ) zuzulassen, die mit dem Argument begründet wurde, die FDJ habe die »Splitterbündelei« der alten Jugendbewegung überwunden und mit der Herstellung der »Jugendeinheit« auf antifaschistischer und prosozialistischer Basis einen zeitgemäßen fortschrittlichen Jugendverband geschaffen, in dem alle Richtungen der Jugend, auch die bündische Jugend, ihren Platz finden könnten. Tusk ging so weit, für den sozialistischen Teil Deutschlands das Verbot einer Wiedergründung seines dj.1.11-Bundes zu unterstützen. Anders sah er die Situation im »kapitalistischen« Westen Deutschlands. Hier sollte die dj.1.11 die Speerspitze der fortschrittlichen Jugendverbände sein und sich eng an die FDJWest anschließen. Mit seiner FDJ-nahen Jungenschaftskonzeption stieß tusk jedoch auf einhellige Ablehnung, sodass seine anfängliche Autorität schwand und Ernüchterung über seine mögliche Rolle beim Neuaufbau der Jungenschaftsbewegung einkehrte. Dennoch blieb in den Jungenschaften etwas von dem linken politischen Anspruch virulent, mit dem sich tusk und Teile der dj.1.11 vor 1933 gegen die Nazis gewandt und in der Illegalität den Nationalsozialismus überstanden hatten. Verbreitet war nach 1945 insbesondere eine antifaschistische und antimilitaristische Grundstimmung. Die Parole »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg« drückte auch eine damals in der Bevölkerung verbreitete Haltung aus. In der Jungenschaft waren dementsprechend antimilitaristische Liedzeilen wie etwa »Nie woll‹n wir Waffen tragen« beliebt, der Refrain des pazifistischen Bundesliedes »Im blauen Hemd« der SPD-nahen Jugendorganisation »Die Falken« aus den 1920er-Jahren.

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Eckard Holler

Politisches Engagement Ein charakteristisches Merkmal des linken politischen Engagements der Jungenschaften war der Anspruch, sich keiner Parteidoktrin unterzuordnen, sondern »autonom« zu bleiben und sich eigenständig einzumischen, wenn die Interessen der Jugend betroffen waren. Dieses von den Jungenschaften beanspruchte »politische Engagement« war für Jugendverbände neu und führte zu heftigen Kontroversen in den eigenen Reihen, die bis heute nicht beigelegt sind.1 Begründet wurde es mit dem Autonomie-Postulat aus tusks Programmschrift »Der gespannte Bogen« von 1931. Die Gegenseite sprach von einer unzulässigen politischen Indoktrination minderjähriger Jugendlicher. Die kontroverse Diskussion antizipierte in gewisser Weise den Streit um das »allgemeinpolitische Mandat« der Studenten, das der Asta in den 1960er-Jahren in Anspruch nehmen wollte und das ihm von der Universitätsverwaltung nicht zugestanden wurde. Der Streit ging in beiden Fällen um die Frage, ob die Jugend bzw. die Studentenschaft das Recht habe, sich politisch in die eigenen Angelegenheiten einzumischen, und zwar unabhängig von politischen Parteien oder übergeordneten Gremien. Dass es sich bei diesem Streit nicht nur um interne Differenzen handelte, zeigt u. a. die Diskussion über die Herabsetzung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre oder über das Wahlrecht mit 16 Jahren, in der es ebenfalls um die Frage der politischen Mündigkeit von Jugendlichen geht. Der Anspruch auf »Autonomie« war ein charakteristisches Merkmal der Aktivitäten der Jungenschaften und bestimmte auch ihr politisches Engagement. Da die in den Jungenschaftshorten sozialisierten jungen Leute auch als Erwachsene häufig am Anspruch der »Unabhängigkeit« festhielten, fielen sie in ihren politischen Gruppen bzw. in den Parteien häufig als »Vor-« und »Querdenker« auf. Auch wurde aus der Jugendbewegung heraus häufig die politische Richtung eines »unabhängigen Sozialismus« (eines »dritten Weges«) verstärkt. Anzumerken ist allerdings, dass es auch Jungenschaften gab, die in orthodoxer tusk-Nachfolge mit der KPD bzw. DKP sympathisierten und ihre Mitglieder zum Parteieintritt motivierten.

Unabhängiger Kommunismus, Volkskongress und »Ohne-mich-Bewegung« Berichtet wird, dass die Idee eines »unabhängigen Kommunismus« in den ersten Jungenschaftsgruppen nach 1945 verbreitet war und dass Michael Jovy, der die 1 Vgl. Günter Behrmann: Brief an Eckard Holler vom 30. 01. 2010, in: Rundschreiben des Mindener Kreises, Nr. 12 (01. 05. 2010), S. 21 – 26.

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Jungenschaft in Köln und das Jungenschaftszentrum Bottmühle aufbaute, in der Öffentlichkeit als führender Vertreter dieses unabhängigen Kommunismus galt.2 Einige Jungenschaftsführer, unter ihnen Arno Klönne, beteiligten sich 1950 an der Gründung einer titoistischen Unabhängigen Arbeiterpartei Deutschlands (UAPD) und schlossen sich, als diese zerfiel, dem linken Flügel der SPD an. Wolfgang Abendroth in Marburg, der selbst aus dem vom Wandervogel beeinflussten Bund freier sozialistischer Jugend der 1920er-Jahre stammte, hatte in den 1950er-Jahren für die »Älteren« aus den Jugendbünden eine Auffangfunktion wie später Ernst Bloch in Tübingen.3 1961 beteiligte er sich an führender Stelle an der Gründung der Sozialistischen Fördergesellschaft zur Unterstützung des aus der SPD ausgeschlossenen SDS und nahm seinen eigenen SPD-Ausschluss dafür in Kauf. Jungenschaftsgruppen beteiligten sich nach 1945 an den kommunistisch gesteuerten Aktivitäten, die Spaltung Deutschlands zu verhindern, u. a. an der Volkskongressbewegung 1947 bis 1949, und nahmen trotz Behinderungen am Deutschlandtreffen der FDJ 1950 und an den Weltfestspielen der Jugend 1951 in Ostberlin teil. Besonders engagiert waren sie in der »Ohne-mich-Bewegung«, die sich gegen die Wiederbewaffnung richtete. Unter anderem nahmen sie an der »Essener Friedenskarawane« teil, bei der am 11. Mai 1952 Philipp Müller, der FDJ- und KPD-Mitglied war, von der Polizei erschossen wurde. Arno Klönne schätzt ein, dass die Linkstendenz in der Jungenschaft erst in den 1950er-Jahren zurückgedrängt wurde, als mit der Remilitarisierung und der kapitalistischen Restauration ein militanter Antikommunismus geschaffen wurde, der im Verbot der FDJ am 26. Juni 1951 und der KPD am 17. August 1956 kulminierte. Das politische Engagement hatte seinen Schwerpunkt in der Gegnerschaft zur neuen militärischen Aufrüstung der BRD und war dadurch partiell mit der kommunistischen Deutschlandpolitik konform. Es gab jedoch gleichzeitig auch eine Einsatzbereitschaft gegen die sowjetische Expansionspolitik, die nach 1945 Osteuropa zu einem sowjetischen Einflussbereich und aus der SBZ die DDR gemacht hatte und deren »Sozialismus« innerhalb der Linken umstritten war. Betroffenheit löste in den Jungenschaften, wie u. a. aus der Schwäbischen Jungenschaft berichtet wurde, 1956 der Ungarnaufstand aus, ohne dass es zu konkreten Solidaritätsmaßnahmen kam. Ein Novum war jedoch die Protestresolution, mit der gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn und den Überfall westlicher Truppen auf Ägypten protestiert wurde. Fünf Jahre später

2 Brief von Arno Klönne vom 20. 06. 1968 an den Verfasser. 3 Zu Abendroth siehe Uli Schöler : Wolf[gang] Abendroth, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 43 – 54.

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beteiligten sich die Jungenschaftler als »Kofferträger« an Hilfsaktionen für die algerische Befreiungsfront.4

Neugründung der Zeitschrift »pläne« Die wichtigste politische Initiative des linken Flügels der bündischen Jugend der 1950er-Jahre war die Neugründung der Zeitschrift »pläne« in den Jahren 1956/ 57, mit der die damaligen Herausgeber (Hermann Karl Tjaden, Arno Klönne, Jürgen Seifert) die Absicht verbanden, auf der Basis einer Volksfrontpolitik die noch vorhandenen oder versprengten linken oder linksliberalen Ansätze in den Jungenschaftskreisen ¢ einschließlich bündisch geprägter konfessioneller Gruppen ¢ auf ein direktes linkes Engagement hinzuführen.5 Die »pläne«Zeitschrift war – auch in ihrer grafischen Aufmachung (Format, Logo, Titelgrafik) – eine Fortsetzung der »pläne«-Zeitschrift, die Eberhard »tusk« Koebel 1932/33 herausgegeben hatte, um die damalige bündische Jugend zum antifaschistischen Aktionsbündnis mit der KPD zu gewinnen.6 In den 1960er-Jahren wurde sie zu einem Sprachrohr und Sammelpunkt der Ostermarschbewegung und der Kampagne für Demokratie und Abrüstung, hielt aber immer noch losen Kontakt zu den Jungenschaftskreisen und beeinflusste die dort neu einsetzenden Diskussionen über die Notwendigkeit eines politischen Engagements von Jugendlichen auf außerparlamentarischer Ebene (siehe dazu den Beitrag von Erdmann Linde im vorliegenden Band). Von den Beziehern der »pläne«-Zeitschrift kamen in den 1960er-Jahren ca. 800 bis 900 aus bündischen und jungenschaftlichen Gruppen; die meisten von ihnen waren 1967/68 an den Aktionen der APO und der antiautoritären Bewegung beteiligt.7 Erst in den 1970erJahren verlor der pläne-Verlag seinen Bezug zur bündischen Jugend, entwickelte sich jedoch ¢ nun stärker an SDAJ und DKP orientiert ¢ im Verlauf einer stürmischen Aufwärtsentwicklung zu einem bedeutenden Unternehmen in der alternativen und linken Musikszene.

4 Eckard Holler : Peter Rohland. Volksliedsänger zwischen bu¨ ndischer Jugend und Folkrevival, in: puls, 2005, Nr. 24, S. 4 – 42, hier S. 14. – Siehe auch Klaus-Peter Möller: Bündische Kofferträger in der Endphase des algerischen Befreiungskampfes 1961/62, in: Fritz Schmidt (Hg.): »Und was steuern wir an?« (Arbeitstitel), Berlin 2014 (im Druck). 5 Mit der ersten Ausgabe 1959 trat Michael Vester in den Herausgeberkreis der »pläne«-Zeitschrift. Er wurde in den 1960er-Jahren im SDS und in der deutschen und US-amerikanischen Studentenbewegung aktiv. 6 Gabriele Koebel, die Witwe von tusk, genehmigte in einem Schreiben an Kay Tjaden die Verwendung des Titels »pläne«. 7 Brief von Arno Klönne vom 20. 06. 1968 an den Verfasser.

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Walter »tejo« Scherf: Rückzug auf den ästhetischen Widerstand Einen bedeutenden, bis in die Gegenwart weiterwirkenden Einfluss auf die Gestaltung des kulturellen Milieus der Jungenschaften nach 1945 hatte die schriftstellerische Arbeit von Walter »tejo« Scherf zwischen 1946 und 1957.8 Umstritten sind jedoch seine politischen Absichten und Wirkungen, da er – im Gegensatz zu Michael Jovy und Arno Klönne – das direkte politische Engagement als Teil des Gruppenlebens ablehnte und stattdessen die Jungenschaft in die magische Welt der Märchen und Sagen entführte. Die ästhetische Haltung, die er vermittelte, war kulturkritisch ausgerichtet. Sie immunisierte gegen die destruktiven Auswirkungen der Wirtschaftswunderära und bot, wie Diethart Kerbs beobachtete, der »Widerspenstigkeit derer, die die gesellschaftliche Entwicklung jener Jahre missbilligten, ohne sie immer durchschauen zu können, eine emotionale Stütze […] Der Intention nach ging es […] um die Einübung ins Selbstgestalten und die Verlebendigung dichterischer Formen und Gehalte. […] Die Art dieser Horten-Kultur lässt sich charakterisieren durch: Empfindsamkeit, differenziertes Denken, Kargheit des äußeren Aufwands, innere Redlichkeit, künstlerische Disziplin.«9

Die jungenschaftliche Linke warf tejo Ästhetizismus und Weltflucht vor und mokierte sich über seinen Kult des »Uralten«.10 Dagegen spricht, dass tejo keineswegs die Anpassung an die bestehenden Verhältnisse propagierte, sondern angesichts der Ideologisierung des öffentlichen Lebens unter der AdenauerRegierung der Politik insgesamt mit gewissem Recht misstraute und eine ästhetische Widerständigkeit für eine tragfähigere Basis von Opposition hielt. Die Jungenschaft sollte im »Mastkorb sitzen und spähen«, wie ein Seismografdie feinen Erschütterungen der geistigen Welt wahrnehmen und sich dazu eine eigene, nicht bereits vorgegebene Meinung bilden.11 Scherfs Auffassungen lagen auf einer Linie mit einer existenzialistischen Gesellschaftskritik und trafen sich mit dem originellen Versuch von Johannes Ernst Seiffert, einen »HeideggerMarxismus« als Weltanschauung für Jugendbewegte zu entwickeln.12 Ungeachtet der Unterschiedlichkeit des intellektuellen Niveaus in den Gruppen lässt sich die 8 Siehe zu Walter Scherf: Karl Düsseldorf, Doris Werheid: Walter Scherf, in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 3), S. 601 – 610. 9 Diethart Kerbs: Zur Geschichte und Gestalt der deutschen Jungenschaften, in: Eckard Holler (Hg.): »Um seine Jugend nicht betrogen sein …«, Berlin 2011, S. 99 – 124. 10 Vgl. Jürgen Seifert: Heimliche Gärten aus Recklinghausen geliefert …, in: pläne (1958), Nr. 2/3, S. 6 – 7. 11 Walter Scherf: Seismograph, in: Unser Schiff (1947), Nr. 11/12/13, nachgedruckt in: Holler, Jugend (Anm. 9), S. 87 – 88, hier S. 88. 12 Johannes Ernst Seiffert (1925 – 2007) stufte tusk als Philosophen ein, vgl. Ders.: tusk für erwachsene, Kassel 1988.

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Grundintention von tejos Jungenschaftspädagogik auf die Formel der Opposition gegen den Konformitätsdruck der Wirtschaftswunderepoche bringen. Der nach Italien reisende Bundesbürger galt in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre so sehr als Inbegriff des »Spießers«, dass manche Gruppen Italien als Fahrtenziel mieden und stattdessen auf Lappland und Spanien, Südfrankreich oder vor allem auf Griechenland als Großfahrtziele auswichen. Viele verstanden sich in den 1950er-Jahren als der »skeptischen Generation« zugehörig, bekannten sich zur Vorurteilslosigkeit, zur »Überwindung des weltanschaulichen Terrorismus« und zum freien Denken und sahen es als eigentliche Aufgabe der Jungenschaft an, im Stile einer permanenten Revolution verkrustete Verhaltensweisen zu durchbrechen.13 Zudem sei die Fähigkeit zu entwickeln, »in jedem Augenblick die Welt anzuschauen, bereit, die Urteile, die man im vorhergehenden Moment gefällt hat, unter dem Einfluss der neuen Beobachtungen zu widerrufen«, die schon tusk im »Gespannten Bogen« von den »Selbsterringenden« gefordert hatte.14 Der in diesem Sinne abgefasste Nachruf von Gerhard Rasche-bim auf den 1955 in Ostberlin gestorbenen Eberhard »tusk« Koebel galt vielen bis in die Mitte der 1960er-Jahre als eine überzeugende Interpretation des jungenschaftlichen Selbstverständnisses.

Distanz zum Meißnertag 1963 In den autonomen Jungenschaften gab es 1963 Vorbehalte gegen die Teilnahme am 50. Meißner-Jubiläum. Im Vorfeld des Jubiläums hatten sich die aktiven Hortenführer und führenden Repräsentanten der Deutschen Jungenschaft e. V. in Minden, Hagen, Detmold, Berlin, Karlsruhe und auf Burg Waldeck miteinander abgesprochen und entschieden, nicht als Bund teilzunehmen.15 Begründet wurde die Nichtteilnahme mit der konservativen und rechtslastigen Einstellung eines Teils der teilnehmenden Gruppen. Mit ihnen wollte man nicht gemeinsam öffentlich auftreten. Man rechnete sich selbst zum progressiven Flügel der bündischen Jugend und war sich bewusst, dass sie sich in einem tief greifenden Umbruch befand und noch keine gemeinsame Programmatik besaß, die man 13 Vgl. Helmut Schelsky : Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957. – Gerhard Rasche-bim: tusk – ein wendepunkt, in: feuer 1956, Nr. 19, nachgedruckt in: Holler : Jugend (Anm. 9), S. 89 – 92, hier S. 92. 14 Rasche, tusk (Anm. 13), S. 90. – tusk: Der gespannte Bogen (1931), in: Eberhard Koebeltusk: Gesammelte Werke, Bd. 6: Zeitschriftenaufsätze Bd. 1, Edermünde 2002, S. 58 – 95, hier S. 65. 15 Siehe den Briefwechsel zwischen Eckard Holler-zeko, Dieter Strobel, Jürgen Koester-glau und Jochen Zenker im Privatarchiv des Verfassers. – Siehe auch: Rundbrief »d.j.e.v. – spitzel« vom 01. 06. 1963.

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der Öffentlichkeit hätte präsentieren können. Nur der dj.1.11-Hortenring nahm als eigenständiges Jungenschaftsnetzwerk mit einer linken Orientierung unter Vorbehalt am Meißner-Treffen teil. Mit Ostermarsch-Liedern sorgte er für gezielte linke Provokationen und verließ das Lager unter Protest, als der altvölkische Vertreter des Österreichischen Wandervogels seine Rede mit »Heil« beendete.16 Die Gesamtverantwortung für das 50-jährige Meißner-Jubiläum 1963 übernahm der Bund deutscher Jungenschaften (BdJ). Er war mit ausgesuchten Gruppen und einem akademischen Braintrust erschienen und »rettete« bei den Pressekonferenzen mit einer staatsloyalen, grundgesetzkonformen, pädagogischen Jugendbundkonzeption auch das Bild der übrigen Bünde. Vom dj.1.11Hortenring wurde diese Position jedoch als ein zu weitgehendes Arrangement mit der Gesellschaft und letztlich als »Verrat an der Jugend« betrachtet, da diese – so im dj.1.11-Brief von Februar 1964 – ein »lebendiger Entwurf sei, der über das Bestehende hinausweist.«17

Die »Turmgespräche« im Jungenschaftsheim Baslertorturm in Karlsruhe-Durlach Im Jungenschaftsheim Baslertorturm in Karlsruhe-Durlach folgte Anfang der 1960er-Jahre auf den Jungenschaftskreis um Otto Hofmann-otl, Wolfram Wettling-wollam und Peter Volk die aus einem Stamm des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP) entstandene Jungenschaft um Axel Hauff-trombu und Eckard Holler-zeko. Sie verstand sich als zur intellektuellen Jugend ihrer Zeit zugehörig, hatte Verbindung zu einer Reihe von Intellektuellen und Künstlern wie Jan Weber, Herbert Heckmann, Pit Beck, Arno Klönne, Jochen Zenker und Peter Rohland und besaß Kontakte zur Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) und zum Atelier von Peter Bertsch. Durch die dem Kreis angehörenden Studenten entstand eine Verbindung zur Studentenbewegung an den Universitäten Heidelberg und Tübingen. Ab 1963 wurde die Zeitschrift Turmgespräche herausgegeben und es wurden »Turmgespräche« mit Publizisten, Schriftstellern und engagierten Zeitgenossen veranstaltet. Behandelt wurden politische und ästhetische Themen, u. a. die Meinungsmanipulation der Bild-Zeitung, die Interpretation moderner Lyrik (u. a. von Paul Celan), neue Arbeiten des Karlsruher Schriftstellers Walter Helmut Fritz, die moderne Architektur von Le 16 Kerbs: Geschichte (Anm. 9), S. 113. 17 Jürgen Reulecke: Der Hortenring im Ruhrgebiet, in: Eckard Holler (Hg.): »Hier gibt es Jungen, die nicht einmal ein eigenes Bett haben«. Tusks KPD 1932 und die jungenschaftliche Linke nach 1945 (= Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis; 6), Berlin 2012, S. 103 – 112, hier S. 112.

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Corbusier, die Gesellschaftskritik der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, der Auschwitz-Prozess in Frankfurt sowie das politische Engagement von unten in Arbeitskreisen kritischer Bürger. Mit Arno Klönne und Hannelies Schulte wurde über das Pro und Contra einer Beteiligung am Ostermarsch der Atomwaffengegner diskutiert und mit Harry Pross – brieflich – über die Mitschuld der Jugendbewegung am Nationalsozialismus gestritten. Es blieb jedoch nicht nur bei der theoretischen Beschäftigung mit politischen Fragen. 1963 verteilte die Jungenschaft zur Paczensky-Affäre, in der es um die Aufklärung der »Spiegel«Affäre von 1962 ging, ein Flugblatt an den Karlsruher Gymnasien, das die Frage stellte, wie lange es noch eine freie Meinungsäußerung geben werde, und das den Jungenschaftlern, die dort Schüler waren, Verweise der Schuldirektoren einbrachte. 1964 beteiligten sich einige Jungenschaftler erstmals am Ostermarsch in Baden. Ein Artikel, in dem das Gesellschaftsverständnis des Führungskreises des BdJ mit einer angreifbaren Formulierung kritisiert worden war, löste eine Auseinandersetzung zwischen dem Verfasser und der BdJ-Führung aus, die mit der geforderten »Entschuldigung« nicht beendet war, sondern über Jahre weitergeführt wurde und die politische Spaltung der bündischen Jugend in der 68erBewegung vorwegnahm. Die Zeitschrift Turmgespräche hatte nur eine Auflage von fünfundzwanzig bis fünfzig Exemplaren, wurde jedoch über den engeren Kreis der Bezieher hinaus viel beachtet. Die Auseinandersetzung mit dem Führungskreis des BdJ führte sogar zu einer »Kuckucksnummer« der Turmgespräche, in der der Stil der Karlsruher Zeitschrift parodiert und diese in großer Auflage in der bündischen Szene verteilt wurde.18 Die insgesamt fünfzehn Hefte gewähren einen guten Einblick in den Prozess der »Politisierung«, der die Mitglieder eines zunächst unpolitischen »bürgerlichen« Jungenschaftskreises von 1963 bis 1968 Schritt für Schritt zu Anhängern der 68er-Bewegung und der politischen Linken werden ließ.19 Die Veränderung der politischen Einstellung spiegelte sich auch in der Veränderung der Schriften, die als »kanonisch« galten und Fahrtenlektüre waren. Dazu gehörte die Schrift »Rebellion der Jungen« von Kay Tjaden, die über das linke politische Engagement der dj.1.11 vor 1933 und über die Rolle der dj.1.11 im Jugendwiderstand informierte, aber auch der Essay »Der destruktive Charakter« von Walter Benjamin und der Aufsatz »Essay als Form« von Theodor W. Adorno.20 1964 wurde

18 Die Ausgabe der Turmgespräche Nr. 7 (07. 08. 1964) wurde von einer anonymen Redaktion als Persiflage hergestellt und in der bündischen Szene verteilt. Vermutet wurde dahinter der BdJ. 19 Das Archiv für soziale Bewegungen in Freiburg interessierte sich aus dem genannten Grund für die »turmgespräche«. 20 Kay Tjaden: Rebellion der Jungen. Die Geschichte von tusk und von dj.1.11, Frankfurt a. M. 1958. – Walter Benjamin: Der destruktive Charakter, in: ders.: Illuminationen, Frankfurt

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die Philosophie von Ernst Bloch entdeckt und als so wesensverwandt empfunden, dass seine »Tübinger Einleitung in die Philosophie« auf der Griechenlandgroßfahrt im Sommer 1964 Fahrtenlektüre war und seine Philosophie als »Jungenschaftsphilosophie« gelesen wurde.21 Blochs Lehre von der Invariante der Richtung der Weltgeschichte und der in ihr wirkenden »Träume vom besseren Leben«, die realisierbar seien, entsprach der eigenen Aufbruchsstimmung der1960er-Jahre.22 Auch seine Kritik an der Jugendbewegung wurde übernommen, insbesondere seine These – die schon tusk 1932 vertreten hatte –, dass sich die Jugendbewegung der Arbeiterbewegung anschließen und im Sozialismus münden müsse.23 Während die Schriften von Benjamin, Adorno und Bloch vor allem von den älter gewordenen Jungenschaftlern gelesen wurden, beschäftigten sich die Horten mit den Theaterstücken »Nacht mit Gästen« von Peter Weiß und »Die Ausnahme und die Regel« von Bert Brecht und führten diese Stücke erfolgreich öffentlich auf.24 Die Hortenzeit endete dann 1966. Eine Weiterführung wurde von der AG Baslertorturm versucht und sie beteiligte sich 1967 an der Gründung des »Komitees Notstand der Demokratie« in Karlsruhe. Die politischen Aktivitäten, insbesondere auch die Aufnahme von Jugendlichen, die auf Trebe waren, führten jedoch zu einer Abmahnung durch die Stadt Karlsruhe als der Vermieterin des Gebäudes und schließlich zur Kündigung zum Jahresende 1968. In der gegen die Kündigung gerichteten Aktion wurde das Jugendheim zum »1. Antiautoritären Jugendheim Roter Turm« erklärt und für die gesamte Jugend der Stadt geöffnet. Dagegen begann die NPD in Karlsruhe eine Kampagne unter dem Slogan »Die Kommune steht auf in der Residenz des Rechts«, in deren Verlauf es zu Überfällen auf den Turm und auf die dort verkehrenden Jugendlichen kam und sogar auf den Turm geschossen wurde. Am 28. Mai 1969 wurde das Jugendheim in einer Polizeiaktion belagert und schließlich behördlich geschlossen, weil es, wie in der Polizeiverfügung formuliert wurde, »als Zentrum

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a. M. 1961, S. 310 – 312. – Theodor W. Adorno: Essay als Form, in: ders.: Noten zur Literatur, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1961, S. 9 – 49. Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1964. Ders.: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959, S. 16. Vgl. das Kapitel »Anfang, Programm der Jugendbewegung«, in: Ernst Bloch: Prinzip (Anm. 22), S. 683 – 687. »Nacht mit Gästen« von Peter Weiß wurde Ostern 1964 von der Deutschen Jungenschaft aus Karlsruhe-Durlach beim Treffen auf der Burg Steinegg bei Pforzheim aufgeführt; siehe Schwarze Tanne 18 (Mai 1965), S. 7. Das Stück war in Akzente 10 (1963) vom August 1963, S. 436 – 452 abgedruckt worden. – Die Aufführung von »Die .Ausnahme und die Regel« von Bert Brecht erfolgte bei der 3. Karlsruher Spielbegegnung am 13. 10. 1965; siehe Badische Neueste Nachrichten vom 15. 10. 1965.

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und Ausgangsort für die Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und für das Begehen strafbarer Handlungen genutzt wurde.«25

Die Festivals auf Burg Waldeck von 1964 bis 1969 Einen offen sichtbaren und von ihren Initiatoren auch positiv gewerteten Bezug zur bündischen Jugend hatten die Festivals auf Burg Waldeck im Hunsrück von 1964 bis 1969.26 Nicht nur die Theoretiker und Organisatoren dieses Festivals, u. a. Diethart Kerbs, Rolf Gekeler, Jürgen Kahle, Jürgen Jekewitz, Peer Krolle, Lothar Walser und Jan Weber, sondern auch ein Teil der maßgebenden Sänger und Musiker, u. a. Peter Rohland, Hanno Botsch, Hein und Oss Kröher, Walter Moßmann, Christof Stählin und Franz-Josef Degenhardt, waren Mitglieder in autonomen Jugendbünden gewesen und kannten sich bereits. Zudem war der Ort des Festivals, die Burg Waldeck, ein traditionelles »jugendbewegtes« Terrain. Schon in den 1920er-Jahren war sie Zentrum des Nerother Wandervogels gewesen, von der Hitlerjugend 1935 enteignet, aber nach 1945 an ihre ursprünglichen Besitzer zurückgegeben worden. Gleichwohl waren die Waldeck-Festivals von Anfang an keine Manifestationen der bündischen Jugend (wie der MeißnerTag von 1963) in ihren traditionellen Formen, sondern Veranstaltungen, die von der linken Studentengeneration der 1960er-Jahre getragen waren und sich folgerichtig auch parallel zur Studentenbewegung entwickelten. Sie hatten eine bedeutende Funktion für die Entwicklung des »neuen deutschen Liedes« sowie den Kontakt mit der angloamerikanischen Folksongbewegung und gaben entscheidende Anregungen für die alternative Musikszene der 1970er- und 1980erJahre. Aus der Sicht der bündischen Jugend wurden die Waldeck-Festivals allerdings ambivalent beurteilt. Von den progressiven bündischen Gruppen wurden sie aktiv unterstützt, von den traditionellen Gruppen jedoch als eine nicht zur Jugendbewegung passende Konsumveranstaltung abgelehnt und vonseiten des Nerother Wandervogels sogar militant bekämpft.27 Das hing damit zusammen, dass die Öffnung gegenüber den sozialen, kulturellen und politischen Bewegungen der Gegenwart nicht nur als Chance, sondern auch als Gefährdung der eigenen Arbeit gesehen wurde, da sie den Schwerpunkt des Interesses vieler Jugendlicher auf das gesellschaftspolitische Engagement verlagerte, sodass für eine pädagogische Tätigkeit in der Altersgruppe der Zwölf- bis 25 Siehe Eckard Holler : Der Rote Turm in Karlsruhe-Durlach 1968/69, in: ders.: Jungen (Anm. 17), S. 83 – 90. 26 Siehe dazu den Beitrag von Oss Kröher in diesem Band. 27 Die Horten der Baslertorturm-Jungenschaft aus Karlsruhe waren beim ersten WaldeckFestival 1964 als Helfer bei der Einlasskontrolle tätig. Für sie war das Waldeck-Festival der Ersatz für die früheren bündischen Pfingstlager.

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Siebzehnjährigen, auf der die Jungenschaften aufbauten, nicht nur die Bereitschaft, sondern auch das Verständnis verloren ging.

Der jungenschaftliche Anteil an den Waldeck-Festivals Aus der Rückschau betrachtet, verdient der Anteil der Jungenschaften, die sich in den 1950er-Jahren auf Burg Waldeck angesiedelt und Hütten gebaut hatten, am Entstehen des Waldeck-Festivals eine besondere Erwähnung. Als das Festival beschlossen wurde, gab es zwar auf der Waldeck keine Jungenschaften mehr – der »Studentische Kreis in der ABW«, der Organisator des Festivals wurde, bestand jedoch aus Studenten und jungen Wissenschaftlern, die aus der Jungenschaft kamen. Das gab den Aktivitäten dieses Kreises eine besondere Note. Die Beschäftigung mit dem Neomarxismus, die Absicht, nach Polen zu fahren und etwas zur Versöhnung mit dem östlichen Nachbarn zu tun, schließlich die Festival-Idee zeigen das Anspruchsniveau, von dem damals ausgegangen wurde. Insbesondere die Idee, auf dem Wiesengelände der Burgruine Waldeck eine internationale Veranstaltung zur Neubelebung des deutschen Chansons durchzuführen, die sich im intellektuellen Anspruch mit den Tagungen der Gruppe 47 messen konnte, beweist ein starkes Selbstbewusstsein, das der alten dj.1.11 eigen, für die übrige Jugendbewegung jedoch eher untypisch war. Die Festival-Idee war ein Griff nach den Sternen, der seinen Ursprung im Selbstverständnis der autonomen Jungenschaften hatte und einer leistungsorientierten und künstlerisch ambitionierten Elite entstammte, die sich zu besonderen Leistungen verpflichtet fühlte. Die Erfolgsgeschichte der Festivals gab den Initiatoren Recht, auch wenn nicht – wie beabsichtigt – das »deutsche Chanson«, sondern das »deutsche politische Lied« neu entdeckt und verbreitet wurde. Die stets recht hoch liegende Messlatte brachte der Jungenschaft den Vorwurf des »Elitefimmels«28 ein, hat sie aber auch dazu motiviert, Neues zu wagen und Avantgarde zu sein. In der bündischen Szene führte der jungenschaftliche Ehrgeiz zu ersten Plätzen bei Singewettstreiten und Theaterbegegnungen. Bemerkenswert daran ist, dass der elitäre Anspruch so verinnerlicht wurde, dass er auch nach dem Ausscheiden aus dem Jugendbund erhalten blieb und vielfach lebensbestimmend wurde, was sich insbesondere mit den vielen wissenschaftlichen, aber auch anderen beruflichen Karrieren ehemaliger Jungenschaftler belegen lässt. Dass die Festivalinitiatoren, wie schon Oss und Hein Kröher bemerkten,29 aus 28 Harry Pross: Umstrittener Führer der Jugendbewegung, in: Die Zeit 1963, Nr. 6 (08. 02. 1963). 29 Oss und Hein Kröher : Rotgraue Raben. Vom Volkslied zum Folksong, Heidenheim 1969.

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den Nachfolgeorganisationen der dj.1.11 kamen – und nicht etwa aus dem Nerother Wandervogel –, scheint kein Zufall gewesen zu sein und macht die These plausibel, dass es ohne die Jungenschaften auf Burg Waldeck keine Festivals gegeben und die Entwicklung der ABW eine gänzlich andere, vermutlich weit bescheidenere Richtung eingeschlagen hätte. Um auf einer Wiese im ländlichen Hunsrück in den 1960er-Jahren sechs internationale Festivals erfolgreich zu veranstalten, bedurfte es einerseits der jungenschaftlichen Hybris, andererseits aber auch der in den Startlöchern liegenden 68er-Generation, die von der großen Veränderung träumte. Dem Studentischen Arbeitskreis der ABW, der im Kern aus der alten Burgjungenschaft bestand, zu der die Schwäbische Jungenschaft, die Deutsche Jungenschaft e. V. Berlin und die Wiesbadener Jungenschaft gehörten, gelang es, sowohl den BdJ als auch das im Ostermarsch engagierte pläneTeam um Arno Klönne in das Festival einzubeziehen, sodass das WaldeckFestival als eine gemeinsame Aktivität der wichtigsten jungenschaftlichen Strömungen der Nachkriegszeit gelten kann. Während der BdJ sich mit einer unpolitischen Spielkonzeption nicht durchsetzen konnte, verstärkte das pläneTeam seinen Einfluss und erarbeitete für die Festivals von 1967 und 1968 ein linkes Profil. Die Waldeck-Festivals waren aus der Sicht der politischen Linken wie Walter Mossmann »eine große Tat«, weil bei ihnen das deutsche politische Lied neu entdeckt und der Kontakt zu den Sängern der italienischen Linken und der USamerikanischen Bewegung gegen den Vietnam-Krieg hergestellt wurde.30 Anzumerken ist, dass sie auch für die bündische Jugend von Bedeutung waren und viele Anregungen zur Erneuerung und Veränderung des Liedrepertoires gegeben haben. Die Auswirkungen sind beim jährlichen Peter-Rohland-Singewettstreit bis heute zu beobachten, der seit 2000 stattfindet und bündische Jugend wieder auf die Burg Waldeck führt.

Jungenschaft und SDS Der SDS war bis zum Unvereinbarkeitsbeschluss von 1961 die Studentenorganisation der SPD. Differenzen zur SPD entstanden in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre in der Frage der Anti-Atomtod-Bewegung und des Godesberger Programms, das die Abkehr vom Marxismus beinhaltete. Nach dem Ausschluss aus der SPD 1961 löste sich der SDS nicht auf, sondern behauptete »mit trotzigem Stolz«31 seinen autonomen Status und begann eine Eigenentwicklung auf 30 Walter Moßmann, Peter Schleuning: Alte und neue politische Lieder, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 165 f. 31 Tilman Fichter, Siegward Lönnendonker : Kleine Geschichte des SDS, Essen 2007, S. 107.

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der Basis eines marxistisch fundierten »unabhängigen Sozialismus«. Er stützte sich dabei auf ehemalige Mitglieder aus sozialistischen Jugendorganisationen (wie den Falken und der Naturfreundejugend), die Studenten geworden waren, nicht zuletzt aber auch, was weniger bekannt ist, auf ehemalige Angehörige aus autonomen Jungenschafts- und Wandervogelbünden. Namentlich bekannt sind Jürgen Seifert (ehemals Jungenschaft »Pentagon« Osnabrück, später deutsche jungenschaft e.EV.), Kay Tjaden (ehemals deutsche jungenschaft e. v.), Michael Vester (ehemals Deutsche Freischar), Arno Klönne (ehemals dj.1.11 Paderborn), Urs Müller-Plantenberg (ehemals Wandervogel Deutscher Bund), Ekkehart Krippendorf (ehemals Wandervogel Deutscher Bund), Manfred Vosz (ehemals Deutsche Freischar), Dieter Rave (ehemals Evangelische Jungenschaft) und Hansmartin Kuhn (ehemals autonome Jungenschaft »Greifen« Heidelberg und deutsche jungenschaft e. V.), um nur einige zu nennen.32 Da die Bündischen mit der Autonomie in ihrer Jugendbundzeit bereits eigene Erfahrungen gemacht hatten, kamen sie mit dem neuen Motto »Arm, aber ungebrochen« besser zurecht als diejenigen, die sich einen Studentenverband ohne Stützung durch eine Partei nur schwer vorstellen konnten.33 Entgegen den Erwartungen der SPD konnte der unabhängige SDS seine Position an den Universitäten in den Folgejahren nicht nur behaupten, sondern sogar ausbauen, während der neu gründete parteinahe Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) bedeutungslos blieb. Die Attraktivität des SDS hing vermutlich auch mit dem »moralischen Rigorismus« und dem Prestige »einer nonkonformistischen aktiven demokratischen Gruppe« zusammen, die den Anspruch einer theoretischen AvantgardeOrganisation erhob.34 Für die Jungenschaftler im SDS besonders attraktiv war der elitäre Anspruch, zu den »Besten« zu gehören und »alles besser zu wissen«, den Hansmartin Kuhn einmal als ein gemeinsames Merkmal von Jungenschaft und SDS bezeichnet hat.35 Hinzu kam die »bündische Struktur«36 des SDS, die den in ihrer Schülerzeit bündisch-jungenschaftlich sozialisierten Studenten vertraut war und sich u. a. darin ausdrückte, dass ein Eintritt nicht als Einzelmitglied, sondern nur durch Anschluss an eine bestehende SDS-Gruppe möglich war, wie man auch nicht in die Jungenschaft, sondern stets nur in eine bestehende Horte eintreten konnte. Die Beziehungen zwischen Jungenschaft und SDS

32 Zu Seifert siehe Paul Ciupke: Jürgen Seifert, in: Stambolis, Jugendbewegt (Anm. 3), S. 655 – 666. 33 Gespräche des Verfassers mit Tilman Fichter. 34 Tilman Fichter : SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen 1988, S. 312, 359. 35 Hansmartin Kuhn-kuwa: Mein Weg von der Jungenschaft zum SDS, zur DKP und weiter. Die Utopie vom richtigen Weg, in: Holler : Jungen (Anm. 17), S. 91 – 100, hier S. 94. 36 Fichter, Lönnendonker : Geschichte (Anm. 34), S. 21.

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waren z. T. so eng, dass es – wie in Berlin in der Mitte der 1960er-Jahre – zu fließenden Übergängen kam.37

Zur Entwicklung der bündischen Zentren in der 68er-Zeit Ende der 1960er-Jahre gingen nicht nur die Burg Waldeck, sondern ein Großteil der Zentren der autonomen Bünde auf die Positionen der antiautoritären Schüler- und Studentenbewegung über und liquidierten damit die bisherige bündische Arbeit, wobei die Erwartung mitspielte, dass die alte Jugendbewegung in einer neuen politischen Jugendbewegung »aufgehoben« sein werde. Am spektakulärsten war die Entwicklung des Baslertorturms in Karlsruhe-Durlach vom Jugendheim der Deutschen Jungenschaft e. V. zum Antiautoritären Jugendheim Roter Turm, die zur Kündigung und polizeilichen Schließung führten.38 Während die ABW auf Burg Waldeck mit dem Chanson- und FolksongFestival eine zeitadäquate Form fand, die bündisch-jungenschaftliche Arbeit zu modifizieren und weiterzuführen, kam es im BdJ zu internen Zerwürfnissen, die zu seinem Niedergang führten. Besonders schmerzhaft für die Beteiligten war die Entwicklung im Jugendhof Bessunger Forst, dem Zentrum des BdJ in der Nähe von Darmstadt, das 1966 mit großen Erwartungen eröffnet worden war. Durch die Abwanderung eines großen Teils seiner Mitglieder zur Studenten- und Schülerbewegung wurde der BdJ so geschwächt, dass er 1973 die Leitung des Jugendhofs dem BDP übergeben und sich 1977 völlig daraus zurückziehen musste.39 In den 1960er-Jahren waren die autonomen Jugendbünde an vielen Orten das Rekrutierungsfeld für den SDS und die außerparlamentarische Opposition. Auch die Schwelle zu den politischen Parteien der Linken wurde vielfach überschritten. Manfred Vosz, ein ehemaliger Bundesjugendführer der Deutschen Freischar, wurde Mitbegründer der DKP-nahen Zeitschriften Tendenzen und Kürbiskern. Erdmann Linde, der aus dem dj.1.11-Hortenring kam, wurde SHB-Bundesvorsitzender sowie Mitbegründer und Geschäftsführer der sozialdemokratischen Wählerinitiative von Günter Grass bei den Bundestagswahlen von 1969. In den 1970er-Jahren fanden sich viele ehemalige Angehörige der Jugendbünde in der alternativen und grünen Bewegung wieder, für die stell37 Berichtet von Hartmut Zinser, in: Eckard Holler : Jungenschaft und 68er-Bewegung, in: Das Argument 207, Nov./Dez. 1994, S. 960. 38 Vgl. Holler : Turm (Anm. 25). 39 Fritz Schmidt, Bernd Gerhard (Hg.): Die klare Luft gibt’s heute umsonst, Heidenheim 1986, S. 77 – 88 – Jugendhof im Bessunger Forst (Hg.): 20 Jahre Bildungsstätte in Selbstverwaltung, Darmstadt 1986.

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vertretend Walter Mossmann genannt sei, der in den südbadischen Anti-KKWBürgerinitiativen aktiv wurde.40

Widerstände und zusätzliche Anstöße bei der Linkswendung Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Übergang zur politischen Linken nicht bruchlos erfolgte und vielfach eine Überwindung interner Widerstände zur Voraussetzung hatte. In den jungenschaftlich geprägten Studentenzirkeln gab es in den Jahren 1963 bis 1965 sehr intensive Auseinandersetzungen über gesellschaftspolitische Fragen, bei denen die marxistische Gesellschaftsanalyse in Konkurrenz zur Pluralismus- und Totalitarismustheorie diskutiert wurde. Dass die Marxisten über die überzeugenderen Argumente verfügten, war in diesen Diskussionen keineswegs ausgemacht. Der einflussreiche Freiburger Führungskreis des BdJ um Alexander Gruber, Roland Eckert und Günter Behrmann orientierte sich an US-Politikern wie John F. Kennedy, der Gesellschaftstheorie des Pluralismus und der Jugendsoziologie von Friedrich Tenbruck und kritisierte den Neomarxismus der neuen Linken als anachronistisch und irrational.41 Angesichts der politischen Spaltung unter den ehemaligen Angehörigen der freien Jugendbünde der 1960er-Jahre lässt sich vermuten, dass die sozialutopischen Impulse der Jugendbewegung nicht ausreichten, um gemeinsame politische Überzeugungen zu begründen. Zusätzliche äußere Anstöße mussten hinzukommen. Bei denen, die in den 1960er-Jahren politisch aktiv wurden, überwog jedoch deutlich eine linke Tendenz. Ehemalige Angehörige der freien Jugendbünde finden sich heute im Umfeld von SPD, FDP, der Linken und den Grünen, kaum jedoch bei der CDU/CSU.42 Die politische Aktivität führte aus dem Milieu und der Mentalität der bündischen Jugend hinaus; die Wohngemeinschaft und die politische Gruppe brachten andersartige Erfahrungen und Anforderungen, sodass an einem bestimmten Punkt die Verbindung zur Jugendbewegung abbrach und die Berufung auf das frühere Gemeinschaftserlebnis fragwürdig wurde. Dieser Bruch in der persönlichen Entwicklung vieler, die sich ¢ aus der bündischen Jugend kommend ¢ in der linken Bewegung engagierten, macht es oft schwierig, einen Zusammenhang herzustellen. Pro40 Walter Mossmann: Realistisch sein: das Unmögliche verlangen. Wahrheitsgetreu gefälschte Erinnerungen, Berlin 2009. 41 Vgl. den Bericht über das Seminar auf Burg Steinegg 1964 in: Schwarze Tanne 18 (Mai 1965); schrift 25 (1965). 42 Hortenführer in der Deutschen Jungenschaft in Bremen in den Jahren 1947/48 war der spätere Ministerpräsident von Niedersachsen Ernst Albrecht; vgl. Klaus auf dem Garten, Peter Kuckuck: Bürgerliche Jugendbewegung in Bremen, Bremen 2009, S. 174.

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jekte wie das Waldeck-Festival zeigen jedoch, dass an der Linkswendung der intellektuellen Jugend auch die bündische Jugend dieser Zeit Anteil hatte. Wie groß dieser Anteil ist, mag umstritten sein. Am größten war er sicherlich in den intellektuell aufgeschlossenen Gruppen. In ihnen entwickelte sich in den 1960erJahren ein linkes Potenzial, das bisher der Jugendbewegung auch von ihren eigenen Vertretern häufig abgesprochen wurde. Die Linkswendung von autonomen Jungenschaften und anderen Gruppen der bündischen Jugend in den späteren 1960er-Jahren und ihre Beteiligung an der 68er-Bewegung sind erst ansatzweise dokumentiert. Sie war jedoch so einschneidend, dass sie von den konservativen Gruppierungen als ein »starker Schrumpfungs- und Wandlungsprozess« wahrgenommen wurde. Das Jahr 1968 gilt deshalb als eine entscheidende Zäsur in der bündischen Nachkriegsgeschichte. Es wäre wünschenswert, dass sich die Jugendforschung mit der Frage befasst, warum nach dem Meißner-Lager 1963, das als »ein letzter Höhepunkt in den Nachkriegsbünden« gilt, »die große Flaute« einsetzte und die »Politisierung der Jugend allgemein in der zweiten Hälfte der 1960er und noch Anfang der 1970er Jahre […] den Bündischen Substanz genommen« hat.43

Die »Hedonistische Linke« in der Jugendbewegung Diethart Kerbs (1937 – 2013) hat 1971 versucht, die Eigenart der politischen Position des Studentischen AK in der ABW und vergleichbarer anderer bündischer Älterenkreise als »hedonistisch-links« zu beschreiben und für sie den Begriff der »hedonistischen Linken« geprägt. Der Rückgriff auf den Hedonismus war bewusst als Abgrenzung gegen den doktrinären, lustfeindlichen Marxismus-Leninismus der K-Gruppen gewählt.44 Ausgehend von Schillers These des zweckfreien Spiels als Vollendung menschlicher Freiheit entwickelte Kerbs den Begriff einer »Linken«, deren Widerstandverhalten stärker ästhetisch als politisch fundiert sei und die politisches Handeln mit Lebensgenuss verbinde. Den häufig abgewerteten Begriff des Hedonismus fasste er positiv und vertrat die These, dass im ästhetischen Widerstand die Versöhnung von hedonistischem Lebensgenuss und linkem politischen Engagement möglich sei. Die Überlegungen von Diethart Kerbs zum ästhetischen Widerstand trafen sich mit Arno Klönnes Hinweis auf das hedonistische Gegenmilieu von dj.1.11 während der NS-Zeit, das Ausgangspunkt für einen relevanten Jugendwider43 Walter Sauer (Hg.): Rückblicke und Ausblicke. Die deutsche Jugendbewegung im Urteil nach 1945, Heidenheim 1978, S. 39. 44 Diethart Kerbs (Hg.): Die hedonistische Linke. Beiträge zur Subkultur-Debatte, Neuwied/ Berlin 1971, S. 5 – 8.

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stand war. Der dem Gruppenmilieu immanente »Hedonismus« ist für Klönne der Schlüssel zur Erklärung der relativ großen Resistenzfähigkeit der bündischjungenschaftlichen Milieus gegenüber der Hitlerjugend: »Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die relativ große Widerstands- und Überlebensfähigkeit, die solche Gruppen, verglichen mit dem Gros der bis 1933 existierenden sozialistischen Jugendverbände, in der Zeit der Illegalität aufweisen, darauf zurückzuführen ist, dass hier – im Unterschied zum überwiegenden Teil der traditionellen, nicht-hedonistischen linken Jugendorganisationen – die Ablösung von bürgerlichen Normen stärker in den Versuch einer antizipierenden ›Gegenkultur‹ vorangetrieben war und deren partielle Vorwegnahme in der jugendlichen Gruppe der politischen Opposition eine ›lebensgeschichtliche Perspektive‹ beigab und sie auf diese Weise stabilisierte.«45

Klönnes These ist also, dass die Gegenkultur der Hippies und Provos in den 1960er-Jahren eine Verhaltensweise übernahm und weiterentwickelte, die bereits im Jugendwiderstand gegen das NS-System ihre Wirksamkeit gezeigt hatte. Es war vermutlich kein Zufall, dass die Theorie der »hedonistische Linken« von ehemaligen Angehörigen der bündischen Jugendbewegung aus dem Umfeld der Burg Waldeck formuliert wurde, denn die Bündischen dort liebten die »rheinische Lebensart«, sodass für sie der Hedonismus zur Brücke zur politischen Linken wurde. Der »bündische« Lebensgenuss war im Übrigen, worauf Detlef Siegfried aufmerksam gemacht hat, nicht identisch mit dem allerorts um sich greifenden Konsum, sondern das hier gepflegte Verständnis von Hedonismus orientierte sich an den Traditionen eines weniger materiell als ideell reichen Jugendlebens. Es schloss »Konsumismus« aus, lehnte aber auch die verbreitete asketische Form linker Politik ab und verfolgte ein »Mischkonzept«, das sich als zukunftsträchtig erweisen sollte, weil es – im Sinne des Mottos »Der Weg ist das Ziel« – bereits im jetzigen Leben ein Vorgefühl der angestrebten kommunistischen Utopie fühlbar machte.46 In dieser Auffassung traf sich Rudolf Schmaltz, der langjährige Präsident der ABW und Exponent eines anarchistisch-bukolischen Flügels des ehemaligen Nerother Wandervogels, mit Diethart Kerbs und Rolf Gekeler, den beiden aus der Jungenschaft stammenden Leitern des Waldeck-Festivals der 1960er-Jahre.

45 Arno Klönne: Zur Klassenanalyse der Subkultur. Polit-ökonomische Anmerkungen zur hedonistischen Jugendbewegung, in: Kerbs: Linke (Anm. 44), S. 110 – 123, hier S. 112. 46 Vgl. dazu Detlef Siegfried: Time is on my side, Göttingen 2006, siehe bes. die Kapitel IV 3.1 »Vom Folk zum Underground« und Kap. V 4. »Die ›hedonistische Linke‹. Vermittlungen zwischen Genuss und Politik«.

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Das »Atelier« von Peter-Jürgen Bertsch – Ein Beispiel für linken Hedonismus Beim Übergang von den 1950er- zu den 1960er-Jahren veränderte sich das bündische Jugendleben. Überholte Traditionen aus den 1920er-Jahren wurden beseitigt; an ihre Stelle traten Versuche, die bündische Jugendarbeit hin zur modernen Literatur und Kunst sowie zu einem politischen Engagement »von unten« zu öffnen. Autonome bündische Gruppen, vor allem aus den Jungenschaften, veränderten ihr Selbstverständnis und begannen sich als Teil der intellektuellen Jugend der Gegenwart zu verstehen. Sie orientierten sich an kritischen Zeitschriften wie Konkret und Pläne und an intellektuellen Zirkeln wie der Gruppe 47 oder der Frankfurter Schule. Sie lasen Brecht und neomarxistische Autoren und diskutierten über NS-Vergangenheit und Kriegsdienstverweigerung. An vielen Orten bildeten sich informelle Treffpunkte, wo die als notwendig betrachtete Veränderung beredet und neue Initiativen gestartet wurden. Man wollte nicht mehr nur »Räuber und Gendarm spielen« und war den Vorwurf leid, man führe hinter dem Rücken der Gesellschaft ein lustvolles Jugendleben, anstatt um wirkliche Emanzipation zu kämpfen.47 Man wollte insbesondere etwas gegen den Vorwurf tun, man gehöre einer Bewegung mit pro- oder präfaschistischen Tendenzen an und habe nichts aus der Vergangenheit gelernt. Bei der Modernisierung des bündischen Jugendlebens im nordbadischen Raum besaß das »Atelier« des Malers und Kunststudenten Peter J. »fuchs« Bertsch in der Hirschstraße in Karlsruhe eine wichtige Funktion. Fuchs stammte aus Pforzheim, war im Alter von zwölf Jahren dem BDP beigetreten und ein anerkannter Stammesführer geworden, der vieles anders machte als traditionell üblich. Eine seiner Neuerungen waren z. B. die Feldhandballturniere zwischen den Pforzheimer Pfadfinderstämmen, die er nicht nur organisierte, sondern mit seinem Stamm Ajak auch regelmäßig gewann. 1960/61 war er maßgebend an der Gründung des bündischen Pfadfinderbundes Nordbaden beteiligt.48 Als Kunstund Grafikstudent in Karlsruhe machte er sein Atelier zum Treffpunkt und Ort der Erneuerung und Modernisierung des bündischen Jugendlebens. Es lässt sich sagen, dass mit seinem Atelier eine neue Zeit in die bündische Jugend in Nordbaden einzog. Fuchs liebte französische Chansons und Jazz und sang zur Gitarre lieber fröhliche und rhythmische Lieder als die elegischen und oft melancholischen bündischen »Grabgesänge«. Lieder aus der Zeltpostille von tejo wie »Der Bauer 47 Vgl. Fritz Jungmann: Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung (1936), Nachdruck in Holler : Jugend (Anm. 9), S. 43 – 75. 48 Zur Gründung des Pfadfinderbundes Nordbaden siehe Heinz-Georg Schmidt-Rohr : Es hatte alles seine Zeit, Privatdruck, o. O., o. J. [Wiesloch 2008], S. 399 ff.

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fuhr lustig in den Föhrenwald« oder »Kommt der Pieter vom Markt aus Lille« traten an die Stelle von »Ritter und Reisige reiten aus der Schlacht« oder »Es tropft von Helm und Säbel«. Zu den zwanzig Liedern, die man kennen sollte, gehörte auch die »Ballade von den Seeräubern« aus Brechts »Hauspostille«, die stets mit allen elf Strophen gesungen wurde. Jahreshöhepunkt war das dreitägige Faschingsfest, Schnarpf genannt. Im umdekorierten Atelier versammelte sich die Prominenz der jungen Bünde Süddeutschlands in phantastischen Kostümierungen und feierte drei rauschhafte Nächte. Roland Eckert schwelgte in seinen eigenen deutschen Liedern im griechischen 7/8-Takt, Walter Mossmann und Christof Stählin machten als Chansonsänger auf sich aufmerksam. Man trank den Tee aus dem bemalten Tongeschirr aus Soufflenheim, dem elsässischen Töpferdorf, das fuchs für die bündische Szene entdeckt hatte und in der Folge mit Großaufträgen beglückte.49 Eine Attraktion besonderer Art war der zu einem Thronsessel umgestaltete WC-Sitz der Toilette im Atelier, auf der jeder sich als ein Kaiser fühlen konnte. Das Kunstverständnis von fuchs verband die Liebe zum Jugendstil mit der Hinwendung zu moderner Kunst und Grafik und verpasste den bündischen Zeitschriften ein neues, klareres Layout. Völlig ungewohnt waren Satire und Karikatur, die er als Mittel gegen das falsche Pathos und den Jargon der Eigentlichkeit der damaligen bündischen Zeitschriften einsetzte. Unvergessen ist ein Heft der Zeitschrift Schwarze Tanne, in dem er Gedichte der Romantik mit eigenen Totentanz-Zeichnungen »verfremdete«. Sie deuteten auf seine Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit, die ihn zum ersten anerkannten Kriegsdienstverweigerer in Baden-Württemberg gemacht hatte. Sein Auftreten – mit den lebendigen blauen Augen und dem scharf geschnittenen schwarzen Schnurrbart – war auffällig und wirkte nicht selten provokativ. Wenn er als junger Lehrer im roten Porsche in den Schulhof einfuhr, klatschten die Schüler Beifall, während die Kollegen befremdet mit dem Kopf schüttelten. Seine Neugier für neue Entwicklungen in Kultur, Gesellschaft und Politik machte sein Atelier zu einem Ort neuer kultureller Projekte und kontroverser gesellschaftspolitischer Diskussionen. Zusammen mit Jan Weber vom Jugendfunk des Süddeutschen Rundfunks (SDR) entwickelte er, noch vor dem ersten Waldeck-Festival, eine Veranstaltung mit jungen Sängern und Gitarre49 Gäste im »Atelier« von fuchs waren z. B. 1964/65 aus Jugendbünden: Günter Behrmann, Alexander Gruber, Roland Eckert, Jürgen Laubscher, Walter Mossmann, Christof Stählin (alle BdJ), Klaus-Peter »molo« Möller (ABW, ehemals Schwäbische Jungenschaft), Uwe Biermann, Bertram Blaich, Helmut Kommer, Harald Neifeind, Walther Stodtmeister (alle Pfadfinderbund Nordbaden), Dieter Arker, Jürgen »tenno« Gottschling, Axel »trombu« Hauff, Eckard »zeko« Holler (alle dj.e.v. Baslertorturm), Jörg »joggl« Hoffmann, Franz Graul (beide deutsche jungenschaft .e.V. Heidelberg), Carsten Linde (dj.1.11-hortenring), Lothar »saki« Walser (Evangelische Jungenschaft »Die Horte«), Jan Weber (ehemals Schwäbische Jungenschaft), Pit Klein.

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spielern (u. a. Peter Rohland und Hanno Botsch, Hein & Oss Kröher, Walther Stodtmeister, Lothar Walser, Pontocs), die 1963 mit dem Titel »Improvisation 63« erstmals im Jazzkeller in Pforzheim stattfand, vom SDR-Jugendfunk live gesendet und mehrere Jahre veranstaltet wurde. Folgenreich war 1964 eine Diskussion mit Herbert Heckmann von der Universität Heidelberg über die Ziele der bündischen Jugend, die zur Kontroverse über die Frage führte, ob die bündische Jugend eine gesellschaftskritische Haltung einnehmen solle.50 Fuchs fuhr jeden Dienstag mit dem Porsche nach Tübingen zur Seminarveranstaltung von Ernst Bloch und vollzog bis 1968 eine politische Linkswendung, die ihn zum Anhänger der Studentenbewegung werden ließ. Vom seinem Atelier gingen konkrete Anregungen für die Jugendarbeit aus: Unter anderem wurde hier das Treffen von Pfadfinderbund Nordbaden und BdJ auf Burg Steinegg bei Pforzheim Ostern 1964 vorbereitet, das als Angebot »für Primaner und Studenten« aus den Bünden gedacht war und im Streit darüber endete, ob heute ein »Protest gegen die Gesellschaft« erforderlich und – angesichts des Pluralismus der Gesellschaft – überhaupt möglich sei.51 Das Atelier wurde über die bündische Szene hinaus zu einem Anziehungspunkt für Künstler und Intellektuelle. Sogar Golo Mann nahm einmal, zusammen mit Herbert Heckmann, an einer Wochenendfahrt teil, die auf den traditionellen Zeltplatz Tannschach im hinteren Moosalbtal führte. Herbert Heckmann briet am Lagerfeuer für die gesamte Mannschaft Lammsteaks und Golo Mann rezitierte, zu einem Beitrag aufgefordert, auswendig alle 32 Strophen von Bürgers Ballade »Lenore«. Zwischen 1964 und 1969 gingen im Atelier die Sänger der Waldeck-Festivals ein und aus. Fuchs’ selbstverständliche Gastfreundschaft begründete langjährige Freundschaften zu Franz-Josef Degenhardt, Schobert & Black, Oss & Hein Kröher, Hannes Wader und vielen anderen. Dass er sein Atelier als offenes Haus führte, hatte jedoch auch zur Folge, dass er ins Visier der Staatsschützer geriet, Anfang der 1970er-Jahre als angeblicher RAF-Sympathisant verfolgt wurde und mit knapper Not einem Berufsverbot als Lehrer entging.

Nachbemerkung Zusammengefasst: Die Wirkungen der »jungenschaftlichen Linken« waren vielfältig und teilten sich in Innen- und Außenwirkungen. Ihr verdankt die bündische Szene viele Anregungen zur Modernisierung und Innovation, die sie 50 Die Diskussion mit Herbert Heckmann fand am 26. 02. 1964 statt, siehe den Bericht in: Turmgespräche, 5, (11. 06. 1964). 51 Siehe die Tagungsdokumentation zum Treffen auf Burg Steinegg Ostern 1964 in: Schwarze Tanne, 1965, Heft 18 und in: Schrift, 1965, Heft 25.

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bis in die heutige Zeit lebensfähig erhalten haben. Ihr verdankt sie aber auch Wirkungen auf die Gesellschaft, denn man kann wohl sagen, dass von der jungenschaftlichen Linken die beiden wichtigsten Leistungen der Nachkriegsjungenschaft erbracht wurden, die in der damaligen Gesellschaft durchaus deutliche Folgen hatten: die Zeitschrift Pläne mit ihrer Verbreitung des Protestes gegen die Atombewaffnung sowie die Waldeck-Festivals mit ihrer Entdeckung des »neuen (deutschen) Liedes«. Die Kämpfe, die zwischen den Linken und den Konservativen geführt wurden, waren zwar vielfach schmerzhaft, aber nicht sinnlos. Das gilt auch für die 68er-Bewegung insgesamt, durch die, wie von manchen Jugendbewegten beklagt wird, den Bünden eine ganze Generation verloren gegangen sei. Die wichtigste, von der 68er-Bewegung bewirkte Neuerung war, mit etwas Abstand gesehen, die gleichberechtigte Teilnahme von Mädchen und jungen Frauen an den neu entstehenden bündischen Gruppen, die das früher viel zitierte Nietzsche-Wort, »die Frau sei der Freundschaft (noch) nicht fähig«, Lügen strafte. Durch den Emanzipationsschub von »1968« bekamen die jungen Frauen selbst in den vorher ausschließlich männlich besetzten Jungenschaften nicht selten eine dominierende Stellung und bauten ihre Horten mit der gleichen Hingabe auf wie ihre männlichen Altersgenossen. Dadurch widerlegten sie in der Praxis die Argumentation der Theoretiker des »Männerbundes«, die ihnen die Befähigung zur bündischen Gemeinschaftsbildung abgesprochen und diese den homoerotischen »Männerhelden« vorbehalten hatten. Als ein positives Zeichen für den Fortschritt in der Geschlechterfrage kann außerdem die Bereitschaft gewertet werden, sich mit den »Schattenseiten der Jugendbewegung« zu befassen und das lange tabuisierte Thema des sexuellen Missbrauchs in einigen Gruppen der bündischen Jugend aufzuarbeiten.52 Die Veränderung des Geschlechterverhältnisses ist ein Verdienst der Linken der bündischen Bewegung, das inzwischen auch von der konservativen Seite anerkannt wird. Der Emanzipationsschub der 68er-Bewegung brachte für die bündische Jugend die Chance, vom gesellschaftlichen Außenseiter, dem noch etliche antidemokratische Eierschalen aus den 1920er-Jahren anhingen, zu einem integrativen Teil der demokratischen Zivilgesellschaft der Bundesrepublik zu werden und einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zu finden. Mit ihrem Wissen von der Möglichkeit einer »gelungenen Gemeinschaft« gehört die bündische Jugend heute zu den sozialutopischen Unterströmungen der Gesellschaft, an denen ein dringender Bedarf besteht. Zu wünschen wäre, dass ihr gemeinschaftsbildendes Potenzial in unserer auseinanderdriftenden Gesellschaft als Mittel der Integra52 Vgl. Annemarie Selzer : Sexueller Missbrauch in der Jugendbewegung – ein Blick durch Geschichte und Gegenwart, in: Eckard Holler (Hg.): 100 Jahre Hoher Meißner 1913 – 2013 (Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis; 7), Berlin 2013, S. 126 – 136.

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tion entdeckt und eingesetzt würde. Bei der Vorbereitung der 100-Jahrfeier des Meißnertreffens von 1913 sollten sich die Jugendbünde ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst werden und sich zu einem sozialen und politischen Engagement entschließen, das bereits Eberhard »tusk« Koebel von ihnen gefordert hat.53 Ein Anfang dazu wurde mit der ökologischen Erklärung zum 75. Jubiläum des Meißnertages 1988 und mit der Mannheimer Resolution gegen Fremdenfeindlichkeit von 1993 gemacht.54

53 Vgl. den Aufruf »Seid junge Ritter«, in: Lagerfeuer, 1932, Nr. 2, Wiederabdruck in: Eberhard Koebel-tusk: Werke, Bd. 7: Zeitschriftenaufsätze, Bd. 2, Edermünde 2003, S. 158 – 160. 54 Michael Fritz u. a. (Red.): Meißner-Dokumentation, hg. vom Verein zur Durchführung des Meißner-Treffens, Witzenhausen 1989, S. 37. – Siehe die Annonce in: Die Zeit vom 15. 01. 1993, verfügbar auch unter : http://www.pfadfinderbund-mannheim.de/index.php/mannheimer-resolution [23. 06. 2012].

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Jugendbewegung auf dem Weg in den öffentlichen Raum. Dokumentation der Podiumsdiskussion (mit Beiträgen von Arno Klönne und Roland Eckert)

Von den fünf Beteiligten an der Podiumsdiskussion verfügten drei – Arno Klönne (Jg. 1931), Hermann-Anders Korte (Jg. 1937) und Roland Eckert (Jg. 1937) – ebenso wie der Moderator Günter Behrmann (Jg. 1941) über jugendbewegte Erfahrungen in Jungenschaftsgruppen, haben als Sozial- bzw. Politikwissenschaftler eine Vielzahl von Publikationen zur neueren deutschen Gesellschaftsgeschichte und Kulturlandschaft veröffentlicht und waren Zeitzeugen des Meißnertreffens von 1963. Auch der Zeithistoriker Lutz Niethammer (Jg. 1939) hatte – allerdings ohne eigene jugendbewegte Vergangenheit – 1963 das Lager auf dem Hohen Meißner besucht mit dem Auftrag, als junger Journalist für den Südwestfunks eine Sendung über das Ereignis vorzubereiten. Dagegen verfügte die jüngste Fachperson auf dem Podium, Dorothee Wierling (Jg. 1950), zwar über keine vergleichbaren Erfahrungen, hatte sich jedoch – nicht zuletzt aufgrund von Oral-History-Interviews in der DDR schon vor der Wende – in ihren Forschungen unter anderem intensiv mit jener jungen Generation beschäftigt, die in Ostdeutschland in den 1960er-Jahren in demselben Alter war wie die westdeutschen Teilnehmer des 1963er-Meißnertreffens. Im Anschluss an einen Bericht von Lutz Niethammer als Außenstehender über seine damaligen Beobachtungen und seine Eindrücke, zum Beispiel zu dem recht krassen Gegenüber von Alt und Jung bei dem Meißnertreffen, folgten zwei – unten abgedruckte – Einleitungsstatements von Arno Klönne und Roland Eckert. Beide lieferten neben den Anmerkungen von Lutz Niethammer von vornherein eine Reihe von Impulsen für die Einschätzung der Bedeutung des 1963er-Treffens. Während Arno Klönne den Meißnertag nur noch als Ausdruck einer »Restgeschichte« deutete, in die die klassische Jugendbewegung trotz vielfältiger aktueller »Beweglichkeit« gegen Ende der 1950er-Jahre allmählich gekommen sei und von der keine bemerkenswerten Impulse mehr zu erwarten gewesen seien, verwies Roland Eckert auf eine Reihe von damals vor allem im Bund deutscher Jungenschaften (BdJ) diskutierten innovativen geistigen Perspektiven – ausgehend von der Frage, wie man die bisher eher gegensätzlich gesehenen Konzepte von Gemeinschaft und Gesellschaft in Zukunft miteinander

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versöhnen könne. Die Art des sprachlich-intellektuellen wie musischen Auftretens der jungen Bünde, die Frage nach der generationellen Verortung der bündischen Szene in der allgemeinen Jugendszene, die von außen, nicht zuletzt vom Bundesjugendring erhobenen Vorwürfe in Richtung auf das Treffen und auch die in der Rede Helmut Gollwitzers angesprochenen »Botschaften« wurden zum Teil kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt spielte zudem der Vergleich mit der Jugendsituation in der DDR eine Rolle, wobei Dorothee Wierling die These von einer nach dem Mauerbau erfolgten »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte« mit mancherlei Parallelen und Verbindungslinien zwischen Ost und West vertrat. Selbstverständlich kam in der Debatte auch die 1963 zwar noch nicht sehr ausgeprägte, aber in der Folgezeit deutlich zunehmende Politisierung in bündischen Kreisen zur Sprache, die schließlich – darüber berichtete vor allem Hermann-Anders Korte – 1968 bei einem Treffen des BdJ zu einem Auseinanderbrechen dieses Bundes führte. Allerdings wurde betont, dass um 1963, obwohl noch viele traditionelle Formen und Blickweisen vorherrschten, insbesondere im Umfeld der Jungenschaften wirksame Kreativitätsimpulse zu verzeichnen waren, die durch verschiedene neue Protestbewegungen (Antiatombewegung, New-Age-Bewegung, Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt« usw.) ausgelöst worden waren und deren Herausforderungen man sich stellen musste und auch bewusst stellen wollte. Dass dabei in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre die »bündische Rezession« einsetzte, also zwischen manchen der noch in den späten 1930er-Jahren geborenen Jugendbewegten mit ihren Weltbildern als »Kriegskinder« und den einige Jahre später geborenen, also noch ab Ende der 1950er-Jahre mit der Jugendbewegung in engere Berührung gekommenen jungen Leute generationelle Gegensätze zunahmen, lag – was die Politisierungstendenzen in manchen Bünden angeht – auf der Hand. Der »Eintritt in den öffentlichen Raum« Ende der 1960er-Jahre, so Lutz Niethammer, ist also in mancher Hinsicht gerade auch von unterschiedlichen »generationellen Kernerfahrungen« mitbestimmt worden. Dass die nur kurze Zeit der Podiumsdiskussion nicht annähernd ausreichte, um weitere Impulse der Tagung wie etwa aus dem Eingangsreferat von Detlef Siegfried im Hinblick auf die langfristigen Folgen jener »zweiten Gründung« der Bundesrepublik ab Ende der 1950er-Jahre oder die Frage nach den unter Umständen lebenslangen Wirkungen jugendbewegter Prägung aufzugreifen, hat unter anderem Dorothee Wierling angemerkt und damit die Fülle von offenen Forschungsfragen angesprochen, für die nicht zuletzt das Archiv der Jugendbewegung auf dem Ludwigstein eine große Schatzkiste bereithalte.

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Arno Klönne: 1963 – der »mittlere« Meißner Eine durchaus subjektive Erinnerung vorweg: Unter den größeren bündischen Events, an denen ich teilgenommen habe, war das Treffen auf dem Hohen Meißner 1963 nicht eines der besonders eindrucksvollen. Der Anlass, der dort zusammenführte, schien mir etwas konventionell: Musste sich auch die Jugendbewegung an runde Jubiläumsdaten halten? Auch die Motive zur Teilnahme lagen weit auseinander. Veteranen aus Bünden der Zeit vor 1933 wollten ihre Geschichte in die Gegenwart hineinholen oder zumindest noch einmal gewürdigt erleben. Und die jungen Bünde hatten die Absicht, sich in ihrer Vielfalt zu präsentieren, die »freie« Gruppe als Besonderheit gegenüber den großen Jugendverbänden herauszustellen und auch ihre Verfassungstreue deutlich zu machen – dies im Sinne der demokratischen Werte des Grundgesetzes der westdeutschen Republik. Einen eher unerwarteten emotionalen Höhepunkt des Treffens bildete dann jedoch die Rede von Helmut Gollwitzer, weil sie die kulturellen »Erfindungen« der historischen Jugendbewegung hervorhob und zugleich deren politische Irrwege in den Blick brachte, zudem versuchte, daraus aktuelle Konsequenzen zu ziehen. Ein »hohes« Ereignis in der Geschichte jugendlicher Bewegungen aber konnte diese Zusammenkunft auf dem Meißner 1963 meines Erachtens nicht sein. Vernünftigerweise erhoben auch die Veranstalter erst gar nicht den Anspruch, mit dem Treffen das Signal für einen neuen, eine gesamtgesellschaftliche »Regeneration« in Gang bringenden Aufbruch junger Menschen und Bünde zu setzen. Es konnte kein Zweifel daran sein, dass die Ideenwelt und der Gruppenstil der klassischen deutschen Jugendbewegung inzwischen Traditionsgüter waren und nicht mehr Innovationen. Die jungen Leute, die sich 1963 auf dem Meißner trafen, und die Formen oder Begriffe, mit denen sie auftraten, stellten sozusagen ein spezifisches Angebot in einer Pluralität jugendlicher Subkulturen dar. Auch in den jungen Bünden selbst wurde nicht mehr erwartet, dass die von ihnen gelebte Jugendkultur sich prägend auf die junge Generation insgesamt auswirken könne oder gar die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Tanzen bringen werde. Das Meißnertreffen 1963 bedeutete auch keine stilistische Neuerung innerhalb der jugendbündischen Traditionslinie. In seiner Performance stach der Bund deutscher Jungenschaften zwar hervor, aber er zeigte sich ungefähr so, wie die Gruppen der Deutschen Freischar und verwandter Bünde schon um 1930 – sympathisch, aber nicht überraschend! Der Deutsche Bundesjugendring hatte 1963 auf die Ankündigung des Meißnertreffens abweisend reagiert; befürchtet wurde hier offenbar, Ambitionen auf ein »freies« Gruppenleben könnten in den etablierten Jugendorganisationen turbulent wirken. Die »Ansteckungsgefahr« durch das Auftreten der jungen Bünde wurde damit allerdings deutlich überschätzt. Tatsächlich nämlich war

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jene Jugendbewegung, für die der Freideutsche Jugendtag 1913 als symbolischer Beginn gelten kann, in ihrer Dynamik, in ihren Ausdifferenzierungen, Kontinuitäten und Wandlungen, schon eine Weile vorher an ihr Ende gekommen. Bereits vor 1933 hatte sich konkurrierend eine »westliche« Jugendkultur auch in Deutschland verbreitet. Und die Nutzung bündischer Überlieferungen durch die Staatsjugend des »Dritten Reiches« bedeutete auch so etwas wie einen Verschleiß, denn die bündische Jugendillegalität während der NS-Zeit war nach 1945 nicht mehr als »neue Jugendbewegung« fortsetzbar. In den ersten Jahren nach dem Untergang des »Dritten Reiches« fand zwar noch eine Art »Restgeschichte« der klassischen Jugendbewegung statt, aber sie bot keine Ansätze mehr für eine neue Welle jugendbewegter Entwicklung. In Westdeutschland setzte sich im Feld jugendlicher Organisierung ein staatlich geförderter Verbandspluralismus durch, und die nun praktizierten Jugendpläne waren keine Projekte autonomer Jugendkultur. In Ostdeutschland wurde die Freie Deutsche Jugend zur monopolistischen Staatsjugendorganisation. Mit der Freideutschen Jugend verband sie dann nur noch eine Namensähnlichkeit. Längerfristig wichtiger war zudem noch, dass sehr viel stärker als vor 1933 jugendkulturelle Orientierungen nun »internationalisiert« wurden. Dagegen war aber zweifellos die klassische deutsche Jugendbewegung eingebunden in die historischen Besonderheiten deutscher Kulturgeschichte. Schon im Oktober 1946, beim ersten Nachkriegstreffen als »Tag der jungen Generation« auf dem Meißner, initiiert von Ulrich Noack, hatte sich die Hoffnung auf eine »Neugeburt« der alten Jugendbewegung als wirklichkeitsfremd erwiesen. Das hatte seinen Grund nicht nur in dem Utopieüberschuss bei Noack, der sogar auf dem Meißner eine neue deutsche Hauptstadt bauen wollte – dies »im Geiste« der einstigen Freideutschen Jugend! Dass dann Ende der 1950erJahre in der Alt-Bundesrepublik die Geschichte der klassischen deutschen Jugendbewegung auszulaufen begann, bedeutete freilich nicht, dass soziale und kulturelle Beweglichkeit in den Jugendgenerationen sich historisch verabschiedet hätte. Üblicherweise wird die jugendliche – nicht nur die studentische – Revolte in Westdeutschland um 1968 als »neue Jugendbewegung« charakterisiert. Sie besaß bereits Vorläuferschaften in den Jahren vor dieser sogenannten Kulturrevolution. So gab es zum Beispiel ab 1961 die Ostermärsche der Atomwaffengegner als oppositionelle politische Kultur gerade junger Leute, und ab 1964 bildete sich bei den Festivals auf der Burg Waldeck im Hunsrück eine alternative junge Kulturszene heraus. Beim Treffen auf dem Meißner 1963 traten diese neuen Jugendszenen allenfalls am Rande in Erscheinung, obwohl interessanterweise bei ihnen manche Einflüsse und Anregungen aus der Geschichte der alten Jugendbewegung zu entdecken sind. Das Meißnertreffen 1963 war ein Akt in der Tradierung bündischer Jugendkultur und insofern hat es seine Bedeutung – aber die deutsche Gesellschaft aus

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jugendlichen Gemeinschaften heraus »bewegen«, das wollten und konnten die Bünde nicht.

Roland Eckert: Der Meißner 1963 als Versuch, »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« zu versöhnen1 »Gemeinschaft« als Modell von »Gesellschaft«: der Irrtum der deutschen Jugendbewegung Die Jugendbünde der Nachkriegszeit entsprangen unterschiedlichen Traditionslinien, bedienten sich aber überwiegend der Gemeinschaftsformen, die sich in den 1920er-Jahren entwickelt hatten. Diese waren jedoch diskreditiert, nachdem die Nationalsozialisten sie erfolgreich zur Indoktrination der Jugend eingesetzt hatten. Mehr noch: In der Idee der »Gemeinschaft« hatten sich Sehnsüchte einer Jugend verdichtet, die sich in der zerrissenen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit kaum zuhause fühlen konnte. Mit Ferdinand Tönnies (1887) glaubte man sie verstanden zu haben: »Gemeinschaften« beruhten auf einem »Wesenswillen«. In ihnen kommen gewachsene Ordnungen zum Ausdruck und bestimmen ein gemeinsames Interesse der miteinander lebenden Menschen. Im Gegensatz dazu steht in der modernen anonymen »Gesellschaft« die »Willkür« (ab der Auflage von 1912 der »Kürwille«) im Vordergrund, die die Beziehungen der Menschen durch Verträge regelt, in denen das Eigeninteresse der Einzelnen bestimmend ist. In dieser kontrastierenden Entgegensetzung verschwanden für die Jugendlichen dann die Konflikte und die unerbittliche soziale Kontrolle, die das Leben in den vormodernen Dorfgemeinschaften zumeist bestimmt hatte, im Dämmer einer Geschichte – auf die nun die hochgestimmten Gefühle projiziert werden konnten, die sie selbst in ihren Wahl–Gemeinschaften erzeugt hatten. Diese Übertragung der eigenen Erfahrungen in frei gewählten Gemeinschaften auf das Ganze der Gesellschaft gehört sicherlich zu den zentralen Irrtümern, die der pädagogischen Utopie der Jugendbewegung innewohnte. Bereits 1924 hatte Helmuth Plessner auf die Grenzen von Gemeinschaft hingewiesen, ohne diese insgesamt zu diskreditieren.

1 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Darmstadt 2005; Helmuth Plessner : Grenzen der Gemeinschaft. Eine Ethik des reinen Sozialismus (1924), Frankfurt a. M. 2002; Theodor Litt: »Führen« oder »Wachsenlassen«. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems (1927), Stuttgart 1964.

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Die Bünde nach dem Zweiten Weltkrieg Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war von tiefem Misstrauen geprägt gegenüber dem, was in den 1920er-Jahren in den Himmel gehoben worden war : den Leitideen von Gemeinschaft und Führung. Beide wurden – nicht zu Unrecht – verdächtigt, an der Katastrophe beteiligt zu sein, die Deutschland über die Welt und sich selbst gebracht hatte. Nicht so in vielen Nachfolgebünden: Dort wurden wieder alte hierarchisierende Ordnungsutopien, Dantes »De Monarchia« und die Aristokratie der »Ordenskapitel« der Ritter hervorgekramt. Die durchaus erkennbaren Widersprüche zwischen gemeinschaftlicher Lebenswelt der Bünde und dem politischem System, das die Gesellschaft bestimmte, wurden als Auftrag verstanden: zu den »Ursprüngen« zurückzukehren oder zu einem »neuen Reich« vorzudringen. So schmeichelhaft es für Jugendliche zunächst sein mochte, wenn ihre Erlebnisse mit tieferem Sinn und elitärer Würde aufgerüstet wurden, so schnell scheiterte ein solcher Auftrag an der faktischen Ohnmacht gegenüber den Strukturen in Verbänden, Parteien und Staat. Man hatte ein irreales Erbe angetreten. So spitzte sich die Frage zu, ob »Bünde« überhaupt einer modernen Gesellschaft angemessen sein konnten oder aber Ausdruck einer gefährlichen Rückwärtsgewandtheit waren, so wie es der Bundesjugendring im Vorfeld des »Meißner 63« verkündete. Gleichzeitig begann die Rekrutierungsbasis für die überkommenen Gemeinschaftsformen in der Jugend selbst zu bröckeln. Eine sich medial verbreitende und zunehmend kommerzialisierte Jugendkultur bestimmte in den 1950er-Jahren immer stärker die Geselligkeit und löste feste Gruppenformen auf. Sicherlich gab es einen Kern von jungen Menschen, für den gerade die geschlossene und verbindliche Gruppe attraktiv war, auch vor dem Hintergrund der von persönlichen Verlusten geprägten Familien. Aber das Monopol auf Zeltund Ferienreisen, das Jugendgruppen in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch hatten, schwand zunehmend gegenüber den Unternehmungen der Familien selbst, den unverbindlichen Angeboten der Jugendpflege und schließlich denen der Reiseveranstalter. So waren für die Bünde zwei Probleme zu lösen: einmal die Klärung des Verhältnisses von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« und zweitens die Profilierung gegenüber einer allgegenwärtig kommerzialisierten Jugendkultur. Die erste Aufgabe war mit den meisten der Traditionswahrer, die den Wiederaufbau der Gruppen bewerkstelligt hatten, schwer zu bewältigen – zumeist glaubten sie an die fortwirkende Zauberkraft der Losungen, denen sie einst gefolgt waren. Die zweite Aufgabe, d. h. die Profilierung gegenüber der kommerziellen Jugendkultur, gelang vielen kleinen Gruppen auf ihrem Weg in die Wildnis, zunächst in den deutschen Mittelgebirgen, dann in Lappland, Korsika, Griechenland und anderswo; sie hatten aber gerade dadurch keine Chance, öffentlich wahrnehmbar und wirksam zu werden. Schlimmer noch:

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Naturerfahrung wurde oft als »Fluchtbewegung« vor politischer Verantwortung diskreditiert. Die politische Finalisierung jugendlicher Lebensformen war noch lange nicht beendet und präsentierte neue Forderungen. Das Programm der »Eggheads«2 Angesichts dieser Schwierigkeiten schien die Zersplitterung der Bünde und Traditionen ein Haupthindernis zu sein, weil es an einer kritischen Masse fehlte. Bereits in den 1950er-Jahren wurde immer wieder über einen »Hochbund« spekuliert, zu dem die Bünde sich vereinigen sollten. Mehrere Versuche, ein solches Gebilde voranzubringen, scheiterten alsbald an den allzu eindeutigen Ambitionen, die einzelne Traditionswahrer einbrachten. Zwischen Wandervögeln und Pfadfindern, Nerothern und Jungenschaftlern gab es stilistische Differenzen – und die Vorstellung, dass dem je eigenen Stil die Zukunft gehören solle. So stand am Ende der 50er-Jahre, so unsere Wahrnehmung, zweierlei an: der Hierarchieabbau in den Bundesstrukturen und eine neue Wertschätzung von kultureller Differenz. Beide Aufgaben schienen zusammenzugehören: sahen doch die »Führer« in der Tradition der 20er-Jahre es gerade als ihre Aufgabe an, einen stilistisch geschlossenen Bund zu formen und Abweichler auszuschließen. Hierarchieabbau und Würdigung kultureller Vielfalt würde – so die Hoffnung, die sich mit dem Meißner 63 verband – auch das Verhältnis zur Gesellschaft und zur Demokratie auf eine neue Basis stellen: die Anerkennung von jugendlicher Vielfalt könnte auch das Verständnis einer sich immer weiter pluralisierenden Gesellschaft erleichtern. Damit war es letzten Endes wieder eine Utopie, die den gesellschaftspolitischen Standort bestimmte: nicht mehr »Führung«, »Elite« und »Dienst an einem neuen (oder alten) Reich«, sondern ideologiefreie »Freundschaft«, »Vielfalt« und »Kreativität« – das waren die Erfahrungen, die wir in die Gesellschaft einbringen wollten. Auf diese Weise hielten wir einerseits am Wert von »Gemeinschaft« fest, glaubten jedoch, den Widerspruch zur »Gesellschaft« auflösen zu können. Wir fühlten uns hinreichend gerüstet, dieses Konzept auf dem Meißner und bereits im Frühling 1964 zusammen mit dem BDP-Hessen gegenüber den FDJ-Pädagogen aus Leipzig vertreten zu können. Wie ist es gelaufen? Die Anerkennung von Vielfalt war als »Friedensformel« recht erfolgreich. Gleichzeitig tendierte sie gerade dadurch dazu, sich selbst aufzuheben. Überkommene Konflikte, etwa über die Legitimität von Jazz, wurden rasch bedeu2 So Eggert Langmann in einem Zeitungsbericht zum Meißner 1963.

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tungslos. Gerade weil man verschieden sein durfte, glich man sich an. Immerhin führte diese kulturelle Öffnung zu einem Schub an Kreativität in den Gruppen, die dann bald darauf auch in die Liedermacherszene eingebracht werden konnte, die sich auf der Burg Waldeck und im ganzen Land etablierte. Für uns Deutsche war der Glaube beflügelnd, durch die »Lieder der Welt« auch die Kulturen der Welt hereinholen zu können. Diese kosmopolitische Idee stieß oft auf tiefes Mistrauen. Die Vertreibung von Musikanten durch einen gewaltigen Polizeieinsatz löste 1962 die »Schwabinger Krawalle« aus. Wir versuchten nicht nur die Gemeinschaft von der Antithese zur Gesellschaft zu befreien und beide an den Menschenrechten zu orientieren; auch die pädagogische »Führung« sollte aus ihrer Verklammerung mit geglaubten gesellschaftlichen Hierarchien gelöst werden. Sie blieb allerdings naturwüchsig aber auf der Ebene der Gruppen präsent, was durchaus auch kritisch gesehen werden kann. Häufig wurde die Balance zum »Wachsenlassen« (Theodor Litt 1927) verfehlt. Die neuen sozialen Bewegungen Was wir aber 1963 nicht ahnten, war die Bedeutung, die »gemeinschaftliche Vergesellschaftung« bald darauf rund um den Erdball bekommen sollte. Studentenbewegung, Alternativbewegung und New Age, Friedens- und Frauenbewegung, die Proteste gegen die Atomwirtschaft und die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Osteuropa brachten gemeinschaftliche Lebens- und Wirkungsformen wieder in den Zusammenhang mit politischer Wirkung. Gerade auf dem Resonanzboden der neuen weltumspannenden Ton- und Bildmedien konnten kreative Aktionsformen die öffentliche und politische Kultur verändern; der erfolgreiche Kampf gegen das Atomkraftwerk in Kaiserstuhl ist nur ein Beispiel. Den überkommenen Jugendbünden bekam die Konkurrenz mit den neuen spontanen und gemeinschaftlichen Lebensformen allerdings nicht gut. Die Protestbewegungen hatten einen gesamtgesellschaftlichen, ja globalen Auftrag vorzuweisen und konnten die Frage »Was wollt ihr ändern?« mit rascher Überzeugung beantworten. Die aus dieser Konkurrenz resultierende »bündische Rezession« traf mit besonderer Härte die Bünde, die sich der kulturellen Vielfalt und der politischen Bildung geöffnet hatten. In den 1970er-Jahren waren es dann die stärker auf sich selbst bezogenen, eher unpolitischen Fahrtenbünde, denen es mit kontinuierlicher Gruppenarbeit gelang, diese »bündische Rezession« zu überwinden, während die Älteren der politisierten Bünde sich neuen Horizonten zuwandten. Wieweit dabei die gemeinschaftliche Erfahrung bestimmend blieb oder wurde, lässt sich nur vermuten. Gemeinschaftliche Vergesellschaftung ist jedenfalls in den spontanen Aktionsformen, Netzwerken und Gruppen der neuen sozialen Bewegungen wieder bedeutsam geworden. Diese »Wiederkehr des Gleichen« fand für mich im

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Frühjahr 1975 ein Sinnbild. Ich hatte in einem aufgelassenen Bahnhof im Tal der Wied den alten Friedrich Muck-Lamberty entdeckt. Er war es, der ab 1920 mit seiner »neuen Schar« thüringische Kleinstädte in einen Taumel von Reigentänzen versetzt und zu einer »Revolution der Seele« aufgerufen hatte. Jetzt betrieb er einen Laden mit internationaler Volkskunst. Als ich ihn diesmal sah, kauerte er am Bahndamm und zündelte mit ölgetränktem Papier im welken Gras des Vorfrühlings. »Das Alte muss verbrennen, das Alte muss verbrennen, das Alte muss verbrennen«, so murmelte er sein Mantra. Als er mich wahrnahm, ließ er sich tiefer in den Westerwald fahren. Dort lebten »seine« Hippies – wir aßen mit ihnen Reis und gerösteten Sesam aus einer großen Schüssel. Auch wenn es ihm nicht passte, dass sie rauchten und »sich dadurch von der kosmischen Strahlung abschirmten«, erkannte er in ihnen seine Jugend wieder. Als ich das nächste Mal in das Tal der Wied kam, war der Bahnhof abgebrannt.

Susanne Rappe-Weber

Bilder des Meißnertages 1963

Die Erinnerung an den Meißnertag von 1963 ist nicht zuletzt von den überlieferten Bildern geprägt. Das private Fotografieren war damals längst an der Tagesordnung. Gleichwohl sind es die versierten Bildserien, die letztlich im Gedächtnis bleiben. Dazu gehören die Aufnahmen von Helmut Kalle und Helmut Kleinsteuber, deren Arbeiten im Fotoarchiv des Mindener Kreises gesichert sind und so aufbereitet wurden, dass sie für ausgewählte Zwecke zur Verfügung stehen. In den Räumen des Archivs wurden einige dieser Bilder zur Tagung im Rahmen einer Ausstellung gezeigt. Zu sehen sind die Aktivitäten der Jungen Bünde im Kohtenlager sowie der gemeinsame Abschluss aller Teilnehmer auf dem Meißner. Es ist die Perspektive der Jungen, die sich im Lager einrichten und am Sonntagvormittag beim Offenen Singen und zur Schlusskundgebung in der Waldecke im »Rebbes« auf die Älteren treffen. Die Jungen sind »bündisch«, die Älteren formal gekleidet. Der Umbruch der kommenden Jahre kündigt sich allenfalls leise an. Manche der Jüngeren, die auf den Bildern zu erkennen sind, waren während der Ludwigsteintagung 2012 anwesend, haben das Wort ergriffen und sich in die Deutung ihrer Jugenderlebnisse eingebracht.

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Susanne Rappe-Weber

Bilder des Meißnertages 1963

Das Kohtenlager unter der Seilbahn und den Loren des Braunkohlen-Tagebaus Fotograf: Helmut Kalle-till

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An der Wasserleitung im Kohtenlager Fotograf: Helmut Kalle-till

Blick auf das Gelände des Kohtenlagers auf der Hausener Hute Fotograf Helmut Kleinsteuber-kramm

Susanne Rappe-Weber

Bilder des Meißnertages 1963

Auszug aus dem Lager Fotograf: Helmut Kalle-till

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Alexander Gruber, der Sprecher der »Jungen Bünde« Fotograf: Helmut Kalle-till

Susanne Rappe-Weber

Bilder des Meißnertages 1963

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Vor der Kundgebung fand ein »Offenes Singen« statt; unter den Teilnehmern waren Helmut Gollwitzer und Johannes Aff Fotograf: Helmut Kalle-till

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Helmut Gollwitzer bei seiner Festrede Fotograf: unbekannt

Der zum Jubiläum fertig gestellte Meißnerbau der Burg Ludwigstein Fotograf unbekannt

Susanne Rappe-Weber

Bilder des Meißnertages 1963

Festkarte des Meißnertages 1963 mit dem Ludwigstein-Signet und der Meißnerformel Entwurf: Wilhelm Geißler

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Weiterer Beitrag

Romin Heß

Politische Momente im Selbstverständnis und in der Praxis des Jugendbundes dj.1.11 nach 1945

Nonkonformismus in der Adenauer-Ära Der Zweig der Nachkriegsjungenschaften, von dem hier die Rede sein soll, zeichnete sich in seiner beinahe fünfzigjährigen Geschichte nicht zuletzt dadurch aus, dass er bewusst darum gerungen hat, der Gesellschaft einen eigenen Raum zur Entfaltung abzugewinnen.1 Das zwang immer wieder zu Abgrenzung, zu Opposition, ja Widerstand gegen bestehende gesellschaftliche und politische Verhältnisse, wenngleich nicht unbedingt in einem eng gefassten Begriff des Politischen oder in Form öffentlicher Bekundungen, was ja auch für einen autonomen Jugendbund unangemessen wäre. Es ging weniger um in Regeln oder Grundsätzen fixierte politische Bekenntnisse, sondern vielmehr darum, ob und inwiefern sich dj.1.11-er in Gesellschaft und Politik im kritischen Sinne engagierten. In der Adenauer’ schen Restaurationsepoche mit entschiedener Westintegration, rasantem Wirtschaftswachstum und mächtig vorangetriebener Remilitarisierung begriffen sich die dj.1.11-Gruppen beinahe als widerständische Fremdkörper. Gegen die sich rasch entwickelnde Konsumgesellschaft in den 1950er-Jahren antwortete die Nürnberger dj.1.11-Gruppe beispielsweise mit einer sogenannten Luxussteuer.2 Und nach Einführung der Bundeswehr 1956 verbot man den Teilnehmern, freiwillig Soldat zu werden. In Kassel forderte die 1 Meine Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Gespräche, Begegnungen, eigene Kenntnisse aufgrund eigenen Erlebens sowie das in meinem Besitz befindliche Archiv von dj.1.11 Nürnberg, das neben internen Publikationen wie Mitteilungsblättern und Zeitschriften u. a. eine umfangreiche Briefsammlung umfasst. 2 Jeweils 10 Prozent der Ausgaben für Luxus mussten abgeführt werden, und zwar für alle konsumierten Tabakwaren: alkoholische Getränke, Eiscreme, Scherz- und Knallartikel, Kinobesuch, Ring- und Boxveranstaltungen, Kirchweih, Volksfest, Tanzvergnügen, Geld-, Musik und Spielautomaten. Die zu versteuernden Ausgaben waren täglich in die dafür ausgegebenen Formblätter einzutragen und mit Datum und Unterschrift bis zum 15. Tag des folgenden Monats beim sog. Luxussteuerwart abzugeben; dj.1.11 Nürnberg, 28. 1. 1958, Neufassung der Luxussteuerregel vom 22. 1. 1952.

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autonome Jungenschaft ein Bekenntnis zur »jeweils revolutionärsten, bürgerfeindlichsten Bewegung im Weltmaßstab«, womit ein Engagement bei den Jungsozialisten oder in den Gewerkschaften gemeint war3 . Ein Jahrzehnt später fanden sich viele Ältere in der außerparlamentarischen Opposition. Zu diesem Zeitpunkt waren den beiden dj.1.11-Gruppen in Nürnberg und Kassel Jungenschaftsgruppen aus dem Rhein-Main-Gebiet, aus Niedersachsen und dem Ruhrgebiet beigetreten, sodass der daraus entstandene dj.1.11-Bund auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung etwa 200 Teilnehmer umfasste. Neben zwangsläufigen innerorganisatorischen Veränderungen ergaben sich daraus neue Weichenstellungen und Positionierungen zum gesellschaftlichen Umfeld. Die bundesrepublikanische Studentenrevolte erschien Vielen als die ins Politische übersetzte »Rebellion der Jungen«, für die dj.1.11 einst angetreten war.4 Eben so wenig sollten die Ausläufer der Studentenbewegung, die Friedensbewegung wie auch die Umweltbewegung an dj.1.11 vorbeigehen. Will man diese Entwicklung begreifen, insbesondere in der Nürnberger Gruppe, worauf hier der Fokus liegen soll, so scheint es zunächst sinnvoll, einen Blick auf die späten 1940er- und die frühen 1950er-Jahre zu werfen.

Kontakte zu Eberhard Koebel Die beiden Gründer Fritz Heß, genannt Fred, und Johannes Ernst Seiffert, genannt Johannes, hatten schon Ende der vierziger Jahre Kontakt zu Eberhard Koebel, genannt Tusk, aufgenommen, um seine Zustimmung zu einer Neugründung von dj.1.11 einzuholen.5 Tusk hatte im Prinzip keine Einwände, strebte allerdings einen Bund auf größtmöglicher Basis an. Inhaltlich postulierte er eine allgemeine demokratische, gesamtdeutsche Friedenserziehung, die er in der FDJ gewährleistet sah. Dieser Auffassung widersprach Johannes mit sehr 3 Johannes an Fred, 18. 4. 1954. In Briefen innerhalb von dj.1.11 wurde in der Regel die schlichte Anredeweise A an B verwendet, wobei die Eigennamen meist kleingeschrieben wurden. 4 Diesen Titel hatte Kai Tjaden seiner 1958 im Pläne-Verlag, Frankfurt erschienenen Schrift über die Geschichte der Vorkriegs-dj.1.11 gegeben. 5 Fritz Heß (1911 – 1966) hatte dj.1.11 Nürnberg 1948 gegründet und im ersten Jahrzehnt ganz entscheidend geprägt. – Johannes Ernst Seiffert (1925 – 2009) hatte ebenfalls 1948 in Kassel eine dj.1.11-Gruppe aufgebaut und stand in regem Briefkontakt mit Fritz Heß. Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre hatte er maßgeblichen Anteil an der theoretischen Ausrichtung und dem Ausbau des dj.1.11-Bundes. Nach seinem Lektorat für deutsche Sprache und Literatur in Japan von 1962 – 1970 war er Professor an der Gesamthochschule Kassel, dort Initiator des Projektstudiums und 1977 Mitbegründer der Freien Internationalen Universität Zweigstelle Kassel. In den 1970er-Jahren kam es mehrfach zu Begegnungen mit den bestehenden dj.1.11-Gruppen. – Im folgenden Text werden die in dj.1.11 gebräuchlichen bündischen Namen verwendet.

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deutlichen Worten: » du rühmst die fdj. du meinst, sie wird sich nie als politischer versager darstellen müssen. tusk, du irrst. sie ist es bereits. sie ist nicht das geworden, als was sie ursprünglich gemeint war. sie hat sich zum Instrument einer machthungrigen clique erniedrigen lassen. sie dient denen, die sozialismus schreiben und ihren job meinen.«6 In anderer Weise bezog Fred Stellung, indem er darauf verwies, dass die Entwicklung des Menschen Tusk und seine Abkehr vom Individualismus grundsätzlich zu akzeptieren seien. Eine Parallele zwischen dem Tusk von 1932 und der neuen dj.1.11 gäbe es beispielsweise in der Wertschätzung der Schriftsteller London und Traven, die in der Nachkriegs-dj.1.11 gewissermaßen als Pflichtlektüre galten und bei den Jugendlichen soziale Sensibilität und Solidarität mit den Unterdrückten befördern sollten. Tusk als Leiter innerhalb der FDJ schien Fred gleichwohl völlig undenkbar, sodass er eine entsprechende Meldung als Ente einer Ostzonenzeitung interpretierte.7 Für die neue dj.1.11 seien Selbsterziehung und Charakterschulung, wie man dies aus dem »Gespannten Bogen« und der »Heldenfibel«von Tusk herauslesen könne, nach wie vor wesentliche Orientierungspunkte.8 Von diesen beiden Schriften hatte sich deren Verfasser allerdings inzwischen ganz klar distanziert. Wenig später, nachdem sich Fred und Johannes für einen eigenen dj.1.11-Weg außerhalb einer größeren jungenschaftlichen Dachorganisation entschieden hatten, missbilligte Tusk diesen Schritt mit sehr deutlichen Worten: »Eins ist sicher : dj.1.11 fasst ihr nicht als Verpflichtung.«9 Etwa ab diesem Zeitpunkt rissen die Verbindungen mit Tusk ab; umso mehr pflegte man originäre Stilelemente der alten dj.1.11 ebenso wie wie das im »Gespannten Bogen« propagierte Menschenbild und die Ordensidee aus der »Heldenfibel«. Im Orden der neuen dj.1.11 sollte ein Raum geschaffen werden, worin die jungen Menschen die Antwort auf ihre Hauptfrage »Wie soll ich leben?« finden sollten: Wenn man die Welt wirksam verbessern wolle, so die

6 Johannes an Tusk, 25.04.48. Viele Briefe, teilweise auch Publikationen von dj.1.11, waren in Anlehnung an Tusks Schreibweise in Kleinschreibung verfasst, obwohl der sich nach 1945 davon distanziert hatte.– In den Zitaten wird die Schreibweise des Originals beibehalten. 7 Fritz Hess an Eberhard Koebel, 28. 01. 1948. 8 »Der Gespannte Bogen« war eine von Tusk im Januar 1931 herausgegebene programmatische Flugschrift, worin er seine Vorstellungen jungenschaftlicher Daseinsregelung entwickelte. Insbesondere stellte er darin das Ideal des jungen Selbsterringenden, das er für dj.1.11 propagierte, dem Wiederholenden gegenüber. Die in Briefform von Tusk verfasste Schrift »Die Heldenfibel« entwarf die Vision eines am Zen-Buddhismus orientierten philosophischen Ordens, der seinen Mitgliedern die nötige innere Haltung und Standhaftigkeit verleihen sollte, um gegen äußere Anfeindungen, d. i. der Nationalsozialismus, bestehen zu können. 9 Tusk an Johannes, Nordengland, 23. 2. 1948.

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gemeinsame Überzeugung der Kasseler und Nürnberger dj.1.11, so müsse man beim einzelnen Menschen ansetzen.10

Politische Grundsätze In ihren Grundsätzen stellte sich dj.1.11 nach 1945 klar auf den Boden der Demokratie, was in allen verschiedenen Bundesregeln von 1948 bis 1970 immer wieder explizit zum Ausdruck kam.11 Mit diesem Bekenntnis kam man den Auflagen der Besatzungsmacht und der Behörden nach, vor allem aber brachte man damit die eigene Grundüberzeugung zum Ausdruck. Im Falle von Fred mögen darüber hinaus die eigenen Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle gespielt haben.12 Den bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus Rechnung tragend, trat man für politische und religiöse Toleranz, den Gedanken eines europäischen Staatenbundes und künftigen Weltstaates ein; Deutschtümelei, Nationalismus und Militarismus wurden als Atavismen abgelehnt, Parteipolitik und Beziehungen zu Parteien verworfen. Ansonsten blieb die Politik in der Anfangszeit weitgehend außerhalb des Gruppengeschehens, zumindest in Nürnberg, denn, so die Auffassung von Fred, politische Auseinandersetzungen und Aktionen seien nicht die Sache des Jugendbundes. Nicht Programme oder politische Ideen wurden als entscheidend erachtet, sondern wie sich die Menschen im Rahmen eines Programms, eines Ideals, einer Überzeugung verhielten. Der bundesdeutschen Republik und ihren Politikern stand man kritisch gegenüber, maß beispielsweise deutsche Politiker am Leben und Wirken von Mao-Tse-Tung: »Heute ist er Herr über 250 Millionen Menschen des kommunistischen Chinas; […] doch er selbst ist bedürfnislos wie ein Kuli, hat den Rock des einfachen Soldaten an, schläft auf der Erde, lässt sich von der Mannschaftsküche verpflegen […], er schlürft das Trinkwasser aus der Hand […]. Wir lieben die Mao-Tse-Tungs. Wir sehen im Vergleich dazu einen deutschen Würdenträger, der für seine lächerlichen Entfernungen seines bizonesischen Kleinstaates einen Sonderzug benötigt, dass es dem Bauch nebst Zubehör immer wohl ergehe.«13 10 Johannes Ernst Seiffert: dj.1.11 – unser weg, 18. 03. 1948. 11 Deutsche Jungenschaft – dj.1.11 Kreisverband Nürnberg, 1948, S. 1. – Regeln für dj.1.11/ Abteilung Nürnberg, 27. 01. 1970, S. 1. 12 Fred hatte bis zu einer zeitweiligen Inhaftierung 1934 eine illegale Jungenschaftsgruppe geführt. 1937 hatte er unter dem Dach einer FKK-Gruppe und als Parteimitglied seine Gruppenaktivitäten außerhalb von NS-Organisationen bis Kriegsbeginn wieder aufgenommen. Nach 1945 wollte er vor der Spruchkammer in Nürnberg seine antinationalsozialistische Grundhaltung nachweisen. 13 Stadion. Briefe der dj.1.11, 1949, Folge I, S. 5, Beilage, in: Signale, 1957, Heft 26.

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Wirken in der Öffentlichkeit Bis Mitte der fünfziger Jahre blieb es im Grunde bei dieser politischen Abstinenz. Erst mit der Aufstellung eines Schaukastens im Nürnberger Stadtviertel St. Leonhardt und der Herausgabe der Zeitschrift »Signale« rückte die gesellschaftliche Realität stärker in den Blickpunkt.14 In dem Schaukasten wurden vor allem kommentierte Zeitungstexte ausgestellt, die sich mit Themen wie Fortschritt, Verdrängung kleinerer Geschäfte und Unternehmen, Ladensterben durch Filialen, Geschäftemacherei, Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer beschäftigten. Im Sommer 1954 wurde die Bevölkerung im Stadtviertel aufgefordert, eine Petition an Bundestagsabgeordnete zur gesetzlichen Vereinbarung von Ladenschlusszeiten. zu unterstützen.15 Im Jahr darauf begann dj.1. 11 Nürnberg mit der Herausgabe der Zeitschrift »Signale«. Viele Texte beschäftigten sich dort mit sozialpolitischen Themen im Umfeld der Jugendlichen, z. B. mit den Schattenseiten des Wirtschaftswunders, mit der Lage der Lehrlinge, der Zerstörung der Natur durch Wohnungsbau und Industrie, Teilzahlungsgeschäften, dem weihnachtlichen Geschäfterummel, Idolen der Jugend oder billiger Unterhaltung zum Nutzen der Vergnügungsindustrie. Mit bewusst leicht verständlichen Texten sollten nicht nur die Jugendlichen in der Gruppe angesprochen werden. Zwei Beispiele seien hier herausgegriffen. Obwohl es damals in vielen Haushalten noch gar kein eigenes Fernsehgerät gab, warnte der Schreiber weitsichtig davor : »Du wirst ferngesehen, dein Auge ist nicht mehr frei, sondern der Apparat zwingt es, das zu sehen, was die Herren der Sendeanstalt entschieden haben, dich und tausend andere sehen zu lassen.«16 Ein anderer Vorschlag wirkt beinahe wie ein Wink aus den Kindertagen der Umweltbewegung: »Beim Rettungsschwimmen müsste die Ausbildung um einen Punkt erweitert werden: wie helfe ich einem durch zwei Freischluckwasser Vergifteten?«17 Weder den »Signalen« noch dem Schaukasten war eine größere Außenwirkung beschieden, man wollte lediglich im kleinen, überschaubaren Bereich Impulse gegen herrschende gesellschaftliche Trends setzen. Was man an der Gesellschaft kritisiert hatte, sollte innerhalb der Gruppe schon einmal positiv vorweggenommen werden. In diesem Sinne untersagte man den Teilnehmern Teilzahlungsgeschäfte, die von der Werbung damals stark angekurbelt wurden.18

14 Die Zeitschrift »Signale« erschien zwischen Oktober 1955 und März 1958 in 29 Ausgaben. Herausgeber war dj.1.11 Nürnberg, Verfasser der Texte nahezu ausschließlich Fred. 15 Zeitung und Meinung, 10. 07. 1954. 16 Signale, 1957, Heft 18, S. 2. 17 Signale, 1957, Heft 19, S. 4. 18 dj.1.11 Nürnberg, Mitteilungen für die Zeit vom 14.05. bis 24. 07. 1954, S. 4.

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Schon frühzeitig hatte man jegliche Form von Geschäftemacherei untereinander verboten.19 Eindeutige, nach außen gerichtete politische Stellungnahmen erfolgten lediglich in zwei Punkten, nämlich gegen Neonazismus und Remilitarisierung. Letzteres fand 1958 sogar Eingang in die Bundesregel mit dem Passus: »Bundesteilnehmer werden nicht freiwillig Soldat.«20 Schon in den frühen 1950erJahren hatte Johannes in einer für dj.1.11 Kassel herausgegebenen Zeitschrift die Aufstellung einer deutschen Wehrmacht abgelehnt und zivilen Ungehorsam gegen Remilitarisierung gefordert. In diesem Sinne sollten die Teilnehmer an die Abgeordneten ihres Wahlkreises schreiben.21 Demgemäß wurde als sogenannte Spielregel formuliert: »Es werden keine Lieder gesungen, die den modernen Krieg beschönigen oder rechtfertigen wollen oder dazu aufrufen.«22

Von der Non-Violence-Idee zur Revolution Unter dem maßgeblichen Einfluss von Johannes begleiteten die hessischen Gruppen den gesellschaftlichen Wandel von Anfang an politischer und, wenn man so will, kritischer. Mit der von Gandhi entlehnten Non-Violence-Idee hatte man ein Instrumentarium zum friedlichen Protest gegen Remilitarisierung, westliche und östliche Paktsysteme gefunden. Zu einer spektakulären Aktion im Sinne der von der Gruppe propagierten Friedenspolitik kam es Ende 1951, als sich Johannes mit einer Handvoll dj.1.11-ern Zutritt zum Bundestag verschaffte und demonstrativ ein Schild mit folgender Aufschrift trug: »Bewaffnung und Brudermord lehne ich ab. Es ist unsittlich, auf Menschen zu schießen, und gar auf deutsche Brüder. Einer westlichen oder östlichen Einberufung werde ich nicht Folge leisten.«23 Bald darauf wurden weitergehende politische Forderungen erhoben bzw. Aktivitäten unternommen. Teile der Kasseler Gruppe näherten sich mehr und mehr revolutionären Ideen, insbesondere dem Marxismus trotzkistischer Prägung. Sie engagierten sich bei den Jungsozialisten und Falken und sollen im Falle der Juso-Gruppe Kassel-West so sehr das Heft in die Hand bekommen haben, dass der Verband 1956 vom Parteibüro aufgelöst worden ist. Neben die Ausformung eines antithetischen jungenschaftlichen Milieus, das allein für sich schon als Gegenentwurf gegen die bürgerliche Gesellschaft gedacht war, trat mehr und mehr der politische Kampf gegen das kapitalistische System. dj.1.11 sei eine »avantgardistisch-revolutionäre Organisation mit re19 20 21 22 23

Bundesregel der deutschen Jungenschaft, Gau Mitte, 01. 01. 1950, S. 13. Bundesregel dj.1.11, 01. 11. 1958, S. 11. Der Orden, Blatt 3, Bebra o. J., S. 2. Der Orden, Blatt 4, Bebra, o. J., S. 2. Zeitschrift »das team« 1951, Heft 3, interne Veröffentlichung der dj.1.11 Kassel.

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volutionärer Zielsetzung.« Den Nürnbergern hielt man entgegen: »Welche Aktionen gegen die Wiederaufrüstung der Schlotbarone, Berufsmilitaristen und Nazis habt ihr denn organisiert oder selbst bestritten? Welche Jungsozialisten oder Gewerkschaftsgruppe habt ihr denn für revolutionäre Arbeit erobert oder neu aufgebaut?«24 In Nürnberg hielt man wenig von solcherlei Revolutionsphraseologie. Schon ein Jahr zuvor hatte man dem Statement aus Kassel, dass die bürgerliche Gesellschaft mit dj.1.11 im Kalten Krieg lebe, entgegen gehalten: »Wir dürfen der bürgerlichen Gesellschaft unsere Frontstellung nicht zu deutlich machen. Sonst entzieht sie uns einfach ihre Kinder.«25 Ebenso distanzierte man sich von einer anderen Kasseler Aktion im Mai 1958. dj.1.11 Kassel hatte ein Flugblatt zur Solidarität mit dem algerischen Befreiungskampf mit dem Namen dj.1.11 unterzeichnet und auf der Maidemonstration die Fahne von dj.1.11 neben der Fahne der algerischen Befreiungsfront getragen. Ein derart unkluges Verhalten unter dem Namen von dj.1.11, hieß es aus Nürnberg, müsse unterbunden werden. Es gehe nicht darum, dass man die französische Algerienpolitik unterstütze oder die Tendenzen zur Remilitarisierung der BRD in den frühen 1950er-Jahren, eher das Gegenteil, die Aktion im Bundestag sei sogar bewundernswert, allerdings könne man das nur als Einzelner und nicht im Namen der Jungenschaft tun.26

Jungenschaft und gesellschaftliches Engagement Trotz aller Differenzen verorteten sich beide dj.1.11-Gruppen in Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft, nur konzentrierte man sich in Nürnberg auf den jungenschaftlichen Kernbereich, was auch darin begründet war, dass sich die Gruppen im Wesentlichen aus Volksschülern und Lehrlingen zusammensetzten, während in Kassel Oberschüler und Studenten dominierten. In dem hier skizzierten Konflikt setzte sich letztlich die Nürnberger Linie durch, aus Kassel kamen zuletzt sogar Anfragen zur Nürnberger Gruppenpraxis, denn dort war es im Unterschied zu Kassel gelungen, einen recht stabilen Stamm an Teilnehmern aufzubauen. Die Auseinandersetzungen in diesen Jahren offenbarten ein später wieder auftauchendes, generelles Dilemma politischen Engagements in der Jugendbewegung. Die Autonomieforderung, wie sie Tusk im »Gespannten Bogen« vertreten hat oder wie sie bereits zuvor in der berühmten Meißnerformel zum 24 Johannes an Fred, 14. 04. 1955. 25 Fred an Johannes, 23. 04. 1954. 26 dj.1.11-Bundeskanzlei an dj.1.11 Kassel, 20. 05. 1958.

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Ausdruck gekommen war, verlangte ab einem bestimmten Lebensalter die Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft, im Sinne von dj.1.11 in Formen kritischen Engagements. An diesem Punkt ist der Ältere – einmal ganz abgesehen von beruflichen oder familiären Zwängen – streng genommen für die Jungenschaft verloren. Vielfach versuchte man gleichwohl, solche Leute für die Gruppe zu halten, was, wie sich noch deutlicher herausstellen sollte, leicht dazu führen konnte, dass man jungenschaftliches Leben lediglich als ein Durchgangsstadium, die Gruppe beinahe als Kaderschmiede für die Revolution angesehen hat. Zudem lag es nahe, den politischen Kampf schon in die Jüngerengruppe vor zu verlagern, ohne sich hinreichend klarzumachen, dass man damit die Autonomieforderung aushebelte.

Alinu-Lager bei Schönrain am Main (31.3.–3.4.1961). Quelle: privat

Wirken im Verborgenen Die späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre waren geprägt durch die Konzentration auf die innere Entwicklung des Bundes, eher ein »Wirken im Verborgenen«, wie der Name eines Arbeitskreises auf dem »Alinu-Lager« 1961 lautete. Johannes hatte die von Nürnberg bereitwillig aufgenommene Parole der Schwerpunktsetzung auf den eigenen Bereich ausgegeben. Dem waren die großen Bundeslager 1960, 1961 und 1962 gewidmet. Streng verbindliche äußere Formen im Stil der alten dj.1.11 mit Zen-Übungen, Chorsingen, Stockfechten, Bogenschießen, No-Schauspiel, Go-Spiel, Chassidismus u. a. prägten die Gruppenaktivitäten zu dieser Zeit. Man distanzierte sich nunmehr von der allzu kurzatmigen politischen Werkelei und forderte »den Atem des langen Ler-

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nens«.27 In der aktuellen Situation in Deutschland komme es darauf an, sich herauszubegeben »aus der Politik im engeren Sinne, die Lücken des universalen Katastrophenzusammenhangs zu benutzen, um hier Enklaven anzusiedeln, in denen die Bakterien der Zukunft gezüchtet werden können. dj.1.11 im Sinne von tusk transformiert in unsere Gegenwart.«28 In der dj.1.11-Gruppe gehe es um eine Erziehung zum Widerstand gegen die bürgerliche Gesellschaft. Mit zunehmendem Alter erfordere das für den dj.1.11-er ein konkretes politisches Engagement, für die Jüngeren »eine Geisteshaltung kämpferischer Solidarität mit den Unterdrückten dieser Welt.«29 Für ein solches Bewusstsein seien die Romane von Traven bedeutsamer als die Analysen von Marx. Für den Bund gehe es darum, Ausschau nach Bundesgenossen aus dem bürgerlichen und linksbürgerlichen Lager zu halten sowie Kontakte mit Überlebenden der Vorkriegs-dj.1.11 aufzutun; denn »die Furcht des Bürgertums und seines Büttels, des deutschen Spießbürgers, vor wirklich selbständigen Regungen der Jugend kann von uns gar nicht groß und in seinen Reaktionen gefährlich genug eingeschätzt werden.«30 Insgesamt waren die Erfolge dieses so beschriebenen Kurses eher bescheiden, andererseits wurde jedoch auch die revolutionäre Sprengkraft der winzigen dj.1.11 maßlos überschätzt. Die interne Entwicklung war immerhin so erfolgreich, dass der Bund auf dem legendären Ginsterblütenlager, wie bereits angemerkt, etwa 200 Leute umfasste. Auf diesem Lager wurden zwei für alle drei dj.1.11-Gruppierungen31 verbindliche Grundsätze beschlossen, nämlich die unbedingte Einheit von Aussage und Tun sowie eine klare Absage an ein wie auch immer geartetes eigenes Eliteverständnis.32

27 Johannes an Erdmann, 11. 01. 1962, S. 1. – Erdmann Linde war einer der Ansprechpartner der Teile des Hortenrings, die sich 1963 dem dj.1.11-Bund angeschlossen hatten. 28 Johannes an Arno, 25. 11. 1962. – Arno Schuh war als 10-jähriger in die Kasseler Gruppe eingetreten und gehörte dj.1.11 bis1968 an. 29 dj.1.11-Brief, 1964, Nr. 2, S. 4 f. 30 Johannes an Claus und den Weißen Ring, 29. 03. 1962. – Claus Bößenecker spielte ab 1958 eine entscheidende Rolle in Nürnberg und im Bund insgesamt, u. a. als Leiter der wegweisenden Bundeslager und Koordinator der einzelnen Abteilungen und Bundeskanzler. 31 Neben dem dj.1.11-Bund, bestehend aus den Abteilungen Nürnberg, Rhein-Main und Mitte, waren auf diesem Lager dj.1.11 Aachen und dj.1.11 Hortenring, die spätere dj.1.11Abteilung West, vertreten. 32 Crew 2: Anregungen zur Gruppenarbeit in dj.1.11, Kyoto o. J., S. 1. – Johannes hatte nach dem Lager seine Lehrtätigkeit in Kyoto aufgenommen und gab von dort aus zwischen 1952 und 1964 neun Nummern der Zeitschrift heraus. Auf dem Lager hatte man ihn zum Beauftragten für Gruppenarbeit ernannt.

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Bundeslager oder Ostermarsch Mit den neuen Gruppen im Ruhrgebiet, die sich aus dem Hortenring gelöst und als dj.1.11 Abteilung West konstituiert hatten, kam ein neues Thema auf die politische Agenda, nämlich die Positionsbestimmung zur Ostermarschbewegung. Einzelne Gruppen des Hortenrings, größtenteils ältere Jugendliche und junge Erwachsene, waren in der Sache sehr stark engagiert und forderten daher von dj.1.11 eine eindeutige Parteinahme. Notwendig war eine Entscheidung auch insofern, als die überregionalen dj.1.11-Lager bis dahin in der Regel an Ostern abgehalten wurden. Während Johannes der Ostermarschbewegung ein beachtliches Maß demokratischer Willensbildung in Deutschland attestierte und daher für die Vereinbarkeit von Ostermarsch und dj.1.11 einen Kompromiss, zuerst Ostermarsch und danach Osterlager, anvisierte, betonte man in Nürnberg die klare Präferenz des Osterlagers, ohne das Anliegen der Ostermarschierer für gesellschaftspolitisch unwichtig zu erklären.33

Distanz zur bündischen Jugend Eine Gelegenheit zur öffentlichen politischen Stellungnahme von dj.1.11 bot die Kundgebung auf dem Hohen Meißner, wo der 50. Jahrestag der Feier von 1913 begangen wurde. Bereits beim Singen waren Horten von dj.1.11 und des Hortenrings aufgefallen, indem sie den vorgetragenen traditionellen Jugendbewegungsliedern das Ostermarschlied »Strontium 90« entgegensetzten.34 Zum eigentlichen Eklat kam es dann auf der Abschlusskundgebung. Nicht nur aus den Reihen von dj.1.11 war es während der allzu langatmigen und stark nationalistisch gefärbten Reden zu Protestäußerungen gekommen. Daraufhin beschimpfte einer der Organisatoren mitten in der Veranstaltung die Zwischenrufer als »eingeschlichene« Elemente, die nichts in der Jugendbewegung zu suchen hätten. Diese verunglimpfenden Invektiven veranlassten dj.1.11, zusammen mit der Freischar, dem Zugvogel und Teilen der Christlichen Pfadfinderschaft die Versammlung unter Protest zu verlassen. Folgerichtig zog man im Anschluss daran einen klaren Trennungsstrich zur bündischen Jugend. In satirischen Versen rechnete der spätere dj.1.11-Bundessprecher Hans Josef Jansen,

33 Johannes an Eberhard, 16. 02. 1963. – Claus an Erdmann, 05. 03. 1963. 34 Jürgen Reulecke: Der »Hortenring« im Ruhrgebiet in den frühen 1960er Jahren, in: Eckard Holler (Hg.): »Hier gibt es Jungen, die nicht einmal ein eigenes Bett haben«. Tusks KPD 1932 und die jungenschaftliche Linke nach 1945 (Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis; 6), Berlin 2012, S. 101 – 112, hier S. 111.

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genannt Tapo, mit den Meißner-Feierlichkeiten ab.35 Teile der Bündischen Jugend, hieß es später in einer dj.1.11-internen Zeitschrift, zeigten wieder autoritäre Organisationsformen, faschistische Tendenzen, ein unpolitisches Selbstverständnis und eine konformistische Anpassung an die bestehende Gesellschaft. Dem gelte es entgegenzutreten, mehr noch allerdings im eigenen Bund die entsprechenden organisatorischen und inhaltlichen Weichenstellungen vorzunehmen.36

Räte statt Führer Auf Initiative der neuen dj.1.11 Abteilung West wurde Mitte der sechziger Jahre nach einem längeren Diskussionsprozess die sog. Bundesorganisationsregel in wichtigen Punkten geändert.37 Auf allen Organisationsebenen gab es künftig nur Sprecher : also statt des »Hortniks« den Hortensprecher, statt des Abteilungsführers den Abteilungssprecher, schließlich keinen Bundeskanzler mehr, sondern einen Bundessprecher. Alle Positionen waren im rätedemokratischen Sinne jederzeit abwählbar ; bundesweite Entscheidungen wurden von einer auf dem alljährlichen Bundeslager tagenden Bundesversammlung getroffen. Wichtiger noch war die Abschaffung der Weißen Ringe, bis dahin Führungsorgan der einzelnen dj.1.11-Abteilungen. Deren Mitglieder sollten vorbildlich in jeglicher Hinsicht sein, »innerhalb wie außerhalb des Bundes, in Bezug auf Freunde wie auf Fremde«38, und auch im öffentlichen Leben. Der Beitritt zu diesem Gremium konnte zwar durch einfache Willenserklärung vollzogen werden; gleichwohl galten dessen Mitglieder in den Augen mancher dj.1.11-er schon seit längerer Zeit als zu abgehoben. Darum waren die Weißen Ringe trotz eines kühnen Versuches des Bundesbeauftragten für Gruppenarbeit, ihnen zu einer gesellschaftspolitischen Neujustierung zu verhelfen, nicht mehr zu retten. Sie sollten nach dessen Vorstellung eine »überlegen operierende, starke Führung« verkörpern, »die innerlich und gesellschaftlich den Generalstäben der Massenkorruption gewachsen ist« […] als ein Gegengeneralstab der Entkorrumpierung kleiner Zellen im gesellschaftlichen Gewebe.«39 Nach relativ kurzer Zeit trauerte kaum noch jemand der alten Organisati35 Vgl. Reulecke: Hortenring (Anm. 54), S. 111 f.. Mit Selbstironie, wie Jürgen Reulecke in seinem Aufsatz behauptet, hatte das allerdings nichts zu tun. 36 Fjodor : Hoher Meißner 1963: dj.1.11 und die Bündische Jugend, in: dj.1.11-Brief, 1964, Heft 1, S. 6 f. – Fritz Schulte, genannt Fjodor, war zu diesem Zeitpunkt Sprecher der neuen dj.1.11 Abteilung West. 37 Vorschlag zur Neufassung der Bundesorganisationsregel von dj.1.11, Köln, 19. 05. 1965. 38 Neue Deutsche Jungenschaft: Bundesregel, Stadionausgabe, ab 12. 10. 1951, S. 5. 39 Johannes an den Weißen Ring Abt. Mitte, 08. 01. 1963.

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onsregel nach, war doch die Revision allein schon sprachlich dringend erforderlich. Ein Jugendbund mit dem Selbstverständnis von dj.1.11 konnte einfach nicht mehr an Begriffen wie »Führer«, »Bundeskanzler« oder »Bundeskanzlei« festhalten, denn sie passten nicht mehr zu einem kritisch demokratischen Bewusstsein auf der Höhe der Zeit, hatte man sich doch schon frühzeitig von dieser Republik und ihren Würdenträgern distanziert. Zwar hatten die Weißen Ringe dj.1.11 weder regional noch überregional ein autoritäres Gepräge gegeben, gleichwohl implizierte ein solches Konstrukt ein – durchaus gewolltes – Eliteverständnis, dem man auf dem Ginsterblütenlager 1962 ausdrücklich abgeschworen hatte.

Solidarität mit den Unterdrückten Ausgehend von den organisatorischen Veränderungen wurde Mitte der 1960erJahre der neue Leitgedanke »Solidarität mit den Unterdrückten dieser Welt« zum Motto der Bundeslager. Themen waren u. a. Antisemitismus, Unterdrückungstendenzen in der BRD, die Lage der Schwarzen in den USA, soziale Verhältnisse in Südamerika, Unterdrückung in Persien und die Bauernkriege. Auf dem Bundeslager 1965 war eine Gruppe lateinamerikanischer Studenten zu Gast, die in verschiedenen Kohtenrunden über die politische Lage in ihren Herkunftsländern berichteten. Ein Jahr später hatte der damalige Bundeskanzler Winfried Harendza, genannt Celso, iranische Studenten eingeladen, die den Widerstand gegen den Schah in Deutschland organisierten und schon seit längerer Zeit mit der Braunschweiger dj.1.11-Gruppe zusammenarbeiteten. Mit dem Schah-Regime, der Lage in der Dritten Welt und ähnlichen aktuellen politischen Themen beschäftigte sich in Nürnberg der sog. Kulturklub für Ältere, der neben die bestehenden Horten trat und sich jeweils in längeren zeitlichen Abständen im Seminarstil mit Fragestellungen auseinandersetzte, die auch in Kreisen der sich zu dieser Zeit formierenden außerparlamentarischen Opposition auf der Tagesordnung standen. Gemäß dem ersten Grundsatz des Ginsterblütenlagers, der geforderten »Einheit von Leben und Lehre«, wie auch dem dj.1.11-Zeichen der gekreuzten Schwerter, die für Kontemplation und Aktivität standen, musste aus der theoretischen Beschäftigung mit weltweiter Unterdrückung auch ein konkret-praktisches Engagement folgen. In einem ersten Schritt wurde der Bund dj.1.11 1967 offiziell Mitglied im Antiapartheid-Movement, nachdem man sich auf den Bundeslagern und in Gruppenstunden mit der Apartheid in Südafrika und der Rassentrennung in den USA auseinandergesetzt hatte.40 40 Der Bund erhielt die Mitgliedsnummer X 305.

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Schon ein Jahr zuvor hatte nach einem entsprechenden Beschluss auf dem Bundeslager 1965 dj.1.11 Northeim im Oktober alle Abteilungen zur Beteiligung an der Spendenaktion »Angolahilfe« des DGB aufgerufen.41 Etwas mehr als ein Jahr später erging aus der gleichen dj.1.11-Gruppe der Appell an alle Älteren, sich angesichts der gesellschaftlichen Repression und Rechtstendenzen in geeigneten Organisationen wie Gewerkschaften, Studentenverbänden oder bei den Falken zu engagieren; Jüngerengruppen sollten als »demokratische Jungenschaft« weitergeführt werden, für spezifische dj.1.11-Formen sei keine Basis mehr gegeben.42 In ähnlicher Weise hatte sich Johannes von Kyoto aus geäußert, indem er die Gründung von Bubengruppen durch besonders qualifizierte 14 – 17-Jährige forderte, »politisch radikal progressiv ; pro-plebejisch, pro-proletarisch, antikolonialistisch; also eindeutig links; links von Friedrich Ebert und Stalin u. Nachfolgern, links von der Baracke in Bonn und Ulbricht, Vorbild Protestsänger Wolf Biermann.«43

Auf der Seite des revolutionären Sozialismus Während der Auflösung des Jugendbundes in allen Abteilungen deutlich widersprochen wurde, fand die erste Forderung bald darauf Eingang in das Selbstverständnis von dj.1.11. In einer neuen dj.1.11-internen Zeitschrift wurde Anfang 1969 Grundsätzliches zum Verhältnis von dj.1.11 und Politik formuliert, verfasst von einem Nürnberger Teilnehmer, der zugleich im örtlichen Sozialistischen Hochschulbund (SHB) aktiv war,, worauf in den Diskussionen der nächsten Jahre immer wieder zurückgegriffen wurde. »dj.1.11«, hieß es dort, »ist politisch und nicht-politisch zugleich«, nicht politisch, da man sich mit keiner Partei oder politischen Gruppe identifiziere, politisch jedoch, da der im »Gespannten Bogen« geforderte »autonome Mensch« nur ein »homo politicus« sein könne. Für ältere Teilnehmer bedeute das ein notwendiges politisches Engagement, das auf Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD nur auf Seiten des revolutionären Sozialismus sein könne.44 Dieser Devise entsprechend hatte im Mai 1966 eine Nürnberger Älterenhorte 41 dj.1.11 Northeim: Aufruf zur Beteiligung an der Spendenaktion Angolahilfe des DGB, 03. 10. 1965. 42 Kricha: Zur Situation, Januar 1968. – Detlev Priebe, genannt Kricha, gehörte der Abteilung Mitte an und wandte sich mit seinem Schreiben an die Älteren in allen Abteilungen. 43 Johannes an Tapo, Claus, Eberhard, Gero, Mai 1965. – Tapo war neben Fjodor führendes Mitglied der Abteilung West. Rüdiger Busse, genannt Gero, gehörte zum Führungskreis der Abteilung Mitte. 44 Sigma, 1969, Heft 2, S. 3. Sigma war die Bundeszeitschrift von dj.1.11 von 1969 bis 1982 und erschien insgesamt in 27 Ausgaben.

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geschlossen am Vietnamkongress des SDS in Frankfurt teilgenommen; einige Teilnehmer derselben Horte waren fünf Monate später zum Kongress »Notstand der Demokratie« in Frankfurt gereist, um auf diese Weise ihren Protest gegen die geplanten und 1968 verabschiedeten Notstandgesetze der Großen Koalition zum Ausdruck zu bringen. Dort hatte man auch, ohne dass dies abgesprochen gewesen war, Vertreter der dj.1.11 Abteilungen Mainz und West getroffen. Wiederum zwei Jahre später auf der Osterfahrt der Abteilung Nürnberg wurde sehr ernsthaft diskutiert, ob die Älteren nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, statt durch die Wälder zu ziehen, politisch aktiv werden müssten. Zwar verließ damals keiner die Fahrtengruppe; eine endgültige Entscheidung zugunsten des jungenschaftlichen Engagements war damit allerdings noch nicht getroffen. Eine deutliche politische Parteinahme spiegelt sich auch in der von einigen Älteren in Nürnberg zwischen 1966 und 1967 für dj.1.11 herausgegebenen Zeitschrift »quipu« wider, wo unter anderem der aufkommende Neofaschismus in der Bundesrepublik Deutschland, die politischen Verhältnisse in FrancoSpanien, der Militärputsch in Griechenland angeprangert und Sympathien für den Vietcong oder südamerikanische Befreiungsbewegungen bekundet wurden.45 Solche politischen Stellungnahmen blieben auf verschiedene Ältere in der Gruppe beschränkt. Manche von ihnen engagierten sich im Hochschulbereich dezidiert politisch, verblieben in der dj.1.11-Gruppe, verzichteten aber darauf, dj.1.11 insgesamt politisch zu instrumentalisieren. Dazu kam es vereinzelt erst später in einer veränderten politischen Konstellation. Dass politische Fragestellungen bis hin zu konkretem Engagement stärkere Bedeutung gewannen, war evident und konnte letztlich nicht ohne Auswirkungen bleiben auf die Jüngerengruppe, also den eigentlichen Kern der Jungenschaft. Die Fahrt, das Lager mit Kohtenrunden, die alljährliche Großfahrt, Singen und Spielen blieben auch in dieser Zeit fester Bestandteil des Gruppenlebens; die Gruppenstunden indes unterschieden sich in der theoretischen Beschäftigung mitunter kaum noch von Arbeitskreisen der außerparlamentarischen Linken. In den Horten und Älterengruppen standen internationale Befreiungsbewegungen, Faschismus, Marxismus, Geschichte der Arbeiterbewegung auf dem Programm. Entsprechende Texte fanden sich demzufolge auch in den eigenen Publikationen. Eigene Liederbücher zeugen von einer neuen Liedkultur. Nicht mehr die Chöre der Eisbrechermannschaft, sondern Lieder gegen Unrecht und Unterdrückung, für Freiheit und Sozialismus, prägten das Repertoire. »O Freedom« und »We shall overcome« wurden gesungen, Lieder gegen die europäischen Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal, aber auch deutsche 45 Quipu, Nr. 12 v. 15. 10. 1966, Nr. 14 v. 01. 12. 1966, Nr. 17 v. 12. 04. 1967, Nr. 18 v. 01. 06. 1967, Nr. 19 v. 04. 07. 1957, Nr. 20 v. 17. 10. 1967.

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Lieder aus der Zeit der 1848er-Revolution, gegen Faschismus und Krieg kamen im Laufe der 1970er-Jahre hinzu. Bundeslager wurden mit Biermanns »Ermutigung« eröffnet.46 Großfahrten nach Griechenland, Spanien, Portugal waren ausgeschlossen, solange die Diktaturen währten. Eine Nürnberger Horte spendete der örtlichen griechischen Freiheitsbewegung die Hälfte eines Fahrtenbeitrages. In einer Abteilungsrunde wurde beschlossen, die spanischen Commissiones Obreras finanziell zu unterstützen.47 Bei Lichte betrachtet waren diese bescheidenen Akte praktischer Solidarität lediglich symbolischer Natur, aus dem Wunsch geboren, es nicht bei bloßen Bekenntnissen zu belassen. Das war auch der Hintergrund einer partiellen Zusammenarbeit mit der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend Anfang der 1970er-Jahre in Nürnberg, nachdem sich in Teilbereichen politische Berührungspunkte anzudeuten schienen. So kam es zum Beispiel zu einer gemeinsamen Resolution gegen den Vietnamkrieg, einer gemeinsamen Fahrt in die DDR nach Suhl und einer gemeinsamen Aufstellung von Kandidaten für den Nürnberger Jugendrat.48 Die allzu dogmatische DKP-Orientierung dieser Organisation und die allzu durchsichtige Intention, lediglich Hilfstruppen für den Ausbau des eigenen Führungsanspruches zu rekrutieren, führten allerdings nach kurzer Zeit zum Abbruch der Beziehungen.

In der linken Szene Außerhalb der Gruppe bewegten sich die meisten älteren Nürnberger Teilnehmer in ihrer Freizeit im subkulturellen bzw. linksalternativen Milieu. Bereits im Februar 1971 hatte man die Gründung der Cinemathek Nürnberg unterstützt, die als nichtkommerzieller eingetragener Verein Filme meist politischen Inhalts

46 Das Gedicht hatte Wolf Biermann 1968 in der DDR verfasst. Es war seinem Freund Peter Huchel gewidmet, der von der Stasi überwacht und isoliert wurde. Biermann wollte ihm und seinen Landsleuten in der DDR damit Mut machen, nicht nur für seine Landleute in der DDR. Man dürfe sich den Herrschenden nicht beugen, sich aber auch nicht brechen lassen, müsse Heiterkeit bewahren, dann, so die optimistische Botschaft in der letzten Strophe, »breche das Grün aus den Zweigen«. 47 Die Commissiones Obreras waren illegale Gewerkschaften, die sich in der Zeit der FrancoDiktatur in Spanien gebildet hatten und zur tragenden Säule des Widerstands wurden. 48 Der Jugendrat war eine Idee des damaligen Nürnberger Kulturreferenten Hermann Glaser, der mit dieser Einrichtung der außerparlamentarischen Opposition ein parlamentarisches Sprachrohr bieten wollte. Die gewählten Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren sollten im Stadtrat ein Anhörungs- und Sprechrecht in allen wichtigen Jugendbelangen erhalten. Nach zwei Jahren hatten sich die Jugendlichen allerdings so sehr in politischen Fraktionskämpfen zerstritten, dass dieses Gremium ohne ernsthaften Protest wieder aufgelöst wurde.

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nach Nürnberg brachte, die in den anderen Kinos nicht zu sehen waren.49 Etwa zeitgleich entwickelte sich eine historische Gaststätte in der Nürnberger Altstadt zum nächtlichen Treffpunkt älterer dj.1.11-er. Das Lokal wurde von einem Kollektiv betrieben, zu dem später auch eine Nürnberger Teilnehmerin gehörte. Dort traf sich für etliche Jahre vorwiegend die nicht parteipolitisch gebundene Nürnberger Linke. In dem engen Kneipenraum fand man in den Nachtstunden zwar nicht immer einen Sitzplatz, doch stets einige Gleichgesinnte, mit denen man sich unterhalten oder politische Diskussionen führen konnte, aktuelle Flugblätter lagen aus, die eine oder andere Demo wurde hier vereinbart. Einen verbindlicheren Schritt im Sinne einer gemeinsamen Alltagsgestaltung wagten einzelne Teilnehmerinnen 1972, indem sie sich entschlossen, eine größere Wohnung anzumieten.50 So entstand die erste dj.1.11-Wohngemeinschaft in der Nürnberger Südstadt, später kamen noch weitere in der Nordstadt hinzu. Maßgeblich für den jeweiligen Entschluss waren individuell unterschiedliche Motive; eine wichtige Rolle spielte in jedem Falle der Wunsch, das Zusammenleben in der Gruppe in den Alltag hinein zu verlängern. Die Wohnungen waren willkommene Anlaufstellen für andere Teilnehmer und Gruppenaktivitäten, Ort der politischen Diskussion wie auch gruppendynamischer Prozesse; dem berühmten Vorbild der sogenannten Rot-grauen Garnison der Vorkriegsdj.1.11 in Berlin-Kreuzberg im Jahr 1932 wollte man damit allerdings nicht nacheifern, vermutlich war deren Existenz den Mitgliedern der Wohngemeinschaften nicht einmal bekannt. Wie anderenorts auch fühlten sich die meisten Älteren der Nürnberger Gruppe zunächst der nicht parteipolitisch organisierten außerparlamentarischen Linken verbunden, ohne dort eine führende Rolle zu spielen.51 Man traf sich auf Demonstrationen gegen die NPD, den Vietnamkrieg oder zum 1. Mai. Man trug das »fieldjacket« nicht nur auf der Demo, verehrte die Heroen der APO und schmückte sich mit Lenin-, Mao- oder Che Guevara-Plaketten; man bevorzugte besondere revolutionäre Lieder, unterzeichnete Briefe mit »venceremos«, stellte eigenen Texten oder Mitteilungen gerne mehr oder weniger geeignete Zitate aus der sog. Mao-Bibel voran. Auf Fahrten wurde zum Teil die Vietcongfahne mitgeführt; besonders beliebt waren die martialischen Revolu49 Die Cinemathek wurde 1971 gegründet, als die Nürnberger Meisengeige, aus der sich das Filmimperium Cinecitta entwickeln sollte, noch in den Kinderschuhen steckte. 50 Spätestens an dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass dj.1.11 Nürnberg von Anfang an auch weibliche Mitglieder einschloss; 1973 waren es mehr als die Hälfte. Naturgemäß entstanden auch Partnerschaften, später Ehen, hatte doch eine der Einzelregeln sogar gefordert, Freunde und Freizeitpartner im Bund zu suchen. 51 Wenn in dem Aufsatz von Älteren die Rede ist, so handelt sich um eine Personengruppe von etwa 17- bis 25-Jährigen, deren Zusammensetzung sich im Lauf der Jahre mehrfach veränderte.

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tionslieder, wenngleich man sich mit dem allzu platten Aussagen der meisten Texte nicht unbedingt identifizierte. Fahrten und Lager boten sich recht gut dazu an, die eigene revolutionäre Gesinnung zu pflegen, ohne sich gegen eine widerständige Gesellschaft behaupten zu müssen.

Kurzdebüts bei K-Gruppen Im Nachhinein betrachtet, schwammen die Gruppen damals mit im Mainstream der Protestbewegung. Wieder zurückversetzt in den Alltag, musste sich indes für die Älteren, gemessen an den eigenen Ansprüchen, erneut die Frage stellen, ob man sich nicht ernsthafter und vollends in den politischen Kampf stürzen solle. Inzwischen war die studentische Protestbewegung allerdings längst in sich dogmatisch verfestigende und sich gegenseitig bekämpfende Politzirkel auseinandergebrochen, jeder einzelne mit der kaum zu erschütternden Selbstgewissheit, jeweils die wahre Avantgarde für die schon am Horizont aufscheinende sozialistische Umgestaltung darzustellen. Wenn sich zeitweise sogar spätere Regierungsmitglieder dieser Republik solchen Vorstellungen verschrieben haben, muss man sich nicht darüber wundern, dass auch manche dj.1.11er davon nicht verschont geblieben sind. Wiederum stellte sich allerdings das Dilemma eines Doppelengagements, jetzt noch verschärft durch den Absolutheitsanspruch der jeweils favorisierten politischen Organisation, die in der Regel einen Volleinsatz forderte. Einzelne Teilnehmer wurden Mitglied in verschiedenen linken Gruppierungen und trugen die Politfehden zum Teil in den Gruppenstunden aus, um sich schließlich ganz von der Jungenschaft abzuwenden. Derartige Prozesse spielten sich in den dj.1.11-Gruppen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, z. T. auch in der neu zum Bund gestoßenen Abteilung Vorderpfalz ab. Überlebt, zumindest für zwei Jahrzehnte, haben diesen Substanzverlust nur die Gruppen in Nürnberg und in der Vorderpfalz.

Revolutionäre Kindererziehung Dem eigenen revolutionären Impetus entsprechend wurden neue Konzepte für Jüngerengruppen entwickelt. In vielen Gesprächsrunden, Arbeitskreisen, daraus resultierenden Vereinbarungen und Beschlüssen verständigten sich die künftigen Gruppenleiter darauf, dass der dj.1.11-spezifische Beitrag zur revolutionären Gesellschaftsänderung vorrangig in der Rekrutierung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen bestehe. Zeitweise war man bemüht, den Fokus gezielt auf Kinder und Jugendliche aus der Unterschicht zu richten, um somit

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einen kompensatorischen Beitrag gegen deren soziale Benachteilung zu leisten. Pointiert formuliert wurde das auf einem Hortensprechertreffen 1970, das als neue Zielgruppe 8 – 15-jährige Volksschulkinder, die »aus reinen Arbeitervierteln, die mit 4 oder 6 Geschwistern in einer kleinen Wohnküche einem abgearbeiteten Vater gegenübersitzen«, propagierte.52 Eine so verstandene »progressive Jüngerenarbeit« sollte sich daher vorrangig mit Problemen in Elternhaus, Schule und, in Lehrlingsausbildung beschäftigen, über repressive Familienpolitik und Sexualunterdrückung aufklären, in den Gruppenstunden die Lektüre geeigneten Lesestoffs fördern, einen neuen Kanon von Liedern einführen, Spiele bevorzugen, die auf Kollektivgeist und Fairness abzielen. Das neue Konzept ging vor allem auf zwei Vorbilder der späten 1960erund frühen 1970er-Jahre zurück. Dabei handelte es sich einmal um die damals vom Bund Deutscher Pfadfinder eingeführte offene Jugendarbeit, die in einem 1970 durchgeführten und dokumentierten Abenteuerzeltlager kulminierte und der Gruppe nicht nur neue Impulse, sondern auch Aktivisten von außerhalb der tradierten Jugendbewegung zuführte. Zum anderen stand zweifellos die Idee der antiautoritären bzw. repressionsarmen Kindererziehung Pate, wie sie von Teilen der Kinder- und Schülerladenbewegung jener Zeit intendiert war. Persönliche Kontakte einzelner älterer dj.1.11-er in Nürnberg führten schließlich dazu, dass Ende der siebziger Jahre tatsächlich eine Jüngerengruppe entstand, die sich im Wesentlichen aus Kinderladenkindern zusammensetzte, wenn auch nicht aus dem proletarischen Milieu. Zu dieser Zeit war man allerdings schon längst von diesen Vorbildern abgekommen und konzentrierte sich wieder mehr auf dj.1.11originäre Inhalte wie etwa Verhaltensregeln; zunehmend spielten jedoch auch Fragen der nahen und weiten Umwelt eine wichtige Rolle.

Gegen AKWs und Umweltzerstörung Während die sogenannten K-Gruppen in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre noch ihre Scharmützel austrugen und sich weiter in immer neue Abspaltungen zersplitterten, entwickelte sich eine neue Bewegung, wiederum, wie schon ein Jahrzehnt zuvor, außerhalb des etablierten Politikbetriebs wie auch der selbsternannten Kadergruppen: die Anti-Atomkraft- und Umweltschutzbewegung. In diesem Bereich bot sich für dj.1.11 ein neues Betätigungsfeld, das dem eigenen Selbstverständnis sehr viel näher kam als die zuletzt praktizierten Formen ge52 Thesen zum Hortensprechertreffen Nord, 31.10.–01. 11. 1970. Eine Jüngerenarbeit nach diesem Konzept blieb innerhalb des Bundes nicht unwidersprochen, allein schon der Terminologie wegen. Damit werde, so wurde eingewandt, die bisherige Gruppenpraxis zugunsten eines heteronom orientierten sozialpädagogischen Ansatzes aufgegeben.

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Singtreffen von dj.1.11 zum 1. 11. 1979. Quelle: privat

sellschaftspolitischen Engagements. So war das Thema Umweltschutz jenseits dogmatischer Parteiideologie angesiedelt und somit dem Autonomiegedanken sehr viel näher. Für Jüngere und Ältere war das Thema in gleicher Weise relevant, vermittelbar und eng verwoben mit dem Kernbereich jungenschaftlichen Lebens, das den Versuch darstellte, der bürgerlichen Gesellschaft, oder besser der Konsumgesellschaft einen alternativen Lebensentwurf entgegen zu setzen.. So beschäftigten sich die Arbeitskreise auf den Bundeslagern 1976, 1977 und 1979 schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von Mensch und Natur, mit Umweltzerstörung und Umweltschutz. Zum 50. Jahrestag der Gründung von dj.1.11 1979 schrieb Johannes dazu, an die Autonomieforderung anknüpfend: »Ein ernsthafter Versuch in diese Richtung steht und geht nicht vereinzelt, er gewinnt Kontext in jener vielfältig sich ausprägenden ökologischen Bewegung, die ein für Erde und Lebewesen zuträgliches, also geändertes Leben sucht. Diese Bewegung könnte von jener […] Revolte [lernen], die heute vor 50 Jahren ihren Namen erhielt.«53 Schon ein paar Jahre zuvor hatte Johannes mit seinem Buch »Pädagogik der Sensitivierung« einen pädagogischen Neuansatz vorgestellt, adressiert an »Eltern, Schüler, Lehrlinge, Studenten, Pädagogen, Wissenschaftler und alle, die als Verbündete der Kinder handeln wollen.«54 Angesichts des weltweiten 53 Sigma, Heft 24 vom 01. 11. 1979, S. 49. 54 Johannes Ernst Seiffert: Pädagogik der Sensitivierung, Lampertsheim 1975, S. 7.

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Öko- und Genozids sei ein neuer republikanischer Bildungskanon notwendig, der Fühlen, Denken und Handeln umfasse und in der Aneignung unterdrückter Bildungsinhalte bestehe.55 Lernziele seien die tatkräftige Solidarität mit den Opfern des gesamten gewesenen, gegenwärtigen und künftigen Geschichtsprozesses, die Fähigkeit nichthierarchischer Kooperation und vor allem die Fähigkeit, der weltweiten Destruktion eine eigene ästhetisch-erotische Kultur entgegenzusetzen.56 Damit war insbesondere der Fahrt und Großfahrt ein neuer Stellenwert verliehen. Schon von jeher führten die Fahrten und Großfahrten in relativ unberührte Regionen, wo Natur noch weitgehend ursprünglich erlebbar war : das griechische Pindosgebirge, das sardische Genargentu, die spanischen Pyrenäen, die portugiesische Serra de Estrella, der Sarek im schwedischen Teil Lapplands. Nunmehr rückte stärker der Gedanke in den Vordergrund, dass Natur- und Gemeinschaftserlebnisse eine Ahnung eines anderen Umgangs von Mensch und Natur vermitteln und somit das Rüstzeug liefern könnten, sich auch im globalen Maßstab dafür einzusetzen. Für die jungen und älteren Erwachsenen ergab sich daraus eine klare Perspektive. Es galt, sich in die Umweltbewegung einzugliedern. Einig im Kampf gegen die Nutzung der Atomkraftenergie traf man sich in Hannover, Bonn, Brokdorf oder Wackersdorf. Zur Jahreswende 1985/86 stand im Hüttendorf im Taxöldener Forst eine Kohte von dj.1.11 Nürnberg.57

Poesie und Politik Zu diesem Zeitpunkt existierten in Nürnberg neben einer Jüngerengruppe schon keine Horten mehr, sondern nur noch ein Älterenkreis, der sich als Kulturklub, später Sonntagskreis, konstituiert hatte und sich mit philosophischen bzw. theoretischen Fragestellungen beschäftigte. Damit sollten nicht etwa politisches Denken und Engagement über Bord geworfen, sondern vielmehr eine fundamentalere Basis erarbeitet werden. Schon 1977 war mit dem Thema »Poesie und Politik« auf einem herbstlichen Singtreffen des Bundes ein Grundstein dazu gelegt worden. Ausgangspunkt war die intensive Beschäftigung mit Liedern von Mikis Theodorakis, wobei mit Poesie nicht nur die Dichtkunst, sondern generell die kreativen Fähigkeiten des Menschen, und mit Politik, in Anlehnung an die Antike, die auf die Gemeinschaft bezogenen Handlungen 55 In diesen Zusammenhang gehört auch eine Aufführung der »Bauernoper« von Yaak Karsunke (Musik: Peter Janssens, Erstaufführung 1973), die eine Nürnberger Horte 1976 im Theater am Kopernikusplatz auf die Bühne brachte. 56 Seiffert: Pädagogik (Anm. 54), S. 145 f. 57 Vom 14. Dezember 1985 bis zur Räumung durch die Polizei am 7. Januar 1986 hatten die WAA-Gegner dort ein Hüttendorf errichtet.

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gemeint waren. Es ging um die Suche nach Momenten in Geschichte und Gegenwart, wo die unheilvolle Trennung von Poesie und Politik zumindest ansatzweise aufgehoben war. Orientierung lieferte hier vor allem Ernst Bloch mit »Prinzip Hoffnung« und »Spuren«, aber auch Theodor Adorno mit »minima moralia«, Hegel, Nietzsche und viele andere. Von besonderer Bedeutung war die Lektüre von Günther Anders’ »Antiquiertheit des Menschen«, worin dieser aufzeigt, wohin es die poiesis-Fähigkeit des Menschen gebracht hat, nämlich »dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können; und dass wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen«.58 Von solcherlei Erkenntnis eröffnete sich kein einfacher Weg mehr zu einem unmittelbaren politischen Engagement. Vielmehr verstand man das als eine Aufforderung, sich der Mühe des Denkens zu unterziehen und für den Alltag – Günter Anders hatte übrigens seine Philosophie als Alltagsphilosophie bezeichnet – immer wieder Wege gegen die Zerstörung der Zukunft zu suchen. So betrachtet hat am Ende ein Kritiker Recht behalten, der in den 1970er-Jahren die politische Dimension von dj.1.11 mit den Worten zurechtgerückt hatte: »dj.1.11 ist kein Mittel zur revolutionären Veränderung des kapitalistischen Systems. Es ist nur ein Instrument zur existenziellen Veränderung seiner Teilnehmer.«59 Ein so verstandenes Wirken war kein Verzicht auf politische Einflussnahme, wohl aber die Forderung, dass ein Jugendbund nicht auf direktem Wege politisch oder, wie es Johannes einmal kritisch formuliert hatte, politizistisch eingreifen solle. Ob es weise gewesen wäre, schon damals diesem Rat zu folgen, muss dahingestellt bleiben; manchmal sind wohl Umwege nötig.

Was bleibt? Nachzutragen bleibt, dass die Jüngerengruppe mangels Zulauf nur noch bis Ende des Jahrzehnts existierte, während zwei Älterenkreise bis auf den heutigen Tag überlebt haben. In seiner beinahe 50jährigen Geschichte haben beinahe 200 Teilnehmer die Gruppen der Nürnberger dj.1.11 durchlaufen, für den Gesamtbund stehen keine entsprechenden Zahlenangaben zur Verfügung. Wenn man die heute noch lebenden ehemaligen dj.1.11-er befragt, so äußern sie unisono, dass ihre dj.1.11-Zeit wesentlich ihr Leben, bestimmte Grundhaltungen, Verhaltens- und Denkweisen geprägt habe; eine politische Prägung wird bei den Teilnehmern, die Fred noch gekannt haben, meist nicht genannt. Die zu einem 58 Günter Anders: Vorwort, in: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele des Menschen im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980. 59 Claus an Romin, 26. 11. 1972, im Anschluss an ein Seminar zum Thema Jüngerenarbeit.

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späteren Zeitpunkt in die Gruppe eingetretenen Teilnehmer räumen das, allerdings erst bei entsprechendem Nachfragen, durchaus ein, wesentlicher seien jedoch, so die einhellige Meinung, das Zusammenleben in der Gruppe und besonders die Großfahrten gewesen. Nicht wenige Jugendliche der Nürnberger dj.1.11 entstammten sowohl in der Ära Fred als auch danach eher bildungsfernen Elternhäusern. Viele davon konnten sich als junge Erwachsene über den Zweiten Bildungsweg qualifizieren. Dazu hätte die Gruppe bzw. der Stellenwert von Bildung in der Gruppe beigetragen, wie von allen Befragten eingeräumt wird. Eine Art Bildungsprogramm gab es übrigens schon in den frühen 1950er-Jahren, als Fred die Jugendlichen in Kurzschrift, Deutsch, Englisch unterrichtete, man den herausgegebenen Liederblättern philosophische und literarische Texte beifügte, zum Erlernen der Weltsprache Esperanto aufforderte oder auch eine eigene Gruppenbibliothek aufbaute. Auffallend viele ehemalige Teilnehmer sind Sozialpädagogen oder Lehrer geworden – womöglich ein Indiz dafür, dass die gesellschaftliche Wirkung von Gruppen wie dj.1.11 doch wesentlich im Pädagogischen angesiedelt ist. Inwiefern da dj.1.11-Ideen wirksam geworden sind, lässt sich nicht ermessen, wäre aber eine Untersuchung Wert. Einer politischen Partei gehört heute übrigens, soweit dem Autor bekannt, keiner an, im weiteren Sinne gesellschaftspolitisch aktiv an ihrem Wirkungsort waren oder sind nicht wenige.

Werkstatt

Susanne Heyn

Neuere Forschungen zur historischen Jugendbewegung – ein Tagungsbericht

Für die Jugendbewegungsforschung war das Jahr 2013 von besonderer Bedeutung. Im Oktober vor 100 Jahren trafen auf dem Hohen Meißner in Nordhessen einige tausend Jugendliche und junge Erwachsene zum ersten »Freideutschen Jugendtag« zusammen. Dort formulierten sie den Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbsterziehung, der auch für nachfolgende Generationen von Bedeutung bleiben sollte. Unter Nachwuchswissenschaftler/innen dieses Forschungsfeldes mehrte sich in den letzten Jahren der Wunsch nach Austausch und Vernetzung. Diesem Bedürfnis wurde mit der Durchführung des Workshops zur Jugendbewegungsforschung, der vom 5. bis 7. April 2013 im Archiv der deutschen Jugendbewegung stattfand, Rechnung getragen. Ziel war es, Promovierenden und Studierenden die Möglichkeit zu geben, ihre Projekte als »work in progress« vorzustellen sowie theoretische und methodische Fragestellungen zu diskutieren. Der Einladung der beiden Organisatoren Rüdiger Ahrens und Malte Lorenzen waren rund 20 Nachwuchswissenschaftler/innen aus der Geschichtswissenschaft, der Pädagogik, der Literatur- und Musikwissenschaft gefolgt. In ihrer Begrüßung richteten Susanne Rappe-Weber als Leiterin des Archivs und Jürgen Reulecke als Vertreter der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung und des wissenschaftlichen Archivbeirats den Blick auf die Burg Ludwigstein als Erinnerungsort und als Ort wissenschaftlicher Forschung sowie auf die anstehenden Veranstaltungen aus Anlass des 100. Jahrestages des »Meißner-Treffens«.1 Die im Folgenden skizzierten Workshop-Beiträge geben nicht nur einen Eindruck von der thematischen Vielfalt und den unterschiedlichen Zugängen der derzeitigen Jugendbewegungsforschung, sondern beziehen sich auch auf eine Zeitspanne von rund hundert Jahren, beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts. Im ersten Vortrag widmete sich Robbert-Jan Adriaansen (Rotterdam) 1 Dieser Tagungsbericht wurde erstmals im Internet veröffentlicht: Tagungsbericht Workshop zur Jugendbewegungsforschung. 05. 04. 2013 – 07. 04. 2013, Witzenhausen, in: H-Soz-u-Kult, 03. 06. 2013, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4828.

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dem Geschichts- und Zeitverständnis der deutschen Jugendbewegung zwischen 1900 und 1933. Er betonte, dass Jugend nicht nur als Deutungsmuster für gesellschaftliche Erneuerung oder Umbrüche, sondern auch als Erziehungs- und Erlebnisraum zu betrachten sei. Fahrtenberichte als bedeutsame Quellen für die Analyse der Erlebniswelt von Jugendbünden herausstellend argumentierte Adriaansen, dass darin erwähnte historische Ereignisse weniger in ihrer politischen Dimension, sondern vielmehr mit Blick auf die propagierte Selbsterziehung der Jugendbewegung relevant gewesen seien. Zugleich hätten Jugendbünde ein Zeitverständnis entwickelt, das sich an einer Idee von Entzeitlichung und Ewigkeit orientierte. Für eine Neubetrachtung der zwischen 1918 und 1933 angesiedelten bündischen Phase der Jugendbewegung plädierte Rüdiger Ahrens (Freiburg). Zwar lägen für diesen Zeitraum solide Spezialstudien und instruktive Essays vor, es gebe aber hinsichtlich der gesellschaftlichen und politischen Verortung der Jugendbewegung Forschungsbedarf. Zudem seien bislang apologetische Perspektiven auf Jugendbewegung, die Verwendung von Eigendefinitionen und das eigene Erleben als angebliche Voraussetzung für eine adäquate Durchdringung zu wenig hinterfragt worden. So zeigte Ahrens, dass die bündische Jugend organisationsgeschichtlich nicht als zersplittertes Spektrum, sondern als Netzwerk mit Polaritäten zu betrachten ist, das sich einem größeren rechten Lager der Weimarer Republik zuordnen lässt. Die nationalistischen Ideen der Bündischen gingen von der Existenz »des Deutschen« aus, dahinter seien definitorische Differenzen zurückgetreten. Ihre Fahrten und Zeltlager als zentrale Praktiken hätten einem doppelten Zweck gedient – der Selbsterziehung, aber auch dem nationalistischen Engagement für »das Deutsche« als übergeordnetem Zweck. Antje Harms (Freiburg) konzentrierte sich auf zwei Protagonisten der bis Anfang der 1920er-Jahre bestehenden Freideutschen Jugend. Anhand von Frank Glatzel (rechter Flügel) und Alfred Kurella (linker Flügel), die beide protestantisch waren, aus dem Bildungsbürgertum kamen und einen Wandervogel-Hintergrund hatten, arbeitete sie die Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten ihrer politischen Ideen heraus. Zwar erklärten beide die »deutsche Volksgemeinschaft« zum Ziel ihrer Bestrebungen, definierten diese aber in differenter Weise. Im Unterschied zu Kurella, der sich auf Sprache und Kultur bezog, setzte Glatzel die Kategorie »Rasse« als zentrales Kriterium. Diese Differenzen und auch jene hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung von Sozialismus blieben intern bis 1918 weitgehend unberücksichtigt. Erst nach dem Ersten Weltkrieg kam es zum Bruch, als Kurella sich von der Freideutschen Jugend abwendete. Mit Siedlungsideen des Jungdeutschen Ordens beschäftigte sich Axel Zutz (Berlin). Er widmete sich vor allem dem Freiwilligten Arbeitsdienst (FAD). Überlegungen dazu hatte es schon Mitte der 1920er-Jahre beispielsweise im Umfeld von Eugen Rosenstock-Huessy und des Hohenrodter Bundes gegeben,

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aber erst 1931 wurden per Notverordnung durch die Reichsregierung die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, um Jugendliche und junge (arbeitslose) Erwachsene für gemeinnützige Arbeiten im landwirtschaftlichen Bereich einzusetzen. Zutz kam zu dem Schluss, dass der FAD als Laboratorium jugendbewegter Ideen gelten könne. Mit dem Reichsarbeitsdienst im Nationalsozialismus seien die ideologischen Elemente in radikalisierter Form weiter geführt worden. Im Anschluss an den Vortrag diskutierte das Plenum ausgehend vom Jungdeutschen Orden die unterschiedlichen Grenzbereiche der Jugendbewegung. Während sich vorherige Beiträge vor allem mit politischen Ideen der Jugendbewegung und angrenzenden Verbänden befasst hatten, nahm Elisabeth Meyer (Eichstätt) den Zusammenhang zwischen Jugendbewegung und Sozialpädagogik auf der Basis einer Zeitschriftenanalyse in den Blick. Während schon vor dem Ersten Weltkrieg Angehörige des Wandervogels ehrenamtlich in der Jugendpflege tätig gewesen seien, habe deren Einflussnahme nach 1918 zugenommen. Als Gründe nannte Meyer die soziale Berufsausbildung jugendbewegter Akteur/innen, aber auch ihr Bedürfnis, sich für die Neuordnung der Weimarer Gesellschaft nach der deutschen Kriegsniederlage einzusetzen. Das (ehrenamtliche) Engagement habe vielfältige Bereiche umfasst und von der Altershilfe über Kinder- und Ferienheime bis hin zur Mitarbeit in Jugendämtern gereicht. Eine interne Bilanz von 1930 habe aber auch die Schwachstellen der Mitarbeit aufgrund fehlender Schulung offengelegt. Allerdings änderte dies nichts daran, so Meyer, dass der Einfluss jugendbewegter Praktiken zu einer Veränderung der Jugendarbeit und Sozialpädagogik in der Weimarer Republik und darüber hinaus geführt habe. Drei weitere Beiträge widmeten sich der Literatur und Musik in der Jugendbewegung. Malte Lorenzen (Bielefeld) beschäftigte sich mit den Rezensionen literarischer Werke in verschiedenen jugendbewegten Zeitschriften bis 1923. Er wies darauf hin, dass die Forschung bislang überwiegend von der Jugendbewegung rezipierte Primärtexte untersucht, die Rezeptionsgeschichte am Beispiel von Rezensionen aber kaum berücksichtigt habe. Lorenzen fragte einerseits nach den in den Rezensionen aufscheinenden Funktionen literarischer Texte und wies dabei auf die Aspekte Identifikation sowie Selbstlegitimation und Legitimation gegenüber Eltern und Schule hin. Andererseits stellte er die Bewertungen der Werke durch die Rezensent/innen vor und betonte die Relevanz pädagogischer und moralischer Wertungskriterien. In Sven Stemmers (Bielefeld) Beitrag stand erneut Alfred Kurella im Mittelpunkt. Allerdings widmete sich Stemmer nicht den politischen Ideen in Kurellas eigenen Publikationen, sondern seiner Lektürepraxis. Kommunikationstheoretische Ansätze aufgreifend betonte Stemmer, dass Lesen den Selbstbeschreibungsprozess von Lesenden aktiviere, diese sich neue Deutungsmuster erschlössen und dadurch Identität konstruierten und festigten. Anhand von Ego-

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Dokumenten ging Stemmer der Frage nach, wie sich Kurella mit verschiedenen Werken auseinandersetzte und wie diese auf ihn einwirkten. Im Unterschied zu diesen literaturwissenschaftlichen Perspektiven widmete sich Simon Nussbruch (Hamburg/Salzburg) am Beispiel des Liedes von Erich Scholz »Was ließen jene, die vor uns schon waren« (1962) der Musik in der Jugendbewegung nach 1945. Einführend betonte er, dass neben einer Werkanalyse, die vor allem die Entstehung, Autorschaft, Rezeption und Semantik des Liedes umfasse, auch ein musikethnologischer Ansatz, der die kulturellen Kontexte und die Aufführungsbedingungen des Liedes berücksichtige, lohnend sei. Das Lied könne Nussbruch zufolge als eine Art Hymne verstanden werden, was nicht zuletzt auf die darin repräsentierten Elemente jugendbewegter Lebenswirklichkeit (Fahrtenerlebnisse u. a.) zurückzuführen sei. Die Zeit nach 1945 nahmen auch die letzten beiden Referenten in den Blick, die sich mit dem Zusammenhang von Jugendbewegung und Neuen Sozialen Bewegungen beschäftigten. Kristian Meyer (Hamburg) ging der Frage nach, inwiefern sich bündisch-jugendbewegte Akteur/innen in den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er/80er-Jahre engagierten. Anknüpfungspunkte seien nicht zuletzt dadurch ermöglicht worden, dass in beiden Spektren konservativtraditionelle und progressive Werte zugleich präsent gewesen seien – ähnlich wie bei den »Gründungsgrünen«, die zum Teil aus der Jugendbewegung kamen. Meyer konnte zudem feststellen, dass sich vor allem links-gerichtete Bünde zu den Neuen Sozialen Bewegungen hinwendeten und dabei Themen wie Pazifismus und Umwelt eine wichtige Rolle spielten. Das Verhältnis zwischen dem Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und der Jugendzentrumsbewegung der 1970er-Jahre skizzierte David Templin (Hamburg). Interne Konflikte zu Beginn des Jahrzehntes um eine Neuorientierung des Bundes hätten zur Abspaltung des Bundes deutscher Pfadfinder (BdP) geführt, der die vom BDP forcierte »Politisierung« des Bundes hin zu zeitgemäßer Pädagogik und marxistischer Theoriebildung kritisierte. Die Jugendzentren, die sich im Spannungsfeld von Jugendpflege und autonomer Organisierung Heranwachsender verorten ließen, seien, so Templin, für den BDP ein ambivalentes Arbeitsfeld gewesen. Während der Bund einerseits zunehmend eine koordinierende Rolle in der Bewegung übernahm und als Dienstleister zur Unterstützung von Selbstorganisierung fungierte, beanspruchte er andererseits sozialistische Avantgarde für die Jugendzentrumsbewegung zu sein. In seinem Gastvortrag wies Ulrich Herrmann (Tübingen) eingangs darauf hin, dass sich Selbstdeutungen und Forschungen zur Jugendbewegung vor allem auf deren bürgerlichen Flügel und damit eher die konservativen Anteile konzentrierten, während der linke Flügel und die sozialistische Jugendbewegung notorisch zu kurz kämen. Im Gegenzug zu dieser Selbststilisierung, Traditionalisierung und Mythenbildung sei eine historisch-kritische Vergegenwärti-

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gung gefordert. Es komme darauf an, innerhalb der männlichen Akteursgruppe Aktivisten und Publizisten, Anreger und »Funktionäre«, Vordenker und Mitläufer, Führer und Fußvolk und ihre jeweiligen Bedeutungen zu identifizieren. Zudem seien die verschiedenen Strömungen innerhalb »der« Jugendbewegung voneinander abzugrenzen und ihre direkten und indirekten Wirkungen in der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte, der politischen und Sozialgeschichte ausfindig zu machen. Der Schwerpunkt liege hier auf der Weimarer Republik und dem Übergang in den Nationalsozialismus. Anschließend wären dann im Rahmen von Elitenforschung für die kleine Gruppe der Aktivisten die Verbindungen und Netzwerke zu ermitteln, die es ihnen ermöglichten, vom Ende des Ersten Weltkriegs bis tief in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf unterschiedlichen Feldern jugendbewegte Ideen und Überzeugungen lebenspraktisch wirksam werden zu lassen. In seinem Abschlusskommentar betonte Jürgen Reulecke (Gießen), dass es dem Workshop gelungen sei, das Verhältnis zwischen Jugendbewegung und den Feldern Politik, Pädagogik, Literatur und Musik mittels instruktiver Beiträge zu umreißen sowie die Abgrenzungen und Beeinflussungen zwischen Jugendpflege und Jugendbewegung auszuloten. Daran anschließend erläuterte er, dass das Phänomen »Jugendbewegung« nicht allein aus einer »im Wesentlichen nur ›objektiv-abständigen‹ Sicht ihrer Erscheinungsformen«, sondern besonders auch unter dem Gesichtspunkt ihrer »›subjektiven‹, das heißt vielfältige Gefühligkeiten auslösenden Bedeutung« zu beurteilen sei, was aber in den Vorträgen wenig thematisiert worden sei. Auch seien die Beiträger/innen kaum auf die biographisch so prägende Phase der Adoleszenz eingegangen, in der die Jugendbewegung für die teilhabenden Akteur/innen außerordentlich bedeutsam gewesen sei. Insofern plädierte er für eine stärkere Integration psychohistorischer Ansätze in die Jugendbewegungsforschung, um damit Prozesse der Selbstfindung und -deutung der Akteur/innen fassen zu können. Des Weiteren forderte er die Berücksichtigung internationaler Perspektiven, hatten sich doch alle Beiträge ausschließlich auf Deutschland bezogen. Zudem sei es lohnend, sich nicht nur mit Selbstkritik in der Jugendbewegung zu beschäftigen, sondern auch Fremdkritik stärker einzubeziehen und dabei der tieferen Bedeutung von Ironisierung nachzugehen. Wie sich in der Abschlussdiskussion zeigte, konnten die Teilnehmer/innen des Workshops sowohl von der interdisziplinären Ausrichtung als auch den ausführlichen Diskussionen im Anschluss an jeden Beitrag – ein Aspekt, der bei straffen Tagungsprogrammen oft zu kurz kommt – profitieren. Das hohe Expert/ innenwissen der Nachwuchswissenschaftler/innen ermöglichte zudem die Klärung von Detailfragen. Darüber hinaus regte der Workshop dazu an, die eigenen Projekte in einem größeren Forschungskontext zu verorten und ihre Forschungsrelevanz intensiver zu diskutieren. Wünschenswert wäre jedoch eine

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Susanne Heyn

stärkere theoretische Kontextualisierung und ausführlichere Darstellung methodischer Vorgehensweisen gewesen. Schließlich bleibt kritisch anzumerken, dass kaum ein Beitrag Geschlechterperspektiven reflektierte. Abgesehen davon, dass Mädchen und Frauen als Akteurinnen in der Jugendbewegung fast keine Erwähnung fanden, gingen die Referent/innen ebenso wenig auf die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für ihre Themen ein. Zu fragen gewesen wäre beispielsweise nach geschlechtlichen Differenzmarkierungen in den Selbst- und Fremdkonstruktionen der Akteur/innen, aber auch nach geschlechtlichen Codierungen jugendbewegter Praktiken und Räume und den damit verwobenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Eine Fortsetzung des Workshops, die die Teilnehmenden sehr begrüßten, fand im folgenden Jahr statt.

Rüdiger Ahrens

Dissertationsprojekt: Eine neue Geschichte der bündischen Jugend (1918 – 1933)

Die »bündische Jugend«, die bürgerliche Jugendbewegung der Weimarer Zeit, ist weitaus häufiger Gegenstand pointierter Essays als quellennaher und methodisch reflektierter Studien geworden. Insbesondere die Selbstdeutung Ehemaliger, oft apologetisch inspiriert, hat zu einem verzerrten Bild geführt. Die äußerst scharf geführte Diskussion zwischen den Ehemaligen und ihren Kritikern ist Ende der 1980er-Jahre abgerissen. Wesentliche Fragen sind allerdings geblieben, das Erkenntnispotential, das eine Untersuchung der Bünde verspricht, hat sich nicht verändert, und die Quellen sind besser zu fassen denn je. Mittlerweile kann eine Geschichte der bündischen Jugend mit historisierendem Zugriff geschrieben werden. Die Akteure lassen sich als Menschen einer vergangenen Zeit mit eigener, offener Zukunft begreifen, und eine Analyse ihrer Problemdiagnosen und Lösungsansätze, ihrer Entwicklungsschritte, Bundesgenossen und Gegner lässt deutlich werden, wie fremd die bündische Jugend aus heutiger Perspektive ist. Die Studie verspricht in zweierlei Hinsicht Aufschluss: Erstens wird der bündischen Jugend eine immense Sozialisationskraft zugeschrieben, deren Konturen näher zu bestimmen sind. Die Mitglieder wurden in jungen Jahren von der peer group geprägt, und diese Prägungen konnten auch in späteren Lebensphasen die individuellen Einstellungen zum politischen und gesellschaftlichen Geschehen mitbestimmen. Da es sich hier überwiegend um Angehörige des Bürgertums und des Adels handelte, die in gesellschaftliche Schlüsselpositionen drängten, entfalteten die Bünde mittelbar eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Zweitens lässt sich anhand der bündischen Jugend empirisch fundiert und exemplarisch der Weimarer Rechtsnationalismus studieren. Es ist bemerkenswert, dass die Bünde zunächst nicht in der erfolgreichen Hauptrichtung der rechten Fundamentalopposition, in der NSDAP und ihren Gliederungen, aufgingen. 1933 schwenkten jedoch viele Bündische, trotz der zum Teil rigide durchgesetzten Gleichschaltungspolitik, erstaunlich schnell auf den Kurs der Partei ein.

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Ausgangspunkt der Arbeit ist die These, dass die bündische Jugend einem größeren nationalistischen Feld zugeordnet werden kann. Dieses rechte Lager formierte sich nach dem Ersten Weltkrieg, wobei verschiedene Traditionslinien weit zurückreichten. Es war in organisatorischer Hinsicht uneinheitlich und dynamisch, verfügte aber über einen Kern gemeinsamer Grundvorstellungen. Danach hatte das deutsche Volk durch die Niederlage, aber auch durch früher einsetzende Dekadenzerscheinungen den eigentlich angemessenen herausgehobenen Rang in der europäischen und globalen Ordnung verloren, und diese Stellung galt es zurückzuerobern. Dazu war eine Zusammenfassung der Kräfte, auch über die staatlichen Grenzen hinaus, anzustreben, bei gleichzeitiger Steigerung der inneren Leistungsfähigkeit. Gedacht war an eine Alternative zur liberalen, vor allem in den westlichen Ländern verankerten Spielart der Moderne, die ein kapitalistisches Wirtschaftssystem mit demokratischer Herrschaft verband und dem Einzelnen deutliche Spielräume für die individuelle Entfaltung einräumte. Konkret bedeutete diese Frontstellung: Aufwertung des Deutschen gegenüber allem Fremden, häufig, aber nicht zwangsläufig mit rassistisch-antisemitischer Grundierung; Misstrauen gegenüber internationaler Kooperation und vor allem Ablehnung jeder Verständigung mit den Alliierten des Ersten Weltkriegs; mentale und militärische Vorbereitung eines neuen Krieges, der die Ergebnisse des letzten korrigieren und eine neue deutsche Machtstellung begründen würde; Gemeinschaftsorientierung statt gesellschaftlicher Fraktionsbildung; Eintreten für hierarchisch-autoritäre Organisationsformen anstelle von repräsentativer Demokratie, Gewaltenteilung und Kontrolle der Regierungsorgane. Um den genauen historischen Ort der bündischen Jugend innerhalb dieses Lagers zu bestimmen und ihre mentalitätsprägende Kraft näher zu charakterisieren, bietet sich eine Analyse von drei Aspekten und ihren Wechselwirkungen an. Ein Blick auf die organisatorische Entwicklung der einzelnen Bünde erlaubt eine chronologische Rekonstruktion und lässt die Beziehungen der Bünde untereinander sowie zu den maßgeblichen Gruppierungen des Weimarer Rechtsextremismus deutlich werden. Zweitens ist die ideologische Ausrichtung der Bünde zu untersuchen, vor allem hinsichtlich einer nationalistischen und soldatischen Orientierung sowie spezifischer Vorstellungen vom bündischen und deutschen Menschen. Das bündische Leben war jedoch nicht alleine durch elaborierte Programme, sondern mehr noch durch gemeinsame Aktivitäten gekennzeichnet, weshalb drittens auch Momente der Praxis wie Fahrt und Lager, Wehrsport und Arbeitsdienst, kulturelle und musische Tätigkeiten betrachtet werden müssen. Die drei Perspektiven lenken die Auswertung der Quellen. Die Anlage der Arbeit ist dagegen chronologisch. Anfangs- und Endpunkt der Analyse sind durch die Geschichte der Weimarer Republik und durch das Ende der Bünde

Dissertationsprojekt: Eine neue Geschichte der bündischen Jugend (1918 – 1933)

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vorgegeben. Es hat sich aber als notwendig erwiesen, einerseits die Entstehung bestimmter Denkmuster in der Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, andererseits das Nachleben der Bünde und die Fortexistenz bündischer Mentalität auch über 1933 und 1945 hinaus ebenfalls zu berücksichtigen. Die fünf größten Bünde werden vertieft betrachtet, einflussreiche kleinere Gruppen kommen ergänzend hinzu. Das einschlägige, reiche Quellenmaterial lagert zum größten Teil im Archiv der deutschen Jugendbewegung. Es besteht aus Zeitschriften, Druckschriften und Grauer Literatur, Akten und Korrespondenzen, Gruppenchroniken, Fahrtentagebüchern und Fotos. Dazu kommen Materialien aus Nachlässen, die in verschiedenen Archiven zu finden sind, sowie amtliche und personenbezogene Unterlagen aus dem Bundesarchiv. Die Quellenfunde bestätigen und differenzieren die Grundannahmen der Arbeit. Die Quellen geben ein plastisches, lebendiges Bild der Bewegung und lassen deren Eigenheiten klar hervortreten. Es wird deutlich, mit welchen Schlüsselbegriffen und Konzepten, in welchen Schritten und in welchem Umfeld die bündische Jugend in der Doppelkrise der Weimarer Republik nach Lösungen suchte. Die Wirkung der Bünde entfaltete sich insbesondere bei der Ausprägung eines bestimmten, »bündischen« Menschentypus. Die Geschichte der Bünde und die Genese dieses Typus wirft ein scharfes Licht auf die Geschichte der deutschen Rechten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Arbeit entsteht am Historischen Seminar der Universität Freiburg bei Prof. Dr. Ulrich Herbert. Das Manuskript ist inzwischen abgeschlossen.

Knut Bergbauer

Dissertationsprojekt: Die jüdische Jugendbewegung in Breslau (1912 – 1938)

Wer sich mit der Geschichte der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland beschäftigt, wird nicht umhinkommen die spezifische Rolle der Breslauer jüdischen Jugend in dieser Bewegung festzustellen. Von einer Ausnahme abgesehen, gibt es bisher keine Darstellung die sich mit dieser Konstellation beschäftigt. Jene Ausnahme, Jörg Hackeschmidts Arbeit über die Führergeneration des Wanderbundes Blau-Weiß ist ein wichtiger Ansatz, material- und kenntnisreich, und steht auch chronologisch am Beginn der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland.1 In Breslau fanden sich – wie zur gleichen Zeit in Berlin – 1912 junge jüdische Wanderer zusammen, um einen eigenen jüdischen Wanderbund zu gründen. Einige davon hatten Erfahrungen in den Gruppen des Wandervogel gesammelt. Aber es ist vor allem der Einfluss und das Interesse der jungen Führer der zionistischen Vereinigung, die jüdische Jugend zu gewinnen, das den zionistischen Wanderbund Blau-Weiß entstehen lässt. Zu den Erfahrungen jener jüdischen Jugend gehörten aber nicht nur die gemeinsamen Wanderungen, die Heimabende, Lieder und Riten, sondern auch der Antisemitismus in der deutschen – mehrheitlich nicht-jüdischen – Jugendbewegung. Legendär ist der »Zittauer Fall« von 1913, also nach Gründung des Blau-Weiß, bei dem einem jüdischen Mädchen der Eintritt in einen Bund des Wandervogel – wegen ihrer jüdischen Herkunft – verweigert wurde.2 Als der Antisemitismus in den Jahren des Ersten Weltkrieges zunahm und gleichzeitig die jüdische Jugend damit in Gefahr stand, den zionistischen Ideen zu »verfallen«, entstanden weitere Bünde der jüdischen Jugendbewegung, so, ebenfalls in Breslau ab 1916, erste Gruppen des späteren Deutsch-Jüdischen Wanderbundes Kameraden. Die »Kameraden« sollten zunächst als Jugendorganisation und »Kaderreservoir« des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens dienen, emanzipierten sich 1 Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997. 2 Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung; 7), Köln 1991.

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Knut Bergbauer

aber schon bald von den Erwartungen der »Alten« und agierten weitgehend autonom. Ebenfalls in den Jahren des Weltkriegs und der Frühzeit der Weimarer Republik entstanden –als Jugendorganisation der Agudas Jisroel – der Esra sowie – zunächst als Wandergruppe des Verbandes der jüdischen Jugendvereine Deutschlands – der Jungjüdische Wanderbund. Auch für den Esra gilt, dass dessen Breslauer Führerschaft in der Gesamtorganisation des Bundes– für einige Jahre – maßgeblichen Einfluss hielt3. Die erlaubte und erkämpfte jugendliche Autonomie, wie sie die Bünde der jüdischen Jugendbewegung repräsentieren, stellte die Frage nach dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Deutschland neu. Aber auch die brennenden Fragen nach der Essenz des Jüdisch-Seins, Zionismus und Assimilation; Schulausbildung und Berufswahl, Mädchen und Männlichkeit entbrannten in der Jugendbewegung früher und schärfer als in vielen jüdischen Erwachsenorganisationen. Die geografische Lage Breslaus, weitab von Berlin, in der Nähe zur polnischen Grenze, verbunden mit der Größe der jüdischen Gemeinde, begünstigte die relativ eigenständigen Entwicklungen der meisten jüdischen Jugendbünde vor Ort. Aus Zeitschriften, Mitteilungsblättern, Briefwechseln, wie auch aus biografischen Erinnerungen lassen sich viele Entwicklungen, Fragestellungen und Gedankenwelten junger Breslauer Juden gut beschreiben. Ein Glücksfall ist dabei, dass mit Walter Laqueur ein Historiker der allgemeinen Jugendbewegung in jungen Jahren Mitglied zweier jüdischer Bünde in Breslau war, im Schwarzen Fähnlein und bei den Werkleuten.4 Arnold Paucker, ebenfalls Historiker und Mitglied der Berliner Werkleute, hat vor einigen Jahren in einem inspirierenden Aufsatz auf die Existenz der Greifen hingewiesen, einer nur in Breslau bestehenden Gruppe am Rande der Kameraden.5 Der Versuch, mit einem Längsschnitt an einem Ort auch die jüdische Jugendbewegung zu beschreiben, wurde schon vor Jahren am Beispiel Kölns unternommen.6 Das Beispiel Breslau erscheint ertragreicher, steht aber auch im Kontrast zu den Thesen der Kölner

3 Wesentlich für die Geschichte der jüdischen Jugendbewegung ist noch immer : Hermann Meier-Cronemeyer : Jüdische Jugendbewegung, in: Germania Judaica NF, Köln 1969. – Eine Übersicht zur neueren Literatur bietet Knut Bergbauer: Jüdische Jugendbewegung in Deutschland von ihren Anfängen bis zur Shoah, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 2000, Nr. 41, 2, S. 23 – 36. 4 Walter Laqueur : Die deutsche Jugendbewegung, Köln 1962; ders.: Wanderer wider Willen. Erinnerungen 1921 – 1951, Berlin 1995; ders: Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin u. a. 2000. 5 Arnold Paucker : Zum Selbstverständnis jüdischer Jugend in der Weimarer Republik und unter der nationalsozialistischen Diktatur, in: ders.: Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit, Teetz 2003, S. 183 – 204, hier S. 192. 6 Suska Döpp: Jüdische Jugendbewegung in Köln 1906 – 1938, Münster 1997. – In meiner Sammelrezension (siehe Anm. 3) habe ich bereits auf die Problematik verwiesen.

Dissertationsprojekt: Die jüdische Jugendbewegung in Breslau (1912 – 1938)

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Autorin, die eine Deckungsgleichheit der Interessen von Bünden und Gemeinde konstatiert. Die jüdische Jugendbewegung bekam vor allem nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten enormen Zulauf. Sie spielte bei der Berufsumschichtung und der Forcierung der Auswanderung eine entscheidende Rolle. So entstanden in Schlesien, in Ellguth, Klein-Silsterwitz und Gross-Breesen, Ausbildungsstätten für die jüdische Jugend. Aber vor allem gab die jüdische Jugendbewegung den Jugendlichen einen Sinn, eine Heimat und eine Perspektive in einer Zeit zunehmender Diskriminierung und Entrechtung. Die Freundschaften aus den Bünden hielten oft ein Leben lang und über weite Entfernungen. Denn die Überlebenden waren nun, von Australien bis Kanada, von Schweden bis Südafrika, von Deutschland bis Israel, in alle Welt verstreut. Auch das gehört zum »Erbe« der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland.

Elisabeth Meyer

Dissertationsprojekt: Jugendbewegung und Sozialpädagogik

In der Literatur findet man eine ganze Reihe von Hinweisen zum Einfluss der Jugendbewegung auf die Soziale Arbeit bzw. Sozialpädagogik. Der historische Entwicklungsstrang aber ist bislang nicht erschöpfend erarbeitet und dargestellt worden. Daher untersuche ich im Rahmen meiner Dissertation im Wesentlichen das seit 1907 erschienene Periodikum »Ratgeber für Jugendvereinigungen«, das 1925 in »Das junge Deutschland« umbenannt wurde, denn gerade hier wird der Einfluss der Jugendbewegung auf die Soziale Arbeit bzw. Sozialpädagogik gut sichtbar.1 Mein Erkenntnisinteresse richtet sich auf folgende Fragen: Warum und in welchen Bereichen waren Mitglieder der Jugendbewegung sozial tätig? Welchen Einfluss hatte die Jugendbewegung auf die Entwicklung der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik? Der beginnende Einfluss der Jugendbewegung auf die Entwicklung der Jugendpflege und später auch der Jugendfürsorge wird erstmals im Jahrgang 1916 des »Ratgebers« deutlich. Eine Reihe von Verfassern ist in ihren Beiträgen um eine Weiterentwicklung der sozialen Arbeit bemüht und berichtet von ihren Versuchen reformpädagogische Elemente der Jugendbewegung in ihre Jugendarbeit zu integrieren. Eines haben diese Autoren gemeinsam: Sie waren auf der Suche nach neuen Wegen in der sozialen Arbeit und läuteten damit das sozialpädagogische Jahrhundert ein. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist ein Bericht der in der Frauenbewegung tätigen und aus dem Wandervogel kommenden Martha Hoffmann, die schon 1916 ehrenamtlich in der Jugendpflege tätig war und versucht hat, ihre Erfahrungen aus der Jugendbewegung in die Jugendpflegearbeit zu einzubringen. Dabei musste sie feststellen, dass die mangelhafte Disziplin der Jugendpflegegruppen einen strengen Regelkatalog erforderte. Hoffmann kritisiert, dass die 1 Ratgeber für Jugendvereinigungen, hrsg von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, 1907/08, 1. Jg. – 1920, 14. Jg.; Ratgeber für Jugendvereinigungen, hg. vom Ausschuß der Deutschen Jugendverbände, 1921, 15. Jg. – 1924, 18. Jg.; Das Junge Deutschland. Überbündische Zeitschrift, hg. vom Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände, 1925, 19. Jg. – 1932, 26. Jg.

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Elisabeth Meyer

überkommenen Erziehungsmethoden in der Jugendpflege bislang keine Eigenverantwortlichkeit hervor gebracht hätten.2 Als Konsequenz aus dem verlorenen Weltkrieg und der Abschaffung der Monarchie ergab sich die Notwendigkeit entscheidender Veränderungen. Hertha Siemering fordert in diesem Zusammenhang die Verantwortlichen der Jugendpflege im »Ratgeber« auf, »auf den harten Druck der feindlichen Mächte mit gesteigerten pädagogischen Maßnahmen zu reagieren«.3 Wie viele Angehörige der Erwachsenengeneration projizierte sie damit alle Hoffnungen auf die nachkommende Generation, zusammengefasst in der damals verbreiteten Parole: »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft«.4 Dazu bedurfte es der staatlichen Unterstützung der jungen Generation, wie es in den Jugendpflegeerlassen von 1918 und 1919 deutlich wird, die nunmehr Jugendvereinigungen jeglicher Weltanschauung in die Bestrebungen der Jugendpflege mit einbezogen. In den folgenden zwei Jahren nahm der Einfluss der Jugendbewegung noch weiter zu, wie der »Ratgeber« des Jahres 1920 zeigt. Hertha Siemering stellt darin fest, dass die Jugendbewegung die gesamte Jugend Deutschlands begeistere und nahezu alle in Jugendgruppen organisierten jungen Menschen sich als jugendbewegt begriffen.5 Die staatliche Jugendpflege sah sich daher zunehmend gezwungen, die Daseins- und Umgangsformen der Jugendbewegung in ihre Jugendpflegearbeit zu integrieren, um die Beteiligung der Jugendlichen aufrecht zu erhalten. Dabei waren die Ideen der Jugendbewegung im Grundsatz revolutionär : ausgehend vom Bild einer eigenständigen Lebensphase der Jugend wurden Grundsätze wie Selbstbestimmung, Selbstausdruck, Freundschaft und Kameradschaftlichkeit vertreten; zudem waren die Führer der Gruppen oftmals nur wenig älter als die Mitglieder selbst. Ihren gesetzgeberischen Ausdruck fand die Übernahme jugendbewegter Elemente im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG), das 1922 verabschiedet wurde und 1924 in Kraft getreten ist. Darin wurden die Jugendämter angehalten, eine Zusammenarbeit mit der freien Jugendpflege und der Jugendbewegung zu organisieren (§ 6). Überdies hatte jetzt »jedes deutsche Kind ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit« (§ 1). Das bedeutete, dass der Gesetzgeber die Jugendbewegung als zentrales Leitbild so2 Vgl. Martha Hoffmann: Jugendbewegung- Jugendpflege, in: Ratgeber für Jugendvereinigungen 1916, 10. Jg., S. 51 – 53. 3 Hertha Siemering: Kriegsausgang, innere Wandlungen und Jugendvereine, in: Ratgeber für Jugendvereinigungen, 1918, 12. Jg., S. 110. 4 Landesjugendpfleger Weicker : Jugendbewegung auf dem Lande, in: Ratgeber für Jugendvereinigungen, 1930, 14. Jg., S. 10. 5 Vgl. Hertha Siemering: Wandlungen. Die Stellung der Jugendpflege und Jugendbewegung zum Entwurf eines Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, in: Ratgeber für Jugendvereinigungen, 1920, 14. Jg., S. 41 – 48.

Dissertationsprojekt: Jugendbewegung und Sozialpädagogik

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wohl für die Jugendpflege als präventive Maßnahme, wie auch für die Jugendfürsorge festschrieb. Warum aber wurden die Mitglieder der Jugendbewegung überhaupt selbst sozial tätig? Eine verbreitete Begründung lautete, dass man sich am Wiederaufbau des Landes beteiligen wolle und dabei insbesondere die »soziale Aufgabe«, die es zu bewältigen galt, im Blick habe. Mitglieder jugendbewegter Gruppen engagierten sich zum einen in der präventiven Jugendarbeit und versuchten die Not in den eigenen Reihen zu lindern. Andere wiederum waren an sozialen Brennpunkten tätig und leisteten das, was man heute »sozialpädagogische Einzelfallhilfe« nennen würde. Viele – weibliche wie männliche – jugendbewegte junge Erwachsene zog es schließlich in die professionelle Sozialarbeit, wo sie ihre in der Jugendbewegung gemachten Sozialisationserfahrungen in die Soziale Arbeit einbrachten.6 Konkrete Einsatzfelder jugendbewegter »Sozialarbeiter« wurden im »Jungen Deutschland« erstmals 1926 in einem zusammenfassenden Bericht aufgeführt.7 Justus Ehrhardt beschrieb darin, wie nach dem Ersten Weltkrieg ein breites Feld sozialer Hilfsmaßnahmen freier Träger entstand, die von Mitgliedern der Bündischen Jugend sämtlicher weltanschaulicher Richtungen initiiert wurden und durch staatliche Zuwendungen, private Spenden und die große Beteiligung ehrenamtlicher Mitarbeiter realisiert werden konnten. Seit 1919 sei man am Kampf gegen »Schund und Schmutz in Buch und Bild« beteiligt. Zudem übernehme man ehrenamtliche Aufgaben der Jugendgerichtshilfe oder Schutzaufsichten und helfe in Erholungs- oder Tagesheimen. Spielscharen wurden gegründet, die ihre Einnahmen an bedürftige alte Menschen verteilten. Zudem wurden Kleiderund Geldsammlungen für Großstadtkinder durchgeführt, Patenschaften übernommen oder Ferienerholungen organisiert. Das Hamburger Jugendamt hatte die ehrenamtliche Mitarbeit der Jugendbünde bereits im Jahr 1925 stark vorangetrieben; dort arbeitete man mit 57 freiwilligen Helfern aus der Jugendbewegung zusammen. Und nicht zuletzt hatten die Reformer Carl Wilker, Curt Bondy, Walter Hermann und Otto Zirker damit begonnen, die Grundideen der Jugendbewegung in den von ihnen geleiteten Fürsorgeanstalten zu erproben. Eine Art Bilanz zum sozialen Einsatz der Jugendbewegung erfolgte dann 1930 im »Jungen Deutschland« mit dem Sonderheft »Soziale Arbeit«.8 Justus Ehrhardt 6 Carl Mennicke: Jugendbewegung und öffentliche Wohlfahrtspflege. Ein Beitrag zum sozialpädagogischen Problem der Gegenwart, in: Pädagogisches Zentralblatt, 1924, 4. Jg., S. 393. – Gustav Buchhierl: Jugendbewegung und Soziale Arbeit, in: Werner Kindt (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit Zeit (Dokumentation der Jugendbewegung; 3), Düsseldorf u. a. 1974, S. 1477 – 1483. 7 Vgl. Justus Ehrhardt: Die Stellung der Jugendbewegung in der sozialen Arbeit, in: Das Junge Deutschland, 1926, 20. Jg., S. 207 – 212. 8 Vgl. Justus Ehrhardt: Die Jugendbewegung in der sozialen Arbeit, in: Das Junge Deutschland, 1930, 24. Jg., S. 50 – 56.

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Elisabeth Meyer

stellte fest, dass die zweite, bündische Phase der Jugendbewegung zwar von der Mitarbeit an den sozialen Problemlagen und dem unbedingten Willen zur Besserung der Verhältnisse geprägt gewesen, die Mitarbeit der Helfer aber nicht immer erfolgreich gewesen sei. Die Gründe dafür seien die fehlenden Schulungen. Ehrhardt zieht hier insbesondere die Jugendämter in die Verantwortung. Im Jahr 1931 reißt die Diskussion zu diesem Thema in der Zeitschrift dann schlagartig ab. Als Begründung bietet sich die Feststellung von Josepha Fischer an, dass die »gesamte Jugendgeneration politisiert worden sei«.9 In allen Bünden habe sich der völkische Gedanke durchgesetzt und die Hitlerjugend erfreue sich eines enormen Zulaufs. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren der Arbeitsbereich der Jugendpflege unter dem Einfluss der Jugendbewegung stark verändert hat. Bereits 1916 wurden reformpädagogische und jugendbewegte Einflüsse auf das Feld der Jugendpflege sichtbar. Die große Welle der Reformen aber kam erst nach dem Ersten Weltkrieg ins Rollen, nachdem die Jugendpflegeerlasse von 1918 und 1919 die Jugendbewegung in den Arbeitsbereich der Jugendpflege integriert hatte und insbesondere das RJWG den Mitgliedern der Jugendbewegung ab 1922/24 den Weg in die soziale Hilfstätigkeit eröffnete. Denn jetzt waren die Jugendämter angehalten, eine Zusammenarbeit mit den Verbänden der Jugendpflege und der Jugendbewegung zu organisieren. Bis zum Jahr 1926 hatte sich ein breites Feld von jugendbewegten Akteuren entwickelt, die hauptberuflich oder ehrenamtlich sozial tätig waren und durch eigenständige Initiativen das Angebot der freien sozialen Organisationen erweiterten. Sie wollten mit der Bewältigung der sozialen Problemlagen an der Entwicklung des Landes beteiligt sein. Allerdings war das jugendbewegt-soziale Engagement nicht immer von Erfolg gekrönt. Im Jahr 1931 endete die Diskussion dieser Thematik unvermittelt. Abschließend bleibt zu fragen, in welcher Weise die Jugendbewegung die Entwicklung der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik beeinflusste? Wenn man die Merkmale der traditionellen Jugendpflege mit den Daseinsformen und Ideen der Jugendbewegung vergleicht, zeichnen sich diese durch eine dem jungen Menschen entgegenkommende Umgangs- und Denkweisen aus. Grundsätze wie Kameradschaftlichkeit, Freundschaft, unkonventionelle Kleidung und Umgangsformen sowie selbstbestimmte Aktionsräume, in denen ein Rollenerproben möglich ist, waren und sind noch heute die Rahmenbedingungen, die es den Jugendlichen ermöglichen, sich ohne »Gesichtsverlust« auf die Vorschläge eines älteren, erfahreneren Menschen einzulassen. Die Jugendbewegung hat damit die Jugendarbeit grundlegend reformiert und ideelle Grundsätze und Vorgehensweisen geschaffen, die bis heute 9 Vgl. Josepha Fischer: Entwicklungen und Wandlungen in den Jugendverbänden im Jahre 1930 in: Das Junge Deutschland, 1931, 25. Jg., S. 49 – 58, hier S. 49.

Dissertationsprojekt: Jugendbewegung und Sozialpädagogik

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gültig sind und keinesfalls auf den Begriff einer »Erlebnispädagogik« reduziert werden dürfen. Von dieser Einsicht, die auf der Auswertung des »Jungen Deutschland« sowie des »Ratgebers für Jugendvereinigungen« basiert, ausgehend, ergibt sich eine Reihe von Forschungsdesiderata. So fehlt es an der historischen Aufarbeitung zahlreicher, dem Namen nach bekannter Initiativen, wie z. B. die Berliner »Zugscharen«, das Frankfurter »Westendheim« oder die »Werkkreise« des Ruhrgebiets. Selbst bei den Paradebeispielen der sozialpädagogischen Bewegung, wie Karl Wilkers »Lindenhof«, beschränken sich viele Darstellungen und Deutungen auf die Protagonisten, die sowohl als Akteure wie als Chronisten tätig wurden, ihrerseits aber bislang kaum kritisch untersucht worden sind. Das Thema »Jugendbewegung und Sozialpädagogik« ist daher als weitgehend unbeackertes Feld anzusehen.

Yorck Müller-Dieckert

Jugendbewegung im Dissertationsprojekt: Der parteipolitische Bezug der Bündischen Jugend

Ausgehend von einer Fallstudie zur Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) und ihren historischen Vorläufern, die ich im Fach Politikwissenschaft an der Universität Düsseldorf verfasse, stieß ich auf die Frage, ob es bereits im Kaiserreich bzw. während der Weimarer Republik eine Grüne Partei in Deutschland gab, die »grüne« Themen wie den Naturschutz oder das Engagement für alternative Lebensformen verfolgte. Zudem interessiert mich, wie überhaupt die Verbindung der Jugendbewegung, genauer der Bündischen Jugend, zum parteipolitischen System aussieht und ob insbesondere eine Verbindung zwischen der ÖDP und der Jugendbewegung besteht. Die Entstehungsgeschichte der Grünen in Deutschland wird im allgemeinen auf die folgenden Vorläufer zurück geführt: auf die national-neutralistische Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD), die bürgerlichen oder konservativen Naturschützer um Herbert Gruhl (1921 – 1993), die linken KGruppen als Teil der 68er-Studentenbewegung, die Anhänger der Neuen Sozialen Bewegungen und die Befürworter eines Dritten Weges, wie den anthroposophischen Achberger Kreis oder die Freiwirte um Georg Otto (geb. 1928). So gut wie keine Beachtung findet dabei bislang der Bezug auf die Jugendbewegung.1 In seiner Arbeit »Konservatismus und Ökologiebewegung« geht Wüst zwar näher auf die ideengeschichtlichen Hintergründe der ÖDP ein. Einen expliziten Bezug zur Jugendbewegung, insbesondere auf die Bündische Jugend stellt aber auch er nicht her.2 Bei Geden und Woelk findet man lediglich die einseitige Bezugnahme auf die Verbindung von Bündischen zur Umweltbewegung unter dem Gesichtspunkt rechtsextremer Ideologie.3 1 Eine Ausnahme hiervon stellt die Untersuchung von Silke Mende: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011 dar. 2 Siehe Jürgen Wüst: Konservatismus und Ökologiebewegung. Eine Untersuchung im Spannungsfeld von Partei, Bewegung und Ideologie am Beispiel der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), Frankfurt a. M. 1993, S. 28 – 91. 3 Siehe dazu Oliver Geden: Rechte Ökologie. Umweltschutz zwischen Emanzipation und Faschismus, Berlin 1996 und Volkmar Woelk, Mythos Natur, Duisburg 1992.

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Yorck Müller-Dieckert

Eine Grüne Partei gab es in Deutschland bis 1977 nicht, als sich die Umweltschutzpartei Niederachsen (USP) konstituierte. Zwar war bereits beim Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner Treffen 1913 die Idee einer Deutschen Lebensreformpartei verhandelt worden; zu einer Gründung kam es damals jedoch nicht.4 In der Jugendbewegung als Teil der Lebensreform waren Naturschutz und alternative Lebensführung von Beginn an genuine Elemente.5 Daher liegt die Vermutung nahe, dass sich aus diesem Milieu eine Grüne Partei formieren könnte; wenn auch nicht im ersten Anlauf 1913, so doch möglicherweise in der Weimarer Republik. Tatsächlich blieb ein entsprechender parteipolitischer Vorstoß der bündischen Jugend eine Episode, bei der einige noch heute aktuelle Forderungen auf die politische Tagesordnung gesetzt wurden. Die wichtigsten Partner der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) waren der Jungdeutsche Orden von Arthur Mahraun und seine Volksnationale Reichsvereinigung. Der Zusammenschluss von DDP und Jungdeutschem Orden zur Deutschen Staatspartei (DStP) wird im Rahmen meiner Dissertation umfassend erläutert; an dieser Stelle vertiefe ich lediglich das Engagement der eindeutig bündischen Gruppierung innerhalb der DStP. Dabei handelt es sich um die Reichsgruppe Bündischer Jugend, die sich Anfang September 1929 innerhalb der DStP formierte.6 Grundsätzlich beriefen sich die Bünde damals auf eine unpolitische Haltung, so dass die Beteiligung an der Gründung der Staatspartei eine Ausnahme blieb. In einem Werbeschreiben der Reichsgruppe an die Bündische Jugend heißt es: »Aus verschiedenen Bünden der deutschen Jugendbewegung stammend haben wir als Mitglieder der neuen Deutschen Staatspartei eine ›Reichsgruppe bündischer Jugend in der Deutschen Staatspartei‹ gegründet. Wir sahen die Not von Volk und Reich, wir sahen, dass die alten Parlamentarier sie allein nicht meisterten. Wir wollten unser Deutschland nicht Diktatoren ausliefern, die sich groß dünken und uns klein scheinen. […] Wir standen einer verhärteten Front alterfahrener Routiniers der parlamentarischen Taktik gegenüber, die unseren Einsatz nicht wollten, weil sie unsere Stimmen, 4 Hermann Martin Popert plante, die Freideutsche Jugend in eine »Deutsche Lebensreformpartei« umzuwandeln. Ulrich Linse schreibt dazu: »Es war übrigens das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass die Vision einer ›grün-alternativen‹ Reform-Partei auftauchte. Das Projekt scheiterte freilich bereits auf dem [freideutschen] Meißner-Fest selbst an der Weigerung der Jugendlichen, sich vor den Karren der unjugendlichen Zwecksetzungen Erwachsener spannen zu lassen.« Ulrich Linse in einer E-Mail an den Verfasser vom 12. 04. 2013. – Herbert Gruhl hatte eine ähnliche Vorstellung, da er aus dem 1975 gegründeten Bund für Natur- und Umweltschutz Deutschland (BNUD) heraus eine Partei gründen wollte. Die Gründung »konnte aber nicht offiziell vom überparteilichen BUND ausgehen«, und so gründete Gruhl im Jahr 1978 die Grüne Aktion Zukunft (GAZ); vgl. Volker Kempf, Herbert Gruhl: Pionier der Umweltsoziologie, Graz 2008, Seite 135. 5 Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke, Handbuch der deutschen Reformbewegungen: 1880-1933, Wuppertal 1998. 6 Klaus Hornung: Der Jungdeutsche Orden, Düsseldorf 1958, S. 102.

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Der parteipolitische Bezug der Bündischen Jugend

nicht aber unsere Ehrlichkeit und Aktivität für sich brauchen konnten. […] Die Gegner des neuen Geistes in der Deutschen Staatspartei, die noch veralteten liberalen Schlagworten anhangen, sind stark. […] Der Kampf dieser Gruppe soll der Durchsetzung der Partei nach außen, der Niederringung der Interessenpolitik, überalteter Gedanken, verkalkter Menschen im Innern der Partei dienen.«7

Die Unterstützer der Reichsgruppe bildeten den Mündener Kreis. Im zweiten Rundbrief der Gruppe heißt es: »Der Mündener Kreis hat bis auf Weiteres die Staatspolitische Reichsgruppe bündischer Jugend zu seinem Vorort8 gewählt. Dort wird Auskunft über den ›Mündener Kreis‹ und die Reichsgruppe sowie deren Verbindungsleute erteilt.«9 Ein Aufruf des politischen Kreises der bündischen Jugend in Bremen wandte sich sowohl an die Bremer bündische Jugend als auch an die Älteren aus der Jugendbewegung. Darin hieß es, dass der Reichsgruppe bereits mehrere Hundert Ältere aus der Jugendbewegung angehörten.10 Auf einem Wahlflugblatt war zu lesen: »In der deutschen Staatspartei findest Du Führer der jungen Generation als gemeinsame Kämpfer gegen Interessentum, Klassen-, Rassenhass und überholte Parteidogmatik.«11 Über die politischen Präferenzen der Jugendbewegten sind nur wenige Belege erhalten. Aufschlussreich erscheinen dennoch zwei Probeabstimmungen »über die parteipolitischen Sympathien« unter den Mitgliedern der »Bündischen Gesellschaft«, aus denen sich folgendes Bild ergibt12 :

SPD

Umfrage 1928 35 %

Umfrage 1933 53 %

Deutsche Staatspartei Konservative Volkspartei

30 % 18 %

3% -

NSDAP

4%

20 %

7 Unterzeichner des Aufrufes waren unter anderem Werner Kindt (Deutsche Freischar), Norman Körber (Reichsstand), Dr. Arnold Littmann (Deutsche Freischar), Prof. Gustav Mittelstrass (Bund der Wandervögel und Kronacher), Werner Pohl (Deutsche Freischar), Luise Riegger (Bund der Wandervögel und Kronacher) und Dr. Theodor Wilhelm (Reichsstand). – Siehe dazu: Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), A 61, Aufruf der Reichsgruppe 1930. 8 Vorort bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Reichsgruppe die Angelegenheiten und Interessen des Mündener Kreises und weiterer Person aus dem Bündischen Umfeld, die an der Idee der Staatspartei interessiert waren und diese unterstützen wollten, in Hinblick auf organisatorische Fragen und im Kontakt zu den anderen Partnern der Staatspartei offiziell vertrat. 9 AdJb, A 61, Zweiter Rundbrief des Mündener Kreises vom 25. 10. 1931, S. 1. 10 AdJb, A 61, Rundschreiben der Bremer Gruppe vom 25. 10. 1930, S. 2. 11 AdJb, A 61, Aufruf der Staatspartei vom September 1930. 12 Die Bündische Gesellschaft war ein »überbündischer Zusammenschluss Bündischer Älterer, geführt von Freischarleuten«; vgl. Karl Otto Paetel: Jugendbewegung und Politik. Randbemerkungen, Bad Godesberg 1961, S. 125.

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Yorck Müller-Dieckert

(Fortsetzung) DVP KPD

Umfrage 1928 4% 4%

Umfrage 1933 5% -

DNVP Altsozialisten

2% -

3% 5%

Völkisch-Nationaler Block Nichtwähler

5%

5% 5%

Wie der Tabelle zu entnehmen ist, fand die DStP in der Umfrage vor ihrer Teilnahme an der ersten Reichstagswahl eine recht deutliche Zustimmung. Da die Reichsgruppe bereits im Oktober 1930 wieder aus der DStP austrat, war die Zustimmung 1933 entsprechend nahe null. 1930 kam kein Reichstagsabgeordneter aus den Reihen der Reichsgruppe ins Parlament.13 Interessant sind die Übereinstimmungen in den Äußerungen der Reichsgruppe mit Formulierungen heutiger ökologischer Parteien, wie einige Beispiele zeigen. Auch wenn das Grundanliegen der Bündischen in der Errichtung eines neuen nationalen Volksstaates, der mit dem Altem bricht und revolutionär Neues hervorbringt, bestand und nicht im Erhalt und Schutz der Natur, so lassen sich die historischen Schlagworte doch mit heutigen Forderungen der Grünen vergleichen. Auch die jungen Grünen forderten eine Umwälzung des Systems, setzten sich von alter Interessenpolitik und Parteienlogik ab: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorne« hieß die nicht haltbare Formulierung Herbert Gruhls für die Grünen der Anfangszeit. Das kommt einer Formulierung der 1930er-Jahre ziemlich nahe: »Wenn aber Dr. Josef Winschuh, […] sich jetzt plötzlich für ein Verbleiben in der DStP erklärt, um das Reichstagsmandat […] des Ministers a. D. Koch-Weser annehmen zu können, so müssen wir diesen allzu plötzlichen Überzeugungswechsel als einen Verstoß gegen die politische Sauberkeit empfinden.«14 Angesprochen ist hier das Rotationsprinzip, demzufolge der Willen zu politischer Gestaltung nicht zur Ämterverhaftung führen dürfe. Im aktuellen politischen Tagesgeschehen wirbt die ÖDP mit dem Slogan »Frei von Konzernspenden«, also ebenfalls für eine »saubere« Politik. Ein weiterer Vergleich: Im Entwurf eines politischen Aktionsprogrammes der Reichsgruppe heißt es zur Wirtschaftspolitik: »Die Einkommenssteuer muss das Rückgrat der öffentlichen Finanzwirtschaft sein. Die Vermögenssteuer als Sonderbelastung des fundierten Besitzes, die Erbschaftssteuer, die Besteuerung 13 Möglicherweise rückte mit Dr. Josef Winschuh ein Mitglied der Reichsgruppe am 01. 11. 1930 in den Reichstag nach. 14 Bestand AdJb, A 61, Pressemitteilung der Reichsgruppe vom 18. 10. 1930. Hieraus ergibt sich, dass Winschuh mutmaßlich ein Bündischer gewesen ist.

Der parteipolitische Bezug der Bündischen Jugend

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des entbehrlichen Massenverbrauchs (Tabak und Alkohol) und des Luxuskonsums sind bis zur Grenze der finanziellen Ergiebigkeit und psychologischen Tragbarkeit auszubauen.«15 Ganz ähnlich klingen die Beschlüsse beim letzten Bundesparteitag der Grünen.16 Zur Umstellung der Landwirtschaft steht in demselben Programm: »Deutsche Agrarpolitik muss bäuerliche Agrarpolitik sein!«17 Die Erhaltung und Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft, die Bezug auf die biologische Landwirtschaft nimmt, ist seit jeher ein vorrangiges Ziel der ÖDP. An vielen Stellen zeigen sich vergleichbare Ansätze und Ziele in den politischen Anfangsforderungen, die zunächst gegen das etablierte Parteien- und Wirtschaftssystem und seine alte Politik gerichtet waren, auch wenn die Angehörigen der Reichsgruppe Bündischer Jugend vornehmlich Anhänger bürgerlicher Parteien waren, während die vorherrschende politische Richtung bei den Grünen der Anfangsjahre hingegen als überwiegend links zu bezeichnen ist. Auffällig ist, dass gerade in der Anfangszeit der Grünen Bewegung eine Reihe Bündischer an prominenter Stelle aktiv waren. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Baldur Springmann (1912 – 2003), neben Petra Kelly (1947 – 1992) der bekannteste Grüne der Anfangsjahre, Begründer und Vorsitzender der Grünen Liste Schleswig-Holstein, für kurze Zeit auch erster und kommissarischer Bundesvorsitzender der ÖDP.18 Weitere Personen mit bündischem Hintergrund in der grünen Szene sind: Konrad Buchwald (1914 – 2003), der unter anderem von 1985 bis 1988 stellvertretender Bundesvorsitzender der ÖDP war ; Bernhard Grzimek (1909 – 1987), den Herbert Gruhl schon als Mitgründer des BUND 1975 hatte gewinnen können und der in den Ökologischen Rat der ÖDP berufen wurde; Werner Haverbeck (1909 – 1999) als Vorsitzender des Weltbundes zum Schutz des Lebens und sein Collegium Humanum.19 Bislang gibt es keine systematische Untersuchung zu der Frage, inwiefern von der Jugendbewegung geprägte Menschen sich in der Grünen Partei oder in der ÖDP engagierten, ob sie Funktionen wahrnahmen bzw. welche Zusammenarbeit es zwischen bündisch-

15 AdJb, A 61, Normann Körber (Mündener Kreis): Entwurf eines politischen Aktionsprogramms, o. J., S. 5. 16 Vgl. die Homepage der Grünen, verfügbar unter http://www.gruene.de/fileadmin/user_ upload/Dokumente/Gruenes-Bundestagswahlprogramm-2013.pdf, Seite 82 f. [27. 06. 2013]. 17 AdJb, A 61, Normann Körber (Mündener Kreis): Entwurf eines politischen Aktionsprogramms, o. J., S. 6. 18 Springmann nahm diesen Posten 1981 wahr. 1982 war er ÖDP-Landesvorsitzender in Schleswig-Holstein. 19 Siehe auch: Jürgen Wüst: Konservatismus und Ökologiebewegung : eine Untersuchung im Spannungsfeld von Partei, Bewegung und Ideologie am Beispiel der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), Frankfurt a. M. 1993, S. 54 sowie Volkmar Woelk: Natur und Mythos, Duisburg 1992, S. 15 ff.

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Yorck Müller-Dieckert

pfadfinderischen Gruppen und den genannten Parteien gab. Das zu beantworten, stellt einen kleinen Teilaspekt der angestrebten Dissertation dar.

Simon Nußbruch

Dissertationsprojekt: Musik der Bündischen Jugend nach 1945

Schon zu Beginn der Forschungsarbeiten zur Musikkultur der Bündischen Jugend nach 1945 stellte sich heraus, dass es zu der bis heute lebendigen Musikpraxis der Bündischen Jugend nach 1945 sowie zu ihrem großen Repertoire praktisch keine musikwissenschaftlichen Untersuchungen gibt.1 Mein Dissertationsprojekt basiert daher im Wesentlichen auf meiner eigenen, 2012 abgeschlossenen Magisterarbeit, mit der ich das Feld erstmals sondiert habe.2 Das dabei als zentrales Lied gewählte »Was ließen jene« verkörperte für mich seit der Zeit meiner aktiven Mitgliedschaft in der bündischen Pfadfindergruppe, in der es bei Bundesfesten und ähnlichen feierlichen Gelegenheiten oft gesungen wurde, den Inbegriff einer Musik, die ausschließlich mit dem habituellen Umfeld des Bündischen verbunden war. Urheber und Entstehungszeit des Liedes waren mir jedoch bis zu Beginn meines wissenschaftlichen Interesses nicht bekannt. Auch musikgeschichtlich fiel es schwer, den altertümlich anmutenden musikalischen Satz, der neben dem rätselhaften deutschen Text und den besonderen Ausführungssituationen das Lied so spezifisch »bündisch« machte, einzuordnen. Ausgangspunkt der Arbeit war daher zunächst die Frage, um was für eine Art Lied es sich bei »Was ließen jene« handelt, und dann zu eruieren, ob dieses Lied tatsächlich so etwas wie ein paradigmatisches Werk der Bündischen Jugend nach 1945 ist, und wenn ja, warum. Dazu wurden, frei nach der Methode einer Liedmonographie, drei Aspekte von »Was ließen jene« untersucht: zunächst Autor, Entstehungsumstände und Rezeption, dann Text und musikalische Gestaltung und schließlich die Bedingungen der Ausführung, die neben dem notiert vorliegenden Werk verant-

1 Vgl. Stefan Krolle: Musisch-kulturelle Etappen der deutschen Jugendbewegung von 1919 – 1964. Eine Regionalstudie, Münster 2004 – Krolle zählt allein bis 1964 über 8 000 Lieder. 2 Simon Nußbruch: »Was ließen jene, die vor uns schon waren«: ein Beispiel für die Musik der Bündischen Jugend nach 1945, Magisterarbeit, Universität Hamburg 2011.

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Simon Nußbruch

wortlich dafür sind, wie das Lied in der Regel tatsächlich erklingt.3 Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden im Folgenden kurz dargestellt. Als Autor des Liedes »Was ließen jene« kann ohne Zweifel der besser unter seinem Fahrtennamen »olka« bekannte Erich Scholz (1913 – 2001) gelten, dessen Einfluss auf die Bündische Jugend nach 1945, besonders auf den Bund deutscher Jungenschaften (BdJ) um 1960, allgemein unbestritten ist. Wie seit spätestens 1993 bekannt ist, war Erich Scholz während der NS-Zeit in verschiedenen Positionen vom Jungvolkführer bis zum KZ-Kommandanten tätig. Eigenartigerweise wird jedoch bis heute eine klare Positionierung zu diesem Sachverhalt vermieden. Erich Scholz gilt noch immer in erster Linie als interessante Figur der Nachkriegsgeschichte, der die Nachfahren der Jugendbewegung einige ihrer populärsten Lieder verdanken4. So weist auch »Was ließen jene« seit seiner Entstehung 1962 bis heute eine durch schriftliche Quellen gut dokumentierte Rezeptionsgeschichte auf. Interessanterweise erfolgte die Verbreitung des Liedes ausschließlich im bündischen Rahmen, was in Verbindung mit der beinahe lückenlosen Rezeption nahe legt, dass es sich bei »Was ließen jene« bis heute um ein starkes und weit verbreitetes Identifikationsobjekt der Bündischen Jugend nach 1945 handelt.5 Der Liedtext gehört formal zur Gattung des »ideologischen Massenliedes« und ist als solches formal und inhaltlich durch zahlreiche Konnotationen eindeutig auf die Rezeption innerhalb der Gemeinschaft der Bündischen zugeschnitten.6 Die Rezeption außerhalb dieser Gemeinschaft wird damit bewusst ausgeschlossen. Bei dem zweistimmigen musikalischen Liedsatz handelt es sich um eine Kontrafaktur eines vierstimmigen Tanzsatzes, der zuerst 1551 im Rahmen einer Sammlung instrumentaler Unterhaltungsmusik des Antwerpener Komponisten und Notendruckers Tilman Susato erschien. Ob diese Umarbeitung von Erich Scholz selbst stammt, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Dennoch verbergen sich auch in der musikalischen Faktur des Liedes eine Reihe, für die jugendbewegte Musikpraxis signifikanter Transformationstechniken, die in der Umgestaltung des vierstimmigen Tanzsatzes von 1551 zu einem zweistimmigen Liedsatz 1962 zu Tage treten.7 Neben den durch diese Transformationen vorgegebenen musikalischen Parametern wie Metrum, 3 Vgl. Michael Fischer: Rekonstruktion und Dekonstruktion. Die Edition »Deutsche Volkslieder mit ihren Melodien« (1935 – 1996) und die Online-Publikation »Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon‹ (2005 ff.)«, in: Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg, 2009, 54. Jg., S. 33 – 61. 4 Fritz Schmidt u. a. (Hg.): »Was ließen jene, die vor uns schon waren?« Der jugendbewegte Schriftsteller Erich Scholz-olka (1911 – 2000) (Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung; 15), Schwalbach/Ts. 2011. 5 Vgl. Nußbruch: Beispiel (Anm. 2), S. 54 ff., Iff. 6 Vladimir Karbusicky : Ideologie im Lied, Lied in der Ideologie. Kulturanthropologische Strukturanalysen, Köln 1973. 7 Vgl.: Nußbruch: Beispiel (Anm. 2), S. 87 ff.

Dissertationsprojekt: Musik der Bündischen Jugend nach 1945

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Rhythmus, Tempo, Tonart, etc. ist die tatsächliche musikalische Ausführung schließlich durch eine Reihe spezifisch bündischer Konventionen geprägt. Diese wirken sich zusammen mit der entsprechenden musikalischen Sozialisation der Rezipienten unmittelbar auf die Art aus, in der man das Lied üblicherweise zu hören bekommt.8 Dadurch, dass die musikalischen Konventionen bei denen, die das Lied kennen, auch in Form musikpraktischer Parameter Dynamik und Klangfarbe der Stimmen, Spielweise der Instrumentalbegleitung, etc. internalisiert sind, kann das Lied nur auf eine bestimmte Weise klingen – nämlich eindeutig bündisch. Im Workshop konnte dies durch das ungeprobte, gemeinsame Singen des Liedes eindrucksvoll demonstriert werden. Die ausschließlich bündische Rezeption, der gemeinschaftlichen Zusammenhalt beschwörende Text, die musikalische Gestaltung im Sinne einer jugendbewegten »Gemeinschaftsmusikkultur«9 sowie die ebenfalls in diesem Sinne in den Konventionen verankerten, praktischen Ausführungsparameter machen »Was ließen jene« zu einem durch und durch bündischen Lied. Dabei wurde ein Dilemma beim Gebrauch des Liedes zwischen dem Ideal individueller Freiheit und einem ideologieartigen Gemeinschaftsdenken erkennbar. Und schließlich muss die Tatsache, dass bis heute das Lied eines ehemaligen KZKommandanten zum bündischen Standardrepertoire gehört als problematisch eingestuft werden.10 Nachdem im Zuge der Magisterarbeit anhand des Beispiels »Was ließen jene« vornehmlich die Hintergründe des Repertoires beleuchtet wurden, soll in der Dissertation nun verstärkt die bündische Musikpraxis in ihrer aktuellen Form untersucht werden. Die Grundlage dafür stellt eine ethnomusikologische Feldforschung beim Meißnerlager 2013 dar, mit der ich durch teilnehmende Beobachtung die offiziellen und inoffiziellen Gelegenheiten musikalischer Tätigkeit ethnographisch dokumentieren werde. Dem liegt die Fragestellung zugrunde, ob und wie das herausgearbeitete Dilemma zwischen individueller Persönlichkeitsfindung und der Einbettung in einen nicht ganz unproblematischen habituellen und ideologischen Rahmen sich in der musikalischen Praxis manifestiert und bei den verschiedenen Akteuren der Bündischen Jugend nach 1945 wahrgenommen und reflektiert wird.

8 Vgl. Nußbruch: Beispiel (Anm. 2), S. 101 ff. 9 Dorothea Kolland: Die Jugendmusikbewegung. Gemeinschaftsmusik-Theorie und Praxis, Stuttgart 1979, S. 30. 10 Trotz des Wissens darum scheint in bündischen Kreisen die Funktion des Liedes als »emotionales Arkanum« (Jürgen Reulecke) eventuelle Vorbehalte gegen den Autor zu überdecken.

David Templin

Jugendbewegung im Dissertationsprojekt: Auf der Suche nach einer »neuen Jugendbewegung«? Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und die Jugendzentrumsbewegung der 1970er-Jahre

Im Januar 1974 berichtete Der Spiegel über eine »neue ›Jugendbewegung‹« in Westdeutschland. Mit Unterschriftensammlungen, Demonstrationen und Hausbesetzungen hatten bundesweit Jugendliche, Schülerinnen und Schüler ebenso wie Lehrlinge begonnen, sich für den Bau von Jugendhäusern einzusetzen: »Kaum eine kleinere Stadt, kaum ein größeres Dorf, in dem nicht neuerdings Heranwachsende für ein ›Jugendhaus‹, ein ›Freizeitheim‹, ein ›Kommunikationszentrum‹ streiten […] Ihr Schlachtruf: ›Was wir wollen: Freizeit ohne Kontrollen.‹ […] Schon sind die Parteien aufmerksam geworden. Die CDU bemühte […] gar einen historischen Vergleich: Die bundesdeutsche Jugend sei in einem Aufbruch ›ähnlich wie zur Zeit der Jugendbewegung‹ vor sechzig Jahren.«1 Eine Untersuchung dieser Jugendzentrumsbewegung und der mit ihr verbundenen Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen Initiativgruppen und Kommunen in den 1970er-Jahren ist ein Desiderat der zeithistorischen Forschung und Gegenstand meines Dissertationsprojekts, das seit November 2010 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) angesiedelt ist. Charakteristisch für die Bewegung ist, dass über sie die kulturellen und politischen Aufbrüche der späten 60er- und frühen 70er-Jahre in die westdeutsche »Provinz«, die Klein- und Mittelstädte in suburbanen und ländlichen Regionen transportiert wurden. Neben der Einrichtung von Jugendhäusern war der Ruf nach Selbstverwaltung die Kernforderung der Initiativen. Im Laufe des Jahrzehnts wurden mehrere hundert solcher selbstverwalteten Jugendzentren eingerichtet, etliche allerdings nach kurzer Zeit wieder geschlossen. In den Auseinandersetzungen um eigene Räume für Jugendliche und deren konkrete Ausgestaltung in Form von Nutzungsverträgen, Trägerschaftsmodellen, finanzieller Förderung und pädagogischer Betreuung spiegeln sich die Umbrüche des Jahrzehnts, von gewandelten Wertvorstellungen über gestiegene Ansprüche

1 Der Spiegel vom 14. 01. 1974, S. 38 – 47, hier S. 38.

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David Templin

nach Selbstbestimmung und Partizipation bis zur Ausbreitung urbaner und alternativer Lebensstile – auch abseits der Metropolen. Mit dem Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) beteiligte sich an der Jugendzentrumsbewegung – die in erster Linie eine Bewegung der nicht in Verbänden organisierten Jugendlichen war – auch einer der Verbände, die ihre Wurzeln in pfadfinderischen und bündischen Traditionen hatten. Der BDP zählt zu den Jugendverbänden, in denen die »Unruhe der Jugend« von ’68 die nachhaltigsten Spuren hinterlassen hat. 1949 als größter interkonfessioneller Pfadfinderbund gegründet, hatte sich bereits in den 1960er-Jahren im Bund eine neue Linie pfadfinderischer Erziehung etabliert, die eine Hinwendung zu Pädagogik und (politischer) Bildung mit sich brachte sowie erste Experimente mit offener Clubarbeit.2 1967 wurde eine Kritik an der traditionellen Pfadfinder-Erziehung ebenso laut wie Rufe nach dem Abbau autoritärer Strukturen. In der Folge kam es zu einer verbandsinternen Polarisierung, die sich an der linken Politisierung entzündete und zwischen 1970 und 1972 in der Spaltung und mehreren Austrittswellen liberaler und konservativer Kräfte mündete. Die Hinwendung des BDP zur Jugendzentrumsbewegung als einer um 1971 neu entstandenen sozialen Bewegung Jugendlicher muss auch als Ausdruck der Suchbewegung eines Verbandes gelesen werden, der nach seinem radikalen Bruch mit den eigenen scoutistischen und bündischen Traditionen und der Hinwendung zu marxistischen Ideen auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern war. Die vor allem in Hessen und Bremen/Niedersachsen forcierte Öffnung gegenüber den Initiativgruppen im Besonderen und offener Jugendarbeit und Jugendzentren im Allgemeinen war insofern auch ein Zeichen der Schwäche des Bundes, der sich als linker und demokratischer Jugendverband gewissermaßen neu erfinden musste. So begründete Wolfgang Hätscher, seit 1976 hauptamtlicher Bildungsreferent des BDP im Landesverband Hessen und selbst aus einer kleinstädtischen Jugendzentrumsinitiative kommend, die verstärkte Zusammenarbeit mit den Initiativen auch damit, dass die Existenz des BDP gefährdet sei, die »Mitgliedermassen« fehlten und das »Überleben des Verbandes« davon abhänge, »inwieweit er in einer Bewegung Rückhalt findet«.3 Für die Jugendzentrumsbewegung spielte der BDP vor allem in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre eine wichtige Rolle. Über theoretisch-politische Stellungnahmen und vereinzelt auch die Beteiligung an lokalen Initiativgruppen versuchte er der neuen Bewegung eine sozialistische Stoßrichtung zu geben, 2 Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945 – 1970), in: ders./Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 67-81. 3 Archiv der deutschen Jugendbewegung, A 202, Nr. 900, Wolfgang Hätscher : Überlegungen zur regionalen und überregionalen Koordination von Basisinitiativen, undatiert [ca. 1976].

Dissertationsprojekt: Auf der Suche nach einer »neuen Jugendbewegung«?

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grenzte sich dabei aber sowohl von als »reformistisch« kritisierten Jungsozialisten und DKP-Anhängern wie von maoistisch orientierten ML-Gruppen ab. Einzelne Protagonisten des BDP wie Diethelm Damm, Benno Hafeneger oder Jürgen Fiege entfalteten eine rege Publikationstätigkeit auf pädagogischem Gebiet und setzten sich für neue Formen der offenen Jugendarbeit und eine Unterstützung jugendlicher Selbstorganisation ein. Als eine Art »Dienstleister« der Bewegung stellte der Bund den Initiativgruppen eine Infrastruktur zur Verfügung, organisierte Seminare, Bildungsurlaub und Zeltlager für die Jugendlichen und geriet dadurch in einzelnen Bundesländern wie Hessen mehr und mehr in eine koordinierende Funktion. Insbesondere die Pfingstlager, die von BDP-Landesverbänden durchgeführt wurden, entwickelten sich zu zentralen Orten der Zusammenkunft, des kollektiven Erlebnisses und politischen Erfahrungsaustausches der primär lokal ausgerichteten jugendlichen Initiativgruppen. Prozesse der regionalen und bundesweiten Vernetzung der Jugendzentrumsinitiativen, die seit etwa 1975 verstärkt einsetzten, wurden vom BDP mit vorangetrieben. Auf dem Höhepunkt dieser Phase 1977/78 waren rund 50 regionale Zusammenschlüsse, Dachverbände und Koordinationsbüros entstanden. Mit dem Engagement in der Jugendzentrumsbewegung verschob sich die programmatische Ausrichtung des Bundes von einer strikt marxistischen Orientierung hin zur Öffnung gegenüber Selbstorganisierungsansätzen und den »Neuen Sozialen Bewegungen«, genauso wie sich ein Wandel in seiner Mitgliedschaft vollzog. In einem Selbstverständnispapier vom Februar 1979 konstatierte beispielsweise der hessische BDP, dass die Zusammenarbeit mit den Initiativen den Charakter und die Arbeitsweise des Landesverbandes stark geprägt habe und Jugendzentrumsaktive inzwischen die Mehrheit in den Verbandsgremien stellten. Der BDP sei insofern zu einer »Organisation der Nichtbzw. Selbstorganisierten« geworden.4 Allerdings darf die Bedeutung des Bundes für die Bewegung auch nicht überschätzt werden. Davon zeugen regelmäßig wiederkehrende Klagen aus seinen Reihen, dass für die Jugendlichen in den Jugendzentren der Verband eine unbekannte Größe sei. Die Jugendzentrumsbewegung der 1970er-Jahre war Ausdruck neuer Bedürfnisse und gestiegener Ansprüche Jugendlicher in den Jahren des zu Ende gehenden wirtschaftlichen Booms der Bundesrepublik. Mit ihrer Forderung nach offenen Jugendhäusern, nicht reglementierter Freizeit und Selbstverwaltung stellten die Initiativen auch die zentrale Stellung der Jugendverbände in der bundesrepublikanischen Jugendpflege in Frage. Die politischen Umbrüche von 4 Selbstverständnispapier des BDP/BDJ, LV Hessen, Februar 1979, in: Axel Hübner/ Rolf Klatta/ Herbert Swoboda (Hg.): Straßen sind wie Flüsse zu überqueren. Ein Lesebuch zur Geschichte des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP), Frankfurt a. M. 1981, S. 528-534.

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David Templin

’68 hatten allerdings auch in diesen Verbänden ihren Niederschlag gefunden und zu einem Bruch mit traditionellen Formen sowie der Hinwendung zu offener Jugendarbeit und jugendlicher Selbstorganisation geführt – eine Entwicklung, die sich am Beispiel des BDP in aller Deutlichkeit nachvollziehen lässt.

Kristian Meyer

Dissertationsprojekt: Von Friedenstauben und Wandervögeln, Sonnenblumen und Blauer Blume. Bündisch-jugendbewegtes Engagement in den Neuen Sozialen Bewegungen »Mit Betroffenheit verfolgen wir den Weg, auf dem die heutige menschliche Zivilisation voranschreitet. Die unverantwortliche Zerstörung der Natur, die Vereinsamung der Menschen und die Abkehr von den Qualitäten des Lebens gefährden die Existenz der Erde und ihrer Geschöpfe. In der Suche nach einem würdigen Weg der menschlichen Kultur sehen wir die Aufgabe eines jeden, der der heutigen Zeit gerecht werden will. Ihre gemeinsame Suche wollen die einzelnen Bünde, Gruppen und Persönlichkeiten im Sinne der Meißnerformel von 1913 nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung und in innerer Wahrhaftigkeit gestalten.«1 (Gemeinsame Erklärung der Bünde zum Meißnerlager 1988)

Im Oktober 2013 wird das hundertjährige Jubiläum des Freideutschen Jugendtages mit einem bündischen Lager in der Nähe des historischen Ortes gefeiert. Die teilnehmenden Bünde beklagen in ihrer gemeinsamen Erklärung die »schnelllebige Welt« und die »zunehmende Verlagerung von Begegnung in den virtuellen Raum«.2 Dagegen war die 25 Jahre zuvor formulierte »Gemeinsame Erklärung der Bünde zum Meißnerlager 1988«, wie eingangs nachzulesen, Ausdruck eines vom Kalten Krieg und der Katastrophe von Tschernobyl geprägten Zeitgeistes. In der Forschung wurde lange Zeit das Ende der historischen Jugendbewegung in der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 gesehen. Später sah man das Ende um 1960 gekommen, wobei die Zeit nach 1945 dann unter dem Begriff der »Restgeschichte« gefasst wurde.3 Neuerdings werden 1 Zit. nach: Die Buschtrommel. Bündischer Anzeiger für ›Eisbrecher‹- und ›Stichwort‹-Leser, 1988,, Heft 1, S. 1. 2 Vgl. die Homepage des Vereins zur Vorbereitung und Durchführung des Meißnertreffens 2013e.V., verfügbar unter http://meissner-2013.de/meissner-erklaerung-2013/ (30. 06. 2013). 3 Arno Klönne, Jürgen Reulecke: »Restgeschichte« und »neue Romantik«. Ein Gespräch über Bündische Jugend in der Nachkriegszeit, in: Franz-Werner Kersting (Hg.): Jugend vor einer Welt in Trümmern, Weinheim u. a. 1998, S. 87 – 103.

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aber auch spätere Entwicklungen thematisiert, so zuletzt das Verhältnis von Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968 oder – wie dieser Band dokumentiert – das Meißnerlager 1963.4 Kernzeitraum meines Dissertationsprojekts über bündisch-jugendbewegtes Engagement in den Neuen Sozialen Bewegungen sind die 1970er- und frühen 1980er-Jahre.5 Eingerahmt wird die Untersuchung von den Meißnerlagern 1963, bei dem schon erste Tendenzen ausgemacht werden können, und 1988, dessen zeittypische Erklärung als Abschluss dieser Periode gesehen werden kann.6 Das Projekt fügt sich somit in die seit einiger Zeit voranschreitende zeitgeschichtliche Erforschung der 1970er- und 1980er-Jahre ein.7 Einige Beispiele für die wechselseitigen Beziehungen zwischen Jugendbewegung und Neuen Sozialen Bewegungen werden im Folgenden genannt.

Habituelle und ideengeschichtliche Kontinuitäten Sven Reichardt und Detlef Siegfried sehen keine scharfen Trennlinien zwischen den einzelnen Neuen Sozialen Bewegungen, sondern verstehen diese eher als amorphes Gebilde mit zahlreichen personellen Überschneidungen, das sie in ihrem gleichnamigen Sammelband zum größten Teil dem »Alternativen Milieu« zuordnen.8 Gerade bei der Betrachtung habitueller Ähnlichkeiten und Unterschiede erscheint mir diese Zusammenfassung sinnvoll. Bilder blumenbekränzter nackter Wandervögel um 1900, die auf Wiesen Ringelreihen tanzen, könnten teilweise direkt neben Bilder von Alternativen aus den 1970er-Jahren gestellt und bei oberflächlicher Betrachtung durchaus verwechselt werden. An solche habituellen Ähnlichkeiten möchte ich mich mithilfe von Jens Ivo Engels’ Analysekategorie des »Politischen Verhaltensstils« annähern. Diese Methode zur vergleichenden Untersuchung von Protestbewegungen lehnt sich an Konzepte von Habitus und Lebensstil bei Pierre Bourdieu und Gerhard Schulze an. Hier wird nach habitualisierten Handlungsweisen, deren unausgesprochenem 4 Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2007, NF 4. 5 Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. u. a. 2008. 6 Vgl. zu 1963 insbesondere die Beiträge von Erdmann Linde und Eckard Holler in diesem Band. 7 Silke Mende: »Nicht rechts, nicht links, sondern vorn«: Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2010. – Sven Reichardt, Detlef Siegfried: Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968 – 1983, Göttingen 2010. 8 Ebd., S. 9 – 24.

Dissertationsprojekt

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Bedeutungsgehalt und stilistischen Kontextualisierungen gefragt, etwa in Kleidung, Sprache oder Gesellungsformen.9 Ideengeschichtliche Parallelen zwischen der Zeit um 1900 und der Zeit der Studentenbewegung sowie den darauf folgenden Neuen Sozialen Bewegungen sind recht augenfällig. Jüngst etwa hat Florian Illies in seinem Buch »1913. Der Sommer des Jahrhunderts« die vielleicht etwas überstilisierte Bezeichnung des Ereignisses auf dem Hohen Meißner als »das deutsche Woodstock« aufgegriffen.10 Der Vegetarismus der Lebensreform, die Modernitätsskepsis und –kritik, die damit einhergehende Idee eines »Zurück zur Natur« und der Authentizität des »Neuen Menschen«, eine pazifistische Grundhaltung, Ähnlichkeiten zwischen der lebensreformerischen Naturreligiosität und Phänomenen des New Age – zeitgenössische Parallelen zu diesen Aspekten der historischen Jugendbewegung wurden bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren publizistisch aufgegriffen.11 Für meine Arbeit wäre an dieser Stelle aber insbesondere zu fragen, ob diese Parallelen die Neuen Sozialen Bewegungen für aktive und ehemalige Jugendbewegte besonders anschlussfähig machten. Dabei fällt immer wieder besonders stark die Ambivalenz zwischen konservativ-traditionellen einerseits und progressiven Werten andererseits ins Auge, die sowohl der Jugendbewegung als auch der Friedens- und insbesondere der Grünen Bewegung der 1970er-Jahre gemein sind.12

Jugendbewegte Einzelpersonen in den Neuen Sozialen Bewegungen In meine Recherchen habe ich sowohl Personen einbezogen, die aus einem der Nachkriegsbünde kamen, als auch solche, die in der Bündischen Jugend der 1920er-Jahre sozialisiert wurden. Gerade bei ehemaligen Jugendbewegten fällt das Zusammenwirken von politisch deutlich links und deutlich rechts zu verortenden Protagonisten auf. So wurden die ersten Aufrufe zu Ostermärschen in Deutschland unter anderem einerseits von Christel Beilmann13 und Arno Klö9 Jens Ivo Engels: Umweltprotest und Verhaltensstile. Bausteine zu einer vergleichenden Untersuchung von Protestbewegungen, in: Vorgänge, 2003, Nr. 164, S. 50 – 58. 10 Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2012, S. 239. 11 So z. B. »Sie nannten sich Wandervögel. Wer sind die Erben?«, in: Zeitmagazin Nr. 45 vom 29. 10. 1976 oder »Blüht die Blaue Blume wieder?«, in: Nürnberger Zeitung am Wochenende Nr. 12 vom 16. 01. 1982. 12 Arno Klönne: Neue Friedensbewegung – neue Jugendbewegung?, in: Die neue Friedensbewegung. Analysen aus der Friedensforschung, Redaktion Reiner Steinweg, Frankfurt a. M. 1982, S. 174. – Mende: Geschichte (Anm. 7). 13 Franz Hucht: Christel Beilmann, in: Barbara Stambolis (Hg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen,

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nne, andererseits aber auch von Werner Georg Haverbeck unterzeichnet. Das Collegium Humanum (Akademie für Umwelt und Lebensschutz) in Vlotho, das letzterer 1963 mit seiner Ehefrau Ursula Wetzel-Haverbeck gegründet hatte, war in den 1960er- und 1970er-Jahren Anlaufpunkt für die IG Metall, Anthroposophische Gruppen, Silvio-Gesell-Anhänger und die Grüne Bewegung.14 Bis zu seinem Verbot durch den Verfassungsschutz im Jahr 2008 trafen sich hier aber auch rechte und rechtsextreme Gruppierungen wie die Heimattreue Deutsche Jugend, die Ludendorffer oder der Überbündische Kreis.15 Haverbeck war häufig Gastredner bei der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher. Diese war 1965 von August Haußleiter und seiner jugendbewegten Ehefrau Renate Haußleiter-Malluche als nationalneutralistische Partei gegründet worden. Schon Ende der 1960er-Jahre unternahm die Partei allerdings erste Ansätze eines Linksschwenks und versuchte, sich an die Außerparlamentarische Opposition anzulehnen. Größere Bedeutung erhielt sie jedoch erst mit dem Aufkommen der Umweltbewegung, gab sich auf ihrem Parteitag 1973 den Beinamen »Partei des Lebensschutzes« und ging als solche 1979 in der neugegründeten Partei Die Grünen auf.16 Auch Gerhard Neudorf hatte den Weg zu den Grünen über die AUD gefunden.17 1981 interviewte die überbündische Zeitschrift »Stichwort« ihn zu seinem dortigen Engagement. Unter anderem sagte er hierzu: »Ohne den Wandervogel wäre wohl unverständlich, warum ich gerade zu den Grünen gegangen bin. Naturverbundenheit führte früh zum Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der Natur; das Gruppenleben machte skeptisch gegenüber zentralistischen Heilslehren sozialistischer und rechter Richtungen.«18 Ein weiteres Beispiel für eine Person, die ihr friedens- und umweltpolitisches Engagement ganz klar auf die jugendbewegte Sozialisierung zurückführt, ist Robert Jungk.19 Schon in den

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Göttingen 2013, S. 89 – 103. – Biographische Angaben zum aus dem bündischen Flügel der evangelischen Jugend stammenden ehemaligen NSDAP-Mitglied und Gründer des »Reichsbunds Volkstum und Heimat« bei Mende: Geschichte (Anm. 7), S. 103 – 105. – Evangelisches Zentralarchiv (EZA): 686/7892, 686/7973. Im Archiv Grünes Gedächtnis (AGG) finden sich Teilnehmerlisten von 1979, die u. a. auch Namen wie Petra Kelly oder Jutta Ditfurth enthalten. – AGG, A-Kelly, Nr. 2551; A-Kerschgens, Nr. 8. ÜK-Rundschreiben Nr. 56 vom 05. 11. 1979, S. 3 f. (AdJb, Z 300/2712); darin wird von einem geplanten Wochenendseminar im Collegium Humanum berichtet. Als mögliches »Grundthema für die ÜK-Tage« wurde unter anderem diskutiert: »Was können wir gegen die Überfremdung des deutschen Volkes tun?«. Vgl. Mende: Geschichte (Anm. 7), S. 113 – 134. Dies allerdings zu einer Zeit, da sie nicht mehr zwingend als rechts wahrgenommen wurde; AGG, A-Kerschgens, Nr. 7. Stichwort, 1981, Heft 3, S. 258. Dirk van Laak: Robert Jungk (Robert Baum), in: Stambolis: Jugendbewegt (Anm. 13), S. 395 – 403.

Dissertationsprojekt

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1960er-Jahren engagierte auch er sich u. a. als Redner in der Ostermarschbewegung und führte später gemeinsam mit dem Theologen Helmut Gollwitzer – einer der bekanntesten Jugendbewegten in der Friedensbewegung und seines Zeichens Hauptredner auf dem Hohen Meißner 1963 –, dessen Frau Brigitte und Heinrich Böll die erste große Friedensdemonstration anlässlich des Evangelischen Kirchentages 1981 in Hamburg an.20 In einem Interview 1980 befragt, was die Alternativbewegung für ihn persönlich bedeute, begann er seine Antwort folgendermaßen: »Ich war von meinem zehnten bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr in der Jugendbewegung (d. h. von 1923 bis 1932). Unser Bund ›Kameraden‹ war sowohl von bündischen wie sozialistischen Vorstellungen geprägt.«21

Aktive Jugendbünde in den Neuen Sozialen Bewegungen Der Schwerpunkt meiner Arbeit soll auf der zeitgenössischen Jugendbewegung liegen. So war z. B. die von Robert Jungk und Helmut Gollwitzer angeführte Friedensdemo auch stark von diversen Jugendbünden geprägt.22 Für einen Gesamtüberblick über die Bewegung sind die zahlreichen Zeitschriften großer und kleiner Bünde sehr hilfreich, die sich im Archiv der deutschen Jugendbewegung finden. Zusammenfassend lässt sich nach der Lektüre sagen, dass eine Hinwendung zu den Neuen Sozialen Bewegungen zuerst bei den Bünden stattfand, die um 1970 einen starken bis radikalen Linksschwenk vollzogen, also v. a. der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) und der vornehmlich im Hamburger Raum präsente Ring Bündischer Jugend, die stark in der Jugendzentrumsbewegung aktiv waren.23 Im Lauf der 1970er-Jahre finden sich dann vereinzelt Bünde, die sich immer stärker mit den Themen Frieden und v. a. Umwelt befassen. Die vom Bundesführer Gerhard Neudorf herausgegebenen Zeitschriften des Wandervogel Deutscher Bund (WVDB) wären hier ein gutes Beispiel.24 Immer häufiger finden sich jetzt Aufrufe zu oder Berichte von Protestaktionen der Neuen Sozialen Bewegungen (Startbahn West, Gorleben etc.). Anfang der 1980er-Jahre wurden im Zuge des Erstarkens der Friedensbewegung v. a. in Zeitschriften 20 Auf der anschließenden Kundgebung spielten u. a. Hein & Oss Kröher (EZA 71/3627). 21 Walter Hollstein, Boris Penth: Alternativprojekte: Beispiele gegen die Resignation, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 436. 22 Tilman Schmieder, Klaus Schuhmacher (Hg.): Jugend auf dem Kirchentag. Eine empirische Analyse von Andreas Feige, Ingrid Lukatis und Wolfgang Lukatis, Stuttgart 1984, S. 23 (EZA 71/3633). 23 Vgl. den Beitrag von David Templin in diesem Band. 24 FKO – Freundschaftskorrespondenz des Wandervogel Deutscher Bund (AdJb Z 300/1468); Rundbrief für Ehemalige und Interessierte, Wandervogel D.B. (AdJb Z 300/2456).

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evangelischer Bünde pazifistische Themen immer präsenter. Und spätestens nach der Katastrophe von Tschernobyl wurden Umwelt, Frieden und Atomkraft in den meisten Zeitschriften thematisiert. Nur noch konservativere Bünde wie etwa der Nerother Wandervogel (NWV) blieben auch in dieser Phase in ihrer eigenen Fahrtenwelt verhaftet. Da die Arbeit kaum den Anspruch wird erheben können, das gesamte Spektrum der aktiven Jugendbünde abzudecken, sollen beispielhaft die Entwicklungen im Bund deutscher Jungenschaften (BdJ), im BDP und im NWV aufgegriffen werden. Neben den verfügbaren Archivalien sind hierzu ExpertenInterviews mit Zeitzeugen vorgesehen. Mit den ausgewählten Bünden kann exemplarisch die sehr unterschiedliche Entwicklung in der Jugendbewegung aufgezeigt werden. Anders als bei den älteren Jugendbewegten, die oftmals über politische Grenzen hinweg gemeinsam agierten, wurde der Linksschwenk vieler Bünde nämlich nicht von allen Jüngeren goutiert. Nachdem etwa dem BDP Main-Taunus die Teilnahme am eingangs erwähnten Meißnerlager zugestanden wurde, sagten die Nerother ab, weil sie keine Kompromisse schlössen »mit Gruppen, die mit marxistisch-leninistischer Grundtendenz eine Gesellschaftsordnung anstreben, in der freie Bünde keinen Platz haben.«25 Stattdessen veranstalteten sie ihr eigenes Parallel-Lager.

25 So der Bundesführer Fritz-Martin Schulz-FM, in: Schrift, 1988, Nr. 36, S. 8 (AdJb Z 300/ 1618).

Rezensionen

Alexander Schwitanski

Der »Aufbruch der Jugend« in der Binnensicht der bürgerlichen Jugend

G. Ulrich Großmann, Claudia Selheim, Barbara Stambolis (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung (Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, 26. 09. 2013 – 19. 01. 2014), Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2013, 343 S., ISBN 978 – 3 – 936688 – 77 – 1, vergr. Der zu besprechende Band ist die Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung, die bis Januar 2014 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg zu sehen war. Für eine solche nicht ungewöhnlich, entfällt ca. ein Drittel der Publikation auf einen Katalogteil, der die Exponate der Ausstellung – Zeichnungen, Malerei, Kleinplastiken, Musikinstrumente, Fahnen und Wimpel, Druckschriften, Plakate und anderes mehr – mit Farbfotografien, kurzen Beschreibungen und historischen Verortungen vorstellt und dabei objektgeleitete Erkenntnismöglichkeiten über den umfangreicheren Teil der historischen Darstellungen hinaus erlaubt und gleichzeitig Anknüpfungspunkte für das Erinnern und damit die Aktualisierung der Erinnerungsgemeinschaft schafft, welche durch Ausstellung und Publikation offenbar besonders angesprochen sein soll. Die historische Darstellung zerfällt in 25 einzelne Artikel, die sehr eigenständig sind, vom Umfang her eher knapp ausfallen und oft essayistischen Charakter haben. Organisiert sind die einzelnen Artikel in sechs chronologisch aufeinanderfolgenden Kapiteln. Die ersten drei Kapitel sind an den bekannten drei Phasen der bürgerlichen Jugendbewegung orientiert, für die idealtypisch der Wandervogel, die bündische Jugend und die Jungenschaften stehen, es folgen dann die NS-Diktatur, das Wiederaufleben von Jugendbünden in der Nachkriegszeit sowie ein Kapitel mit vier Artikeln, das sich mit dem Nachleben der bürgerlichen Jugendbewegung beschäftigt, also den Anstößen, die sie für spätere Protestereignisse und kulturelle Phänomene bedeutete. Diesen Kapiteln vorgeschaltet sind drei einführende Artikel, deren erster den Begriff der sozialen Bewegung expliziert und auf die Jugendbewegung anwendet (B. Stambolis), deren zweiter anhand von Bildender Kunst und Literatur aus der Entstehungs-

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Alexander Schwitanski

zeit der Jugendbewegung um 1900 die breite Verwendung von Jugend als Metapher für eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung aufzeigt (F. M. Kammel). Dass die Entstehung der Jugendbewegung im Kontext einer solchen breiteren Aufbruchstimmung zu verorten ist, zeigt auch der dritte der einleitenden Artikel, der sich mit den verschiedenen Lebensreformbewegungen und ihren Beziehungen zur Jugendbewegung beschäftigt (B. Stambolis). Die Kontextualisierung der Jugendbewegung und des Jugendbegriffs wird leider in den folgenden Beiträgen kaum noch aufgenommen. Es folgen die erwartbaren Schilderungen zum Wandervogel als Aufbruch von Jugendlichen aus den Autoritätszumutungen in Schule und Elternhaus (B. Stambolis), der Verarbeitung der Erfahrung des Ersten Weltkriegs im Wandervogel (B. Stambolis), dem dadurch bedingten Charakterwechsel der Jugendbewegung hin zu den im Stil militarisierten Jugendbünden (J. Reulecke) und den Jungenschaften als dritter Phase der Jugendbewegung, die als Reformbewegung gegen das bündische Modell antraten (J. Reulecke). Neben diesen, die Geschichte als Entwicklung vorantreibenden Artikeln stehen weitere, die einzelne Aspekte der Jugendbewegung in der jeweiligen Epoche beleuchten. So analysiert der wichtige Beitrag von M. S. Baader die Konstituierung der Geschlechterverhältnisse in den Männerbünden der zweiten Phase der Jugendbewegung und zeigt auch, wie mit der Überladung von Männlichkeitsvorstellungen nicht nur Frauen, sondern auch Juden ausgegrenzt wurden. Ebenfalls interessant sind die Artikel von M. Zepf zu Lied und Musik in der Jugend- und Singbewegung und von C. Selheim zum Wandervogel als Quelle der Volkskunde, die beide Anschlussmöglichkeiten an die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde bieten und damit partiell die Binnensicht der Jugendbewegung verlassen. Aus dieser sind die Beiträge von S. Rappe-Weber über Gestaltung und Gebrauch der Fahnen in der Jugendbewegung und von G. U. Großmann zu Jugendburgen geschrieben. Vor allem letzterer zeigt, wie wenig inspirierend eine solche Binnensicht letztlich ist: Im Grunde wird hier die Baugeschichte dreier anerkannter Jugendburgen geboten, die Großmann normativ von Jugendherbergen auf Burgen abgrenzt, da letztere keine selbstverwalteten Versammlungsorte von Jugendbünden seien. Leider erfährt man kaum etwas über die Praxis der Nutzung und des bündischen Lebens auf diesen Burgen, um die normative Abgrenzung angesichts zum Beispiel der von Großmann selbst angeführten Herr-im-Hause-Ambitionen Wynekens bei seinem Jugendburgprojekt anhand der geübten Praxis zu überprüfen. Das Kapitel über die Zeit des Nationalsozialismus zeigt mit dem Beitrag von A. Schmidt, dass die jugendbewegte Kultur und Praxis zahlreiche ideologische und ästhetische Anknüpfungspunkte an die Hitlerjugend bot, auch wenn sie nicht als direkter Vorläufer derselben gelten kann. Dem komplizierten Verhältnis zwischen beiden wird auch A. Kenkmann in seinem Beitrag gerecht,

Der »Aufbruch der Jugend« in der Binnensicht der bürgerlichen Jugend

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wenn er den »jugendbewegten Eigensinn« schon anhand seines personalisierenden Zugriffs auf das Thema anhand von drei Biografien nicht zu einem Massenphänomen stilisiert. Angesichts dieses differenzierten Zugangs zur Frage nach den Bezügen zwischen Nationalsozialismus und Jugendbewegung stellt sich umso mehr die Frage, wie der unglückselige Untertitel von Ausstellung und Publikation – Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung –, der an eine Deutung des Nationalsozialismus im Stile Friedrich Meineckes und die Selbstentschuldung deutscher Eliten in der Nachkriegszeit erinnert, sich wohl hat durchsetzen können. Auch ist es eine offene Frage, welche Kriterien der Auswahl der einzelnen Artikel für den Band zugrunde gelegen haben mögen. So besteht das Kapitel zur Nachkriegszeit aus einem Beitrag zum kurzen Wiederaufleben der bündischen Bewegung nach 1945 und zwei Beiträgen zur FDJ und zu dissentierenden Jugendlichen in der DDR. Wenn auch der Beitrag von H. Gotschlich zur FDJ zeigt, dass diese nicht von Anfang auf eine Rolle als Partei- und Staatsjugend festgelegt war, wird doch auch klar, dass die FDJ sehr rasch in diese Rolle hineinwuchs und hineingedrängt wurde. Dies hat mit Jugendbewegung in dem Sinne, wie sie bislang im vorliegenden Band gezeichnet wurde, nichts zu tun, ebenso wenig wie die dissentierenden Jugendlichen aus den Kreisen der Jungen Gemeinde der evangelischen Kirche in der DDR oder den Beatgruppen. Nicht, dass der Blick auf die DDR prinzipiell zu vernachlässigen wäre – er verwundert nur umso mehr, als die gesamte demokratische Arbeiterjugendbewegung, die ja auch um 1900 herum – der gängigen Erzählung nach 1904 – entstand, in diesem Band völlig fehlt. Zwar wird sie punktuell erwähnt, jedoch beständig mit der sozialdemokratischen Kinderorganisation der Weimarer Republik in einen Topf geworfen (S. 54, 114, 129). Solche Ungenauigkeiten vermitteln den Eindruck einer fehlenden Beschäftigung mit der Sache, weswegen die sporadischen Bezugnahmen eher den Charakter von Ab- und Ausgrenzung tragen. Dieser Ausschluss ist schade, würde doch ein Vergleich der bürgerlichen Jugendbewegung, um die es in diesem Band allein geht – der anderslautende Titel und die summarische Auflistung bundesrepublikanischer Jugendkulturen im Beitrag von T. Brehm ändern daran nichts – mit der Arbeiterjugendbewegung erkenntnisfördernd sein. Erst aus diesem Vergleich ließe sich eine Einbettung der Geschichte der Jugendbewegung in die Gesellschaftsgeschichte gewinnen, die die Selbstbezogenheit der hier vorgelegten Geschichte überwinden könnte. In seiner jetzigen Gestalt leistet dies der vorliegende Band nicht.

Hans-Ulrich Thamer

Querdenker und Aktivist für die Emanzipation der Jugend

Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen.« Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld, Gießen: Psychosozial-Verlag 2012, 646 S., ISBN 978 – 3 – 8379 – 2171 – 7, 59,90 E. Siegfried Bernfeld war vieles: jugendbewegter Aktivist und Reformpädagoge, einer der ersten Psychoanalytiker und Mitbegründer einer modernen Theorie des Jugendalters wie eines fast klassischen linken Intellektualismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts; ein begnadeter Redner und scharfzüngiger Polemiker, für den die 1920er-Jahre die – letztlich unerfüllte – Chance zu bieten schienen, um vom »Outsider« zum »Insider« zu werden. Als Jude und Vertreter eines undogmatischen Marxismus bzw. als Psychoanalytiker und zudem als Repräsentant eines linken Freudianismus saß er zwischen allen Stühlen und blieb Zeit seines Lebens ein Außenseiter. Er hatte nie eine feste Anstellung und eine akademische Karriere blieb ihm trotz verschiedener Anläufe versagt. Er musste sich auf seinen wichtigsten Lebensstationen in Wien und Berlin wie im amerikanischen Exil im außeruniversitären Bereich mit Lehraufträgen und pädagogischen Tätigkeiten durchschlagen. Mit den antisemitischen Tendenzen im österreichischen Vorkriegs-Wandervogel leidvoll vertraut, gehörte Bernfeld trotz seiner utopischen Visionen auch zu den hellsichtigen, durchaus pragmatischen politischen Köpfen, die schon sehr früh, d. h. Mitte der 1920er-Jahre, die verhängnisvolle Bedeutung des nationalsozialistischen Antisemitismus erkannten und deutliche Ahnungen von den Gefahren der Zukunft besaßen. Als Querdenker und »Grenzüberschreiter« (Dudek) fand er zu seinen Lebzeiten – er starb 61-jährig 1953 in den USA – trotz seines gewaltigen wissenschaftlichen und publizistischen Werks nie die verdiente Aufmerksamkeit und Anerkennung. Wie viele Angehörige des undogmatischen linken Exils wurde er nach Jahrzehnten des Vergessens erst in den 1968er-Jahren entdeckt. Was damals in Raubdrucken und Einzelschriften von seinem reformpädagogischen und psychoanalytischen Werk veröffentlicht worden war, liegt mittlerweile in einer von Ulrich Herrmann herausgegebenen 12-bändigen Gesamtausgabe vor.

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Hans-Ulrich Thamer

Peter Dudeks gewichtige Biografie fußt auf diesen Arbeiten und versucht in überzeugender Weise das vielschichtige, von Brüchen und Widersprüchen gekennzeichnete Leben und Werk an einigen Leitlinien entlang in den Griff zu bekommen. Er richtet seine »biografischen Annäherungen« auf den »außeruniversitären Wissenschaftler, auf den charismatischen Aktivisten der Jugendbewegung, auf den dreifachen Ehemann, den Vater und den Sohn« (S. 14) Auch wenn der Vf. einräumt, dass durch diese Festlegung der wissenschaftsgeschichtliche Anteil der Psychoanalyse und der historischen Bildungs- bzw. Jugendforschung in Leben und Werk Bernfelds zu kurz kommt, bleiben diese Wirkungsfelder keineswegs ausgeblendet, sondern werden sehr knapp, aber wissenschaftsgeschichtlich kenntnisreich und präzise angesprochen. Allein das Nebeneinander dieser verschiedenen Arbeitsfelder und -themen macht es einem Biografen nicht leicht, den roten Faden in der Lebens- und Denkgeschichte seines »Helden« zu finden und dessen Leben immer wieder in die jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen und kulturellen Kontexte einzuordnen. Das gelingt Dudek besonders eindrucksvoll, wenn es um die intellektuellen und kulturellen Netzwerke geht, zu denen Bernfeld gehörte, in deren Zentren er bezeichnenderweise aber nie stand. Allein ihre Rekonstruktion macht das Buch jenseits der biografischen Interessen zu einer lesenswerten Lektüre und einer kulturgeschichtlichen Fundgrube. Dasselbe gilt für die Schilderung des jugendbewegten Aktivisten Bernfeld, der zu den Vertrauten und Anhängern von Gustav Wyneken und damit zu den Repräsentanten der vorwiegend studentischen Jugendkulturbewegung gehörte, in deutlicher Abgrenzung von der Wandervogeltradition. Wenn das Jahr 1913 zum Höhepunkt des »jugendpolitischen Aktivismus« (S. 72) wurde, dann nicht allein wegen der Teilnahme Bernfelds am Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner am 11./12. Oktober 1913, sondern durch die jugendkulturelle und reformpädagogische Grundsatzdebatte des Jahres 1913. Es ging um die Konzeption Wynekens von einer gesellschaftserneuernden Jugendkultur, die auf Widerspruch innerhalb der Reformbewegung stieß, von Bernfeld und seinem Mitstreiter Walter Benjamin aber energisch unterstützt wurde. Diesem Ziel diente im Frühjahr 1913 die Gründung der grünen Hefte des »Anfang«, dem Forum einer jugendlichen Gegenöffentlichkeit und einer entschiedenen Emanzipationsbewegung im Namen der Jugend, deren Entdeckung für Walter Benjamin vor allem einen »Kulturfortschritt« bedeutete. Parallel zur Gründung der Zeitschrift betrieb Bernfeld, dem es vor allem um die Organisation der neuen Emanzipationsbewegung ging, die Gründung eines »Akademischen Comit¦s für Schulreform« und eines »Archivs für Jugendkultur«, das jugendliche Selbstzeugnisse, Tagebücher, Bilder, Schülerzeitungen etc. sammeln sollte. Der Gedanke eines Archivs bzw. der Selbstarchivierung der Emanzipationsbewegung lag in diesen Jahren, das sei nebenbei bemerkt, offenbar in der Luft, wie das

Querdenker und Aktivist für die Emanzipation der Jugend

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gleichzeitige Beispiel des Sera-Kreises in Jena zeigt. Bernfeld und Walter Benjamin gehörten zum radikalen Flügel der Freistudentischen Bewegung und taten alles, um ihre an den Visionen von Gustav Wyneken orientierte Programmatik öffentlich wirksam zu machen. Dem dienten auch die sogenannten Sprechsäle und eine Aussprache, die am 6./7. Oktober 1913 vor über 130 Zuhörern in der Universität Breslau stattfand zwischen Vertretern der freistudentischen Jugendkultur im Gefolge Wynekens und der mit ihr rivalisierenden Gruppe des Bundes für Schulreform, geführt vom Breslauer Psychologen William Stern. Nach Breslau waren auch Benjamin und Bernfeld angereist, um die pathetischpolemisch vorgetragene Position Wynekens zu unterstützen. Die reformpädagogische Grundsatzdebatte fand ihre Fortsetzung eine Woche später auf dem Meißner, wohin Benjamin und Bernfeld ebenfalls gereist waren. Während Wyneken, der an der Planung und Vorbereitung des Meißnerfestes beteiligt war, dank seiner Rhetorik und seines Auftretens zu den herausragenden, aber auch sehr kontrovers aufgenommenen Akteuren des Freideutschen Jugendtages auf dem Meißner wurde, war die Rolle Bernfelds nach den Recherchen Dudeks dort weniger auffällig und erfolgreich. Als radikaler Vertreter der Jugendkultur und Schulreform stieß er vor allem auf die polemische Ablehnung des völkisch orientierten österreichischen Wandervogels. Wer hellhörig genug war, konnte hier die künftige Spaltung der Jugendbewegung erkennen, und das macht Bernfelds Biografie im Jubiläumsjahr des Meißnerfestes zusätzlich interessant. Für den Studenten Bernfeld brachte das Jahr 1913, nachdem er seine Beiträge bisher aufs Programmatische beschränken musste, auch den Durchbruch zu einer nationalen Bekanntheit als Reformer und Redner, daneben zu einer ersten wissenschaftlichen Positionierung. Mit seiner Dissertation von 1915 entwickelte er eine Psychologie des Jugendalters, die das Besondere dieser Lebensphase in der Orientierung auf ein »Werterlebnis«, d. h. in der Suche nach »Tiefe« und »Echtem« sieht. Dieses Werterlebnis entspringt der Diskrepanz zwischen erwachender Sexualität und einem sozial noch nicht anerkannten Geschlechtsleben. Jugend ist für Bernfeld (und für andere radikale Lebens- und Schulreformer) nicht nur eine Lebensphase, sondern eine eigenwertige Lebensform, die sich eigene soziale Räume erobern müsse und sich diese nicht nur zuweisen lassen dürfe. Dass bei aller Affinität zum Gedanken eines »Aufbruchs der Jugend« in der Wandervogel-Jugendbewegung, wie sie sich auf dem Meißner getroffen hatte, für solche Positionen, die ganz im Sinne Wynekens gedacht waren, nur wenig Zustimmung zu gewinnen war, war absehbar. Aber auch das gehört zur Erinnerung an 1913 und zur Vielfalt der Jugendkulturen bzw. ihrer politischkulturellen Positionierung. Peter Dudek hat mit der Biografie Siegfried Bernfelds darauf hingewiesen, aber darüber hinaus ein beeindruckendes und materialreiches Bild der Intellektuellenkultur der 1920er-Jahre gezeichnet.

Gudrun Fiedler

Von flirrender Luft und herbstlichem Aufbruch

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, 8. Aufl. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag 2013, 319 S., Abb., ISBN 310 – 036 – 801 – 0, 19,99 E. 2013 jährt sich ein wichtiges Datum. Vor 100 Jahren trafen sich auf dem Meißner bei Kassel Tausende von Jugendlichen und Heranwachsenden. Sie protestierten am 11. und 12. Oktober gegen die pathetischen, nationalistisch gesinnten Feiern der deutschen Eliten zum 100-jährigen Jubiläum der Völkerschlacht bei Leipzig, die 1813 das Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa bedeutet hatte. Wandervögel, die Deutsche Akademische Freischar, der Deutsche Bund abstinenter Studenten u. a. feierten ein künftiges neues Deutschland, das ihnen erwachsene Lebensreformer in ihren Ansprachen beschrieben. Die am zweiten Tag beschlossene Meißnerformel wurde zur Basis für das Selbstverständnis einer neuen, bürgerlichen Jugendbewegung, die sich nicht zuletzt durch die harschen Presseartikel und eine erregte Debatte im bayerischen Landtag in ihren Ansichten bestätigt sah. Das Jahr 2013 kann weitere Gedenktage vorweisen, so u. a. die Machtübertragung an die Nationalsozialisten vor 80 Jahren, den Tod August Bebels vor 100 Jahren. Als Willy Brandt 1913 als Herbert Frahm in Lübeck geboren wurde, konnte seine Mutter nicht ahnen, dass er später einmal Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden würde. Dazu brauchte es zwei Weltkriege, einer nationalsozialistischen Diktatur und der vollständigen Auflösung einstmals fest gefügter sozialer Milieus. Das ist das Thema des Autors. Florian Illies sucht sich das Jahr 1913 aus, das Jahr vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Nur im Hinblick auf diesen Krieg, der von heute aus gesehen das lange 19. vom kurzen 20. Jahrhundert trennte (vgl. Klappentext) und die überkommene, monarchische Welt verabschiedete, erhält das Jahr 1913 seine Bedeutung. 1913 ist für Florian Illies nicht irgendein Sommer, sondern »Der Sommer des Jahrhunderts«. Der Sommer ist die Jahreszeit, in der die Natur blüht und reift – und an dessen Ende die Tage wieder kürzer werden. Die Abbildung auf dem Umschlag greift das Thema auf und vermittelt scheinbar sommerliche

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Gudrun Fiedler

Leichtigkeit: zwei weiß gekleidete Frauen vor einem hellblauen Sommerhimmel mit heraufziehenden dichten, weißen Wolken. Die unscharfen Konturen der Gestalten und Objekte könnten von der heißen, flirrenden Luft stammen. Möglicherweise ist ein Gewitter im Anzug. Die in großen Ziffern quer über dem Bild stehende, rot gehaltene Zahl 1913 verweist auf das Ende der weiß-blauen Beschaulichkeit. Der Autor verrät erst mitten im Text, dass das Titelbild die zwei Töchter des Fotografen Heinrich Kühn zeigt, die »über einen Bergrücken huschen, oben drücken die schweren Wolken des August« (S. 211). Was der Buchumschlag verspricht, nimmt der Text zurück. Der Literat Florian Illies begibt sich mitten hinein in das Jahr 1913 und tut das, was kein Historiker tun darf: Er reiht chronologisch Ereignisse vor allem aus der avantgardistischen Kunstszene jener Zeit ohne Hintergründe anekdotisch aneinander : Tag für Tag, Monat für Monat. Jeder Monat wird mit einem schwarz-weißen Foto eingeleitet. Der Text ist gesetzt auf einer Monotype, erfunden im Jahr 1913. Der Autor spielt mit der Illusion, hier tatsächlich im Jahr 1913 zu sein. Illies konstruiert und montiert Originalzitate und eigene Erzählung so, als ob es die Zukunft nach 1913 noch nicht gäbe. Der Autor rennt mit der dahin eilenden Zeit und zeigt sie als reine Gegenwart des Jahres 1913 in ihrer zufälligen Beliebigkeit. Erst der Blick von heute, der beim Lesen die Wahrnehmung steuert, lässt manche Ereignisse bei uns mit dem »Zauber des Schlüsselmoments der Kulturgeschichte« ankommen. Für die aufgeführten Zeitgenossen des Jahres 1913 ist vieles erst Versuch, Stückwerk oder gar Irrtum. Sie kämpfen mit sich selbst und dem Alltag. Ihre Ängste und Schreckensfantasien kommen aus dem Innern ihrer nervösen Psyche. Auch Proust ahnte 1913 nicht, wohin ihn sein »Versuch, die Vergangenheit in Sprache bannen zu können – gegen die rennende Zeit« (S. 131) noch führen würde, als der erste von insgesamt sieben Bänden seines Romans »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« veröffentlicht wurde. Und der Hohe Meißner? Illies’ Kapitel über den Oktober beginnt mit einem Bild von August Macke, »Spaziergänger auf der Straße«, in der Großstadt. Auf der gegenüberliegenden rechten Seite wird das Treffen auf dem Hohen Meißner in dem für das Buch typisch lakonischen, eine Reportage vorgaukelnden Stil dargestellt als das »deutsche Woodstock der letzten Generation, die im 19. Jahrhundert geboren wurde« (S. 239). Der Autor spricht den »Protest gegen die pompöse Deutschtümelei« bei der einige Tage später geplanten offiziellen Feier am Völkerschlachtdenkmal an. 2 000 Teilnehmer haben an zwei Tagen gesungen, debattiert und an Wanderungen teilgenommen. Das von Hugo Höppener-Fidus geschaffene »Logo« des Treffens mit nackten, mit dem Schwert gegürteten jungen Männern wird beschrieben. Es steht im Gegensatz zu Mackes Bild der zivilisierten Großstädter. Die Warnung des Zivilisationskritikers Ludwig Klages vor den Gefahren der naturzerstörenden Moderne wird aufgeführt und es werden Auszüge aus der pazifistisch gestimmten Rede von Gustav

Von flirrender Luft und herbstlichem Aufbruch

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Wyneken zitiert. Der teilnehmende Walter Benjamin »vermisst den Vatermord« (S. 241). Illies gibt die Meißnerformel auszugsweise wieder und kommentiert die Abstinenz von Alkohol und Nikotin: »Es ist kein Wunder, dass daraus keine Revolution wird« (S. 240). Eine Revolution ist es nicht geworden, dazu fehlte eine realistische Einschätzung der sozialen und politischen Verhältnisse. Dennoch begannen hier Jugendliche und Heranwachsende, als jugendliche Avantgarde ihre Selbstständigkeit zu formulieren und zu leben. Das war ein Abenteuer, das nicht immer gut ausging. Die Mitglieder der bürgerlichen Jugendbewegung begingen im 20. Jahrhundert viele Irrtümer und erwiesen sich ebenso wie ihre Eltern als allzu bereitwillig, sich auf die NS-Diktatur einzulassen. Dass 2013 Jugendbünde wieder eine Feier auf dem Hohen Meißner planen, zeigt jedoch, dass die Meißnerformel immer noch anziehend für junge Menschen ist und damit auch zu Recht in einem hoch artifiziellen, literarischen Text über den Sommer des Jahrhunderts steht.

Rüdiger Ahrens

Erziehung zum Krieg

Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte; N. F. 27), Essen: Klartext 2013, 351 S., ISBN 978 – 3 – 8375 – 0644 – 0, 39,95 E. Hätte es den Nationalsozialismus ohne den Ersten Weltkrieg gegeben? Abschließend sind solche kontrafaktischen Fragen nicht zu beantworten, aber als sicher kann gelten, dass der »Große Krieg« für die Zeitgenossen, so auch für Hitler und die NSDAP, einen wichtigen Erfahrungsraum darstellte, der erhebliche Wirkung auf Mentalitäten und Deutungshorizonte hatte und wesentliche Linien späterer Politik vorstrukturierte. Diese Effekte näher zu untersuchen ist das Ziel des von Gerd Krumeich geleiteten Düsseldorfer Forschungsprojekts »Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg«. Im Kontext des Projekts ist Arndt Weinrichs Dissertation zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Jugendkultur der 1920er- und 1930er-Jahre entstanden. Weinrich befasst sich mit der Repräsentation, Rezeption und Deutung von Soldatenbildern durch Jugendliche verschiedener Milieus, vor allem aber in der Hitlerjugend (HJ), und fragt nach den Funktionen dieser Aneignung. Er interessiert sich besonders für die »mentale Mobilmachung der HJ-Generation für den Zweiten Weltkrieg […] im Zeichen des ›Fronterlebnisses‹ des Ersten Weltkriegs« (S. 17), also für die Ausrichtung Jugendlicher auf ein soldatisches Ideal, das sich einerseits am Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges orientierte und andererseits dazu motivieren sollte, aus einer kommenden Auseinandersetzung erfolgreicher hervorzugehen als aus jenem letzten Krieg. Das Buch ist in vier ungleich große Teile gegliedert. Zunächst grenzt Weinrich unter Bezugnahme auf die Generationen- und Generationalitätsforschung die Gruppe der in erster Linie interessierenden Jugendlichen als Angehörige der »Kriegsjugendgeneration« (Geburtsjahrgänge 1900 – 1910) von den älteren eigentlichen Kriegsteilnehmern ab, um dann die radikalisierende psychologische Wirkung, die die Wahrnehmung des Krieges an der »Heimatfront« und das Ausbleiben einer eigenen »Fronterfahrung« hatten, herauszustellen. Im zweiten

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Rüdiger Ahrens

Teil untersucht er das »Helden- und Opfergedenken« im bürgerlichen, katholischen und proletarischen Milieu und gewinnt so eine Kontrastfolie für die ausführliche Analyse der Weltkriegsrezeption in der Hitlerjugend im dritten und längsten Teil. Eine längsschnittartige Untersuchung des Gedenkens an die Schlacht bei Langemarck beschließt die Studie. Zwei Thesen stehen im Mittelpunkt. Weinrich geht erstens davon aus, dass die Orientierung an den Gefallenen schon vor 1933 weit über die eigentliche Anhängerschaft der HJ hinaus attraktiv war. Dazu arbeitet er am Beispiel der bündischen Jugend (gut gewählt: Deutsche Freischar, Großdeutscher Jugendbund, weitere Bünde um die Zeitschrift »Die Kommenden«), des Katholischen Jungmännerverbandes und des Jungbanners heraus, wie stark sich der affirmative Bezug auf Heldentum und Opfer der Frontkämpfer in bürgerlichen, katholischen und linksrepublikanischen Kreisen ähnelte und wie die Gefallenen zu Idealgestalten und verpflichtenden Vorbildern werden konnten. Zwar habe die katholische und, noch mehr, die sozialistische Deutung des Krieges immer auch ein pazifistisches Element enthalten, der im Kern positive Bezug auf das Vorbild der toten Soldaten habe sich aber auch in diesen Milieus entfalten können. Ausgehend von diesen Befunden kommt Weinrich zu der Überlegung, gerade diese Konvergenzen hätten als »erinnerungskulturelle Brücke« (S. 33) den Weg von der Weimarer Republik in den NS-Staat erleichtert. Die integrierende Kraft der ähnlich gelagerten Orientierung am soldatischen Ideal habe dabei vor allem deshalb so stark gewirkt, weil die entsprechenden Ideologeme ohne rassistische und antisemitische Elemente ausgekommen seien. Zweitens habe die Aneignung eines soldatischen Ideals, und dieser Aspekt wird vor allem beim Blick auf die Hitlerjugend deutlich, auch Züge eines intergenerationellen Deutungs- und Machtkampfes getragen. Wenn sich die HJ, gleichsam als Extremform der »jungen« NS-Bewegung, als neue, unverbrauchte Kraft stilisierte, stand der positive Bezug auf die Frontkämpfergeneration dem eigentlich entgegen. Weinrich kann zeigen, dass die HJ-Führung diesem Dilemma entging, indem sie entweder das Thema möglichst wenig beachtete – so die Lösung in der Ära des ersten HJ-Vorsitzenden Kurt Gruber bis 1931 – oder indem sie die Erinnerung im eigenen Sinne usurpierte, die Gefallenen im Unterschied zu den Überlebenden des Krieges zu den eigentlichen Trägern des »Fronterlebnisses« erklärte und eine Kontinuität der toten Kämpfer von 1914 bis zu den »Blutzeugen« der eigenen nationalsozialistischen »Kampfzeit« behauptete, so unter Baldur von Schirach seit 1932. Als die nationalsozialistische Herrschaft im Sommer 1934 gefestigt war, sei der HJ aber das Umschwenken auf einen »Dankbarkeitsdiskurs« (S. 159) abverlangt worden, um die Integration der überlebenden Frontkämpfer in die »Volksgemeinschaft« nicht zu gefährden – insofern habe die Kriegsrezeption auch systemstabilisierende Funktion gehabt. Die Formbarkeit des Mythos, die sich hier zeigt, erklärt auch, wie die HJ

Erziehung zum Krieg

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zwar einerseits alle Gefallenen des Weltkrieges als Vorbilder betrachte, andererseits aber einen bestimmten Typus, nämlich den harten, entschlossenen, aus eigener Initiative handelnden Kämpfer der späten Materialschlachten, als Orientierungsfigur besonders privilegieren konnte. Die Arbeit ist auf hohem Niveau methodenbewusst und im Anschluss an die neueste Forschung geschrieben. Sie ist aus den Quellen gearbeitet und überzeugt durch die Vielzahl subtiler Einzelanalysen in Verbindung mit weiterführenden Thesen. So wird das undifferenzierte Bild einer pauschalen Übernahme soldatischer Leitbilder in der HJ durch den Hinweis auf Konjunkturen, Widersprüche und vor allem die jeweiligen Funktionen einer Aneignung und durch die Einbettung in einen breiteren Kontext erheblich klarer. Zu kritisieren ist, dass die chronologischen Durchgänge unter verschiedenen Gesichtspunkten zu mitunter deutlichen Redundanzen führen. Wichtiger als dieser Kritikpunkt ist aber die offene Frage, die am Ende bleibt: Wenn das Leitbild des Soldaten in der Weimarer Jugend so verbreitet war, wie Weinrich mit guten Gründen annimmt – und mit dieser These geht er in eine ähnliche Richtung wie andere neuere Dissertationen, die ein erhebliches kriegerisches Potenzial auch in der Mitte der Weimarer Gesellschaft konstatieren1 –, bleibt ungeklärt, was die entsprechenden Gruppen davon abgehalten haben sollte, schon vor 1933 eine größere Nähe zu den Nationalsozialisten zu suchen. Im Falle von katholischen und proletarischen Kräften mögen hier die Milieugrenzen zu größerer Distanz geführt haben, obwohl auch der sozialrevolutionäre Appeal der HJ in der Frühzeit nicht unterschätzt werden sollte. Aber es war gewiss nicht der Antisemitismus der HJ, der die bündische Jugend von einer frühen Annäherung abhielt.2

1 Vgl. Rüdiger Bergien: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und »Wehrhaftmachung« in Deutschland 1918 – 1933 (Ordnungssysteme; 35, zugl. Diss. Potsdam 2008), München 2012 – Frank Reichherzer : »Alles ist Front!« Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg (Krieg in der Geschichte; 68, zugl. Diss. Tübingen 2010), Paderborn u. a. 2012. 2 Vgl. dazu noch immer Michael Katers empirisch fundierte These einer weitgehenden ideologischen Konvergenz von bündischer Jugend und Hitlerjugend: Bürgerliche Jugendbewegung und Hitlerjugend in Deutschland von 1926 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte, 1977, 17. Jg., S. 127 – 174.

Hans-Ulrich Thamer

Mediale Mobilisierung in der Weimarer Zeit

Ute Daniel, Inge Marszolek, Wolfram Pyta, Thomas Welskopp (Hg.): Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte; 14), München: Oldenbourg Verlag 2010, 340 S., ISBN 978 – 3 – 486 – 59241 – 2, 39,80 E Zur politischen Kultur der Weimarer Republik gibt es eine lange Forschungstradition, die sich in Monographien und Sammelbänden immer wieder an der Frage nach den Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik abarbeitete. An der Geschichte von Symbolkämpfen um Fahnen und Feiern wie an einer polemisch-antagonistischen politischen Semantik, die sich weit von den Normen der Verfassungsordnung entfernte, hat man zahlreiche Belege für eine tiefe politisch-kulturelle Spaltung und für den Verlust eines Verfassungskonsenses, aber auch für antidemokratische, totalitäre Sehnsüchte und Mentalitäten festgemacht. Darum besteht bis heute Einigkeit darüber, dass es vor allem mentale Verformungen und Ungleichzeitigkeiten waren, die trotz der Existenz international vergleichbarer ökonomischer und sozialer Belastungen zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie führten. Dass diese Forschungen trotz der methodisch und begrifflich äußerst anregenden Reflexionen des Essener Politologen Karl Rohe weitgehend theoriefern verlaufen sind, muss nicht gegen sie sprechen; wohl aber die Tatsache, dass dabei meistens die Medialisierung des Politischen und die Medienwirklichkeiten ausgeblendet wurden, d. h. die mediale Vermittlung wie die Rückwirkung medialer Vermittlungen und Deutungen auf die politischen Kulturen (die in der Weimarer Republik immer im Plural gedacht werden müssen). Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen politischer und medialer Sphäre stellt die Leitfrage des vorliegenden Sammelbandes dar und die große Mehrheit der Beiträge, die aus einer Tagung der Reichspräsident Friedrich-Ebert-Stiftung hervorgegangen sind, hält sich auch an diese Leitfrage. In einigen Beiträgen werden überdies die nationale Ausrichtung überwunden und international

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Hans-Ulrich Thamer

vergleichende Aspekte, sehr zum Vorteil des Erkenntnisgewinnes des Bandes, wirksam. Auch die Gliederung des Bandes, der in drei Kapiteln Aufsätze zu den »politisch-medialen Wechselwirkungen«, zur »Repräsentation von Gemeinschaft, Führertum und Gesellschaft« wie schließlich zur »Repräsentation von Gewalt, Tod und Demokratie« versammelt, bemüht sich um eine weiterführende Systematisierung der Untersuchungsfelder, auch wenn diese, wie das bei entsprechenden Tagungsbänden oft der Fall ist, nicht unbedingt kohärent sind. Nicht immer kommt in den Beiträgen die Medienwirklichkeit zu ihrem analytischen Platz, der ihr konzeptionell eingeräumt wurde. Aber es wird deutlich, was bisher erforscht wurde und wohin die Forschung sich entwickeln könnte. Vor allem gehört zur Medialisierung der Politik in der europäischen Zwischenkriegszeit, die man mit guten Gründen als die klassische Moderne bezeichnet, auch die für den Massenkonsum besonders attraktive audiovisuelle Vermittlung durch Rundfunk, Bildpublizistik und durch den Film, aber auch durch politische Masseninzenierungen. Hier besteht ein Desiderat. Die meisten Beiträge konzentrieren sich vielmehr auf die Analyse der klassischen Printmedien und lassen eine gewisse Bildabstinenz erkennen. Das soll die analytische Qualität und den Erkenntnisgewinn verschiedener Beiträge nicht schmälern, sondern nur Blindstellen andeuten, deren Erforschung lohnenswert sein könnte. Die Forderung nach Erweiterung um visuelle Medien erfüllt in besonderer Weise der Aufsatz von Riccardo Bavaj, der am Beispiel der Medien der Boulevard-Presse des Münzenberg-Konzerns die Bild– und Wirkungsmächtigkeit von Foto-Reportagen und Bildmontagen in der revolutionären Propaganda demonstriert. Die Emotionalisierung in der politischen Kultur belegt ein Beitrag des dritten Teils, in dem Oliver Janz die Inszenierung von Gefallenenkulten in Italien und Deutschland anschaulich macht und das emotionale Potential erkennbar wird, was hinter der jeweiligen faschistischen Mobilisierung in beiden Ländern stand. Es ließen sich noch sehr viel mehr Beispiele für eine massenwirksame mediale Mobilisierung und Inszenierung von Emotionen denken, zu denen auch die Symbole und Rituale der verschiedenen Jugendkulturen der Zwischenkriegszeit gehören. Schließlich war der Kampf um die Jugend und um die Deutungshoheit von und über Jugend ein zentrales Kapitel in den politzischen Kulturen und ihren Symbolkämpfen.

Hans-Ulrich Thamer

Zersplitterte Glaubensaktivisten

Uwe Puschner, Clemens Vollnhals (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 47), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 592 S., ISBN 978 – 352 – 5369 – 968, E 79,95. Bereits das Umschlagbild des Sammelbandes deutet an, worum es geht. Das Foto zeigt einen »Lebensbaum« mit einem Jahresring und in dessen Mitte einen Gekreuzigten, den man im zeitgenössischen völkisch-germanischen Jargon einen »nordischen Christus« nannte und mit dem germanischen Gott Odin gleichsetzte. Das programmatische Kunstwerk, in einer eigentümlichen expressionistischen Formensprache gefertigt, zierte die Vorderseite des AtlantisHauses, das sein Stifter, der Bremer Kaffeeröster und Kunstförderer Roselius 1931 in der Bremer Böttcherstraße von dem Architekten und Bildhauer Bernhard Hoettger errichten ließ. Roselius, der sich dem Expressionismus, aber auch der zeitgenössischen Germanenideologie verpflichtet fühlte, hatte bei der Einweihung das Haus als »Weg zur Urgeschichte der Menschheit« bezeichnet und war dabei ganz der kruden völkischen Ideologie von Hermann Wirth, einem späteren SS-Führer, gefolgt, der von der Suche nach einer »Urreligion« beseelt war. Bald kam es zwischen dem Ideologen Wirth und dem Künstler Hoettger zum Streit über das Kunstwerk und schließlich bezeichnete 1936 die SS-Zeitung »Das Schwarze Korps« das Kunstwerk als »artfremd«. Nachdem sich auch Adolf Hitler in einer Rede auf dem Nürnberger Reichsparteitag 1936 in scharfen Worten von der »Boettcher-Straßen-Kultur« distanziert hatte, fand Albert Speer eine geschickte Lösung, um den Konflikt zwischen der völkisch-religiösen Bewegung im Umfeld des Nationalsozialismus und den nationalsozialistischen Machtpolitikern zu lösen. Er ließ das Haus mit dem umstrittenen Kunstwerk unter Denkmalschutz stellen. Es geht also um das spannungsreiche und widersprüchliche Verhältnis der völkisch-religiösen Bewegung, die ihren Ursprung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatte, zum Nationalsozialismus, denn schließlich konnte die

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Hans-Ulrich Thamer

völkische Bewegung gegenüber dem Nationalsozialismus die Rolle einer Patin beanspruchen. Doch nicht nur um ein ideologisches Erstgeburtsrecht und eine politisch-ideologische Machtfrage geht es dabei, sondern, wann immer man sich mit der völkischen Bewegung beschäftigt, fast zwangsläufig auch um die Frage nach deren Rolle im Nationalsozialismus und nach der Bedeutung des Religiösen für die NS-Weltanschauungspolitik. Für die in viele Grüppchen aufgesplitterte völkische Bewegung hatte die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 Hoffnungen auf einen neuen Glaubensfrühling ausgelöst, die sich angesichts der kühlen nationalsozialistischen Machtpolitik, die sich von den »völkischen Wander-Scholaren« und »Sekten« nicht in unnötige weltanschauliche Konflikte ziehen lassen wollte, bald als Illusion erwiesen. Hitler, der in seinen Anfängen auch einmal von einer völkischen Religion gesprochen hatte, wollte, ebenso wie Himmler, diese zänkischen Intellektuellenzirkel unter Kontrolle behalten – so wie man auch Hoettgers »Lebensbaum« schließlich unter Denkmalsschutz hatte stellen lassen. Während wir seit vielen Jahren sehr viel mehr und sehr viel Genaueres über die völkischen Bewegungen im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik wissen, gilt das weniger für die Rolle der völkischen Bewegung in der NSZeit, sowohl für ihre Zeit der Hoffnung wie für ihr allmähliches Scheitern und Vergehen. Und auch die Frage, ob der Nationalsozialismus wegen seiner Weltanschauung und seiner politischen Rituale sich als politische Religion oder als sakralisierte Politik, als Ersatzreligion oder als Religionsersatz, erklären lässt, ist nach wie vor offen und Thema eines erbitterten wissenschaftlichen Streits. Auch wenn zu dieser Frage in zwei Beiträgen des umfangreichen Sammelbandes – durchaus kontrovers, aber ohne neue Erkenntnisse – Stellung bezogen wird, waren die beiden Herausgeber, die , wie ihre kenntnisreiche Einleitung einmal mehr beweist, durch eigene Studien mit dem Gegenstand sehr gut vertraut sind, gut beraten, stärker das völkische Denken und die Praxis der vielen völkischen Gruppen in den Mittelpunkt zu stellen. Dies geschieht in drei Ansätzen und Großkapiteln. Zunächst werden die völkisch-paganen Gemeinschaften behandelt, im zweiten Abschnitt völkisch-christliche und im dritten die Beziehungen beider mit dem NS-Regime. Während sich die paganen Gruppen – dazu gehörten auch völkische Gruppen der Jugendbewegung – um eine Wiederbelebung vermeintlich nordisch-germanischer Religionen bemühten – man denke nur an die streitbare Mathilde Ludendorff –, werden im zweiten Abschnitt die zahlreichen und sektiererisch-zersplitterten Erscheinungsformen »völkischer Religiosität« vorgestellt, vor allem die sogenannten Deutschen Christen, die als Sammlungsbewegung zunächst das ideologische Zentrum der völkisch-religiösen Bewegungen darstellten und in der Anfangsphase des NS-Regimes nach Meinung von Manfred Gailus durchaus die Chance hatten, den Protestantismus zu dominieren, bis sie an der eigenen Unzulänglichkeit und an ihrem immer

Zersplitterte Glaubensaktivisten

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geringer werdenden Handlungsspielraum, den ihnen die Pazifizierungspolitik des Regimes ließ, kläglich scheiterten. Vor allem gerieten sie mit ihrer doppelten Glaubensorientierung an das Christentum und an den Nationalsozialismus in immer größere Widersprüche und Halbherzigkeiten. Deutlicher, wenn auch nicht vollkommen und flächendeckend, grenzte sich die katholische Kirche von den völkischen Heilslehren ab, die sie als »Neuheidentum« und als Gefahr eines neuen Kulturkampfes verstand. Das katholische Christentum bewahrte – von Ausnahmen abgesehen – sein Proprium. Aufschlussreicher sind die Beiträge, die die völkisch-religiösen Bewegungen aus der Sicht der NS-Herrschaftsorgane beobachten, vor allem aus der Perspektive von Sicherheitsdienst (SD) und Gestapo, die aufmerksam darüber wachten, dass es keine weltanschauliche Konkurrenz geben durfte, die man möglicherweise nicht unter Kontrolle halten könnte. Das Fazit der über zwanzig, gründlich recherchierten, wenn auch nicht immer aufeinander abgestimmten und darum gelegentlich redundanten Beiträge lautet: Die völkisch-religiösen Bewegungen und Grüppchen – die allesamt nur winzige Minderheiten, getragen von desorientierten Intellektuellen darstellten – konnten sich im Nationalsozialismus weder personell noch ideologisch-organisatorisch durchsetzen. Sie waren untereinander viel zu zerstritten; allein das mehrseitige und für die Orientierung wichtige Register der einschlägigen Organisationen am Ende des Bandes zeigt die verwirrende Vielfalt und Kurzlebigkeit. Andererseits wurden sie vom NS-Herrschaftsapparat marginalisiert, obwohl einzelne Machtträger, nicht aber Hitler, durchaus Sympathien für sie hatten. Denn Hitler verstand aus programmatischen wie aus machtpolitischen Gründen den Nationalsozialismus als wissenschaftlich begründete, »rassistische« Weltanschauung, in der völkisch-religiöse Sektierer und ihre Formen einer neuen Religion keinen Platz hatten. Waren die völkisch-religiösen Bewegungen des späten 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik vor allem Ausdruck einer mentalen und kulturellen Desorientierung und des Leidens an der Modernität, so hat ausgerechnet der Nationalsozialismus, der vielen Völkischen als Erfüllung ihrer Visionen und als Erlösung galt, entscheidend dazu beigetragen, dass dieses Krisenphänomen der Moderne sich selbst aufgelöst hat.

Fritz Schmidt

Hans Scholl ¢ Angeklagt wegen »bündischer Umtriebe u. a.«

Ulrich Herrmann: Vom HJ-Führer zur Weißen Rose. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38. Mit einem Beitrag von Eckard Holler über die Ulmer »Trabanten«, Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2012, 380 S., ISBN 978 – 3 – 7799 – 2650 – 4, 39,95 E. Im Unterschied zum »Weiße-Rose«-Prozess gegen Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst vor dem Volksgerichtshof im Februar 1943, der zu ihrer Verurteilung und Hinrichtung führte, fand das Gerichtsverfahren gegen Hans Scholl und drei weitere Angeklagte am 2. Juni 1938 vor dem Sondergericht Stuttgart bislang wenig Aufmerksamkeit. Ende 1937 hatte die Gestapo in Stuttgart und Ulm jeweils eine Gruppe Jugendlicher »aufgerollt« und warf ihnen die »Fortsetzung der bündischen Jugend u. a.« vor. Hinter dem Kürzel »u. a.« verbargen sich Anschuldigungen wegen homosexueller Handlungen nach § 175 StGB. Dieser Prozess endete für die zwei Stuttgarter, die ohne sexualstrafrechtlichen Hintergrund angeklagt waren, und Hans Scholl aufgrund einer Amnestie mit Einstellung, ein weiterer Angeklagter aus Köln wurde dagegen zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Das vorliegende Buch von Herrmann/Holler enthält eine umfangreiche Dokumentation u. a. mit Verhörprotokollen, Beschlagnahmungslisten, der Anklage- und Urteilsabschrift von 1938, einen mehrseitigen Prozessbericht von 1938 aus der Feder der Mutter Magdalene Scholl für ihre Tochter Inge, Unterlagen aus Hans Scholls bündisch beeinflussten Jahren, der »Jungenschaftskultur der dj.1.11 unter dem Deckmantel der HJ« (S. 11) sowie einschlägige Gesetzesund Verordnungstexte. Das »soll dazu beitragen, dass über den Gang der äußeren und inneren Geschichte von Hans Scholl in den Jahren 1935 bis 1938 nicht mehr nur Vermutungen angestellt werden müssen«, so Herrmann (S. 10). Leider sind viele Dokumente durch Schwärzung von Namen seitens der Archive nur eingeschränkt nutzbar. Während Holler im Darstellungsteil des Buches die illegale Jugendgruppe, in der sich Hans Scholl führend engagiert hat, beschreibt, geht es bei Herrmann um

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Fritz Schmidt

den Prozess und seine Vorgeschichte. Im September 1936 hatte die Gestapo wegen »bündischer Zersetzungserscheinungen« eine Postüberwachung für Ernst Reden aus Köln angeordnet, der in Ulm seinen Wehrdienst ableistete. Die Postüberwachung wurde in der Folge u. a. auf Hans Scholl ausgedehnt. Diese Vorgeschichte erwähnt Herrmann nicht. Reden war mit Scholl befreundet und wirkte in der illegalen Jugendgruppe im Sinne von dj.1.11 mit, hat Hans Scholl sogar darin bestärkt. Am 11. November 1937 kamen in Ulm sieben Jugendliche in Gestapo-Haft, darunter aber nicht Scholl und Reden, der drei Tage später inhaftiert wurde. Aus den Verhören dieses Kreises ergaben sich Hinweise, die zu Ermittlungen und Anzeigen im Sinne von § 175 führten. Hans Scholl, der zu dieser Zeit seinen Wehrdienst ableistete, wurde am 13. Dezember in der Kaserne festgenommen, der Haftbefehl nach § 175 jedoch am 30. Dezember aufgehoben. Ein weiterer Haftbefehl aufgrund bündischer Betätigung, weswegen er seit November 1936 »aktenbekannt« war, war für nicht notwendig befunden worden, da er unter militärischer Aufsicht stand. Die Entlassung hatte er hauptsächlich der Intervention seines militärischen Vorgesetzten zu verdanken. Die beiden Stuttgarter Beschuldigten wie Ernst Reden blieben hingegen wegen des Vorwurfs der »bündischen Betätigung« bis zum Prozess in Haft. Das Sondergerichtsverfahren vom 2. Juni 1938 hat Herrmann zufolge das Weltbild Hans Scholls bis in die Grundfesten erschüttert und, wie bei seiner Schwester Sophie, zu einer radikalen Wandlung vom begeisterten HJ-Führer zum entschiedenen Gegner des NS-Regimes geführt. Er belegt das mit der Dokumentation zahlreicher Unterlagen. Diese Sicht wird nicht von allen Beobachtern geteilt, der Einschnitt dieses Prozesses in das Leben von Hans Scholl als nicht so stringent gesehen, als dass er zwangsläufig in den Widerstand geführt hätte. So betont etwa Scholls Schwester Inge Aicher-Scholl, dass der spätere Widerstand Hans Scholls nichts mit seiner illegalen Betätigung im Umfeld von dj.1.11 zu tun gehabt hätte. Hans Scholl muss zunächst unendlich erleichtert gewesen sein, dass der Prozess so glimpflich endete, was er nicht zuletzt dem Vorsitzenden Richter Dr. Hermann Cuhorst zu verdanken hatte, dessen widersprüchliche Persönlichkeit von Herrmann umfassend dargestellt wird. Nach seiner Rehabilitierung widmete sich Hans Scholl wieder der militärischen Karriere – er wollte Reserveoffizier werden, legte im Oktober 1938 die entsprechende Prüfung ab und erwog im September 1940, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Zum Krieg selber sind von ihm durchaus ambivalente Äußerungen überliefert. So schrieb er am 28. Juni 1938 vom Truppenübungsplatz Heuberg an die Eltern: »Natürlich unterhalten wir uns dauernd über militärische Fragen. Wie sich das und jenes im künftigen Krieg entwickeln würde. Und nur ganz wenigen kommt der Gedanke: Warum überhaupt Krieg? Die allermeisten würden blind und dumm mit einer gewissen Neugierde oder Abenteuerlust losmarschieren.« (S. 118 f.) Er unter-

Hans Scholl ¢ Angeklagt wegen »bündischer Umtriebe u. a.«

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stellte dem Krieg zu Beginn noch Sinn, empfand ihn in seinem Verlauf jedoch als immer mörderischer, wie seinen Briefen zu entnehmen ist. Diesem Widerstreit der Gefühle trägt Herrmann Rechnung; er zählt Stationen und Personen auf, die dazu beitrugen, dass Hans Scholl zu einer Symbolfigur des jugendlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus wurde. Ungeklärt aber ist bislang, wie und wann »die Schwelle vom Dagegensein in das DagegenHandeln« von Scholl überschritten wurde.1 Deutlich wird hier jedoch einmal mehr, dass die Geschichte der Geschwister Scholl mitsamt dem Komplex der »Weißen Rose« noch längst nicht abschließend geschrieben ist.

1 Armin Ziegler : Es ging um Freiheit! Die Geschichte der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« – Fakten, Fragen, Streitpunkte, Menschen, Schönaich 2005, S. 11.

Barbara Stambolis

Engagiert in der jüdischen Jugendbewegung, verfolgt im Nationalsozialismus

Reinhard Hesse (Hg.): »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«. Die Geschichte von Hilde und Rose Berger, mit einem Geleitwort von Berthold Beitz, Gießen: Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag 2013, ISBN 978 – 3 – 8379 – 2273 – 8, 19,90 Euro. Bei dieser Publikation handelt es sich um die autobiographischen Lebensrückblicke von Hilde und Rose Berger, Töchter jüdischer, 1912 aus Polen eingewanderter Eltern. Hilde, 1914, und Rose, 1918 geboren, überlebten durch glückliche Fügungen und die Mithilfe nicht zuletzt von Berthold Beitz, die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung und die Strapazen von Flucht und Emigration. Während des Zweiten Weltkriegs begegnete Hilde im galizischen Boryslaw dem am 30. Juli 2013 verstorbenen Berthold Beitz, zu dieser Zeit Direktor der ›Karpaten-Ölgesellschaft‹, eines kriegswichtigen Großbetriebs, der versuchte, sie zu schützen. Ins KZ Plaszow deportiert, war Hilde als Schreibkraft an der Erstellung der Listen beteiligt, mit deren Hilfe es Oskar Schindler gelang, mehr als 1000 Juden das Leben zu retten. Soviel zur Erklärung des Titels dieser Publikation, mit der Reinhard Hesse, Professor für Philosophie und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Lebensberichte von und Zeitzeugeninterviews mit diesen beiden Frauen in leicht bearbeiteter Form vorlegt, angereichert durch Dokumente und Fotos. Die fünf aus dem Englischen übersetzten Texte ermöglichen eindrucksvolle Einblicke in Lebensumstände der Heranwachsenden, ihr Engagement in der jüdischen Jugendbewegung, ihre politischen Auffassungen, ihre Widerständigkeit und ihren Mut sowie die Überlebenskraft und lebenslange Auseinandersetzung der Schwestern Berger mit dem Holocaust und einem angemessenen Umgang mit Täter- und Opferfragen. In einem Beitrag für die Mitteilungen des Deutschen Hochschulverbandes hat Hesse 2011 über seine Aufgabe als Hochschullehrer geschrieben, er könne sich »kaum etwa Sinnvolleres und Befriedigenderes vorstellen, als jungen Menschen eigenständiges, kritisches, philosophisches Denken nahezubringen.« Dies hat

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Barbara Stambolis

ihn offenbar auch mit zu der nun vorliegenden Publikation motiviert. Eingangs beantwortet Hesse die Frage, warum er dieses Buch neben der Fülle der bereits herausgebrachten Literatur zu jüdischen Schicksalen für wichtig hält, folgendermaßen: Das Spezifische der Haltungen und Lebensgeschichten der beiden Frauen liege im beeindruckenden »Kampf für ein besseres Deutschland«, der vor allem für Hilde Berger in der jüdischen Jugendbewegung begann und dazu führte, dass sie sich in den 1930er-Jahren dem Kommunismus und anschließend den Trotzkismus zuwandte. Dem Eindruck, hier werde die Heldinnengeschichte zweier jüdischer Opfer erzählt, kann Hesse jedoch entgegenhalten, dass ihr Leben »von tragischen Widersprüchen, Spannungen und Fehlleistungen nicht frei geblieben sei« (S. 11). Gleichsam als möglicher roter Faden für die Lektüre verweist er auf das besonders in Hilde Bergers Selbstzeugnissen bereits in jungen Jahren erkennbare Bestreben, »ohne Anleitung oder Beschränkungen selbst zu denken und danach zu handeln« (S. 11.) Die Interview- und Lebensberichtspassagen, in denen Hilde Berger auf ihre Zeit im jüdischen Jugendbund »Blau-Weiß« (um 1930) sowie den »Jung-Jüdischen Wanderbund«, hebräisch: »Brith Haolim«, eingeht, auf damalige Diskussionen über Vorbereitungen auf ein mögliches Leben in einem Kibbuz, konkrete Vorbereitungen dafür in Auswanderergütern für junge Juden sowie menschliche Begegnungen mit Jungkommunisten und jungen Trotzkisten gehören zu den besonders lesenswerten Facetten des Buches. Beim gründlichen Lesen dürften nicht zuletzt Nachgeborene gut nachvollziehen können, wie sich die Erinnerungsperspektiven Überlebender »letzter Zeugen« im Laufe der Jahrzehnte verändern und Lebenserzählungen Konturen annehmen.

Rüdiger Ahrens

Interdisziplinäre Forschungen zum »Pfadfinden«

Eckart Conze, Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden: Springer VS 2012, 186 S., ISBN 978 – 3 – 531 – 18138 – 7, 29,95 E. 1907 führte der britische Kolonialoffizier Robert Baden-Powell auf der Kanalinsel Brownsea Island ein Lager durch, um sein Modell der Jugenderziehung durch »Scouting« praktisch zu erproben. 1909 erschien das »Pfadfinderbuch«, die deutsche Übertragung von Baden-Powells Grundschrift »Scouting for Boys«, und wieder zwei Jahre später, am symbolträchtigen vierzigsten Jahrestag der Reichsgründung, wurde am 18. Januar 1911 der Deutsche Pfadfinderbund ins Leben gerufen. Heute, hundert Jahre danach, orientieren sich in mehr als 200 Ländern rund 40 Millionen Menschen an der Pfadfindermethode, die damit einerseits zu einem globalen Phänomen geworden, andererseits aber auch in nationalen Kontexten spezifischen Anpassungen unterworfen ist. Im Kontext dieser Jubiläen und mit Blick auf die anhaltende Konjunktur des »Pfadfindens« ist der anzuzeigende Sammelband entstanden. Er enthält die Beiträge zu einer Konferenz, die die Universität Marburg in Kooperation mit dem Pfadfinder-Hilfsfond und dem Ring junger Bünde Hessen im März 2010 durchgeführt hat.1 Die Stärke des Bandes liegt im interdisziplinären Zugriff, der soziologische und erziehungswissenschaftliche Reflexionen der heutigen Situation mit einer entschieden historisierenden Perspektive verknüpft. Dadurch wird deutlich, wie flexibel die auf Baden-Powell zurückgehenden Grundelemente adaptierbar sind, etwa das Prinzip der kleinen Gruppe und das Lernen durch Tun, aber auch, wie stark sie durch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext geformt werden. Dabei verhandelt der Band die Pfadfindermethode 1 Vgl. auch Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2009, NF 6, das die ähnlich motivierte, aber stärker historisch ausgerichtete Archivtagung zum Thema »Hundert Jahre Pfadfinden in Deutschland« dokumentiert und inhaltliche Überschneidungen zum besprochenen Band aufweist.

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Rüdiger Ahrens

zwar als »globale Erziehungs- und Bildungsidee«, doch das empirische Material, seien es die Quellen des Historikers oder die Interviews der Soziologin, stammt weit überwiegend aus dem deutschen Kontext. Angesichts der Voraussetzungen ist das aber verständlich, denn die Forschungslage ist dünn, sodass erst die Konzentration eine einigermaßen dichte Bestandsaufnahme ermöglicht. Die klug gewählten Themenschwerpunkte ergeben denn auch ein zwar unvollständiges, aber in seinen Grundzügen plausibles Bild des »Pfadfindens« in Deutschland. In historischer Perspektive werden vor allem die Ambivalenzen deutlich: Entstanden im Kontext der ausgreifenden Kolonialpolitik Großbritanniens, sollte das Scouting in seiner ursprünglichen Form die Bereitstellung dringend benötigter Manpower für das Empire erleichtern. Und dieses Konzept ließ sich, trotz anders gelagerter politischer Notwendigkeiten und gesellschaftlicher Voraussetzungen, leicht auf die deutschen Verhältnisse übertragen. Zentral waren, darauf macht Christoph Schubert-Weller aufmerksam, in beiden Fällen Disziplin, Einordnung, Loyalität und die Einübung einer staatsbürgerlichen Moral. Gleichzeitig habe Baden-Powell »ein grundsätzlich aufgeklärtes Menschenbild« kultiviert (S. 31) und an die individuelle Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit seiner Scouts appelliert. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die deutschen Pfadfinder, vorweg die reformorientierten Absplitterungen aus dem Deutschen Pfadfinderbund, im breiteren Strom der Jugendbewegung auf. Das Spannungsverhältnis der Alternativen »Führen« oder »Wachsenlassen«, das Jürgen Reulecke in Anlehnung an den Buchtitel Theodor Litts (1927) diskutiert, verschob sich dabei im Laufe der Weimarer Zeit im Sinne einer bewussten Selbsteinordnung in die entstehenden »Bünde«. Diese Überlagerung des Meißnergrundsatzes, »aus eigener Bestimmung« zu leben, habe durchaus Spielräume für »zunächst völkische, schließlich dann auch rassistische« Deutungen des Handels und Denkens geöffnet (S. 46), ohne dass aber die Erziehung zu eigenständigen und kritischen Individuen aus dem Blick geraten sei. Arndt Weinrich konzentriert sich in seinem Beitrag über die späteren Weimarer Jahre vor allem auf die Hitlerjugend. Er kann deutlich zeigen, dass die methodischen Elemente der Bünde »bei allen ideologischen Schnittmengen« (S. 65) mit jenen der HJ inkompatibel waren, da die Parteijugend auf Massenmobilisierung qua Zwang setzte und sich völlig den politischen Zielen der NSDAP unterordnete. Für die Zeit nach 1945 arbeitet Eckart Conze am Beispiel des Bundes Deutscher Pfadfinder heraus, wie auch die Entwicklung der Jugendbewegung dem Muster einer gesellschaftlichen Liberalisierung während der »langen Sechziger« folgte. Mit ihren autoritären und hierarchischen Orientierungen hatten gerade die Pfadfinder sich nach dieser quellennahen Interpretation zunächst an älteren Vorbildern orientiert, die nun im Zuge einer konstruktiven Hinwendung zur Gesellschaft zunehmend verblassten. Nach den vorangegangenen historiogra-

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fischen Beiträgen ist Conzes Argumentation zentral für das Verständnis der folgenden Analysen, in denen den autonomiefördernden und partizipativen Elementen des heutigen Pfadfindens erhöhte Bedeutung zukommt. Matthias D. Witte eröffnet den zweiten Teil des Bandes mit der Überlegung, die Pfadfinderidee als »Kontrastprogramm« (S. 98) zur Globalisierung aufzufassen. Im Anschluss an einen Überblick über die soziologische Literatur stellt er dazu differenziert die für die individuelle Entwicklung hinderliche Tendenz zur Beschleunigung, Unübersichtlichkeit und Ökonomisierung dar, um dann die gegenläufigen Potenziale der Pfadfindermethode herauszuarbeiten, insbesondere die Aktivitätsorientierung, die Möglichkeit, individuelles Handeln als Mitglied einer überschaubaren Gruppen einzuüben, die Erfahrung des eigenen Körpers sowie das »Abenteuer« als außeralltägliche, alternatives Handeln fordernde Bildungsinstanz. Wittes optimistische Diagnose wird durch die folgenden empirisch fundierten Beiträge zu den Mühen der Ebene etwas relativiert, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt. Zur Sprache kommen unter anderem der perpetuierte Sonderstatus von Mädchen und Frauen, die Kollision von Verbandsrichtlinien mit der Gruppenpraxis und der Nachwuchsmangel im Leitungsbereich. Auf der anderen Seite der Rechnung steht wiederum die Flexibilität der Pfadfinder, wenn es um die Anpassung der eigenen »Tradition« im Sinne stabilisierender »Praktiken, Glaubensorientierungen oder Denkweisen« in einer Zeit beschleunigten Wandels geht (Yvonne Niekrenz im Anschluss an David Gross und Anthony Giddens, S. 145). Insgesamt ist der Band eine instruktive Bilanz des Forschungsstandes für die deutsche Geschichte und Situation, er macht aber auch auf die weißen Flecken der Forschung aufmerksam: Über die Pfadfindergeschichte bestimmter Phasen wissen wir wenig, die organisatorische Entwicklung stellt sich unübersichtlich dar, eine stärkere Anbindung an internationale Perspektiven steht noch aus. Unklar ist auch, weshalb die Pfadfinder, anders als andere, mitteilungsfreudigere Jugendbewegte, nicht stärker in die eigene Historisierung eingegriffen haben – und damit auch der Versuchung zur Legendenbildung weniger ausgesetzt waren.2 Es bleiben also am Ende durchaus Fragen, aber das dürfte ganz im Sinne der Herausgeber sein, die sich wünschen, der Band möge auch »Anstoß sein für zukünftige wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Themenkomplex« (S. 16).

2 Vgl. als wichtigste Ausnahme Karl Seidelmann: Die Pfadfinder in der deutschen Jugendgeschichte, 3 Bde., Hannover u. a. 1977, 1980, Halle/Freiburg 1991.

Rückblicke

Norbert Schwarte

Nachruf auf Diethart Kerbs (19. 08. 1937 – 27. 01. 2013)

Am 27. Januar 2013 ist Diethart Kerbs im Alter von 75 Jahren in Berlin verstorben. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung hat allen Grund, an diese außergewöhnliche Persönlichkeit, die dem wissenschaftlichen Beirat seit 1994 angehörte, dankbar zu erinnern. Diethart Kerbs gehörte zu denen, die das innovative Potenzial der Jugendbewegung, überwiegend in seiner jungenschaftlichen, auf dj.1.11 zurückgehenden Ausprägung, in die allzu selbstgewisse, von historischer Amnesie bedrohte Bundesrepublik der Nachkriegsjahrzente hineingetragen haben. Gewiss nicht als dominante Strömung, aber doch auch nicht so, dass man im historischen Rückblick darüber hinwegsehen sollte. Beispielhaft für verschiedene Sektoren des politischen, sozialen und kulturellen Lebens stehen dabei die Ostermarschbewegung und die Anti-Atombewegung, aber auch Nichtregierungsorganisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker, die Tibet-Initiative, der Einsatz für Sinti und Roma, das Chanson-Folklore-Festival auf Burg Waldeck in seiner gesellschaftskritischen Funktion u. v. m. Zu dieser Generationsgruppierung gehören u. a. Walter Scherf, Tilmann Zülch, Helmut Kentler, Helmut Steckel, Arno Klönne, Max Himmelheber, Roland Eckert und Ekkehart Krippendorff. Wahrlich ein bei aller Verschiedenheit der Lebensentwürfe und Initiativen, für die sie stehen, illustrer Kreis von Menschen, für die die Zugehörigkeit zu den Bünden der Nachkriegszeit nach eigenem Bekunden nicht eine mehr oder weniger belanglose Episode war. Nicht wegen der erwartbaren Vor- und Nachlässe, sondern zur Korrektur einer historiografischen fable convenue, der zufolge die Jugendbewegung 1933 an ihr Ende gekommen und alles weitere bloßer Abgesang und bedeutungsloser Abklatsch gewesen sei, sollte sich das Archiv auf diese bislang ziemlich vernachlässigte Epoche einlassen. Die Spuren, die Diethart Kerbs hinterlässt, würden darin einen wichtigen Platz einnehmen. Er war übrigens der erste und bisher leider auch einzige, der sich mit den Jungenschaften als dritter Welle der Ju-

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Norbert Schwarte

gendbewegung in der Zeit zwischen 1945 und 1965 kenntnisreich und in wissenschaftlich ernst zu nehmender Weise auseinandergesetzt hat.1 Wahrgenommen habe ich Diethart Kerbs erstmals vor mehr als fünfzig Jahren auf der legendären Burg Waldeck im Hunsrück als Autor und Gestalter einer »littera« genannten Wandzeitung, die ihr grafisches Profil seiner markanten Handschrift verdankte. Während Handgeschriebenes meist vorläufig und behelfsmäßig anmutet, wenn es das Format privater Notizen und Mitteilungen überschreitet, war diese Wandzeitung im DIN-A1-Format gerade wegen dieser Handschrift so eindrucksvoll. Es ging im Text um Authentizität und dazu passte diese nicht kalligrafisch stilisierte und doch ganz und gar ungewöhnliche Handschrift. Ich bin sicher, dass sie jedem, der einmal einen Brief von Diethart Kerbs erhalten hat, vor Augen steht. Als Motto war dieser Wandzeitung ein Zitat vorangestellt, das ich nie wieder vergessen habe: »Eitle Sicherheit und in sich selbst verliebtes Spiel haben keinen Anteil an der Wahrheit«. Es geht auf Walter Scherf-tejo zurück. Das Motto war im Hinblick auf die bündische Szene, in der wir uns beide – wenngleich aufgrund eines Altersabstands von damals gewichtigen sieben Jahren mit einiger Distanz – bewegten, selbstkritisch gemeint und wurde auch so verstanden. Diethart Kerbs aber blieb damals nicht bei Analyse und Kritik stehen. Er entwickelte einen Gegenentwurf und setzte sich in der Folgezeit beharrlich für dessen Verwirklichung ein. So war es bei dem ersten großen Projekt, das er initiierte, und so war es bei allen folgenden, denn so und nicht anders verstand er die gesellschaftliche Verantwortung des Intellektuellen. Die kritischen Geistern oft ironisch gestellte Kästner-Frage, wo denn das Positive bleibe, wäre bei ihm ins Leere gegangen. Er schlug damals vor, die in jugendbündischen Zusammenhängen gepflegten »Selbsterhellungsdiskussionen bis auf weiteres zu beenden und sich sachlichen Aufgaben zuzuwenden, die auch in unbündischen Kreisen Interesse erregen«.2 Das war die Geburtsstunde der Internationalen Chanson-Folklore-Festivals auf Burg Waldeck. Über deren Bedeutung für die soziokulturellen Aufbrüche der späten 60erund 70er-Jahre besteht kein Zweifel. Es kann aber auch kein Zweifel sein, dass es sie ohne Diethart Kerbs nicht gegeben hätte, auch wenn der Erfolg bekanntlich viele Väter hat. Sie waren aus der Sicht der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck 1 Diethart Kerbs: Zur Geschichte und Gestalt der deutschen Jungenschaften, in: Neue Sammlung 2 (1966), S. 146 – 170. – Von seinem anhaltenden Interesse an der Geschichte der Jugendbewegung, ihren Irrwegen und Abgründen, vor allem aber an den noch unerledigten, zukunftsfähigen Impulsen zeugen neben der vielbeachteten Fidus-Publikation (Diethart Kerbs, Janos Frecot, Jonas Geist (Hg.): Fidus 1868 – 1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, München 1972) zahlreiche biografische Miniaturen, erschienen u. a. in Diethart Kerbs: Lebenslinien. Deutsche Biografien aus dem 20. Jahrhundert, Essen 2007. 2 Klaus P. Möller : Diethart Kerbs und die Burg Waldeck, in: Jürgen Reulecke, Norbert Schwarte (Hg.): Momentaufnahmen. Weggefährten erinnern sich. Diethart Kerbs zum 70. Geburtstag, Essen 2007, S. 17 – 24, hier S. 19.

Nachruf auf Diethart Kerbs (19. 08. 1937 – 27. 01. 2013)

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als Veranstalter ein fulminanter Erfolg. Sie zehrt davon bis auf den heutigen Tag: Endlich war es gelungen, sich von restaurativen Tendenzen glaubwürdig abzugrenzen und aus der Randständigkeit auszubrechen, in die die Nachkriegsjugendbünde geraten waren. Dass die Waldeck darüber ihr bündisches Profil einbüßte, wurde nicht von allen Akteuren begrüßt, aber als unvermeidliche Nebenwirkung billigend in Kauf genommen. Diethart Kerbs hat Kunst- und Werkerziehung, Pädagogik, Politikwissenschaft, Soziologie und Völkerkunde in Berlin, Erlangen, Tübingen und Göttingen studiert. Nach Tübingen ist er gegangen, weil dort seit 1961 Ernst Bloch lehrte. So könnte man mit Fug und Recht die Philosophie zu den Studienfächern hinzurechnen. Auf dieser Grundlage vertrat Diethart Kerbs in seinen späteren wissenschaftlichen Analysen einen an Ernst Bloch geschulten unorthodoxen Marxismus, der sich dem »Noch-nicht-Gewordenen« zuwandte. Die von kurzfristigen Verwertungsabsichten unberührte Studienbreite war schon damals ungewöhnlich. Heute, unter dem Diktat einer durchgängigen Ökonomisierung des Studiums und im Zeichen des schwindelhaften Bologna-Prozesses, müsste man ein derart breit angelegtes Langzeitstudium ertrotzen, wenn nicht gar einklagen. Für Diethart Kerbs war es – altmodisch gesprochen – Wesensäußerung, Ausdruck eines weitverzweigten Weltinteresses und Basis wahrhaft enzyklopädischer Kenntnisse. Auf dieser Grundlage vertrat Diethart Kerbs später an der Pädagogischen Hochschule Berlin, an die er 1974 als Professor für Kunstpädagogik berufen worden war, und dann an der Hochschule der Künste zu Berlin, an der er von 1980 bis 2006 lehrte, einen Gelehrtentypus, der sehr selten geworden ist. Zu seinem 70. Geburtstag hat Diethart Kerbs die Stationen seines öffentlichen Wirkens nach Dekaden gegliedert. Er sprach im Anschluss an Kindheit und Jugend, denen er die Chiffren »Bündisches Jahrzehnt« und »Studentisches Jahrzehnt« zuordnete, von einem »kunstpädagogischen Jahrzehnt« (1970 – 1980), von einem »fotohistorischen Jahrzehnt«(1980 – 1990) und schließlich von einem »denkmalpflegerischen Jahrzehnt«, das in das neue Jahrtausend hineinragte.3 Man wird dieser Einteilung zustimmen, soweit damit nicht die heute geläufige Vorstellung verbunden wird, Diethart Kerbs habe sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neu erfunden. Denn wenn man genauer hinsieht, entdeckt man durchgängige subthematische Verbindungslinien und eine beachtliche Konsistenz in der Art des Zugangs und der Haltung zu den Gegenständen, denen seine Arbeit galt. Ältere Fragestellungen, noch nicht erledigte Aufgaben waren in den folgenden Projekten gewissermaßen aufgehoben, sodass die Ergebnisse trotz aller 3 Diethart Kerbs: Ein Leben in Dekaden, in: Reulecke, Schwarte: Momentaufnahmen (Anm. 2), S. 157 – 159.

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Norbert Schwarte

augenscheinlichen Verschiedenheit als aus einem Geist entstanden, folgerichtig entwickelt und stimmig erscheinen. In jedem dieser genannten Jahrzehnte und in jedem Themenschwerpunkt hat Diethart Kerbs deutliche Spuren hinterlassen und Akzente gesetzt, die ohne ihn so nicht oder gar nicht zustande gekommen wären. Aus der Zusammenarbeit mit Hartmut von Hentig, dessen Assistent er in Göttingen war, geht in einem damals als fruchtbar kaum für möglich gehaltenen Rekurs auf Schillers diesbezügliche Briefe eine Neubestimmung ästhetischer Erziehung hervor, die gegenwärtig noch nachwirkt.4 Gewiss nicht so entschieden, so weiträumig und radikal, wie von Diethart Kerbs gedacht, aber auch nicht folgenlos wie vieles, was im Bereich der Schulreform in den letzten Jahrzehnten bedacht und zu Papier gebracht worden ist. Zu Recht ist Diethart Kerbs als Vordenker einer neuen Kunstpädagogik bezeichnet worden, die die politische Dimension und den gesellschaftlichen Kontext des Faches nicht ausklammert. Seine Publikationen zur Geschichte des Kunstunterrichts und die damit verbundenen Ausstellungen gelten noch immer als vorbildlich. Seine zahlreichen Beiträge zur Theorie der ästhetischen Erziehung zeichnen sich gegenüber vergleichbaren Publikationen aus jenen Jahren, gerade auch in der von ihm 1968 mitbegründeten und herausgegebenen Zeitschrift »Kunst und Unterricht«, vor allem durch ihre Lesbarkeit aus. Das spannendste Heft dieser weit über die Fachgrenzen hinaus bedeutsamen Zeitschrift erschien unter dem Titel »Ästhetische Praxis – Politische Praxis«.5 Allerdings nicht so, wie von Diethart Kerbs und Brigitte Walz-Richter konzipiert, sondern nachredigiert in entschärfter Form und führte 1981 zum Rausschmiss aus der Redaktion. Diethart Kerbs hat sich davon und auch von späteren Enttäuschungen nicht entmutigen lassen. Für ihn galt, was Franz-Josef Degenhardt, den er 1964 zum ersten Chanson-Festival auf die Waldeck geholt hatte, sang: » … denn der Kampf geht weiter, weiter Tag für Tag« und die Sorge, nicht genug gekämpft zu haben, trieb ihn mehr um als Rückschlag und Resignation. Mit der damals viel gelesenen Publikation »Die hedonistische Linke« gaben Diethart Kerbs, Peter Brückner und andere der undogmatischen, libertären Linken, die sich weder von der bräsigen DKP noch von den studentischen Ka4 Diethart Kerbs: Thesen zur ästhetischen Erziehung in historisch-politischer Perspektive, in: Olaf Schwencke (Hg.): Ästhetische Erziehung und Kommunikation, Frankfurt a. M. 1972, S. 72 – 76, hier S. 72. 5 Kunst + Unterricht, Sonderheft 1981. Das Heft ist wie ein Handbuch aufgebaut. Es berichtete neben theoretischen Positionsbestimmungen über die damals virulenten Widerstandsaktionen gegen Kahlschlagsanierung, Stadtverödung und Atomstrom. Im Mittelpunkt stand jedoch ein nach wie vor beeindruckender Katalog von dreißig sogenannten »kleinen Medien«, die die Etablierung einer auch ästhetisch konzipierten Gegenöffentlichkeit zu den etablierten »großen« Medien ermöglichen und die dafür erforderlichen praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten vermitteln sollten.

Nachruf auf Diethart Kerbs (19. 08. 1937 – 27. 01. 2013)

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derparteien stalinistischer oder maoistischer Observanz angezogen fühlten, zumindest literarisch Heimstatt und Orientierung.6 Diethart Kerbs dachte, lehrte, arbeitete und lebte in Projekten. Wenn man allerdings den mit diesem reformpädagogischen Leitbegriff ursprünglich verbundenen politisch-emanzipatorischen Anspruch längst aufgegeben hat oder nicht einmal mehr kennt, sagt einem dieser Hinweis nahezu nichts. Projekt heißt heute beinahe alles, was im akademischen Raum betrieben wird. Die, die diesen Leitbegriff in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren in Schule und Hochschule einbrachten, verbanden damit die Hoffnung auf eine tief greifende Innovation schulischen Lernens und akademischer Lehre. Diethart Kerbs hat diesen Anspruch immer vertreten: gemeinsame Entwicklung von Arbeitszielen, funktionale statt hierarchischer Arbeitsteilung nach Neigung und Vermögen, Kommunikation auf gleicher Augenhöhe, politische und gesellschaftliche Kontextualisierung, lebensweltlicher Bezug und vorausschauende Planung gehören ebenso dazu wie die Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen und sie für die Zusammenarbeit zu gewinnen: mithin Begabungen, über die Diethart Kerbs in reichem Maße verfügte. Und beim größten und aufwendigsten Projekt, »Fotografie und Gedächtnis«, wo es darum ging, mehr als ein halbes Hundert beteiligte eigensinnige und eigenwillige Fotografen zusammenzubringen und zusammenzuhalten, konnte sich Diethart Kerbs auf die uneingeschränkte Unterstützung durch Sophie Schleußner verlassen.7 Auch deshalb trifft zu, was der »Tagesspiegel« im Titel eines kundigen Nachrufs von Bodo Mrozek festhält: »Die Projekte gingen ihm nie aus«. Unmöglich ist es, hier alle Buch- und Ausstellungsprojekte zu nennen, die Diethart Kerbs angestoßen, begleitet oder selbst vorangetrieben und realisiert hat. Jedes wies innovative Momente auf. Das macht ihren besonderen Rang aus.: Die Ausstellung »Guernica« zum Beispiel, die die marktübliche kunstimmanente Betrachtung zugunsten präzise herausgearbeiteter Zusammenhänge von Kunst und Politik aufgab,8 oder die Ausstellungen »Kind und Kunst«9 und »Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1848«10 können als Vorspiel der von ihm »erforschten und edierten Ikonografie des 20. Jahrhunderts« – so beschreibt Wikipedia seine Verdienste um die Fotogeschichte11 – gelten. 6 Diethart Kerbs (Hg.): Die hedonistische Linke. Beiträge zur Subkultur-Debatte, Neuwied 1971. 7 Diethart Kerbs, Sophie Schleußner (Hg.): Fotografie und Gedächtnis, 3 Bde., Berlin 1997. 8 Guernica. Kunst und Politik am Beispiel Guernica. Picasso und der spanische Bürgerkrieg. Eine Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 1975. 9 Ole Dunkel, Diethart Kerbs (Hg.): Kind und Kunst. Eine Ausstellung zur Geschichte des Zeichen- und Kunstunterrichts. Ausstellungskatalog und Dokumentation, Hannover 1980. 10 Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1949, zus.gest. und hg. von der Arbeitsgruppe Kunst der Bürgerlichen Revolution, 1830 – 1848/49, Berlin 1972. 11 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Diethart_Kerbs [13. 02. 2013].

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Die Ausstellungen »Gleichschaltung der Bilder. Zur Geschichte der Pressefotografie 1930 – 1936«12 und »Revolution und Fotografie. Berlin 1918/19«13 – 1983 bzw. 1989 veranstaltet – sind in ihrer inhaltlichen Bedeutung bis heute unübertroffen; die zugehörigen Kataloge gelten mit ihren methodologischen Reflexionen und der schlüssigen Kontextualisierung der Fotografien als Gründungsdokumente der Visual History. Als Summe dieser Schaffensphase lässt sich die große, dem Lebenswerk des Fotografen Willy Römer gewidmete Ausstellung »Auf den Straßen von Berlin« beschreiben, die 2004 im Deutschen Historischen Museum zu Berlin gezeigt wurde.14 Diethart Kerbs hat unablässig und mit sicherem Gespür für Trouvaillen gesammelt und Sophie Schleußner hat alles dafür getan, dass seine Sammlungen über seinen Tod hinaus erhalten und im Archiv der Sammlung Marzona zugänglich bleiben. Diethart Kerbs hat das Werkbundarchiv mitbegründet und die dort veranstaltete Sammlung von Gegenständen der Alltagskultur gegen traditionelle Konzepte verteidigt, die die Sammlung auf die Höhenlinien gestalterischer Kreativität beschränkt sehen wollten. Er war maßgeblich an der Gründung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und der Berliner Geschichtswerkstatt beteiligt, er hat sich Anfang der 80er-Jahre in ungewöhnlicher Weise mit den Berliner Hausbesetzern solidarisiert, indem er zusammen mit Julius Posener und unterstützt von Helmut Gollwitzer Patenschaften für besetzte Häuser übernahm. Er hat sich mutig gegen den Filz der GEW mit einer Gegengründung engagiert und sich schließlich, ausgehend vom Kampf gegen die Kahlschlagsanierung in Berlin, um die Erhaltung der Kulturlandschaft, vorzüglich Mecklenburg-Vorpommerns, im Zusammenwirken von Denkmalpflege und Landschaftsschutz eingesetzt.15 Bei all diesen Projekten hat er Mitstreiterinnen und Mitstreiter für die Zusammenarbeit gewonnen, die sich auf weite Strecken als Person gemeint und in der Sache verbunden fühlten. Diethart Kerbs war kein akademischer Einspänner, er hat gerne und ausgiebig mit anderen zusammengearbeitet. Die umfängliche Liste seiner Coautoren und Mitherausgeber macht das deutlich. Nimmt man alles in allem, dann stehen wir vor einem ungewöhnlich reichen, 12 Diethart Kerbs, Walter Uka, Brigitte Walz-Richter : Die Gleichschaltung der Bilder. Zur Geschichte der Pressefotografie 1930 – 1936, Berlin 1983. 13 Diethart Kerbs, Andreas Hallen: Revolution und Fotografie, Berlin 1989. 14 Diethart Kerbs (Hg.): Auf den Straßen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer 1887 – 1979, Bönen/Westfalen 2004. 15 Siehe hierzu Hans Dieter Knapp: Der Kittendorfer Appell und die Bewahrung der Kulturlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns, in: Jürgen Reulecke, Norbert Schwarte (Hg.): Anstöße. Diethart Kerbs als Kunstpädagoge, Fotohistoriker und Denkmalschützer, Essen 2007, S. 119 – 153.

Nachruf auf Diethart Kerbs (19. 08. 1937 – 27. 01. 2013)

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vielgestaltigen Lebenswerk. Mit Diethart Kerbs hat das Archiv der deutschen Jugendbewegung einen Fürsprecher verloren, mit dem man arbeiten und streiten, Ideen entwickeln, Projekte verfolgen und verteidigen konnte. Das macht traurig, auch wenn man darüber nicht vergisst, dass er nun von dem Leid, das ihn seit dem schweren Schlaganfall im August 2011 sichtbar geplagt und am Sprechen und Schreiben gehindert hat, erlöst ist. Diethart Kerbs wird im Gedächtnis und in den Herzen vieler Menschen, denen diese Welt jenseits von Eigeninteressen nicht gleichgültig ist, weiterleben.

Susanne Rappe-Weber

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2012

Neunzig Jahre alt ist das AdJb im zurückliegenden Jahr geworden. Aus diesem Anlass gab es im Februar eine Festveranstaltung, zu der rund 70 Gäste in den Meißnersaal der Burg Ludwigstein kamen.1 Das Jubiläum stellte ein Bekenntnis zum Standort des Archivs in der Jugendburg Ludwigstein dar, das durch seine professionelle, vernetzte Arbeitsweise und die organisatorisch-technisch angemessene Ausstattung auf die Herausforderungen der nächsten Jahre, die vor allem in der weiter fortschreitenden Digitalisierung liegen werden, gut vorbereitet ist. – Der personelle Wechsel des Vorjahres brachte eine neue Aufgabenverteilung für alle Arbeiten in den Bereichen Erschließung, Vermittlung und Verwaltung des Archivs (Bau, Kasse, Personal) unter den drei Kolleginnen mit sich. Die Zusammenarbeit hat sich gut eingespielt, wobei viel personelle Kapazität für die Benutzerbetreuung und Anfragenbearbeitung aufgewendet wird. In der Aktenverzeichnung wurden neue Abläufe etabliert, um flexibler und schneller auf die Bestände zugreifen zu können. Nunmehr werden alle Zugänge, ältere wie neue, sofort als Bestand in der Datenbank HADIS angelegt und erhalten einen endgültigen Magazinplatz, auch wenn eine tiefere Erschließung erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist. In der Beständebeschreibung sind daher neue Klassifikationspunkte hinzugekommen, insbesondere die »Fahrtenund Nestbücher« sowie die Materialsammlungen mit den Gliederungspunkten Thematische Sammlungen, Personenmappen, Postkarten und Plakate. Das AdJb ist mit rd. 54 000 Verzeichnungseinheiten in HADIS vertreten, davon wurden mehr als 2 000 neu im laufenden Jahr eingearbeitet. – Abgeschlossen wurde das langjährige Digitalisierungsvorhaben »Freie Schulgemeinde Wickersdorf« in Zusammenarbeit mit dem thüringischen Kreisarchiv Saalfeld-Rudolstadt, das nun im Zusammenhang mit dem umfangreichen Nachlass des Gründers Gustav Wyneken herausragende Forschungsmöglichkeiten zu dieser wegweisenden reformpädagogischen Einrichtung bietet. – Der im Vorjahr übernommene 1 Vgl. die Dokumentation der Redebeiträge in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF 8, S. 383 – 413.

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Aus der Arbeit des Archivs

Nachlass von K. W. Diefenbach wird laufend verzeichnet (N 151, Nachlass Karl Wilhelm Diefenbach und Familie von Spaun). Zudem erfolgten wechselseitige Besuche mit dem Bürgermeister und dem Stadtarchivar von Diefenbachs Heimatstadt Hadamar, um Veranstaltungen zu Diefenbachs Todesjahr 2013 vorzubereiten. Die Archivtagung zum Thema »Der Meißnertag von 1963« zog u. a. viele der damals jungen Aktiven in den Meißnersaal der Burg Ludwigstein, wo unter der Regie von Prof. Dr. Jürgen Reulecke durch einordnende Vorträge und reflektierte Zeitzeugenbeiträge ein deutliches Bild dieses Ereignisses im Kontext der prosperierenden und um mehr Demokratie ringenden Bundesrepublik vermittelt wurde. Das Archivjahrbuch mit der Dokumentation der Vorjahrestagung zu »Jugendbewegung und Erwachsenenbildung« lag zu dieser Veranstaltung bereits vor. Mit der Bewilligung des DFG-Projekts »Erschließung und Digitalisierung des Fotografen-Nachlasses Julius Groß (1892 – 1986)« konnte die Ausschreibung von zwei Stellen für Wissenschaft und Erschließung erfolgen. Gefunden wurden schließlich eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin und eine Fachangestellte für Medien und Informationsdienste. Das Projekt startete am 15. November und richtete sich zunächst auf die Gestaltung effizienter Workflows, um die angestrebte Menge von 40 000 verzeichneten Fotografien zu erreichen. Eingestellt wurde das Vorhaben, ein Lexikon der Jugendbewegung zu erstellen, das von einer Arbeitsgruppe des Archivs, bestehend aus der Archivleiterin, den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates Dr. Gudrun Fiedler (Stade) und Dr. Rolf Koerber (Meißen) sowie Elisabeth Gräfe (Meine), verfolgt worden war. Geplant war, in einem Zeitraum bis 2013 über die Internetseite www.lexikon-jugendbewegung.de, die seit 2009 online gestellt war, wissenschaftlich fundierte Artikel zu den wichtigsten Personen der Jugendbewegung sowie zu den wichtigsten Bünden und Projekten der deutschen Jugendbewegung bereit zu stellen. Eine der Grundüberlegungen bestand darin, dass es unter den Jugendbewegten einen ausreichend großen Kreis an Autorinnen und Autoren gäbe, der die Artikel nach und nach gemeinsam zusammentragen würde. Es haben sich einige Autorinnen und Autoren sehr engagiert an dem Projekt beteiligt, sodass rund 200 Artikel angelegt und bearbeitet worden sind. Allerdings war die Resonanz aus den Reihen der Jugendbewegten insgesamt eher verhalten. Die Redaktion hat sich daher dazu entschlossen, das Projekt nicht über den ursprünglich gedachten Zeitraum hinaus weiterzuführen und die Internetseite abzuschalten. Die im Rahmen des Projektes entstandenen Artikel-Versionen sind im AdJb archiviert und damit dauerhaft verfügbar. Die 2013 zu eröffnende Ausstellung »Aufbruch der Jugend«, die das Germanische Nationalmuseum Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem AdJb veranstaltet hat, zog erhebliche Anstrengungen auf der Ebene von Objektrecherchen

377

Tätigkeitsbericht für das Jahr 2012

nach sich. Über 180 Objekte mussten gefunden, identifiziert und bearbeitet werden. Dazu kamen Recherchen zu inhaltlichen, personellen und organisatorischen Zusammenhängen sowie Besprechungen zu Konzeptions- und Organisationsfragen. – Gleichwohl stellte sich das wahrnehmbare Interesse der Öffentlichkeit an dem im nächsten Jahr zu feiernden 100. Jubiläum des 1. Freideutschen Jugendtages auf dem Hohen Meißner 1913 als Chance dar, die Geschichte und Bedeutung der Jugendbewegung im Kontext von Jugendburg und Archiv so darzustellen, dass deutlich weitere Kreise als sonst erreicht werden. Als Ausgangspunkt, um das erfolgreiche Wirken der vergangenen Jahre zu würdigen und Grundlagen für die Zukunft zu legen, wird das Archiv den Schwerpunkt seiner Aktivitäten im kommenden Jahr daher auf öffentlichkeitswirksame Beteiligungen am Meißnerjubiläum legen.

Archivstatistik 2012 Schriftliche Auskünfte

2007 159

2008 160

2009 136

2010 161

2011 178

2012 259

Benutzer Benutzertage

362 464

350 684

196 242

177 282

128 695

220 294

Besucher Besuchergruppen

694 37

781 21

828 16

778 14

885 19

906 23

Seminargruppen Seminarteilnehmer

8 162

8 98

3 25

7 101

8 160

5 115

191

532

337

Fotoaufträge

Personal Neben den festen Mitarbeiterinnen Dr. Susanne Rappe-Weber, Elke Hack und Birgit Richter waren im Januar und Februar Prof. Dr. Barbara Stambolis sowie ab Mitte November die Projektangestellten Anja Jackes und Juliane Voß im Archiv beschäftigt. Ehrenamtlich arbeiteten Johann P. Moyzes (Pfadfindergeschichte) sowie Sven Reiß und Katharina Labrenz (Unterstützung der Archivtagung) mit. Werkverträge wurden an Stefan Janik und Viktoria Rau (Revision des Buch- und Zeitschriftenbestandes) sowie Carsten Deiters (Magazinarbeiten) vergeben. Als Praktikanten wirkten Daniela Kneiding (Erschließung des Nachlasses Hjalmar Kutzleb), Matthias Pape (Ordnung der Altregistratur), Steffen Hofmann (Ma-

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Aus der Arbeit des Archivs

gazinarbeiten), Elijah Horn (Erschließung der Plakatsammlung) und Kristin Witte (Erschließung der Plakatsammlung) mit.

Zugänge Registriert wurden 85 Einzelfälle, darunter der besonders umfangreiche Vorlass von Hans-Dieter Wittke, eine reichhaltige Sammlung zur Pfadfindergeschichte, 10 lfm (N 157). Bemerkenswert sind weiterhin der Nachlass Horst Henschel, geb. 1925, Wandervogel in Berlin, 0,5 lfm (N 160), der Nachlass Heinz Wunderlich, geb. 1906, Führer der Islandfalken-Jungmannschaft der Deutschen Freischar, 0,25 lfm (N 155) sowie Fotoalben aus der Zeit vor 1933 zum Hildesheimer Wandervogel, zu den Islandfalken und zum Wandervogel Perleberg.

Ausstellungen – »Die vier Lebensalter : Jugend« (30.03.12 – 13.01.13, Bezirksmuseum Dachau), 52 Objekte – »Schuhreform« (25.07. – 14.10.12, Deutsches Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt), 2 Objekte

Archivführungen, Seminare – Feier zum 90-jährigen Bestehen des Archivs mit 70 Besucher/innen (26.02.); Tag des offenen Denkmals mit 25 Besucher/innen (10.09.) – Seminar am Fachbereich Agrarwissenschaften der Universität Kassel, Prof. Dr. W. Troßbach (31.01.); Seminar Historische Erziehungswissenschaften der Universität Hildesheim, Prof. Dr. M. Baader (29.05. – 01.06.); Exkursion des Altertumsvereins Wiesbaden (02.06.); Akademie der Bildenden Künste München, Prof. Dr. Dillemuth (18./19.06.); Seminar für Literaturwissenschaften der Universitäten Bielefeld und Göttingen, Prof. Dr. Braungart/ Prof. Dr. Winkow (30.11. – 02.12.); Seminar am Fachbereich Agrarwissenschaften der Universität Kassel, Dr. Rappe-Weber (30.11. – 02.12.)

Eigenpublikationen Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2011, NF 7, Themenschwerpunkt: Jugendbewegung und Erwachsenbildung, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag 2012, 430 S.

Tätigkeitsbericht für das Jahr 2012

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Medienberichte – Irene Habich: Sammeln seit 90 Jahren. Archiv der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein feiert die Gründung im Jahr 1922; HNAWitzenhausen vom 25.02. – Etwas Besonderes für uns. Feierstunde zum 90-jährigen Bestehen des Archivs der deutschen Jugendbewegung; HNA Witzenhausen vom 27.02. – Stefan Forbert: Rückblick auf 1963 auf dem Meißner. Ausstellung im Archiv der Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein lässt Erinnerungen lebendig werden; HNA-Witzenhausen und Werra-Rundschau vom 23.10. Ludwigsteiner Blätter und Burgblick – Newsletter auf www.burgludwigstein.de – Heft 254: Bericht von der Archivtagung 2011, 90 Jahre AdJb, Nachlass Karl Wilhelm Diefenbach, Neu im Archiv : Elke Hack, Christine Herrberger geht in Rente, Praktikumsbericht von F. Keller – Heft 255: 50 Jahre davor – 50 Jahre danach. Der Meißnertag von 1963 und seine Folgen – Ankündigung der Archivtagung – Heft 256: Archivleiterin feiert zehnjähriges Dienstjubiläum; Archiv bekommt DFG-Förderung; Überraschender Besuch im Archiv – Heft 257: Der Meißnertag vor 50 Jahren. Bericht von der Archivtagung

Veröffentlichungen und Vorträge – S. Rappe-Weber : BurgBlogger 1808. Das Tagebuch des Ludwigsteiner Amtmannes Johann Adam Schönewald, Ludwigsteiner RingVorlesung (12.05.) – S. Rappe-Weber : Künstlernachlass Karl-Wilhelm Diefenbach. Wertvoller Bestand im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein gesichert; Hessische Archivnachrichten 1/2012, S. 16 – 18 – S. Rappe-Weber : »Jugendbewegung und völkische Siedlungsprojekte«, Workshop im Rahmen der Witzenhäuser Konferenz (05.12.)

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2012 und Nachträge

1. 2. 3. 4.

5.

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

13.

Aly, Götz: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. 1800 bis 1933, Frankfurt a. M.: Fischer 2012. Bajohr, Frank; Wildt, Michael (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Geschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M.: Fischer 2009. Bernfeld, Siegfried: Zionismus und Jugendkultur. Hrsg. und mit einem Nachw. von Ulrich Herrmann, Gießen: Psychosozial 2011. Breyer, Nike U.: Schritt für Schritt. Die Geburt des modernen Schuhs. 26. Juli bis 14. Oktober 2012, Ingolstadt: Deutsches Medizinhistorisches Museum 2012. Conze, Eckart; Witte, Matthias D. (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden: Springer VS 2012. Cornwall, Mark: The Devil’s Wall. The Nationalist Youth Mission of Heinz Rutha, Cambridge, Mass.: Cambridge University Press 2012. Daniel, Ute u. a. (Hg.): Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, München: Oldenbourg 2010. Dorn, Thea; Wagner, Richard: Die deutsche Seele, München: Knaus 2011. Dudek, Peter : »Er war halt genialer als die anderen«. Biographische Annäherungen an Siegfried Bernfeld, Gießen: Psychosozial 2012. Dudek, Peter : »Liebevolle Züchtigung«. Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. Gailus, Manfred (Hg.): »Hass und Begeisterung bilden Spalier. Die politische Autobiografie von Horst Wessel, Berlin: Be.bra 2011. Hackspiel-Mikosch, Elisabeth; Haas, Stefan (Hg.): Die zivile Uniform als symbolische Kommunikation. Kleidung zwischen Repräsentation, Imagination und Konsumption in Europa vom 18. bis zum 21. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Alltags; 24), Stuttgart: Franz Steiner 2006. Hausmann, Frank-Rutger: Die Geisteswissenschaften im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M.: Klostermann 2011.

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Im Archiv eingegangene Bücher

14. Herrmann, Ulrich; Schlüter, Steffen (Hg.): Reformpädagogik. Eine kritischkonstruktive Vergegenwärtigung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. 15. Illies, Florian: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Fischer 2012. 16. Jung-Kaiser, Ute; Kruse, Matthias (Hg.): Weltenspiele. Musik um 1912, Hildesheim: Olms 2012. 17. Kohut, Thomas August: A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven u. a.: Yale University Press 2012. 18. Krabbe, Wolfgang R.: Kritische Anhänger – Unbequeme Störer. Studien zur Politisierung deutscher Jugendlicher im 20. Jahrhundert, Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2010. 19. Krippendorff, Ekkehart: Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche, Nettersheim: Graswurzelrevolution 2012. 20. Lange, Sascha: Die Leipziger Meuten. Jugendopposition im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Leipzig: Passage 2012. 21. Ley, Astrid (Hg.): Die Euthanasieanstalt Brandenburg an der Havel. Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus, Berlin: Metropol 2012. 22. Maasen, Thijs: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Mit einem Vorw. von Rüdiger Lautmann. Berlin: Rosa Winkel 1995. 23. Mergen, Torsten: Ein Kampf für das Recht der Musen. Leben und Werk von Karl Christian Müller alias Teut Ansolt (1900 – 1975), Göttingen: V & R Unipress 2012. 24. Müller, Hermann (Hg.): »Nun nahet Erdsternmai!« Gusto Gräser. Grüner Prophet aus Siebenbürgen, Recklinghausen: Umbruch 2012. 25. Nauderer, Ursula Katharina: Jugend – gestern und heute. Katalog zur Ausstellung im Bezirksmuseum Dachau, Dachau: Zweckverb. Dachauer Galerien und Museen 2012. 26. Niemeyer, Christian: Friedrich Nietzsche, Berlin: Suhrkamp 2012. 27. Paetel, Karl Otto: Das Nationalbolschewistische Manifest. Reprint Ausgabe mit einem Nachw. von Franz-Joseph Wehage, Hanau: Haag und Herchen 2012. 28. Puschner, Uwe; Vollnhals, Clemens (Hg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts; 47), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2012 29. Röder, Brigitte; De Jong, Willemijn; Alt, Kurt W. (Hg.): Alter(n) anders denken. Kulturelle und biologische Perspektiven. 2. Internationales Mainzer Symposium Anthropologie im 21. Jahrhundert zum Thema Reflexionen zu Alter und Altern in Vergangenheit und Gegenwart. Biologische und

Im Archiv eingegangene Bücher

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33. 34.

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Kulturelle Perspektiven (Kulturgeschichte der Medizin; 2), Köln u. a.: Böhlau 2012. Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vatersuche, München: Piper 2006. Schörken, Rolf: Als sich die Türen öffneten. Anfänge neuen Denkens nach 1945, Schwabach/ Ts.: Wochenschau 2012. Schwitanski, Alexander J. (Hg.): »Nie wieder Krieg!« Antimilitarismus und Frieden in der Geschichte der Sozialistischen Jugendinternationale, Essen: Klartext 2012. Wedel, Gudrun: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln u. a.: Böhlau 2010. Ziessow, Karl-Heinz; Wolters, Petra (Hg.): Umbruchzeit. Die 1960er und 1970er Jahre auf dem Land. Popmusik und Pillenknick. Katalog der Ausstellung »Umbruchzeit« im Niedersächsischen Freilichtmuseum, Museumsdorf Cloppenburg vom 27. November 2011 bis zum 30. September 2012, Cloppenburg: Museumsdorf Cloppenburg 2011.

Wissenschaftliche Archivnutzung 2012

Rüdiger Ahrens (Freiburg): Jugendbewegung und Nationalismus in der Weimarer Republik Beatrix Amon (Meinhard): Die völkische Siedlung Donnershag bei Sontra Markrolf Berg (Kiel): Der bündische Jugendverband »Adler und Falken« 1920 – 1935 Sven Bindczeck (München): Geschichte der Burg Ludwigstein Arnulf Cammann (Bovenden): Der Bund Deutscher Pfadfinder 1953 – 1962 Stephan Dillemuth (Bad Wiessee): Die Lebensreform Frank Drauschke (Berlin): Entstehung der Jugendbewegungen und Jugendkultur im 20. Jahrhundert Peter Dudek (Freigericht): Lehrer und Schüler der Freien Schulgemeinde Wickersdorf Dieter Geißler (Meine): Hans Paasche und der Meißner 1913 Edi Goetschel (Zürich): Fidus in der Schweiz Dirk Herrmann (Großharthau): Ferdinand Vetter und die Jugendbewegung in der Oberlausitz Friederike Hövelmans (Leipzig): Sächsische Jungenschaft Eckard Holler (Berlin): Jugendbewegte Biographien

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Wissenschaftliche Archivbenutzung 2012

Elija Horn (Potsdam): Reformpädagogik in Deutschland und Indienrezeption Stefan Janik (Göttingen): Werner Laß und die Idee der Wehrjugendbewegung Eike Kinne (Flarchheim): Der Erich-Röth-Verlag in Flarchheim Ullrich Kockel (Edinburgh, GB): Die Deutsche Jugend des Ostens York-Egbert König (Eschwege): Wilhelm und Lisa Heise Hanae Koyama (Kyoto, Japan): Fritz Jöde Matthias Kruse (Remscheid): Fritz Jöde Juliane Kühne (Kiel): Auf Fahrt nach Rumänien 1938. Jungmannen der Napola bei den Auslandsdeutschen. Eine Studie zur Erziehungs- und Minderheitenpolitik im Dritten Reich Hartmut Kuhl (Hadamar): Karl Wilhelm Diefenbach Wolf-Hartmut Kupfer (Tönisvorst): Bündische Jugend und Philosophie Anna-Sophie Laug (Berlin): Leben und Wirken von Oskar Schwindrazheim (1865 – 1952) Malte Lorenzen (Bielefeld): Literaturkritik in der deutschen Jugendbewegung Joanna Loright (London, GB): Der Komponist Walter Leigh (1905 – 1942) Mario Lukkari (Berlin): Gestaltung der Altersstufenübergänge in der Pfadfinderarbeit Alexander Maier (Sulzbach/ Saar): Pädagogisierung theologischer Anthropologie und Sakralisierung des Jugendlebens Kristian Meyer (Hamburg): Bündische in den Neuen Sozialen Bewegungen Ursula Nauderer (Dachau): Geschichte der Jugend Gottfried Paasche (Toronto, Kanada): Personenrecherchen zu Gertrud Classen, Irmgard Wegener Schönig und Familie v. Hammerstein

Wissenschaftliche Archivbenutzung 2012

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Stephen Pielhoff (Wuppertal): Rezeptionsgeschichte zu »100 Jahre MeißnerTage« Nikolaos Papadogiannis (Potsdam): Jugendtourismus in Griechenland und in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren Viktora Rau (Bad Sooden-Allendorf): Das pädagogische Fundament der frühen Wandervogel-Bewegung Manfred Reddig (Göttingen): Die DPSG-Pfadfinder Sven Reiß (Fahrenkrug): Fotografie im Wandervogel Franz Riemer (Wolfenbüttel): Fritz Jöde Jürgen Reulecke (Gießen): Reaktionen auf die Meißner-Erinnerungen Herbert Reyer (Hildesheim): Wandervogel und Bündische Jugend in Hildesheim Gregor-Maria Röhr-Ehm (Münster): Die Zeitschrift »Der Weiße Ritter« Bernhard Schäfers (Baden-Baden): Helmut Schelsky und die Jugendbewegung Elke Schneider (Zetel): Gruppenreisen um 1920 Gerd Sälzer (Hamburg): Biographie Ernst Forsthoff Wolfgang Seitz (Kassel): Germanentum und Neopaganismus im Wandervogel Matthew Sikarskie (Michigan, USA): Wandervogel and Punk: Youth Movements and Technology in a Changing Germany Stephan Sommerfeld (Lohfelden): Knud Ahlborn Karin von Spaun (Herrsching): Leben und Werk Paul von Spauns Sven Stemmer (Bielefeld): Literaturrezeption in der deutschen Jugendbewegung Walther Stodtmeister (Achern): Die Nationalpolitische Erziehungsanstalt für Mädchen in Achern

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Wissenschaftliche Archivbenutzung 2012

David Templin (Hamburg): Die Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre in der BRD Marco Thiele (Halle/ Saale): Der Jung-Wandervogel: Vom Jugendbund zum Lebensbund Werner Troßbach (Witzenhausen): Der Überfall auf den jüdischen Wanderverein 1930 Michael Wellner (Greifswald): Untersuchung von Fahrtenbüchern vor dem Ersten Weltkrieg Stefanie Wilke (Wiesbaden): Der jugendbewegte Verlag in der Weimarer Republik Ulrike Ziller (Düsseldorf): Ursprünge der Jugendbewegung

Autorinnen und Autoren

Rüdiger Ahrens, M. A., Jg. 1981, Historiker und Germanist, Dissertation über die bündische Jugend Hartmut Alphei, Jg. 1940, Studiendirektor i. R., Veröffentlichungen zur Geschichte reformpädagogischer Schulen und zur Jugendbewegung Günter C. Behrmann, Prof. Dr., Jg. 1941, Professor für Didaktik der politischen Bildung, 1975 – 1993 Universität Osnabrück/Abt. Vechta, 1993 – 2009 Universität Potsdam; Veröffentlichungen zur politischen Sozialisation, politischen und historischen Bildung, politischen Kultur, Wissenschafts- und Bildungsgeschichte Knut Bergbauer, Jg. 1962, Sozialpädagoge, Promotionsstudent an der Bergischen Universität Wuppertal; Veröffentlichungen zur jüdischen Jugendbewegung, Widerstand im NS, Arbeiterbewegung Helmut Donat, Jg. 1947, Autor und Verleger, Gründer und Inhaber des DonatVerlag ausgehend vom Nachdruck der Schriften Hans Paasches (1881 – 1920) seit 1981 Roland Eckert, Prof. Dr. em., Jg. 1937, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Trier ; Forschungen und Veröffentlichungen zu Jugendcliquen, Schule, Konflikt und Gewalt, Extremismus Gudrun Fiedler, Dr. phil., Jg. 1956, Archivdirektorin, Leiterin des Niedersächsischen Landesarchivs – Standort Stade –; Veröffentlichungen zur Niedersächsischen Landes- und Regionalgeschichte 18. – 20. Jh., zur niedersächsischen Wirtschaftsgeschichte und zur Geschichte der Jugendbewegung

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Autorinnen und Autoren

Hans Heintze, Jg. 1940, bis 2005 Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, Mitglied des Mindener Kreises Romin Heß, Jg. 1947, Gymnasiallehrer für Geschichte, Politikwissenschaft und Deutsch in Nürnberg; Mitglied und Leitungsfunktionen in dj.1.11 bis in die 1990er-Jahre Susanne Heyn, M. A., Jg. 1974, Historikerin, Studium der Geschichte und Anglistik an den Universitäten Hannover und Bristol; Dissertation zum Thema »Jugend in der Weimarer Republik im Spannungsfeld von Kolonialrevisionismus und Kolonialkritik« Eckard Holler, Jg. 1941, Gymnasiallehrer i. R.; Publikationen zur Jungenschaftsgeschichte und zur Biographie von Eberhard Koebel-tusk Arno Klönne, Prof. Dr., Jg. 1931, Sozialwissenschaftler, em. Professor der Universität Paderborn; Veröffentlichungen zur Geschichte sozialer Bewegungen, zu Politik und Gesellschaft in der Bundesrepublik und zu geopolitischen Themen Oskar Kröher gen. Oss, Jg. 1927, Volkssänger und Liedermacher ; Autobiographie in drei Bänden (2007 – 2013) Erdmann Linde, Jg. 1943, Stahlbauschlosser, Abitur auf dem 2. Bildungsweg, VHS-Leiter, MdEP 1979 – 1982, Journalist, WDR-Studioleiter in Dortmund bis 2006 Elisabeth Meyer, Jg. 1964, Diplom-Sozialpädagogin, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Historische und Vergleichende Pädagogik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Kristian Meyer, Jg. 1978, Historiker und Germanist, Doktorand an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg Johann P. Moyzes, Jg. 1936, Dipl.-Pädagoge, Realschullehrer i. R., Lehr- und Forschungstätigkeit u. a. an der Universität Oldenburg; langjähriges ehrenamtliches Engagement für die Geschichte, Dokumentation und Archivarbeit zur Pfadfinderbewegung Yorck-Philipp Müller-Dieckert, Jg. 1976, Diplom-Politikwissenschaftler ; Dissertation zum Thema »Der konservative Teil der politischen Ökologie. Die ÖDP in ihrer Doppelrolle als Teil des Parteiensystems und der Ökologiebewegung«

Autorinnen und Autoren

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Gerhard Neudorf (1934 – 2014), Studienrat, langjährige Tätigkeit im Wandervogel Deutscher Bund; Herausgeber der Zeitschrift »Idee und Bewegung« Simon Nußbruch M. A., Jg. 1977, Orchestermusiker und Musikwissenschaftler ; Dissertation zum Thema »Musik der Bündischen Jugend nach 1945« Susanne Rappe-Weber, Dr. phil., Jg. 1966, Historikerin und Archivarin, Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Veröffentlichungen zur niedersächsischen und hessischen Regional- und Landesgeschichte sowie zur Geschichte der Jugendbewegung Jürgen Reulecke, Prof. Dr., Jg. 1940, 2003 – 2007 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Gießen, vorher Universität Siegen; Forschungen und Veröffentlichungen u. a. zur Stadt- und Urbanisierungsgeschichte, zur Geschichte von Sozialpolitik und Sozialreform, zur Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert Franz Riemer, Prof. Dr., Jg. 1953, Professor für Musik und ihre Didaktik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover; Veröffentlichungen zu musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Fragestellungen Renate Rosenau, Jg. 1941, früher : Engagement im Bund deutsche reformjugend, 1966 – 2004 Lehrerin an Berufsbildenden Schulen ; Arbeitsgebiete: Regionalgeschichte Rheinhessen, insbesondere jüdische Geschichte und Geschichte des Nationalsozialismus (Zwangssterilistaionen, Krankenmorde) Fritz Schmidt, Jg. 1936, Schriftsetzer und Korrektor ; Forschungen und Veröffentlichungen zur Geschichte der Jugendbewegung, insbesondere zur Geschichte der Jungenschaften Norbert Schwarte, Prof. Dr. phil., Jg. 1944, zuletzt Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an der Universität Siegen; Forschungen und Veröffentlichungen zur sozialen Rehabilitation von Menschen mit Behinderung, zu Konzepten der Jugend- und Behindertenhilfe, zur Sozialpolitik und Versorgungsforschung sowie zur Jugendgeschichte und Geschichte der Sozialpädagogik Kay Schweigmann-Greve, Dr. phil., Jg. 1962, Jurist und Historiker ; Veröffentlichungen zur Geschichte der Jugend- und der Arbeiterbewegung sowie zur Philosophiegeschichte

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Autorinnen und Autoren

Alexander Schwitanski, Dr. phil., Jg. 1971, Leiter des Archivs für soziale Bewegungen im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Bochum Detlef Siegfried, Prof. Dr. phil. habil., Jg. 1958, Historiker, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen; Veröffentlichungen zur Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts Barbara Stambolis, Prof. Dr., Jg. 1952, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn; Forschungsfelder und Veröffentlichungen u. a.: Geschichte der Jugendbewegung, Generationengeschichte, Adoleszenz im 20. Jahrhundert, kollektivbiographische Studien, Kriegskindheiten im Zweiten Weltkrieg David Templin M. A., Jg. 1983, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH); Dissertation zum Thema »Jugendliche Freizeiträume und der Wandel staatlicher Jugendpolitik. Die Jugendzentrumsbewegung und kommunalpolitische Konflikte um selbstverwaltete Jugendzentren in der Bundesrepublik der 1970er Jahre« Hans-Ulrich Thamer, Prof. Dr., Jg. 1943, em. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster ; Forschungsschwerpunkte: Französische Revolution, Geschichte des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus, Politische Rituale und symbolische Kommunikation in der Moderne, Kulturgeschichte von Museen und Ausstellungen