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German Pages 414 [416] Year 1995
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer u. a. Kollektiv und Eigensinn
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer, Martin Diewald, Heike Solga, Annemette S0rensen, Heike Trappe
Kollektiv und Eigensinn Lebensverläufe in der DDR und danach
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Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kollektiv und Eigensinn : Lebensverläufe in der DDR und danach / Johannes Huinink... - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002807-6 NE: Huinink, Johannes
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: Doris Gampig Druck und Bindung: GAM Media GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Johannes Huinink und Karl Ulrich Mayer Einleitung
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Johannes Huinink Individuum und Gesellschaft in der DDR Theoretische Ausgangspunkte einer Rekonstruktion der DDR-Gesellschaft in den Lebensverläufen ihrer Bürger
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Heike Solga Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR: Anspruch und Wirklichkeit des Postulats sozialer Gleichheit
45
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe Staatliche Lenkung und individuelle Karrierechancen: Bildungs- und Berufsverläufe
89
Johannes Huinink und Michael Wagner Partnerschaft, Ehe und Familie in der DDR
145
Annemette S0rensen und Heike Trappe Frauen und Männer: Gleichberechtigung - Gleichstellung - Gleichheit?
189
6
Martin Diewald „Kollektiv", „Vitamin B" oder „Nische"? Persönliche Netzwerke in der DDR
223
Martin Diewald und Heike Solga Soziale Ungleichheiten in der DDR: Die feinen, aber deutlichen Unterschiede am Vorabend der Wende
261
Martin Diewald, Johannes Huinink, Heike Solga und Annemette S0rensen Umbrüche und Kontinuitäten Lebensverläufe und die Veränderung von Lebensbedingungen seit 1989
307
Karl Ulrich Mayer Kollektiv oder Eigensinn? Der Beitrag der Lebensverlaufsforschung zur theoretischen Deutung der DDR-Gesellschaft
349
Literaturverzeichnis
375
Anhang
397
Personenregister
407
Johannes Huinink und Karl Ulrich Mayer
Einleitung
Die Deutsche Demokratische Republik existiert nicht mehr. Seit mehr als fünf Jahren vollzieht sich in Ostdeutschland ein radikaler gesellschaftlicher Wandel, der sich auf alle Lebensbereiche der Menschen auswirkt. Mit dem Zusammenbruch des SED-Staates ist ein Zustand weitgehender staatlicher Bevormundung und starker Eingriffe in die persönlichen Freiheitsräume der Menschen in Ostdeutschland verschwunden. Gleichzeitig hat das Ende der DDR für viele Menschen einen schwierigen Prozeß der Umorientierung in nahezu allen Bereichen ihres Lebens ausgelöst. Dieser Wandel hat für einen großen Teil der Bevölkerung zu Brüchen in ihren Lebensverläufen geführt, und er hat ihre Zukunftsperspektiven nachhaltig verändert. Die neue politische und ökonomische Ordnung in Ostdeutschland ist durch die Übernahme des westdeutschen Institutionengefüges gekennzeichnet (Mayer, 1991, 1993; Lehmbruch, 1993). Formal wird dieser Sachverhalt durch die Art und Weise der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bestätigt: Die DDR ist der BRD nach Art. 23 des Grundgesetzes beigetreten. Worin besteht das Erbe, das die DDR in das sich vereinigende Deutschland eingebracht hat? Die einen heben vor allem die desolate Wirtschaft, Schuldenberge und Folgelasten sowie die fortwirkende Stasi-Vergangenheit hervor. Andere betonen die wertvollen Kulturgüter Ostdeutschlands. Wieder andere nennen Orientierungsmuster und Wertvorstellungen in der Bevölkerung und einzelne gesellschaftliche Institutionen, die sich in der einen oder anderen Form bis heute erhalten haben. Vor allem aber darf man die Menschen selbst, mit ihren individuellen Erfahrungen, mit ihren erworbenen Fähigkeiten und ihren spezifischen Erwartungen nicht vergessen. Damit ist die Frage nach den Lebensverläufen dieser Menschen gestellt und danach, wie sich ihr Leben in den verschiedenen historischen Phasen der DDR unter jeweils spezifischen sozialen und politischen Rahmenbedingungen gestaltet hat. In welchem Ausmaß waren ihre beruflichen und familiären Laufbahnen durch die gesellschaftlichen Vorgaben bestimmt? Welche Selbstverständlichkeiten prägten ihr Leben. Zu dem Erbe gehört auch, daß die Menschen in der DDR selber maßgeblich dazu beigetragen haben, die Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse in Ostdeutschland herbeizuführen. Läßt sich der Zusammen-
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Einleitung
bruch des DDR-Systems auch aus seiner internen Entwicklung erklären (Hirschman, 1992; Mayer und Huinink, 1993; Mayer und Solga, 1994)? In dem vorliegenden Band beschreiben und vergleichen wir die Lebensverläufe von Männern und Frauen verschiedener Geburtsjahrgänge bis Mitte des Jahres 1993 im Kontext der historischen Entwicklung der DDR. Wir folgen dabei dem quantitativen Verfahren der Lebensverlaufsforschung (Mayer, 1990) als einem Instrument zur Rekonstruktion der Sozialstruktur und stützen uns auf eine retrospektiv angelegte empirische Erhebung zur Erforschung von mehr als 2.300 Lebensverläufen in der ehemaligen DDR, die am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin, durchgeführt worden ist (Huinink, 1992). Die Lebensverlaufsforschung ist eine spezifische Form der Sozialstrukturanalyse. Sie zielt darauf ab, gesamtgesellschaftliche Strukturen und Institutionen sowie den historischen Wandel auf der Grundlage von repräsentativen Daten über die Lebenslagen und die Lebensgeschichten von Personen bestimmter Geburtskohorten zu untersuchen, insbesondere die Erwerbs- und Berufsverläufe und die Familienbiographien. Die Lebensverlaufsforschung teilt mit der Biographieforschung das Interesse an der retrospektiven Rekonstruktion von Gesellschaftsgeschichte aus der Lebensgeschichte. Anstelle des Schwergewichts auf der subjektiv deutenden Fallinterpretation konzentriert sie sich aber auf die Analyse quantitativ nachvollziehbarer Verteilungen und Zusammenhänge in deskriptiver und erklärender Absicht (Mayer und Tuma, 1990). Aus dieser spezifischen Perspektive und Methodik ergeben sich besondere Forschungschancen, aber auch Begrenzungen. Die Chancen liegen zum Beispiel in der Aufdeckung von Prägungen empirischer Regelmäßigkeiten in den (kollektiven) Lebensverläufen von Frauen und Männern durch institutionelle und historische Bedingungen sowie die Untersuchung von Folgewirkungen zeitlich früher Einflüsse auf die spätere Lebensgeschichte. Die Lebensbereiche des Berufs und der Familie eignen sich für eine solche Vorgehensweise besonders gut. Andere Bereiche, wie zum Beispiel diejenigen von sozialen Netzwerken und Sozialbeziehungen, dem Haushaltsalltag, von Werten und Einstellungen, die Motive von Entscheidungsfindungen oder Handlungen kollektiver Akteure, berücksichtigen wir zwar auch verstärkt. Sie stehen aber nicht im Zentrum des empirischen Erhebungsprogramms. Wir verstehen unsere Arbeiten daher nicht als eine Alternative, sondern als eine wichtige und einzigartige Ergänzung etwa zu den institutionen- und quellenbezogenen Arbeiten zur Sozialgeschichte der DDR (Staritz, 1985; Belwe, 1989; Kocka und Sabrow, 1994; Kaelble, Kocka und Zwahr, 1994), der politikwissenschaftlichen Systemforschung (Meuschel, 1992), zu den Arbeiten in den Traditionen der „oral history" und Biographieforschung (Niethammer, von Plato und Wierling, 1991), der Industriesoziologie (Deppe und Hoß, 1989) sowie der Einstellungsforschung (Zapf, 1994b). Von der Deutschland- und DDR-Forschung aus der Zeit vor und nach der Wende (Ludz, 1964; Pollack, 1993b; Schröder und Staadt, 1993; Glaeßner, 1993) unterscheiden wir uns nicht nur durch das Privileg des direkten Zugangs zu den Menschen, sondern auch durch eine politisch weni-
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ger selektive und vorbelastete Sichtweise. Dies öffnet einen Freiraum für soziologische Analysen insbesondere des Verhältnisses zwischen der DDR-Gesellschaft und ihren Menschen, deren Ergebnis nicht präjudiziert wird. Was sind die zentralen Fragen, die uns in diesem Band im einzelnen interessieren und zu denen wir mit dem uns zur Verfügung stehenden Material Antworten geben wollen? Wir stellen zwei Leitfragen in den Vordergrund unserer theoretischen Betrachtungen und empirischen Analysen der Lebensverläufe in der DDRGesellschaft. Die erste Leitfrage thematisiert das besondere Verhältnis von Bevölkerung und Herrschaftssystem in der DDR: In welcher Weise wurden die Leben der Bürgerinnen und Bürger durch Staat und Partei reglementiert und gesteuert, und welche strukturellen Handlungsspielräume wurden Individuen eingeräumt bzw. welche Handlungsspielräume haben sie selbst bestimmt und durchgesetzt? Besonders interessiert uns hier also der Zusammenhang zwischen der individuellen Lebensgestaltung der Bürger der DDR in verschiedenen Lebensbereichen einschließlich der informellen Beziehungsstrukturen und den (sozial-)politischen Rahmenbedingungen. Die zweite Leitfrage befaßt sich mit der Eigenart und dem Gewicht von Strukturen sozialer Ungleichheit in der DDR-Gesellschaft. Nach dem eigenen Anspruch sollten in diesem System durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln antagonistische Klassenverhältnisse verschwinden. Es sollte eine größtmögliche Gleichheit von Lebensbedingungen und Chancen, auch zwischen Frauen und Männern, gesichert werden: Gab es in der DDR tatsächlich keine Klassenverhältnisse mehr? Wie groß war das Ausmaß sozioökonomischer Ungleichheiten, und worauf gründeten sie sich? Allgemein wird mit den hier aufgeworfenen Fragen also die Bedeutung der sozialen Herkunft und der gesellschaftlichen Position(ierung) unserer Befragten aus der ehemaligen DDR thematisiert. Unter verschiedenen Blickwinkeln wird der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit mit Mustern individueller Lebensverläufe in Arbeitswelt, Familie und Lebensalltag untersucht. Mit den Antworten auf diese Fragen sollten auch differenziertere Einblicke in die möglichen Gründe für die sogenannte Wende und den Zusammenbruch des politischen und ökonomischen Systems der DDR zu gewinnen sein. Es gilt die Frage zu beantworten, ob sich in den Lebensverläufen von Menschen unterschiedlichen Alters Anzeichen für interne Entwicklungen in der DDR finden lassen, die das Ende dieses Staates wenn nicht ausgelöst, so doch vorbereitet und befördert haben. Auch wenn es hier nicht schwerpunktmäßig behandelt wird, so soll doch beleuchtet werden, wie sich die Vereinigung auf die Lebensverläufe der Menschen in der DDR ausgewirkt hat. Dabei geht es auch um die Frage, ob und wie die Lebensverläufe in der DDR vor der Wende die Lebensverläufe nach der Wende bedingen. Ein allgemeines Ziel der Beiträge dieses Bandes ist es schließlich, im Sinne der vorangegangenen Überlegungen zu mehr Aufklärung über das Leben in der DDR beizutragen. Kaum anders kann man den Menschen in Ostdeutschland gerecht
Einleitung
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werden, kaum anders wird man in der Lage sein, sie verstehen zu lernen. Genau das ist aber eine der Voraussetzungen für einen gelingenden Integrationsprozeß in Deutschland. Man muß damit der Gefahr begegnen, allzu schnell zur Tagesordnung überzugehen, ohne die Situation in Ostdeutschland aus dessen jüngerer Geschichte heraus wirklich zu begreifen. Beobachtet man das Verhältnis von Westund Ostdeutschen, so drängt sich der Verdacht auf, daß es durch ein gerüttelt Maß an Unwissen, vereinfachende und belastende Vorurteile, schlichtes Unverständnis bis hin zu schadenfroher Verachtung geprägt ist. Man beobachtet, wie sich die Vorurteile der einen über die anderen heute noch halten oder gar hochschaukeln. Dieser Entwicklung hat die wissenschaftliche Diskussion um die DDR und ihren Menschen nicht hinreichend entgegengewirkt. Im Gegenteil, sie ist mitunter durch sozialwissenschaftliche Beiträge aus Ost und West genährt worden (vgl. Maaz, 1991). Auch das ist ein Anzeichen dafür, daß die Sozialwissenschaften noch weit davon entfernt sind, das Leben in der DDR empirisch soweit aufgearbeitet zu haben, daß durch politische Vorurteile geprägte Vereinfachungen und Stereotypisierungen weniger leicht aufrechterhalten werden können. Um einen besseren Eindruck von den empirischen Grundlagen der hier vorgestellten Forschungsergebnisse zu gewinnen, geben wir im folgenden Abschnitt einige Informationen zur Anlage der empirischen Studie. Wir begründen die Auswahl der von uns befragten Geburtsjahrgänge vor dem Hintergrund eines gängigen Phasenmodells der DDR-Geschichte und geben schließlich einen Überblick über die einzelnen Beiträge des Buches.
1.
Zur Anlage der empirischen Studie
1.1 Die Erhebung Die Studie „LebensVerläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR" ist gegen Ende 1990 am Forschungsbereich „Bildung, Arbeit und gesellschaftliche Entwicklung" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin begonnen worden. Sie wurde als eine weitere Phase in dem Projekt „Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel" konzipiert, das an diesem Institut unter Leitung von Karl Ulrich Mayer bis dahin allein auf der Basis der Erhebung von Lebensverläufen westdeutscher Männer und Frauen verschiedener Geburtsjahrgänge durchgeführt wurde (Mayer und Brückner, 1989; Brückner, 1993; Brückner und Mayer, 1995). Die Studie wurde von Johannes Huinink koordiniert und in wesentlichen Teilen konzipiert. Mitglieder der Projektgruppe für die DDR-Studie waren neben Johannes Huinink, Martin Diewald, Karl Ulrich Mayer, Annemette S0rensen, Heike Solga und Heike Trappe. Die beiden letzteren haben mit ihren Dissertationen (Solga, 1995a; Trappe, 1995b) und weit darüber hinaus wichtige Voraussetzungen für diese Untersuchung geleistet.
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Johannes Huinink und Karl Ulrich Mayer
Abbildung 1: Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel I
I
1959-61
„DDR"-Studie
1951-53 1939—41 1929-31
1959-61
BRD-Studien
1954-56 1949-51 1939-41 1929-31 1919-21
1910
1920
1930
1940
1950
1960
1970
1980
1990
Nach einer nahezu einjährigen Vorbereitungsphase, in deren Verlauf zwei Pilotstudien durchgeführt wurden, wurden in Zusammenarbeit mit infas, BonnBad Godesberg, deutsche Bewohner der ehemaligen DDR aus den Geburtsjahrgängen 1929-31, 1939-41, 1951-53 und 1959-61 ausführlich zu ihrem bisherigen Lebensverlauf befragt 1 . Die Grundgesamtheit ist die deutsche Wohnbevölkerung in diesen Kohorten, die Anfang Oktober 1990 in Ostdeutschland lebte. Die Stichprobe ist eine zufallsgesteuerte Personenstichprobe aus dem Zentralen Einwohnermelderegister der DDR. Die Erhebung dauerte von September 1991 bis Oktober 1992. Die Zahl der realisierten Fälle der Studie beträgt 2.331. Für die Studien zu diesem Band konnten aus technischen Gründen nur 2.323 Fälle berücksichtigt werden. Die Ausschöpfungsquote der Stichprobe betrug 53 Prozent (Hess und Smid, 1995)2. Im Juli 1993 führten wir bei denjenigen, die sich dazu bereit
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Detailliertere Angaben zur Durchführung der Untersuchung finden sich im Methodenbericht von infas (Hess und Smid, 1995). Sie liegt damit auf dem Niveau vergleichbarer Studien, was um so bemerkenswerter ist, als sich die Feldbedingungen vor allem in der zweiten Hälfte des Erhebungszeitraums - vermutlich aufgrund der aufkommenden Stasi-Diskussion - relativ schwierig gestalteten (Hess und Smid, 1995, S. 20).
Einleitung
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erklärt hatten, eine schriftliche Nachbefragung durch. Realisiert wurden hier 1.254 Interviews, was bezogen auf die Teilstichprobe, an die die Fragebögen verschickt wurden, einen Ausschöpfungsgrad von 62 Prozent bedeutete. Zur Frage der Selektivität der beiden realisierten Stichproben finden sich in den einzelnen Kapiteln jeweils einige Hinweise bezogen auf die dort behandelten Inhalte. Insgesamt können wir größere systematische Selektivitäten bezogen auf die Inklusionswahrscheinlichkeit von Zielpersonen in die realisierte Stichprobe ausschließen, zumindest bezogen auf uns interessierende inhaltliche Dimensionen 3 . Hierbei ist zu bedenken, daß die Stichprobe im Oktober 1990 gezogen wurde. Wir konnten also diejenigen, die in der ersten Phase der Ost-West-Migration zwischen Mitte 1989 und Oktober 1990 in die alte Bundesrepublik übergesiedelt sind, nicht mehr erreichen. Diejenigen, die nach dem Oktober 1990 verzogen waren, wurden nachverfolgt. Sie sind damit in der Stichprobe.
1.2 Die Lebensverlaufsdaten Die Zielpersonen wurden in persönlichen Interviews auf der Basis eines standardisierten Lebensverlaufsfragebogens befragt. Das Befragungsprogramm ist sehr umfangreich, so daß wir es hier nicht im Detail darlegen können. Die wichtigsten Module des Fragebogens der Hauptbefragung sind in Abbildung 2 abgebildet. Es gibt sechs unterschiedlich große Fragenkomplexe. Im ersten Teil werden Informationen über die Eltern und Geschwister der Zielpersonen erfragt. Dazu gehören vor allem die soziodemographischen Angaben und Informationen über die Ausbildungs- und Erwerbslaufbahn der Eltern. Der zweite Teil ist der Wohnungsund Haushaltsgeschichte der Befragten gewidmet. Auch Angaben zur Wohnsituation zum Zeitpunkt der Befragung sowie Fragen, wie man zum Beispiel zu seiner ersten eigenen Wohnung gekommen sei, gehören dazu. Im dritten Abschnitt des Fragebogens werden Schulabschlüsse und alle beruflichen Ausbildungsphasen erhoben. Unter anderem wird hier auch gefragt, welchen Berufswunsch man ursprünglich hatte und ob man ihn verwirklichen konnte. Im vierten, sehr umfangreichen Abschnitt geht es um detaillierte Angaben zur beruflichen Laufbahn. Dazu gehören eine lückenlose Auflistung der bisher ausgeübten beruflichen Tätigkeiten mit den entsprechenden Zeiträumen, Einkommensangaben und Informationen zum Betrieb, in dem die Zielpersonen jeweils tätig waren, wie Größe und Rechtsform. Besondere Aufmerksamkeit wird hier auch den Fragen zur Veränderung der Erwerbssituation nach dem Ende des Jahres 1989 gewidmet. Der fünfte Teil beschäftigt sich mit Partnerschaft, Kindern und Familie. Zusammen mit den Daten
3
Einige detailliertere Angaben dazu finden sich im Methodenbericht von infas (Hess und S m i d , 1995, S. 16 ff.).
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zur Haushaltsgeschichte läßt sich damit lückenlos darstellen, in welchen Lebensformen die Befragten im Laufe ihres Lebens bis zum Interviewzeitpunkt gelebt haben. Wir erfragen Angaben zur Erwerbsgeschichte des Partners bzw. der Partnerin der Zielperson. Schließlich sind auch einige Einstellungsitems zum Thema Partnerschaft und Elternschaft, so zum Beispiel zur innerfamilialen Arbeitsteilung, zur Qualität der Partnerschaftsbeziehung und zu Erziehungsfragen, aufgenommen worden. Im letzten Abschnitt geht es um Angaben zu sozialen Netzwerken und gegenseitigen Hilfeleistungen der Befragten, ihren Mitgliedschaften in politischen Organisationen, Informationen zu ihrer aktuellen Einkommens- und Vermögenssituation, Angaben zu Einstellungen bezüglich verschiedener sozialer und politischer Fragestellungen sowie zu den persönlichen Zukunftsperspektiven. In der Nachbefragung haben wir noch einmal Informationen zur derzeitigen beruflichen und familiären Situation und zum Wandel der sozialen Netzwerke der Befragten erhoben. Vor allem aber wurden einige psychologische Skalen zur Messung der Kontrollüberzeugung, der Kontrollstrategien und des Selbstwertgefühls verwendet. Gleichzeitig wurde hier, wie für die Lebensbereiche Arbeit und Familie schon in der Haupterhebung, noch einmal offen gefragt, wie die Befragten ihr bisheriges Leben beurteilten und wie sich aus ihrer Sicht ihr Leben nach der Wende entwickelt habe. Dieses umfangreiche Datenmaterial erlaubt differenzierte Zeitverlaufsanalysen menschlicher Schicksale in verschiedenen Geburtsjahrgängen während der verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte und darüber hinaus bis in die ersten Jahre nach der Wende.
2. Zur historischen Einbettung der ausgewählten Geburtsjahrgänge Wie „lagern" unsere Geburtsjahrgänge, auch Kohorten genannt, in der historischen Entwicklung der DDR? Die Auswahl der Jahrgänge, die wir befragt haben, war an den unterschiedlichen Phasen der DDR-Geschichte orientiert. Wir wollten wichtige Abschnitte in ihren Auswirkungen auf das Lebensschicksal von Menschen in der DDR adäquat abbilden können. Mit den verschiedenen Jahrgängen haben wir Teile der Bevölkerung erfaßt, die in sehr spezifischer Weise unterschiedliche historische Phasen der DDR miterlebt und mitgestaltet haben.
2.1 Eine historische Gliederung Wenn wir die DDR-Gesellschaft und die Hintergründe des Zusammenbruchs der SED-Herrschaft verstehen wollen, müssen wir uns genauer mit den historischen
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Entwicklungen der DDR vertraut machen. In den einzelnen Beiträgen des Buches werden zu den behandelten Fragestellungen differenzierte historische Überblicke gegeben. Sie werden auch im Detail zeigen, daß in der Tat die ausgewählten Jahrgänge sehr spezifisch in die Geschichte der DDR hineinpassen. Diese läßt sich in fünf unterschiedlich lange Zeitabschnitte unterteilen, deren letzter schließlich durch die Wende beendet wurde (Staritz, 1985; Belwe, 1989; Solga, 1994a). Die erste Phase, die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung" der unmittelbaren Nachkriegszeit, dauerte bis zur Gründung der DDR im Jahre 1949. Sie war durch tiefgreifende Veränderungen des politischen und ökonomischen Systems gekennzeichnet, die von der sowjetischen Besatzungsmacht mit dem Ziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft durchgesetzt wurden. Die zweite Phase, von 1950 bis 1961, umfaßte zunächst die Installierung des politischen Systems nach sowjetischem Muster unter Führung der SED, nach der vor allem im industriellen Sektor die Verstaatlichung der Produktion sehr weit fortgeschritten war. Unter der Losung „Schaffung der Grundlagen des Sozialismus" sollten dann die Entwürfe einer zentral gelenkten sozialistischen Gesellschaft, nicht ohne kritische Auseinandersetzung in Folge des politischen Wandels in der UdSSR in der nachstalinistischen Ära, umgesetzt werden. Dazu gehörten die Gründung und der Ausbau zahlreicher Institutionen und Massenorganisationen, soweit das nicht schon vor der Gründung der DDR erfolgt war. Der Beginn des Umbaus des Bildungssystems fiel ebenso in diese Zeit wie weitere Maßnahmen zur Entprivatisierung und Kollektivierung der Industrie, des Handwerks (PGH) und der Landwirtschaft (LPG), der Aufbau der Nationalen Volksarmee und der Ausbau der vertraglichen Bindungen an die UdSSR und der Beitritt zum Warschauer Pakt (1955). Die DDR war in dieser Zeit ständig von einer erheblichen Abwanderung vornehmlich qualifizierter Menschen und der bürgerlichen Bevölkerungsteile betroffen. Sie sahen ihre individuellen Chancen in dem westlichen Teilstaat Deutschlands eher zu verwirklichen und wollten der staatlichen Propaganda mit ihrer Bemühung um eine Erziehung zu einer „sozialistischen" Wertorientierung nicht folgen. Diesem Flüchtlingsstrom wurde mit dem Bau der Mauer 1961 ein Ende gesetzt. Die dritte Phase, die „Periode der Stabilisierung des Sozialismus" von 1961 bis 1971, war gleichzeitig durch eine Konsolidierung des Systems und eine (zwischenzeitliche) Umorientierung in der Wirtschaftspolitik gekennzeichnet. Mit dem Ziel der Steigerung der ökonomischen Effizienz wurde mit Einführung des „Neuen Ökonomischen Systems" (VI. Parteitag, 1963) eine partielle Dezentralisierung der Entscheidungs- und Planungsstrukturen in der Wirtschaft angestrebt. Gleichzeitig wurde eine neue Qualifizierungsoffensive (Bedeutung der „wissenschaftlich-technischen Revolution") gestartet, die zu einem starken Anstieg der Studentenzahlen führte. In dieser Phase wurde auch der Aufbau des DDR-Bildungssystems abgeschlossen (1965). Die vierte Phase, nach dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse ", begann 1971 mit Honeckers Machtübernahme und reicht bis zum Ende der
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Einleitung
1970er Jahre. Es kam zu einer deutlichen Veränderung der wirtschaftspolitischen Linie: Die Wirtschaft wurde wieder straffer auf eine zentrale Planungsstruktur hin organisiert. Ausdruck dieser Politik war die Bildung der Kombinate, also umfassender Wirtschaftseinheiten, die seit Ende der 1970er Jahre die ökonomische Struktur der DDR beherrschten. Der Zugang zu höheren Ausbildungsgängen mit dem Ziel einer Rückführung der Studentenzahlen wurde seit Anfang der 1970er Jahre wieder eingeschränkt. Die Orientierung auf die Sicherung allgemeinen Wohlstands wurde aber weiterverfolgt. Das schlug sich in der „Hauptaufgabe" der „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik" (VIII. Parteitag, 1971) nieder. Sie folgte dem Ziel, daß die staatlichen Leistungen immer mit der ökonomischen Leistungsfähigkeit abgestimmt sein sollten. Es wurde zum Beispiel ein ehrgeiziges Wohnungsbauprogramm aufgelegt, das einen enormen Finanzierungsaufwand erforderte. Gleichzeitig versuchte man dem sich zu Beginn der 1970er Jahre beschleunigenden Rückgang der Geburtenzahlen mit einem extensiven Ausbau der familien- und sozialpolitischen Leistungen zu begegnen. Seit Ende der 1970er Jahre deuteten sich die Grenzen der Leistungsfähigkeit des ökonomischen Potentials zur Einlösung des auch für die Folgezeit bestätigten Programms der Einheit von Sozialund Wirtschaftspolitik an. Die erwarteten Erfolge dieser Politik blieben letztlich aus. Die außenpolitischen Erfolge und die Entspannung des Verhältnisses zur Bundesrepublik brachten der DDR als Staat jedoch eine größere internationale Anerkennung. Die fünfte Phase, die vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der DDR reicht, läßt sich als die Phase der Stagnation bezeichnen. Die Widersprüche zwischen Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit nahmen zu. In dem Maße, wie die Unzulänglichkeit einer monolithischen Planung für die Aufgaben einer modernen Gesellschaft immer offenkundiger wurde, wie diese Planung alle Flexibilisierungsversuche untergrub, verstärkte sich der „Druck aus der Gesellschaft" (Glaeßner, 1993, S. 84), der den radikalen Wandel im Jahre 1989 schließlich herbeiführte. In dieser Zeit hatte sich ein zunehmend prekäres Spannungsverhältnis zwischen Bevölkerung und Staat entwickelt. Die stabilisierende Wirkung der informellen Sphäre begann - war der Grad individuellen Selbstbewußtseins der Bürger im Zusammenhang damit erst angestiegen - in einen kritischen Widerspruch zwischen individuellen Ansprüchen an gesellschaftliche Wirklichkeit und dem Willen und den Möglichkeiten der Staatsführung überzugehen. So baute sich gleichsam ein immer stärkerer „Wandlungsdruck" (Mobilisierung) auf, der wegen der (weit-politischen Situation und der starren Machtposition der SED nicht entladen werden konnte. Die innovative Aufnahme der kritischen Ansätze, die Erneuerung der Ökonomie war seitens der Machtelite nicht möglich, ohne grundlegende Prinzipien der herrschenden Ideologie zu verraten und sich selbst zur Disposition zu stellen. Der „Wandlungswiderstand" war daher sehr hoch. Mehr noch, viele Regelungen und der Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit hatten das Ziel, potentiell systemgefährdende Entwicklungen in
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der Bevölkerung möglichst schon im Ansatz zu ersticken. Die „Gleichschaltung" aller öffentlichen Teile und partiell auch der privaten Sphäre in der DDR-Gesellschaft war ein entscheidendes Strukturprinzip, das die Radikalität des Umbruchs begünstigte oder erst möglich machte: Mit dieser Gleichschaltung war die Gleichzeitigkeit der strukturellen Probleme in verschiedenen Teilen der politischen und gesellschaftlichen Strukturen angelegt.
2.2 Die Auswahl der Geburtsjahrgänge Der Kohortenvergleich, also der Vergleich der Lebensverläufe der unterschiedlichen Geburtsjahrgänge, die wir befragt haben, bildet eine wesentliche Grundlage unserer Analysestrategie. Wir haben in der Studie nicht eine kontinuierliche Abfolge von Altergsgruppen gewählt, sondern uns auf bestimmte Geburtsjahrgänge konzentriert 4 . Daher war es wichtig, Geburtskohorten auszuwählen, mit deren Hilfe die historische Entwicklung der DDR angemessen und effizient widergespiegelt werden kann 5 . Wir wollen an dieser Stelle in einer kurzen Darstellung die Auswahl der Kohorten begründen und sie in den historischen Rahmen des vorhergehenden Abschnitts einordnen. Sehr viel ausführlicher wird das in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes erfolgen. Die Angehörigen der Jahrgänge 1929-31 haben ihre Sozialisation während des Nationalsozialismus in Deutschland erlebt. Sie begannen ihre Ausbildungsund Berufskarriere in der sich von den Westzonen absetzenden Ostzone Deutschlands. Zunächst waren die bildungsspezifischen Strukturen noch mit dem Westteil des Landes vergleichbar 6 . Die „kritische" Lebensphase des Übergangs ins Erwachsenenalter traf bei diesen Jahrgängen aber gerade mit der Einrichtung der unterschiedlichen Systeme in Ost und West zusammen. In der Entwicklung der DDR spielten diese Jahrgänge zudem eine spezielle Rolle, stellten sie doch den jüngeren Teil der aktiven, „staatstragenden" Personengruppe der Aufbaugeneration dar. Zum Zeitpunkt der Wende waren die Mitglieder dieser Kohorten zwischen 58 und 60 Jahren alt. Sie wurden von diesem radikalen Wandel in der Weise betroffen, daß sie, im wesentlichen durch die Überführung in den Vörruhestand, fast vollständig aus dem sich neu entwickelnden Arbeitsmarkt in Ostdeutschland herausgedrängt wurden. Die Jahrgänge 1939-41 gehörten zu den ersten Kohorten, die ihren Bildungsweg vollständig im DDR-System durchliefen. Der überwiegende Teil der Mitglie-
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Z u r B e g r ü n d u n g dieser Strategie siehe M a y e r und Huinink (1990).
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Gleichzeitig haben wir versucht, die in der westdeutschen Lebensverlaufsstudie ausgewählten Geburtskohorten soweit wie sinnvoll zu parallelisieren. Dieser Sachverhalt m a c h t die Kohorten unter Vergleichsgesichtspunkten besonders interessant.
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der dieser Kohorte beendete die Bildungs- bzw. Ausbildungsphase kurz vor dem Mauerbau 1961. Damit gehörte sie zu den ersten Kohorten, die nicht direkt durch die starken Auswanderungsbewegungen betroffen waren. Die Auswanderungswelle der 1950er Jahre hatten sie als junge Menschen miterlebt und erfahren. Für diejenigen, die nicht mit ihren Eltern die DDR verlassen hatten, war nach Abschluß ihrer Ausbildungsphase eine Übersiedlung in den Westen nicht mehr möglich. Die erste Phase ihrer Erwerbskarriere fiel in die Zeit der deutlichen ökonomischen Umorientierung in der DDR, die mit der Einführung des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) verbunden war. Es ist daher interessant zu studieren, inwieweit dieser Wandel der staatlichen Politik in den individuellen Lebensverläufen dieser Kohorte ihren Niederschlag fand. Das Alter der Mitglieder dieser Kohorte betrug zur Zeit der Wende durchschnittlich zwischen 48 und 50 Jahren, sie hatten also prinzipiell noch etwa ein Jahrzehnt der Erwerbstätigkeit vor sich. Die Jahrgänge 1951-53 absolvierten ihre Schulzeit schon weitgehend im seit 1965 abschließend neu organisierten Bildungssystem der DDR und beendeten sie gegen Beginn der Honecker-Ära. Der Zugang zu den höheren Ausbildungsgängen stand diesen Kohorten gerade noch relativ weit offen. Der Start ihrer beruflichen Laufbahn fiel in die Zeit der Rezentralisierung der Wirtschaft, nachdem mit Honecker die Liberalisierungstendenzen der 1960er Jahre (NÖS) ihr Ende gefunden hatten. Diese Kohorten hatten einen großen Anteil an dem starken Geburtenrückgang in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, der vor allem durch einen nur zeitweiligen Verzicht auf Kinder bedingt war. Die Mitglieder dieser Kohorte weisen daher eine besonders große Heterogenität im Alter bei der Geburt ihrer Kinder auf 7 . Die Frauen und Männer dieser Kohorte waren zur Wendezeit etwa 36 bis 38 Jahre alt. Die jüngste der ausgewählten Kohorten, die. Jahrgänge 1959-61, erlebten ihre Ausbildungsphase in den 1970er Jahren. Ihre Mitglieder waren daher schon voll von den Zugangsbeschränkungen zu höheren Ausbildungsgängen betroffen. Sie starteten ihre berufliche Karriere überwiegend gegen Ende der 1970er Jahre, der die Zeit der ökonomischen Stagnation folgte. Diese Kohorte war an einem deutlichen Wandel im Familienverhalten beteiligt, der in den 1980er Jahren offenkundig wurde. Dazu gehörten der Anstieg des zuvor immer sehr niedrigen Heiratsalters und eine beträchtliche Zunahme der Nichtehelichenquote sowie der Scheidungshäufigkeit. Das Alter der Mitglieder dieser Kohorte betrug zur Zeit der Wende 28 bis 30 Jahre.
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Vor allem dieser Tatsache ist geschuldet, daß wir mit der Auswahl dieser Kohorte vom ZehnJahres-Abstand der Geburtsjahrgänge abweichen.
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3. Überblick über die Beiträge des Bandes Abschließend geben wir einen Überblick über die einzelnen Beiträge dieses Bandes. Die Autoren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ehemaligen DDR und der alten BRD, haben im Rahmen des Projekts „Lebensverläufe und historischer Wandel in der DDR" eng miteinander zusammengearbeitet. In zahlreichen gemeinsamen Diskussionen der Manuskripte haben wir Standpunkte und Erkenntnisse, kritische Kommentare und Hinweise ausgetauscht. Dazu gehörte auch eine fruchtbare und konstruktive Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Perspektiven der Ost- und Westwissenschaftler, die bei allen Autoren zu einer veränderten Sichtweise der DDR-Gesellschaft beigetragen hat. Wir denken, daß sich das auch in den Aufsätzen dieses Bandes niederschlägt. Im ersten Kapitel nach dieser Einleitung stellt Johannes Huinink unter Rückgriff auf verschiedene Diskussionsbeiträge zur theoretischen Rekonstruktion des DDR-Systems Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der DDR an. Er begründet die These, daß in der DDR ein modernes Verständnis des Individuums als selbstverantwortlichem Akteur gegolten habe und daß dieser Sachverhalt auch das Selbstverständnis der Menschen bestimmt habe. Er stellt dann einen Bezug zu den beiden Schwerpunktfragen dieses Bandes her, also zur Frage nach dem Ausmaß und der Bedeutung sozialer Ungleichheit in der DDR und zur Frage nach den Handlungsspielräumen und -Strategien der Bürger. Es wird zum einen argumentiert, daß man auch in der DDR, trotz der unbestreitbaren Nivellierungstendenzen und dem alles dominierenden Machtgefälle zwischen Staat und Staatsvolk, Unterschieden in der sozialen Lage der Bevölkerung nachspüren sollte, die sich als Momente sozialer Ungleichheit interpretieren ließen. Die zentrale These lautet im weiteren, daß in der DDR eine Form von individuellen Verhaltensstrategien kultiviert worden sei, die sich als gemeinschaftliches Trittbrettfahrer-Verhalten beschreiben läßt. Damit ist der listig-instrumentelle Umgang mit einem System gemeint, das in seinen Grundfesten über lange Zeit nicht zu erschüttern war und dennoch, hochverstrickt in seinem Monomacht- und Fürsorgeanspruch, immer mehr in Distanz zum Staatsvolk geriet. Einen interessanten Vorschlag zu einer differenzierten Betrachtungsweise der DDR-Sozialstruktur präsentiert Heike Solga, indem sie eine klassentheoretische Rekonstruktion der DDR-Gesellschaft präsentiert. Als Kriterien für die Abgrenzung unterschiedlicher Klassenlagen wählt sie das Ausmaß an politischer, ökonomischer und technokratischer Verfügungsgewalt von Individuen, also das Ausmaß ihrer Kontrolle über verschiedene Formen strategischer Ressourcen. Sie untersucht die Veränderungen der Muster intergenerationaler Mobilität in der DDR im Rahmen ihres Klassenmodells. Danach haben Nachkommen aus Elternhäusern in einer privilegierten Klassenlage (Dienstklasse) zu jedem Zeitpunkt der DDRGeschichte Vorteile genossen, selbst in die sozialistische Dienstklasse zu gelangen, auch wenn Arbeiterkinder in den Anfangsjahren relativ gute Chancen hatten,
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Einleitung
in höhere Klassenlagen aufzusteigen. Mittels eines Kohortenvergleichs wird gezeigt, daß sich das Ausmaß der sozialen Schließung der sozialistischen Dienstklasse seit den 1970er Jahren beträchtlich vergrößert hat, und erläutert, welche Veränderungen in den Allokationskriterien für den Zugang zu dieser Klasse dafür verantwortlich waren. Diesen klassentheoretischen Untersuchungen zur Generationenmobilität wird im Beitrag von Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe eine differenzierte Analyse der Ausbildungs- und Erwerbsverläufe der befragten Geburtsjahrgänge an die Seite gestellt. Die Autoren entwickeln Hypothesen darüber, wie die Beschäftigungsstruktur in der DDR als das Ergebnis einer Ausbildungs- und Arbeitskräfteplanung ausgesehen haben müßte, die dem offiziellen Anspruch auf Verwirklichung von Chancengleichheit und dem Gebot volkswirtschaftlicher Effizienz genügen sollte. Faktisch haben sich die Ausbildungs- und Beschäftigungsstrukturen im Vergleich der Kohorten stark verändert, konnten aber zu keinem Zeitpunkt den planerischen Ansprüchen gerecht werden. So muß die These, wonach man es in der DDR mit einer durchorganisierten, homogenen und durch geringe berufliche und zwischenbetriebliche Mobilität gekennzeichneten Beschäftigungsstruktur zu tun gehabt habe, verworfen werden. Nicht nur die intergenerationalen Mobilitätschancen, wie Heike Solga berichtet, sondern auch die Karrierechancen der Frauen und Männer nach dem Eintritt ins Berufsleben waren zudem sozial hochgradig selektiv und kaum mit dem ideologischen Anspruch auf Chancengleichheit in Einklang zu bringen. Johannes Huinink und Michael Wagner können mit ihren detaillierten soziodemographischen Analysen der Familienentwicklung und -auflösung die These von der hohen lebensverlaufsspezifischen Bedeutung familialer Lebensformen in der DDR bestätigen. Erwachsene, ob mit oder ohne Kinder, lebten hier bis zuletzt und trotz der hohen Scheidungsraten nur zu einem geringen Anteil allein. Ein zentrales Ergebnis des Beitrags ist, daß sich die individuellen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Familiengründung und -auflösung in hohem Maße als Reaktionen auf die je spezifischen sozialpolitischen Rahmenbedingungen begründen lassen. Das führte vielfach auch zu politisch nicht beabsichtigten Phänomenen, wie etwa die stark steigende Zahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit Kindern. Jeder konnte und wollte früh eine Familie gründen, unabhängig davon, ob man erwerbstätig war oder sich in einer Ausbildung befand, materiell gut oder schlecht gestellt war. Fehlentscheidungen bei der Partnerwahl konnten relativ problemlos korrigiert werden, da die Ehescheidung mit geringen Kosten verbunden war. Die Analysen zeigen, daß sich das Scheidungsrisiko von Frühehen bei Ehejahrgängen ab Mitte der 1960er Jahre deutlich erhöhte. Unterschiede zwischen verschiedenen sozialstrukturellen Gruppen ließen sich kaum nachweisen, wohingegen Faktoren, von denen man annehmen kann, daß sie Werte, Einstellungen und Ansprüche an die Ehe beeinflussen, wie Erfahrungen im Elternhaus und die Religionszugehörigkeit, auch in der DDR bedeutsam blieben.
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Annemette Sfirensen und Heike Trappe gehen im nachfolgenden Beitrag den deutlichen Spuren der sozialen Ungleichheit zwischen Frauen und Männern in der DDR nach. Danach stellte das Geschlecht auch hier eine zentrale Ungleichheitsdimension dar. Die ideologischen Ansprüche des Staates bezogen auf die soziale Gleichstellung der Frauen wurden nicht erfüllt. Die Autorinnen geben zunächst eine ausführliche Einführung in die institutionellen Rahmenbedingungen der Situation der Frauen in der DDR. Sie wenden sich dann der Frage zu, welche faktischen Konsequenzen die staatliche Politik hatte. Frauen waren danach voll in den Erwerbsprozeß integriert und ihre Qualifikationschancen glichen sich denjenigen der Männer an. Es waren aber die Frauen, die überproportional von der Zunahme unterqualifizierter Beschäftigung während der 1980er Jahre betroffen waren. Frauen erhielten auch zu allen Zeiten der DDR-Geschichte ein geringeres Einkommen als Männer. Sie stellten innerhalb einer hochgradig geschlechtsspezifisch segregierten Wirtschaft in denjenigen Bereichen die Mehrheit der Arbeitskräfte, in denen die niedrigeren Löhne gezahlt wurden. Bemerkenswerterweise verdienten Frauen im Mittel aber auch dann noch weniger als ihre männlichen Kollegen, wenn sie ein vergleichbares Ausbildungsniveau und eine vergleichbare berufliche Position innehatten. Martin Diewald untersucht in seinem Beitrag die Bedeutung und die charakteristischen Merkmale der persönlichen Netzwerke und Beziehungen gegenseitiger Hilfeleistung in der DDR und fragt, bis zu welchem Grade sie als Ausdruck einer in modernen Gesellschaften vorfindbaren Ausdifferenzierung einer persönlichen Privatsphäre zu verstehen seien. In seiner Antwort widerspricht er einfachen Thesen vom vormodernen Charakter der persönlichen Beziehungen und zeichnet auf der Basis der empirischen Analysen ein differenzierteres Bild. Diewald belegt die zentrale Rolle von Partnerschaft und Familie in den persönlichen Netzwerken und betont, daß sie ihren besonderen persönlichen Charakter bewahrt hätten. Da die sozialen Netzwerke und informellen Strukturen in der DDR kaum für die Sicherung der Grundversorgung der Bevölkerung notwendig waren, seien sie für individuelle Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten offen gewesen. Die persönlichen Beziehungen am Arbeitsplatz, im Arbeitskollektiv, hatten nach Diewalds Ergebnissen ebenfalls eine herausgehobene Bedeutung. Das Kollektiv war dabei zum einen die staatlich verordnete Einheit, in der gemeinsame Aktivitäten auszuführen waren. Zum anderen bot es aber die soziale Rahmenbedingung für eine besondere Form der Sozialintegration und die Entstehung von Solidargemeinschaften, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen konnten. Die sozialen Beziehungen in der informellen Sphäre besaßen vermutlich auch selbst einen Doppelcharakter, waren sie doch durch die enge Verknüpfung von interessengeleiteter, instrumenteller Austauschbeziehung und persönlicher Zuwendung und Anteilnahme geprägt. Ein weiteres Ergebnis ist bemerkenswert. Der Austausch von Hilfeleistungen in der DDR führte nicht in der Tendenz zu einer weiteren Einebnung sozialer Ungleicheit, mit Hilfe der Daten unserer Studie läßt sich eher das Gegenteil nachweisen.
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Einleitung
Eine ergänzende und zusammenfassende Sicht auf Phänomene sozialer Ungleichheit in der DDR ist der Gegenstand des nachfolgenden Beitrags von Martin Diewald und Heike Solga. Sie beschäftigen sich mit verschiedenen Dimensionen sozialer Ungleichheit und individueller Lebenschancen in der DDR, dem Einkommen und Vermögen, den Wohnbedingungen, dem Vorhandensein von hochwertigen Konsumgütern, wie Auto und Telefon, dem Zugang zu Unterstützungsleistungen und Freizeitaktivitäten. Mögen aus der Außenperspektive, das heißt im Vergleich zu Westdeutschland, die Unterschiede relativ gering gewesen sein, so waren sie für sich betrachtet doch beträchtlich, was die Analysen sehr bemerkenswert macht. Die Ergebnisse sind kaum mit dem Bild einer weitgehend nivellierten Sozialstruktur vereinbar. Das Argument wird besonders dadurch verstärkt, daß Diewald und Solga zeigen können, daß die Unterschiede in der Verfügbarkeit materieller, kultureller und sozialer Ressourcen weitgehend den von Solga vorgeschlagenen Klassendifferenzen folgen. Darüber hinaus werden deutliche Unterschiede in den Lebensbedingungen von Teilgruppen innerhalb einzelner Klassenlagen nachgewiesen. Nachdem sich die bisher vorgestellten Beiträge ausschließlich mit den Lebensverläufen in der DDR beschäftigt haben - das ist der Schwerpunkt dieses Bandes - , geben Martin Diewald, Johannes Huinink, Heike Solga und Annemette S0rensen im vorletzten Kapitel einen zusammenfassenden Einblick in die Auswirkungen der Wende und ihrer gesellschaftlichen Folgen auf die Lebensverläufe der Befragten unserer Studie in Ostdeutschland. Auf der Grundlage der Informationen aus der Haupterhebung zur Lebensverlaufsstudie und der später durchgeführten schriftlichen Nachbefragung wird analysiert, wie sich die Vereinigung auf die Lebensverläufe der Menschen in der DDR ausgewirkt hat. Alle wichtigen Lebensbereiche werden dabei angesprochen. Außerdem werden Befunde aus Analysen vorgestellt, die sich mit den Auswirkungen von kohortenspezifischen Wendeerfahrungen und persönlichkeitspsychologischen Merkmalen beschäftigen. Die Folgen des Umbruchs in den Lebensverläufen der Befragten lassen sich vielleicht am besten so zusammenfassen: Es gab einen kollektiven Anstieg des materiellen Wohlstandsniveaus. Dagegen stehen die Erfahrungen des Verlusts von sozialer Sicherheit und Geborgenheit mit ihren weitreichenden Auswirkungen auf die alltägliche Lebensorganisation. Die Veränderungen im Erwerbsbereich sind sozialstrukturell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Im Beitrag werden Gewinner und Verlierer präsentiert. Bemerkenswert sind aber die Kontinuitäten zwischen den in der DDR und den nach der Wende ausgeübten Berufen, ein Befund, der in den bisherigen Untersuchungen zur Wende kaum Beachtung gefunden hat. Karl Ulrich Mayer gibt im Schlußkapitel einen zusammenfassenden Rückblick auf die in diesem Band vorgestellten Ergebnisse und interpretiert sie im Hinblick auf folgende Fragen: Wie bestätigen oder verändern sie die kontroversen Deutungen der DDR-Gesellschaft und ihrer Geschichte? Was folgt daraus für eine Theorie sozialistischer Systeme? Was läßt sich daraus für eine Theorie des Lebensverlaufs von Kohorten schlußfolgern? Wie ergiebig hat sich das metho-
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dische Verfahren erwiesen? Welche Forschungsfragen bleiben offen? Was ergibt sich aus dieser empirisch fundierten Konstruktion der DDR-Gesellschaft für die Vereinigungsprozesse? In diesem Band haben wir eine Analyse der DDR-Gesellschaft vorgelegt, die sich weder an den offiziellen Verlautbarungen, noch an politisch vorcodierten Theorien, noch an abfragbaren biographischen Selbstwahrnehmungen orientiert. Wir betrachten vielmehr die Lebensverläufe, wie sie von dieser Gesellschaft in spezifischer Weise geformt worden sind und wie sie trotz und entgegen der Inanspruchnahme durch die Gesellschaft individuell gestaltet wurden. Dies wirft ein neues, zum Teil ungewohntes Licht auf die früheren ostdeutschen Verhältnisse und ist zwangsläufig sperrig gegen Eigen- und Fremdidentifikationen. Auf vielfach überraschende Weise erweisen sich die Lebensverläufe der DDR als gleichzeitig kollektiv und eigensinnig.
Die Autorinnen und Autoren möchten sich an dieser Stelle herzlich bei allen bedanken, die bei der Erarbeitung dieses Bandes geholfen haben. Ralf Künster hat mit seinen Vorarbeiten zur Datenorganisation wesentlich dazu beigetragen, daß wir die Daten der Erhebungen sehr rasch für unsere Analysen nutzen konnten. Er hat auch eine Reihe von Auswertungen unterstützt. Die Mitarbeiter der Redaktion des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Jürgen Baumgarten und Peter Wittek, haben die Manuskripte redigiert und Korrektur gelesen. Doris Gampig im Zentralen Sekretariat des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung hat den Text gesetzt, die Tabellen und Graphiken gestaltet und die Druckvorlage hergestellt. Wir danken ihnen für ihre umsichtige und zuverlässige Arbeit.
Johannes Huinink
Individuum und Gesellschaft in der DDR Theoretische Ausgangspunkte einer Rekonstruktion der DDR-Gesellschaft in den Lebensverläufen ihrer Bürger
1. Einleitung Die theoretische Analyse der Beziehung von Individuum und Gesellschaft stellt eine wichtige Voraussetzung für die korrekte Beschreibung und Interpretation der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR im Lichte der Lebensverläufe ihrer Bewohner dar. Eine erste, flüchtige Annäherung an diese Frage könnte bei vielen den Eindruck erwecken, daß das Ergebnis einer solchen Analyse von vornherein klar sei. Man müsse doch nur die durch die autoritären oder gar totalitären politischen Strukturen geprägte gesellschaftliche Wirklichkeit der DDR betrachten. Man werde dann erkennen, daß die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in der DDR durch die vollständige Ohnmacht der Individuen dem Staat gegenüber und die radikale Unterdrückungspraxis des Staates seinen Bürgern gegenüber geprägt gewesen sei. Doch dieser Eindruck trügt. Man sollte zwischen drei verschiedenen Betrachtungsperspektiven unterscheiden, wenn man sich dieser Frage in ernstzunehmender Weise nähern will. Zum einen ist darzulegen, wie sich die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in dem ideologischen Anspruch der politischen Machtelite darstellte. Man muß diese Beziehung zum zweiten, unter Umständen kontrastierend dazu, vor dem Hintergrund der faktischen staatlichen Strategien und Handlungsweisen den Bürgern gegenüber untersuchen. Man muß drittens das Verhältnis zwischen Bürger und Staat aus der Sicht der Bürger selber thematisieren. Im folgenden werde ich zunächst versuchen, aus diesen drei Perspektiven und unter Bezug auf die Literatur, die mittlerweile dazu veröffentlicht worden ist, einen theoretischen Rückblick auf die DDR-Gesellschaft zu geben (Abschnitt 2 und 3). Das Ziel dieser Darstellungen ist, Vorklärungen bezogen auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der DDR vorzunehmen. Im vierten Abschnitt wird diese Frage dann noch einmal ausführlicher behandelt. Nach einigen allgemeinen Überlegungen wird dabei Bezug auf spezifischere Forschungsfragen genommen, die auch in den weiteren Beiträgen dieses Bandes detailliert untersucht werden.
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Individuum und Gesellschaft in der DDR
2. Der ideologische Anspruch der Partei Es besteht kein Zweifel, daß die Staatspartei in der DDR, die SED, den Anspruch, das alleinige Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein, ernst genommen hat (Adler, 1991c; Henrich, 1990; Meuschel, 1993b). Dieser Anspruch ließ keine anderen, von der SED unabhängigen Instanzen gesellschaftlicher Gestaltungspraxis zu. Henrich hat diese These überzeugend belegt 1 . Er verweist darauf, daß die Satzung des DDR-Systems streng im Sinne der sowjetischen Doktrin installiert wurde, die durch die Ideologie des Marxismus-Leninismus geprägt war. Im Verlauf der Geschichte der DDR wurde die Rolle der sowjetischen „Obhut" als Garantie dieser von Lenin entwickelten Ideologie, auch bezogen auf die parteiinternen Strukturen, nur zu offenkundig. Das galt um so mehr, als der Kampf gegen den „Klassenfeind" für die DDR in ihrer Abgrenzung zum anderen deutschen Staat eine ganz besondere, gewissermaßen existentielle Rolle für die staatliche Unabhängigkeit spielte. Die Intentionen der Repräsentanten des Systems lagen in ihrer handlungsleitenden Ideologie begründet. Daraus lassen sich die Konsequenzen für parteiliches und damit staatliches Handeln ableiten (Meuschel, 1993b, S. 5). Zum einen war damit der alleinige Anspruch der Partei(spitze) auf die Regelung und Kontrolle aller gesellschaftlich relevanten Entwicklungen festgelegt. Das begann bei der Definition individueller Bedürfnisse, „moralischer" Standards und der Regulierung individueller Handlungs- und Lebensverlaufsstrukturen (vgl. die Definition von „Optimalverhalten" bei Henrich, 1990, S. 149). Der Anspruch bezog sich weiter auf alle gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen und zielte auf die Steuerung und Strukturbestimmung des gesamten politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Geschehens ab. Das Bildungssystem und die sozialen Organisationen sollten vollständig in den Dienst des Staatsapparats gestellt sein, sie sollten als Vermittlungsinstanzen, gleichsam als verlängerter Arm der zentralistischen Regulierung und Instrument der Verbreitung ihrer ideologischen Grundlage dienen. Das ist gemeint, wenn Brie von staatlichem „Monoeigentum, Monomacht und Monobewußtsein" (Brie, 1990, S. 18) oder Adler vom „Monosubjekt" des Staates spricht (Adler, 1991c, S. 175). Gleichzeitig beinhaltete dieser Anspruch, der als Grundlage des politischen Handelns und Prinzip staatlicher Organisation dem ideellen Gehalt der sozialistischen Theorietradition verbunden blieb, die Verpflichtung auf die Befriedigung (grundlegender) individueller Lebensbedürfnisse der Bevölkerung, die Garantie elementarer, individueller Rechte und die Beseitigung von Ausbeutung. Eine für
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Was diese Position eines totalitären Machtanspruchs der Partei der Arbeiterklasse bedeutet, zeigt Henrich am Beispiel der innerparteilichen Organisation sehr instruktiv mit der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen ihrem Urheber Lenin und Rosa Luxemburg auf (Henrich, 1990, S. 62 ff.).
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die Legimitation des Staates elementare Aufgabe war es daher, den Anspruch auf Arbeit und Brot für alle, auf „soziale Sicherheit und Geborgenheit" einzulösen (Meyer, 1989, S. 432). Das Recht auf Arbeit und Ausbildung war in der Verfassung verankert. Es ging darüber hinaus um die Garantie eines steigenden Niveaus der individuellen Lebensbedingungen und des erreichten Lebensstandards. Das Recht auf eine angemessene Wohnung spielte dabei beispielsweise eine wichtige Rolle (Hanf, 1990, S. 65). Wenn die Instanz, die dem Anspruch auf Befriedigung individueller Bedürfnisse zu genügen hatte, selbst diese Bedürfnisse und die Standards der Versorgung der Bevölkerung definierte, könnte man diese Verpflichtung als mehr oder weniger arbiträr ansehen. Die Definitionsmacht hatte auch praktisch wirksame Konsequenzen. Dazu gehörten zweifellos die im Vergleich zu Westdeutschland starke Nivellierung der Erwerbseinkommen oder die Uniformierungstendenzen in der Güterversorgung, die den Bürgern in ihren Distinktionsbemühungen einen großen Einfallsreichtum abverlangten (Engler, 1992, S. 73). Doch hatte die Beliebigkeit des Verpflichtungscharakters der staatlichen Garantien ihre Grenzen, zumal die Einlösung der ideologisch gesetzten Fürsorgepflicht des Staates eng mit der Legitimität des Systems, und daher indirekt auch mit den Kosten seiner Sicherung, verknüpft war. So wie sich auf der einen Seite für den einzelnen Bürger Rechte und berechtigte Ansprüche ableiten ließen, gab es auf der anderen Seite klare Ansprüche des Staates ihnen gegenüber mit klar definierten Pflichten und vorgegebenen Handlungsspielräumen. In diesem Sinne stand ein ideologisches Modell im Hintergrund politischen Handelns, wonach alle Teile der Gesellschaft vollständig unter der „doppelgesichtigen" Kontrolle und Fürsorge einer kleinen Gruppe von Führern der Partei der Arbeiterklasse stehen sollten.
3. Zur Kritik der politischen Praxis in der DDR In verschiedenen Beiträgen der letzten Jahre, die sich mit der sozialwissenschaftlichen Analyse der Gesellschaft in der ehemaligen DDR beschäftigt haben, werden die strukturellen Folgen der staatlichen Ideologie und Handlungsstrategien mit unterschiedlichen Gewichtungen rekonstruiert (vgl. Mayer, 1993). Die Verschiedenheit der Bewertungen und Interpretationen in der Literatur zeigt sich besonders bei der Beurteilung der real-sozialistischen Wirklichkeit 2 . Sie begründet
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Entsprechende Kontroversen lassen sich schon für die frühere DDR-Forschung in Westdeutschland belegen (Pollack, 1993b; Meyer, 1992). Sehr heftig wird mitunter um die Bewertung der verschiedenen Richtungen in der westdeutschen DDR-Forschung gestritten (vgl. Meuschel, 1993a; Schröder und Staadt, 1993). Welche Interpretation der DDR-Wirklichkeit gerecht wird, wird sicherlich ein Streitpunkt bleiben.
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Individuum und Gesellschaft in der DDR
sich genauer in den unterschiedlichen Ansichten über das Ausmaß, zu dem die Machtelite der DDR in ihrer politischen Praxis die Durchsetzung des totalen Gestaltungsanspruchs verwirklichen konnte. Niemand in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion dürfte allerdings heute die DDR als einen rein totalitären Staat ansehen, was in Teilen der früheren, westdeutschen DDR-Forschung durchaus der Fall war 3 . Die Unterschiede lassen sich wohl am zuverlässigsten daran verdeutlichen, wie die Rolle ebenfalls in allen Beiträgen übereinstimmend identifizierter, nicht von der staatlichen Kontrolle erfaßter „Lebenswelten" der Bürger im Detail beurteilt wird. Damit sind die sogenannten „informellen Strukturen" gemeint, die sich gleichsam als „zweite Gesellschaft" neben den offiziellen sozialen Strukturzusammenhängen und Institutionen herausgebildet hatten. (a) Von einigen Autoren werden diese Strukturen eher als residuale, wenn auch systemstabilisierende Bereiche und Rückzugsgebiete der Bürger betrachtet. Ihnen wird kein besonderes Potential für eine sich eigenlogisch entwickelnde Dynamik zugestanden. Adler sieht die Beseitigung und Unterdrückung von öffentlicher Pluralität daher auch als den entscheidenden „Konstruktionsfehler" der DDR-Gesellschaft an (Adler, 1992, S. 48). Diese Vorgehensweise hatte „Erstarrungs- und Schließungstendenzen" zur Folge, die das innovative gesellschaftliche Potential lahmgelegt, wenn nicht gar zerstört haben. Es trat eine Lähmung ein, die vor allem durch die Selbstreproduktions- und Sicherungsstrategien der Machtelite und die staatspolizeiliche Kontroll- und Repressionsmaschinerie in den herrschenden, „bürokratisch-hierarchischen" Machtverhältnissen gekennzeichnet war (Adler, 1992, S. 43). Die notwendige ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung wurde ihrer Dynamik beraubt, erforderliche Innovationen wurden verhindert. So entstand laut Adler zwangsläufig eine „zweite inoffizielle Struktur" mit ihren informellen Beziehungen, Planerfüllungspakten, „die die offizielle Hierarchie auf den unteren Ebenen auf den Kopf stellten". Dazu gehörten auch eine gesellschaftskritische Kulturszene und andere subkulturelle Szenen. Ein weiteres Phänomen, das Adler in diesem Zusammenhang nennt, war, daß weite Teile der Bevölkerung sich immer stärker an der westlichen Konsumkultur zu orientieren begannen. Als „weit schwächer" beurteilt Adler die Relevanz einer alternativen politischen Kultur (Adler, 1992, S. 40). Er bezeichnet diese inoffiziellen Strukturen insgesamt als „schwächliche Surrogate im Vergleich zu den Institutionen der westlichen Gesellschaft - Markt, Öffentlichkeit, institutionalisierte Formen des Interessenkonflikts, politische Opposition; ebensowenig wie die .offiziellen Strukturen', konnten sie in annähernd gleichwertigem Maße Motivations-, Innovationsund Korrekturpotentiale bereitstellen" (Adler, 1992, S. 41). Der Fürsorgeaspekt in der staatlichen Ideologie drückte sich nach Adler in einer „paternalistischen" Politik aus, die als Mittel zur Loyalitätssicherung und 3
Siehe hierzu zum Beispiel den Überblick von Pollack (1993b).
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Steuerung der Lebensgestaltung der Bevölkerung eingesetzt wurde (Adler, 1992, S. 50 f.). Die Folge war gleichsam eine Dichotomisierung der Sozialstruktur in der DDR: auf der einen Seite der Großteil der Bevölkerung, in dem es zu einer Homogenisierung der Lebenslagen, zu Nivellierungstendenzen und zunehmenden Statusinkonsistenzen kam (Adler, 1992, S. 46), auf der anderen Seite die kaum gesellschaftlich rückgekoppelte politische Machtelite. (b) Die Interpretation der DDR als höchst widersprüchliche Gesellschaft bildet auch die Grundlage der Analyse von Pollack (Pollack, 1990, 1994, S. 60 ff.). Die DDR charakterisiert er mit dem Modell einer geschlossenen „Organisationsgesellschaft". Pollack meint damit, daß die DDR in ihrer Gesamtheit gleichsam auf eine „organisationsspezifische Logik" verpflichtet gewesen sei, der sich nach der Schließung der Grenze keines der Zwangsmitglieder habe entziehen können. Die Tatsache, daß die Legitimität des Staates nicht allein durch eine verstärkte paternalistische Politik aufrechtzuerhalten war und die charismatischen Potentiale des Antifaschismus und der sozialistischen Idee zu schwach waren, bedingte den Ausbau und Einsatz flächendeckender Kontroll- und Sicherheitsapparate. Das oberste Ziel der Stabilität der „Organisation" DDR wurde letztlich immer mit dem Mittel der konservativen Repression gegen Veränderung und gegen nicht mehr kontrollierbare Flexibilität zu erreichen versucht. „Zunehmende Liberalisierung und zunehmende Repression entsprachen sich." (Pollack, 1994, S. 67) Es wurde damit, so Pollack, ein unlösbarer Widerspruch zwischen den Anforderungen moderner gesellschaftlicher Entwicklungen mit den dazu notwendigen Differenzierungsprozessen einerseits und einem inflexiblen Machtapparat andererseits zementiert. Mit zunehmender Dauer dieses Widerspruchs drohte jede noch so marginale Neuorientierung immer radikaler die bestehenden Herrschaftsverhältnisse gleich als ganzes in Frage zu stellen. Die Organisationsanalogie von Pollack hat zusätzliche Implikationen. Wir wissen aus der Organisationssoziologie, daß in einem Modell einer sozialen Organisation neben den „formalen" Strukturen genauso „informelle" Strukturen zu berücksichtigen sind. An der dominanten Organisationslogik vorbei entwickeln sich in systematischer Form Sphären sozialer Beziehungen instrumenteller und nicht instrumenteller Art, innerhalb derer die Mitglieder auf verschiedenste Weise versuchen, für sie defizitäre Zustände zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzuschwächen. Die informellen Strukturen besitzen dabei meist eine wichtige Funktion für die Stabilität der Organisation. Pollack interpretiert aus systemtheoretischer Perspektive bezogen auf die DDR: „Die Differenz zwischen Offiziellem und Inoffiziellem trat gewissermaßen an die Stelle der gebremsten funktionalen Differenzierung und holte Versäumnisse der gesellschaftlichen Entwicklung nach." (Pollack, 1994, S. 74) Er weist der informellen Sphäre eine theoretisch systematischer begründete und weniger stark als residual zu verstehende Rolle in der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR zu, als es in dem zuvor skizzierten Ansatz der Fall war. Damit kann Pollack auch von einer gewissen Macht und Stärke der in diesen Strukturen agierenden Personen(gruppen) sprechen und eine
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Tendenz zur „Entwertung des offziellen Bereichs" und seiner Normen und Ideologie diagnostizieren (Pollack, 1994, S. 75). Pollack billigt den informellen Netzwerken daher nicht nur „integrativ-kompensatorische, sondern auch emanzipativkritische Funktionen" zu (Pollack, 1994, S. 75). (c) Die Beschreibung der DDR als eine neotraditionalistische Gesellschaft - ein Ansatz, der unter anderem von Jowitt (1983) entwickelt wurde - führt zu weiteren wichtigen Deutungen der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung. Die Grundannahme dieser Theorie ist, daß der Staat - neben der Machtsicherung durch den Einsatz repressiver Maßnahmen - die Loyalität der Massen durch ein System persönlicher Patronage zu erhalten sucht. Auch in der DDR sei, so Ettrich, ein Netz von „Patron-Klient-Beziehungen" etabliert worden (Ettrich, 1991, S. 104; vgl. Mayer, 1993). Man könne gar von einem stillen Arrangement mit der Macht sprechen. Danach wurde vom Staat das Schwergewicht eher auf die Befriedigung partikularer Interessen gelegt, was den Raum für „eine reiche Subkultur instrumentell-persönlicher Beziehungen" schuf (Ettrich, 1991, S. 104). Die institutionelle Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre wurde danach eher verwischt (Ettrich, 1991, S. 107). Das Verhältnis zwischen individuellen Akteuren und Staatsmacht war danach durch eine Ambivalenz zwischen Kumpanei und Distanzierung charakterisiert. Die „Klienten" konnten sich in der DDR zwar nicht als unabhängige, kollektive Akteure institutionalisieren und ein politisches Gegengewicht zum staatlichen Machtmonopol ausbilden. Doch vor allem auf der betrieblichen Ebene oder im Bereich der Wohnungsversorgung, fanden durchaus Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Gruppen und offiziellen Instanzen statt, die darin ihre widersprüchlichen, partikularen Interessen zur Geltung bringen konnten (Ettrich, 1991, S. 111; vgl. Rottenburg, 1991; Schmid, 1992, S. 22 f.) 4 . Eine andere für die Beziehung zwischen Bürger und Staat besonders wichtige These des neotraditionalistischen Ansatzes ist, daß Partei und Staat als Folge dieser partikularistischen Politik ihre Integrität gemessen an ihrer eigenen Ideologie verlieren (Jowitt, 1983, S. 277). Die Praxis persönlicher Patronage macht es der Bevölkerung leicht, sich von der Vorstellung zu verabschieden, ihr Staat beanspruche berechtigterweise moralische Autorität. Die staatstragende Partei verliert ihre „organisatorische Integrität" (Jowitt, 1983, S. 277) und geht damit ihrer charismatischen Mobilisierungsfähigkeit verlustig (Ettrich, 1992, S. 108). Die Berechtigung eines charismatischen Anspruchs auf Herrschaft, der mit der
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Es bleibt hier, so denke ich, die weitergehende Frage nach möglicherweise schwachen, aber dennoch signifikanten Formen intermediärer Institutionen in der D D R genauer zu untersuchen. Es wäre zu prüfen, ob sich Beispiele für institutionalisierte oder quasi-institutionalisierte Strukturen finden lassen, die gleichsam eine durch den Staat autorisierte Brücke zwischen den informellen Bereichen und den offiziellen Instanzen gebildet haben. Damit ist nicht die Duldung informeller Aktivitäten seitens des Staates gemeint.
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Politik der Patronage abgesichert werden sollte, wird in den Augen der Bevölkerung obsolet. (d) Engler gelangt ebenfalls zur Diagnose einer Ambivalenz in der Beziehung zwischen Bevölkerung und Staat, auch wenn er wieder mit einem größeren Gewicht auf die Distanzierungsmomente verweist (Engler, 1992). Er beschreibt eine bewußte Enttäuschung der Bürger bezogen auf die gesellschaftliche und politische Praxis des Staates, hebt aber nicht, wie im neotraditionalistischen Modell, die Erkenntnis der Korruptheit des Staates und des Verrats seiner eigenen Ideale so stark hervor. Engler betont dagegen, daß in großen Teilen der Bevölkerung die ihr auferlegten, starken Einschränkungen persönlicher Freiheiten - gemessen an der Situation in westlichen Gesellschaften - als anachronistisch, ja eigentlich überflüssig oder gar beschämend empfunden werden mußten (Engler, 1992, S. 46 ff.). Aus seiner Sicht stand in der DDR daher die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Bürger prinzipiell zur Disposition, als Reflex auf die „mißlungene Balance von Unterdrückung und Freisetzung, von Versagung und Gewährung" (Engler, 1992, S. 49). Die DDR wird von Engler im übrigen als „Kleine Leute"-Staat charakterisiert, in dem es keiner Gruppe gelang, sich entscheidend kulturell abzusetzen (Engler, 1992, S. 65). Er spürt der Genese und Art der Brüche mit den „vorausgesetzten Handlungsstrukturen" in der alltäglichen Praxis nach (Engler, 1992, S. 63). Danach gab es keine abgehobenen Lebensstile. „Praktisches" Denken mit improvisierten, anstrengenden, aber hilflosen Distinktionsversuchen, die an sich sehr unpraktisch waren, beherrschten dagegen den Alltag. Die Funktionselite und die konspirative Machtelite hatten keine „stil- und verkehrsformbildende Leitfunktion" inne (Engler, 1992, S. 71). Es gab keine Spannung zwischen den Lebensstilen, die zu einer Dynamik ihrer Entwicklung hätte beitragen können. Doch kann Engler aus diesen Betrachtungen nicht schließen, daß „sich die Reproduktion staatssozialistischer Gesellschaften (...) auf eine gemeinsame Realitätsdefinition stützen" konnte, „in die alle Teilgruppen bei allem Widerspruch im einzelnen einstimmen" (Engler, 1992, S. 79). Die laut Engler dafür verantwortlichen Distanzierungsmomente wurzelten zum einen in der ungleichen Machtverteilung, zum anderen in dem vergleichenden Bezug auf die westlichen Gesellschaften. (e) Man findet schließlich Beiträge, in denen behauptet wird, daß die staatliche Praxis es trotz ihrer totalitären Ideologie nicht verhindern konnte, ja umgekehrt ungewollt beförderte, daß sich vor allem in den 1980er Jahren Ansätze einer Pluralisierung und Differenzierung in der sozialen und institutionellen Struktur entwickelten (Rytlewski, 1989; Woderich, 1991,1992a, 1992b). Woderich spricht von einer „Legitimierung und Legalisierung weitgehend autonomer lebensweltlicher Refugien" in der Honecker-Ära. Sie sei mit einer zunehmenden Diskrepanz zwischen privater Pluralität sowie privaten Entfaltungsmöglichkeiten auf der einen und offizieller Eindimensionalität auf der anderen Seite einhergegangen (Woderich, 1992b, S. 83). „Daraus erwachsen im folgenden eine
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Reihe von Paradoxien (...); unter anderem jenes, daß die zugestandenen Refugien die Akteure zwar entpflichteten (paternalistische Sozialpolitik), ihren Eigensinn (Subkulturen; Schattenwirtschaft) aber zugleich ermächtigten, der sich letztlich gegen das System verkehrt." (Woderich, 1992a, S. 61 f.). Die offiziell zugelassenen Strukturen verloren damit an Sinn und Relevanz (Rytlewski, 1989). „Systemische Regulative und Ordnungsmuster waren längst ausgehöhlt, als der Schein deren Desolation noch verbarg." (Woderich, 1992b, S. 84) Eine Folge war die politische und soziale Entpflichtung großer Teile der Bevölkerung und die Entstehung eines „parasitären Hedonismus". Das ist mehr als die von Mühler und Wippler für die Honecker-Ära als dominant angesehene „Option der Bürger", „ein guter Staatsbürger zu sein, der passiv mitmacht, dem aber das System gleichgültig ist" (Mühler und Wippler, 1993, S. 693). Was hier als geduldeter Rückzug in die Nischen verstanden wird (Mühler und Wippler, 1993, S. 703), ist im Sinne der These des parasitären Hedonismus der strategische und instrumenten begründete Umgang mit einer Staatsmacht, die sich immer mehr auf den Versuch der Ruhigstellung der Bevölkerung über Konsum und Sozialpolitik eingelassen hatte. Diese Form der Distanzierung von der Macht und der gleichzeitigen Instrumentalisierung der Strategien der Macht war wohl nur möglich, weil, so wird hier wie schon bei Engler behauptet, in der Bevölkerung „ein stillschweigender' oder kollusiver Konsens" gegeben war, „eine Affinität zwischen systemischen Normen/Wertsetzungen und den Grundpositionen bzw. -mustern dominierender Mentalitätsformen". Woderich spricht vom „.Geheimnis' der Wesensgleichheit von Mentalitätsstrukturen zwischen Obrigkeit und Staatsvolk" (Woderich, 1992b, S. 84 f.). Gerade die letzten Erörterungen zeigen schon, daß man von einem sehr viel differenzierteren Verhältnis zwischen den Bürgern der DDR und ihrem Staat ausgehen muß, als der erste Blick vermuten ließe. Ich werde diese Argumente später noch einmal aufgreifen und vertiefen. Öffentliche Pluralität wurde spätestens seit dem Ende der 1970er Jahre in ganz engen Grenzen auch explizit zugelassen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Kirchen, auf die der Staat nie einen unbegrenzten Zugriff hatte. Während den Kirchen aber bis dahin nur Arbeitsmöglichkeiten zugestanden wurden, die sich auf reine Kulthandlungen beschränken sollten, gab es seit Mitte der 1970er Jahre unübersehbare Liberalisierungstendenzen (Pollack, 1994, S. 277 f.), denen schließlich eine faktische Anerkennung „der Kirche als eigenständiger gesellschaftlicher Faktor" folgte (Pollack, S. 295 ff.) 5 . Sie ließ ihnen praktisch die Funktion einer relativ unabhängigen intermediären Instanz zukommen. Die
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Ein Treffen zwischen dem Vorstand der Konferenz der Kirchenleitungen (KKL) und Honecker am 6. März 1978 wird hier als „Schlüsseldatum" der DDR-Kirchengeschichte betrachtet (Pollack, 1994, S. 293).
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Kirchen waren vor allem seit dieser Zeit die Orte, in denen sich, trotz umfassender Observierung und trotz der offiziellen kirchlichen Strategie des Ausgleichs dem Staat gegenüber, Friedensgruppen und Keimzellen einer alternativen Bewegung organisieren konnten, die eine große Rolle spielten, als es darum ging, den Massenprotest zu stimulieren, der letztlich entscheidend zum Zusammenbruch der DDR beigetragen hat.
4. Individuum und Gesellschaft in der DDR Die allgemeine Frage nach der Rolle des Individuums und individueller Handlungsautonomie im System der SED-Herrschaft, nach der Beziehung von Individuum und Gesellschaft in der DDR erfährt in den skizzierten Ansätzen also eine unterschiedliche Bewertung. Betrachten wir diese Frage daher noch einmal grundsätzlicher. Gewiß ist der totalitäre Anspruch auf die absolute Gestaltungshoheit der Partei der Arbeiterklasse bis zuletzt weitgehend aufrechterhalten worden. Welche Entwicklung die DDR-Gesellschaft zu nehmen hatte, war Sache eines mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit und „Unfehlbarkeit" auftretenden Apparats. Gleichzeitig werden aber, zumindest deklaratorisch, wie zum Beispiel in Art. 4 der DDR-Verfassung von 1974, die Gewährleistung der „sozialistischen Lebensweise der Bürger", „die freie Entwicklung des Menschen", die Wahrung seiner Würde und die Garantie der „in dieser Verfassung verbürgten Rechte" proklamiert. Eigentumsrechte werden anerkannt (vgl. Art. 9). In der Ideologie ist auch die Verpflichtung auf die Befriedigung individueller Lebensbedürfnisse und die Garantie als elementar angesehener individueller Rechte, insbesondere im Bereich der ökonomischen Sphäre, festgeschrieben. In der DDR herrschte ein modernes Verständnis der Beziehung von Individuum und Gesellschaft und der Bedeutung von Individualität (Dölling, 1986). „Die sozialistische Gesellschaft wird selbst um so reicher, je reicher sich die Individualität ihrer Mitglieder entfaltet, und sie schafft dafür mit ihrem Fortschreiten immer günstigere Bedingungen." (Bericht des ZK der SED an den XI. Parteitag 1986, S. 59 f.; zitiert aus Hüning, 1990, S. 2) Der konditionierende Hinweis auf die Bedingungen mag nicht unwesentlich sein, was die Rechtfertigung der praktischen Verstöße gegen diese Aussage angeht. Deklamation und Praxis mögen in der DDR weit auseinandergelegen haben. Tatsache ist aber, daß die moderne Respektierung des Individuums als verantwortliches Mitglied der Gesellschaft und seiner Individualrechte festgeschrieben, somit prinzipiell auch einklagbar gewesen ist und sich im Selbstverständnis der Bevölkerung verankert hat. „Die Beziehungen zwischen den Menschen in der sozialistischen Gesellschaft (...), sind Beziehungen wahrer Gleichberechtigung, Freiheit und sozialer Sicherheit. Damit werden zunehmend günstigere Bedingungen für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft geschaffen."
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(Programm der SED von 1976, S. 73) Das Individuum war als verantwortliches Subjekt prinzipiell anerkannt, aber auch gefordert. Von ihm, als (sozialistischer) Persönlichkeit, wurde erwartet, die „Interessen der Gesellschaft" zum Maßstab seines Handelns zu machen (Dölling, 1986, S. 254). Da aber im Sozialismus die gesellschaftlichen und die individuellen Interessen ineinanderfallen sollten, war auch die Entfaltung des Individuums als (autonome) Persönlichkeit erst in dieser Gesellschaftsformation, jenseits der kapitalistischen Ausbeutungs- und Entfremdungsverhältnisse, gesichert. Die D D R war also ein moderner Staat zumindest insofern, als der einzelne Bürger in rechtlicher, politischer und sozialer Hinsicht als Individuum, als individueller Akteur angesprochen wurde. Das erkennt man an den politischen Willenserklärungen und staatlichen Satzungen. Dazu gehört auch der Beitritt zu internationalen Vereinbarungen, mit dem sich die DDR in den 1970er und 1980er Jahren internationale Anerkennung verschaffte. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung war die KSZE-Akte, die 1975 in Helsinki verabschiedet wurde. Wie sehr auch die in den genannten Dokumenten unterschriebenen Grundsätze in der Praxis des Kollektivismus und der staatlichen, zentralen Steuerung verletzt worden sein mögen, sie waren bedeutsam für das Selbstverständnis von Individuen (Ludz, 1977, S. 48). Aus diesem Selbstverständnis heraus strebten sie danach, ihre Lebensplanung eigenverantwortlich zu gestalten (Huinink und Mayer, 1993, S. 153), im Sinne aktiver Aneignung gleichermaßen als Weg zu einer entwickelten Subjektkompetenz und als Konsequenz davon (Hüning, 1990, S. 44). U m die Relevanz eines individualisierten Selbstverständnisses des Menschen in der D D R zu verstehen, muß man sicherlich auf die historische Ausgangsposition der DDR-Gesellschaft verweisen. „Vieles in ihr war älter als dieser Staat", meint Kocka (1994a, S. 550), und fügt hinzu: „Staatlich parteiliche Steuerung und Durchdringung stießen ständig auf Grenzen. Bisweilen lösten sie sogar Gegentendenzen aus." Die DDR war ein Staat, der, zudem in expliziter Abkehr von der menschenverachtenden Politik des Nationalsozialismus, das Erbe eines modernen Gesellschaftsbildes in Deutschland übernahm, das durch die Strukturen einer entwickelten Industriegesellschaft geprägt war und in dem die Prinzipien einer demokratischen und bürgerlichen Verfassung, wenn auch nur für eine relativ kurze historische Phase, mit der Weimarer Verfassung etabliert worden waren. Trotz totalitärer Ideologie, dem Versuch der Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Kräfte, dem hohen Lied auf das Kollektiv, dem der einzelne zu dienen und sich unterzuordnen habe, dem Verständnis von Freiheit als „Einsicht in die (einzig von der Partei bestimmbare) Notwendigkeit" als marxistisch-leninistische Variante des Freiheitsbegriffs: Immer wurden Individuen gefördert, Individuen wurden zu überzeugen versucht, Individuen wurde Wohlstand versprochen. Die programmatischen Perspektiven (sozialistische Lebensweise) über den „neuen Menschen" waren entsprechend angelegt, gerieten aber in den Widerspruch zur
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gesellschaftlichen Wirklichkeit (Strützel, 1992). Der Widerspruch zwischen einer repressiven Praxis und der Anerkennung von Individualrechten von Personen (insbesondere im sozialen Bereich), zwischen der argwöhnischen Unsicherheit angesichts der individuellen Interessen und der Unmöglichkeit, das unabhängige Denken auszuschließen, zwischen Zwang zur Unterordnung und individueller Verantwortung war charakteristisch für das Verhältnis des Staates zum Individuum in der DDR 6 . Im folgenden soll zunächst geprüft werden, wie sich die unterschiedlichen Widersprüche zwischen ideologischem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit in der DDR in den sozialen Strukturen wiederfinden lassen. Zum zweiten sollen einige Thesen zur Sicht der betroffenen Bürger, zu ihren individuellen Strategien des Umgangs mit dem zweifachen Anspruch des Staates (Monosubjekt und Fürsorgeverpflichtung) vorgetragen werden. Damit sind zwei Bereiche angesprochen, die einen wichtigen Zugang zur Analyse individueller Lebensverläufe in der DDR vermitteln: die sozialen Strukturen als Ergebnis der gesellschaftlichen Positionierung der Individuen durch staatliche Regulierung und individuelle Interessenverfolgung und die individuellen Handlungsstrategien als Ausdruck des „listigen" Arrangements der Bevölkerung mit der Macht.
4.1 Soziale Ungleichheit in der DDR Viele Autoren halten den Tatbestand der sozialen Entdifferenzierung in der DDRGesellschaft für bedeutsamer als die Existenz sozialer Unterschiede (Meuschel, 1993; Lötsch und Lötsch, 1992; Kreckel, 1992a). Meuschel versteht die DDR daher als „klassenlose Gesellschaft" (Meuschel, 1993, S. 93). Damit lenkt sie das Augenmerk auf die Entdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche und die Homogenität und Nivellierung sozialer Lagen als Ausdruck der Eindimensionalität der Grundstruktur dieser Gesellschaft. Sie bestreitet keineswegs das ausgeprägte politische Machtgefälle zwischen Volk und Parteielite. Dieses sei aber eben so total, daß die Existenz sozialer Ungleichheiten unter den Bürgern demgegenüber eine nur nachrangige Bedeutung für die gesellschaftliche Strukturbeschreibung habe: Vor der Parteielite waren alle gleich. Sozialstrukturelle Differenzierungen konnten sich nicht gesellschaftsrelevant entfalten, allein der ideologisch gesteuerte Zugang zu Machtpositionen war hier die Ausnahme. Meuschel spricht vom „Abster-
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Ein anderer Aspekt ist von Bedeutung, den ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen kann. Durch die Setzung von Bedürfnissen, Werten, Rechten und Normen, durch die Behandlung von Menschen und ihrer Interessen als Objekte staatlicher Planung und Kontrolle, wurden die sozialen Lebenszusammenhänge mitsamt der sozialen Beziehungen versachlicht, „verdinglicht" (ganz im Gegensatz zu der Marxschen Vorstellung sich frei assoziierender Individuen).
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ben der Gesellschaft, nicht des Staates" (Meuschel, 1993, S. 94) 7 . Die Betonung der Machtdichotomie ist auch bei Adler dominant, wenn es um die Beschreibung der Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft geht. „Alle anderen Charakteristika sind demgegenüber sekundär." (Adler, 1992, S. 43) Der Machtmonopolisierung, der radikalen Ungleichverteilung von Macht steht eine weitgehende Nivellierung in den Lebensbedingungen der Bevölkerung gegenüber. Signifikante Differenzierungen außerhalb der politischen Machtdimension sind nur partiell und häufig allein durch nicht offen regulierte Mechanismen von Privilegierung bestimmt. Gewiß kann man zahlreiche empirische Belege dafür finden, daß die sozialen Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der DDR verglichen mit der alten BRD in der Tat gering waren. Nicht nur die Einkommensverteilung in der ehemaligen DDR zeugt davon (Geisler, 1992, S. 56; Szydlik, 1992; vgl. den Beitrag von Diewald und Solga in diesem Band), auch die alles dominierende Machtdifferenz zwischen politischer Elite und Bevölkerung ist nicht zu bestreiten. Die ideologische Ausrichtung der DDR-Gesellschaftspolitik wies lange Zeit auf nivellierende oder besser universalisierende Tendenzen der Sozialstruktur hin. In ähnlicher Weise kann man auf das starr zentralistisch angelegte planwirtschaftliche Modell verweisen, das dieser Ideologie entspricht. Dennoch läßt sich in systematischer Weise eine Relevanz sozialer Ungleichheitsstrukturen begründen, die über die Dichotomie zwischen Machtelite und Bevölkerung hinausgehen und einer genaueren Analyse bedürfen. Zunächst erscheint es unabdingbar, den feineren Unterschieden in der DDRSozialstruktur nachzuspüren, um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in diesem Staat zu verstehen. Mag die Varianz gering sein, vielleicht ist sie doch nicht zu vernachlässigen. Auch in der DDR, so ist die These, gab es zahlreiche Quellen sozialer Ungleichheit (vgl. den Beitrag von Diewald und Solga in diesem Band). Dabei ist es interessant zu wissen, welche Rolle Bildung und Ausbildung, der berufliche Status, die Schicht- und Klassenzugehörigkeit und Privilegien als strukturierende Faktoren gespielt haben und wie sich ihre Rolle verändert hat. Der Vorstellung einer dichotomischen Sozialstruktur in der DDR läßt sich zum Beispiel Meiers These von der Ständegesellschaft entgegensetzen. Meier betont,
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Meuschel begründet dies damit, daß im politischen Bereich mit den gleichgeschalteten Verwaltungen und Institutionen des Rechtswesens, mit den Parteien die totalitäre Ideologie am ehesten formal durchgesetzt war und konsequent prozediert wurde. In westlichen Demokratien unabhängige und in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zahlreich vorhandene intermediäre Institutionen waren Teil dieses zentralistischen politischen Apparates oder wurden vollständig davon kontrolliert. Unabhängige soziale Bewegungen konnten sich nicht entfalten. Die Interessenvertretung gesellschaftlicher Gruppen (z.B. Gewerkschaften) oblag ausschließlich von der S E D kontrollierten Institutionen. Das Bildungssystem war weitgehend durch den ideologischen Führungsanspruch und die umfassende staatliche Regulierung geprägt. Es begleitete die Menschen in der D D R gleichsam von der Kinderwiege bis in den Erwerbsprozeß.
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daß es neben der „entscheidenden politischen Demarkationslinie zwischen Herrschenden und Beherrschten" ein differenziertes System von Abstufungen von Privilegien, „Arten des Gütererwerbs und des Güterkonsums" gab (Meier, 1990, S. 10). Er unterscheidet vier „große Stände", und zwar den „herrschaftlichen Stand der Nomenklatura'", den „bürokratischen Stand der mittleren und unteren leitenden Funktionäre", „eine Art Mittelstand der Intelligenz und anderer Professionen" und „die Arbeiter- und Angestelltenschaft sowie die werktätige Bauernschaft". Auch wenn die terminologische Zuspitzung auf den Standesbegriff mit erheblichen Problemen verbunden ist8, so weist Meier mit seinem Beitrag darauf hin, daß einiges dafür spricht, feinere Differenzierungen der Sozialstruktur zu untersuchen, die wesentlich darauf beruhten, daß es hinreichend deutliche Unterschiede in den Handlungsoptionen von Mitgliedern verschiedener Bevölkerungsgruppen unterhalb der obersten Machtelite gegeben hat. In anderer Form hat Solga auf der Basis eines klassentheoretisehen Ansatzes die Hypothese der Bedeutungslosigkeit sozialstruktureller Differenzierung über die beschriebene Dichotomie hinaus überzeugend widerlegt (Solga, 1994a). Sie unterbreitet einen interessanten Vorschlag zur Analyse der DDR-Gesellschaft als Klassengesellschaft, der sich ebenfalls in einem engen Bezug zur differentiellen Betrachtung der Beziehung von Individuum und Staat sehen läßt. Die nichtdichotomische Anlage der Klassenstruktur erfolgt über die Dimensionen des Ausmaßes an politischer, ökonomischer und technokratischer Verfügungsgewalt, kurz des Ausmaßes der Kontrolle über „strategische Ressourcen" (Solga, 1994a). Nachdem sich im Laufe der 1960er Jahre die DDR-Sozialstruktur stabilisiert hatte, lassen sich für die Zeit danach auch deutliche Tendenzen der klassenspezifischen Abschottung und der Selbstrekrutierungsprozesse innerhalb der Klassen nachweisen (vgl. den Beitrag von Solga in diesem Band). An Solgas Ausführungen wird einsichtig, daß man Untersuchungen sozialer Ungleichheit und sozialstruktureller Differenzierung mit Erfolg an klassen- wie an bildungs- und berufsstrukturellen Kategorien orientieren kann. Mehr noch, es scheint nicht weniger begründet zu sein, Differenzierungen der sozialen Lage der Bevölkerung in der DDR in einem allgemeineren Sinne nachzuspüren, die sich als Momente sozialer Ungleichheit interpretieren lassen: sei es im Hinblick auf geschlechtsspezifische Ungleichheit, sei es im im Hinblick auf die
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Man muß der Kritik von Lötsch (1993) zustimmen, daß die konzeptuelle Zuspitzung Meiers „interessant", jedoch nicht überzeugend ist. Es ist sehr zu bezweifeln, ob man die beschriebenen Ungleichheitsstrukturen (ausschließlich) über die Kategorien des Ständischen adäquat erfassen kann. Lötsch kritisiert zu Recht, daß die These Meiers eine Unterschätzung der Bedeutung rationaler Entscheidung, sachbezogener Kompetenz und, man könnte hinzufügen, der formalen bürokratischen Durchsetzung politischer Planung ausdrückt. Lötsch selbst hat aber kein überzeugendes, alternatives Konzept entwickelt, sondern spricht in dem zitierten Beitrag von einer Mischung verschiedener Prinzipien sozialstruktureller Differenzierung, die allein einer Beschreibung der Sozialstruktur der D D R gerecht werden könnte.
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unterschiedliche Verfügung über materielle und immaterielle Mittel einer individuellen Lebensführung, die ungleiche Verteilung von Ressourcen (Macht, Geld und öffentliche Güter) und die damit verbundenen Positionen im informellen Bereich der Gesellschaft, sei es im Hinblick auf différentielle Formen der Lebensgestaltung (vgl. Voß, 1991, S. 35; vgl. den Beitrag von Diewald und Solga in diesem Band). Es läßt sich zeigen, daß die Entwicklung der Sozialstruktur in der DDR keineswegs durch den anfänglich anvisierten geradlinigen Trend zum vollständigen Abbau sozialer Ungleichheit und der Überwindung der Klassenstrukturen gekennzeichnet war (Mayer und Solga, 1994). Es war in der Struktur des DDR-Herrschaftssystems und seiner Defizite in der rationalen Durchsetzung auch durchaus angelegt, daß sich Raum für vielfältige soziale Ungleichheitsstrukturen bot, die nicht in den klassischen sozialstrukturell angelegten Überlegungen auftauchen. Dazu gehört, daß eine „Personalisierung von Machtstrukturen" (Schlegelmilch, 1995) zu beobachten war. Das heißt, daß es lokale, partikular begründete, aber signifikante Machtkonstellationen unterhalb der oberen Ebene des Herrschaftsapparates gab, die vielleicht viel stärker den Alltag der Menschen in der DDR beeinflußten als die Politik der Machtelite. Hier waren auch wichtige Schnittstellen von offiziellem System und informellen Strukturen angesiedelt.
4.2 Individuelle Handlungsspielräume Die Frage nach den Handlungsspielräumen und Handlungsstrategien der Menschen muß auch für den Fall der DDR von der Prämisse ausgehen, daß moderne Individuen in bestimmter Weise mit ihrer persönlichen Situation umgehen, Vorgaben und Bedingungen nicht nur hinnehmen, sondern auch ausnutzen, sich taktisch zu verhalten wissen usw. Man muß daher individuelle Akteure auch immer als „Produzenten" (de Certau, 1988; Voß, 1991) ihres eigenen Lebens verstehen, als Akteure, die im Rahmen situationaler Bedingungen - Restriktionen und Opportunitäten - immer auch ein selbstgestalterisches Potential besitzen. Die „Struktur alltäglicher Lebensgestaltung" versteht Voß dabei als eine Größe, „die wirklich .zwischen' den Individuen und Gesellschaft steht und zwischen beiden vermittelt" (Voß, 1991, S. 8). Ich habe argumentiert, daß in der DDR die einzelne Person im öffentlichen Leben faktisch als individueller Akteur anerkannt wurde 9 . Das muß Konsequenzen vor allem für das individuelle Selbstverständnis der Menschen gehabt haben.
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Voß zeigt, daß zentrale Aspekte der hier vorgetragenen Konzepte zu den gestalterischen Momenten individueller Lebensgestaltung auch in den Begriff der sozialistischen Lebensweise eingegangen sind, der in den 1980er Jahren in der DDR-Soziologie entwickelt wurde (Voß, 1991, S. 34 f.).
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Ich möchte daher auf der Grundlage dieser Prämisse und des zuvor skizzierten Verständnisses von individueller Lebensgestaltung als produktivem Prozeß einige weitgehend hypothetische Aussagen über die individuellen Handlungsstrategien und -Orientierungen der Bürger dem Staat gegenüber ableiten und begründen. Man sollte sich zunächst aber noch einen strukturellen Aspekt in Erinnerung rufen: Die staatliche Planung und Kontrolle mußte angesichts der Schwere und des Umfangs der Aufgabe notwendigerweise defizitär bleiben. Man kann nach Ganßmann (1993) daher erhebliche Bedenken daran anmelden, ob der offizielle Anspruch einer rationalen Planung und Kontrolle der wirtschaftlichen Prozesse und der Befriedigung der individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse einlösbar war. Der Wirtschaftsprozeß konnte nur schlecht auf die tatsächlichen Bedürfnislagen in der Bevölkerung und in der Wirtschaft selber eingerichtet werden. Ohne eine eigenverantwortliche Beteiligung der direkt am Wirtschaftsprozeß beteiligten Kräfte waren lokale Störungen und Probleme nicht zu bewältigen (Rottenburg, 1991). Diese Eigenverantwortung wurde seitens der Machtelite aber kaum zugelassen, da damit das Gestaltungs- und Planungsmonopol des Staates in Frage gestellt worden wäre. Die „Chaotisierung" der Wirtschaft durch die defizitäre Praxis der Planung, die nicht einmal eine partielle Demokratisierung der Produktionsstrukturen zuließ, war die kontraproduktive Folge (Ganßmann, 1993). Mit ihr ging sowohl eine zunehmend ineffiziente Versorgungsleistung von Wirtschaft und Bevölkerung als auch eine ineffiziente Produktionsstruktur einher. Die Tatsache, daß die wirtschaftlichen Entscheidungen durch die politische Entscheidungsstruktur dominiert waren, hatte zahlreiche kontraproduktive Konsequenzen. Alle wesentlichen Entscheidungen wurden im politischen Bereich und nach Maßgabe politischer Interessen gefällt. Daher bildete sich kein aus der Logik wirtschaftlichen Handelns bestimmtes Prinzip von Wirtschaftlichkeit heraus (Henrich, 1989, S. 133). Vor allem konnte die politische Lenkung den Anforderungen einer hochdifferenzierten Volkswirtschaft als Teil einer sich ausdifferenzierenden Industriegesellschaft nicht genügen (Pollack, 1994; Glaeßner, 1993, S. 73). Schritte zu einer fortschreitenden „Modernisierung" der Gesellschaft wurden damit durch die monopolistische Struktur des politischen Systems blockiert. Andere sprechen von dem Konflikt zwischen ideologischer bzw. Parteiherrschaft und Befriedigung der heteronomen Interessen unter einem Anspruch von Allgemeininteresse, von der Unmöglichkeit, die „material definierten gesellschaftspolitischen Ziele" mit „formaler Rationalität" zu versöhnen, vom Konflikt zwischen Ideologen und Technokraten (Meuschel, 1993, S. 97 f.). Selbstauferlegter Entscheidungszwang führte zu Willkür, das heißt Entscheidungen bei unzulänglicher Information auf allen Entscheidungsebenen. Gleichzeitig waren greifende Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt: Zur Durchsetzung und Rechtfertigung reichte die politische Macht, wenn und soweit Legitimationsdefizite mit repressiven Maßnahmen kompensiert und Fehler gedeckt werden konnten. Die Kontrollogik des wirtschaftlichen Erfolgs war partiell außer Kraft gesetzt, weil Fehler per definitionem nicht der staatlichen Planungsverantwortung
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zugeschrieben wurden. Diese Situation verstärkte die Bedeutung einer „zweiten Wirtschaft" (Deppe und Hoß, 1989). Darüber hinaus forderten die negativen Folgen der Wirtschaftslenkung Widerstand und Kompensationsstrategien der Arbeiter auf den unterschiedlichsten Ebenen heraus (Rottenburg, 1991; Voskamp und Wittke, 1991). Sie zwangen die Betriebe zu einer beträchtlichen „Informalisierung" interner Strukturen und riefen ein starkes Solidaritätspotential in der Arbeiterschaft hervor. Das drückt sich im Begriff des Planerfüllungspaktes sehr plastisch aus. Ich komme auf die Frage nach den Handlungsorientierungen der Bürger in der DDR zurück. Es gibt eine Reihe von Argumenten, die für eine stärkere Berücksichtigung individualistischer oder gar pluralistischer Momente in der Betrachtung der Sozialstruktur der ehemaligen DDR sprechen. Es ist daher notwendig, auch die subjektive Sicht der Bevölkerung in dieser Hinsicht eingehender zu untersuchen. In der DDR waren die Menschen gewiß starken direkten und indirekten politischen Restriktionen und staatlichen Eingriffen in bezug auf ihre Lebensoptionen unterworfen. Reisebeschränkungen und Einschränkungen demokratischer Rechte sind augenfällige Beispiele dafür. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hatte sich mit ihren Lebensplanungen formal den Strukturbedingungen des Systems unterworfen. Nur so kamen sie auch ungehindert in den Genuß der staatlichen Garantien und öffentlichen Güter. Kritik, solange sie sich nicht auf das in der Praxis (nicht ideologisch) erlaubte Einklagen der Garantien selbst bezog, führte zum Verlust der Garantien. Die Folge war fehlender Widerspruch, das war aber kaum mit Akzeptanz oder Konsens gleichzusetzen. Die Trennungslinie zwischen Herrschenden und Beherrschten war nicht allein eine rein machtpolitische. Sie wurde von den Herrschern, aber auch von den Beherrschten gleichsam auf bestimmte Weise kultiviert. Während man öffentliche Kontrolle aus dem privaten Lebensvollzug soweit wie möglich zu verbannen suchte und sich der aktiven Partizipation zum überwiegenden Teil verweigerte, nahm man die Fürsorgepflichten des Staates sehr ernst und machte sie zu einer wichtigen Grundlage der individuellen Lebensgestaltung. Letzteres wurde natürlich sozial-normativ verankert, und so ist der scheinbare Widerspruch zwischen der These des von Woderich so genannten „kollusiven Konsenses" in der DDR und der Tatsache der privaten Gegenstruktur erklärlich. Mehr noch, in den sozialen Beziehungen wurde die Distanzierung von der Staatsmacht als moralische Entlastung bewertet. Die Identifizierung mit dem Staat löste sich immer mehr von den moralischen Ansprüchen (vgl. Ettrich, 1991; Häuser, Schenkel und Thaa, 1992; Huinink, 1994), war immer mehr allein an die seitens des Staates instrumenteilen Chancen und Opportunitäten gebunden. Der Ausbau der Sozialpolitik seit Mitte der 1960er Jahre trug zu einer weitgehenden Absicherung der individuellen Lebensbedingungen bei. Dies führte zu einer Befreiung der Lebensgestaltung von materiellen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen. „Der individuelle Gestaltungsraum jenseits der Arbeit nimmt zu,
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d.h. auch die sekundären Lebensbereiche der Gesellschaft, also die individuell eigenständigen Lebenssphären außerhalb der Produktionsarbeit expandieren." (Hüning, 1990, S. 7) Hüning bewertet diesen Prozeß als Individualisierung des Alltags und schreibt ihn vor allem der entlastenden Wirkung der sozialstaatlichen „Sicherungs-, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen" zu. Ähnlich argumentieren Huinink und Mayer (1993, S. 153). Das institutionelle Gefüge der DDR bildete für den Bürger einen relativ beständigen Rahmen für individuelle Handlungsstrategien. Gleichzeitig sahen sich die meisten von der Möglichkeit aktiver Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft über das rein ritualisierte „Mitmachen" hinaus entbunden. Die nichtintendierte Folge der Sozialpolitik war, daß sie die Hinwendung zu den „informellen" Bereichen der Gesellschaft förderte und die nötige Rückendeckung für auf individuelle Vorteile bedachte Aushandlungsprozesse im Betrieb und in anderen gesellschaftlichen Institutionen bot. Die staatlichen Garantien ermöglichten Stabilitätsannahmen als Grundlage für die große Verhaltenssicherheit in bezug auf die Lebensplanung. Sie trugen so zur Konstruktion von autonomen Refugien, privaten „Märkten", mehr noch, von privaten Gegen weiten bei. Diese beschränkten sich nicht auf den außerordentlich wichtigen Familienbereich, wie die These von der Privatisierung der Arbeitswelt zeigt. Man könnte plakativ eine These formulieren, daß wir es in der DDR mit der Entwicklung eines Handlungsmodus oder gar Sozialcharakters zu tun hatten, der durch eine „gemeinschaftliche Trittbrettfahrer-Strategie" der Bürger dem Staat gegenüber gekennzeichnet war (Huinink, 1994). Mit dem Argument von der Trittbrettfahrer-Strategie behaupte ich, daß große Teile der Bevölkerung die Vorteile der Herrschaftsordnung bzw. die Leistungen der Herrschenden nutzten, so lange es möglich war und es sich lohnte, ohne daraus für sich eine moralische Verpflichtung etwa zu einem positiven Engagement in der Gesellschaft abzuleiten. Die individuelle Wohlfahrtsproduktion zeichnete sich danach durch eine aktive, instrumenten motivierte Adaptation an staatliche Garantien und Angebote aus. Eine Anspruchshaltung und Versorgungsmentalität wurde erzeugt. Sozialpolitische Regelungen wurden als Entlastungs-, Absicherungs- und Versorgungsmechanismen genutzt, um die privatisierte Lebensgestaltung „in Ruhe" realisieren zu können. Wie läßt sich diese These begründen? Die gesellschaftlichen Folgen staatlicher Sozialpolitik hängen von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen werden sie dadurch bestimmt sein, inwieweit wirksame Beteiligungsmöglichkeiten am politischen Willensbildungsprozeß vorhanden sind (vgl. Coleman, 1990). Diese Frage ist grundlegend für den legitimatorischen Effekt der Sozialpolitik und damit auch für die Verwirklichung der staatlichen Intentionen. Echte Partizipationschancen oder eine wirksame Interessenvertretung gab es in der DDR aber nicht. Die Bürger waren gewissermaßen „verantwortungslos" und nur territorial an den Staat gebunden. Zum anderen hängt die Legitimität bürokratischer Herrschaft von der Frage ab, inwieweit sie durch transparente, rationale Entscheidungsverfahren und universalistische Entscheidungskriterien bestimmt ist (Weber, 1972, S. 125). Die
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DDR-Herrschaft war, so wird zu Recht behauptet, bürokratisch angelegt, insofern sie im Sinne einer streng hierarchisch strukturierten Organisation verstanden werden mußte. Die bürokratisch angelegte Struktur des Herrschaftssystems war aber gerade durch nichtrationale Entscheidungsprozesse gekennzeichnet (Srubar, 1991, S. 418 f.). Schließlich war die Legitimierungsstrategie des Staates durch partikularistische Privilegierungen bestimmt. Wenn nicht durch demokratische Beteiligung an der Kontrolle gesellschaftlicher Produktionsprozesse, so sollte eine Identifikation der Beherrschten mit den Herrschern durch positionale Anreize, das heißt differenzierte Belohnungsstrukturen, erreicht werden (Ettrich, 1991; Srubar, 1991, S. 419 f.). Die Praxis persönlicher Patronage verstärkte aber vermutlich die Trittbrettfahrer-Position des nichtprivilegierten Teils der Bevölkerung. Die Konsequenz dieser Politik war eine Entsolidarisierung zwischen dem Großteil der Bevölkerung und dem Staat. Soziale Gerechtigkeit war eben fremddefiniert und nicht, wie noch bei Rawls modellhaft gefordert, über das vertragliche Einverständnis gleichberechtigter und rationaler Individuen (Rawls, 1972). Unter diesen Bedingungen wurde das, was der Staat den einzelnen an Angeboten machte und was unter lebenspraktischen Gesichtspunkten in vielen Bereichen tatsächlich hilfreich war, individuell zu nutzen versucht, ohne dem Verlangen des Staates nach Loyalität nachzukommen. Die Freiräume, die die Sozialpolitik eröffnete, stärkten eine selbstorganisierte Privatsphäre. Etwaige Rücknahmen von individuell nutzbringenden Leistungen wurden wegen der legitimatorischen Schwäche des Staates nicht akzeptiert oder wären nur unter großen Kosten für ihn durchzusetzen gewesen. Der Staat hätte den Stillhaltepakt mit der Bevölkerung gefährdet (vgl. Reinhold, 1989). Die Trittbrettfahrer-Strategie, die probate und moralisch kaum problematische Strategie aus der Sicht der individuellen Akteure, war zwar faktisch Teil des „Burgfriedens" zwischen Volk und Staat, widersprach aber den staatlichen Interessen auf vielfältige Weise. Daher wurde sie gegen die Einflußversuche des Staates gewendet und durch die Stärkung gemeinschaftlicher Strukturen abgesichert. Das war eine, wenn gewiß nicht die einzige Quelle der besonderen Bedeutung persönlicher Beziehungen in der DDR. Die „Verantwortungslosigkeit" motivierte zu einer Ausreizung der für die individuelle Wohlfahrtsproduktion positiven Elemente und Angebote der Sozialpolitik. Im sozialen Einverständnis wurde sie oft bis über die Grenzen der Legalität hinaus genutzt (Srubar, 1991, S. 422): Gegenseitige gemeinschaftliche Deckung und Solidarität waren dieser Strategie außerordentlich förderlich. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die besondere Bedeutung der Betriebe als wichtige Lieferanten öffentlicher Güter (und mehr) im Rahmen der betrieblichen Sozialpolitik zu verstehen (Kohli, 1994, S. 12 f.). Der Staat hatte die vollständige Mobilisierung der Bevölkerung im Erwerbsbereich erreicht, gleichzeitig war diese Mobilisierung aber mit hohen Kosten erkauft - Kosten, die aufgrund der unterschwelligen, selbstorganisierenden Tendenzen in der Arbeiterschaft sehr viel höher waren als intendiert: Statt Engagement erreichte man aktive Eigennutzung
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von gebotenen oder genommenen Möglichkeiten auf allen Ebenen der Gesellschaft, ansonsten war Disengagement zu beobachten (Voskamp und Wittke, 1991). Auch wenn die Gemeinschaftsorientierung in der DDR nicht allein auf die genannten Sachverhalte zurückzuführen ist (Schlegelmilch, 1995), waren die Vergesellschaftungsprofile und darüber hinaus die Sozialstruktur des Lebensverlaufs aber auf diese Weise stark an der Struktur der sozialpolitischen Güterquellen orientiert. Die staatlichen Eingriffe in die gemeinschaftlich organisierte Lebenswelt der Bürger, ihre engen sozialen Netzwerke und Gruppen blieben prinzipiell begrenzt. Ein besonderes Beispiel dafür stellt gewiß die Familie dar. Aber auch die zumeist staatlich verordneten Kollektive wurden von den Mitgliedern als Gestaltungsraum für gemeinschaftliche Beziehungen genutzt (Schlegelmilch, 1995; vgl. den Beitrag von Diewald in diesem Band). Ihre offizielle Funktion als Mobilisierungsinstrumente für die staatlichen Interessen war damit nachhaltig untergraben. Genuin informelle Beziehungsstrukturen, soweit sie durch Solidarität und Vertrauen gesichert waren, ließen sich kaum mit formellen Regelungen steuern. Es blieb dem Staat zum einen nur der Versuch der Veränderung der motivationalen Struktur der Individuen, die sich dann in veränderten Verhaltensstrukturen auch in den intimeren, abgrenzbaren Bereichen des lebensweltlichen Alltags hätte auswirken können. Zum anderen blieb ihm die Strategie des verdeckten Eindringens in diese Strukturen und der Zersetzung dieser Beziehungen durch die Streuung von Zwietracht, Mißtrauen und Angst. Gegen beide Strategien hatten die Bürger der DDR aber relativ erfolgreiche Gegenstrategien entwickelt.
5. Schlußbemerkungen „Es kommt darauf an, das sich wandelnde Wechselwirkungsverhältnis zwischen der diktatorischen Herrschaft und den vielfältigen Weisen zu erforschen, in denen die Menschen mit ihr umgingen - von kritischer Identifikation und überzeugter Kooperation über opportunistische Anpassung, Apathie und Rückzug ins Private bis hin zu Resistenz und Opposition." (Kocka, 1994a, S. 551 f.) Das ist die Aufgabe, die Kocka im Resümee eines Sammelbandes zur Sozialgeschichte der DDR formuliert. Ich habe zu dieser Frage nur einige Gedanken darlegen und einige Thesen ableiten können, um ein differenzierteres Verständnis der Beziehung von Individuum und Staat in der DDR zu gewinnen. Kockas Aufzählung der Strategien des Umgangs der Menschen mit ihrem Staat ist danach gewiß ergänzungsbedürftig. Auch und gerade in einem Staat wie der DDR ist eine Form von individuellem Verhalten kultiviert worden, die ich als gemeinschaftliches Trittbrettfahren beschrieben habe: der listig-instrumentelle Umgang mit einem System, das in seinen Grundfesten lange Zeit nicht zu erschüttern war und dennoch hochverstrickt
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Individuum und Gesellschaft in der DDR
in seinem Monomacht- und Fürsorgeanspruch immer mehr auf Distanz zum Staatsvolk geriet. Wir haben den dramatischen, letztendlich aber sang- und klanglosen Untergang des DDR-Herrschaftssystems erlebt. Angesichts der Gefahr gewaltsamer Versuche seiner Rettung konnte man diesen Umstand natürlich nur befriedigt zur Kenntnis nehmen. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung war, gewiß angesichts hoher Erwartungen gegenüber einer Gesellschaftsverfassung westlicher Prägung, gleichsam „ohne weiteres" bereit, dem alten System „ganz und gar" zu entsagen. Das ist bemerkenswert. Spontan hat es relativ wenige nennenswerte öffentliche Bekundungen zugunsten des Systems oder von Teilbeständen der institutionellen Struktur gegeben; man muß Teile der Intelligenz und Teile der Bürgerbewegungen ausnehmen, die mit Vorstellungen von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" an Elemente der DDR-Sozialpolitik anknüpfen wollten. Erst heute, nachdem die Folgen des Umbruchs und der Vereinigung für den einzelnen Bürger nachhaltig zu spüren sind, läßt sich so etwas wie eine Rückbesinnung auf Elemente der sozialpolitischen Orientierung und der daraus gewachsenen institutionellen Struktur in der ehemaligen DDR erkennen. Gewiß bedeutet das nicht, daß ein ernsthafter Gedanke an die Rückkehr zum alten Regime verschwendet würde. Doch eine Enttäuschung ursprünglich kaum klar spezifizierter Erwartungen ist eingekehrt. Zu der Erwartung gehörte wohl, daß die Sozialpolitik sozialistischen Typs, die so ausgeprägte, lebensperspektivische Selbstverständlichkeiten geschaffen und damit wesentlich die Strukturen des Alltags und des sozialen Lebens in der DDR bestimmt hatte, nicht verlorengehen würde.
Heike Solga
Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR: Anspruch und Wirklichkeit des Postulats sozialer Gleichheit
„Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für immer beseitigt. Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes Eigen." (Art. 2, § 3 der Verfassung der DDR vom 6. April 1968) „Die Beziehungen zwischen den Menschen in der sozialistischen Gesellschaft, in der alle Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt sind und das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln die Vorherrschaft gewonnen hat, sind Beziehungen wahrer Gleichberechtigung, Freiheit und sozialer Sicherheit." (Programm der SED 1976, Abschnitt E: Die sozialistische Lebensweise) Die DDR war eine Gesellschaft, in deren Selbstthematisierung soziale Chancengleichheit eine entscheidende Rolle spielte. Ihre Herstellung war eine der sinnstiftenden Hauptaufgaben sozialistischer Gesellschaften, die sie für den Übergang zur kommunistischen Gesellschaftsordnung zu leisten hatte. Betrachtet man dazu die Gesetzgebung der DDR (z.B. die Verfassung, das Bildungs-, Arbeits- und Familiengesetz der DDR), so zeichnete sich als primäres Ziel die Realisierung sozialer Chancengleichheit, genauer gesagt, proportionaler Chancengleichheit in der DDR ab. Unterstellt, daß die Leistungsfähigkeit in allen Gruppen der Gesellschaft gleichermaßen entwickelt sei bzw. werden könne und Talent sowie Begabungen gleichermaßen verteilt seien, sollten Menschen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft, unterschiedlichen Geschlechts oder unterschiedlichem Wohnort (StadtLand) in allen gesellschaftlichen Bereichen, wie beispielsweise in bezug auf Bildung, Beruf, Wohnen und Freizeit, die gleichen Lebenschancen haben 1 . Bezogen auf die sozialen Ausleseprozesse im Bildungs- und Erwerbssystem hieße das, Kinder mit unterschiedlicher Herkunft - egal ob Junge oder Mädchen - sollten ent-
1
Als Bestandteil des Prinzips sozialer Gerechtigkeit galt in der (alten) Bundesrepublik ebenfalls die Norm sozialer Chancengleichheit, hier jedoch definiert als „leistungsbezogene Chancengleichheit", als „gleiche Chancen nach Fähigkeit und Leistung", ungeachtet des Einflusses sozialer Komponenten auf die Entwicklung von Leistungsfähigkeit (Geißler, 1990, S. 85).
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
sprechend dem Anteil ihrer jeweiligen (Herkunfts-)Gruppe an der Gesamtbevölkerung in den höheren Bildungseinrichtungen sowie in exponierten beruflichen Positionen und Berufen vertreten sein (Geißler, 1990, S. 84). Die Forderung nach sozialer Chancengleichheit in diesem Sinne und die Möglichkeit ihrer Realisierung in der DDR wurden begründet durch die Behauptung, daß die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" und damit auch die strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit im Sozialismus beseitigt seien. An diesen Anspruch anknüpfend, besteht die grundlegende Idee dieses Kapitels darin zu analysieren, ob soziale Chancengleichheit in der DDR überhaupt hergestellt werden konnte. Und wenn nicht, wo die Ungleichheitslinien innerhalb der DDR-Gesellschaft verliefen, welches die „institutionalisierten Formen (...) der Ungleichverteilung von Zugangsbedingungen zu sozialen Gütern" waren (Kreckel, 1992b, S. 77), durch welche Merkmale das soziale Positionengefüge gekennzeichnet war, über welche Ressourcen die einzelnen Positionen verfügen konnten und wie der Prozeß der sozialen Auslese und Plazierung in diese Positionen erfolgte. In der Analyse werden zwei Schwerpunkte gesetzt. Im ersten Teil der Untersuchung gilt es, strukturelle Ursachen sozialer Ungleichheit in der DDR-Gesellschaft zu lokalisieren und in diesem Zusammenhang den Klassencharakter der DDR-Gesellschaft explizit zu hinterfragen. Im zweiten Teil soll mit Hilfe einer intergenerationalen Mobilitätsanalyse für die DDR-Gesellschaft gezeigt werden, inwieweit die dadurch verursachten Vor- und Nachteile von einer Generation auf die nächste übertragen wurden. Wenn bestimmte Positionen innerhalb der Gesellschaft mit Vorteilen gegenüber anderen Positionsgruppen ausgestattet sind, so liegt es im Interesse dieser Gruppen, Mechanismen zu finden und zu installieren, die den „externen" Zugang zu ihren Positionen beschränken bzw. sogar ausschließen und damit die Übertragung der Vorteile auf die nachfolgende Generation gewährleisten.
1. Die DDR aus dem Blickwinkel der Marxschen Klassentheorie: Aufklärung statt Legitimation Hinterfragt man den Charakter und die Struktur des sozialen Positionengefüges der DDR, dann könnte die Marxsche Klassentheorie von besonderem Interesse sein. Interessant deshalb, weil das Experiment „Sozialismus" versuchte, sich durch diese Theorie zu legitimieren, trat es doch mit dem Anspruch an, dessen Grundideen einer klassenlosen Gesellschaft in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen und entsprechend dieser „wissenschaftlichen Weltanschauung" Gesellschaft zu planen und zu gestalten. In diesem Sinne ist es durchaus legitim und nicht ohne einen gewissen Reiz, die gesellschaftliche Realität des „real-existierenden Sozialismus" nun mit Hilfe dieser Theorie zu untersuchen, die ungleichheitsstiftende Wirkung der Eigentumsverhältnisse im allgemeinen und die des staatlichen Eigentums im besonderen in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu rük-
Heike Solga
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ken 2 . In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus überraschend festzustellen, daß in allen nach der Wende vorgelegten Rekonstruktionsversuchen der gesellschaftlichen Verfaßtheit der DDR-Gesellschaft das Selbstbild staatssozialistischer Gesellschaften als quasi „klassenlose" Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Klassenlagen lediglich als noch nicht überwundene Relikte aus der kapitalistischen Vergangenheit angesehen wurden, die jedoch keinesfalls mehr auf Ausbeutungsverhältnissen beruhen würden, weitgehend unreflektiert geblieben ist. In der folgenden Untersuchung wird daher versucht, auf der Basis eines klassentheoretischen Ansatzes nun gerade die Widersprüchlichkeit der Eigentumsverhältnisse der DDR-Gesellschaft und damit dieses Selbstbild der DDR zu hinterfragen. Dieser Versuch ist an sich nicht neu. Bezogen auf andere (ehemals) staatssozialistische Staaten ist eine Vielzahl von Beispielen wie zum Beispiel Konrads und Szelenyis Studie Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht (1978), Djilas' The New Class (1957) oder Voslenskys Nomenklatura (1980) bekannt, in denen die Sozialstruktur der staatssozialistischen Gesellschaften als Klassengesellschaft im Marxschen Sinne reflektiert wurde. Ausgangspunkt der Überlegungen zum Klassencharakter staatssozialistischer Gesellschaften ist die Frage nach dem Charakter des gesellschaftlichen Eigentums. Bei näherer Betrachtung dieser Gesellschaften und ihrer Funktionsweise ist festzustellen, daß sich das gesellschaftliche Eigentum nicht als Volkseigentum, sondern als staatliches Eigentum realisierte, denn es gehörte „denjenigen gesellschaftlichen Gruppen, denen der Staat gehört (...) Die politische Macht verbindet sich so mit der Macht über den Produktions- und den Verteilungsprozeß." (Kuron und Modzelewski, 1969, S. 11) In diesem Sinne „stellte das juristisch-fixierte Völkseigentum nur ein formales Verhältnis dar, das keine konkreten individuellen Verfügungsrechte begründete". Die tatsächlichen Verfügungsrechte besaß „eine politisch weisungsberechtigte Klasse, die im Namen der Gesellschaft faktisch über die Volkswirtschaft verfügte und die Subsistenzmittel der einzelnen Gruppen verteilte" (Kronrod, zit. in Ahlberg, 1981, S. 970). Die Eigentümerprivilegien dieser Klasse manifestierten sich in dem exklusiven Recht, über die Verteilung des produzierten Nationaleinkommens, die Höhe der Löhne, die wirtschaftliche Entwicklung und schließlich über die Verwendung des staatlichen und weitgehend auch des existierenden Privateigentums entscheiden zu können (Voslensky, 1980, S. 44 f.). „Die Liquidierung des Privateigentums und seine Umwandlung in sozialistisches Eigentum stellte daher nichts anderes dar als die Übergabe des gesamten Vermögens eines Landes an die herrschende Klasse der Nomenklatura (...) Sie ist der kollektive Unternehmer im Realsozialismus." (S. 214) Definiert man Eigen-
2
Die theoretischen sowie die empirischen Überlegungen sind eine komprimierte Form der Dissertation der Autorin (Solga, 1994a) Eine ausführliche Darstellung und Diskussion der unterschiedlichen Erklärungsansätze sozialer Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften sowie tiefergehende empirische Analysen sind dort zu finden.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
tum als die „Fähigkeit, den Zugang zu bestimmten ökonomischen Ressourcen kontrollieren zu können" (S0rensen, 1994, S. 5; übersetzt v. H.S.), dann ist der Ausbeutungsmechanismus und damit die strukturelle Ursache sozialer Ungleichheit in staatssozialistischen Gesellschaften in der Ausübung der Redistribution der Produktionsmittel sowie der produzierten Güter und Leistungen zu suchen. Uneingeschränkte Kontrolle, Partizipationsmöglichkeiten an oder Ausschluß von dieser redistributiven Macht und darüber vermittelt der Zugang zu Teilen des produzierten Reichtums werden durch den Besitz bzw. Nicht-Besitz an politischer, ökonomischer und/oder technokratischer Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel bestimmt. Technokratische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wird hierbei ebenfalls relevant, da es mit ihrer Hilfe gelingt, sich aufgrund von exklusivem Wissen oder von organisatorischen Befugnissen einen privilegierten Anteil des gesellschaftlichen Reichtums anzueignen. Generell gilt - wie in kapitalistischen Klassengesellschaften - auch hier: Wer entscheidet, wie und was produziert wird, der hat auch die Entscheidungsmacht darüber, wie dieser produzierte Reichtum verteilt wird (Wright, 1980). Im Unterschied zu anderen Klassengesellschaften bestand das Klasseninteresse der herrschenden Klasse im Staatssozialismus nicht mehr in erster Linie in der Profitmaximierung, sondern in der Aufrechterhaltung und dem Ausbau ihrer redistributiven Macht, die man mit Hilfe von zunehmender Basisgleichheit zu legitimieren versuchte. Die Eigentümer der verstaatlichten Produktionsmittel, das heißt die Angehörigen der Parteielite, waren somit zu „einem vor allem volkswirtschaftlich riskanten Balanceakt zwischen ihren gesellschaftlichen Zielen und [einer] möglichst permanenten sozialen Befriedigung der Arbeiterschaft, gewissermaßen zu einem sozial gesteuerten Burgfrieden" (Hübner, 1993, S. 15 f.) gezwungen. Diese eigentümliche Verzahnung von Egalisierung und Differenzierung wurde durch den Widerspruch zwischen dem gesetzlich fixierten Volkseigentum und der tatsächlichen Verfügungsgewalt über die verstaatlichten Produktionsmittel seitens der Parteielite (als herrschender Klasse) und ihrer Dienstklassen (Djilas, 1957, S. 65 f.) verursacht. Für die Mehrheit der Bevölkerung hatte sie Statusinkonsistenzen zur Folge. Aufgrund der Egalisierungstendenzen (wie z.B. das einheitliche Bildungssystem, die staatlich festgelegten Löhne und Preise, die Subventionierung von Mieten, Grundnahrungsmitteln und Kinderbekleidung sowie von Büchern und Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen) verloren Einkommensunterschiede im Sozialismus an Bedeutung 3 . Gleichzeitig verursachte die sozial ungleiche Bewertung funktionaler Unterschiede (z.B. in der Qualifikation, den
3
So kommen vergleichende Analysen der Einkommensverhältnisse in der D D R und der B R D zu der Feststellung, daß im Unterschied zur B R D Uber die faktischen Einkommen nur ein geringer Teil der existierenden sozialen Ungleichheit in der D D R erklärt werden kann, da „monetäre Einkünfte und reale Versorgungslage nicht zusammenfielen" (Szydlik, 1993, S.198; Fritzsche, 1990; Hauser u.a., 1991).
Heike Solga
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Entscheidungsbefugnissen und Arbeitsinhalten) soziale Differenzierungen. Diese gegenläufigen Tendenzen von Egalisierung und Differenzierung generierten ein eigentümlich anmutendes Bild einer „Statusdekomposition" (Wesolowski, 1979; Wesolowski und Mach, 1985) oder, mit Matejus Worten, einer „Entstratifizierung" (Mateju, 1990; Machonin und Tucek, 1992): Hohes Einkommen war nicht notwendigerweise mit hoher Bildung verbunden, so wie umgekehrt geringe Qualifikation nicht zwingend zu geringem Einkommen führen mußte. Im Ergebnis konnten nur für die obere und die unterste Schicht der staatssozialistischen Gesellschaft, verursacht durch die Vorherrschaft des „sozialistischen Staates", das heißt der totalen Kontrollgewalt der Partei und Staatsbürokratie, und damit die Dominanz der Machtdimension gegenüber den anderen Statusdimensionen, konsistente Statusallokationen festgestellt werden (Machonin und Tucek, 1992, S. 4). Besitz von Macht in jeglicher Hinsicht implizierte zugleich die Privilegierung in allen Bereichen der Gesellschaft, während der generelle Ausschluß von jeglicher Machtbefugnis eine Schlechterstellung in allen Bereichen mit sich brachte. Für die Mehrheit der Bevölkerung waren jedoch aufgrund der Verletzung der meritokratischen Prinzipien bei der Zuordnung von Personen zu Positionen durch die hohe Einkommensgleichheit hohe Inkonsistenzen zwischen der Position innerhalb der Machthierarchie, dem Einkommen sowie dem materiellen und kulturellen Lebensstandard zu konstatieren (Machonin und Tucek, 1992, S. 7 f.; Wesolowski und Mach, 1985, S. 222 und 225). Mit einer Ausnahme: Es bestand auch weiterhin ein starker Zusammenhang von Qualifikation und Komplexität der Arbeit (Machonin und Tucek, 1992; Wesolowski und Mach, 1985)4. Diese abnehmende Interdependenz der einzelnen statusgenerierenden Dimensionen führte die zitierten Soziologen unter anderem zu der Auffassung, daß Unterschiede in den Einkommen, im Inhalt der Arbeit und ähnlichem nicht mehr durch die Eigentumsverhältnisse determiniert würden, diese ihre Wirkung als Determinante sozialer Ungleichheit verloren hätten (Wesolowski, zit. in Röder, 1972, S. 112; Szczepanski, 1970, S.140), die Ursache sozialer Unterschiede vielmehr im sozialistischen Verteilungsprinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" zu sehen sei. Im Zusammenhang mit der hier interessierenden Fragestellung, ob die DDR eine Klassengesellschaft war, gilt es, diese Befunde danach zu hinterfragen, inwieweit nicht doch den Eigentumsverhältnissen eine zentrale Bedeutung für die soziale Strukturierung dieser Gesellschaften zugeschrieben werden kann, inwieweit diese Statusdekomposition letztendlich nicht doch durch den Charakter des staatlichen Eigentums verursacht wurde. Reflektiert man den für staatssozialistische Gesellschaften typischen Widerspruch zwischen
4
Sowohl Wesolowski und Mach (1985, S. 210) als auch Machonin und Tucek (1992, S. 8) sehen in dieser Statusdekomposition bzw. Entstratifizierung eine interne Ursache für den „Legitimations- und Legalitätsverlust der politischen und gesellschaftlichen Ordnung" in ihren Gesellschaften.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
ideologischem Selbstbild und tatsächlicher Situation auch in bezug auf die Eigentumsverhältnisse, so impliziert dies die Trennung von juristisch fixiertem Volkseigentum und tatsächlicher Verfügungsgewalt über die verstaatlichten Produktionsmittel. In dieser Trennung sieht Djilas (1957, S. 49) den Grundwiderspruch des Staatssozialismus, aufgrund dessen einerseits für die Legitimation des Staatseigentums als Volkseigentum die Beseitigung der Ausbeutung unterstellt und die Abschaffung bzw. Verringerung sozialer Ungleichheit gezwungenermaßen versprochen werden mußte. Andererseits implizierte dieser Widerspruch zugleich die Zunahme sozialer Ungleichheit, um sich der Loyalität seiner Anhänger durch den Zugang zu Privilegien versichern zu können (S. 65 f.). Auf seine strukturelle Ursache hinterfragt, läßt sich das in staatssozialistischen Gesellschaften zu beobachtende Wechselspiel von Egalisierung und Differenzierung somit doch gerade auf die Existenz des staatlichen Eigentums zurückführen und führt nicht - wie oben konstatiert wurde - zur Eliminierung der Eigentumsverhältnisse als strukturelle Ursache sozialer Ungleichheit. Außerdem folgt daraus, daß die Beseitigung sozialer Ungleichheit unter staatssozialistischen Verhältnissen nie möglich gewesen wäre - wie groß oder gering ihr Ausmaß auf der individuellen Ebene auch immer gewesen ist (siehe den Beitrag von Diewald und Solga in diesem Band) da diese durch den tatsächlichen Charakter des gesellschaftlichen Eigentums als staatliches Eigentum verursacht wurde. Diese Diskussion zeigt zugleich, daß für eine Charakterisierung der Eigentumsordnung staatssozialistischer Gesellschaften, das heißt der Art und Weise, wie die gesellschaftliche Organisation dieser Gesellschaften strukturiert gewesen ist, insbesondere die Frage nach der politischen Dimension der Eigentumsverhältnisse, ihrer Machtkomponente, zu thematisieren ist: Ob es eine solche gegeben hat, welchen Stellenwert sie hatte, inwieweit und in welchen Formen sie im Prozeß der sozialen Allokation Handlungsrelevanz erlangt hat. Diese Möglichkeit bietet das Wrightsche Konzept der Differenzierung des Eigentums an Produktionsmitteln in unterschiedliche Eigentümerfunktionen, wobei letztere in einer Hierarchie angeordnet sind (1980). Bezogen auf die DDR-Gesellschaft gilt es zu fragen: (1) Wer konnte in der DDR entscheiden, wieviel und was produziert wurde (wer entschied über den Investitions- und Akkumulationsprozeß)? (2) Wer konnte entscheiden, wie produziert wurde (wer entschied über die konkrete Nutzung der Produktionsmittel)? (3) Wer hatte die Kontrolle und Aufsicht im unmittelbaren Arbeitsprozeß? Die Antworten darauf für die DDR lauten: (1) Diejenigen, die die politische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hatten bzw. an ihr partizipieren konnten. (2) Diejenigen, die (mindestens) die ökonomische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hatten bzw. an ihr partizipieren konnten. (3) Diejenigen, die (mindestens) die technokratische Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel hatten bzw. an ihr partizipieren konnten.
Heike Solga
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Aus dem Blickwinkel des Ausbeutungsmechanismus der DDR-Gesellschaft heißt das: Wer diese Verfügungsgewalten besaß bzw. an ihnen partizipieren konnte, der konnte sich auch einen privilegierten Anteil am produzierten Reichtum aneignen, der damit denjenigen, die weder diese Verfügungsgewalten besaßen noch an ihnen partizipieren konnten, diesen Reichtum jedoch produzierten, verwehrt blieb. Damit gestalteten sich auch in der DDR die Verhältnisse zwischen den Klassen als Beziehungen, in denen das Wohlergehen der einen Klasse im kausalen Zusammenhang zum Schlechtergehen der anderen Klasse(n) stand (Roemer, 1982a, 1982b). Die unterschiedlichen Eigentumsformen, die in der DDR existiert haben, definierten den Zugang zu entsprechenden Verfügungsgewalten für ihre Eigentümer sowie den gleichzeitigen Ausschluß der Nicht-Eigentümer. Folgt man diesen Überlegungen, dann sind für die Definition der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft drei Schritte notwendig, die Gegenstand des folgenden Abschnitts sind: (1) die Bestimmungen der Produktionsweisen und der relevanten Eigentumsformen der DDR-Gesellschaft, (2) die Bestimmung der Zugangsmöglichkeiten zu den oben genannten Verfügungsgewalten über die Produktionsmittel für die einzelnen Eigentumsformen und die Definition der daraus resultierenden Klassenlagen und (3) die Zuordnung von Handlungsträgern zu diesen Klassenlagen.
2. Die Klassenlagen der DDR Klassenlagen generierten sich in der DDR-Gesellschaft aus dem Nebeneinander von staatlichem, genossenschaftlichem und privatem Eigentum, wobei das staatliche Eigentum alle anderen Eigentumsformen dominierte. Diese unterschiedlichen Eigentumsformen entschieden über die jeweiligen Zugangsmöglichkeiten zu den oben genannten Verfügungsgewalten. Sie definierten den Zugang zu entsprechenden Ressourcen für ihre Eigentümer - und damit die Möglichkeit der Aneignung eines privilegierten Anteils am produzierten Reichtum - sowie den gleichzeitigen Ausschluß der Nicht-Eigentümer. Eine schematische Darstellung des Zusammenhangs von Eigentumsformen und Verfügungsgewalten wurde in den Abbildungen 1 und 2 versucht, wobei mit deren vertikaler Anordnung nicht unbedingt eine Reihen- bzw. Rangfolge impliziert ist, da es sich um eine relationale Strukturierung von Gesellschaft handelt.
2.1 Klassenlagen des staatlichen Eigentums Parteielite (als herrschende
Klasse)
Zu ihr gehörten die Angehörigen des Parteiapparats im engeren Sinne (Sekretäre, Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees der SED, Mitglieder und Kandi-
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Abbildung 1: Die Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft Dominante Produktionsweise
Untergeordnete Produktionsweisen
Sozialistische Warenproduktion
Staatliches Eigentum
Genossenschaftliches Eigentum (ab 1952)
Einfache Warenproduktion
Kapitalistische Warenproduktion
Kleines Privateigentum
Kapitalistisches Privateigentum
Parteielite Betriebseigentümer
Administrative Dienstklasse Operative Dienstklasse
Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums
Bürgerliche Dienstklasse Selbständige
PGH-Handwerksmeister Selbständige Kleinbauern Genossenschaftsbauern Sozialistische Arbeiterklasse Reine Klassenlagen, Widerspruchliche
Klassenlagen.
daten des Politbüros, Leiter der Abteilungen des ZK der SED, erste Sekretäre der SED-Bezirksleitungen sowie die Mitglieder der obersten Führungsgremien der parteiabhängigen Massenorganisationen) 5 . Nur sie hatten die Macht, die gesellschaftsstrategisch wichtigsten Entscheidungen hinsichtlich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes zu treffen. Zugleich blieb ihnen auf allen gesellschaftlichen Ebenen das Recht vorbehalten, in Entscheidungen einzugreifen und diese im Sinne ihrer Interessen und Politik auszurichten. Administrative Dienstklasse des staatssozialistischen
Planungssystems
In den Positionen dieser Klassenlage befanden sich die Nomenklaturkader der administrativen Ebene des Planungssystems (Volkskammer, Staatsrat, Ministerrat, 5
In gleicher Weise bestimmt auch Schneider die Gruppe der Parteifunktionäre, das heißt in Abgrenzung zu den Staats- und Wirtschaftsfunktionären (Schneider, 1994, S. 121).
Heike Solga
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Abbildung 2: Die Verfügungsgewalten der einzelnen Klassenlagen Klassenlagen
Politische Verfügungsgewalt
Ökonomische Verfügungsgewalt
Technokratische Verfügungsgewalt
Parteielite
+
+
+
Administrative Dientstklasse
0
0
+
Operative Dienstklasse
-
-
+
Sozialistische Arbeiterklasse
-
-
-
Klassenlagen Eigentums
Klassenlagen schaftlichen
des
staatlichen
des genossenEigentums
Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums
-
(O)
Genossenschaftsbauern
-
PGH-Handwerksmeister
-
(0) (0)
-
+
Klassenlagen des Privateigentums
+
-
0
kleinen
Selbständige Selbständige Klein- und Mittelbauern
—
0
+
Privatkapitalistisches Eigentum Betriebseigentümer Bürgerliche Dienstklasse
-
+/0
•
-
+
+ volle; o partielle; - keine; (o) partiell in bezug auf „genossenschaftlich".
Staatliche Plankommission, Kombinatsleitungen, Militär, Staatssicherheit, obere Führungsgremien der Partei, Blockparteien und Massenorganisationen, Führungsebenen der wissenschaftlichen Institute des ZK sowie der Akademien der Wissenschaften). Im Gegensatz zur Parteielite hatten sie nur „die Aufgabe des Nachbeschließens von Beschlüssen, die im Politbüro, im Sekretariat des ZK der SED oder in anderen Parteigremien gefaßt worden waren" (Modrow, 1991, S. 30). Aufgrund der Delegierung von Verantwortung seitens der Parteielite konnten sie einerseits an der politischen und ökonomischen Verfügungsgewalt der Parteielite
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
partizipieren, andererseits waren sie von wesentlichen wirtschaftsstrategischen Entscheidungen ausgeschlossen. Operative Dienstklasse des
Planungssystems
In dieser Klassenlage waren alle Kader der mittleren Führungsebene (z.B. Abteilungsleiter, Schuldirektoren) sowie die Angestellten mit hochqualifizierten Tätigkeiten (z.B. Lehrer, Ärzte, Ingenieure). Ihnen gelang es, aufgrund ihrer Position in der Leitungshierarchie (Organisationsbefugnisse) oder ihrer besonderen Qualifikation (Expertenwissen und Professionalität) im „Dienste der Parteielite" wesentliche Momente der technokratischen Verfügungsgewalt auszufüllen. Andererseits waren sie wie die Arbeiterklasse von der politischen und ökonomischen Verfügungsgewalt ausgeschlossen. Sozialistische A rbeiterklasse Zur sozialistischen Arbeiterklasse gehörten die Facharbeiter, die qualifizierten Angestellten sowie die Arbeiter und Angestellten mit un- und angelernten Tätigkeiten. Sie waren sowohl von der politischen und ökonomischen als auch technokratischen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ausgeschlossen. Ihr einziges Recht - und ihre zugleich unabdingbare Pflicht - bestand darin, die Produktionsmittel durch ihre Arbeit zu nutzen und den Hauptteil des gesellschaftlichen Reichtums zu produzieren. Aufgrund der starken Monopolisierungstendenzen von politischer, ökonomischer und technokratischer Macht war eine breite Gruppe der Bevölkerung von jeglicher Verfügungsgewalt ausgeschlossen (und in diesem Sinne durch ein homogenes Verhältnis zu den anderen Klassen gekennzeichnet). Dies erklärt unter anderem die relativ große interne Heterogenität der Arbeiterklasse in bezug auf Qualifikation und Arbeitsinhalte.
2.2 Klassenlagen des genossenschaftlichen Eigentums als Sonderform der sozialistischen Warenproduktion Dienstklasse des genossenschaftlichen
Eigentums
In dieser Klassenlage waren die folgenden Positionen zu finden: die Vorsitzenden von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) sowie von Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH). Aufgrund ihres Eingebundenseins in den staatlichen Planungsprozeß besaßen sie einerseits im Vergleich zu den anderen Genossenschaftsmitgliedern privilegierte Organisationsbefugnisse, andererseits vertraten sie spezifische Interessen als Miteigentümer von genossenschaftlichem Eigentum in der Landwirtschaft oder im Handwerk.
Heike Solga
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Genossenschaftsbauern Dazu zählten alle Mitglieder in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die Genossenschaften waren die Eigentümer der wichtigsten Produktionsmittel sowie der erzielten Produktionsergebnisse aus Ackerbau und Viehwirtschaft. Das von den Genossenschaftsbauern eingebrachte Land blieb rein formal ihr persönliches Eigentum 6 . Damit verblieb ihnen ein Teil der ökonomischen Verfügungsgewalt über ihre Produktionsmittel, die jedoch durch staatliche Regulierungsmechanismen stark eingeschränkt wurde. PGH-Handwerksmeister Sie produzierten größtenteils unmittelbar mit den Produktionsmitteln, die sie bei der Genossenschaftsgründung eingebracht hatten, so daß ihnen Reste an ökonomischer und technokratischer Verfügungsgewalt verblieben. Für diese Klassenlagen des genossenschaftlichen Eigentums ist insbesondere hervorzuheben, daß mit der Umwandlung der selbständigen Bauern bzw. Handwerker zu Genossenschaftsmitgliedern Mobilitätsprozesse stattfanden, zugespitzt formuliert, politisch initiiert wurden, die keinerlei Aktivität im Sinne eines Ortsoder sogar Arbeitsplatzwechsels verlangten.
2.3 Klassenlagen der untergeordneten Produktionsweisen Selbständige Klein- und
Mittelbauern
Dazu gehörten alle selbständigen Bauern mit einer landwirtschaftlichen Nutzfläche, deren Größe eine eigene Mitarbeit notwendig machte. Selbständige Handwerker und
Gewerbetreibende
Die Beschäftigung von „Lohnarbeit" durch selbständige Handwerker und Gewerbetreibende war auf maximal zehn Mitarbeiter begrenzt, um - wie es in der offiziellen Begründung hieß - „Ausbeutung zu vermeiden". Betriebseigentümer
und
Großgrundbesitzer
Mit Hilfe besonderer wirtschafts- und steuerrechtlicher Maßnahmen wurde die - mit dem Völksentscheid in Sachsen 1946 begonnene - Sozialisierung der Industrie systematisch vorangetrieben. Viele Eigentümer entzogen sich diesem Druck durch die Flucht nach Westdeutschland. Ihr Eigentum ging automatisch in Staats-
6
Trotz dieser rechtlichen Stellung hatten sie nicht das Recht, ihre Mitgliedschaft aufzukündigen.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
eigentum über. Andere „wählten" den Weg einer Kommanditgesellschaft mit Beteiligung des Staates (halbstaatliche Betriebe) 7 . 1972 kam es auf Beschluß der 4. Tagung des ZK der SED zur Umwandlung dieser Betriebe in staatliches Eigentum. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft waren auch die von der Bodenreform nicht betroffenen Großgrundbesitzer den LPG beigetreten. Damit war die Existenz dieser Klasse beendet; Industrie und Landwirtschaft waren nahezu vollständig entprivatisiert. Die bürgerliche
Dienstklasse
Diese Klassenlage hatte in der DDR-Gesellschaft zwei Bestandteile. Zum einen gab es die „alte" bürgerliche Dienstklasse, deren Existenz aus dem Vorhandensein privatkapitalistischen Eigentums in der DDR selbst resultierte und die folglich mit der Beseitigung dieser Eigentumsform beendet wurde. Dazu gehörten die langjährigen Beamten im gehobenen und höheren Dienst vor und kurz nach 1945, die „bürgerliche" Intelligenz (die bereits vor 1945 in exponierter Stellung war) sowie die Angestellten der oberen Leitungsebene der noch vorhandenen privaten Industriebetriebe. Ein bedeutender Teil dieser bürgerlichen Dienstklasse wählte aus Gründen politischer Repressalien und/oder der Verschlechterung ihrer beruflichen Chancen und sozialen Stellung den Weg nach Westdeutschland. Andere vermochten es, durch loyales Verhalten gegenüber dem neuen System einen neuen Platz in der administrativen oder operativen Dienstklasse zu finden. Zum anderen gab es in der DDR eine „neue" bürgerliche Dienstklasse, deren Existenzgrundlage sich durch das externe Vorhandensein des kapitalistischen Gesellschaftssystems definierte. Dazu gehörten die Würdenträger und Funktionäre der Kirchen in der DDR, die „oppositionellen" freischaffenden Künstler sowie die freien akademischen Berufe 8 .
3. Die Klassenstruktur der DDR - Ein Produkt politischer und ökonomischer Intervention Die Definition und Beschreibung der einzelnen Klassenlagen vermitteln bereits einen ersten Eindruck davon, daß es zahlreiche Veränderungen in der Klassenstruktur der DDR gegeben hat, „die Sozialstruktur [der 1980er Jahre] ganz we-
7
Von einer „freiwilligen" Wahl kann dabei wohl kaum die Rede sein, denn ohne „staatliche Beteiligung" wurden sie überdurchschnittlich besteuert, in der Materialzuteilung schikaniert, erhielten sie keine Kredite, so daß Investitionen kaum möglich waren (siehe Mitzscherling u.a., 1971).
8
Für eine detaillierte Darstellung und Begründung der Definition der alten und der neuen bürgerlichen Dienstklasse in der D D R siehe Solga (1994a).
Heike Solga
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sentlich das Ergebnis eines immer erneut in Gang gesetzten, politisch determinierten Prozesses sozialer Umwälzungen" gewesen ist (Glaeßner, 1988, S. 6). Ursachen dieser Veränderungen waren vor allem politische und ökonomische Interventionen des Staates und damit die Interessen der Parteielite und ihrer Dienstklassen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, einen kurzen historischen Überblick über die politischen und wirtschaftlichen Prozesse zu geben, die maßgeblich zur Etablierung einer „staatssozialistischen Klassenstru ktur" in der DDR führten. Für die systematische Darstellung wird auf einen Periodisierungsvorschlag von Belwe (1989) zurückgegriffen. In dieser Periodisierung setzt sie die sozialstrukturelle Entwicklung der DDR in Beziehung zu einschneidenden Veränderungen im politischen und/oder wirtschaftlichen Bereich, wodurch sich drei Perioden voneinander abgrenzen lassen: -
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Erste Periode (1945 bis 1961): Die Schaffung der fundamentalen Strukturen des sozialistischen Systems, abgeschlossen mit dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse". Zweite Periode (1961 bis Ende der 1970er Jahre): Die Stabilisierung des sozialistischen Systems in der DDR mit dem Ziel der „zunehmenden Überwindung sozialer Ungleichheit". Dritte Periode (1980 bis 1989): Der Zeitraum der sozialen Redifferenzierung, in der das Ziel der „Homogenisierung der Gesellschaft" auf den Kommunismus „vertagt" wurde und man sich der „Triebkraftwirkung sozialer Unterschiede" zuwendete.
3.1 Erste Periode (1945 bis 1961): Schaffung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR Diese Periode war durch einen fundamentalen Wandel der Sozialstruktur gekennzeichnet. Dieser soziale Wandel wurde primär durch eine politische Revolution, die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung" in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), initiiert. Diese Umwälzung beinhaltete die Abschaffung des Beamtentums, die Entnazifizierung, die Enteignung und Verstaatlichung der Industrie sowie die Bodenreform und die anschließende Kollektivierung der Landwirtschaft Ende der 1950er Jahre. In ihrem Ergebnis entstand der „volkseigene Sektor", der bereits 1948 zwei Drittel der industriellen Bruttoproduktion und etwa 10 Prozent der landwirtschaftlichen Bruttoproduktion (auf den volkseigenen Gütern) produzierte 9 . In sozialstruktureller Hinsicht bedeutete dies unter anderem, daß 1948 50 Prozent der Leitungspositionen in den Volkseigenen Betrieben
9 Nur wenige Jahre später (1955) wurden bereits etwa 85 Prozent der industriellen Bruttoproduktion in den staatlichen Betrieben produziert.
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(VEB) durch frühere Industrie- bzw. Landarbeiter besetzt wurden (Timmermann, 1988, S. 30). Auf der anderen Seite führte diese politische Revolution über den Entzug von Eigentumsrechten zur nahezu vollständigen Beseitigung der Klasse der Kapitaleigentümer. Der noch vorhandene kapitalistische Sektor beschränkte sich auf eher mittelständische und kleine Industriebetriebe. Mittels der Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik der SED wurden diese von Anfang an in die zentrale Planung einbezogen und in ihrem Wachstum begrenzt. Mit ihrer Umwandlung in „Betriebe mit staatlicher Beteiligung" 10 (1956) wurde dann auch noch „die verbliebene rechtliche Verfügung über privates Produktivkapital durch die Beteiligung des Staates an privaten Unternehmen beschnitten" (Kruppa, 1976, S. 90). Durch Vermögenseinlagen erwarb der Staat als Kommanditist Eigentumsanteile an den privaten Betrieben, so daß er nun noch direkter Einfluß auf die Produktionslenkung ausüben konnte. 1961 gab es bereits 5.000 solcher Betriebe in der Industrie (S. 90). Ebenfalls im Ergebnis politischer Intervention entstand mit der Bodenreform in der SBZ ein umfangreicher Sektor einzelbäuerlicher Wirtschaften, die sogenannten Neubauernhöfe. Sie verfügten über etwa 60 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen und waren so bereits kurz nach Kriegsende zur vorherrschenden Klasse auf dem Lande geworden. Im Zuge der „sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft" wurden diese bis 1961 nahezu vollständig kollektiviert. Über steuerrechtliche, kredit- und preispolitische Maßnahmen sowie andere „Vergünstigungen" (z.B. vordringliche Versorgung mit Düngemitteln und Saatgut, vorrangiger Einsatz der Technik der Maschinenausleihstationen, kostenlose agronomische und zootechnische Betreuung) wurde der „freiwillige" Beitritt der selbständigen Bauern in die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) seit 1952 durchgesetzt. Aufgrund der knappen Ressourcen zogen es selbst die noch existierenden Großbauern" vor, von der Möglichkeit des Eintritts in eine LPG seit 1954 Gebrauch zu machen. Ähnliche Prozesse spielten sich auch im Bereich des privaten Handwerks und Einzelhandels ab. Bis 1957 noch marginal, nahm die Bedeutung des genossenschaftlich organisierten Handwerks von 1958 bis 1960 stark zu (Mitzscherling u.a., 1971, S. 156). Ursache dafür waren unter anderem die 1958 eingeführte progressive Gewinnsteuer für Handwerksbetriebe (mit mehr als drei Beschäftigten) sowie die bevorzugte Waren- und Materialversorgung von Genossenschaften. Innerhalb der Dienstklassen kam es aufgrund einer generellen Diskriminierung der bürgerlichen und kirchlichen Kreise sowie der Entnazifizierung im Verwal-
10 Hierbei ist zu erwähnen, daß es diese Rechtsform in keinem der anderen sozialistischen Länder, sondern nur in der D D R gegeben hat. 11 D a s waren jene Großbauern, die nicht oder nur partiell unter die Enteignung des Großgrundbesitzes fielen, da sie eine Nutzfläche von unter 100 Hektar besaßen bzw. ihnen Land in dieser Größenordnung verblieb.
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tungs-, Bildungs- und Wissenschaftsbereich zu vielfältigen sozialen Auf- und Abstiegsbewegungen. Dieser Austausch der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten diente der gezielten Schaffung der neuen sozialistischen Dienstklassen. Für einen beachtlichen Teil der früheren Lehrer, Juristen, Betriebsleiter und Staatsbeamten war diese Umwälzung mit einschneidenden sozialen Abstiegen verbunden. So mußten beispielsweise gemäß dem Befehl Nr. 40 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 72 Prozent aller Lehrer der allgemeinbildenden Schulen und 90 Prozent der früheren Berufsschullehrer aufgrund ihrer „politischen und moralischen Haltung" während des Krieges den Schuldienst quittieren (Gewände, 1990, S. 15; Peper, 1969, S. 147). Der Ersatz der entlassenen und zumeist nach Westdeutschland abgewanderten hochqualifizierten Personen konnte anfangs fast nur durch möglichst schnell zu qualifizierende Facharbeiter realisiert werden (z.B. Neulehrer und Volksrichter). Neben dem politischen Anspruch, das bürgerliche Bildungsprivileg zu brechen, mußte die Bildungspolitik der SED damit vor allem auch diesem wirtschaftlichen Erfordernis Rechnung tragen. Daher wurde bereits auf der 1. Hochschulkonferenz (1946) gefordert, die Universitäten und Hochschulen für junge Facharbeiter zu öffnen. Es wurden vielfältige Fördermaßnahmen speziell für Arbeiter- und Bauernkinder installiert, wie zum Beispiel der Erwerb der Hochschulreife in der Erwachsenenqualifizierung an Abendschulen, das „Arbeiterstudium" (Zulassung zum Studium ohne ein Reifezeugnis), das Hochschulfernstudium oder die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF). Neben dem Qualifizierungsaspekt verfolgte die Partei damit ein weiteres Ziel: Sie hatte ein primäres Interesse daran, „so schnell wie möglich politisch zuverlässige Kräfte in die Hochschulen zu lancieren, um sie dort auf die Hochschulpolitik Einfluß nehmen zu lassen" (Stallmann, 1980, S. 88). Unterstützt durch gezielte Werbe- und finanzielle Absicherungsmaßnahmen, führte dieser „Arbeiter- und Bauern-Bonus" zu einer Verschiebung der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft zugunsten dieser Bevölkerungsgruppen. Der Hochschulzugang wurde damit gezielt als ein Mechanismus genutzt, um eine neue Führungsschicht herauszubilden. Das Ergebnis all dieser - zumeist politisch in Gang gesetzten - Prozesse war eine Klassenstruktur, die bereits durch die Dominanz des staatlichen Eigentums und die Unterordnung der privaten Eigentumsformen oder deren Umwandlung in genossenschaftliches Eigentum gekennzeichnet war. Diese Periode war vor allem durch „kollektive Übergänge" von einer Klasse in eine andere geprägt: vom Landarbeiter/landarmen Bauern zum selbständigen Bauern und dann Genossenschaftsbauern; vom Arbeiter zum Angehörigen der sich etablierenden sozialistischen Dienstklassen; vom Privateigentümer zum Besitzlosen; vom selbständigen Handwerker zum PGH-Handwerksmeister oder durch den Abstieg aus der alten bürgerlichen Dienstklasse - oftmals kompensiert durch das Verlassen der DDR und einen Neubeginn in Westdeutschland.
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3.2 Zweite Periode (1961 bis Ende der 1970er Jahre): Die Stabilisierung des sozialistischen Systems in der DDR Nach dem „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" galt es nun, dem politischen Anspruch der schrittweisen Überwindung sozialer Ungleichheit in der DDR gerecht zu werden. Dazu war es jedoch notwendig, die wirtschaftliche Effizienz zu erhöhen. Während die Ulbricht-Regierung die Ankurbelung der wirtschaftlichen Entwicklung mit Hilfe von dezentralisierenden Maßnahmen versuchte, setzte die Honecker-Regierung (seit 1971) auf eine stärkere Zentralisierung der Wirtschaft. Die politische Ausgangssituation dieser Periode „war vom Standpunkt der Parteispitze aus gesehen günstig: Die Partei war homogenisiert, weil ihrer revisionistischen Opposition entledigt, die [bürgerliche] Intelligenz war eingeschüchtert, die Kollektivierung der Landwirtschaft abgeschlossen. Die DDR näherte sich dem parteistaatlichen Idealzustand einer Gesellschaft von Staatsangestellten und potentiellen Parteiexekutoren an. Der Mauerbau hatte die Fluchtbewegung gestoppt und den Gesellschaftsmitgliedern nunmehr [nur noch] die Möglichkeit gelassen", sich innerhalb des DDR-Systems zu arrangieren (Meuschel, 1993, S. 11). Die Angehörigen der „alten" bürgerlichen Dienstklasse hatten entweder die DDR verlassen, über systemloyales Verhalten den Zugang in eine der beiden sozialistischen Dienstklassen gefunden oder waren durch sozialen Abstieg in die Reihen der Arbeiterklasse verwiesen worden. Entsprechend dieser Situation fühlte sich die SED in ihrer Herrschaft genügend konsolidiert, um für die notwendige wirtschaftliche Entwicklung nach neuen Wegen zu suchen. Da die rigiden Planungsmethoden der „Tonnenideologie" (Planung nach Mengen) der 1950er Jahre zu Fehlinvestitionen, Rohstoffverschwendung und Verzögerungen des technischen Fortschritts führten, galt es zum einen, die Disproportionen zwischen den Wirtschaftsbereichen zu beseitigen. Zum anderen sah man sich nach dem Mauerbau auch politisch gezwungen, die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung zu verbessern, baute doch die politische Legitimation des neuen Systems gerade auf eine „Identifikation mit dem Projekt der egalitären Vergesellschaftung" (Niethammer, 1993, S. 148). Infolgedessen machte es sich der VI. Parteitag der SED (1963) zur Aufgabe, den Unterschied zwischen den niedrigen und den höheren Einkommensgruppen allmählich zu verringern. Dazu waren Maßnahmen zur Anpassung von Angebots- und Nachfragestrukturen, zur Förderung von Forschung und Entwicklung, zum Übergang vom Mengendenken zum Kosten-Nutzen-Denken erforderlich, denen mit Hilfe der Strategie der „wissenschaftlich-technischen Revolution" und den indirekten Planungsmethoden des „Neuen Ökonomischen Systems" (NÖS) Rechnung getragen werden sollte. Diese wirtschaftlichen Reformversuche wurden durch eine „Verfachlichung" der politischen Funktionäre im Parteiapparat (Ludz, 1970, S. 100 und 113) gestützt. In der Zeit von 1958 bis 1963 gelanges jungen (zwischen 1923 und 1935 Geborenen), gut ausgebildeten Kadern, in die
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administrative und operative Dienstklasse aufzusteigen. Die dadurch verursachte Verfachlichung leitender Funktionäre ließ jedoch das Politbüro und ZK der SED, das heißt die „restierenden [sie.] altkommunistischen Veteranen in Spitzenfunktionen" (Richert, 1975, S. 42), vollkommen unberührt. Während in dieser Zeit gerade in den oberen Gremien des Staats- und Wirtschaftsapparates zahlreiche Aufund Abstiege 12 zu verzeichnen waren, zeigten sich in der Parteielite - nach den stalinistischen Säuberungsaktionen der 1950er Jahre - eher Beharrungstendenzen, so daß sie sich bis zum Zusammenbruch der DDR vor allem aus den Angehörigen der „alten Garde" zusammensetzte 13 . Im Ergebnis führte diese Politik jedoch weniger zur Beseitigung von Disproportionen als vielmehr zur Entstehung zusätzlicher Disproportionen, so daß Anfang der 1970er Jahre eine Phase der Rezentralisierung des Wirtschaftssystems einsetzte. Ihre Personifizierung fand diese Phase in der Machtübernahme durch Honecker. Um eine proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft gewährleisten zu können, sah man sich gezwungen, diese erneut durch stark zentralisierte Entscheidungen zu steuern. Infolgedessen sollten nun auch die privaten und halbstaatlichen Industriebetriebe mit allen Konsequenzen in das staatliche Planungssystem einbezogen werden. Daher wurden die Betriebe mit halbstaatlicher Beteiligung sowie die PGH, sofern ihre Haupttätigkeit in der industriellen Produktion bestand, und die bis zuletzt privat gebliebenen Industriebetriebe im ersten Halbjahr 1972 in VEB umgewandelt. Laut der offiziellen Statistik der DDR (Geschichte der SED 1978) wurden 85 Prozent der ehemaligen Komplementäre und Privateigentümer mit Führungsfunktionen in den neuen VEB betraut. Damit war nun auch diesen residualen Formen kapitalistischer Warenproduktion ein Ende gesetzt, so daß die Industrieproduktion nahezu zu 100 Prozent von den staatlichen Betrieben erbracht wurde. Eine weitere Maßnahme zur Rezentralisierung der Entscheidungsmacht war die seit 1972 forcierte Kombinatsbildung. Neben ihren wirtschaftlich folgenreichen Konsequenzen (z.B. durch die nahezu vollständige Monopolisierung der DDR-Wirtschaft) hatte die Kombinatsbildung auch sozialstrukturelle Auswirkungen, verursacht durch einen erhöhten Bedarf an hochqualifiziertem Personal.
12 Beispiele für derartige Aufstiege sind: Wolfgang Junker (geb. 1929) vom Maurer über den Bauingenieur zum Minister für Bauwesen; Wolfgang Rauchfuß (geb. 1931) vom Mechaniker über den Diplom-Wirtschaftler zum Stellvertretenden des Vorsitzenden des Ministerrates; Klaus Siebold (geb. 1930) vom Bergmann über den Bauingenieur (ABF Freiberg) zum Minister für Grundstoffindustrie. Als sozialen Abstieg muß die Entsendung von Karl Mevis - bis 1963 Minister und erster Vorsitzender der Staatlichen Plankommission - zum Botschafter der DDR in Polen gewertet werden. 13 Betrachtet man die Geburtsjahrgänge der Parteielite, dann wird neben der politischen Herkunft („Altkommunisten") die Bezeichnung „alte Garde" auch in dieser Hinsicht deutlich. Das durchschnittliche Geburtsjahr der Parteielite in den Jahren von 1950-1989 variierte nur zwischen 1916-1925 (Schneider, 1994, S. 158-162).
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Ursachen dafür waren die Integration von Dienstleistungsbereichen (z.B. Rationalisierungsmittelbau, Forschung und Entwicklung), die Übertragung sozialer Verantwortungsbereiche auf die Kombinate (z.B. medizinische Betreuung, Kindereinrichtungen) und die Aufstockung der Hierarchie aufgrund einer Erweiterung der Verwaltung sowie Doppelung vieler betrieblicher Aufgaben auf verschiedene Leitungsebenen (Steinhöfel u.a., 1993, S. 3 und 12). Die Schaffung dieser zusätzlichen Positionen führte nach dem Ersatzbedarf der 1950er und 1960er Jahre zu erneuten Karrierechancen für Aufstiege in die operative und vereinzelt sogar in die administrative Dienstklasse. Die in dieser Periode abgeschlossene Etablierung der administrativen und operativen Dienstklasse des SED-Regimes sowie die allgemeine Orientierung auf Wissenschaft und Technik blieben auch für den Bildungsbereich nicht folgenlos. Mit dem Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem von 1965 erachtete die SED die politische Aufgabe der Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs als erfüllt, den Anspruch der gleichen Bildungschancen für alle Gesellschaftsmitglieder als realisiert. Die Dominanz des Herkunftsprinzips der 1950er Jahre, wonach Arbeiter und Bauern bevorzugt wurden, wurde seit Beginn der 1960er Jahre abgebaut. An seine Stelle trat das Leistungsprinzip. Im Ergebnis sank die Zahl der Kinder von Produktionsarbeitern und Bauern unter den Studenten 1967 auf rund 38 Prozent (Belwe, 1989, S. 130). Vor allem dem Ziel wirtschaftlicher Effizienz folgend, gingen mit diesen bildungspolitischen Veränderungen in den Allokationsmechanismen zwei weitere Entwicklungen einher: die Etablierung einer „Bildungsplanung" und die Aufhebung der traditionellen Facharbeiterausbildung in breit angelegten „Grundberufen". Ergebnis dieser Prozesse war zum einen die drastische Beschränkung der Zulassungszahlen zu den Erweiterten Oberschulen und Hochschulen/Universitäten im Verlauf der 1970er Jahre, zum anderen die qualifikatorische Aufwertung der Arbeiterklasse durch ihre zunehmende „Verberuflichung" 14 (siehe dazu den Beitrag von Huinink, Mayer und Trappe in diesem Band). Resümierend kann festgestellt werden, daß die Auflösung der Klasse der Privateigentümer durch die Umwandlung der halbstaatlichen Betriebe, die ambivalenten Tendenzen beruflicher Mobilität (Eröffnung neuer Karrierechancen durch die Kombinatsbildung vs. Verstärkung der Karriereblockaden durch die Reduzierung des Zugangs zu höheren Bildungseinrichtungen) sowie die relativ sta-
14 „Verberuflichung" meint hier das Festschreiben von bestimmten Zugangsbedingungen bzw. -Voraussetzungen zu bestimmten Tätigkeiten und Berufen (Kreckel, 1992b, S. 188). Für viele ehemals un- und angelernte Tätigkeiten wurden nun Berufsbilder definiert und eine berufliche Ausbildung gefordert. Die gleichzeitige Aufhebung der traditionellen Spezialisierung der Facharbeiterberufe in „Grundberufe" erweiterte zum einen die Möglichkeit, auf qualifizierte Fachkräfte bei notwendigen Produktionsveränderungen zurückgreifen zu können, zum anderen ging damit zum Teil eine Verdrängung von un- und angelernten Arbeitern aus bisherigen Einsatzfeldern einher.
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bile Entwicklung der Klassenlagen des genossenschaftlichen und des kleinen Privateigentums zur vollständigen Etablierung einer staatssozialistischen Klassenstruktur in der DDR führten.
3.3 Dritte Periode (Ende der 70er Jahre bis 1989): Soziale Redifferenzierung und Zusammenbruch der DDR Die seit dem IX. Parteitag der SED (1976) geforderte und auf dem X. Parteitag (1981) als ökonomische Strategie der 1980er Jahre bestätigte „Intensivierung der Volkswirtschaft" wurde mit einer verstärkten Ausnutzung von individuellen Unterschieden (z.B. Kreativität, Talent) und sozialer Differenziertheit (z.B. der sozialen Besonderheiten der Intelligenz oder der bäuerlichen Lebensweise) verbunden. Die Mittel zur Schaffung der notwendigen Anreizstrukturen für die Ankurbelung der Wirtschaft wurden daher nicht mehr nur in einer „Redifferenzierung (...) der parteistaatlichen Steuerungspalette", sondern auch in einer „Redifferenzierung der Sozialstruktur" gesehen (Meuschel, 1993, S. 12). Um ihre Legitimation nicht durch ein Außerkraftsetzen des Postulats der zunehmenden sozialen Gleichheit zu gefährden, wurde die angestrebte Förderung der wirtschaftlichen Elite mit einer alle Bevölkerungsschichten umfassenden Sozialpolitik untersetzt: durch die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Funktionalisierung sozialer Unterschiede wurde damit legitimiert, daß man das mögliche Maß an sozialer Gleichheit im Stadium des Sozialismus, das heißt gleiche soziale Sicherheit, gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen sowie gleiche staatsbürgerliche Rechte, bereits erreicht habe (Lötsch, 1985, S. 34). Diese Redifferenzierung entsprechend individueller und sozialer Besonderheiten führte zu keiner Veränderung in der staatssozialistischen Klassenstruktur der DDR, wie sie sich Mitte der 1970er Jahre etabliert hatte. Im Gegenteil: Aus ihr resultierte vielmehr deren Verfestigung aufgrund der erhöhten Selbstreproduktion der sozialistischen Dienstklassen sowie der Zunahme klasseninterner Differenzierung (Belwe, 1989). Das Ergebnis dieser sozialstrukturellen sowie insbesondere der gesamten politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der DDR und der außenpolitischen Bedingungen der 1980er Jahre ist bekannt: der Zusammenbruch des DDR-Regimes.
4. Intergenerationale Mobilität: Einige methodische Überlegungen Mit Hilfe von intergenerationalen Mobilitätsanalysen soll im folgenden gezeigt werden, welchen stabilisierenden und destabilisierenden Tendenzen der Prozeß
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
der sozialen Reproduktion sozialer Ungleichheit in der DDR aufgrund dieser historischen Veränderungen und Rahmenbedingungen unterworfen war. Welche Übergänge von einer Klasse in eine andere wurden stimuliert und welche wurden blockiert? Unterstellt wird hierbei ein Verständnis von Mobilität, wonach in Anlehnung an Goldthorpe (1980, S. 251-271, 1984, S. 20) Klassenlagen Mobilitätschancen erzeugen, die eine gewisse Stabilität der kollektiven Akteure erzeugen, wodurch sich dann Klassenidentitäten herausbilden bzw. herausbilden können. In diesem Sinne ist von „sozialen Klassen" dann zu sprechen, wenn die Klassenzugehörigkeit Mobilitätschancen und -barrieren definiert (vgl. Mayer und Carroll, 1990). Zugleich wird unter Berücksichtigung von Giddens (1973, S. 99-112) Mobilität auch als ein Prozeß begriffen, über den sich Strukturen selbst etablieren und reproduzieren, so daß neue Klassenlagen im wesentlichen über spezifische Mobilitätswege und -chancen produziert werden. Die These, daß die Eigentumsverhältnisse und damit die Klassenstruktur eine wesentliche Ungleichheitsdimension der DDR-Gesellschaft gewesen ist, gilt entsprechend dieser Sichtweise dann als bekräftigt, wenn vielfältige intergenerationale Mobilitätsprozesse den Prozeß des „Umbaus" der alten Klassenstruktur in eine staatssozialistische Klassenstruktur nach 1945 in der DDR kennzeichneten, die anschließend durch zunehmende Immobilität und soziale Ausleseprozesse (in Abhängigkeit von der Klassenzugehörigkeit) reproduziert wurde. Letzteres basiert auf der Annahme, daß die jeweilige Zugehörigkeit zu einer Klassenlage die Mobilitätschancen ihrer Angehörigen bestimmt. Dabei wird davon ausgegangen, daß das Vorhandensein sozialer Ungleichheit in der DDR-Gesellschaft die Angehörigen der privilegierten Klassen dazu veranlaßt, Mechanismen zu finden, um diese Privilegien schützen und auch für ihre Nachkommen sicherstellen zu können. Das heißt, das Ausmaß an Chancengleichheit bzw. -Ungleichheit beim Zugang zu den einzelnen Klassenlagen wird als Indikator dafür gewertet, inwieweit aufgrund der existierenden Ungleichheit in den Lebensbedingungen in der DDR die Angehörigen der einzelnen Klassen stimuliert und fähig gewesen sind, den Zugang zu ihren Klassen für Kinder aus anderen Klassenlagen zu schließen und diese in ihre Klassenschranken zu verweisen.
4.1 Untersuchungseinheit: Individuum oder Familie? Entsprechend der Definition intergenerationaler Mobilität als Weitergabe von Vorund Nachteilen von einer Generation auf die nächste ist von der „Familie" als Untersuchungseinheit auszugehen. Aufgrund des Zusammenlebens in dieser Gemeinschaft sind alle Familienmitglieder durch eine gemeinsame Lebenssituation sowie gemeinsame Handlungsressourcen gekennzeichnet. Es ist schwer vorstellbar, daß in einer Familie, wo der Vater zum Beispiel zur operativen Dienstklasse gehörte und die Mutter zur Arbeiterklasse, das Kind eine „geteilte" Klassenlage
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hatte: halb Dienstklasse und halb Arbeiterklasse. Oder daß ein Ehepaar, in dem er Lehrer und sie Sekretärin gewesen ist, zwei unterschiedlichen Klassenlagen angehörte. Selbst wenn man dem zustimmt und davon ausgeht, daß Familien durch eine gemeinsame Klassenlage gekennzeichnet sind, dann ist damit jedoch noch nicht festgelegt, wie die Klassenlage des Haushalts zu bestimmen ist. Je nachdem, wie sie definiert wird, werden bestimmte Aspekte der gemeinsamen Ressourcen der Familie abgebildet, andere bleiben ausgeblendet. In der nachfolgenden Analyse wird eine Haushaltsbestimmung verwendet, in der die Klassenlage einer Person und damit die des gesamten Haushalts durch dasjenige Familienmitglied bestimmt wird, dessen Erwerbstätigkeit die größten Auswirkungen auf die Familie insgesamt hat und in diesem Sinne „dominant" ist. Während bei denjenigen, die die dominante Position in der Familie besitzen, gemäß dieser Definition von einer „direkten" Klassenlage zu sprechen ist, sind die anderen Haushaltsmitglieder durch eine „abgeleitete" Klassenlage gekennzeichnet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die dominante Klassenlage durch die Frau oder den Mann vertreten wird. Dieser Standpunkt ist nicht unproblematisch. Konventionellerweise wird nämlich vorausgesetzt, daß es ohnehin der Mann ist, der aufgrund seiner zeitlichen wie auch positioneilen Bindung an das Erwerbssystem die dominante Klassenlage besitzt. Daraus wird die Schlußfolgerung gezogen, daß es keine Verzerrungen gibt, wenn man generell die Klassenlage verheirateter Frauen durch die Klassenlage ihrer Ehemänner bestimmt (Erikson und Goldthorpe, 1992). Wie jedoch in anderen Beiträgen des vorliegenden Buches gezeigt wird, kann eine derartige Marginalität der Frauenerwerbstätigkeit für die Familie in der DDR nicht generell und vor allem nicht ahistorisch unterstellt werden (siehe dazu den Beitrag von S0rensen und Trappe in diesem Band; Solga, 1994a).
4.2 Dominanzkriterien Wie bestimmt man die Dominanz einer Klassenlage in einem Klassenschema, das relational ist, das heißt durch Beziehungen zwischen sozialen Gruppen definiert wird, und in dem daher eine vertikale Dimensionierung nicht durchgängig möglich ist? Die hier verwendete Definition bedient sich dazu zweier Festlegungen, die mit den Grundannahmen des theoretischen Modells vereinbar sind. Ferner haben sie den Vorteil, daß sie eindeutig und daher leicht nachvollziehbar sind: (1) Grad der Ausstattung mit Verfügungsgewalt: Die Klassenlage mit dem größeren Umfang an Verfügungsgewalt stellt die dominante Klassenlage dar. Damit werden zum Beispiel Ehepaare, bestehend aus einem Angehörigen der operativen Dienstklasse und einem der Arbeiterklasse, der operativen Dienstklasse zugeordnet, oder Ehepaare, bestehend aus selbständigen Bauern und Arbeitern, der Bauernklasse (dies gilt auch für die Dominanz der Genossen-
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schaftsbauern, da sie im Unterschied zu Arbeitern zumindest teilweise noch ökonomische Verfügungsgewalt hatten). (2) Politische Brisanz bestimmter Klassenlagen: In einer staatssozialistischen Klassenstruktur ist es plausibel, von einer besonderen, vor allem politischen Brisanz derjenigen Klassenlagen auszugehen, die nicht dem staatlichen Eigentum zugeordnet werden können. Diese Brisanz begründet in Haushalten, in denen die beiden Partner einer unterschiedlichen Berufstätigkeit nachgingen, die jedoch mit einem gleichwertigen Umfang an Verfügungsgewalt ausgestattet waren, die Dominanz der „nicht-sozialistischen" Klassenlage. Damit werden zum Beispiel Familien, in denen ein Partner der operativen Dienstklasse des sozialistischen Planungssystems und der/die andere der bürgerlichen Dienstklasse angehörte, der bürgerlichen Dienstklasse zugeordnet. Gemäß diesen Festlegungen wird sowohl die Klassenlage der Herkunftsfamilie als auch die Klassenlage der Befragten bestimmt.
4.3 Operationalisierung des DDR-Klassenschemas Aufgrund der Datenlage (Fallzahl) sowie der Tatsache, daß in den Interviews nur Personen befragt wurden, die 1990 (noch) in der DDR lebten, konnten bestimmte Klassenlagen statistisch nur unzureichend oder gar nicht in unserer Stichprobe vorgefunden werden. So handelte es sich bei der Parteielite um eine ausgesprochen kleine Gruppe, die mit einer solchen Stichprobe nicht erfaßt werden kann. Des weiteren erklärt sich das Fehlen der Betriebseigentümer und Großgrundbesitzer sowie der bürgerlichen Dienstklasse vor allem aus deren Abwanderung nach Westdeutschland bis 1961 und der dadurch verursachten drastischen Reduzierung insbesondere dieser Klassenlagen. Daher wurde das vollständige Klassenschema mit seinen 11 Kategorien zu einem empirischen Schema mit 5 Kategorien aggregiert 15 (siehe Abb. 3). Zur Klarstellung ist anzufügen, daß die Verteilung der befragten Frauen und Männer auf die einzelnen Klassenlagen keine Auskunft über die zahlenmäßige Größe der Klassenlagen für die DDR-Gesellschaft insgesamt geben können. Dafür wäre ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt (aus allen Altersgruppen) erforderlich.
15 Das detaillierte Codierschema der Klassenlagen findet man in Anhang 3.1.
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A b b i l d u n g 3: K l a s s e n s c h e m a der e m p i r i s c h e n A n a l y s e
Klassenlagen der empirischen Analyse
Zugeordnete Klassenlagen des vollständigen Schemas
I
Sozialistische Dienstklassen
Administrative und operative Dienstklasse*
II
Selbständige
Selbständige Handwerker und Gewerbetreibende (einschließlich der nach 1961 noch selbständigen Bauern)
III
Bauern
Bis 1961 vorwiegend die selbständigen Klein- und Mittelbauern, nach 1961 nur noch Genossenschaftsbauern
IV
Sozialistische Arbeiterklasse
V
Sonstige
*
Vorwiegend: Dienstklasse des genossenschaftlichen Eigentums, PGH-Handwerksmeister Vereinzelt: „alte" bürgerliche Dienstklasse (in der Elterngeneration der Kohorte 1929-31) und „neue" bürgerliche Dienstklasse
Diese Kategorie widerspiegelt primär die Prozesse der operativen Dienstklasse. Vertreter der administrativen Dienstklasse waren in der Stichprobe nur sehr partiell vorzufinden. In der Elterngeneration waren es an der gesamten Stichprobe 0,9 Prozent, dabei vor allem bei den Eltern der zwischen 1951 und 1953 sowie 1959 und 1961 Geborenen (1,8 % bzw. 1,3 %). Von den Befragten gehörten insgesamt 0,6 Prozent dieser Klassenlage an, hier vor allem die zwischen 1929 und 1931 Geborenen (1,4 %).
4.4 Vergleichszeitpunkte A n z u s c h l i e ß e n ist n o c h e i n e w e i t e r e F e s t l e g u n g , die die B e s t i m m u n g d e s Zeitpunkts der M e s s u n g der j e w e i l i g e n K l a s s e n l a g e betrifft. D i e K l a s s e n l a g e der Eltern (Herkunftsklassenlage)
wird in der R e g e l i m Alter
v o n 14 Jahren des/der B e f r a g t e n g e m e s s e n . W e n n zu d i e s e m Zeitpunkt k e i n e A n g a b e n über d i e Eltern v o r l i e g e n , wird auf v o r h a n d e n e A n g a b e n i m Zeitraum z w i s c h e n d e m 10. und 16. Lebensjahr z u r ü c k g e g r i f f e n 1 6 . In d i e s e m Zeitraum war e s v o n größter B e d e u t u n g , w e l c h e k l a s s e n s p e z i f i s c h e n R e s s o u r c e n die Eltern in d e n S e l e k t i o n s - und A l l o k a t i o n s p r o z e ß ihrer Kinder einbringen konnten. I n s b e s o n d e r e in dieser Zeit w u r d e in der D D R aufgrund der S e l e k t i o n s p r o z e s s e i m B i l d u n g s -
16 Klassenlagen, denen die Eltern nur vor dem 10. bzw. nach dem 16. Lebensjahr ihrer Kinder angehörten, werden nicht betrachtet. Dies ist insbesondere für die Kohorte der 1939—4-1 Geborenen relevant, da hier infolgedessen die Herkunftslage oftmals nur durch die Klassenlage der Mutter bestimmt wird. Gerade in dieser Kohorte sind (junge) Väter im Krieg gefallen. Die Angaben zu diesen Vätern beziehen sich dann auf die letzte Erwerbstätigkeit, die größtenteils vor 1939 lag und damit vor der Geburt der Befragten.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Tabelle 1 : Datenbasis der empirischen Analyse (absolute Fallzahlen) Kohorte
Insgesamt
Männer
Frauen
1929-31 1939^11 1951-53 1959-61
559 546 560 547
272 279 287 253
287 267 273 294
2.212
1.091
1.121
Insgesamt
system, der Berufswahl, des Berufseinstiegs sowie durch die ersten Orientierungen bei der Partnerwahl über die Plazierung der Kinder in der Klassenstruktur entschieden. Die Klassenlage der Befragten wird im Alter von 30 Jahren gemessen und zwar aus drei Gründen: Erstens ist so ein direkter Vergleich der vier Kohorten möglich. Zweitens ist von einer gewissen eigenständigen Etablierung der Befragten in der Gesellschaft und insbesondere im Erwerbssystem sowie in der Partnerschaft auszugehen. Drittens erlaubt dieser Meßzeitpunkt aufgrund der Kohortenauswahl die Abbildung der historischen Perioden der Entwicklung der DDRGesellschaft und deren Konsequenzen für die Mobilitätsoptionen ihrer Menschen. Aufgrund der unterschiedlichen Geburtsdaten sind die Befragten zum Zeitpunkt des Interviews etwa 30, 40, 50 oder 60 Jahre alt. U m Verzerrungen in den Mobilitätschancen zu vermeiden, die sich durch jeweils unterschiedliche Verweildauern im Erwerbssystem ergeben, ist der kleinste gemeinsame Nenner das Alter „30 Jahre". Außerdem interessieren nur Klassenlagen, denen man vor dem Dezember 1989 angehörte, da es sich danach nicht mehr primär um Klassenlagen der DDR und damit verbundene Reproduktionsmuster handelt. Aus diesem Grund ist der Zeitpunkt der Messung für die j üngste Kohorte entweder das Alter von 30 Jahren, wenn es vor dem Dezember 1989 liegt, oder, wenn es erst danach erreicht wurde, der Dezember 1989 und damit ein Alter zwischen 28 und 30 Jahren 17 . Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß in die Analyse nur jene Befragten einbezogen werden, bei denen sowohl eine Angabe zur Herkunftsklasse als auch eine Angabe zur eigenen Klassenlage im Alter von 30 Jahren (bzw. für die jüngste Kohorte entsprechend der oben genannten Festlegung eine Angabe für den Dezember 1989) vorhanden ist. Damit reduziert sich die Fallzahl von 2.331 Studienteilnehmern insgesamt auf 2.212 Personen. Diese Reduktion ist jedoch insofern nicht selektiv, als sie alle Kohorten sowie Männer und Frauen gleichermaßen
17 Von einer allgemeinen Reduzierung auf das Alter 28 Jahre für alle Kohorten wurde abgesehen, da dieser Zeitpunkt insbesondere für die beiden älteren Kohorten im Hinblick auf ihre Berufskarrieren zu früh gewählt wäre (Huinink, 1993b; vgl. den Beitrag von Huinink, Mayer und Trappe in diesem Band).
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betrifft. Sofern nicht anders ausgewiesen, liegen den folgenden Analysen die in Tabelle 1 angegebenen Fallzahlen zugrunde.
5. Intergenerationale Mobilitätschancen im historischen Kontext Die empirische Analyse beschäftigt sich nun mit der Frage, inwieweit die Etablierung einer Klassenstruktur in der DDR-Gesellschaft soziale Chancengleichheit ermöglichte bzw. zu einer Reproduktion sozialer Chancenungleichheit führte. Geht man davon aus, daß die Plazierung der Kinder in die Klassenstruktur über deren eigene Erwerbstätigkeit und damit deren Berufskarriere sowie über den Heiratsmarkt und damit selektives Heiratsverhalten erfolgt, so ist eine Vielzahl von Indikatoren denkbar, um auf diese Frage eine Antwort zu finden. Die folgende Analyse geht vier empirischen Fragestellungen nach: (1) den kohortenspezifischen Mobilitätschancen, (2) den klassenspezifischen Vererbungschancen sowie Klassenbarrieren, (3) den vorhandenen Heiratspräferenzen und (4) den Laufbahnkriterien von Berufskarrieren in der DDR.
5.1 Kohortenspezifische Mobilitätschancen Fragt man zunächst, ob es in der DDR überhaupt Klassenübergänge zwischen der Herkunftsklasse und der eigenen Klassenlage gegeben hat, dann kann festgestellt werden, daß in allen Perioden der DDR-Entwicklung mehr als ein Drittel der nachfolgenden Generation „mobil" war bzw. sein mußte (siehe Abb. 4: „Mobile insgesamt" 1 8 ). Mit dem Übergang zur jüngsten Kohorte ist jedoch ein Rückgang zu verzeichnen: Während die Befragten in den drei älteren Kohorten (1929-31, 1 9 3 9 ^ 1 , 1951-53) zu 42 bis 43 Prozent ihre Herkunftsklasse verließen, betraf dies in der jüngsten Kohorte (1959-61) 36 Prozent der Befragten 1 9 . Hinterfragt man als nächstes, inwieweit dieses Verlassen der Herkunftsklasse durch Strukturverschiebungen, das heißt Veränderungen in der Klassenstruktur der DDR (im weiteren: strukturelle Mobilität), verursacht wurde, dann wird der Zusammenhang zwischen den einzelnen Perioden der DDR-Entwicklung, ihren Konsequenzen für die Entwicklung der Klassenstruktur und den Mobilitäts-
18 „Mobile insgesamt" ist der prozentuale Anteil der Befragten einer Kohorte, bei denen sich Herkunftsklasse und eigene Klassenlage unterschieden. 19 Berechnungsgrundlage der in Abbildung 4 dargestellten Mobilitätsoptionen ist die Übergangsmatrix (Tab. 2), in der die Klassenzugehörigkeit der Befragten im Alter von 30 Jahren in Abhängigkeit von ihrer Herkunftsklassenlage für die vier ausgewählten Kohorten abgebildet ist.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Tabelle 2: Intergenerationale Mobilität in der D D R - Männer und Frauen aus vier Kohorten (N = 2.212 Personen; Übergangswahrscheinlichkeiten in Abstromprozenten) Klassenlage der Eltern
Kohorte
Sozialistische Dienstklassen 1 Selbständige 2
Bauern 3
Arbeiterklasse 4
Sonstige 5
Befragte insgesamt
Klassenlage der Befragten zum Alter 30 1
2
3
4
5
1929-31 1939^1 1951-53 1959-61
54 53 53 46
—
_ -
1 1
46 45 46 51
_
2
1929-31 1939^1 1951-53 1959-61
37 36 27 30
9 7 6
1 9 3 4
51 48 64 65
1929-31 1939^(1 1951-53 1959-61
17 14 15 7
40 18 14 13
-
1929-31 1939-41 1951-53 1959-61
16 22 20 14
3 2 2 2
7 3 4 2
1929-31 1939—41 1951-53 1959-61
40 20 44 25
-
-
-
-
-
-
-
-
1929-31 1939—41 1951-53 1959-61
20 25 26 20
3 2 2 2
-
2
-
_ 3 3
12 5 5 3
Eltern insgesamt 1 8 18 20
-
1
13 8 6 4
43 65 68 80
_
16 14 13 10
73 72 74 82
1 1
66 69 61 65
40 80 56 50
20
4 1 2 1
64 67 67 75
1 1
-
-
-
-
25
-
(1
Pers.)
N N N N
= = = =
559 546 560 547
erfahrungen der Männer und Frauen der vier Kohorten deutlich. Die „strukturelle Mobilität" resultiert aus dem Wechselspiel dieser drei Aspekte. Empirisch ist sie die Summe der Differenzen der Anteile der einzelnen Klassenlagen in den beiden Randverteilungen in Tabelle 2 (Herkunftsklasse und eigene Klassenlage). Dabei wird unterstellt, daß die jeweiligen Randverteilungen die Mobilitätsoptionen der Eltern- bzw. Kindergeneration repräsentieren, so daß deren Differenzen Ausdruck der Veränderungen in den Opportunitätsstrukturen sind, die durch Strukturverschiebungen verursacht werden. Es ist jedoch daraufhinzuweisen, daß mit dieser Annahme das tatsächliche Ausmaß an struktureller Mobilität unterschätzt wird. Erstens werden aufgrund des gewählten Berechnungsmodus Ketten von Übergän-
Heike Solga
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Abbildung 4: Historische Veränderungen in der absoluten und strukturellen Mobilität in der D D R 50
n
40 § 30 H o £
20 10
0
1929-31
1939-41
Gesamte Säulenhöhe = Mobilität insgesamt
1951-53
1959-61
C D Strukturelle Mobilität
gen nicht abgebildet. Zweitens werden aufgrund der Verwendung des aggregierten Klassenschemas bestimmte Übergänge nicht reflektiert. Ungeachtet dieser Einschränkungen wird in Abbildung 4 deutlich, daß für die beiden älteren Kohorten die intergenerationalen Mobilitätsprozesse überwiegend durch eine veränderte Struktur der Mobilitätsoptionen erzeugt wurden. Über ein Drittel (39 % bzw. 34 %) der Befragten verließen aufgrund struktureller Ursachen ihre Herkunftsklasse. Dies erklärt sich vor allem aus den Übergängen aus den absterbenden bzw. marginalisierten Klassenlagen, wie zum Beispiel der alten bürgerlichen Dienstklasse oder den Selbständigen. Bereits die Männer und Frauen, die zwischen 1929 und 1931 geboren wurden, hatten keine Möglichkeit mehr, selbst der alten bürgerlichen Dienstklasse anzugehören. Auf der anderen Seite wurden völlig neue Klassenlagen mit dem staatlichen Eigentum etabliert, wie zum Beispiel die administrative und die operative Dienstklasse, die aus dem vorhandenen Potential an Personen, die naturgemäß noch anderen Herkunftsklassen abstammen mußten, zu rekrutieren waren. Die Aufbau- sowie die Stabilisierungsperiode der DDR-Entwicklung waren demzufolge durch spezifische Mobilitätswege geprägt: In die neuen Dienstklassen hinein, aus selbständiger Tätigkeit heraus und bürgerliche Herkunft „transferierend" 20 (vgl. Tab. 2: Randverteilungen der Übergangsmatrix).
20 Die Aussagen zur alten bürgerlichen Dienstklasse sind aufgrund der Fallzahl empirisch nicht belegbar. In dem hier angesprochenen Zusammenhang kann meines Erachtens jedoch gerade aus der geringen Anzahl von Eltern mit bürgerlichen Klassenlagen geschlossen werden, daß der „Transfer" eher als örtliche Mobilität gen Westen stattfand und nur in geringerem Maße innerhalb der Klassenstruktur der DDR vollzogen wurde.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Das beschriebene Ausmaß der Klassenübergänge im allgemeinen und der strukturellen Mobilität im besonderen würde gerade in derZeit von 1945 bis 1961 noch erheblich erhöht werden, wenn man die Klassenübergänge zwischen den einzelnen Bauernklassen ebenfalls in Rechnung stellen würde, da diese jeweils nahezu die gesamte Klasse betrafen: ( l ) f ü r d i e 1929-31 Geborenen der Übergang von den landarmen Bauern und Landarbeitern der Elterngeneration zu den Neubauern in der Kindergeneration sowie (2) für die 1939-41 Geborenen der Übergang von den selbständigen Bauern der Elterngeneration zu den Genossenschaftsbauern in der Kindergeneration. Diese Prozesse wurden jedoch nicht in die Berechnungen einbezogen. Abgesehen davon bleibt für diese Periode festzustellen, daß die forcierte Industrialisierung der 1950er Jahre zu einer ersten Reduzierung der Bauernklasse in der Kohorte 1939-41 (unabhängig von der jeweiligen Eigentumsform) geführt hat, die auch in den Folgejahren aufgrund der ökonomischen Entwicklung anhielt. Während in der Elterngeneration der von 1939^11 Geborenen 14 Prozent der Bauernklasse angehörten, waren es bei den Kindern nur noch 5 Prozent, und dieser Prozeß der Reduzierung setzte sich über die Kohorten hin fort (siehe Tab. 2: Übergangsmatrix) 21 . In den späteren Perioden der DDR-Entwicklung blieben derart drastische strukturelle Veränderungen weitgehend aus. Während sich in den beiden älteren Kohorten über 80 Prozent der gesamten Mobilität durch strukturelle Mobilität erklären läßt, betrug deren Anteil in der Kohorte 1951-53 nur noch 65 Prozent und in der Kohorte 1959-61 sogar nur 56 Prozent. Strukturelle Mobilität in den beiden jüngeren Kohorten war vor allem durch ein zahlenmäßiges Anwachsen der Arbeiterklasse, eine weitere Reduzierung der Bauernklasse und ein - jedoch nur die Kohorte 1951-53 betreffendes - Wachstum der sozialistischen Dienstklassen gekennzeichnet. Letzteres ist unter anderem auf den zusätzlichen Bedarf an Leitungs- und hochqualifiziertem Verwaltungs- sowie Forschungs- und Entwicklungspersonal aufgrund der Kombinatsbildung zurückzuführen, von dem die Männer und Frauen der Kohorte 1959-61 anscheinend nicht mehr profitieren konnten. Ferner ist anzumerken, daß sich in der größeren Differenz zwischen Gesamtmobilität und struktureller Mobilität in den beiden jüngeren Kohorten keine größere „Offenheit" ihrer Mobilitätschancen widerspiegelt. Bei genauerer Analyse zeigt sich, daß diese Übergänge in die Arbeiterklasse und nicht Aufstiege in die Dienstklassen bedeuteten (siehe Solga, 1994a, Abschnitt 5.1). Diese Ergebnisse sind ein erster Hinweis dafür, daß die Mobilitätschancen in den einzelnen Perioden der Entwicklung der DDR durch sehr unterschiedliche strukturelle Kontextbedingungen beeinflußt wurden. In dem Maße, wie struktu-
21 Nur für die Frauen und Männer der ältesten Kohorte ist das Ausmaß der Reduzierung geringer. Sie begannen ihre Berufstätigkeit unter den Bedingungen der Bodenreform und der damit verbundenen Landzuteilung, die einer besonderen Bindung an diese Lebensweise förderlich war.
Heike Solga
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relle Mobilität eine Bedingung für die Etablierung des Staatssozialismus und seiner Klassenstruktur in der DDR darstellte, ist in ihrem Rückgang ein Anzeichen für die Konsolidierung dieser staatssozialistischen Klassenstruktur zu sehen. Zu fragen bleibt: Wie wichtig waren diese strukturellen Veränderungen für die Mobilitätsoptionen der unterschiedlichen Klassenlagen der DDR-Gesellschaft?
5.2 Die Vererbungschancen der einzelnen Klassenlagen Das Verhältnis von Vererbung und Zugang von außen für die einzelnen Klassenlagen gibt Auskunft darüber, ob die Konkurrenz um den Zugang zu bestimmten Klassen abgenommen oder zugenommen hat, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse für die Menschen zunehmend an Bedeutung verloren hat oder auch weiterhin einen Handlungsanreiz darstellte. Dieses Verhältnis kann mit Hilfe sogenannter Vererbungsindizes ausgedrückt werden (Simkus, 1981, S. 182 f.). Sie sind der Quotient zwischen der Vererbungschance, die die Kinder der jeweils betrachteten Klassenlage haben, und der Zugangschance zu dieser Klassenlage für die Kinder mit einer anderen Herkunft 22 . Die Angleichung bzw. das Auseinanderdriften der Vererbungsindizes im Verlauf der DDR-Entwicklung zeigt, in welchem Maße soziale Chancengleichheit durchgesetzt werden konnte bzw. soziale Ungleichheit reproduziert wurde. Wenn alle Vererbungsindizes „1" wären, so wäre „perfekte" Gleichheit in den Chancen realisiert, das heißt, die Chancen des Zugangs zu den einzelnen Klassenlagen wären für alle Kinder gleich groß - unabhängig von ihrer Herkunft. Dies entspricht der Idee der proportionalen Chancengleichheit, wie sie unter anderem in der Verfassung und dem Bildungsgesetz der DDR festgeschrieben wurde. Proportionale Chancengleichheit in bezug auf die Bildungs- und Berufschancen bedeutet, daß das Sozialprofil der Absolventen höherer Bildungseinrichtungen und der Personen in Dienstklasse-Positionen der klassenmäßigen Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung entspricht. Anders formuliert, daß die Kinder aller Klassenlagen die gleiche Chance haben, den Ausleseprozeß für Zugang zu den privilegierten Klassenlagen erfolgreich zu bestehen, bzw. das gleiche Risiko tragen, in einer Position außerhalb dieser plaziert zu werden/zu sein 23 . Arbeiterkinder hätten dann die gleiche Chance, in die Dienstklassen zu gelangen, wie Kinder der Dienstklassen, genauso wie die Kinder dieser Klassenlagen die gleiche Chance bzw. das gleiche Risiko hätten, der Arbeiterklasse anzugehören.
22 Mathematisch handelt es sich dabei um Odds Ratios, um das Verhältnis von Verhältnissen von Wahrscheinlichkeiten bzw. das Verhältnis von Chancen (siehe Anhang 1). 23 Die Realisierung einer derartigen Chancengleichheit unterstellt generell, daß Leistungsfähigkeit und Begabungsreserven gleichmäßig über alle Klassenlagen verteilt sind bzw. entwickelt werden können.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Abbildung 5: Vererbungsindizes der einzelnen Klassenlagen für vier Geburtskohorten der DDR* Ii - | 10
-
9 8
\
Bauern
7 6
-
5
Selbständige
Sozialistische Dienstklassen
4 3
Arbeiterklasse
2 1 0 1929-31
1939^11
1951-53
1 1959-61
Referenzkategorie: Linie durch „1" (perfekte Chancengleichheit). Trotz des gewählten Liniendiagramms ist zu beachten, daß Aussagen nur bezüglich der vier analysierten Kohorten getroffen werden können. Das hier verwendete Kohortendesign erlaubt eigentlich nur eine partielle Längsschnittbetrachtung. Diese Darstellung wurde jedoch gewählt, da Trends leichter sichtbar werden und insofern eine Interpretation erleichtern. Diese Anmerkung gilt auch für die folgenden Abbildungen.
Von Chancengleichheit kann, wie die Abbildung 5 24 zeigt, nicht die Rede sein. Im Gegenteil, die sozialistischen Dienstklassen entwickelten sich von der „offensten" Klassenlage - abgesehen von den Bauern (der Kohorte 1939-^11) - zu einer der „geschlossensten" Klassenlagen der DDR-Gesellschaft. Ihre Vererbungschance stieg von einer doppelt so hohen Chance (im Vergleich zu externem Zugang) in der ältesten Kohorte bereits in der nachfolgenden Kohorte (1939^11) auf eine viermal so hohe Chance an und endete bei einer fünfmal so hohen Chance in der jüngsten Kohorte (1959-61). Damit war die Chance für die Kinder aus den sozialistischen Dienstklassen, in der Konkurrenz um den Zugang zu den Dienstklassen
24 Die Indizes der Abbildung 5 sind signifikant bei p < 0.05 (zweiseitige Fragestellung mit der Nullhypothese: Aus der Sicht der Herkunftsklasse ist die Chance des internen Zugangs zur jeweils betrachteten Klassenlage gleich der Chance des externen Zugangs). Einzige Ausnahme ist der Vererbungsindex der sozialistischen Dienstklassen in der Kohorte 1929-31 (nicht signifikant).
Heike Solga
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zu siegen, in der Kohorte 1959-61 mehr als doppelt so hoch wie in der Kohorte 1929-31. In bezug auf die Frage, ob die Entwicklung in der DDR zu mehr Gleichheit geführt hat, zeigt die Verdopplung 25 des Vererbungsindexes der sozialistischen Dienstklassen gerade an, daß die Konkurrenz um den Zugang zu diesen zugenommen hat. Begleitet wurde die Schließung dieser Klassenlagen durch ein nahezu konstantes Verhältnis von interner und externer Zugangschance bei der Arbeiterklasse, das in den vier untersuchten Kohorten nur zwischen 2 und 3 variierte. Interessant sind auch die Ergebnisse in bezug auf die beiden - noch ausstehenden 26 - Klassenlagen, die Bauern und die Selbständigen. Die Trends der Veränderung in den Vererbungsindizes zeigen hier eindrucksvoll die Möglichkeiten des „sozialistischen Staates", in das Mobilitätsregime der Gesellschaft einzugreifen bzw. dieses sogar zu definieren. So bewirkte die ökonomische Marginalisierung der einfachen Warenproduktion und damit der Selbständigen in der Klassenstruktur der DDR eine gleichbleibend hohe und zwar viermal so hohe Chance der Vererbung im Vergleich zu externem Zugang. Eine andere Wirkung hatten politische und ökonomische Interventionen auf die Bauernklasse. Abgesehen von den „vollständigen" Klassenübergängen mit der Bodenreform und der Kollektivierung, zeigen sich hier in den Vererbungsindizes der einzelnen Kohorten Konsequenzen der Agrarpolitik der unterschiedlichen Perioden der DDR-Entwicklung. Um Öffnung der Bauernklasse ging es vor allem im Prozeß der Kollektivierung, in dem solche Kampagnen wie „Industriearbeiter aufs Land" gestartet wurden. Dafür spricht der Rückgang des Vererbungsindexes von zehn in der Kohorte 1929-31 auf etwa sieben in der Kohorte 1939^11. Neben der Tatsache, daß vermehrt auch Industriearbeiter (und damit vorwiegend Söhne aus Arbeiterfamilien) Mitglieder der LPG wurden, kann sicherlich noch eine zweite Ursache für diesen Anstieg genannt werden: die erhöhte Möglichkeit einer Heirat zwischen Arbeiter- und Bauernkindern durch eine größere „räumliche Nähe". Die erneute Schließung der Bauernklasse in der letzten Periode der DDR-Entwicklung hingegen war unter anderem das Resultat der Landflucht der Jugend - ein Phänomen, das sich in vielen Industrienationen zeigt. Eine Ursache für diese Landflucht ist in der zunehmenden Vernachlässigung des Dorfes (insbesondere in infrastruktureller und kultureller Hinsicht) zu suchen, wodurch es für Jugendliche immer weniger attraktiv war, auf dem Dorf zu leben (Krambach, 1986, S. 238 und 241). Demzufolge stieg der Vererbungsindex in der jüngsten Kohorte abermals an.
25 Dieser Kohortenunterschied erwies sich als signifikant bei p < 0.1 (einseitige Fragestellung mit der Nullhypothese: Aufgrand der Verwirklichung zunehmender Chancengleichheit nimmt die Vererbungschance ab). 26 Der Vererbungsindex der in der Kategorie „Sonstige" zusammengefaßten Klassenlagen konnte - trotz Aggregation - aufgrund der Fallzahl nicht zuverlässig berechnet werden. Gleiches trifft für die „Selbständigen" der jüngsten Kohorte zu.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Diese Befunde zeigen: Die Mobilitätsoptionen der jüngeren Generation bestanden zunehmend darin, in der Herkunftsklasse zu verbleiben oder in die Arbeiterklasse „abzusteigen", denn Zugänge in andere Klassenlagen waren blockiert. Um zu klären, wie diese Veränderungen im Mobilitätsregime zustande kamen, soll im letzten Teil der Analyse der Vermittlung von Opportunitäten und sozialem Handeln besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Generell ist davon auszugehen, daß die Übertragung von Vor- und Nachteilen auf die nächste Generation in der DDR größtenteils nicht direkt als Übergabe von Eigentum erfolgen konnte. Vielmehr wurde der Zugang der Kinder zu bestimmten Klassenlagen über deren Heirat oder deren Plazierung im Erwerbssystem vermittelt.
5.3 Heirat als Reproduktionsmechanismus Zunächst wird in diesem Zusammenhang die Heirat als Reproduktionsmechanismus der „Privilegienvererbung" untersucht. Es soll gezeigt werden, inwieweit es gelang, neben der Möglichkeit von Berufskarrieren mittels einer entsprechenden Heirat eine Vererbung der Privilegien der Herkunftsklassen zu erreichen. In diesem Sinne gilt es zu fragen, ob Heiraten in der DDR überhaupt eine Rolle bei der Plazierung in die Klassenstruktur spielte und wenn ja, inwieweit der Heiratsmarkt durch Chancengleichheit oder durch Konkurrenz gekennzeichnet war. Gab es Selektivität entlang der Differenzierungslinie von privilegierten und unterprivilegierten Klassenlagen? Als erstes kann festgestellt werden, daß das Heiraten für die Männer in allen vier Kohorten als Allokationsmechanismus im intergenerationalen Kontext nur eine unbedeutende Rolle spielte. Ihre Plazierung in der Klassenstruktur erfolgte vor allem über ihre eigenen Berufskarrieren. Nur 7 Prozent der befragten Männer gehörten im Alter von 30 Jahren einer Klassenlage an, die sich auf die berufliche Position der Ehefrau bzw. Partnerin begründete. Im Unterschied dazu fungierte Heiraten bei den Frauen sehr wohl als Allokationsmechanismus. Immerhin 30 Prozent der befragten Frauen verdankten ihre Klassenzugehörigkeit der beruflichen Position ihrer Ehemänner bzw. Partner, im Fall der Zugehörigkeit zu einer der sozialistischen Dienstklassen waren es sogar 51 Prozent. Anzumerken ist allerdings, daß dies für die Frauen der älteren Generation in weit stärkerem Maße galt als für die Frauen der jüngeren Generation (vgl. Solga, 1994a, insbesondere Abschnitt 4.5). Insgesamt läßt dies die Schlußfolgerung zu, daß Heirat für viele Frauen in der DDR einen relevanten Mechanismus der Plazierung in die Klassenstruktur darstellte. Dementsprechend konzentriert sich die folgende Analyse auf das Heiratsverhalten der Töchter. Vergleicht man die Chance, die die Töchter aus den sozialistischen Dienstklassen hatten, einen Partner aus den sozialistischen Dienstklassen zu finden, mit der Chance von Töchtern aus anderen Familien, so ist festzustellen: Töchter aus den
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Dienstklassen heiraten in der Kohorte 1939-41 dreimal und in den beiden jüngeren Kohorten fünfmal so häufig einen Partner, der eine berufliche Position innehatte, welche die Zugehörigkeit zu einer der beiden sozialistischen Dienstklassen implizierte, wie die Töchter aus anderen Herkunftsfamilien 27 . Eingeschränkt auf die Konkurrenz zwischen den Töchtern aus den Dienstklassen und der Arbeiterklasse, zeigt sich das gleiche Ergebnis. Hier hatten die Dienstklasse-Töchter eine vier- bis fünfmal so hohe Chance, einen Partner in exponierter Stellung zu heiraten, wie die Töchter aus Arbeiterfamilien 28 . Werden schließlich nur diejenigen Töchter miteinander verglichen, für die der Partner die Klassenlage bestimmte, erhärtet sich dieser Befund erneut: Die Dienstklasse-Töchter hatten eine fünfmal so hohe Chance, über Heirat in die Dienstklassen zu gelangen, wie die Arbeitertöchter 29 . Fragt man danach, wie sich die Heiratschancen der Arbeitertöchter der vier Kohorten in bezug auf einen Partner aus einer der Dienstklassen verändert haben, dann ist folgendes Ergebnis zu verzeichnen: Die Töchter der Kohorte 1939-41 hatten eine fast doppelt so hohe Chance, einen Angehörigen der Dienstklassen zu heiraten, wie die Töchter der jüngsten Kohorte. Dieser Befund bestätigt, daß es den Frauen in der Aufbauphase der DDR aufgrund der erhöhten Rekrutierung der sozialistischen Dienstklassen aus der Arbeiterklasse zum Teil gelang, an der Seite ihrer Männer aufzusteigen. Demgegenüber wurden mit der Verschlechterung der Aufstiegschancen der Arbeitersöhne 30 in der letzten Periode der DDR die Optionen eines solchen „Heiratsaufstiegs" für die Arbeitertöchter beschnitten. Als Fazit aus diesen Ergebnissen ist zu konstatieren, daß das Heiratsverhalten in der DDR in bezug auf die sozialistischen Dienstklassen durch den politischen Wandel weitgehend unberührt blieb und eher traditionellen Mechanismen folgte, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens spielte Heiraten als Mechanismus der sozialen Plazierung für Männer in der DDR nur eine sehr begrenzte Rolle, während es für die Frauen (insbesondere der beiden älteren Kohorten) einen wichtigen Mechanismus darstellte. Zweitens verdeutlicht die Analyse, daß die klassenmäßige Herkunft wesentlich die Heiratschancen (der Töchter bzw. Frauen) bestimmte und somit in der DDR von einem nach Klassenlagen differenzierten Heiratsmarkt zu sprechen ist. Hierin zeigte sich wiederum das Bestreben der sozialistischen
27 Die drei Indizes erwiesen sich als signifikant. Für die Töchter der Kohorte 1929-31 konnte dieser Index aufgrund der zu geringen Anzahl an Dienstklasse-Töchter nicht berechnet werden. Die in den Größen der Indizes sichtbar werdenden Unterschiede konnten durch einen Signifikanztest nicht bestätigt werden. Dementsprechend soll hier nur auf die anhaltend hohe Tendenz der Chancenungleichheit hingewiesen werden. 28 Diese Werte sind signifikant (1939-41: 4, 1951-53: 5,5, 1959-61: 5). Für die Berechnung des Indexes der Kohorte 1929-31 besteht wiederum das Problem der zu geringen Fallzahl an Dienstklasse-Töchtern. 29 Der Wert dieses Indexes ist 5,4 und signifikant (N = 328). 30 Genauere Aussagen dazu erfolgen im nächsten Teil der Analyse.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Dienstklassen, Privilegienvererbung für ihre Kinder zu sichern, und zwar bezogen auf die Töchter, wenn nicht durch eine entsprechende Berufskarriere, so doch über den Mechanismus Heirat. Zur Anwendung kamen dabei solche Ressourcen wie Bildungsvorteile oder Netzwerkressourcen der Eltern. Indikatoren zur Bestätigung dieser Behauptung wären unter anderem folgende: - Dienstklasse-Töchter verfügten im Vergleich zu Arbeitertöchtem fünfmal so häufig über eine höhere Bildung 31 , und - Dienstklasse-Töchter konnten im Vergleich zu Arbeitertöchtern fünfmal so häufig die Netzwerkressource „Parteimitgliedschaft der Eltern" 32 in die Ehe einbringen bzw. bei ihrer Partnersuche (ob bewußt oder unbewußt) einsetzen 33 . Interessant hieran ist insbesondere, daß gerade die Eltern, die einer der „neuen" sozialistischen Dienstklassen angehörten, solchen Aspirationen folgten, stammten sie doch selbst aus anderen Klassenlagen, und zwar überwiegend aus der Arbeiterklasse. Insgesamt diente der Reproduktionsmechanismus Heirat damit (auch) in der DDR der Privilegienvererbung der Dienstklassen und nicht der Durchsetzung einer größeren Chancengleichheit.
5.4 Allokationskriterien für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen Ein anderer Weg der intergenerationalen Übertragung von Vor- und Nachteilen bzw. der Reproduktion sozialer Ungleichheit stellt die Plazierung der Kinder im Erwerbssystem dar, das heißt deren Bildungs- und Berufsverläufe. Diese wurden in weit stärkerem Maße, als wir es für das Heiratsverhalten feststellen konnten, von den politischen Veränderungen und deren bildungs- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen geformt. Die Gründe dafür sind offensichtlich, waren doch gerade die Berufskarrieren von den Umbrüchen und Veränderungen in der Klassenstruktur der DDR direkt betroffen. Dargestellt werden diese Veränderungen anhand der veränderten Rekrutierungsmechanismen der sozialistischen Dienstklassen. Als Produkt des Transformationsprozesses zum Staatssozialismus müßten sich die politischen Interventionen sowie deren Konsequenzen für die klas-
31 „Höhere Bildung" ist hier definiert als ein Schulabschluß, der über dem jeweiligen Regelschulabschluß der einzelnen Kohorten lag. Das heißt für die beiden älteren Kohorten mittlere Reife oder Abitur, für die beiden jüngeren Kohorten Abitur. Der Index für die vier Kohorten insgesamt ist signifikant. In der jüngsten Kohorte beläuft sich dieser Unterschied sogar auf eine 7,5mal so hohe Chance der Dienstklasse-Töchter im Vergleich zu den Arbeitertöchtern (signifikant). 32 „Parteimitgliedschaft der Eltern" liegt vor, wenn Mutter oder Vater Parteimitglied der SED im Zeitraum zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr des/der Befragten war. 33 Der Wert dieses Indexes ist 5,4 und signifikant.
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senspezifischen Mobilitätsoptionen gerade in den Rekrutierungsprozessen der sozialistischen Dienstklassen widerspiegeln. Aber nicht nur dieser Gesichtspunkt spricht dafür, sondern auch - wie in der bisherigen Analyse bereits deutlich wurde - die zunehmende Schließung der sozialistischen Dienstklassen als privilegierte Positionen innerhalb der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft. Das Anliegen der folgenden Analyse ist es, die Allokationsmechanismen für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen aus der beruflichen Perspektive aufzudekken, das heißt die Merkmale zu bestimmen, die die Zuweisung von Personen zu diesen Positionen über die Berufstätigkeit determinierten. Es ist daher zu untersuchen, welche Selektionswirkung die folgenden Merkmale für die beruflichen Zugangsmöglichkeiten zu den sozialistischen Dienstklassen in den vier Kohorten besaßen: -
Kohorte zur Abbildung der unterschiedlichen historischen Gelegenheitsstrukturen,
-
Herkunft als Sozialisationsressource sowie politisch interveniertes Selektionsund Legitimationskriterium,
-
Bildungsabschlüsse als Vergegenständlichung der „notwendigen" Bildungsvoraussetzungen für den Zugang in die sozialistischen Dienstklassen,
-
öffentlich bekundete Systemloyalität 34 als Ausdruck des politischen Charakters der beruflichen Karrieren in die sozialistischen Dienstklassen sowie
-
Geschlecht als eine weitere strukturelle Ungleichheitsdimension der DDR-Gesellschaft (vgl. Belwe, 1988; Nickel, 1990, 1991, 1992).
Fragt man zunächst allgemein danach, wer überhaupt aufgrund seiner eigenen Berufstätigkeit in einer der sozialistischen Dienstklassen plaziert war, dann werden geschlechtsspezifische Unterschiede offensichtlich. Während die befragten Frauen und Männer in den vier untersuchten Geburtskohorten entsprechend der Haushaltsbestimmung jeweils zu annähernd gleichen Teilen den sozialistischen Dienstklassen angehörten (siehe Abb. 6: gesamte Säulenhöhe), kann dies in bezug auf ihre direkten Klassenlagen, das heißt der Klassenzugehörigkeit aufgrund der eigenen Berufstätigkeit, nicht generell festgestellt werden (siehe Abb. 6: schwarzer Teil der Säulen). Nur in der Kohorte 1959-61 schafften Männer und Frauen aufgrund ihrer eigenen Berufskarrieren gleichermaßen den Zugang zu den Dienstklassen. Der Etablierungsprozeß der neuen Dienstklassen in den 1950er und 1960er Jahren fand damit ohne die Frauen bzw. nur mit den Frauen als Ehefrauen statt. Vergleicht man dagegen für die einzelnen Kohorten den Anteil der Eltern aus den sozialistischen Dienstklassen (siehe Tab. 2) mit dem Anteil der Söhne, die auf-
34 Eine Person wurde als „öffentlich systemloyal" definiert, wenn er oder sie Mitglied der SED oder einer der Blockparteien war und/oder eine höhere Leitungsfunktion in einer der wichtigen Massenorganisationen (FDGB, FDJ, ZV u.a.) im Alter von 30 Jahren ausübte. Für eine detaillierte Darstellung des Ausmaßes und der historischen Veränderungen in der Systemloyalität der DDR-Bürger siehe Schlegelmilch (1993) und Solga (1994b).
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Abbildung 6: Geschlechtsspezifische Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen - Heirat versus eigene Berufskarriere 30 Frauen Frauen
25
Männer
Männer Männer
20 -
3OJ , N 15c
10
jjjjjH
Frauen Frauen
•
•
M ä n n e r
. Ii IHM
1929-31
1939-41
1951-53
1959-61
Schwarz = Anteil der Zugehörigkeit aufgrund der eigenen Berufstätigkeit
grund ihrer eigenen Berufstätigkeit in den Dienstklassen zu verorten waren, dann wird deutlich: Über die Berufskarrieren der Männer vollzog sich im wesentlichen die Etablierung der neuen Dienstklassen. Für die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten der Frauen schienen hingegen vor allem die bildungspolitischen Veränderungen, insbesondere das Bildungsgesetz von 1965, sowie die besonderen Förderungsmaßnahmen der Frauenpolitik der 1970er Jahre von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein (siehe die die Beiträge von S0rensen und Trappe bzw. Huinink, Mayer und Trappe in diesem Band). Aufgrund dieses Annäherungsprozesses können in der jüngsten Kohorte gleiche Chancen für Frauen und Männer für Berufskarrieren in die sozialistischen Dienstklassen konstatiert werden. Selbst wenn man nach eher qualitativen Kriterien fragt, wie zum Beispiel nach der Ausübung von primär Leitungs- versus primär professionellen Tätigkeiten, tritt eine Konvergenz der geschlechtsspezifischen Chancenstrukturen zutage (S0rensen und Trappe, 1994). Unter dem Aspekt der Berufskarriere als Reproduktionsmechanismus der neuen Dienstklassen ist es aufgrund dieser unterschiedlichen Muster der historischen Entwicklungen der beruflichen Optionen von Männern und Frauen ratsam, eine jeweils separate Betrachtung der Einflußfaktoren Herkunft, Bildung und Loyalität vorzunehmen.
Heike Solga
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Für die Analyse der historischen Veränderungen in diesen Einflußfaktoren wurden separate Logit-Modelle für Frauen 35 und Männer geschätzt, die hier nicht im Detail vorgestellt werden sollen 36 . Mittels einer schrittweisen Herangehensweise in Gestalt von Modellhierarchien (siehe Solga, 1994a, Anhang 2, Tab. 9 und 11) wurden die Relevanz von Herkunft, Bildung und öffentlich bekundeter Systemloyalität sowie deren periodenspezifische Bedeutungen für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen durch eigene Berufstätigkeit (im Alter von 30 Jahren) getestet. Das Ergebnis dieser Modellspezifikation ist in der Abbildung 7 für die Männer bzw. der Abbildung 8 für die Frauen dargestellt (siehe Solga, 1994a, Anhang 2, Tab. 10 und 12). Auf der Basis der errechneten LogitKoeffizienten können die Erwartungswerte der Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen in Abhängigkeit von der jeweiligen Merkmalskonstellation berechnet werden. Diese Erwartungswerte bestimmen den jeweiligen Kurvenverlauf in den beiden Abbildungen. In beiden Abbildungen wird zunächst deutlich, daß sich Herkunft und Systemloyalität in Abhängigkeit von den jeweiligen historischen Rahmenbedingungen als markante Rekrutierungsmerkmale für die neuen sozialistischen Dienstklassen erweisen. Die fehlende Unterscheidung nach Bildungsabschlüssen ist jedoch - sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern - keineswegs ein Indiz dafür, daß Bildung kein differenzierendes Merkmal für den Zugang zu den Dienstklassen gewesen ist. Im Gegenteil, technisch gesprochen, verschwanden mit der Einführung der Bildungsvariable in die Logit-Regression alle Herkunftseffekte. In der Realität heißt das: Bildung stellte einen wesentlichen Mechanismus dar, über den die privilegierten Klassenlagen ihren Kindern Berufskarrieren in die neuen Dienstklassen öffneten. Dementsprechend hatten die Kinder aus den neuen sozialistischen Dienstklassen zu allen Zeiten eine wesentlich höhere Chance, einen Schulabschluß oberhalb des jeweiligen Regelschulabschlusses zu erwerben, als die Kinder aus den anderen Klassenlagen (siehe Abb. 9). Nur in der Umbruchsphase im Bildungssystem Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre zeigte sich eine leichte Öffnung, doch nicht unter Preisgabe des generellen Bildungsvorteils der Kinder aus Dienstklassen-Familien. Ihre Chance für einen höheren Bildungsabschluß war selbst in der Kohorte 1 9 3 9 ^ 1 noch dreimal so hoch wie die Chance der Kinder aus anderen Herkunftsfamilien. Mit der vollständigen Institutionalisierung des „einheitlichen sozialistischen Bildungssystems" (1965) und dem Übergang vom Herkunftszum Leistungsprinzip begann sich das Bildungssystem erneut zu schließen.
35 Aufgrund der hohen Selektivität der Frauen aus der Kohorte 1929-31, die über eine eigene Berufskarriere den Weg in die sozialistischen Dienstklassen bis zum 30. Lebensjahr geschafft haben (nur 3,5 %), wurden diese nicht in die Analyse einbezogen. Die Regressionsmodelle wurden nur für die Frauen der Kohorten 1939^11, 1 9 5 1 - 5 3 und 1959-61 geschätzt. 36 Eine ausführliche Darstellung der multivariaten Analysen findet man in Solga (1994a).
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Abbildung 7: Zugangschancen zu den neuen sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit in Abhängigkeit von Kohorte, Herkunft und Systemloyalität - Männer* 1,4
t
1,2
1,0 Icg 0.8 ' oä
•3 0,6 •a O
0,4 0,2 0,0 1929i-31
1939—41
Herkunftsklasse: AKL Arbeiterklasse DK sozialistische Dienstklassen Selbst Selbständige (einschließlich Sonstige) Bauern selbständige Bauern bzw. Genossenschaftsbauern Systemloyalität: L systemloyal nL nicht systemloyal
1951-53
1959-61 AKL-nL AKL-L DK-nL DK-L Selbst-nL Selbst-L Bauern-nL Bauern-L
*
Dargestelt sind die Odds, das heißt die Wahrscheinlichkeit dafür, daß Personen mit der jeweiligen Kohorten-, Herkunfts- und Systemloyalitätskonstellation aufgrund der eigenen Berufstätigkeit in den Dienstklassen zu verorten sind, im Vergleich zu der Wahrscheinlichkeit, einer der anderen Klassenlagen anzugehören (vgl. Anhang 1). Interpretationsbeispiel: Die Männer, die zwischen 1929-31, 1939—41 oder 1951-53 geboren wurden, aus den Dienstklassen stammten und sich systemloyal zeigten, hatten eine etwa 0,6mal so hohe bzw. 40 Prozent niedrigere Chance, duch ihre eigene Berufstätigkeit Zugang zu den Dienstklassen zu erhalten, als aufgrund ihrer Berufstätigkeit einer anderen Klasse anzugehören.
Dementsprechend ist bei der Interpretation der Ergebnisse der Abbildungen 7 und 8 stets zu bedenken, daß es sich bei den Herkunftsunterschieden in den Berufskarrieren im wesentlichen um Bildungsunterschiede bzw. ungleiche Bildungschancen handelt. Welche Schlußfolgerungen lassen nun die Ergebnisse der durchgeführten schrittweisen Logit-Regression in bezug auf die Männer zu (siehe Abb. 1)1 Wie bereits im ersten Teil der Analyse ist auch hier eine Kohortenverwerfung zwischen
Heike Solga
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Abbildung 8: Zugangschancen zu den neuen sozialistischen Dienstklassen durch die eigene Berufstätigkeit in Abhängigkeit von Kohorte, Herkunft und Systemloyalität - Frauen* 1,4
1,21,0-
0,8 0,6 0,4
0,20,0 1939-tl
1951-53
Herkunftsklasse: nDK
Klassenlagen verschieden von sozialistischen Dienstklassen
DK
sozialistische Dienstklassen
Systemloyalität: L
systemloyal
nL
nicht systemloyal
1959-61 nDK-nL nDK-L DK-nL DK-L
Interpretationsbeispiel: Die Frauen, die zwischen 1939—41 oder 1951-53 geboren wurden, nicht aus den Dienstklassen stammten und sich systemloyal zeigten, hatten eine 0,25mal so hohe bzw. nur ein Viertel der Wahrscheinlichkeit, durch ihre eigene Berufstätigkeit in die Dienstklassen zu gelangen, im Vergleich zu der Wahrscheinlickeit, aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeiten einer anderen Klasse anzugehören.
den drei älteren und der jüngsten Kohorte festzustellen, das heißt zwischen der Aufbau- und Stabilisierungsperiode bis Ende der 1970er Jahre und der Stagnationsphase in den 1980er Jahren. Angefangen mit dem Etablierungsprozeß, der die Berufsverläufe der Männer der beiden älteren Kohorten prägte, zeigte die Kombinatsbildung für die Männer der Kohorte 1951-53 eine ähnliche Wirkung: einen hohen Bedarf an hochqualifizierten Kadern und Leitungspersonal. Die in Abbildung 7 dargestellten Zugangschancen der Männer der Kohorten 1929-31, 1939^1 und 1951-53 zeigen, daß die Unterschiede zwischen den loyalen und nicht-loyalen Dienstklasse-Söhnen und den loyalen Arbeitersöhnen gering waren, sich in einer Bandbreite von 0,5 bis 0,6 bewegten. Unter den Bedingungen des sogenannten „Arbeiterkind-Bonus", das heißt der bevorzugten Behandlung von Arbeiterkindern im Selektionsprozeß um höhere Bildungsabschlüsse, konnten die Arbeitersöhne offensichtlich über öffentlich bekundetes systemloyales Verhalten
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Abbildung 9: Klassenspezifische Bildungschancen
Odds Ratios: Die Chance der Kinder aus den sozialistischen Dienstklassen, einen höheren Bildungsabschluß zu erwerben, im Vergleich zu der Chance der Kinder aus anderen Klassenlagen.
Bildungsnachteile im Vergleich zu den Dienstklasse-Söhnen kompensieren. Insgesamt zeigt sich für die Männer dieser drei Kohorten ein Bild, in dem sich - abgesehen von den loyalen Söhnen von Selbständigen - keine gravierenden Klassenunterschiede hinsichtlich der Zugangschancen in die neuen Dienstklassen ausmachen lassen. Allerdings nur unter der Bedingung, daß die Söhne, die nicht aus einer der beiden sozialistischen Dienstklassen kamen, sich systemloyal zeigten. Söhne aus Arbeiter-, Bauern- und Selbständigenfamilien, die weder Parteimitglied waren noch gesellschaftliche Funktionen ausübten, blieben an das untere Ende der Rekrutierungsrangordnung verwiesen. Einzige Ausnahme in diesem Gesamtbild waren die öffentlich loyalen Söhne von Selbständigen bzw. von Bauern - jedoch in unterschiedlicher Hinsicht. Selbst für die loyalen Söhne aus Bauernfamilien ist der offiziell progagierte „Arbeiterund Bauern-Bonus" sogar für die Aufbauphase der DDR nur schwer feststellbar. Zwar hatten die loyalen Bauernsöhne in dieser Zeit größere Zugangschancen als ihre nicht-loyalen Zeitgenossen bäuerlicher Herkunft (0,35 zu 0,07), doch selbst für die loyalen blieb sogar die Kluft zwischen Arbeiter- und Bauernklasse bestehen. Anders verhält es sich mit den loyalen Söhnen von Selbständigen. Wirtschaftlich marginalisiert, begegneten die Eltern der Beschneidung in den Vererbungschancen ihres Eigentums dadurch, daß sie ihren Söhnen berufliche Werdegänge in die privilegierten Klassenlagen der neuen Gesellschaft eröffneten. Zumindest für den Teil unter den Selbständigen, der gewillt war, sich öffentlich zu dem neuen System in der DDR zu bekennen, wurde der Niedergang der eigenen Klassenlage
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in einen Übergang in die neuen Dienstklassen umgemünzt 3 7 . Nicht vergessen werden darf jedoch bei der Gesamtinterpretation der Befunde für die drei älteren Kohorten, daß es sich dabei um eine relativ kleine Gruppe von Männern handelte, deren erheblich bessere Chancen die - oben konstatierte - eher moderate Ungleichheitsstruktur für diese drei Kohorten wohl nicht in Frage stellen. Ein anderes Bild zeigt sich dagegen für die jüngste Kohorte (1959-61). Unter den Bedingungen der reduzierten Zugangsmöglichkeiten zu den sozialistischen Dienstklassen kam es zu einer Polarisierung in den klassenspezifischen Zugangschancen. Während die loyalen Söhne aus Familien der sozialistischen Dienstklassen ihre Zugangschancen entscheidend verbessern konnten, verschlechterten sich für alle anderen - ob loyal oder nicht loyal - die Zugangschancen. Diese gegenläufigen Tendenzen führten dazu, daß sich nun eine Schere zwischen denen, die aus den Dienstklassen kamen - allerdings auch öffentlich systemloyales Verhalten zeigten - , und allen anderen öffnete. Dies gilt wiederum mit Ausnahme der loyalen Söhne von Selbständigen. Doch selbst für diese verringerten sich die Chancen im Vergleich zu den drei älteren Kohorten um mehr als ein Drittel (das heißt von etwa 1,4 auf 0,9). Wer also in den 1980er Jahren sozusagen eine berechtigte Chance haben wollte, in der Konkurrenz um die immer weniger werdenden vakanten Dienstklasse-Positionen den Sieg davonzutragen, der mußte nicht nur aus einer Dienstklasse-Familie stammen, sondern zusätzlich noch systemloyales Verhalten zeigen. Darin widerspiegelt sich, daß der eher kompensatorische Charakter von Systemloyalität (bis Ende der 1970er Jahre) mit dem Übergang in die 1980er Jahre außer Kraft gesetzt wurde. An seine Stelle trat die zunehmende Bedeutung von Systemloyalität als notwendiges Selektionskriterium innerhalb der sozialistischen Dienstklassen (vgl. auch Solga, 1994b) 38 . Diese Polarisierung der Zugangschancen erklärt sich sicherlich nicht vollständig aus einer zunehmenden Schließung der sozialistischen Dienstklassen durch die Dienstklassen selbst. Vielmehr ist auch davon auszugehen, daß diese Schließung teilweise auch das Resultat eines bewußten „Verzichts" seitens der anderen Klassenlagen war. In Diskussionen und Publikationen über die DDR wurde schon
37 Bei den Töchtern von Selbständigen erfolgte der Übergang aus der marginalisierten Herkunftsklasse in die privilegierten Klassenlagen der neuen Gesellschaft vor allem über eine entsprechende Heirat. 38 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß die Parteimitgliedschaft der Eltern ein fehlendes öffentliches loyales Verhalten ihrer Kinder nicht ausgleichen konnte. Die Einführung dieser Variablen in die Logit-Regression zeigte keinerlei signifikante Effekte. Dieses Resultat unterstützt daher die Annahme, daß die Parteimitgliedschaft der Eltern nur dann einen positiven Effekt auf die Berufskarrieren ihrer Kinder hatte, wenn es ihnen gelang, derartige Verhaltensweisen auf die Kinder zu übertragen. Und wie sich für die vier ausgewählten Kohorten zeigt, war die Chance, daß jemand aus einer „loyalen" Familie selbst Parteimitglied oder Funktionsträger wurde, mehr als doppelt so groß wie für diejenigen, deren Vater und Mutter nicht Mitglied der Partei waren.
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
mehrfach darauf hingewiesen, daß zum Beispiel Arbeiter zum Teil „gar nicht in die Dienstklassen wollten", sei es aufgrund fehlender materieller Anreize, sei es aufgrund antizipierter Chancenlosigkeit, sei es aufgrund einer abverlangten Identifikation mit dem System, die für den Zugang zu den sozialistischen Dienstklassen vorausgesetzt wurde. Welche Bedeutung diesen beiden Gründen, Ausschluß und Verzicht, hinsichtlich der Berufskarrieren der Männer der Kohorte 1959-61 zukam, kann im nachhinein nicht mehr eindeutig geklärt werden. Anzunehmen ist, daß beide zur Interpretation der vorgefundenen Polarisierung der Zugangschancen in die Dienstklassen heranzuziehen sind. Wie sah die Entwicklung der beruflichen Opportunitätsstrukturen bei den Frauen aus (Abb. 8)? Auch für die drei analysierten Frauenkohorten zeigen die Ergebnisse der Logit-Regression, daß die Stagnation bzw. der Rückgang im Umfang der zu besetzenden Dienstklasse-Positionen für die Chancenstruktur der Frauen der Kohorte 1959-61 nicht folgenlos blieb. Für sie verschlechterten sich für alle Klassenlagen und zwar unabhängig davon, ob die Frauen loyales Verhalten zeigten oder nicht, die Zugangschancen zu den sozialistischen Dienstklassen durch eigene Berufskarrieren im Vergleich zu denen der Frauen in den beiden anderen Kohorten (1939^11,1951-53). Im Unterschied zu den Männern wird für die Frauen jedoch generell ein Auseinanderklaffen der beruflichen Zugangschancen in Abhängigkeit von der Herkunft in Gestalt einer Trichotomisierung deutlich, und zwar zwischen den loyalen Dienstklasse-Töchtern, den nicht-loyalen DienstklasseTöchtern und dem „Rest". Bei den Frauen war Systemloyalität nie kompensatorischer Natur, die Diskrepanz zwischen nicht-loyalen Dienstklasse-Töchtern und loyalen Töchtern aus anderen Klassenlagen konnte für keine der drei Kohorten aufgebrochen werden. Doch von einem Bedeutungswandel der Systemloyalität in bezug auf die beruflichen Entwicklungschancen ist auch bei den Frauen auszugehen. Im Unterschied zu den Männern vollzog er sich hier als Übergang von einem „zusätzlichen Bonus" für Dienstklasse-Töchter (ebenfalls) hin zu einem „notwendigen" Selektionsmerkmal innerhalb der Dienstklassen. Auch für die Frauen der Kohorte 1959-61 zeigt sich: In den 1980er Jahren hatten nur die Töchter, die aus den sozialistischen Dienstklassen stammten und öffentlich systemloyales Verhalten zeigten, aussichtsreiche Chancen für Berufskarrieren in die Dienstklassen. Welche Schlußfolgerungen können aus diesen Ergebnissen für die Frage nach den Reproduktionsmechanismen von sozialer Ungleichheit in der DDR gezogen werden? Die im ersten Teil der Analyse zu konstatierende zunehmende Schließung der sozialistischen Dienstklassen vollzog sich im wesentlichen über einen Wandel ihrer Rekrutierungsmechanismen, der vor allem den Kindern aus den Dienstklassen im Vergleich zu denen aus anderen Klassenlagen zugute kam. Während Herkunftsnachteile, das heißt im wesentlichen ungleiche Bildungschancen, in der Aufbau- und Stabilisierungsphase der DDR durch loyales Verhalten kompensiert werden konnten, kristallisierten sich Bildung und Systemloyalität in den 1980er Jahren als die Rekrutierungsmerkmale heraus, die für eine Berufskarriere in die Dienstklassen unabdingbar gewesen zu sein scheinen. Diese Ergebnisse
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sind zugleich eine Bestätigung dafür, daß die Dienstklassen gegenüber den anderen Klassenlagen in der DDR durchaus etwas „zu verteidigen" hatten, das durch eine allgemeine Zugänglichkeit in Frage gestellt worden wäre. Warum sonst wäre die Trennungslinie zwischen den sozialistischen Dienstklassen und den anderen Klassenlagen in bezug auf den Zugang so ausgeprägt gewesen? Eine Erklärung nur auf der Basis des Verzichts der anderen Klassenlagen reicht dazu nicht aus (vgl. dazu den Beitrag von Diewald und Solga in diesem Band).
6. Zusammenfassung: Etablierung und Reproduktion einer Klassenstruktur Die Quintessenz all dieser Befunde: - die Abnahme von struktureller Mobilität nach der Etablierung der staatssozialistischen Ordnung in der DDR, - die Erhöhung der Vererbungschancen der sozialistischen Dienstklassen, - die Beibehaltung selektiver Heiratsmuster in der DDR sowie - der Wandel in den Rekrutierungsmechanismen der sozialistischen Dienstklassen, durch den die Kinder aus diesen Dienstklassen eindeutig im Selektionsund Allokationsprozeß privilegiert wurden, läßt die Schlußfolgerung zu: Die DDR war eine Klassengesellschaft. Der Übergang zum Staatssozialismus in der DDR fußte - entgegen dem in der Verfassung der DDR deklarierten Ziel des Aufbaus einer von Ausbeutung und antagonistischen Klassenwidersprüchen befreiten Gesellschaft - gerade auf der Etablierung einer neuen, nun „staatssozialistischen Klassenstruktur". Aufgrund dieser Klassenstruktur generierten sich Ungleichheitslagen, die in den Eigentumsverhältnissen der staatssozialistischen Ordnung und hier insbesondere in der Dominanz des staatlichen „Partei"-Eigentums ihre strukturellen Ursachen hatten. Die Ergebnisse belegen, daß mit der Entwicklung der DDR eine zunehmende Verfestigung von Ungleichheitslinien stattfand, und zwar zwischen: - den privilegierten Klassenlagen des staatlichen Eigentums (der Parteielite und ihren Dienstklassen), - der politisch und wirtschaftlich marginalisierten Klassenlage der Selbständigen, - den zunehmend marginalisierten Klassenlagen des genossenschaftlichen Eigentums (Genossenschaftsbauern, PGH-Handwerksmeister und deren Dienstklassen) und - der Arbeiterklasse, die zahlenmäßig den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung ausmachte. Die Analyse der intergenerationalen Mobilitätsmuster der DDR-Gesellschaft unterstützt die eingangs formulierte These, daß von einer Eliminierung der Eigentums-
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Die Etablierung einer Klassengesellschaft in der DDR
Verhältnisse in der staatssozialistischen Gesellschaft als Faktor für die Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht gesprochen werden kann. Die Ergebnisse dieser Analyse sprechen viel eher dafür, daß Klassenunterschiede sich durchaus als handlungsrelevant erwiesen haben, ja ihre Bedeutung mit der Stabilisierung und Stagnation des Systems sogar noch zugenommen hat.
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe
Staatliche Lenkung und individuelle Karrierechancen: Bildungs- und Berufsverläufe
1. Einleitung Die enge Verknüpfung zwischen Staat, Planökonomie und Sozialstruktur, die in der DDR ein Ausdruck der Dominanz der Politik über alle gesellschaftlichen Sphären war, ist auch für die Ausbildungs- und Erwerbsverläufe von Frauen und Männern in dieser Gesellschaft prägend gewesen. Die staatssozialistische Ideologie gebot dabei zum einen, daß die individuellen Ausbildungschancen und die beruflichen Perspektiven von Frauen und Männern dem Anspruch auf Chancengleichheit und leistungsgerechte, individuelle Entwicklungsmöglichkeiten genügen sollten. So hieß es im Art. 25, § 1 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1974: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das gleiche Recht auf Bildung. Die Bildungsstätten stehen jedermann offen. Das einheitliche sozialistische Bildungssystem gewährleistet jedem Bürger eine kontinuierliche sozialistische Erziehung, Bildung und Weiterbildung. Im Art. 26, § 1 hieß es weiter: „Der Staat sichert die Möglichkeit des Übergangs zur nächsthöheren Bildungsstufe bis zu den höchsten Bildungsstätten, den Universitäten und Hochschulen, entsprechend dem Leistungsprinzip, den gesellschaftlichen Erfordernissen und unter Berücksichtigung der sozialen Struktur der Bevölkerung." Die Ausbildungs- und Arbeitskräftelenkung sollte zum anderen eine möglichst effiziente Allokation von Qualifikation und Arbeitskräften gemäß dem Bedarf der plan wirtschaftlich gesteuerten Ökonomie herbeiführen. „Aus der Gesamtzielstellung der sozialistischen Gesellschaft ergibt sich das Ziel der Planung und Bilanzierung der Arbeitskräfte, mit vollbeschäftigtem und rationell genutztem Arbeitsvermögen einen höchstmöglichen Beitrag zu einem effektiven Wirtschaftswachstum in Einheit mit einer sozialismusadäquaten Entwicklung und Reproduktion unserer wichtigsten Produktivkraft, des Menschen, zu leisten." (Autorenkollektiv, 1987, S. 14) Die gleichzeitige Verfolgung von Gleichheits- und Effizienzzielen bedeutete, so Lötsch, „daß es die heutige sozialistische Gesellschaft (...) mit zwei übergeordneten Erfordernissen (Zielkriterien) zu tun hat". Auf der einen Seite gehe es
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Bildungs- und Berufsverläufe
darum, „nach der Überwindung überkommener Klassengegensätze verbliebene soziale Unterschiede weiter aus der Welt zu schaffen", auf der anderen Seite sei dem „Umstand, daß soziale Strukturen mit der ökonomischen Effektivität gesellschaftlicher Systeme zusammenhängen", Rechnung zu tragen (Lötsch, 1989, S. 15). Die Analyse der Ausbildungs- und Erwerbsverläufe unserer Befragten soll im einzelnen Auskunft darüber geben, wie erfolgreich die Ausbildungs- und Arbeitskräfteallokation unter dem Gesichtspunkt dieser doppelten Zielsetzung gewesen ist. Wir gehen dazu in vier Schritten vor. Zunächst werden wir erörtern, wie sich die Ansprüche, die sich mit dem Gleichheitsgrundsatz und dem Effizienzgebot verband, in den Strategien und Strukturen der Ausbildungs- und Arbeitskräfteallokation in der DDR niedergeschlagen haben sollten, und fassen diese Überlegungen in sechs Hypothesen zusammen. Wir geben dann einen Überblick über die institutionellen Rahmenbedingungen des Bildungs- und Beschäftigungssystems in der DDR und skizzieren dabei einige wichtige historische Entwicklungstendenzen. Im dritten Schritt wenden wir uns den empirischen Analysen der individuellen Ausbildungs- und Erwerbsverläufe der Geburtsjahrgänge in der Lebensverlaufsstudie zu und konfrontieren die empirischen Ergebnisse mit unseren sechs Thesen. Im letzten Teil untersuchen wir genauer Bedingungsfaktoren für die Chancen beruflicher Aufstiege in der DDR. Davon versprechen wir uns einen weiteren Aufschluß über das Ausmaß des meritokratischen Charakters des DDRBeschäftigungssystems und seiner Veränderung zwischen den Geburtsjahrgängen. Wir beschränken uns allerdings auf Karrieremobilität (intragenerationale Mobilität) und behandeln nicht die Frage, welche Faktoren für den erstmaligen Zugang zum Ausbildungssystem und den Berufseintritt maßgeblich gewesen sind.
2. Thesen zum Ausbildungs- und Beschäftigungssystem in der DDR Nach dem ideologischen Anspruch sollte das DDR-Bildungssystem nach dem Prinzip der Chancengleichheit im Bildungs- und Berufsbereich organisiert sein. Die einzelnen Bildungswege sollten für die Angehörigen aller sozialen Gruppen offen sein, vormals benachteiligte Gruppen sollten eigens gefördert werden. Der Bildungserfolg und damit der Zugang zu beruflichen Positionen und Karrierechancen sollte allein durch die persönlichen Fähigkeiten, das Engagement und die erbrachten Leistungen der Individuen bestimmt sein. Leistung war in der DDR aber nicht nur über intellektuelle Fähigkeiten und Produktivität im Arbeitsprozeß definiert. Dazu zählte auch das Ausmaß der Einsatzbereitschaft des einzelnen für Gesellschaft und Staat und seine ideologischen Ziele. In diesem Sinne ist es durchaus plausibel zu erwarten, daß gesellschaftliches Engagement in der FDJ und eine Parteimitgliedschaft einer Ausbildungs- und Berufskarriere förder-
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lieh, ja für gesellschaftliche Schlüsselpositionen unabdingbar war. Aus der immanenten Sicht der staatlichen Ideologie war das meritokratische Prinzip damit nicht verletzt. Wir wissen, daß der Zugang von Individuen zu Ausbildungsgängen und damit der Zugang zum Beschäftigungssystem in der DDR zu jedem Zeitpunkt ihrer Geschichte sozial selektiv war und einem rein meritokratischen Modell gleicher Bildungschancen widersprach (Solga, 1993a). Frühzeitig wurden zwar ideologisch begründete Selektionskriterien für die Zugangsmöglichkeiten zu höherer Bildung eingeführt, die im Prinzip Arbeiterkindern die notwendigen Vorteile für ihre Ausbildungswege verschaffen sollten, um das Ziel der „Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols" zu erreichen. Unter dem Gesichtspunkt des Chancenausgleichs zugunsten einer in früheren Zeiten benachteiligten Bevölkerungsgruppe waren diese Maßnahmen eine ideologisch gebotene Strategie. Sie war auch bis zu einem gewissen Grade erfolgreich. Dennoch, trotz dieser Regelungen und trotz der Einführung des „einheitlichen Bildungssystems" in der DDR kam es faktisch nicht zu der postulierten Gleichheit in den Qualifikationschancen. Es kann im Gegenteil gezeigt werden, daß es spätestens seit den 1960er Jahren den Angehörigen der oberen beruflichen Statusgruppen und der sozialistischen Intelligenz immer besser gelang, ihren Kindern den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen, während die relativen Chancen von Kindern aus Arbeiterfamilien stark zurückgingen (Geißler, 1992; Solga, 1993a, 1994a). Wir werden noch zu untersuchen haben, ob auch die beruflichen Karrieren durch Momente selektiver Chancenverteilungen geprägt waren. Viele Menschen mögen sich dabei zunehmned einem beruflichen Aufstieg verweigert haben, gerade weil sie die Anforderungen an politische Loyalitäten, die mit höheren beruflichen Positionen verbunden waren, nicht erfüllen wollten. Da es in zahlreichen Bereichen der Beschäftigungsstruktur deutliche Inkonsistenzen zwischen der Entlohnung und der ausgeübten beruflichen Tätigkeit gab, fehlten zudem häufig die materiellen Anreize, sich für einen "beruflichen Aufstieg einzusetzen. Ausbleibende Bildungserfolge und Karriereschritte mögen somit nicht allein Folge von Behinderungen und selektiver Chancenverteilung gewesen sein, sondern auch eine Konsequenz fehlender Bereitschaft seitens der Bürger selbst. Das zweite Ziel des planökonomischen Konzepts der Ausbildungs- und Arbeitskräfteallokation war es, den Qualifikation- und Arbeitskräftebedarf in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen in optimaler Weise zu befriedigen und das zur Verfügung stehende Arbeitskräfte optimal zu nutzen. Das drückte sich unter anderem in den folgenden Forderungen aus 1 :
1
Es gibt eine reichhaltige Literatur zur Theorie und Praxis der Bildungs- und Arbeitskräfteplanung in der D D R (vgl. Autorenkollektiv, 1973, 1987, 1989; Braunreuther, 1966; Braunreuther, Oelsner und Otto, 1967; Naumann und Steinberger, 1969; Zentralinstitut für Berufsbildung der Deutschen Demokratischen Republik, 1974).
92
Bildungs- und Berufsverläufe
-
nach einer möglichst vollständigen Ausschöpfung des Erwerbspersonenpotentials, insbesondere der Gewährleistung der Vollzeiterwerbstätigkeit der Frauen; - nach möglichst effektiven Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungsinvestitionen; - nach flexiblen Anpassungsmöglichkeiten der Erwerbstätigen an die Anforderungen des „wissenschaftlich-technischen Fortschritts" und der Bereitstellung der dafür notwendigen qualifikatorischen Ressourcen; - nach einem möglichst hohen Gewinn an Arbeitskräften durch ständigen Produktivitätsfortschritt; - nach einem möglichst geringen Ausmaß an „Fluktuationen", das heißt ungeplanten, zwischenbetrieblichen Arbeitskräftebewegungen 2 ; - nach einem möglichst geringen Verlust an Arbeitszeit durch Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen und geeignete Lösungen für den Einsatz „freigesetzter Arbeitskräfte". Optimale Ausbildungs- und Arbeitskräfteallokation heißt, daß für freiwerdende Stellen, im Fall strukturellen Wandels, für neue Berufsfelder genau die geeigneten Arbeitskräfte bereitgestellt werden. Eine solche Allokation von Arbeitskräften sollte die Mobilität zwischen verschiedenen Berufn möglichst gering halten. Eine hohe zwischenberufliche Mobilität geht entweder mit einem hohen Anteil zeitweise nicht berufsadäquat ausgebildeter Arbeitskräfte einher, oder sie hat hohe zusätzliche Kosten für die notwendigen Umschulungsmaßnahmen unter Entwertung des früher erworbenen Humankapitals zur Folge. Eine Ausnahme stellt die zwischenberufliche Mobilität in Tätigkeitsbereichen dar, die entweder keine oder nur wenig berufs- oder tätigkeitsspezifische Qualifikationen erfordern. Dazu können aus jeweils unterschiedlichen Gründen Un- und Angelemtentätigkeiten und hochqualifizierte Leitungstätigkeiten gezählt werden (Piore, 1978)3. Die Allokation von Arbeitskräften sollte auch eine geringe Mobilität zwischen Betrieben, also möglichst wenig Fluktuation erfordern oder stimulieren. Eine hohe zwischenbetriebliche Mobilität wäre außerdem mit einer Schwächung der Planungssicherheit der Betriebe und einer Verschwendung von betriebsspezifischem Humankapital verbunden. Eine Ausnahme bilden hier wiederum die Un-
2
Vgl. dazu die Diskussion des Begriffs der Fluktuation bei Braunreuther (1966, S. 7 f.). Vorschläge zu einer präzisen Bestimmung der volkswirtschaftlichen Verluste (und Gewinne) durch Fluktuation und zwischenbetriebliche Wechsel siehe zum Beispiel Grabley und Völker, 1972.
3
D i e s e beiden Berufskategorien entsprechen dem sekundären und dem oberen Teil des primären Segments in dem Modell der Arbeitsmarktsegmentation von Doeringer und Piore (1971). Mit dieser Untergliederung des Arbeitsmarktes unterscheiden die Autoren einen primären und einen sekundären Arbeitsmarkt. Im sekundären Arbeitsmarkt werden vor allem Gelegenheitstätigkeiten und Tätigkeiten auf niedrigem Qualifikationsniveau nachgefragt. D i e Fluktuation der Arbeitskräfte ist hier hoch, es werden schlechte Löhne gezahlt, und es gibt schlechte Aufstiegschancen. Auf der anderen Seite wird der obere Teil des primären Segments
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und Angelerntentätigkeiten, in denen relativ wenig betriebsspezifisches Humankapital akkumuliert wird. Innerhalb einzelner Berufe und innerhalb der Betriebe sollte berufliche Mobilität aber keineswegs verhindert werden. Berufliche Mobilität sollte jedoch nicht mit qualifikatorischen Abstiegen verbunden sein. Die Ausbildungs- und Arbeitskräftelenkung sollte dagegen berufliche Aufstiegsmobilität innerhalb der Berufsfelder generieren 4 . Damit wird betriebsspezifisches und berufsbezogenes Humankapital in effizienter Weise genutzt. Langjährige praktische Erfahrungen von Arbeitskräften in einem Beruf bieten eine gute Voraussetzung dafür geeignete Personen im Rahmen geeigneter Maßnahmen beruflicher Weiterbildung in nächsthöhere Qualifikationsstufen hineinzuführen. Auch die Frage der Leistungsmotivation der Beschäftigten in ihrer Erwerbstätigkeit spielt hier eine wichtige Rolle. Neben und im Zusammenhang mit monetären und nichtmonetären Anreizsystemen sowie Verpflichtungsnormen des Staates oder sozialem Druck 5 spielen plausiblerweise die Arbeitssituation und die individuelle berufliche Perspektive der Arbeitskräfte eine wichtige Rolle. Dazu gehören die Attraktivität des Berufs und der Tätigkeit für den Einzelnen und die Aussichten auf berufliche Weiterentwicklung und berufliche Karrierechancen. Die Weiterqualifikation von Arbeitskräften sollte aber prinzipiell nicht zu größeren gesamtwirtschaftlichen Kosten führen als eine entsprechende Ausbildung von Berufseinsteigern und sollte mit wenig Verlusten an Arbeitszeit einhergehen. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichst Produktivität von Produktions- und Dienstleistungstätigkeiten sollte die Passung zwischen Ausbildungsberuf bzw. -qualifikation und der Tätigkeit der Arbeitskräfte möglichst gut sein. Es sollten keine Arbeitskräfte über ihrer eigenen Qualifikation eingesetzt sein, da dies auf Kosten der Produktivität gehen würde. Ausbildungsinvestitionen dürfen aber auch nicht verschwendet werden. Sie sind möglichst effizient einzusetzen 6 . Aus dieser Sicht sollte ein unterqualifizierter Einsatz von Arbeitskräften vermieden werden. betrachtet, in dem auf hohem, auf allgemeine Qualifikationen ausgerichtetem Ausbildungsniveau ebenfalls hohe Mobilitätsraten möglich sind, berufliche Wechsel aber mit Aufstiegen verbunden sind. Dazwischen liegt der untere Teil des primären Segments, in dem geringere Mobilitätsraten und stabile Beschäftigungsverhältnisse mit Aufstiegschancen vorherrschen. Eine typische Berufsgruppe in diesem Teilsegment sind Facharbeiter (vgl. Piore, 1978, S. 69 f.). 4 5
Vgl. hier das Konzept der „Mobilitätsketten" bei Piore (1978, S. 72 ff.). Deppe und Hoß sprechen hier von einem „bürokratischen Paternalismus". Damit wollen sie ausdrücken, daß für die Arbeitskräfte in der D D R ein existenzsicherndes Einkommen und zahlreiche sozialpolitische Leistungen garantiert waren und die Disziplinierung prinzipiell nicht über Lohnunsicherheit, sondern über umfassende politische Kontrollen erreicht werden sollte (Deppe und Hoß, 1989, S. 25).
6
Ausführliche Berechnungen mit den Kosten fehleingesetzter Arbeitskräfte finden sich für die D D R der frühen 1970er Jahre zum Beispiel bei Autorenkollektiv (1973). Zum Ausmaß Überoder unterqualifizierter Beschäftigung siehe dort insbesondere S. 114 f.
94
Bildungs- und Berufsverläufe
Diese Ausführungen lassen sich zu fünf Thesen zur Beschäftigungsstruktur in der DDR verdichten. 1. Die Immobilitätsthese: Einer weitverbreiteten Vorstellung folgend waren die individuellen Ausbildungs- und Erwerbsverläufe der Menschen in der DDR eher durch Stabilität und weniger durch Wechsel, Fluktuationen oder gar Friktionen geprägt. Zwischenberufliche Wechsel waren danach die Ausnahme. Lediglich für eine Teilgruppe der Erwerbstätigen wäre mit einer innerberuflichen, innerbetrieblichen Aufwärtsmobilität über mittlere Qualifikationsdistanzen zu rechnen. Zwischenbetriebliche Wechsel sollten auch deshalb relativ gering gewesen sein, weil sozialistische Betriebe Arbeit als einzig verfügbaren Kapitalfaktor horteten und die staatliche Wohnungsbewirtschaftung regionale Mobilität erschwerte. 2. Die These vom Verschwinden der Gruppe der Un- und Angelernten: Aufgrund des ideologischen Anspruchs eines sozialistischen Ausbildungssystems und des Bemühens um Stabilität im Erwerbssystem der DDR wurde der unqualifizierte Bereich der Beschäftigungsstruktur weitgehend abgebaut. 3. Die These von der Marginalität der Abstiegsmobilität: Er gab nur in geringfügigem Maße berufliche Abstiege. 4. Die These von der hohen Passung zwischen Qualifikation und beruflicher Tätigkeit: Die Ausbildungs- und Weiterbildungsinvestitionen waren so auf den Bedarf an Arbeitskräften ausgerichtet, daß eine gute Passung zwischen Qualifikation und ausgeübter Tätigkeit gewährleistet war7. Insbesondere der Anteil unterqualifiziert eingesetzter Arbeitskräfte war sehr gering. 5. Die These vom internen Arbeitsmarkt: Nimmt man die oben skizzierten Ziele der Arbeitskräftelenkung ernst und berücksichtigt die flankierenden Maßnahmen, wie Arbeitsplatzsicherheit und das Recht auf Arbeit, so kommt man mit Grünert und Lutz zu dem Schluß, daß die Beschäftigungsstrukturen in der DDR insgesamt „sehr stark von den Merkmalen geprägt [waren], die (...) als Charakteristika interner Arbeitsmärkte dargestellt wurden" (Grünert und Lutz, 1994, S. 13). Sie seien durch langfristig angelegte Beschäftigungsstrukturen und eine Dominanz innerbetrieblicher beruflicher Mobilität bestimmt gewesen. Nach Grünert und Lutz waren die Differenzierungen der klassischen Version der Arbeitsmarktsegmentationstheorie nach dem „Münchener Modell" (Lutz und Sengenberger, 1974) in der DDR nicht vorzufinden. Der „Jedermannsarbeitsmarkt" mit den Un- und Angelernten bleibt bei ihnen ganz außer Acht. Der sogenannte berufsfachliche Markt - dazu gehören vor allem die qua-
7
Wir werden sehen, daß eine solche Strategie durch spezifische Maßnahmen flankiert werden kann und in der D D R auch flankiert worden ist. Dazu gehört die in den 1970er Jahren eingeführte Regelung der Grundberufe, die eine solide Basisausbildung für größere Berufsfelder bieten und die Flexibilität des Einsatzes der Arbeitskräfte in spezifischeren Tätigkeiten innerhalb des Berufsfeldes bei geringen zusätzlichen Umlernkosten erhöhen sollte (vgl. Abschnitt 2.2).
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lifizierten Fachkräfte, die sich im segmentationstheoretischen Modell nicht durch eine „hohe Betriebsspezifität" der Qualifikation auszeichnen - wird nicht mehr von den betriebsinternen Arbeitsmärkten abgegrenzt. Man muß, so lautet ihre These, in der DDR von einem homogenen Arbeitsmarkt ausgehen, in dem es keine stabilen beruflichen Segmentierungen in der Beschäftigungsstruktur gegeben hat. Die fünf Thesen berücksichtigen jedoch nicht, daß die Beschäftigungsstruktur im Laufe der Geschichte der DDR einer ganzen Reihe von besonderen Herausforderungen ausgesetzt war. In unterschiedlichen Entwicklungsphasen der DDRGesellschaft bzw. DDR-Wirtschaft ist es zu nachhaltigen Verwerfungen in individuellen Ausbildungs- und Berufsverläufen gekommen. Vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten war die durch den chronischen Mangel an Arbeitskräften geplagte Wirtschaft auf Strategien der möglichst umfassenden Aktivierung aller Qualifizierungspotentiale und Beschäftigungsreserven angewiesen. Es wird zu zeigen sein, wie sich diese Situation auf die individuellen Ausbildungs- und Berufskarrieren ausgewirkt hat. Braunreuther formuliert hier zum Beispiel die These, die er gar als Gesetz bezeichnet: „Je weniger absolut disponible Arbeitskräfte verfügbar, desto notwendiger und umfangreicher tritt die Fluktuation in Erscheinung." (Braunreuther, 1966, S. 10) Die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft ist auch reich an Phasen beschleunigten strukturellen Wandels, und zwar in verschiedener Weise: Dazu gehörten die schubweise Verstaatlichung der Wirtschaftseinheiten und die Überführung der landwirtschaftlichen Betriebe in Genossenschaften. Dazu gehören wirtschaftspolitische Umorientierungen strategischer Art, wie die Einführung des NÖS (Neues Ökonomisches System) in den 1960er Jahren, die folgende Rezentralisierung in den 1970er Jahren und der Aufbau der Kombinate gegen Ende der 1970er Jahre. Es gab schließlich Phasen beschleunigten sektoralen Wandels mit der gezielten Förderung einzelner Wirtschaftsbereiche und entsprechende Umorientierungen bezüglich der gesamtwirtschaftlichen Planungsschwerpunkte. Vor allem diese strukturpolitischen Maßnahmen dürften einen nachhaltigen Anpassungsbedarf in der Beschäftigungsstruktur gezeitigt haben. Um wieder Braunreuther zu zitieren: „Je komplizierter die gesellschaftliche Arbeitsteilung und je größer das Tempo ihres strukturellen Wandels ist, desto gravierender werden die Wandlungen in der gesellschaftlichen Proportionalität der Arbeit." (Braunreuther, 1966, S. 9) Diese Wandlungen mußten aber nur dann als Friktionen auf individuelle Berufsverläufe durchschlagen, wenn der Bedarf, der aus den Umstrukturierungen in neuen und/oder expandierenden Wirtschaftsbereichen entstand, im wesentlichen durch die nachrückenden Generationen, die jeweils in das Berufsleben eintraten, nicht hinreichend gedeckt werden konnte. Des weiteren sind zwei nicht vornehmlich historisch begründete Einwände zu nennen. Als systematisch angelegtes Argument ist in Betracht zu ziehen, daß die „Rationalität" der ostdeutschen Planwirtschaft aus verschiedenen Gründen beschränkt bleiben mußte (vgl. Ganßmann, 1993). Auch unter relativ stabilen
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Bildungs- und Berufsverläufe
wirtschaftlichen Verhältnissen war eine stringente und effiziente Planung schon aus technischen Gründen kaum möglich. Auch daher mag die Chance individueller Einflußnahme auf die eigene berufliche Laufbahn sehr viel höher gewesen sein, als es die bloße Ansicht der Regulierungsmechanismen nahelegte. Aspekte unbeabsichtigter Folgewirkungen der Politik, deren „Bearbeitung" durch die Politik selbst und deren „Nutzung" in den individuellen Strategien der Gestaltung der beruflichen Laufbahn müssen daher Berücksichtigung finden. Ein anderer Grund für eine hohe berufliche Mobilität könnte darin liegen, daß Erwerbstätige versuchten, einen unbefriedigenden Einstieg ins Berufsleben nachträglich zu korrigieren oder aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen Stelle und Beruf zu wechseln. Dies ließ sich wahrscheinlich gerade in Zeiten des strukturellen Wandels besonders gut realisieren. Es ist daher nicht zu erwarten, daß die formulierten Thesen uneingeschränkt gelten. Vielmehr ist mit deutlichen kohortenspezifischen Unterschieden in den Ausbildungs- und Erwerbsverläufen zu rechnen. Daher wollen wir eine sechste These formulieren: 6. Die These von der zunehmenden Immobilisierung der DDR-Beschäftigungsstruktur im Kohortenvergleich: Danach sind die in den Thesen 1 bis 5 idealtypisch angelegten Vorstellungen über den Arbeitsmarkt der DDR haben noch keine Gültigkeit für die frühen Phasen der DDR-Geschichte. Mit der Stabilisierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse entsprachen sie aber zunehmend den Ausbildungs- und Erwerbsstrukturen.
3. Das Bildungs- und Beschäftigungssystem in der DDR Die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der DDR wurden durch Prozesse im Bildungsbereich in vielfältiger Weise unterstützt und flankiert. Die Bildungspolitik war mit der zentralen staatlichen Wirtschaftsplanung und -lenkung eng verknüpft. Insbesondere seit dem Beginn der 1960er Jahre konnte das Bildungswesen durch die weitgehende Verstaatlichung der Produktionsmittel in die Wirtschaftsplanung einbezogen werden. Bildungspolitik diente somit zugleich indirekt der Arbeitskräfteplanung. Das Bildungssystem sollte dem Wirtschaftssystem einen soliden und zugleich differenzierten .Unterbau' sichern (Anweiler, 1990). Zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem der DDR bestand daher eine Vielzahl von institutionalisierten Wechselbeziehungen. Bildungs- und Beschäftigungssystem sollten rationell aufeinander abgestimmt und in eine langfristige Strategie der Gesellschaftsplanung eingebunden werden. Wir skizzieren im folgenden einige wichtige Charakteristika des Bildungs- und Beschäftigungssystems der DDR (zu ausführlichen Darstellungen siehe Anweiler, 1990; Baumert, 1994; Biermann, 1990).
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Das
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Bildungssystem
In der D D R gab es mehrere bildungspolitische Zäsuren. „Der Entwicklungsprozeß des Bildungswesens wurde 1946, 1959 und 1965 gesetzlich geregelt." (Biermann, 1990, S. 60) In organisatorischer Hinsicht durchlief das Bildungssystem der DDR seit Ende der 1940er Jahre eine Experimentierphase 8 , die mit dem „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" (1965) abgeschlossen wurde 9 . In den 1970er Jahren wurde auf der Grundlage des Gesetzes von 1965 das System der beruflichen Bildung noch einmal reformiert (Anweiler, 1990). Ein wesentliches Funktionsprinzip des Bildungssystems seit dieser Zeit bestand in der engen Kopplung der beruflichen Bildung an die Allgemeinbildung. Die allgemeinbildenden Zertifikate schrieben die möglichen beruflichen Laufbahnen relativ rigide vor (Biermann, 1990). Formal bestand zwar die Möglichkeit des individuellen beruflichen Aufstiegs, da es keine „Sackgassenberufe" geben sollte. Bezogen auf das Facharbeiterniveau stellten sich die beruflichen Entwicklungswege folgendermaßen dar: Die Mehrheit der Absolventen der 10. Klasse erlernte innerhalb von zwei bzw. zweieinhalb Jahren einen Facharbeiterberuf und erwarb damit zugleich die Fachschulreife für ökonomische und technische Fachrichtungen. Eine deutliche Minderheit absolvierte innerhalb von drei Jahren die Berufsausbildung mit Abitur und erlangte damit zugleich eine zwar formal allgemeine, aber in der Praxis eher fachgebundene Hochschulreife. Schüler mit einem Abschluß der 8. Klasse konnten in drei Jahren spezifische Facharbeiterberufe erlernen und besaßen danach keine Fachschulreife. Schüler, die keinen Abschluß der 8. und 9. Klasse nachweisen konnten, hatten lediglich die Möglichkeit, einen Abschluß auf Teilgebieten (Teilabschluß) zu erwerben (Lötsch, 1990a). Im Verlauf
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Bereits die ersten Maßnahmen der Nachkriegszeit gingen vom Gedanken einer einheitlichen Pflichtschulzeit und einer späteren Differenzierung der Bildungswege aus (Baumert, 1994). Der Aufbau eines Einheitsschulsystems war mit dem politischen Anspruch der „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs" verbunden. Daher wurde Kindern aus bislang benachteiligten Bevölkerungsgruppen eine besondere Förderung zuteil. Bereits die erste Hochschulkonferenz (1946) beschloß die Öffnung der Universitäten und Hochschulen für junge Facharbeiter ohne Abitur, sogenannte Arbeiterstudenten. A b 1949 wurden an den Universitäten und Hochschulen Arbeiter- und Bauemfakultäten ( A B F ) zum Erwerb des Abiturs eingerichtet. 1950 wurde ein Hochschul-Fernstudium für Berufstätige eingeführt. Diese gezielte Förderung der bislang unterprivilegierten Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien ging mit Benachteiligungen von Kindern aus „bürgerlichen" Familien einher. Anvisiert wurde damit die Herausbildung einer „sozialistischen Intelligenz".
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Das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" (1965) regelte in einem systematischen Zugriff das Bildungswesen von der Vorschule bis zur Erwachsenenqualifizierung und stellte den formalen Abschluß eines fast 20jährigen Systembildungsprozesses dar. Einen Überblick über das Bildungssystem in dieser entwickelten Form geben die folgenden Materialien: Ministerium für Volksbildung, 1973; Lötsch, 1990a; Anweiler, 1990; Baumert, 1994.
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Bildungs- und Berufsverläufe
der 8. Klasse entschied sich für die schwächsten Schüler, ob sie das Bildungsziel der POS auf direktem Wege erreichen würden. In den 1970er und 1980er Jahren wurden die Lehrer zu einer besonderen Förderung der schwächeren Schüler angehalten („keinen zurücklassen!"), so daß es diesen nur unter Schwierigkeiten möglich war, die Schule früher zu verlassen, sofern sie dies wollten. An den Volkshochschulen wurden Kurse zum Nachholen allgemeinbildender Schulabschlüsse angeboten. Mit dem Übergang in die 9. Klasse wurde (bis 1982) ebenfalls über die Aufnahme in die Vorbereitungsklassen der EOS entschieden 10 . Daneben gab es für Berufstätige mit dem Abschluß der 10. Klasse die Möglichkeit, innerhalb von zwei Jahren eine allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife über Abiturlehrgänge an Volkshochschulen zu erwerben. Des weiteren wurden verstärkt in den 1980er Jahren Vorkurse für junge Facharbeiter für technische und ökonomische Fachrichtungen an entsprechenden Hochschulen und Universitäten installiert (in gewissem Sinne ein Fachabitur). Frauen und Männer, die ihr Abitur in einer der beiden letztgenannten Formen erwarben, wurden danach häufig von ihren Betrieben zum Studium delegiert, was die Chancen für eine Studienzulassung erhöhte". Im Anschluß an ihr Studium sollten sie in ihre früheren Betriebe zurückkehren. Die unterschiedlichen Zugangswege zum Abitur wurden bei der Entscheidung über die Zulassung zum Studium partiell berücksichtigt, das heißt, es gab eine gewisse Quotierung. Generell berechtigte die Hochschulreife nicht zur Aufnahme eines Studiums, sondern war lediglich die Voraussetzung für die Bewerbung um einen Studienplatz. Für Abiturienten, die keine Zulassung zum gewünschten Studium erhielten, wurde die Umlenkungspraxis wirksam. Sie hatten dann die Möglichkeit, ein Studium in einer der weniger gefragten Studienrichtungen, die noch freie Plätze aufwiesen, aufzunehmen, ein Jahr zu arbeiten und es erneut zu versuchen oder einen Facharbeiterberuf zu erlernen (Baske, 1990). Angestrebt wurde auch eine schrittweise berufliche Weiterbildung der Arbeitskräfte: „Ungelernte sollten sich zu Angelernten qualifizieren, diese zu Gelernten, und die Gelernten sollten zur technischen Intelligenz aufrücken. Vor dem Hintergrund der Verschärfung der Arbeitsnormen und der Preissteigerungen ist dann die Einführung des Anlernsystems zu sehen, das sich stark am sowjetischen Vorbild orientierte. Vor allem aber wurden die Lohnstufen direkt an die Ausbildungs-
10 Letztlich wurde das Prinzip der Einheitsschule damit verletzt (Baumert, 1994). Innerhalb des Schulsystems entstanden neue soziale Differenzierungslinien, deren Verfestigung zumindest partiell mit der Einführung der dreijährigen .Berufsausbildung mit Abitur' ( B m A ) entgegengewirkt werden sollte (1960). 11 Dies gilt auch für Männer mit einer den Grundwehrdienst überschreitenden Armeezeit.
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niveaus gekoppelt." (Biermann, 1990, S. 26) 12 Vor dem Hintergrund des Arbeitskräfte- und vor allem Fachkräftemangels entwickelte sich die Qualifikation der Berufstätigen zu einer bedeutenden ökonomischen Ressource. Ab dem Beginn der 1960er Jahre wurde nicht nur der über das Anlernen hinausgehenden beruflichen Qualifizierung von Männern eine größere Bedeutung beigemessen. Auch die bislang vernachlässigte Qualifizierung von Frauen rückte in den Mittelpunkt des staatlichen Interesses 13 . Im Bildungssystem der DDR gewann im Kontext der steigender wissenschaftlich-technischer Anforderungen das Problem an Bedeutung, wie trotz des Prinzips der Einheitlichkeit eine Differenzierung ermöglicht werden konnte 14 . Dies hatte eine größere Betonung des Leistungsprinzips und damit auch eine Veränderung der Zulassungskriterien zu den weiterführenden Bildungseinrichtungen zur Folge. Seit dem Beginn der 1980er Jahre wurden unter dem Stichwort „Dynamisierung" die Begabtenförderung forciert und ein eher problemorientierter Unterricht zugelassen. Bezogen auf die berufliche Bildung wurde die Forderung nach einem „Bildungsvorlauf' aufgegriffen, um die Zukunftsorientierung der neuen Aufgaben zu unterstreichen 15 . Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die mit der „wissenschaftlich-technischen Revolution" einhergehenden Regelungen zur Weiterentwicklung der Facharbeiterausbildung. Die Facharbeiterqualifikation wurde als Basisqualifikation definiert und damit ein Verschwinden der Gruppe der Un- und Angelernten prognostiziert. Die traditionellen Spezialisierungen der Facharbeiterberufe wurden im Verlauf der 1970er Jahre aufgehoben. Sie wurden „in breit an-
12 Das Anlernverfahren blieb in den 1950er Jahren insbesondere für Frauen die dominierende betriebliche Einsatzstrategie (vgl. den Beitrag von S0rensen und Trappe in diesem Band). Im Kontext der Etablierung des Anlernsystems wurden mehr als 100 un- bzw. angelernte Tätigkeiten in Facharbeiterqualifikationen ,umbenannt' (1957). Damit war keine Veränderung der Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben verbunden, aber von nun an war formal eine Ausbildung zur Ausübung dieser Tätigkeiten erforderlich (Kuhnert, 1983). 13 D e m 1963 eingeführten Frauensonderstudium kam in diesem Kontext ein besonderes Gewicht zu (vgl. den Beitrag von Sörensen und Trappe in diesem Band). 14 Seit 1963 wurden Spezialschulen und -klassen eingerichtet, deren Absolventen ein besonderes Abitur erhielten und Vorteile bei der Zulassung zum Studium gewannen. „Die Einrichtung der Spezialschulen/-klassen stellte ein Zugeständnis an eine Eliteförderung dar, die mit den ideologischen Grundpositionen der Volksbildung nicht ohne weiteres zu vereinbaren war. Ende der 1960er Jahre wurde das Platzangebot in den Spezialeinrichtungen - trotz großer Nachfrage - vom Ministerium für Volksbildung aus Sorge um die Einheitlichkeit des Systems streng begrenzt" (Baumert, 1994, S. 14). 15 1983 wurde beispielsweise eine neue Ausbildungskonzeption für Ingenieure und Ökonomen beschlossen, die den künftigen Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung besser entsprechen sollte (Anweiler, 1990). Bereits Mitte der 1970er Jahre waren bestimmte medizinische und pädagogische Ausbildungsgänge (z.B. Krankenschwester, Kindergärtnerin) zu Fachschulausbildungen aufgewertet und damit verwissenschaftlicht worden (Schäfer, 1990).
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Bildungs- und Berufsverläufe
gelegte .Grundberufe' umgewandelt, um so die notwendige Flexibilisierung der Arbeitskräfte zu erreichen. Auf der Basis einer umfassenden beruflichen Grundlagenausbildung sollte dem Facharbeiter die Möglichkeit gegeben werden, entsprechend den ökonomischen Erfordernissen nacheinander weitere Spezialisierungen zu erlernen, um dadurch die mit dem .wissenschaftlich-technischen Fortschritt' antizipierten Anpassungsleistungen und Tätigkeitswechsel erbringen zu können." (Solga, 1994a, S. 130)16 Die den Angehörigen der jüngeren Generationen gewährleistete Berufsausbildung implizierte ein hohes Maß an sozialer Sicherheit. In der DDR galt die Regel: „garantierte Ausbildung und Beschäftigung, aber keine freie Wahl des Fachs bzw. Berufs" (Lötsch, 1990b, S. 100). Insofern kam der Berufsberatung und -lenkung im Prozeß der beruflichen Entscheidungsfindung eine besondere Bedeutung zu. Die in den 1970er Jahren eingerichteten Berufsberatungszentren (BBZ) und die Berufsberatungskabinette in den Betrieben koordinierten den Übergang von der Schule in die Ausbildung 17 . Nachdem die Studentenzahlen in den 1960er Jahren deutlich gestiegen waren, wurde in dem Bemühen, die Struktur der Qualifikationsabschlüsse der voraussichtlichen Berufsstruktur bedarfs- und nicht Nachfrageorientiert anzupassen (Solga, 1994a), auf dem VIII. Parteitag der SED (1971) beschlossen, den Zugang zur Abiturstufe und zum Studium an die Planung des gesellschaftlichen Bedarfs an Hochschulabsolventen zu koppeln. „Dies hatte die restriktive Bewirtschaftung des Übergangs in zum Abitur führende Bildungsgänge zur Folge. Bis 1971 stiegen die Abiturientenzahlen absolut und gemessen am Jahrgang kontinuierlich an. Danach wurde die Abiturientenquote bei etwa 12 Prozent eingefroren." (Baumert, 1994, S. 31) Die Kriterien, die beim Übergang in höhere Bildungsstufen an die Individuen angelegt wurden, waren neben der Leistung die politisch-ideologische Haltung bzw. das gesellschaftliche Engagement sowie die soziale Herkunft und die Geschlechtszugehörigkeit. Dabei wurde staatlicherseits dem Leistungsprinzip in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Engagement gegenüber dem Herkunfts-
16 Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen erfuhr auch die Erwachsenenqualifizierung einen deutlichen Bedeutungswandel. Während sie in den 1950er und 1960er Jahren vor allem kompensatorische Aufgaben zu erfüllen hatte, verlagerte sich ihr Hauptgewicht in den 1970er Jahren auf eine kontinuierliche berufsbegleitende Weiterbildung. Letztere wurde in den 1980er Jahren um die Funktion der Anpassungsqualifizierung ergänzt. 17 D i e Betriebe hatten nicht nur bei der Berufsberatung, sondern auch darüber hinaus vielfältige pädagogische Aufgaben zu erfüllen. Generell waren die Betriebe und die berufliche Ausbildung außerordentlich eng miteinander verflochten (Biermann, 1990). A b der 6. Klasse wurden vor allem die Eltern über Ausbildungsmöglichkeiten und Anforderungen in verschiedenen Berufen informiert. A b Klasse 7 wurden dann erstmalig und sich jährlich wiederholend die Berufswünsche der Schüler karteimäßig erfaßt und im B B Z ausgewertet. A b Klasse 9 erfolgte eine Berufsfindung und -entscheidung im engeren Sinne. Als Ergebnis dieses langjährigen .Berufswahlprozesses' wurde ein Ausgleich zwischen individuellen Wünschen und volkswirtschaftlichen Erfordernissen erwartet (Biermann, 1990).
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prinzip (Privilegierung von Arbeiter- und Bauernkindern) eine zunehmend größere Bedeutung eingeräumt (Solga, 1994a). Bei der Zulassung zur Berufsausbildung mit Abitur (BmA) waren die Auslesekriterien weitgehend identisch. Wegen der geringen Aufnahmequote konnten in der Regel nur zwei Schüler einer Klasse den Übergang in die EOS und ein Schüler den in die BmA erreichen. Dies löste unter den Schülern mitunter starken Konkurrenzkampf aus (Baske, 1990). Als Mechanismen zur Durchsetzung der Bildungsplanung fungierten Stellenpläne, Planstellenkataloge und sogenannte Kader- und Entwicklungspläne sowie darauf basierende zentral geplante Zulassungskontingente. Die grundlegende Problematik der bedarfszentrierten Bildungsplanung bestand in ihren starren und deterministischen Grundlagen. Das Bildungs- wie das Beschäftigungssystem verfügten jeweils nur über ein geringes Maß an Eigenbewegung. Das Planungssystem und die zentralistischen Strukturen programmierten die Tendenz zur Festschreibung zentraler Planentscheidungen, die nur innerhalb längerer Zeiträume korrigiert werden konnten (Klinger, 1990). Das
Beschäftigungssystem
Wesentliche Charakteristika des Beschäftigungssystems in der DDR waren die „faktisch uneingeschränkte Beschäftigungsgarantie" (Grünert und Lutz, 1994, S. 15) und die weitreichenden Lenkungsbefugnisse der ökonomischen Planung. Unter den Bedingungen der wirtschaftlichen Steuerung durch eine zentrale Wirtschaftsplanung wurde auch das Beschäftigungssystem zu einem staatlich kontrollierten Bereich. In allen Teilen des Berufssystems wurde im Verlauf der 1950er Jahre eine umfassende Arbeitskräftelenkung eingeführt. Mit entsprechenden Maßnahmen sollten die außerordentlich umfangreichen Umstrukturierungsprozesse im Beschäftigungssystem der 1950er Jahre bewältigt werden. Sie waren aus mehreren Gründen notwendig geworden. Im Rahmen der ersten Fünfjahrpläne (1951-1955 und 1956-1960) wurde ein umfangreiches Reindustrialisierungsprogramm mit der Festlegung wirtschaftlicher Schwerpunktbereiche verabschiedet 18 . In den Schwerpunktbereichen entstand ein erheblicher Bedarf an Arbeitskräften. Mit der weitreichenden Verstaatlichung von Industrie und Landwirtschaft verstärkten sich daher die zentralen Anstrengungen zur Steuerung der Arbeitskräfte in diese Wirtschaftsbereiche. Begleitet wurden diese Anstrengungen des Wiederaufbaus der ostdeutschen Wirtschaft von den Prozessen der Enteignung und Entnazifizierung. Es wurde ein Austausch der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Elite angestrebt, mit dem eine neue sozialistische Führungsschicht geschaffen werden sollte. Au-
18 Im ersten Fünfjahrplan wurden die Metallurgie, der Maschinenbau, die Chemie und die Energiewirtschaft zu wirtschaftlichen Schwerpunktgebieten erklärt. In der zweiten Planperiode wurden neben der Schwer- und Rohstoffindustrie die Elektrotechnik, der wissenschaftliche Gerätebau und der Maschinenbau ausgewählt.
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Bildungs- und Berufsverläufe
ßerdem war die DDR in den 1950er Jahren von der Abwanderung einer großen Zahl von Menschen betroffen. Sie verlor dabei bis 1961 nicht nur den überwiegenden Teil der alten bürgerlichen Elite, sondern vor allem auch relativ junge und überdurchschnittlich qualifizierte Arbeitskräfte (vgl. Köhler, 1994). Diese Entwicklungen machten umfangreiche Umschichtungen in der Beschäftigungsstruktur und die Aktivierung aller Beschäftigungsreserven notwendig, die im Rahmen einer umfassenden Arbeitskräfteplanung mit der dazugehörigen Qualifizierungsoffensive bewältigt werden sollten. Die gesetzliche Pflicht zur Arbeit, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch gegolten hatte, war zu einem moralisch verbindlichen Verfassungsgrundsatz geworden. Durch gezielte positive Anreize, wie Wohnungsangebote und Einkommensanreize, wurde versucht, Arbeitskräfte in die erklärten Schwerpunktbereiche der Wirtschaft zu lenken (Solga, 1994a, S. 114). Auf der anderen Seite wurde durch eine „negative" Einkommenspolitik ein erheblicher ökonomischer Druck auf die Haushalte und Familien ausgeübt, die vor allem darauf abzielte, Frauen in eine Erwerbstätigkeit zu drängen. Durch eine Reihe von Maßnahmen, wie die Abschaffung der Lebensmittelkarten und sozialversicherungsrechtliche Änderungen, wurden viele Frauen dazu gezwungen, eine kontinuierliche Erwerbsarbeit aufzunehmen, um ein hinreichendes Einkommen für den Familienhaushalt und eine ökonomische Absicherung für sich selbst zu garantieren (Trappe, 1994). Soweit nicht strukturell erforderlich, wurden Arbeitsplatzwechsel erschwert, ja anfänglich sogar verboten (Deppe und Hoß, 1989, S. 21). In den 1960er Jahren wirkte sich die vorübergehende wirtschaftspolitische Umorientierung auch auf die Strategien der Arbeitskräfteplanung aus. Der dahinter stehende Reformversuch mit dem auf dem VI. Parteitag (1963) beschlossenen ,Neuen Ökonomischen System' (NÖS) zielte auf die Entwicklung eines leistungs- und innovationsfähigen Wirtschaftssystems, in dem die relative Unabhängigkeit und die Handlungsspielräume der Wirtschaftseinheiten vergrößert werden sollten. Die wirtschaftlichen Schwerpunktbereiche blieben davon zunächst im wesentlichen unberührt. Genauso blieb die weitgehende staatliche Kontrolle der ökonomischen Rahmenbedingungen erhalten. Doch wurde eine relative Lockerung der Arbeitskräftelenkung eingeführt. Zur Bewältigung der Erfordernisse des starken Strukturwandels unter den Bedingungen knapper Arbeitskräfte setzte man nun stärker auf marktmäßige Allokationsprozesse von Erwerbstätigen (Deppe und Hoß, 1989, S. 21; Braunreuther, 1966). Es gab eine kontrollierte Öffnung für Strategien und Aktivitäten, die für einen freien Arbeitsmarkt charakteristisch sind. Deppe und Hoß diagnostizieren, daß sich in dieser Zeit ein Wandel des „Arbeitsmarktes" in der DDR von einem „Käufer-" zu einem „Verkäufermarkt" und eine Vergrößerung einer durch individuelle Interessen und Initiativen begründeten Fluktuation vollzogen habe (Deppe und Hoß, 1989, S. 63) 19 .
19 Zu Untersuchungen zum Ausmaß der Fluktuation der Arbeitskräfte in der D D R siehe Deppe und Hoß (1989, S. 68 f.). Es gibt eine hohe Fluktuation in der Bauindustrie, bei den Frauen,
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Um die Gefahr einer zu großen individuell initiierten und durch die Konkurrenz der Unternehmen bedingten Arbeitskräftefluktuation zu verringern, reagierte die staatliche Planung aber wieder mit rigideren administrativen Maßnahmen. Das geschah seit 1971 im Rahmen der grundsätzlichen Wende der Wirtschaftspolitik zu einer verstärkten Rezentralisierung der Entscheidungsstrukturen und zum Aufbau der Kombinate. Im Verlauf der 1970er Jahre wurde auch unter der Losung des „wissenschaftlich-technischen Fortschritts" die Mikroelektronik als Schwerpunktindustrie besonders gefördert. Seit Ende der 1970er Jahre wurden den Ämtern für Arbeit wieder stärkere Lenkungs- und Kontrollfunktionen gegeben. Die Anwerbung von Arbeitskräften an diesen Ämtern vorbei war kaum mehr möglich (Solga, 1994a, S. 134). Es gab auf der anderen Seite den Versuch der Kontrolle zwischenbetrieblicher Arbeitsplatzwechsel „dadurch, daß jede Kündigung durch den Arbeitnehmer schriftlich zu begründen [war] und in der Regel erst nach Diskussionen beziehungsweise Umstimmungsversuchen von Seiten der Betriebsleitung angenommen [wurde]" (Deppe und Hoß, 1989, S. 64). Deppe und Hoß nennen weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Arbeitskräftefluktuation: Den Kombinaten und Betrieben wurden höchstzulässige Beschäftigungszahlen vorgeschrieben, um die Arbeitskräftehortung zu vermeiden. Arbeitskräftewerbung wurde wieder prinzipiell untersagt. Es wurden für die Betriebe mit der Einführung der Lohnsummensteuer finanzielle Anreize für die Sparsamkeit mit Arbeitskräften geschaffen (vgl. Belwe, 1984). Doch lassen sich Entwicklungen nachweisen, die durchaus Möglichkeiten von Arbeitsplatzwechseln förderten - im Interesse der Betriebe und der Individuen. Dazu gehörte das verstärkte Bemühen des Staates, über Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion eine ständige Freisetzung von Arbeitskräften zu ermöglichen, um so dem Arbeitskräftemangel zu begegnen (Belwe, 1984; Solga, 1994, S. 138 f.; Unger, 1982). Individuell motivierte Stellen- und Betriebswechsel, die staatlicherseits als ineffizient und wenig wünschenswert eingeschätzt wurden, könnten sowohl bei Facharbeitern als auch bei Fach- und Hochschulabsolventen darauf verweisen, daß ein Ungleichgewicht zwischen individuellen Berufsinteressen und Realisierungsmöglichkeiten bestand. Frauen und Männern, die eine Fach- oder Hochschulausbildung abgeschlossen hatten, wurde diese Strategie erschwert, da sich hier die besonders hohen Bildungsinvestitionen rentieren sollten und Fluktuationen bzw. ein Arbeitskräftemangel verhindert werden sollte. So mußten die künftigen Studenten bereits bei der Bewerbung um einen Studienplatz eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, in der sie zusagten, nach Abschluß ihres Studiums für drei Jahre dort zu arbeiten, wo sie gebraucht wurden. In bestimmten Be-
eher in Industriegebieten, bei jüngeren Arbeitskräften und bei Arbeitskräften mit geringerer Qualifikation.
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Bildungs- und Berufsverläufe
reichen, beispielsweise in der Volksbildung, wurden Stellen- und Tätigkeitswechsel zusätzlich erschwert 20 . Neuere Untersuchungen belegen jedoch, daß Akademiker durchaus die Möglichkeit hatten, eigene Vorstellungen zur beruflichen Zukunft zur Geltung zu bringen (Sackmann und Wingens, 1994). Diese Betrachtungen werfen ein anderes Licht auf das Verhältnis der Individuen zum „Arbeitsmarkt". Deppe und Hoß diskutieren die Relevanz der „zweiten Wirtschaft" für dieses Verhältnis. „Daß im Verlauf der Zeit für einen beträchtlichen Teil der Erwerbstätigen - inklusive der Industriearbeiter/innen - die Reproduktion ihrer Arbeitskraft nicht mehr allein von der Beschäftigung im Staatssektor abhängt, sondern sie die dort erzielten Grundeinkommen durch nennenswerte Nebenverdienste in der ,zweiten Wirtschaft' aufzubessern vermögen, verringert ihre leistungspolitische Abhängigkeit" (Deppe und Hoß, 1989, S. 21). Die „zweite Wirtschaft" beeinflußt im Prinzip „die leistungspolitischen Verhältnisse und Verhandlungsmechanismen in den Staatsbetrieben; sie erlaubt es Teilen der Beschäftigten entweder eine ökonomisch unabhängige Existenz aufzubauen oder das im Staatssektor erzielte Einkommen durch nebenberufliche Nebenverdienste aufzubessern" (Deppe und Hoß, 1989, S. 71). Für die DDR sehen die Autoren allerdings eher schwache Auswirkungen der Aktivitäten in der „zweiten Wirtschaft" auf die Verhandlungspositionen der Arbeitskräfte und die Leistungsmotivation. Die „zweite Wirtschaft" mußte hier nicht das Existenzminimum der Arbeitskräfte sichern helfen. Mindesteinkommen und Mindestversorgung waren garantiert. Die Aktivitäten in der zweiten Wirtschaft dienten eher der privat organisierten Verbesserung der Güter- und Dienstleistungsversorgung (Deppe und Hoß, 1989, S. 82). Dieser Überblick über charakteristische Strukturen des Ausbildungs- und Erwerbssystems in der DDR zeigt, daß neben allen dirigistischen Maßnahmen Freiräume für Mobilität bis zuletzt geblieben und neu entstanden sind. Im folgenden wollen wir anhand der uns vorliegenden Daten betrachten, wie sich diese widersprüchlichen Entwicklungen in den Ausbildungs- und Erwerbsverläufen der Bürger widerspiegeln.
4. Bildungs- und Berufsverläufe im Kohortenvergleich Wir untersuchen die Bildungs- und Berufsverläufe unserer Befragten der Kohorten 1929-31, 1939^11, 1951-53 und 1959-61 und richten unser besonderes Augenmerk auf die Verteilung der Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse über die Zeit. Dann analysieren wir das Ausmaß der Mobilität in den Ausbildungs- und Berufsverläufen sowie den Grad der Passung zwischen Ausbildungsberuf und ausge-
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„Die Einstellung von ausgebildeten Lehrkräften, Erziehern und Leitern ( . . . ) ist nur mit Zustimmung des Rates des Bezirkes, in dessen Bereich der Betreffende zuletzt als Lehrkraft oder Erzieher tätig war, zulässig." (Ministerium für Volksbildung, 1973, S. 176)
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übter beruflicher Tätigkeit. Schließlich berichten wir in diesem Abschnitt Ergebnisse zu den individuellen Motivationslagen im Zusammenhang mit dem Ausbildungsverlauf. Die folgenden Analysen basieren auf zwei Klassifikationenzu Berufen und Ausbildungen. Zum einen benutzen wir eine Systematik der Berufe in der DDR. Sie ist mehrdimensional angelegt und geht auf eine Berufsklassifikation zurück, die bei der Volkszählung des Jahres 1981 verwandt wurde (Solga, 1993). Die ersten beiden Ziffern des vierstelligen Codes bestimmen die Berufsfelder der Berufsstruktur, von „Automatisierungstechnik" über „Metallurgie/Werkstoffwesen" bis zu „Zellstoff/Papier" 21 . Die dritte Ziffer steht für das Qualifikationsniveau der ausgeübten Berufstätigkeit bzw. des Ausbildungsberufes. Es werden dabei sechs Kategorien unterschieden: Un- und Angelernte, Facharbeiter, Meister, Fachschulabschluß, Hochschulabschluß und ohne speziellen Abschluß. Gemessen für das Ausbildungs- und das Qualifikationsniveau der ausgeübten Tätigkeiten, werden wir mit diesem Indikator die Frage nach der Über- oder Unterqualifikation in der Berufstätigkeit beantworten können. Die vierte Stelle des Berufscodes erlaubt eine weitere Spezifizierung der genauen Berufsbezeichnung für das jeweilige Qualifikationsniveau innerhalb des jeweiligen Berufsfeldes. Da wir uns auf eine Unterscheidung nach Berufsfeldern beschränken werden, betrachten wir nur die ersten beiden Stellen des Codes. Zum zweiten verwenden wir eine Klassifikation für den beruflichen Status, die auf einer Gliederung beruflicher Tätigkeiten nach der beruflichen Stellung beruht 22 . Es handelt sich hierbei um eine ebenfalls in unserem Forschungsprojekt entwickelte Klassifikation mit 20 Kategorien, die auf die DDR-Erwerbsstruktur zugeschnitten ist (Mayer und Solga, 1993). Die Differenzierung erfolgte anhand unterschiedlicher Qualifikationsniveaus, Arbeitsinhalte (manuell vs. nichtmanuelle) und Kontrollbefugnisse in der Ausübung ihrer Tätigkeit. Wir können mit dieser ausführlichen Version der beruflichen Stellung differenzierter vertikale berufliche Mobilität in einzelnen Berufsfeldern über kleine, mittlere und große Distanzen verfolgen, wobei nicht alle Wechsel von einer Berufsstatuskategorie zu einer anderen als Auf- oder Abstieg zu werten sind. Die Kategorien der Statusklassifikation lassen sich in sieben Gruppen ordnen, zwischen denen Wechsel als Aufoder Abstiege verstanden werden können. Die Gruppen sind (1) die oberen Leitungspositionen, (2) die mittleren Leitungspositionen und Selbständigen mit größeren Betrieben, (3) die Professionen, (4) die unteren Leitungspositionen, Meister und kleine Selbständige, (5) die Semiprofessionen, (6) die Facharbeiter, fachlich qualifizierten Angestellten und Bauern und (7) die Un- und Angelernten. Wenn
21 Die einzelnen Berufsfelder sind im Anhang 3.3.1 dokumentiert. 22 D i e s e Klassifikation ist nur bedingt vergleichbar mit der entsprechenden Klassifikation der beruflichen Stellung, wie sie in Westdeutschland entwickelt wurde (Mayer, 1979). Eine Übersicht über die einzelnen Positionen ist im Anhang 3.2 angegeben.
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Bildungs- und Berufsverläufe
wir im folgenden Auf- und Abstiege behandeln, dann beziehen wir uns immer auf diese Klassifikation, falls nicht ausdrücklich etwas anderes genannt wird 23 . Mit den Indikatoren für die Berufsfelder, das Qualifikationsniveau und die berufliche Stellung können wir genau nachzeichnen, wie häufig inner- und zwischenberufliche Mobilität in den einzelnen Geburtsjahrgängen aufgetreten ist und wie häufig damit Auf- und Abstiege im Sinne des beruflichen Status verbunden waren. Wir können ferner bestimmen, wie gut die Passung von Ausbildungsberuf und beruflicher Tätigkeit hinsichtlich der Berufsfelder bzw. des Qualifikationsniveaus war.
4.1 Bildungsverteilungen und Berufsstrukturen Wie haben sich im Kohorten- und Karrierevergleich die Qualifikations- und Berufsstrukturen sowie die Mobilitätsmuster unter den Befragten der vier Geburtsjahrgänge unserer Untersuchung entwickelt? Wir betrachten zunächst das Ausmaß der Ausbildungs- und Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen in der DDR auf der Grundlage unserer eigenen Erhebung. Die Tabellen 1 und 2 zeigen die geschlechts- und kohortenspezifischen Verteilungen des höchsten Schulabschlusses sowie der ersten und höchsten beruflichen Ausbildungsabschlüsse, die unsere Befragten bis zum Ende des Jahres 1989 erreicht hatten 24 . Einige Befunde sind bemerkenswert und bestätigen unsere historischen Beobachtungen zur Entwicklung der Bildungsplanung. Zum einen spiegelt die Tabelle 1 die Veränderung des Bildungssystems in der DDR wider: Die beiden jüngeren Kohorten sind beim Abschluß ihrer Schullaufbahn vollständig in das System der Polytechnischen und Erweiterten Oberschule eingegliedert, während in den beiden älteren Kohorten die traditionellen Schulabschlüsse vorherrschen. Zum zweiten ist das allgemeine Schulbildungsniveau unter den Befragten der jüngeren Kohorten im Mittel deutlich höher als bei den älteren Befragten; die Frauen haben dabei mit den Männern gleichgezogen. Zum dritten wird auch der Rückgang der Abiturabsolventen in der jüngsten Kohorte erkennbar, der durch die schon erwähnten Einschränkungen des Zugangs zu höheren Bildungsabschlüssen bedingt war. Der Anteil der Frauen und Männer, die einen Schulabschluß nachgeholt haben, ist in der Kohorte 1939^41 besonders hoch und sinkt in der jüngsten Kohorte wieder stark ab.
23 Vgl. hierzu den Anhang 3.3.1. 2 4 Wir haben einen Vergleich unserer Daten mit den Ergebnissen der DDR-Volkszählung 1981 durchgeführt. Die entsprechenden Verteilungen aus der Volkszählung sind von Köhler (1995) vorgelegt worden. Bezüglich des Schulabschlusses liegen unsere Anteile der Abiturientenzahlen leicht über denen der Volkszählung 1981 in der DDR.
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe
107
Tabelle 1: Höchstes Schulbildungsniveau nach Geschlecht und Kohorte (in v.H.)
Kein Abschluß Sonderschule Hauptschule mit 8. Klasse Mittlere Reife POS mit 8. Klasse POS mit 10. Klasse EOS, Gymnasium ohne Abitur EOS, Gymnasium mit Abitur Schulabschluß nachgeholt Anzahl
Kohorte
Kohorte
Kohorte
Kohorte
1929-31
1939-41
1951-53
1959-61
Frauen Männer
Frauen Männer
Frauen Männer
Frauen Männer
15 2
15 2
-
7 3
-
73 5
59 8
65 13
54 9
-
-
-
4
1 3
0 12
22 59
2
1
2
4
10
8
2
9
6
-
302
290
7
291
1
3 1
1
2
-
-
-
-
-
19 56
8 76
11 70
1
1
0
0
13
17
20
15
17
16
3
6
3
2
290
304
266
295
285
Tabelle 2: Erster und höchster Ausbildungsabschluß sowie die durchschnittliche Anzahl von Ausbildungen nach Geschlecht und Kohorte (in v.H.) Kohorte 1929-31
Kohorte 1939^11
Kohorte 1951-53
Kohorte 1959-61
Frauen Männer
Frauen Männer
Frauen Männer
Frauen Männer
1. Abschluß Kein Abschluß Teilfacharbeiter Facharbeiter Meister Fachschulabschluß Hochschulabschluß
46 5 41 0 6 2
30 3 60 1 3 2
16 1 69 0 9 6
10 1 81 0 3 4
7 1 69 0 16 7
6 1 83 1 1 8
7 3 65 0 19 7
3 4 84 1 0 8
Höchster Abschluß bis Ende 1989 Kein Abschluß Teilfacharbeiter Facharbeiter Meister Fachschulabschluß Hochschulabschluß
34 2 47 2 11 4
8 1 41 11 20 18
8 0 56 2 25 8
3 0 49 13 19 16
2 1 51 0 33 13
3 0 57 9 13 17
2 2 53 1 28 13
2 3 68 7 7 12
Anzahl der Ausbildungen
1,4
2,3
1,6
2,0
1,6
1,6
1,4
1,4
108
Bildungs- und Berufsverläufe
Eine deutliche Verbesserung des Ausbildungsniveaus der Bevölkerung der DDR im Laufe der 1950er und 1960er Jahre belegen die Zahlen in der Tabelle 2 25 . Mehr als 80 Prozent der Befragten erlangten in denjüngeren Kohorten mit der ersten Ausbildung einen Facharbeiter- oder Fachschulabschluß. Einen größeren Unterschied zwischen Männern und Frauen gab es in diesen Kohorten nicht mehr. Einen guten Eindruck des Ausmaßes an Ausbildungsmobilität vermittelt der Vergleich der Verteilungen zum ersten und dem bis 1989 höchsten Ausbildungsabschluß sowie die durchschnittliche Anzahl der absolvierten Ausbildungen. Vor allem in den drei älteren Kohorten konnten viele Frauen und Männer ihr Ausbildungsniveau deutlich verbessern. Dazu gehört, daß der Meisterabschluß, eine Domäne der Männer, jetzt erst zur Geltung kommt. Aber auch der Anteil von Frauen und Männern mit einem Fachschul- und Hochschulabschluß hat sich beträchtlich vergrößert. Die durchschnittliche Zahl der Ausbildungen ist dabei nicht unerheblich, geht aber über die Kohorten hin deutlich zurück. Die Männer aller Geburtsjahrgänge waren nach dem Abschluß ihrer Ausbildung fast ohne Ausnahme berufstätig. Schon in der ältesten Kohorte war auch von den Frauen durchweg ein sehr hoher Anteil erwerbstätig. Die Erwerbsquoten lagen kaum unter 60 Prozent. Viele Frauen unterbrachen zwar die Berufstätigkeit etwa ab dem Alter 20, überwiegend im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes und dessen Betreuung. Nach einiger Zeit ging aber ein sehr großer Teil von ihnen wieder ins Erwerbsleben zurück. Die Quoten für Frauen der ältesten Kohorte steigen, wie in Abbildung 1 ersichtlich, ab dem Alter 27 wieder auf bis zu 80 Prozent an. In den jüngeren Kohorten waren die Frauen fast durchgängig zu einem sehr hohen Anteil im Erwerbsprozeß. Die geburtenbedingten Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit über den Wochenurlaub hinaus wurden immer kürzer (Trappe, 1994). Im Kohortenvergleich werden die Auswirkungen der durchschnittlich längeren Ausbildungszeiten bei Frauen und Männern deutlich: Die Erwerbsquoten in den jüngeren Altersstufen sanken von Kohorte zu Kohorte. Bei den Männern der jüngeren Kohorten sind anhand der Einbrüche der Erwerbsquoten auch deutlich die
25 Auch hier seien ein paar vergleichende Angaben zu anderen Datenquellen gemacht. Bei den Männern aller Kohorten sind die Anteile der Fachschul- und Hochschulabschlüsse im Vergleich zur DDR-Volkszählung 1981 größer. Die Abweichungen schwanken zwischen 0 und 5 Prozent. Dementsprechend sind die Facharbeiteranteile kleiner. Bei den Männern der Kohorte 1929-31 weicht der Anteil der Fachschul- und Hochschulabschlüsse auf Kosten des Facharbeiteranteils um insgesamt etwa 10 Prozent ab. Die Ergebnisse der Lebensverlaufsstudie stimmen bezogen auf diese Kohorten aber mit Schätzungen überein, die auf der Basis der ersten Welle des Sozio-ökonomischen Panels in Ostdeutschland durchgeführt wurden. Bei den Frauen treten die stärksten Abweichungen von den Angaben aus der Volkszählung bei den Fachschulabsolventinnen der jüngeren Kohorten auf. Auch hier ist die Differenz zu Ergebnissen des Sozio-ökonomischen Panels eher gering.
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe
109
Abbildung 1: Erwerbsquoten für Frauen und Männer nach Kohorte und Alter Männer (N = 290)
100 80
N
8 cu
-
40 -
,,
Frauen (N = 302)
Kohorte 1929-31
20
0 — 15
—
r~•
20
"H
I
— 35
25 30 Alter in Jahren
—
1
40
Alter in Jahren
^
ot0.
^
Männer (N = 290)
Frauen (N = 285)
Kohorte 1951-53
"1
1
1
1
25
30 Alter in Jahren
35
40
Alter in Jahren
110
Bildungs- und Berufsverläufe
Auswirkungen des Armeedienstes zu erkennen. Unsere Befunde zeigen den auch aus anderen Veröffentlichungen bekannten Sachverhalt, daß ein Ziel in der DDR klar erfüllt wurde: die nahezu vollständige Ausschöpfung des männlichen und weiblichen Erwerbspersonenpotentials. Wir schließen den ersten Überblick mit einem Vergleich der Verteilungen unserer Befragten nach ihren Statuspositionen im ersten Beruf und zu verschiedenen Alterszeitpunkten ab. Wir verwenden dazu die in sieben Berufsgruppen zusammengefaßte, hierarchische Klassifikation der beruflichen Stellung. Wir unterscheiden das Alter 28 (alle Kohorten), das Alter 36 (nur die Kohorten 1929-31, 1939—41 und 1951-53) und das Alter 44 (nur die Kohorten 1929-31, 1939^41). In der Abbildung 2 sind diese Verteilungen dargestellt. Es gibt erhebliche Unterschiede in den Verteilungen des beruflichen Status und dem Ausmaß der altersbezogenen Veränderungen im beruflichen Status von Männern und Frauen zwischen den verschiedenen Kohorten. Männer der Geburtsjahrgänge 1929-31 starten zu fast einem Drittel und Frauen zu zwei Dritteln ihre berufliche Laufbahn in einer un- und angelernten Tätigkeit. Dieser Anteil geht über die Geburtsjahrgänge hin drastisch zurück, verbleibt aber auf einem Niveau von mehr als 10 Prozent. Auf der anderen Seite sind nur wenige Männer oder Frauen in der ältesten Kohorte schon im ersten Beruf in oberen und mittleren Leitungspositionen sowie den Professionen zu finden. Ihr Anteil steigt bis zur Kohorte 1951-53, ist in den jüngsten Geburtsjahrgängen jedoch wieder etwas geringer. Im Alter 28 sind fast alle Befragten im Erwerbsprozeß. Die Verteilungen haben sich verändert und zwar in den verschiedenen Kohorten in unterschiedlicherweise. Während der Anteil der Frauen und Männer in un- und angelernten Tätigkeiten in der ältesten Kohorte im Vergleich zum Erstberuf zurückgegangen ist, hat er in der jüngsten Kohorte dagegen zugenommen. Er bleibt bei den Frauen der ältesten Kohorte aber sehr hoch. Der Anteil derjenigen, die in oberen und mittleren Leitungspositionen bzw. den Professionen beschäftigt sind, ist vor allem bei den Männern in den älteren Kohorten deutlich größer geworden. In den oberen Statuspositionen sind in den drei älteren Kohorten trotz des zum Teil erheblich schlechteren Starts schon mehr Männer zu finden als in der jüngsten Kohorte. Der Anteil der Semiprofessionen nimmt vor allem bei den Frauen beträchtlich zu, mit Ausnahme der Frauen der Kohorte 1959-61. Bis zum Alter 28 hat sich demnach eine deutliche Verbesserung des durchschnittlichen Statusniveaus im Vergleich zum Erstberuf vollzogen. Das gilt für beide Geschlechter in allen Kohorten. Besonders stark ausgeprägt ist diese Entwicklung bei den Männern der beiden älteren Kohorten. In jüngeren Kohorten ist dagegen das Einstiegsniveau im Mittel höher. Beim Alter 36 können wir die Kohorte 1959-61 nicht mehr berücksichtigen, da ihre Mitglieder zum Ende des Jahres 1989 größtenteils das Alter 30 noch nicht erreicht haben. Alle schon zuvor genannten Trends, die bezogen auf die hier noch gezeigten Kohorten gefunden wurden, setzen sich offensichtlich in den anderen Kohorten mit dem Alter fort. Insbesondere die Verbesserung des durchschnitt-
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe
111
Abbildung 2: Beruflicher Status von Frauen und Männern nach Kohorte und Alter Frauen 1939-41
1929-31
100 —1
•
1929-31
Noch nicht erwerbstätig
BS Un-/Angelernte
Semiprofessionen
1959-61
1959-61
0
Untere Leitungsebene
Q
Professionen
|
Obere Leitungsebene
Mittlere Leitungsebene
Facharbeiter H
1951-53
112
Bildungs- und Berufsverläufe
liehen beruflichen Status in der ältesten Kohorte ist beeindruckend. Dieser Trend hat sich bis zum Alter 44 noch weiter fortgesetzt. Welche ersten Schlußfolgerungen lassen sich aus diesen Überblicken ziehen? Wir haben vor allem in den älteren Kohorten eine starke Aufwärtsmobilität sowohl im Ausbildungsniveau als auch in der beruflichen Position festgestellt. Die Männer der Geburtsjahrgänge können ihre anfängliche Benachteiligung in der Ausbildung, die den Nachkriegswirren geschuldet sein dürfte (vgl. Abschnitt 3.3), mehr als ausgleichen. Bei den Frauen setzt die Qualifizierungswelle erst später ein. Die Mitglieder der jüngsten Kohorte treten zwar zu einem größeren Anteil auf höheren Statusebenen in den Beruf ein; für Berufsgruppen auf den unteren Statusebenen sind aber bedeutend weniger berufliche Aufstiege festzustellen als in den älteren Kohorten. Mit dem einheitlichen Bildungssystem ist es der DDR in der Tat gelungen, eine beträchtliche Aufwertung des mittleren Qualifikationsniveaus herbeizuführen. Daß das nicht mit einer Angleichung der Bildungschancen in der Bevölkerung einhergegangen ist, ist schon dargestellt worden (vgl. den Beitrag von Solga in diesem Band). Bezogen auf die oben formulierten Thesen können wir folgendes Zwischenergebnis festhalten: - In Übereinstimmung mit der 6. These deuten die Befunde auf eine erhebliche berufliche Mobilität in den älteren Kohorten und auf einen Immobilisierungseffekt in der jüngsten Kohorte hin. Damit ist gleichzeitig eine allgemeine Geltung der 1. These widerlegt. - Die Gruppe der Un- und Angelernten verschwindet keineswegs (2. These). Im Gegenteil, der Anteil der Un- und Angelernten steigt in der jüngsten Kohorte sogar im Verlauf der beruflichen Laufbahn auf über 10 Prozent an. Im Gegensatz zur 3. These scheint daher Abstiegsmobilität nicht zu einem marginalen Phänomen geworden zu sein.
4.2 Mobilität im Erwerbsverlauf Was steckt hinter diesen Ergebnissen der aggregierten Altersquerschnitte? Wie groß war die Berufsmobilität tatsächlich? Im folgenden geben wir einen Einblick in die Häufigkeit von Berufsmobilität von Frauen und Männern bis zum Alter 28, 36 und 44 sowie bis zum Dezember 1989. Berufliche Mobilität nach der Wende wurde nicht berücksichtigt (vgl. dazu den Beitrag von Diewald, Huinink, Solga und S0rensen in diesem Band). Gezählt haben wir zunächst alle sogenannten Erwerbsepisoden nach dem Eintritt in die Berufslaufbahn, die wie folgt definiert worden sind. Ein Erwerbsspell kann mit der Aufnahme der ersten Berufstätigkeit, dem Wechsel in eine neue Stelle oder eine neue Tätigkeit sowie mit der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach einer Unterbrechung beginnen. Er kann mit dem Verlassen einer Stelle oder
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe
113
Tabelle 3: Durchschnittliche Anzahl der Erwerbsepisoden nach Kohorte, Alter und Geschlecht Kohorte 1929-31
Kohorte 1939^11
Kohorte 1951-53
Kohorte 1959-61
28 36 44 1989
2,8 3,7 4,3 4,8
2,6 3,5 4,0 4,2
2,7 3,6
2,8
3,8
3,1
28 36 44 1989
3,2
2,6 3,3 3,8 4,0
2,3 2,8
2,3
4,1 4,6 5,2
3,0
2,4
Frauen Bis Bis Bis Bis
zum Alter zum Alter zum Alter Dezember
Männer Bis Bis Bis Bis
zum Alter zum Alter zum Alter Dezember
dem Wechsel aus einer Tätigkeit sowie mit einer Unterbrechung der Erwerbstätigkeit enden. Von Tätigkeitswechseln sprechen wir, wenn sich eine signifikante Veränderung der Arbeitsinhalte der Tätigkeit und der betrieblichen Arbeitsbedingungen ergeben hat. Sie sind daher nicht immer mit einem Wechsel des Berufs oder des Betriebs verbunden. Die durchschnittliche Anzahl von Erwerbsepisoden im Erwerbsleben von Frauen und Männern war in der DDR erheblich (vgl. Tab. 3). Bei unseren männlichen Befragten ist sie mit 3,2 verschiedenen Erwerbsepisoden bis zum Alter 28 im Durchschnitt in der ältesten Kohorte am höchsten. Bei den jüngeren Kohorten ist sie deutlich kleiner (2,3 Erwerbsepisoden) 26 . Das ist zum Teil durch den Anstieg des durchschnittlichen Alters bei Eintritt in den Beruf bedingt. Umgerechnet auf eine Dauer der Berufstätigkeit von zehn Jahren würden sich in der ältesten Kohorte 3,3 und in der jüngsten der von uns untersuchten Kohorten 2,5 Erwerbsepisoden ergeben. Es bleibt also eine beträchtliche Differenz zwischen den Kohorten bestehen 27 . Die Frauen weisen eine bis zum Alter 28 über die Kohorten hin relativ konstante durchschnittliche Zahl von Erwerbsepisoden auf. Sie schwankt um den Wert von 2,7. Die geringen Unterschiede zwischen den Geburtsjahrgängen sind zweifellos auf Unterbrechungen der Berufstätigkeit bei der Geburt von Kindern
2 6 Huinink und Solga zeigen für die Männer, daß diese Frequenzen für die älteste Kohorte höher als vergleichbare Schätzungen für Westdeutschland sind. In den jüngeren Kohorten sind sie nur wenig geringer als bei westdeutschen Männern (Huinink und Solga, 1994, S. 243). 27 Das wiegt um so mehr, als ein neuer Erwerbsspell bei vielen Mitgliedern der jüngeren Kohorten schon durch die Wehrdienstzeit erzwungen ist, soweit sie nicht direkt nach der Ausbildung eingezogen wurden.
114
Bildungs- und Berufsverläufe
zurückzuführen, die auch in der jüngsten Kohorte bei einer beträchtlichen Zahl von Frauen auftraten (vgl. Trappe, 1994). Die Unterschiede im Ausmaß der beruflichen Mobilität bei Frauen und Männern bleiben auch bis zu den höheren Altersstufen erhalten, in denen aus schon genannten Gründen jeweils nicht mehr alle Kohorten berücksichtigt werden können. Die männlichen Mitglieder der ältesten Kohorte erreichen bis zum Ende des Jahres 1989 im Durchschnitt 5,2 Erwerbsepisoden! Inwieweit gingen die Wechsel von einem Erwerbsepisode zum nächsten (= Anzahl der Erwerbsepisoden - 1) nun auch mit der Veränderung des Berufs, des Qualifikationsniveaus und der beruflichen Statusgruppe einher? Das war eine der entscheidenden Fragen in unserer hypothetischen Einschätzung des Beschäftigungssystems der DDR. Ein großer Anteil der Wechsel zwischen Erwerbsepisoden - wir sprechen im folgenden vereinfachend nur noch von beruflichen Wechseln - war faktisch mit einem Wechsel des Berufs verbunden (vgl. Tab. 4) 28 . Für die älteste Kohorte wird ein Anteil von 70 Prozent bezogen auf die detaillierte Berufsklassifikation ausgewiesen. Er ging unabhängig von der Altersstufe und vom Geschlecht über die Kohorten hin auf etwa 45 Prozent zurück. Wechsel im Qualifikationsniveau waren im Vergleich dazu seltener: Sie machten einen Anteil von 20 bis 30 Prozent aller beruflichen Wechsel aus. Auch ihr Anteil verringerte sich bei den Männern zwischen der ältesten und der jüngsten Kohorte. Dagegen konnten die Frauen in den jüngeren Kohorten häufiger Qualifikationsgewinne verzeichnen. Es gab auch eine beträchtliche Mobilität im beruflichen Status. Etwa 50 Prozent aller Wechsel in der ältesten Kohorte und weniger als 40 Prozent in der jüngsten Kohorte gingen mit einer Veränderung der beruflichen Stellung (20 Kategorien) einher. Statusmobilität zwischen den Berufsgruppen der von uns zusammengefaßten Klassifikation gab es hingegen nur in einem geringeren Ausmaß. Auch hier fällt auf, daß sich ihr Anteil bei den Frauen nicht über die Kohorten hinweg verringerte. Das deutet darauf hin, daß die häufigeren Wechsel der beruflichen Stellung bei den Frauen der Kohorte 1929-31 keine deutlichen Status Veränderungen mit sich brachten. Ein besonderes Augenmerk unserer theoretischen Überlegungen galt der Frage nach der Auf- und Abstiegsmobilität bei inner- und zwischenberuflichen sowie inner- und zwischenbetrieblichen Wechseln. War die innerberufliche Mobilität tatsächlich durch berufliche Aufstiege gekennzeichnet, wie wir erwarten würden (These 3 und 4)1 Wie kann die zwischenberufliche Mobilität charakterisiert werden? Zwischenberuflich heißt hier, daß der Wechsel mit einer Veränderung des Berufsfeldes verbunden ist, ein Berufswechsel im engeren Sinne ist damit nicht erfaßt. Wir haben darüber eher konservative Schätzungen der tatsächlichen zwi-
28 Da diese und die anderen in der Tabelle 4 gezeigten Anteile sich nicht entscheidend mit dem Alter ändern, haben wir hier die Angaben für Ende 1989 verwandt.
Johannes Huinink, Karl Ulrich Mayer und Heike Trappe c i) 60 O N
csK —
"O
C-l
t o J3 O
K W W W W W W W ^ ¿A
3
ca J3 cä 3 CS X OD C
3
2 !5 XI
80 % Männer > 80 % Frauen
Gemischt Kohorte 1939-41
> 80 % Männer > 80 % Frauen
Gemischt Kohorte 1951-53
> 80 % Männer > 80 % Frauen
Gemischt > 80 % Männer
•
Frauen
•
Männer
Kohorte 1959-61
> 80 % Frauen 0
200
400
600
800
1.000
tielle Ursache ist die geschlechtsspezifische Segregation auf der Berufs- bzw. Tätigkeitsebene und eine damit verbundene geringere Bezahlung von Tätigkeiten, die typischerweise von Frauen ausgeübt wurden33. Dies provoziert die Frage, warum typische Frauentätigkeiten geringer entlohnt wurden als jene von Männern. Eine mögliche Begründung besteht in der 1949 erfolgten Übernahme des alten Tarif- und Lohnsystems und in der nur unzureichend erfolgten nachträglichen Anpassung der Lohn- und Gehaltsstufen 34 (Roloff, 1991). Hinzu kommt, daß Tätigkeiten in strukturbestimmenden Bereichen der Volkswirtschaft (vgl. Szydlik, 1992, 1993) besser entlohnt wurden als Tätigkeiten in an-
33 Diese Einflußgröße wird bei einer Kontrolle der Geschlechtstypik des Tätigkeits/e/ifes nicht hinreichend erfaßt, da die Berufs- bzw. Tätigkeitsebene noch stärker differenziert ist. Die Daten der Lebensverlaufsstudie lassen jedoch eine empirische Überprüfung auf diesem Differenzierungsniveau nicht zu. 34 „In der DDR wurden die Arbeitseinkommen zentral für die Zweige und Bereiche mit den Jahresplänen festgelegt. So wurden vor 45 Jahren die gegebenen Einkommen (Löhne und Gehälter) übernommen und in Einklang mit der steigenden Arbeitsproduktivität bis 1989 jährlich erhöht." (Manz, 1992, S. 39)
222
Gleichberechtigung - Gleichstellung - Gleichheit?
deren Wirtschaftsbereichen. Die als volkswirtschaftlich besonders bedeutsam eingestuften Sektoren waren typischerweise Männerarbeitsbereiche, an deren Peripherien auch Frauen arbeiteten. Seitens der politischen Machthaber wurden Einkommensungleichheiten zwischen Frauen und Männern tabuisiert. Dies resultierte aus dem postulierten Grundsatz, daß die Ursachen für basale geschlechtsspezifische Ungleichheiten mit der Etablierung der sozialistischen Gesellschaftsordnung beseitigt worden seien.
4. Geschlecht als Ungleichheitsdimension Die dargestellten Ergebnisse legen nahe, die Geschlechtszugehörigkeit auch in der DDR als eine zentrale Ungleichheitsdimension anzusehen und ihr bei der Beschreibung der Konstruktion dieser Gesellschaft einen systematischen Stellenwert beizumessen. Dafür spricht, daß sich herkömmliche strukturelle Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern wie die Einkommensdisparitäten reproduzierten und insbesondere daß sich auch neue Ungleichheiten herausbildeten. Zu letzteren zählte beispielsweise die sich bei Frauen im Vergleich zu Männern vergrößernde Kluft zwischen erworbener Qualifikation und Tätigkeitsanforderungen. Eine wesentliche Ursache für das Weiterbestehen geschlechtsspezifischer sozialer Ungleichheiten in der DDR lag in ihrer einseitigen Wahrnehmung als ,Frauenproblem'. Sowohl die konzeptionellen Ideen als auch die politischen Strategien zur Gleichstellung von Frauen und Männern waren ausnahmslos auf die Veränderung der Lebenszusammenhänge von Frauen gerichtet. Da Frauen weiterhin der mehrheitliche Anteil an der Haus- und Familienarbeit zugewiesen wurde und seitens der Männer keine substantiellen Veränderungen erfolgten, wurden anstelle einer wechselseitigen Annäherung der Lebensverläufe von Frauen und Männern einseitige Anpassungsleistungen und Mehrfachbelastungen von Frauen unterstützt. Die Doppelzuständigkeit von Frauen trug entscheidend dazu bei, daß ihre hohe Erwerbsbeteiligung und ihre sich den Männern angleichenden qualifikatorischen Voraussetzungen letztlich nicht hinreichend waren, um ihnen gleiche berufliche Entwicklungschancen zu garantieren. Die sozialpolitisch flankierte weitgehende Übernahme des .männlichen Erwerbsmusters' sicherte Frauen jedoch ein hohes Maß an Unabhängigkeit von männlichen Partnern und eine entsprechend eigenständige Lebensplanung. Eine wesentliche Konsequenz der in der DDR realisierten Gleichstellungspolitik bestand somit in der Ermöglichung einer selbständigen Lebensführung von Frauen. Diese war jedoch noch nicht gleichbedeutend mit der umfassenden sozialen Gleichstellung und erst recht nicht mit sozialer Gleichheit von Frauen und Männern. Letzteres war allerdings auch nie ein vorrangiges politisches Anliegen.
Martin Diewald
„Kollektiv", „Vitamin B" oder „Nische"? Persönliche Netzwerke in der DDR
1. „Kollektiv", „Vitamin B" und „Nische": Stereotype persönlicher Netzwerke in der DDR Dieses Kapitel befaßt sich mit der Bedeutung der persönlichen Netzwerke in der DDR. Unter persönlichen Netzwerken versteht man das Geflecht der sozialen Beziehungen, die ein Individuum mit anderen Personen innerhalb und außerhalb des eigenen Haushalts verbinden. Sie umfassen üblicherweise die Beziehungen zu Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn und sonstigen Bekannten. Eine Bemerkung über die herausragende Bedeutung dieser informellen Beziehungen fehlt in kaum einer Publikation zur DDR. Der Verweis auf diese zweite Strukturebene der Gesellschaft, die „ausgeprägte Subkultur in allen sozialen Bereichen", findet sich selbst bei solchen Autoren, die in ihrer Deutung der DDR-Sozialstruktur den hohen Grad der formalen, politisch-gesellschaftlichen Strukturierung der DDR von oben hervorheben (Ettrich, 1991, S. 3 f.; siehe auch Adler, 1991b, S. 163 f.; Pollack, 1993a, S. 81 ff.). Welche Aspekte waren es, die eine solch hohe Bedeutung ausgemacht haben, trotz des weitreichenden Anspruchs von Partei- und Staatsleitung auf die umfassende Steuerung und Kontrolle aller gesellschaftlichen Entwicklungen, und trotz der entsprechenden Durchorganisation aller Lebensbereiche einschließlich umfassender sozialer Sicherheitsgarantien? Eine erste Annäherung soll über drei verbreitete, stereotypisierende Metaphern versucht werden, die das Leben in persönlichen Netzwerken in der DDR aus verschiedenen Blickwinkeln charakterisieren sollen: „Kollektiv", „Vitamin B" und „Nische". Der Begriff des „Kollektivs" steht über seine Konnotationen nicht nur für eine von oben verordnete soziale Kontrolle und Vorgabe der Lebensgestaltung. Auf der anderen Seite transportiert er auch, bezüglich der Ausgestaltung auf der individuellen Ebene, Vorstellungen von Geborgenheit, Wärme, Verständnis, Verläßlichkeit, Solidarität und Mitmenschlichkeit. In dieser Hinsicht kann er als Metapher für die besondere Qualität persönlicher Beziehungen in der DDR und ihre Ambivalenz bezüglich staatlicher und sozialer Kontrolle gelten. Diese Einschätzung
224
Persönliche Netzwerke in der DDR
gilt zumindest für die Perspektive des Rückblicks von der Zeit nach der Wende auf die untergegangene DDR, wenn etwa die „Gemeinschaftlichkeit" des Umgangs miteinander im Unterschied zum „gesellschaftlichen" Aushandeln von partikularen, zum Teil gegensätzlichen Interessen (Berking und Neckel, 1991, S. 157) oder die Nestwärme des Arbeitskollektivs (Lange, 1993) als Besonderheit hervorgehoben werden. Statt eines Gegeneinander habe demnach Kollektivdenken die Beziehungen geprägt, das maßgeblich aus dem Empfinden einer Art Notgemeinschaft gegen das „System" und dem dadurch ausgelösten, gemeinsamen Ohnmachtsgefühl resultierte. Die ständig gegenwärtige und für die meisten ähnliche Auseinandersetzung mit Versorgungsmängeln der sozialistischen Wirtschaft sowie das halblegale bis illegale Umgehen von „oben" kommender Vorgaben haben eine Art Kumpanei gefördert, die ohne ein Mindestmaß an Sich-aufeinanderEinlassen bzw. -Verlassen nicht hätte funktionieren können. Auch wenn solche Defizite und Zwänge dieses Kollektivdenken und -leben tatsächlich mehr oder weniger erzwungen haben sollten, so bleibt die elementare Erfahrung des Aufgehobenseins in Kollektiven als solche bestehen. Sie beinhaltete Angstreduzierung in unsicheren Situationen, Zusammenhalt bei Druck von oben sowie den sogenannten „Buschfunk", also Kommunikation und Informationsaustausch über das, was hinter den offiziellen Verlautbarungen steckte (Haenschke, 1984, S. 45). All das scheint insgesamt auf eine eher geringe Bedeutung von Distinktionsanstrengungen, auf eine geringe Differenzierung von Mentalitäten und auf eine geringe Rolle von Konkurrenz untereinander hinzuweisen. In einer mentalitätsbezogenen Untersuchung der DDR-spezifischen Orientierungen und „Gemeinschaftserfahrungen" verweist Schlegelmilch (1995) darauf, daß „Kollektiv" keineswegs eine „Gemeinschaft der Gleichen" ohne Hierarchie und Arbeitsteilung bedeutet, daß sich damit aber die Vorstellung verbindet, eine gewisse Gleichheit von Lebensumständen wiege schwerer als durchaus vorhandene Unterschiede in Einkommen oder Status. Unterschiede in der persönlichen Leistungsfähigkeit bzw. der materiellen Lebenslage dürften vor allem nicht eine solche Bedeutung erlangen, daß daraus Existenzangst und Ausgrenzung resultierten. Die Kehrseite einer solchen gemeinschaftlichen Verbundenheit besteht in der erheblichen sozialen Kontrolle, die in Arbeits-, Freizeit- und sonstigen Kollektiven ausgeübt wurde. Dies ist weniger mit einer genuinen Zustimmung zum politischen System gleichzusetzen als mit einer Bereitschaft zur Einordnung, mindestens zum Stillhalten bzw. zu konformem Verhalten. Nach innen bedeutete das die Tendenz zur Konfliktharmonisierung auch bei Interessengegensätzen sowie zu „Ausgrenzungs- und Abschottungstendenzen nach außen" (Haenschke, 1994, S. 46). Solche Kollektive haben durchaus Handlungsspielräume für eine individuelle Interessenverfolgung geboten. „Vitamin B" steht für die Existenz eines informellen Systems von Netzwerkhilfe und schattenwirtschaftlichen Aktivitäten zur Beschaffung knapper Waren und Dienstleistungen in einer Welt, in der Engpässe in der Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen ein allgemeines Problem darstellten: Man
Martin Diewald
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konnte sie oft nicht direkt kaufen, sondern mußte sie mit einem erheblichen Zeitaufwand, über verschiedene, spezielle Beziehungen und Patron-Klient-Verbindungen (Tarkovski, 1983) „besorgen". Im Volksmund der DDR hatte sich für diesen Teil des Alltagshandelns eine Reihe weiterer Begriffe eingebürgert: neben „Vitamin B" beispielsweise „Bückware" als das Zurücklegen begehrter Waren für ausgesuchte Kunden, so daß sie kaum in den freien Verkauf gelangte, oder das Kürzel „SKET" für „Sehen, Kaufen, Einlagern, Tauschen" (zitiert von Rottenburg, 1991, S. 319). Insgesamt umfaßte dieses System von Beziehungen eine ganze Reihe unterschiedlicher Aktivitäten wie (legale) Nebentätigkeiten, (illegale) Schwarzarbeit und Schwarzhandel, Naturaltausch oder das Ausnutzen von Privilegien für das „Verschieben" von Waren in Kauf und Verkauf (Manz, 1990; Cichy und Pfaffenholz, 1986). Die entsprechenden Leute zu kennen war gerade dann, wenn Kaufkraft nicht weiterhalf, buchstäblich „Geld wert" und eine wichtige Ressource der Lebensführung. In absehbarer Zeit ein Auto, Material für den Datschenbau oder auch nur frisches Obst zu bekommen, war jedenfalls mit der Kaufkraft der als „Alu-Chips" verspotteten DDR-Währung allein kaum möglich. Eine dritte Bedeutung der persönlichen Beziehungen in der DDR verbindet sich mit der Metapher der „Nische". Gaus (1983) charakterisierte mit diesem Begriff seinen Eindruck, daß die DDR-Bürger sich passiv in die kleine Welt ihrer persönlichen Beziehungen zurückgezogen und sich so einen Rückzugsraum vor den Zumutungen einer nur noch ritualisierten Teilnahme an offiziellen Programmen, Aktionen und Demonstrationen geschaffen hätten. Die Nische erscheint somit als Folge einer Sinnentleerung der öffentlichen Sphäre, des Fehlens zivilgesellschaftlicher Instanzen und der Unwägbarkeit sozialer Beziehungen außerhalb der Privatsphäre. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Metaphern bezieht sich die Vorstellung eines Lebens in der „Nische" stärker auf die herausgehobene Bedeutung weniger ausgewählter Beziehungen im engsten persönlichen Bereich, insbesondere in der Familie. Auch in der Familiensoziologie der DDR wurde für die 1980er Jahre eine verstärkte Entwicklung hin zur Familie als „Gegenwelt" zur Gesellschaft beschrieben (Gysi, 1990). Die gesellschaftlichen Ursachen dafür werden, ähnlich wie bei Gaus, in einer im Vergleich zu den älteren Generationen geringeren emotionalen Bindung an die Ideale und die Aufbauleistung des Sozialismus, in der Entfremdung bzw. fehlenden Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt sowie in der fehlenden Selbstbestimmung im öffentlichen Leben überhaupt gesehen (Thaa u.a., 1992, S. 100; Schneider, 1994, S. 25). Die entscheidende, für die DDR charakteristische „Demarkationslinie" im Alltagsleben verlief demnach nicht (nur) zwischen dem vertrauten, halb öffentlichen und halb privaten Kollektiv und der fremden Umwelt außerhalb des Kollektivs, sondern zwischen den wenigen engsten persönlichen Bindungen und den Zumutungen außerhalb dieses Mikrokosmos. Im folgenden sollen die an diesen drei Stereotypen festgemachten Vorstellungen über die Beschaffenheit persönlicher Netzwerke in der DDR präzisiert und überprüft werden, soweit dies mit den vorhandenen Informationen möglich ist.
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Persönliche Netzwerke in der DDR
Ihre Bedeutung und ihr Verhältnis zueinander wird zunächst im Kontext modernisierungstheoretischer Überlegungen diskutiert (Abschnitt 2). Nach einer Darstellung des verwendeten Datenmaterials (Abschnitt 3) werden Hypothesen zu verschiedenen, spezifischeren Teilaspekten entwickelt und entsprechende empirische Analysen präsentiert: zur subjektiven Bedeutung gegenseitiger Hilfeleistungen (Abschnitt 4); zur Frage einer Arbeitsteilung innerhalb persönlicher Netzwerke (Abschnitt 5); zur Austauschlogik in verschiedenen Netzwerksegmenten (Abschnitt 6); zum Zusammenhang zwischen informellen Hilfeleistungen und sozioökonomischer Lage (Abschnitt 7) sowie zu Unterschieden zwischen verschiedenen Kohorten (Abschnitt 8). Im abschließenden 9. Abschnitt werden die verschiedenen Teilergebnisse unter dem Gesichtspunkt zusammengefaßt, inwiefern sich in ihnen eine moderne Konstitution persönlicher Beziehungen in der DDR widerspiegelt.
2. Persönliche Netzwerke und Modernisierung Die mit Blick auf die Wirtschaft und die politischen Institutionen oft gestellte Frage nach der Modernität der DDR-Gesellschaft (vgl. den Beitrag von Huinink in diesem Band) läßt sich auch auf den Bereich der persönlichen Netzwerke beziehen. Srubar (1991) hat darauf - nicht speziell für die DDR, sondern für die Gesellschaften des realen Sozialismus insgesamt - eine negative Antwort gegeben. Sein Kriterium dafür ist die Freisetzung des Subjekts und seiner persönlichen Alltagsbeziehungen im Sinne einer „Beschränkung des unmittelbaren und ausschließlichen Zugriffs sozialer Kollektive auf die individuelle Privatsphäre persönlicher Freiheit" (S. 417) 1 . Ausgehend von den Modernisierungstheorien von Weber, Parsons, Luhmann und Habermas postuliert er drei Voraussetzungen für eine solche, auch die Gestaltung der persönlichen Beziehungen einbeziehende, individuelle Freiheit der Lebensführung: erstens die Durchsetzung des Marktes und des Geldes als „generalisiertem Kommmunikationsmedium", zweitens das „diskursive Prinzip der Konfliktlösung", wie es in der Form von Parlamenten und intermediären Organisationen der Interessenvertretung institutionalisiert ist, und drittens die in „rationaler Herrschaft und im positiven Recht verankerte Rechtssicherheit". Der Preis für diesen Freiraum der individuell selbst überlassenen Gestaltung der Privatsphäre ist die Disziplinierung des Individuums im Sinne der Erfüllung der von Markt und Recht gesetzten „unpersönlichen" Handlungserwartungen außerhalb der Privatsphäre.
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Vgl. hierzu, insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen am Arbeitsplatz, auch die Diskussion der „Mitgliedschaftsrolle" in westlichen Arbeitsorganisationen im Vergleich zum japanischen „Betriebsclan" bei Deutschmann (1987).
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Wie bereits im zweiten Kapitel dieses Bandes ausgeführt worden ist, dürften die Strukturierungsprinzipien der DDR-Gesellschaft kaum diesen Voraussetzungen „moderner" persönlicher Netzwerke entsprochen haben. Es besteht in der einschlägigen Literatur Konsens darüber, daß die Praktiken der Patronage, des Schwarzhandels und des Naturaltauschs („Vitamin B") allgemein verbreitete Handlungsstrategien gegen die Undurchschaubarkeit der Entscheidungen von Institutionen und Behörden sowie gegen die Produktions- und Verteilungsmängel der sozialistischen Mangelwirtschaft gewesen sind. Als Folgen „neotraditionalistischer Korrumpierung" (Ettrich, 1991) bzw. des Zusammenspiels von „politischer Privatisierung" des Staats durch die Willkür der Partei und „persönlicher Privatisierung" infolge der Nutzung der zugänglichen öffentlichen Ressourcen für private Zwecke (Srubar, 1991, S. 418 f.) ist dieses Moment als wichtiges Strukturmerkmal des DDR-Sozialismus thematisiert worden (siehe auch Jowitt, 1983; Walder, 1986). Die weitreichende Nicht-Geltung der drei genannten Modernitätskriterien in der DDR hat dafür gesorgt, daß der Zugang sowohl zu behördlichen Entscheidungsverfahren als auch zu knappen Waren und Dienstleistungen für den Alltag wichtige soziale Kapitalien darstellte, die auf dem Markt privater Netzwerke getauscht werden konnten, um einen höheren Lebensstandard zu erreichen 2 . Das bedeutet eben auch, daß die persönlichen Beziehungen nicht „frei" gewesen sind für die individuelle Gestaltung einer persönlichen Privatsphäre, sondern daß ihre Auswahl und Gestaltung stark unter dem Vorbehalt ihrer instrumentellen Nützlichkeit gestanden haben. Anders ausgedrückt war dies das Handlungsfeld für „hochaktive, auf ihren Vorteil bedachte Akteure mit vielfältigen Handlungsstrategien (...) [mit einem] vielfältigen Geflecht von Wettbewerbs-, Kooperations- und Konfliktbeziehungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen" (Mayer, 1994, S. 315). Srubar zitiert eine Reihe empirischer Untersuchungen, die seine These eindrucksvoll untermauern. Sie beziehen sich allerdings kaum einmal auf die DDR, sondern vor allem auf die Verhältnisse im sozialistischen Polen, in Ungarn und in der UdSSR. Angesichts der nicht unerheblichen Unterschiede in den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen verschiedener realsozialistischer Gesellschaften lassen sie sich meines Erachtens nicht unbedingt auf die DDR übertragen. Auch aus theoretischer Sicht sprechen zwei Überlegungen dafür, daß die Frage der spezifischen Beschaffenheit der persönlichen Netzwerke in der DDR bzw. die allgemeinere Frage nach deren „Modernität" mit diesen Verweisen nicht ausreichend beantwortet werden kann.
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Diese Unterscheidung zwischen „modernem" Westen einerseits und DDR-Sozialismus andererseits trägt allerdings insofern idealtypische Züge, als auch in westlichen Industriegesellschaften Patronage, Schwarzarbeit und umfangreiche informelle Netzwerkhilfe keinesw e g s unbekannt sind.
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Zum einen dürften sich diese Aktivitäten, anders als in manchen anderen sozialistischen Staaten, kaum mehr auf der Ebene der bloßen Existenzsicherung bewegt haben, denn die innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft vergleichsweise hohe Wirtschaftskraft sowie besonders die ausgebauten staatlichen und betrieblichen Sozialleistungen sorgten dafür, daß die genannten privaten Aktivitäten eher konsumptiven Distinktionsanstrengungen, der Erlangung eines - wenn auch sehr bescheidenen - Wohlstands dienen konnten. Dies läßt die persönlichen Beziehungen in der DDR eher als ein Handlungsfeld erscheinen, in dem die einzelnen Gesellschaftsmitglieder ihre „kleine Freiheit" zum Privatisieren, zum Ausbilden „feiner Unterschiede" und Lebensstile bekamen, wenn sie die „große Freiheit" politischer Einflußnahme jenseits der offiziellen Doktrin dafür opferten (Engler, 1991a). Die vielfach konstatierte „Ärmlichkeit" der Verhältnisse in der DDR stellt insofern einen anderen Handlungsrahmen dar als die Armut beispielsweise in der UdSSR (vgl. auch Deppe und Hoß, 1989). Die Dominanz einer materiellen Nützlichkeitsorientierung in den persönlichen Beziehungen dürfte von daher vergleichsweise geringer gewesen sein. Unter harten Armutsbedingungen wird die entsprechende Nutzung informeller Beziehungen zur Handlungsnotwendigkeit; unter den Bedingungen der DDR stellte sie eher einen Handlungsanreiz dar. Mehr als in jenen realsozialistischen Staaten, in denen diese Aktivitäten wesentliche und unerläßliche Strategien im Überlebenskampf gewesen sind, mögen in der DDR eine gewisse Lust am Überlisten der Widrigkeiten des Systems (Schröder, 1992, S. 6), die Jagd nach kleineren und größeren, jedoch keineswegs lebensnotwendigen Vorteilen und die Ausbildung einer identitätsstiftenden, eigenständigen Lebenswelt als Nische (Pollack, 1993a, S. 68) hinter diesem Aspekt der Lebensführung gestanden haben. Zum anderen wäre es ein Mißverständnis, aus einer Bedeutung persönlicher Netzwerke für die materielle Wohlfahrt unbesehen auf eine Nachrangigkeit ihrer Bedeutung für persönliche Zuwendung zu schließen. Die These der funktionalen Differenzierung und Ausdifferenzierung formaler staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen betont eine Spezialisierung der persönlichen, insbesondere familialen Beziehungen auf emotionale Beziehungsinhalte, auf die psychische Stabilisierung und auf die Ausbildung einer persönlichen Identität. In dieser Spezialisierung liegt in der Logik der Theorie ja erst die besondere Leistungsfähigkeit der - dadurch eigentlich erst „informell" gewordenen - Beziehungen für diese Funktionen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß praktische Hilfeleistungen dadurch obsolet bzw. vollständig an andere Teilsysteme ausgelagert worden wären. Kritik an einer solch einfachen Lesart der Theorie der funktionalen Differenzierung wurde zum Teil innerhalb der Familiensoziologie formuliert (Sgritta, 1988), vor allem jedoch innerhalb der Netzwerk- und Unterstützungsforschung (z.B. Shumaker und Brownell, 1984; Wellman, 1985). Vielfältige Vermittlungsdienste oder Arbeitshilfen sind nach den Untersuchungen in den modernen westlichen Industriestaaten auch und gerade in den persönlich engsten Beziehungen üblich. Gerade das Familiensystem beweist bei wirtschaftlichen Krisen und Ineffizienz- und Inadäquat-
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heitsproblemen öffentlicher Dienste eine außerordentliche Flexibilität in dieser Hinsicht (Gershuny, 1981; Glatzer und Berger-Schmitt, 1986). Sogenannte „starke" Beziehungen (Granovetter, 1977) zeichnen sich also weniger durch eine ausschließliche Konzentration auf emotionale Beziehungsinhalte als durch eine Tendenz zu einer ungeteilten Hilfsbereitschaft aus, das heißt durch die Bereitschaft, einander in allen Lebenslagen beiseite zu stehen. Dies schließt eben auch materielle Hilfen und handwerkliche Leistungen mit ein, gerade dann, wenn diese umfangreich sind und die Erwartung einer prinzipiellen Gegenseitigkeit solch umfangreicher und nicht unmittelbar erwiderbarer Leistungen längerfristiges Vertrauen in die Beziehung voraussetzt (Diewald, 1991, S. 85 ff.). „Schwache" Beziehungen sind dagegen mit einem geringen emotionalen Engagement verbunden und wenig multiplex. Dennoch können sie wichtige Funktionen erfüllen. Sie liegen eher in den Randbereichen der eigenen Netzwerke, und ihre Stärke liegt gerade darin, daß sie uns mit Informationen und Leistungen versorgen, zum Teil nur mittelbar über die „Freunde von Freunden", die außerhalb der eigenen Reichweite liegen. Demnach ist nicht nur die Arbeitsteilung zwischen informellen oder persönlichen Netzwerken einerseits und formalen Institutionen andererseits Kennzeichen „moderner" sozialer Beziehungen, sondern auch eine hierarchisch gestufte Arbeitsteilung innerhalb der persönlichen Netzwerke, also die Freiheit innerhalb der Privatsphäre, zwischen eher emotional und ganzheitlich gestalteten und eher instrumenteil nützlichen Beziehungen relativ eindeutig zu unterscheiden. Kennzeichnend für persönliche Beziehungen ist nicht die ausschließliche Konzentration auf intime Kommunikation, sondern eine grundsätzliche Handlungserwartung der „persönlichen Stellungnahme zum anderen" (Watzlawick, Beavin und Jackson, 1982, S. 47) 3 . Dies gilt zumal für die „stärkeren" Beziehungen, das heißt, sie sind weder allein auf den Austausch von Gütern, Informationen und materiellen Dienstleistungen spezialisiert noch durch eine damit verbundene, rein instrumentelle Nutzenorientierung geprägt. Oder wie es anschaulicher im Resümee einer westdeutschen Untersuchung zur informellen Netzwerkhilfe heißt: Diese hat ihre Basis nicht in Beziehungen, die einem reinen Kosten-Nutzen-Kalkül folgen, sondern in „Bekanntschaften und Freundschaften (...), die auch ökonomisch relevant sein können, aber als .Beziehungen' nicht in dieser ökonomischen Relevanz aufgehen dürfen" (Jessen u.a., 1990, S. 83). Auch für die DDR ist daher der Verweis auf umfangreiche materielle Funktionen persönlicher Beziehungen noch kein hinreichender Beleg für die fehlende Ausdifferenzierung einer persönlichen
3
Nicht institutionell definierte Teilsysteme, sondern Handlungserwartungen sind die letztendliche Basis von Differenzierungsprozessen. Deshalb lassen sich einzelne Akteure auch nicht eindeutig bzw. vollständig bestimmten einzelnen Teilsystemen zuordnen, sondern können in wechselnden Zusammenhängen in mehreren solcher Teilsysteme agieren, wenn ihre Handlungsorientierung den jeweiligen Kommunikationsregeln und Sinnsetzungen folgt (Gerhards, 1989, S. 11).
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Freiheitssphäre, eines Eigensinns persönlicher Beziehungen. Umgekehrt steigert vielleicht sogar die Notwendigkeit, derartige Netzwerke auch außerhalb des persönlichen Nahbereichs aufzubauen, quantitativ „die Chance, daß aus der .funktionalen Freundlichkeit' eine wirklich freundschaftliche Beziehung wird" (Srubar, 1991, S. 422) und „man sich näher kam" (Schröder, 1992, S. 6). Eine solche Notwendigkeit der Gefälligkeitspflege nützlicher schwacher Beziehungen könnte allerdings bedeuten, daß die Abgrenzungen zwischen starken und schwachen, nur nützlichen und persönlichen Beziehungen uneindeutig sind. Eine derartige Verwischung von Grenzen wird von einer Reihe von Autoren für die DDR behauptet. Engler (1992) folgert dies daraus, daß es infolge der „zivilisatorischen Lücke" gar keine „nüchternen", das heißt formal über Medien wie Geld oder Interessenorganisation geregelte Beziehungen im Alltag gegeben habe: „Je mehr objektive und durchschaubare Mechanismen verschwinden, die die Verteilung von Menschen auf Positionen und positionsbedingte Handlungschancen regeln, desto stärker verwandeln sich die Akteure in psychisch dauerüberlastete Spurenleser von Mit- und Nebenbedeutungen." (Engler, 1991a, S. 2) Folgt man seiner Argumentation, so besteht diese Überforderung darin, zwischen einer nur äußerlichen Anpassung an die Notwendigkeiten einerseits und dem tatsächlichen Heraushalten persönlicher Beziehungen aus der Dominanz solcher Nützlichkeitsüberlegungen andererseits noch dauerhaft unterscheiden zu können. Für das alltägliche Verhalten bedeutet eine solche Argumentation, daß die Unterscheidung zwischen einer nur aufgesetzten Freundlichkeit, um diejenigen günstig zu stimmen, von denen man etwas wollte, und tatsächlicher persönlicher Wertschätzung schwer gewesen wäre. Irritierend wirkte hier auch die Frage nach der ideologischen Linientreue des persönlichen Umfeldes. Umgang mit „unzuverlässigen" Elementen, zumindest wenn sie sich als solche zu erkennen geben, mußte das kleine Nischen-Glück des „obrigkeitsstaatlich abgemessenen Bewegungsspielraums" gefährden (Pollack, 1993a, S. 86). Engler (1991a, S. 3) betont, insbesondere im Hinblick auf die Frage der Regimetreue, eine allgemeine Zerstörung persönlicher Verhältnisse bis in die engste Privatsphäre hinein. Schröder (1992, S. 4) spricht in ähnlicherWeise von Angst, Mißtrauen und der Korrumpierung einer „elementaren Sittlichkeit", verstanden als die „in allen Kulturen konstanten Regeln der zwischenmenschlichen Nahbeziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn und Gästen". Dies habe jedoch eine „sorgsam gehütete Intimsphäre des erprobten Vertrauens" mit entsprechend besonders intensiven Freundschaften nicht ausgeschlossen (S. 6). Alle anderen Beziehungen standen demnach unter dem permanenten Verdacht eines „Doppelcharakters". Zum einen bezog er sich darauf, daß die äußerliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft nicht viel mehr als eine Fassade ist, daß Vertrauen mißbraucht werden könnte; oder daß Zuwendung und Hilfsbereitschaft einerseits und das nüchterne, unpersönliche Kalkulieren des eigenen Tauschvorteils andererseits in denselben Arten von Beziehungen nebeneinander existieren und nie ganz sicher ist, welche dieser beiden „Logiken" nun in einer bestimmten Situation
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zur Geltung kommt. Zum anderen ging es immer auch darum, die Möglichkeit einer Spitzeltätigkeit für die Staatssicherheit in Betracht zu ziehen 4 . Die Reichweite einer derartigen Ambivalenz wird unterschiedlich dargestellt. Sowohl bei Engler als auch Schröder scheint das Herstellen einer intakten Intimsphäre das Ergebnis einer permanenten Selektions- und Aufbauarbeit in den persönlichen Netzwerken zu sein, ohne daß sich Hinweise dafür finden, daß bestimmte Beziehungssegmente normativ und faktisch eine gewisse Erwartungssicherheit geboten hätten. Insofern erfährt die These einer grundsätzlichen Ambivalenz keinerlei Bedeutungseinschränkung. Lemke (1991, S. 177) betont die besondere Bedeutung der Familienbeziehungen mit ihrer „persönlichen Authentizität und Nähe, die in der überorganisierten Öffentlichkeit mit ihrem Anpassungsdruck nicht gefunden werden" konnte. Hier wird eine nicht nur faktisch (etwa aufgrund aufwendiger Beziehungsarbeit), sondern auch rollenspezifisch differenzierte Netzwerkstruktur angesprochen, nach der wenigstens dieser Bereich persönlicher Beziehungen einer Unschuldsvermutung unterlag. Beruhten demnach die Vorstellungen von der besonderen Geborgenheit, Sicherheit und Mitmenschlichkeit in den persönlichen Beziehungen in der DDR zum großen Teil auf Täuschung? Untersuchungen zur Mentalität der Bürger der ehemaligen DDR finden zumindest Anzeichen, daß die propagierte sozialistische Lebensweise, nach der „sich die Menschen in allen Bereichen ihres Lebens kameradschaftlich zueinander verhalten" sollten (Rogge, 1986, S. 44), durchaus Spuren im Bewußtsein und Widerhall im Alltagsleben gefunden hat 5 . Die drei eingangs zitierten Metaphern setzen je unterschiedliche Akzente, in welchem Maße das Gesamtnetz persönlicher Beziehungen diesen Erwartungen entsprochen hat, und entlang welcher Grenzen es auch intern entsprechend aufgespalten war. Das „Kollektiv" beinhaltet implizit die Vorstellung einer vom „Rest" der Gesellschaft geschiedenen Welt des „wir" vom „Feindesland" der „anderen" (Srubar, 1991, S. 424), wobei diese Welt des „wir" jedoch zugleich dicht und eher weit gespannt ist. In der DDR mit ihrem relativ hohen und gesicherten Standard zumindest der grundlegenden Bedürfnisbefriedigung dürften diese Beziehungen zudem weniger scharf als solidargemeinschaftliche „Inseln" vom Rest der - potentiell feindlichen - Gesellschaft abgegrenzt gewesen sein als beispielsweise in Polen oder der UdSSR 6 . Die Bewahrung eines Vertrauens in die primär persönlich geprägte Qualität eines inneren Kreises von Beziehungen - also die interne Differenzierung des persönlichen Netzwerks - dürfte deshalb im Vergleich zur Abgrenzung des Gesamt-
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Daß derartige Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen waren, haben etliche nach der Wende bekannt gewordene Fälle gezeigt.
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Sogar im Programm der S E D (1976, S. 54) wird als Ziel postuliert, „daß die Beziehungen der Menschen in allen Lebenssphären ( . . . ) noch stärker von gegenseitiger Achtung und Unterstützung, von kameradschaftlicher Hilfe und Rücksichtnahme geprägt werden".
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Vergleichende Untersuchungen zu speziell diesem Aspekt sind mir allerdings nicht bekannt.
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netzwerks zur Außenwelt das größere Problem gewesen sein. Das Kollektiv kann nicht die fehlende Öffentlichkeit als intermediäre Sphäre der Kommunikation und Interessenvermittlung ersetzen, gerät aber in eine fast zwangsläufige Ambivalenz: Einerseits eine gemeinschaftliche Orientierung der gemeinsamen Verbundenheit und des „alle in einem Boot", auf der anderen Seite die Interessendifferenzierung einer industriegesellschaftlichen Struktur. Beziehungen am Arbeitsplatz mußten fast zwangsläufig uneindeutig sein, weil der Dualität beider Orientierungen keine Binnendifferenzierung von Beziehungsstrukturen bzw. Netzwerken entsprach. Diese Ambivalenz von persönlicher Nähe und „Vitamin B" wäre demnach ein wesentliches Moment für das Bedürfnis einer vom Kollektiv nochmals abgeschotteten, sorgsam gehüteten Binnenwelt: der „Nische", die nach dem bisher Gesagten implizit vor allem innerhalb der Familienbeziehungen zu vermuten ist. Die Frage nach dem spezifischen Charakter bzw. der Modernität der persönlichen Netzwerke in der DDR läßt sich im folgenden nicht erschöpfend überprüfen. Sie läßt sich jedoch teilweise in den Kategorien der Netzwerk- und Unterstützungskonzepte reformulieren und mit entsprechenden Ergebnissen aus westdeutschen Untersuchungen vergleichen: Welche Teilsegmente des Gesamtnetzwerks lassen sich anhand der Qualität der Beziehung, des Spektrums der ausgetauschten Unterstützungsleistungen, der normativen Erwartungen und der zugrundeliegenden Handlungsorientierungen identifizieren? Lassen sie eine hierarchische Abstufung erkennen? Und im Anschluß daran: Wie wirken unterschiedliche Lebenslagen auf den Fluß von Unterstützungsleistungen ein?
3. Datenlage und Untersuchungsmöglichkeiten Im Unterschied zu den vorangegangenen empirischen Kapiteln dieses Bandes liegen für den hier behandelten Themenbereich keine Verlaufsdaten vor. Angaben der Befragten zu ihren Netzwerken und Hilfeaktivitäten beziehen sich ohne nähere Präzisierung auf „die Zeit vor dem November 1989". Sie umfassen sowohl persönliche Kommunikationsinhalte als auch verschiedene instrumenteile Hilfeleistungen. Bei den persönlichen Kommunikationsinhalten wurde danach gefragt, (a) wen man in schwieriger persönlicher Lage zu Rate zog; (b) mit wem man damals über die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse und gesellschaftlichen Probleme redete; (c) von wem man eine angemessene Anerkennung erfuhr, wenn es um die eigene persönliche Leistung ging; und (d) wer damals Ansprechpartner war, wenn man Probleme am Arbeitsplatz hatte. Die instrumentellen Hilfeleistungen wurden in beiden Richtungen abgefragt, das heißt, es wurde sowohl danach gefragt, wer einem damals geholfen hat, als auch umgekehrt, wem man damals selbst geholfen hat. Es handelt sich dabei um (a) Hilfe, wenn es Schwierigkeiten bei der Beschaffung bestimmter Güter, zum Beispiel Waren des täglichen Bedarfs, gab; (b) Hilfe bei größeren Anschaffungen wie einem Auto, einer Kühltruhe oder
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ähnliches; (c) Hilfe bei der Beschaffung von Materialien oder Ersatzteilen für in Eigenleistung durchgeführte Arbeiten; (d) Hilfe beim Ausbau/Umbau oder bei Renovierungsarbeiten am Haus, an der Wohnung oder der Datsche. Zusätzlich gab es eine allgemeine Frage nach Beziehungen zu Personen, die „nützlich" waren, „um die eigenen Ziele besser erreichen zu können". Sie stellt, neben den eben genannten spezifischen Teilaspekten, einen allgemeinen Indikator für „Vitamin B" dar. Die jeweiligen Antwortmöglichkeiten bezogen sich nicht konsistent auf die Nennung einzelner, eindeutig identifizierter Personen, sondern in der Regel auf Personengruppen innerhalb des Gesamtnetzwerks: den (Ehe-)Partner, Kinder, Eltern und Schwiegereltern, Geschwister inklusive Schwager und Schwägerinnen, andere Verwandte, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen, Vorgesetzte bzw. Betrieb. Im Rahmen der Wohngeschichte und der Ausbildungs- bzw. Erwerbsbiographie wurde zusätzlich danach gefragt, auf welchem Wege man seinen Ausbildungsplatz, seine erste und seine derzeitige Arbeitsstelle sowie seine erste und seine derzeitige Wohnung erhalten hat. Die Hilfe von Eltern, von anderen Familienmitgliedern bzw. Verwandten und von Freunden/Bekannten bzw. Kollegen war hier jeweils eine unter mehreren Möglichkeiten neben den formalen Zugangswegen.
4. Die Einschätzung der Bedeutung gegenseitiger Hilfeleistungen Welchen Stellenwert besitzen die Hilfen im Rahmen persönlicher Netzwerke im Bewußtsein der Bürger der ehemaligen DDR? 72 Prozent aller Befragten bezeichneten die „Bedeutung der gegenseitigen Hilfeleistungen" im Rückblick als „sehr wichtig", und weitere 26 Prozent stuften sie immerhin noch als „wichtig" ein; das heißt, nur 2 Prozent maßen ihnen eine geringere Bedeutung bei. Diese Auffassung wird allgemein geteilt, das heißt, es gibt in dieser Bewertung keine nennenswerten Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, sei es nach Geburtsjahrgang, Bildung, Beruf oder Familienstand. Dies zeigt sich auch in den Antworten zu den individuellen Motiven, warum man selbst anderen Personen geholfen hat (siehe Abb.l). Die beiden mit Abstand häufigsten Nennungen - zum einen: solche Hilfen seien selbstverständlich gewesen, zum zweiten: schließlich habe man auch selbst Hilfe gebrauchen können - verweisen ebenfalls auf eine gewisse Selbstverständlichkeit solcher Leistungen. Verbreitet ist auch die Begründung, daß es ohne solche gegenseitige Hilfe gar nicht möglich gewesen sei, an wichtige Güter und Dienste heranzukommen, bzw. daß es Spaß gemacht habe, anderen zu helfen. Dagegen gab nur eine kleine Minderheit an, daß direkte finanzielle Interessen ausschlaggebend gewesen seien. Genauso wenig wie bezüglich der Wichtigkeit der gegenseitigen Hilfeleistungen war es möglich, mittels statisti-
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Abbildung 1: Individuelle Motive für informelle Hilfeleistungen: „Aus welchen Gründen haben Sie anderen geholfen?"
Weil es selbstverständlich war
Konnte auch mal Hilfe gebrauchen
Sonst unmöglieh, diese Dinge zu erhalten
Weil es mir Spaß machte
Weil
finanziell etwas herauskam
scher Klassifikationsverfahren typische, unterscheidbare „Motiv-Strukturen" voneinander zu unterscheiden, noch ließen sie sich sozialstrukturell unterschiedlich verorten. Auch wenn die umfassenden sozialstaatlichen und Arbeitsplatzgarantien sicherlich Freiheitsspielräume für das Engagement in informeller Netzwerkhilfe geboten haben: Diejenigen unserer Befragten, die ein umfassendes Engagement bezüglich der im vorigen Abschnitt beschriebenen instrumentellen Unterstützungs-leistungen bzw. umfassenden Zugang zu entsprechenden Hilfsangeboten berichteten, stimmten keineswegs häufiger der Auffassung zu, daß man in der ehemaligen DDR dann, „wenn man wollte und genug Geduld aufbrachte, (...) seine eigenen Vorstellungen weitgehend verwirklichen" konnte. Auf der anderen Seite geht die Zustimmung zu dieser Meinung allerdings sehr deutlich mit der damaligen Beteiligung am politischen System der DDR 7 einher. Beide Ergebnisse im Zusammenhang lassen den Schluß zu, daß es sich bei diesen Tauschnetzwerken
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D i e s e wurde als Mitgliedschaft in der S E D oder den Blockparteien oder der Funktionärstätigkeit in den staatstreuen Massenorganisationen wie FDGB oder FDJ operationalisiert (siehe den Beitrag von Solga in diesem Band).
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insgesamt wohl eher um privat-persönliche Gestaltungsräume und defensive Schutzbündnisse gegen Versorgungsmängel gehandelt hat, und daß sie weniger als Freiräume erlebt wurden, die im Bewußtsein der Menschen etwa tatsächlich die „Entsubjektivierung" im politisch-gesellschaftlichen Bereich hätten ausgleichen können.
5. Konturen der Arbeitsteilung innerhalb persönlicher Netzwerke Den Beziehungen am Arbeitsplatz, im sogenannten „Arbeitskollektiv", wurde und wird im Rückblick eine herausgehobene Bedeutung beigemessen (SenghaasKnobloch, 1992). Verschiedene Überlegungen sprechen für die Plausibilität dieser Aussage. Zum einen war infolge der im internationalen Vergleich und insbesondere im Vergleich zur alten Bundesrepublik sehr hohen Frauenerwerbsquote fast die gesamte Erwachsenenbevölkerung bis zum Rentenalter in einen Betrieb eingebunden. Zum zweiten waren die Betriebe nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch der Ort, an dem es, über die spezialisierte Arbeitsrolle hinaus, staatlicherseits darum ging, den „ganzen Menschen" zu formen bzw. zu kontrollieren. Zudem war der Betrieb gleichzeitig ein Organisationszentrum für das Leben außerhalb der Arbeit. Er war entscheidend für Delegationen zu Weiterbildungsaktivitäten und Studium (Adler, 1991a, S. 167 f.), spielte eine große Rolle für die Wohnungsvergabe, und er organisierte nicht nur eine ganze Reihe von Sozialleistungen, wie beispielsweise die Kinderbetreuung und einen Teil der medizinischen Betreuung, sondern auch teilweise die Freizeitgestaltung und die Verteilung von Ferienplätzen. Diese Kopplung des Arbeitslebens mit außerberuflichen Lebensbereichen gab den Beziehungen am Arbeitsplatz eine Geschlossenheit und Dichte, wie sie sich sonst kaum einstellen würde. Der Konkurrenzgedanke zwischen und innerhalb der Hierarchieebenen war aus mehreren Gründen eher gering ausgeprägt. Die vielfältigen „Nivellierungsund Homogenisierungstendenzen" (Adler, 1991b, S. 164) haben bis in die 1980er Jahre hinein dafür gesorgt, daß Anreize für berufliche Aufstiege nur begrenzt vorhanden waren. Auf der anderen Seite sorgte die umfassende Arbeitsplatzsicherheit dafür, daß Existenzängste die Arbeitsbeziehungen nicht belasteten. Diese insgesamt entspannten Bedingungen mit breiter sozialer Absicherung ermöglichten erst die Verwendung von betrieblichem Material und Arbeitszeit für private Zwecke in großem Ausmaß, ohne daß ein allzu großes Risiko negativer Konsequenzen bestanden hätte. Die Möglichkeiten, über die formal vorhandene hierarchischtayloristische Organisation eine effektive Kontrolle des Arbeitseinsatzes der Beschäftigten zu erreichen, waren offensichtlich begrenzt. Mehrere Studien haben gezeigt, daß die Arbeiter ein hohes Widerstandspotential gegen Anweisungen von
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Vorgesetzten und einen großen Spielraum bezüglich ihres Arbeitseinsatzes behielten (siehe auch Deppe und Hoß, 1989; Voskamp und Wittke, 1990; Rottenburg, 1991). Das Arbeitskollektiv war nicht nur der Ort in der Gesellschaft, an dem das System „von oben" auf den Einzelnen umfassend zugreifen wollte, sondern auch umgekehrt war es der soziale Ort, an dem sich, gleichsam „von unten", der Widerstand gegen die von oben und von außen herangetragenen Planerfüllungsvorschriften und allgemein gegen betriebliche und individuelle Versorgungsmängel organisierte. Das Aufrechterhalten eines Mindestproduktionsstandards erforderte deshalb vielfältige Kompromisse zwischen den Hierarchieebenen innerhalb des Betriebs, sei es im Hinblick auf die allgemeine Arbeitsbereitschaft, sei es im Hinblick auf das mehr oder weniger halb- bis illegale Umgehen von hinderlichen Vorschriften und Zulieferengpässen, sei es im Hinblick auf das Verhandeln von Planerfüllungsvorschriften. Möglich war das nur über eine auf wechselseitigem Vertrauen beruhende Komplizenschaft zwischen Vorgesetzten und Untergebenen (Rottenburg, 1991, S. 306 f.; Voskamp und Wittke, 1990, S. 24). Derartige Verhältnisse boten sicherlich sowohl Anknüpfungspunkte für informelle Tauschaktivitäten als auch für die Vermittlung eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Es stellt sich jedoch die Frage, wie weitreichend dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Gensior (1992, S. 274 ff.) und Rueschemeyer (1988, S. 284) entwerfen ein sehr positiv gefärbtes Bild der Qualität der Beziehungen am Arbeitsplatz, und ganz ähnlich wie in manchen westlichen Darstellungen die Bedeutung der Familie geschildert wird, beschreibt Lange (1993) das Arbeitskollektiv rückblickend als einen „Puffer zwischen der eigenen Person und der sozialen Umwelt". Andere Autoren sind hier vorsichtiger und verweisen eher auf eine Art Doppelcharakter der Beziehungen am Arbeitsplatz, die zwar einerseits vielfältige Unterstützung geboten, andererseits aber auch Kontrolle ausgeübt hätten und im Zweifelsfall doch eher von instrumenteller Nützlichkeitslogik anstatt von mitmenschlicher Solidarität dominiert gewesen seien (Rottenburg, 1991). Die Frage einer besonderen Qualität der Beziehungen am Arbeitsplatz kann hier nur insofern beantwortet werden, als ihre Bedeutung in Relation zu anderen Teilsegmenten des persönlichen Netzwerks bestimmt und mit den Ergebnissen aus Untersuchungen in Westdeutschland verglichen wird. Für die verschiedenen Bereiche der sozialen Unterstützung zeigt sich darin eine zum Teil recht unterschiedliche Helferstruktur (siehe Tab. I) 8 . Die Paarbeziehung und die ElternKind-Beziehung stellen jedoch insgesamt und fast durchgängig die wichtigsten Beziehungen für den Austausch sozialer Unterstützung dar. Die Bedeutung aller
8
Die Angaben in Tabelle 1 sind jeweils danach kontrolliert, ob überhaupt ein Lebenspartner vorhanden ist bzw. ob die Eltern noch leben bzw. erwachsene Kinder oder Geschwister existieren. Aufgrund der in der DDR und speziell in unserer Stichprobe fast universellen Verbreitung von Partnerschaft, Elternschaft und Erwerbsbeteiligung ergeben sich bei einer Ausweisung der Nennhäufigkeiten ohne Kontrolle des Vorhandenseins der jeweiligen Beziehungen jedoch sehr ähnliche Helferstrukturen.
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Die Unterschiede bei den diversen Beschaffungshilfen, die einen wichtigen Ausschnitt aus dem Spektrum möglicher „Nützlichkeiten" darstellen, bestätigen dieses Ergebnis. Bemerkenswert sind jedoch vielleicht weniger die Unterschiede, die die besondere Bedeutung beispielsweise der Baubranche für das Beschaffen von Reparaturmaterial belegen, sondern die immer noch hohe Bedeutung von Kollegenbeziehungen für Beschaffungshilfen selbst in den dafür sachfremden Branchen. Getauscht wurden Uber diese Kanäle offensichtlich nicht nur Dinge, über die man selbst Verfügungsgewalt hatte, sondern auch mittelbar in Form eines Ringtauschs, über Freunde von Kollegen und ähnliches. Möglicherweise sind auch die dargestellten Differenzierungen der Arbeitsplätze noch zu grob, um die wirklichen Schlüsselpositionen exakt herauszuarbeiten. Daß dem zumindest teilweise tatsächlich so ist, zeigt eine detailliertere Gliederung der Kategorie der qualifizierten Arbeiter nach beruflicher Stellung und Branchenzugehörigkeit (siehe Tab. 4). Demnach verfügen vor allem die Meister und Brigadiere über „nützliche" Kollegen und vor allem über einen derartigen Zugang zu Beschaffungshilfen. Auch wird die Schlüsselstellung der Metall- und Baubranche sowie des Handel- und Dienstleistungsgewerbes deutlicher als in der bisherigen Darstellung. Die multivariate Überprüfung 15 der hier nur bivariat dargestellten Zusammenhänge bestätigt die entsprechenden Unterschiede ohne Einschränkungen. Sie enthüllt darüber hinaus einen bemerkenswert deutlich ausgeprägten Geschlechtseffekt hinsichtlich der berichteten Nützlichkeit von Beziehungen am Arbeitsplatz. Ihre relativen Chancen, daß Arbeitsplatzbeziehungen als „nützlich" bezeichnet werden, bzw. daß sie in den Austausch der spezifischen Beschaffungshilfen eingebunden sind, betragen jeweils nur etwa zwei Drittel derjenigen der Männer. Dieser Unterschied läßt sich nicht etwa auf die ungleiche Verteilung von Männern und Frauen auf die verschiedenen Berufe und Branchen zurückführen. Er ist vielmehr zusätzlich dazu vorhanden, daß in den hier sich als besonders ertragreich erweisenden Positionen sowieso schon erheblich mehr Männer als Frauen beschäftigt waren (vgl. den Beitrag von Trappe und S0rensen in diesem Band). Frauen sind demnach, und zwar ungeachtet ihrer Berufs- und Branchenzugehörigkeit, weniger in das innerbetriebliche System des wechselseitigen Tauschens und Zuschanzens von Vorteilen eingebunden als Männer. So bewahrt sich über diesen Mechanismus in einer Gesellschaft mit einer sowohl quantitativ als auch qualitativ besonders hohen Frauenerwerbstätigkeit ein Stück der traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Die persönliche Qualität der Arbeitsbeziehungen unterschied sich dagegen nicht zwischen Männern und Frauen. Beziehungen am Arbeitsplatz stellen nur einen Teilbereich der möglichen sozialen Ressourcen dar. In der folgenden Darstellung soll diese Einschränkung fallengelassen und versucht werden, eine insgesamt starke Position im informel-
15 Es handelt sich u m hier nicht dargestellte logistische Regressionen.
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len Tauschsystem in Verbindung mit beruflichen und materiellen Ressourcen darzustellen (siehe Tab. 5). Auf den ersten Blick scheint es paradox, dafür auch selbst geleistete Beschaffungshilfen als Indikator zu nehmen, doch sagt die eigene Fähigkeit, solche Unterstützungsleistungen in den informellen Kreislauf gegenseitigen Helfens einzuspeisen, auch etwas über die Chancen aus, im Gegenzug selber irgendwelche Leistungen auf diesem Wege zu erhalten. Zusätzlich wird ein Indikator für emotionale Unterstützung von Personen außerhalb des Verwandtenkreises einbezogen. Er läßt Rückschlüsse zu über die Qualität und Reichweite der persönlichen Beziehungen außerhalb von Familie und Verwandtschaft. Um mit dem letztgenannten Indikator zu beginnen: Je höher die materiellen Ressourcen, desto eher verfügen die entsprechenden Personen auch über persönlich gehaltvolle Beziehungen, oder anders ausgedrückt: Diesbezüglich tendieren materielle und soziale Ressourcen dazu, sich in denselben Händen zu befinden 16 . Dies gilt auch für den Zusammenhang zwischen monetären Ressourcen und materieller Unterstützung. Je höher das Einkommen, desto häufiger ist tendenziell der Austausch von Beschaffungshilfen, auch wenn die Unterschiede weniger ausgeprägt sind. Ähnlich ist der Zusammenhang mit dem Besitz der Zweitwährung Devisen. Wenn es hier auch keinen näherungsweise linearen Zusammenhang gibt, so zeigen sich doch gerade die Nichtbesitzer von Devisen als unterdurchschnittlich am Austausch von Beschaffungshilfen beteiligt. Insgesamt stellen diese Indikatoren zwar sicherlich keine ausreichende Operationalisierung des gesamten Umfangs informeller Netzwerkhilfe dar. Die Ergebnisse sind jedoch in einer Hinsicht recht eindeutig: Diese informellen Aktivitäten erweisen sich keineswegs als ein Korrektiv zu ungleich verteilten materiellen Ressourcen. Im Gegenteil scheinen diejenigen, die materiell besser gestellt waren, auch mehr Möglichkeiten gehabt zu haben, sich auf informellem Wege knappe Güter und Dienste zu beschaffen. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Ungleichheitsstruktur der DDRGesellschaft, neben der Berufsstruktur, war die Integration ins politische System, das heißt vor allem in die SED oder Blockparteien und die großen Massenorganisationen FDGB und FDJ (vgl. die Beiträge von Huinink bzw. Solga in diesem Band). In Tabelle 6 werden mehrere Grade der Integration in diese politischen Organisationen unterschieden: keine Mitgliedschaft, Mitgliedschaft ohne Funktion, untere Funktionen sowie, zusammengefaßt, mittlere und höhere Funktionen. Der Blick auf entsprechende Unterschiede bezüglich des Austauschs von Beschaf-
16 Unter den Berufsgruppen (hier nicht dargestellt) sind es insbesondere die Angestellten in Leitungspositionen, Selbständigen und Freiberufler sowie die Angestellten mit professionellen Tätigkeiten, die über solche Beziehungen verfügen, während die Bauern und die Un- und Angelernten über die wenigsten emotionalen Beziehungen außerhalb der Familie verfügen. Damit zeigen sich hier Zusammenhänge, die mit denen aus westeuropäischen und US-amerikanischen Untersuchungen vergleichbar sind (Fischer u.a., 1977; Diewald, 1986; Marbach, 1989).
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kulturellen Aktivitäten weisen diesbezüglich in die gleiche Richtung wie die „Vererbung" von Bildungschancen im dritten Kapitel dieses Bandes. An der gesellschaftlichen Realität von Klassen als soziale Gebilde, die sich in Lebenschancen und Selbstverständnis voneinander unterschieden, kann demnach kaum ein Zweifel bestehen. Die Bedeutung der Klassenlagen wird sogar eher noch unterstrichen, wenn andere sozialstrukturelle Differenzierungen mit in Betracht gezogen werden (siehe Modell 3 in Tab. 15). So erweist sich beispielsweise, daß die Nutzung entsprechender kultureller Angebote in größeren Städten häufiger war als in kleineren Gemeinwesen, und daß bei Theaterbesuchen und Lesen Frauen deutlich aktiver waren als Männer. Wesentlich für unsere Diskussion hier ist: Insgesamt reduziert sich die Erklärungskraft der Klassenlagen durch die Einbeziehung weiterer sozialstruktureller Merkmale nicht. Mehr noch, sie erweisen sich im Vergleich zu anderen sozialstrukturellen Faktoren als das insgesamt bedeutsamste Differenzierungsmerkmal bei den untersuchten kulturellen Aktivitäten, auch wenn Alter, Lebensformen, Geschlecht und Größe des Wohnorts ebenfalls entsprechende Differenzierungslinien in der DDR-Gesellschaft bildeten.
7. Die DDR - Eine egalitäre Gesellschaft? Angesichts der in diesem und mehreren vorangegangenen Beiträgen präsentierten Untersuchungen dürfte es schwerfallen, an der These einer egalitären DDRGesellschaft festzuhalten. Sowohl bezüglich der Bildungs- und Mobilitätschancen als auch bezüglich der materiellen Lebensbedingungen hat sich gezeigt, daß die Klassenzugehörigkeit einen bedeutenden Einfluß auf die Verteilung sozialer Ungleichheiten hatte. Die klassenspezifischen Unterschiede in den kulturellen Praktiken legen zudem die Vermutung nahe, daß sich diese Ungleichheiten auch in entsprechenden Selbst- und Fremdwahrnehmungen niederschlugen. Ferner haben die Analysen gezeigt, daß die Binnendifferenzierungen innerhalb der sozialistischen Dienstklassen und der Arbeiterklasse - neben den generellen Klassenunterschieden - weitere Ungleichheiten in den materiellen und kulturellen Lebensbedingungen implizierten. So wurde deutlich, daß es insbesondere die Dienstklassen-Familien mit Leitungskadern waren, die sich eindeutig an der Spitze der Verteilung von Chancen, Wohlstandsgütern und Privilegien befanden. Erinnert sei an die individuellen Erwerbseinkommen, an die Telefondichte oder die Verfügbarkeit instrumenteil „nützlicher" Beziehungen. Andererseits zeigte sich im Hinblick auf kulturelle Praktiken, sofern wir sie mit unseren wenigen Indikatoren erfassen konnten, daß sich die sozialistischen Dienstklassen von allen anderen unterschieden, es hier allerdings keine Unterschiede zwischen den Haushalten mit und denen ohne Leitungskader gab. Für die Arbeiterklasse hat sich er-
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wiesen, daß sie keineswegs in ihrer Gesamtheit „hofiert" wurde. Zum einen erwiesen sich die Haushalte der Un- und Angelernten auf fast allen Dimensionen als deutlich schlechter gestellt im Vergleich zu den Haushalten qualifizierter Arbeiter und Angestellter. Zum anderen gab es beträchtliche Unterschiede in der Streuung der individuellen Einkommen selbst zwischen Facharbeitern und qualifizierten Angestellten. Es handelte sich bei diesen klassenspezifischen Differenzierungen keineswegs um vernachlässigenswerte Größenordnungen. Dieses Resümee läßt sich zumindest für die Endphase der DDR ziehen, insofern wir nur für diesen Zeitraum entsprechende (breit gestreute) Informationen zur Verfügung haben. Für die Ungleichverteilung von Lebenschancen und -bedingungen innerhalb der DDR waren Klassenlagen zwar nicht allein relevant, aber sie definierten wohl eine der wichtigsten Differenzierungslinien innerhalb der Gesellschaft - wenn nicht die wichtigste. Das stellt jedoch nicht in Abrede, daß sich in bezug auf die Lebenschancen und -bedingungen auch andere Kriterien als bedeutsam erwiesen haben. So wäre es falsch, für die DDR von gleichen Lebenschancen für Männer und Frauen auszugehen. Gleichfalls erwies sich die Differenzierung von Lebensformen in einigen Fällen als bedeutsam. Ist damit die These umfassender Nivellierungstendenzen der DDR-Gesellschaft insgesamt widerlegt? Die Antwort hängt unseres Erachtens von der Perspektive ab, die man einnehmen will: die auf interne Unterscheidungen gerichtete oder die gesellschaftsvergleichende. Geht es um die interne Differenzierung, so dürfte die Aufrechterhaltung der Nivellierungsthese schwerfallen oder nur insofern aufrechtzuerhalten sein, wenn man als Argument anführt: 65 Prozent der untersuchten Personen gehörten der Arbeiterklasse an. Tut man dies nicht und nimmt diese Größenordnungen als Realität hin, dann legen die Befunde nahe, eine differenzierte Verteilung der materiellen Güter und Leistungen in der DDR-Gesellschaft nach Klassenzugehörigkeit zu den Dienstklassen, den Selbständigen, den Bauern und der Arbeiterklasse zu akzeptieren. Zugleich ist einzuschränken, daß sich nicht auf allen Ebenen massive Ungleichheiten gezeigt haben. Beispielsweise ließen sich weder bei der Versorgung mit Wohnraum (gemessen an der Zimmerzahl pro Person) noch bezüglich des Gartenbesitzes die erwarteten Ungleichheiten nachweisen. Und trotz unbestreitbarer Kumulierungseffekte in der Gesamtschau der betrachteten Ungleichheitsdimensionen - die zeigt, daß, wer auf der einen Dimension viel/wenig hatte, tendenziell auch auf der anderen Dimension viel/wenig hatte - , gab es insbesondere hinsichtlich des wichtigen Devisenbesitzes Abweichungen von dieser Regel und erhebliche Streuungen. Schließlich gehören in diesen Zusammenhang auch die - hier nur erwähnten - beträchtlichen Subventionen in fast allen Lebensbereichen sowie die umfassende und garantierte soziale Sicherung. Insofern ist nicht zu bestreiten, daß Nivellierungstendenzen vorhanden waren. Wie sich Struktur und Ausmaß dieser sozialen Ungleichheiten im internationalen Vergleich darstellen, war nicht der primäre Gegenstand unserer Darstellungen.
Martin Diewald und Heike Solga
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Gemessen an den Verhältnissen in der Bundesrepublik war ihr Ausmaß, soweit wir dazu Vergleichsangaben hatten, sicherlich geringer. Gleichfalls geringer dürfte aber auch die Bedeutung der vorhandenen Unterschiede für die Versorgung mit allem als lebensnotwendig Erachteten gewesen sein, denn die umfassenden Subventionen und sozialstaatlichen Garantien für alle DDR-Bürger gingen über das hinaus, was in der Bundesrepublik über steuerrechtliche Regelungen und Sozialhilfe aufgefangen wird. In letzterem sehen wir einen entscheidenden Unterschied zwischen DDR und Bundesrepublik bezüglich des Ausmaßes und der Bedeutung sozialer Ungleichheiten. Dennoch bleibt insgesamt festzustellen: Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft hat hier wie dort zu spürbaren Unterschieden in den jeweiligen Lebensbedingungen geführt.
Martin Diewald, Johannes Huinink, Heike Solga und Annemette S0rensen
Umbrüche und Kontinuitäten Lebensverläufe und die Veränderung von Lebensbedingungen seit 1989
1. Lebensverläufe, Wendeerfahrungen und Transformation Alle bisherigen Kapitel dieses Buches haben sich ausschließlich mit dem Leben in der DDR befaßt. Diese DDR ist spätestens mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 Geschichte geworden. Die Rahmenbedingungen des Lebens in den nunmehr „neuen Bundesländern" der Bundesrepublik haben sich damit in kürzester Zeit in dramatischer Weise geändert. Die Risiken und Chancen der Lebensgestaltung sind andere geworden. Dies heißt jedoch nicht, daß damit alle lebensgeschichtlichen Erfahrungen und bisherigen Investitionen der Bürger der ehemaligen DDR ihre Bedeutung verloren hätten (Mayer, 1990). Das Leben nach der Wiedervereinigung ist ebensowenig eine Stunde Null, wie es der Aufbau der beiden deutschen Teilstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen ist. Wir gehen deshalb davon aus, daß sowohl auf der institutionellen Ebene als auch auf der Ebene individueller Lebensverläufe, neben Strukturbrüchen und Entwertungen, auch ein Fortwirken der in der DDR erlebten Prägungen nach 1989 zu beobachten sein wird. In diesem Kapitel soll deshalb, quer über die verschiedenen Lebensbereiche, ein Blick auf die Veränderungen geworfen werden, die seit der Wende 1989 in den Lebensverläufen der Befragten eingetreten sind 1 . Wir konzentrieren uns dabei auf zwei Bereiche: die Veränderungen in den Erwerbs- und Berufsverläufen (Abschnitt 2) sowie die Veränderungen in der Familie und den Netzwerkbeziehungen (Abschnitt 3). Innerhalb des ersten Bereichs verfolgen wir insbesondere das Interesse, Einblicke in den Wandel der Sozialstruktur zu gewinnen. Uns interessieren dabei sowohl Veränderungen der Sozialstruktur als auch die individuellen Mobilitätsprozesse innerhalb dieser Sozialstruktur. Wir wollen damit Fragen beantworten wie die, ob diejenigen, die schon in der DDR „oben" waren, auch jetzt wieder
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Wir klammern dabei einen Vergleich zu den Lebensverhältnissen in den alten Bundesländern und deren Entwicklung aus (siehe dazu Zapf und Habich, 1994; Zapf 1994a).
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Umbrüche und Diskontinuitäten
„oben" sind; welche alten Positionen verschwinden und welche neuen Positionen entstehen; ob die in der DDR erworbenen beruflichen Qualifikationen in der Marktwirtschaft ihren Wert verlieren; ob die Arbeitswelt in der DDR so viel anders war als in der Bundesrepublik. Veränderungen in der Familie und den persönlichen Netzwerken können ebenfalls für den Wandel der Sozialstruktur relevant sein, sofern sie die mit bestimmten Positionen verbundenen, zusätzlichen oder kompensatorischen wirtschaftlichen Aktivitäten außerhalb der Arbeitssphäre berühren 2 . Wir untersuchen sie jedoch hier vor allem im Hinblick auf veränderte Grade und Mechanismen der sozialen Integration. Welche Beziehungen sind stabil geblieben und welche nicht? Was passiert mit den Beziehungen im Arbeitskollektiv als einem Eckpfeiler der sozialen Integration in der DDR? Erweist sich die Familie als stabiler Rückzugsraum in einer Zeit dramatischer Umbrüche und Verunsicherungen? Abschließend fragen wir danach, wie sich verschiedene konkrete Veränderungen in den Lebensbedingungen und Lebensverläufen auf die subjektive Lebensqualität auswirken. Als Indikator verwenden wir unterschiedliche Ausprägungen des Selbstwertgefühls. Dieser Aspekt der Lebensqualität verweist, im Unterschied etwa zu den Zufriedenheiten als stärker situationsspezifischen Bewertungen (vgl. Zapf und Habich, 1994), auf eher längerfristige, tiefergehende Beeinträchtigungen. Hier interessiert uns insbesondere, inwiefern sich Arbeitslosigkeit und berufliche Mobilitätsprozesse sowie Verlusterfahrungen innerhalb des persönlichen Netzwerks nicht nur in eventuellen Unzufriedenheiten, sondern in Beeinträchtigungen der Selbstachtung niederschlagen. Die wichtigste Datenbasis für unsere Untersuchungen ist im Unterschied zu allen vorangegangenen Beiträgen eine im Frühjahr/Sommer 1993 durchgeführte postalische Nachbefragung der Teilnehmer der Hauptuntersuchung. Von deren 2.323 Personen beteiligten sich noch 1.254 Personen. Erfreulicherweise zeigt die realisierte Stichprobe der Nachbefragung im Vergleich zur Ausgangsstichprobe keine bedenkliche Selektivität nach sozialstrukturellen Merkmalen. Beispielsweise entsprechen die Arbeitslosenzahlen fast exakt den amtlichen Angaben. Lediglich jüngere Personen mit einem höheren Bildungsabschluß sind leicht unterrepräsentiert.
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Ein Beispiel ist die in der Mangelwirtschaft der DDR für die Verteilung knapper Güter zentrale Position von Verkäufern. Die sich daraus ergebenden Vorteile für informelle Tauschaktivitäten - das Eintauschen der „Bückware" gegen andere knappe Güter und Gefälligkeiten - fallen jetzt eher weg.
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2. Arbeitsmarkt und Berufsverlauf In einer Aufschlüsselung der ostdeutschen Transformation als Wiedervereinigung hat Karl Ulrich Mayer (1994, S. 308 f.) zwischen drei Aspekten unterschieden: Transformation im engeren Sinne, Institutionenbildung (als Wiedervereinigung im engeren Sinne) und Mentalitätswandel. Unter „Transformation im engeren Sinne" versteht er den Wandel der Sozialstruktur und der damit verbundenen Ungleichheitsstrukturen. Er greift auf die von Smelserund Lipset(1966,S. l - 8 ) e i n geführte Unterscheidung von vier grundlegenden Prozessen zurück, um den noch andauernden Wandel des ostdeutschen Ungleichheitssystems zu erfassen. Der erste Prozeß umfaßt die Abschaffung bzw. die Neubildung von Positionen als Folge des Umbaus der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur, beispielsweise indem neue Berufe entstehen und andere verschwinden (Abschnitt 2.1). Ebenfalls Konsequenzen dieses Umbaus sind zum zweiten Veränderungen in der Zuweisung von Ressourcen an Positionen, so zum Beispiel im Hinblick auf Veränderungen in den Arbeitsbedingungen. Neben diesen beiden Aspekten eines Wandels der Positionsstruktur werden zwei Prozesse einer veränderten Zuweisung von einzelnen Personen in diese Positionen unterschieden. Die sich aus den veränderten Opportunitätsstrukturen ergebende Fluktuation zwischen den „alten" und den „neuen" Positionen erfassen wir als intragenerationale Mobilitätsprozesse (Abschnitt 2.2), die durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Veränderung der Allokationskriterien als den für die Arbeitsmarktchancen relevanten Sozialmerkmalen gesteuert werden. Letzteres untersuchen wir vor allem im Hinblick auf eine Entwertung von verschiedenen in der DDR erworbenen Qualifikationen (Abschnitt 2.3). Diese allein auf individuelle Schicksale konzentrierte Darstellung wird durch die Einbettung individueller Erwerbsschicksale in den Kontext von Partnerschaft und Familie ergänzt (Abschnitt 2.4).
2.1 Veränderungen der Positionenstruktur: Beruf, Status und Arbeitsbedingungen Erwerbsverläufe in Ostdeutschland nach 1989 manifestieren sich als (Nicht-)Bewegungen in einer sich auf mehreren Ebenen transformierenden Positionenstruktur. Dazu gehören zunächst die Abschaffung und Neubildung von Positionen. Eigene Auswertungen mit dem Sozio-ökonomischen Panel Ost machen deutlich, in welchem Ausmaß und in welcher Richtung dies geschieht. So ist der Anteil der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft von 11,7 Prozent im Frühjahr 1990 auf 3,3 Prozent im Jahre 1993 geschrumpft. Im gesamten verarbeitenden Gewerbe sank der Anteil von 30 auf 17 Prozent, besonders drastisch im Textilgewerbe. Auf der anderen Seite stieg der Anteil der Beschäftigten in der Bauwirtschaft von 7,7 auf 13,4 Prozent, im Handel von 8,5 auf 12,1 Prozent, und bei den Gebietskörper-
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Schäften inklusive Sozialversicherung von 5,5 auf 11,4 Prozent 3 . Betrachtet man die berufliche Stellung, so fallen vor allem das Anwachsen des Selbständigenanteils von 3,6 auf 7,6 Prozent sowie der Rückgang der Arbeiter von 41,5 auf 31,3 Prozent ins Auge. Mit dem Übergang von einem staatssozialistischen zu einem wohlfahrtsstaatlich-marktwirtschaftlichen System in Kombination mit einer politischen Angliederung kommt es außerdem zu einer unter Umständen unterschiedlichen „Wertigkeit" einzelner Berufe, etwa im Hinblick auf Arbeitsmarkt- und Mobilitätschancen oder von Entlohnung. Zugleich ändert sich auch die relative Position dieser Berufe zueinander sowie das Ausmaß und die Qualität ihrer Differenz 4 . Für deren Einschätzung scheinen vier Dimensionen relevant zu sein: Einkommen als die wesentliche Gratifikation für Erwerbsarbeit, Prestige als die damit verbundene soziale Anerkennung, Weisungs- und Kontrollbefugnisse bzw. Autonomie als das Ausmaß der mit der beruflichen Position verbundenen Macht sowie schließlich die schattenwirtschaftliche Komponente der mit bestimmten Positionen verbundenen Chancen für Schwarzhandel bzw. den Tausch begehrter und knapper Güter und Dienstleistungen. Da für die beiden erstgenannten Aspekte kaum Informationen zur Verfügung stehen, konzentrieren wir uns auf die beiden letztgenannten. Bezüglich des Einkommens finden wir zwischen verschiedenen beruflichen Positionen kaum gravierende Änderungen in der Rangfolge im Vergleich zur DDR, wohl aber eine stärkere Spreizung (Steiner, 1994). Nach unseren Daten ist lediglich die in der DDR vorhandene bessere Einkommensposition der in der Produktion beschäftigten Arbeiter im Vergleich zu den qualifizierten Angestellten eingeebnet worden. Die Einkommensunterschiede sind allerdings insgesamt weniger stark angestiegen als vielfach prognostiziert und immer noch deutlich geringer als in Westdeutschland (Hauser, 1994), wozu unter anderem die in höheren Einkommensgruppen stärker als in niedrigen greifende 80-Prozent-Klausel beiträgt 5 . Verschiebungen im Charakter von beruflichen Positionen zeigen sich beim Blick auf Veränderungen in einzelnen Arbeitsbedingungen (siehe Tab. 1). Im Unterschied zu den meisten anderen Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich die entsprechenden Angaben auf den Zeitpunkt der Hauptbefragung, also hauptsächlich auf das letzte Quartal 1991 und das erste Quartal 1992. Wir betrachten im
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Dieser Anstieg bei den Gebietskörperschaften ist allerdings zum Teil auf - zeitlich befristete ABM-Maßnahmen zurückzuführen. Im ersten Halbjahr 1993 umfaßten sie 4 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse (Beschäftigungsobservatorium Ostdeutschland Nr. 13/1994). Schließlich kommt hinzu, daß die beruflichen Positionen in den neuen Bundesländern Bestandteil eines gesamtdeutschen Positionengefüges geworden sind, in dem die Ost-AVestDifferenzierung selbst eine Ungleichheitsdimension darstellt (Geißler, 1994). Die Kappung sämtlicher Tariflöhne und -gehälter um 20 Prozent gegenüber Westdeutschland trifft die oberen Einkommensgruppen absolut stärker, so daß die Löhne und Gehälter insgesamt weniger Streuung aufweisen.
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folgenden lediglich solche Personen, die seit Dezember 1989 bis zum Interviewzeitpunkt nicht die Stelle wechselten, und damit nur solche Veränderungen in den Arbeitsbedingungen, die auf ein und derselben Stelle in verschiedenen beruflichen Positionen geschehen sind. Generelle, das heißt positionenübergreifende Antworttendenzen lassen sich bezüglich mehrerer Arbeitsbedingungen ausmachen. Eine Zunahme von Konkurrenz unter den Kollegen, eine Verschlechterung des Verhältnisses zu den Kollegen, eine abnehmende Freiheit in der Einteilung der Arbeit sowie eine breite Zunahme von Ansprüchen und Anforderungen - zum Beispiel an Konzentration, Sorgfalt, berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten sowie an Verantwortung - stehen für den allgemeinen Wandel in der Arbeitswelt (siehe Tab. 1). In dieser Hinsicht haben wir es mit einer umfassenden Veränderung in den Arbeitsbedingungen zu tun, der von mehr oder weniger allen Beschäftigtengruppen so wahrgenommen wird. Bezüglich dieser Kriterien bedeutet der Transformationsprozeß eine allgemeine Veränderung der sozialintegrativen Funktionen des Berufs selbst dann, wenn die betreffenden Personen noch dieselbe Stelle innehaben wie vor der Wende. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß die am meisten geteilte Aussage diejenige ist, daß Streß und Arbeitsdruck seit der Wende zugenommen haben, während die Befragten am unentschiedensten hinsichtlich der Frage sind, ob die Freude an der Arbeit zu- oder abgenommen hat. Diese generellen Antworttendenzen zeigen, in welcher Weise sich das Arbeitsklima insgesamt verändert hat. Auf der anderen Seite gibt es einige deutliche Unterschiede zwischen den Inhabern verschiedener beruflicher Positionen. Sie geben Hinweise darauf, inwiefern bestimmte berufliche Positionen im Vergleich zur DDR ihre relative Bedeutung zu anderen geändert haben. Demnach haben Leitungspositionen in besonderem Maße eine Erhöhung der Anforderungen sowie einen Zuwachs an Weisungsbefugnissen und Autonomie erfahren. Auffallend ist dies bei den unteren Leitungspositionen im Produktionsbereich, die sich jetzt nicht nur einkommensmäßig, sondern auch statusbezogen von Facharbeitern unterscheiden. Facharbeiter klagen in besonderem Maße über eine zunehmende Kontrolle ihrer Arbeit, während Personen in Leitungspositionen sich mit mehr Entscheidungsbefugnis ausgestattet sehen. Wie Tabelle 1 zeigt, geht dies für die unteren Leitungspositionen allerdings mit einer besonders starken Zunahme der Kontrolle der Arbeitsleistung einher. Für die Arbeitsorganisation insgesamt läßt sich daraus recht eindeutig ein Bedeutungszuwachs für Leitungstätigkeiten sowie eine Akzentuierung der Hierarchie im Vergleich zur DDR ablesen. Die für die DDR behauptete, starke Verhandlungsposition der Facharbeiter im innerbetrieblichen Machtgefüge gegenüber ihren unmittelbaren Vorgesetzten (Lötsch, 1990) wird jetzt offensichtlich beseitigt. Suchte man auf der Ebene der Arbeitsbedingungen nach „Verlierern" der Wende, so scheint dies am ehesten die Gruppe der Facharbeiter zu sein. Bis zuletzt war es ja trotz aller Bemühungen nicht gelungen, den einfachen Beschäftigten eine Arbeitskontrolle aufzuzwingen, die den Maßstäben westlicher Produktionskonzepte entsprochen
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