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German Pages 376 Year 2015
Pamela Geldmacher Re-Writing Avantgarde: Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst
Edition Kulturwissenschaft | Band 83
Pamela Geldmacher (Dr. phil.), Medien- und Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie, Geschichte und Praxis performativer Kunstformen, kollektive und partizipative Strategien in Kunst und Gesellschaft, Utopie und Gegenwärtigkeit sowie ästhetische Theorien zur Erschöpfung.
Pamela Geldmacher
Re-Writing Avantgarde: Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation in der Performance-Kunst
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Inhalt
Dank | 9 Einleitung | 11
I. HISTORISCH -BEGRIFFLICHE PROLEGOMENA: DAS P ERFORMATIVE , DIE AVANTGARDE Konstellationen des Performativen | 27
Vorbemerkung | 27 Performance und Performativität | 28 (Live-)Präsenz und (mediale) Wiederholung | 42 Künstler, Zuschauer und (kollektive) Wahrnehmung | 46 All inclusive? Aktuelle Performancepositionen am Beispiel von 12 Rooms | 51 Prozessualität und Archivierung | 59 Konstellationen der Avantgarde | 63
Vorbemerkung | 63 Begriffsgeschichte und Eigenschaften der Avantgarde | 64 Zum Verhältnis von Avantgarde und Moderne | 68 Erste Unterschiede und Gemeinsamkeiten | 69 Avantgarde und Moderne zwischen regulativer Idee und historischer Einordnung | 71 Das Scheitern der Avantgarde als Performativität des Scheiterns | 73
II. P ARAMETER DER AVANTGARDE Fortschritt/Kontinuität | 87
Performatives Tun I: Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder – Der Dritte Weg | 87 Momente des Fortschritts | 94 Der Fortschritt in der Kunst | 95 Der Fortschritt in der historischen Avantgarde | 107 Futurismus I | 109 Exkurs: Das Manifest(e) | 112
Futurismus II | 124 Dada I | 129 Voranschreiten ins Hier und Jetzt | 138 Performatives Tun II: Gob Squad/Campo – Before Your Very Eyes | 145 Utopie/Gegenwärtigkeit | 151
Performatives Tun I: SIGNA – Die Hades-Fraktur | 151 Momente des Utopischen | 156 Das Utopische in der Kunst | 164 Die Utopie in der historischen Avantgarde und Neo-Avantgarde | 174 Surrealismus und Utopie | 177 Surrealistisches, Situationistisches, Utopisches | 196 Die Situationistische Internationale | 197 (Neo-)Avantgardistischer Transfer ins Hier und Jetzt | 201 Performatives Tun II: She She Pop – Schubladen | 203 Künstler/Kollektiv | 211
Performatives Tun I: Andreas Liebmann – Wir – ein Solo | 211 Momente des Kollektiven | 215 Die Gemeinschaft | 217 Der Kollektivkörper | 222 Das Kollektiv | 223 Das Kollektiv in der Kunst | 226 Zum Verhältnis von Künstler und Kollektiv | 229 Veränderte Bedingungen, veränderte Begriffe | 233 Arbeiten im Kollektiv | 239 Künstler und Kollektiv in der historischen Avantgarde und Neo-Avantgarde | 245 Dada II und Surrealismus II-Ausschlussverfahren | 245 Abstrakter Expressionismus/Informel | 251 Die Gruppen COBRA und SPUR | 266 Performatives Tun II: SIGNA – Die Hundsprozesse | 272 Zur Arbeitsweise von SIGNA und einem Rück- und Ausblick künstlerischer Kollektive | 278
Künstler/Zuschauer | 283
Performatives Tun I: Via Negativa – Hunt for the Real | 283 Momente der Partizipation | 289 Das Verhältnis zwischen Künstler und Zuschauer | 294 Über die Ästhetik zur Freiheit | 294 Ein neues Sehen? | 296 Ein performatives Mit-Tun | 301 Künstler und Zuschauer in der Neo-Avantgarde | 309 Fluxus | 312 Happening | 315 Performatives Tun II: Showcase Beat Le Mot – Vote Zombie Andy Beuyz | 326 Résumée | 333 Quellen | 347 Literatur | 347 Fernsehquellen | 371 Bild- und/oder Tonträger | 371 Internetquellen | 372 Programmhefte | 373
Dank
Im Verlauf der letzten Jahre haben mannigfaltige Gedanken, Gespräche, Überlegungen, Recherchen und Zitate in dieser Arbeit ihren schriftlichen Niederschlag gefunden. Dabei hat das umfangreiche Wissenwollen das Projekt allererst angetrieben, gleichwohl wurde das Aus- und Loslassen zur komplizierten Verpflichtung. Ohne meinen Doktorvater, Ratgeber und langjährigen ‚Chef‘ Prof. Dr. Timo Skrandies wäre das Wandeln zwischen diesen Gegensätzen kaum möglich gewesen. Die intensiven Diskussionen, kritischen Einlassungen, motivierenden, geduldigen, vertrauten und unterstützenden Gespräche haben diese Arbeit und mein Arbeiten in all den Jahren zutiefst geprägt, bereichert und geschärft. Seine inspirierende Weise des ‚Aufmerksam-Seins‘ hat darüber hinaus meinen Umgang mit wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen bedeutend verändert. An ihn richtet sich mein herzlichster Dank. Ebendieser gilt meiner Zweitgutachterin, Prof. Dr. Vittoria Borsò. All ihre hilfund lehrreichen Anmerkungen in unseren immerzu anregenden und vertrauensvollen Gesprächen haben an zentralen Stellen in dieser Arbeit ihre Spuren hinterlassen. Die Möglichkeit, derart tief in avantgardistische Betrachtungsweisen eintauchen zu können, verdanke ich ihrem bereichernden Denken. Für die aufwändigen, kritischen und detaillierten Anmerkungen zu meinem Text möchte ich Astrid Lang, Ina Tannenberger, Julia Vomhof, Katharina Kelter, Ilka Mildenberger und Katrin Ullmann von Herzen danken. Katharina Neumann war mir darüber hinaus als Korrektorin dieser Arbeit mit all ihrer Akribie und ihrem fabelhaften Gespür für das geschriebene Wort eine sehr bedeutsame und unverzichtbare Stütze. In inhaltlicher Hinsicht stellen die Beschreibungen der acht Performances einen gewichtigen Anteil in dieser Arbeit dar. Die zu Grunde liegenden Seherfahrungen verdanken sich dabei auch der engen Zusammenarbeit mit dem Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT). Mit Hilfe von Janine Hüsch, Katja Grawinkel und Rebecca Herrmann konnte ich in Kontakt zu den und dem Arbeiten von Showcase Beat Le Mot, She She Pop, Gob Squad, Andreas Liebmann und Via Negativa treten. Die
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Photographien zu den Performances dieser Kollektive, zudem jene von Dorothea Schroeder & Nina Gühlstorff und von Erich Goldmann, der mir gemeinsam mit Arthur Köstler von SIGNA eine große Auswahl an Material zur Verfügung gestellt hat, visualisieren den bedeutungsvollen praktischen Bezug in diesem Buch. Den Künstlern und Photographen bin ich für die Bereitstellung des Bildmaterials überaus dankbar. Dem Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf möchte ich ebenfalls für die Unterstützung in all den Jahren der gemeinsamen Zusammenarbeit danken, allen voran Prof. Dr. Andrea von Hülsen-Esch, die mir zudem mit einer einsemestrigen Arbeit am Graduiertenkolleg Materialität und Produktion (GRK 1678) eine spannende und produktive Möglichkeit zur Nuancierung meiner Arbeit ermöglicht hat. Darüber hinaus geht mein Dank an Anne Friedrich, Dr. Hans Malmede, Ömer Alkin, Prof. Dr. Jürgen Wiener und Prof. Dr. Bernhard Dieckmann, die mir mit Ihrem offenen Ohr und ihrem Humor insbesondere beim Durchwandeln jener Täler zur Seite gestanden haben, durch die es wohl jeden angehenden Dr. phil. ab und an treibt. Gleiches gilt für meinem engsten Freundeskreis bei dem ich neben der tiefen Verbundenheit den steten Rückhalt immerzu gespürt habe. Danke dafür. Mein liebevollster und innigster Dank geht an meine Eltern und meine Schwester Jennifer mit Dominik und Ben. Nie sind sie müde geworden, mir Mut und Kraft zuzusprechen, mich ihr Vertrauen spüren zu lassen, aufzufangen oder abzulenken. Es ist ein unschätzbarer Wert und ein großes Glück, dass ich mir der Liebe und Unterstützung meiner Familie so sicher sein kann.
Einleitung
„Bist du mit deinem Aussehen zufrieden?“, „Findest du dich eitel?“, „Schaust du oft in den Spiegel?“ Die Fragen, die die Performerin des belgischen Kollektivs Ontroerend Goed den Besuchern der Performance A Game of You1 stellt, beziehen sich auf Äußerlichkeiten und betreffen doch das sensible Feld des Selbstbewusstseins, der Selbsteinschätzung, der Selbstwahrnehmung. Was zeigt man nach außen, wie will man gesehen werden, wie sieht man sich selbst? Die intime Eins-zu-Eins-Situation in den sechs, durch dicke, schwere Vorhänge voneinander abgetrennten Kammern, die einzeln von den Besuchern durchlaufen werden, lässt eine erste vorsichtige Antwort zu und ist Startsignal für weitere Fragen seitens der Performer. Zuvor sieht sich der Besucher2 im beengten Raum der ersten Kammer minutenlang mit seinem Spiegelbild konfrontiert. „Enjoy yourself“ steht auf dem Spiegel und bezieht sich auf die daneben aufgestellten Playmobilfiguren, ein Glas Wasser und einen Block mit Stift, der zur Kritzelei auffordert. Erst im Verlauf wird der Besucher erfahren, dass der Spiegel nicht nur das Spiegelbild zurückwirft, sondern die darin integrierten Kameras alle Eintretenden filmen und diese Videos an anderer Stelle abgespielt werden. In der letzten Kammer schließt sich dann der Kreis, wenn der Blick des einen Teilnehmers von der Spiegelrückseite aus auf den in die erste Kammer eintretenden nächsten Teilnehmer fällt, der von seinem Betrachter natürlich (noch) nichts weiß. Das immer aufdringlichere Gefühl beobachtet zu werden, verstärkt sich im Verlauf der Performance, verbleibt anfangs ohne Beweismittel jedoch nur im Bereich der 1
Die Performance A Game of You von Ontroerend Goed fand am 03. Mai 2013 in der Spielstätte Juta im Forum Freies Theater in Düsseldorf statt.
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In dieser Arbeit wird von einer Geschlechtsspezifizierung (beispielsweise Performerin und Performer, oder BesucherIn) abgesehen und die verallgemeinerte Variante des Performers, Zuschauers, Betrachters etc. verwendet, so lange es nicht um eine konkrete Beschreibung geht, wie mitunter in diesem einleitenden Einstieg der Performance von Ontroerend Goed.
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Vorahnung. Die Sorge, beim Sich-Beobachten beobachtet zu werden, scheint darüber hinaus die Unsicherheit der teilnehmenden Besucher zu erklären, die sich nur zögerlich trauen, in den Spiegel zu schauen oder sich darin länger zu betrachten. Auch die Playmobilfiguren bleiben meist ungenutzt, lediglich der Block wird mehrfach zum Schreiben oder Zeichnen in Anspruch genommen. Als eine junge blonde Performerin sich auf den zweiten Stuhl in dem kleinen Eingangsraum setzt und mit „My name is Christoph, what’s your name?“ vorstellt, nimmt die undurchschaubare Durchleuchtung des Teilnehmers seinen Lauf, die erst im letzten Raum mit dem Blick auf die Nachfolgenden zum Stehen kommt. Ungefähr fünf Minuten verharren die Teilnehmer in den einzelnen Kammern, dann ertönt eine Klingel und die Räume werden gewechselt. Nach der Auseinandersetzung mit dem eigenen Spiegelbild und den Fragen nach dem Befinden in dieser konfrontativen Situation mit sich selbst, wird der Projektor angeworfen und der Besucher schaut sich selbst zu. In Großprojektion zeigt das Video das eigene Verhalten vor dem Spiegel und das Gespräch mit dem/der Performer/in Christoph. Noch unter dem Eindruck der eigenen Reaktionen stellt die Performerin im Raum Fragen nach eben diesem Verhalten und möchte wissen, was man an sich möge, was verbesserungswürdig erscheine und womit es sich gut leben ließe. Das Alter Ego in Wandgröße vor sich zu haben ist beklemmend und veranschaulicht, dass es sich um eine seltene Begegnung handelt. Nach dem Blick auf das Selbst folgt in der nächsten Kammer jener auf einen Anderen. Es folgen Fragen zu dem nun vor dem Spiegel Sitzenden: Wie könnte er oder sie heißen, welchen Beruf ausüben? Wie alt ist die Person, wie zufrieden, glücklich oder (unglücklich) verliebt? Der Befragte wird aufgefordert, eine Geschichte um den Fremden herum zu entwickeln und sich mitunter darüber Gedanken zu machen, ob die projizierte Person Freunde hat, wie beliebt sie ist, oder was sie im Moment der Aufzeichnung umtreibt. Ohne ein Wort mit dieser Person gesprochen zu haben, nimmt die fiktive Persönlichkeitskonstruktion ihren Lauf und konfrontiert den Konstrukteur mit der Vermutung, dass kurz davor oder danach irgendjemand anderes ihn selbst zu jemand anderem gemacht hat. Hier nun wird der imaginierte ‚Stephan‘, dem eine gewisse Hektik und ein Perfektionismus zugeschrieben werden, stummes Objekt der Observation. Nachdem in der darauffolgenden Kammer auf einem kleinen Stuhl Platz genommen wurde, klingelt das eben dort angeschlossene Telefon. Besagter Stephan ist am Apparat und verwickelt den Teilnehmer in ein Gespräch in dem er sich widerholt auf die Referenzpunkte bezieht, die in der ‚Selbstbeschreibungskammer‘ preisgegeben wurden. Es ist die Konfrontation mit dem eigenen und dem konstruierten Selbst, die ein Nachdenken über das komplexe Verhältnis zwischen subjektivem Anspruch und tatsächlicher Außenwirkung ebenso in Frage stellt wie ad hoc formulierte Vorurteile gegenüber Gestik, Mimik und Aussehen etwaiger Gegenüber. Nach einer kurzen Station in der technischen Schaltzentrale des Performancekollektivs Ontroerend Goed, das die nächste, weitaus größere Kammer
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darstellt, wird anhand zweier dort aufgestellter PCs, eines Mischpultes und zahlreicher Aufnahme- und Abspielgeräte unmissverständlich klar, dass all das in der Performance Gesagte nicht im Raum verhallt, sondern dauerhaft abspielbar bleiben wird. Die Performance endet in dem eingangs beschriebenen Raum hinter dem Spiegel, der dem Teilnehmer zum Abschluss den Blick auf die erste Kammer freigibt. Die dort sitzende nächste Teilnehmerin erhält nach scheuem Blick in den Spiegel Besuch von dem sie beobachtenden Teilnehmer, der hinter der Spiegelwand sitzt. Nicht in Persona, sondern vermittelt durch die Performerin, die den Teilnehmer durch alle Kammern begleitet hatte. Sie gibt sich fortan mit dessen Namen aus und wird auf der anderen Seite der Wand, im Gespräch mit der neuen Besucherin zu seinem realen Avatar. Ohne zu Zögern plaudert sie ungehemmt über jene Details, die ihr in den vergangenen circa dreißig Minuten anvertraut wurden. Unbeobachtet oder privat war und ist in A Game of You nichts und jeder Einzelne einer Öffentlichkeit ausgesetzt, die das reale Sprechen und Handeln als Drehbuch für eine neue Fiktion innerhalb der Performance verwendet. Ontroerend Goed konfrontieren den Ko-Akteur nicht nur mit der Aufgabe, sich innerhalb eines gegenwärtigen Kunstrahmens mit der Konstruktion der eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, sondern konzipieren darüber hinaus ein performatives Szenario, in dem die am Ende ausgehändigte CD mit der Fremdbeschreibung eines anderen Besuchers über einen selbst als digital reproduzierte, zugeschriebene Identität eine völlig neue Realität herstellt. Die Performer bedienen sich der Konzeption Orwells, geben ihr einen technisch novellierten Anstrich und lassen die real gewordene Dystopie des Überwachungsstaates auf reflexive Weise für jeden Einzelnen produktiv werden. Grundlegendes und Methodisches Am Beispiel von A Game of You zeigt sich exemplarisch, worum es in dieser Arbeit gehen wird, wenn von Parametern der Avantgarde die Rede ist, die einer neuerlichen Betrachtung unterzogen werden. Warum aber Parameter und welche sind gemeint? Mit Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation stellen sich Felder der Avantgarde dar, die nicht nur wesentliche Charakteristika dieser transportieren, sondern umgekehrt von der künstlerischen Avantgarde seit der Jahrhundertwende (19./20. Jhd.) geprägt, überformt und neu ausgerichtet wurden. Begegnet man der Avantgarde in diesem Sinne weniger als chronologisch zu erfassendem historisierten Modell und vielmehr als gelebter Praxis, der wiederum die Verschränkung von theoretischem Diskurs und kultureller Praxis zugrunde liegt, so zeigt sich, dass die Avantgarden eine maßgebliche Rolle in der Beschreibung heutiger ästhetischer Phänomene spielen. Vielfach ist dabei von einer ‚toten‘ Avantgarde die Rede und der Diskurs darüber umfassend geführt worden, doch statt einer neuerlichen Aufbereitung dieser Debatte erscheint mir die Fokussierung auf die in den Avantgarden
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entwickelten Praktiken notwendig, die ihre Energien keineswegs ad acta gelegt haben. Dass die Avantgarden ihrer permanenten Infragestellung nicht aus dem Weg gehen können, ist dahingegen gewiss. Mit ihrem Vorhaben, die Gegenwart zu stabilisieren und sie als Sprungbrett für die Zukunft zu nutzen, wussten sie sich von Beginn an in einem Hier und Jetzt verankert, das demgemäß in der Gegenwärtigkeit keinen Bestand haben konnte. Jedwede Nachhaltigkeit musste sich deshalb von vorneherein ausschließen. Diese Vermutung basiert auf der Grundannahme von zwei Gegenwarten: Einer, die das Gegenwärtige stabilisiert und betont, um das Zukünftige zu bestärken und einer, die das Hier und Jetzt als Hier und Jetzt lebt, sich performativ in diesem konstituiert und es dann auch dort liegen lässt und weiterschreitet. Die Avantgarden betonen, dass etwas noch nicht geworden ist, festigen die Gegenwart für eine Zukunft, aber eben nicht für die Gegenwart selbst. Wenn wir beginnen, heute über Avantgarde nachzudenken, wenn wir also redigierend ansetzen, dann müsste von einer veränderten Avantgarde gesprochen werden, die die Präsenz als Wiederkehr der historischen Avantgarden, des Vergangenen begreift und weitertreibt, aber eben immer nur für den Moment des Vollzugs. Das Präsente ist dabei der Vollzug, der gleichzeitig immer auch ein Nachvollzug der historischen Avantgarden und deren differenter Parameter ist. Ein Vollzug, der das Gewicht der Vergangenheit anerkennt und das ‚Fort-Da‘ gleichwohl permanent erlebt und auslebt. Was also bei einer erneuten Hinwendung zum Begriff der Avantgarde nicht mehr ausbleiben kann, sind die Beschreibungen all jener performativen Prozesse, die uns auf vielfache Weise in den Künsten begegnen und die in diesem Zusammenhang genauer zu untersuchen sein werden. Was geschieht, wenn wir die Avantgarden und zeitgenössischen Performanceproduktionen miteinander ins Gespräch bringen und überprüfen, welche Wirkweisen und Konzeptionen unabhängig von temporären Verschiebungen relevant sind oder nicht? Welche Verbindungslinien lassen sich finden und welche Abgrenzungen sind auszumachen? Lesen wir die Avantgarden unter diesen Vorzeichen neu, so schließt sich die Frage an, welche ihrer Elemente als vornehmlich zu kennzeichnen sind und welche Strategie angewendet werden muss, um diesem Begriff eine Handhabbarkeit zu verleihen, die einen Transfer zu zeitgenössischen Phänomenen innerhalb performativer Kunstformen gestaltet, ohne zum Verwirrspiel zu werden. Die Not der ersten Desorientierung soll methodisch insoweit zur Tugend werden, als dass eine lineare Vorgehensweise für die vergleichende Auseinandersetzung zwischen den künstlerischen Praxen innerhalb der historischen Avantgarde mit denen der zeitgenössischen Kunst ausbleiben wird. Stattdessen erweisen sich besagte Parameter als ein Handwerkszeug, um der Vielfältigkeit der Avantgarden beizukommen und sie für die zeitgenössische Performance-Kunst übersetzbar zu machen. Damit wird den einzel-
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nen avantgardistischen Ismen3 statt in einer chronologischen Abfolge mit inhaltlichen Feldern begegnet, die das kreative Tun der künstlerischen Bewegungen der Avantgarde mitbestimmt haben, gleichzeitig aber auch ihre Kontrapunkte mitdenken und deshalb in dieser Arbeit als Oppositionspaare die Kapitel einfassen. Eingedenk der Annahme, dass sich die gelebte Praxis der Avantgarde durch diese Parameter konkreter bestimmten lässt, werden Utopie und Gegenwärtigkeit, Künstler und Kollektiv, Fortschritt und Kontinuität sowie Künstler und Zuschauer zu Komponenten, die in den meisten künstlerischen Bewegungen der Avantgarde auszumachen sind. Der Übersicht halber habe ich mich innerhalb dieser künstlerischen Bewegungen für jene entschieden, die mir für das ‚ins Gespräch bringen‘ mit heutigen performativen Arbeiten am prägnantesten erscheinen und die ihre performativen Kunstpraktiken bewusster in den Vordergrund stellten als andere Avantgardebewegungen. Somit ist diese Auswahl keinem Ausschlussprinzip gefolgt, vielmehr ergibt sie sich im Sinne der Kohärenz und Übersichtlichkeit. Futurismus, Surrealismus, Dadaismus, abstrakter Expressionismus und Informel, Situationistische Internationale, Happening und Fluxus sind in dieser Arbeit als vornehmliche Untersuchungsbereiche der Avantgarde zu nennen, wohlwissend, dass Bauhaus oder Expressionismus, De Stijl oder Suprematismus damit nicht nicht hinsichtlich ihrer performativen Ästhetik zu beschreiben wären. Oben genannte Ismen geraten viel eher über ihre Zuspitzung in den Blick, die sie hinsichtlich der Dualität aus Parameterzuordnung und performativer Beschreibbarkeit entwickeln. Hier zeigt sich ebenso: Den Futurismus dem Fortschritt anheimzustellen bedeutet keineswegs, ihn nicht auch auf sein utopisches Potential hin abzuklopfen. Eine solche doppelte Verschränkung wird in dieser Arbeit ausbleiben, um konzentriert und exemplarisch einzelne Ismen den ausgewählten Parametern zuzuordnen und im Zuge dessen mit heutigen Performances in Kontakt zu bringen. Das gilt auch für die begriffliche Ausarbeitung der Parameter. Ich werde mich dabei immer an den im Titel der Arbeit verwendeten Hauptbegriffen orientieren und hierfür Definition und Analyse vornehmen. Für die Gegenwärtigkeit und die Kontinuität gilt, dass diese keine begrifflich dezidiertere Bestimmung erfahren, jedoch essentiell für die Begründung und Seinsweise von Utopie und Fortschritt sind. In den Kapiteln zum Künstler und Kollektiv, sowie Künstler und Zuschauer, gehen die Begriffe innerhalb der Analyse so stark ineinander über, dass eine getrennte Annäherung an die Termini keinen Sinn ergäbe. Die Volatilität der Avantgarde lässt sich gleichwohl nur über diese Gegenüberstellung erschließen, zieht sie daraus doch Kraft und Bedrohung zu3
Der Begriff des Ismus wird im Kapitel Begriffsgeschichte und Eigenschaften der Avantgarde aufgegriffen. Bereits hier sei gesagt, dass mit Ismen jene (künstlerischen) Bewegungen gemeint sind, die ihre gemeinsame Haltung und daraus resultierende Ziele zumeist in einem Manifest zusammentrugen, um diese hernach öffentlich zu verankern.
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gleich. Für dieses fragmentierte Arrangement der Arbeit ergibt sich demnach, dass die ausgewählten Parameter der Avantgarde quer durch die Ismen verhandelt werden können und somit als methodischer Überbau funktionieren, der die einzelnen Bewegungen flexibel aufgreifen, näher konturieren und verknüpfen kann. Ziel ist es, ein rein affirmatives Zugeständnis an die Einteilung der Avantgarde in festschreibenden Ismen zu umgehen und stattdessen im wissenschaftlichen Diskurs eine alternative Herangehensweise vorzuschlagen, ohne dabei die historisch bestehende Rezeptionsgeschichte zu relativieren. Die Performancebeispiele wiederum sind einem Fundus an Seherfahrungen der vergangenen Jahre entnommen. Die teilnehmende und auch teilhabende Beobachtung überantwortet in der Beschreibung der Performances diese Subjektivität einer inhaltlichen Aufbereitung der Parameter. Das heißt, dass eine detaillierte Begriffsklärung jedem Parameter-Kapital vorangehen wird, um in der Folge die Übertragung auf die einzelnen Ismen der Avantgarde und die zeitgenössischen Performances vornehmen zu können. Die Herangehensweise wird hier unterschiedlich sein, da sich die Betrachtung der zeitgenössischen Arbeiten sehr konkret über eine genaue Beschreibung entwickeln wird, die einzelnen avantgardistischen Bewegungen jedoch über einen allgemeineren Blick auf ihre inhaltlichen und praktischen Verfahrensweisen nachvollzogen werden. Die subjektive Seherfahrung soll die theoretische Aufbereitung der Avantgarden nicht verschlingen und umgekehrt gilt, dass die Rezeption historischer Kunstformen nicht im Live-, sondern im Nachvollzug erfolgt und dadurch trotz der fehlenden „autopoietischen Feedback-Schleife“ (Fischer-Lichte 2013: 55) nicht weniger, vielmehr alternativ gewichtet wird. Der historisierende Vergleich ist somit bereits zu Beginn dem Ende geweiht und soll vielmehr ersetzt werden durch einen Modus, Avantgarde und Performance als miteinander zu verknüpfende Felder zu verstehen, die nicht über Linearität oder Chronologie miteinander in ein Verhältnis gesetzt werden, sondern über die genannten Parameter. Begründen lässt sich eine solche Herangehensweise über das Performative selbst, dessen Ursprünge in John L. Austins Sprechakttheorie liegen und das geprägt wird durch die künstlerischen Interventionen der Performance Art in den 1970er Jahren, mit denen sich die Debatte um den performative turn verknüpft, die sich auf folgende performative Ästhetiken und das Verhältnis von Performance und Performativität ausgewirkt hat und weiter auswirken wird. Waren die Künste also bereits in der historischen Avantgarde nicht von der genannten performativen Praxis zu lösen, fanden dort gar ihren Ursprung, so stellt sich die Frage, weshalb ein Sprechen über die Avantgarden diese Performativität nicht einschließt. Warum haftet diesem Sprechen weiterhin das bereits genannte Stigma an, sich im selben Moment der Manifestierung ihrer eigene Aporie, ihrem eigenen Scheitern eingeschrieben und selbst überholt zu haben? Welche Gründe lassen sich dafür anführen, dass die einzelnen Ismen vielfach keinen Ausweg fan-
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den, dem eigenen Ende eine Neuausrichtung entgegen zu setzen? Wie ist ergo eine Thematik zu überdenken, die per se die Grenze als stets zu erneuernde versteht und der die Stillstellung diametral entgegensteht? Die performativen Künste erweisen sich hierfür nicht nur als tragfähig, weil ihnen das Verhältnis zwischen Hervorbringung und Stillstellung gleichermaßen inhärent ist, sondern auch weil sie die durch die Avantgarden eingeleitete Gattungsüberschreitung im Sinne einer Entgrenzung fortschreiben. Die Volatilität der Avantgarde zeigt sich in all diesen kritischen Fragestellungen und scheint deshalb der folgerichtige Ansatzpunkt zu sein, um die darin liegenden Fallstellen konkret herauszuarbeiten und genau hier einer alternativen Aufarbeitung und Bewertung ihrer möglichen Potentiale für die zeitgenössische Kunst nachzugehen. Zu fragen ist, wie heutige Künstler und Kunstkollektive mit diesem Wissen um das Scheitern umgehen und welche Optionen die performative Prozesshaftigkeit den Künsten für das Überwinden bereitstellt. Wie arbeiten zeitgenössische Künstler eingedenk der avantgardistischen Wegbereiter und was macht das wiederum mit dem Begriffsfeld der Avantgarde selbst? Überlegungen wie diese sind immer wieder im Diskurs über die Avantgarde auffällig geworden. Um eine genaue Verortung der Avantgarden innerhalb aktueller künstlerischer Fragestellungen zu erzielen, ist eine Fokussierung wichtig, die sie hinlänglich von einem Verblassen oder Verschwinden löst und sie vielmehr als weiterhin aktives und praxisorientiertes Reservoir begreift und zu diskutieren versucht. Die Performativität ist als Dreh- und Angelpunkt für die sich daraus erschließende Analyse sinnvoll, weil sie eine Stillstellung, eine Setzung oder einen finalen Endpunkt von vorne herein nicht zulässt. Ihre Gefahr liegt jedoch im vermeintlich immerzu produktiven ereignishaften Wiederholen bestimmter Prozesse und Praktiken. Wie die Ismen einerseits und die zeitgenössischen Künstler andererseits einer dadurch immer auch möglichen Perpetuierung und Festschreibung begegnen können, wird zu zeigen sein. Die Überschrift dieser Arbeit ist somit auf eine ganz spezifische Weise Programm: Das Re-Writing ist angelehnt an die von Jean-François Lyotard aufgeworfenen Begriffe des Redigierens und Durcharbeitens. In seinem Vortrag Réécrire la modernité4, den er im April 1986 an der University of Wisconsin-Madison hielt, entwickelte er seinen Postmoderne-Diskurs, dessen Programmatik in meinem Buchtitel abstrahiert ist, um nicht das Vorhaben zu suggerieren, sich in ebendiesen Dis-
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Lyotard weist in seinem Vortrag von 1986 unter anderem darauf hin, dass „Kathy Woodward und Carol Teneson vom Center of XXth Century Studies in Milwaukee“ den Titel „angeregt“ (Lyotard 1988: 5) hätten.
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kurs miteinzuschreiben.5 In dieser Arbeit werden über Lyotards Idee des Redigierens und Durcharbeitens hinaus vielmehr die performativen Kunstformen ins Zentrum gelangen, mit Hilfe derer die avantgardistischen Parameter in eine neue Perspektive zu setzen sind. Avantgarde und Performance mit Hilfe ausgesuchter künstlerischer Beispiele miteinander zu konfrontieren und darüber eine Neuschreibung der avantgarden Parameter Utopie, Fortschritt, Partizipation und Kollektiv vorzunehmen erscheint nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, um Varianz, Zielsetzung und Wirkmächtigkeit von zeitgenössischen performativen Kunstformen näherzukommen und diese einordnen und überprüfen zu können. Aufbau und strukturelle Anordnung der Arbeit Als sogenannte Vorbedingung für ein solches Vorgehen möchte ich unter dem ersten Großkapitel Historisch-begriffliche Prolegomena die Begriffsklärung von Avantgarde und Performance vornehmen, um ein wichtiges Vorverständnis für das Folgende zu entfalten. Eine Beschränkung der Gattungen wird dabei von vorne herein ausgeschlossen. Über Jahrzehnte haben sich die Begriffe von Theater und Performance überlagert und Musik, Installationen oder Video Art immerzu variabel inkludiert. Gerade weil die performativen Kunstformen spätestens seit dem Abstrakten Expressionismus auch mit der Malerei zu verknüpfen sind, ist eine hermetische Abgrenzung der unterschiedlichen Kunstrichtungen innerhalb der Performance schwerlich aufrechtzuerhalten. Das lässt sich mit einem Verweis auf eine Arbeit des neuen Intendanten der Münchner Kammerspiele und vormaligen künstlerischen Leiters des Berliner HAU, Matthias Lilienthal, konkretisieren. Der ehemalige Dramaturg unter Frank Castorf steht stellvertretend für die Auflösung vermeintlich klassischer Strukturen an Stadttheatern, in denen feste Ensembles oder historischer Dramenstoff zum ‚Inventar‘ gehör(t)en. Am HAU etablierte er bis zu seinem Wechsel 2014 „eine Art Dauerperformance“, die aus „Tanz, Film, Architektur, Bildende[r] Kunst, Musik, Doku-Theater, Re-enactments, urbane[n] ‚Exkursionen‘ und ‚Interventionen‘“ (Dössel 2013: 13) bestand und der die Konzentration auf nur eine einzige dieser Kunstformen bewusst abhandenkam. Die Zusammenarbeit mit Künstlern jeder Gattung, die außerhalb eines Theaterkontextes stehen, wird seither in fast allen Stadttheatern forciert und in dieser Einleitung konturiert, um von Anbeginn zu verdeutlichen, dass das Festhalten an einer lediglich der theatralen Praktik oder der Performance Art zugeschriebenen Zuordnung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Mehr noch bilden für Performancekünstler Galerien und Museen verstärkt Anknüpfungspunkte, um sich der Idee einer versetzten Temporalität 5
Siehe für eine weitergehende Beschäftigung mit Lyotard, insbesondere auch der Kritik am Postmoderne-Begriff, neben dem Kapitel Konstellationen der Avantgarde vor allem: Lyotard 1988; Lyotard 1999.
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auszusetzen. Für den bildenden Künstler, Performer und Musiker Ragnar Kjartansson erweist sich beispielsweise die Tate Modern als jener Ort, über dessen Räumlichkeit seine Arbeiten erst den Anstrich des Unerwarteten, des Flexiblen, des Überraschenden entwickeln können. Lilienthal begründet dies mit der fehlenden Anwesenheitspflicht an bestimmten Orten im Museum, welche der Theaterraum dagegen implizit auferlege. In der Galerie oder dem Museum sei dem Besucher viel eher freigestellt, wie lange er wo verweile. Indem die Performance die theatrale Rahmung verlasse, verlagern sich auch Zeit, Raum und Material in ursprünglich anderweitig konnotierte Kunstkontexte. Statt diesen jedoch lediglich in Opposition zu begegnen, geht es heutzutage vielmehr darum, die dort vorgefundenen Ressourcen aufzugreifen, um alternativen ästhetischen Prinzipien nachzuspüren (vgl. Dössel 2013: 13).6 Um an diese Gedanken anschließend einen möglichen Transfer avantgardistischen Tuns in das Hier und Heute schlüssig zu gestalten, möchte ich mich deshalb an den genannten ästhetischen Parametern orientieren. Das bedeutet, dass es um das Herauslösen von Begriffen aus den unterschiedlichen Ismen geht, die nicht nur Charakteristika der künstlerischen Avantgarden, sondern repräsentativ für avantgardistische Potentiale im Allgemeinen sind. Ausgehend von der ganz grundsätzlichen Definition der Avantgarde, die eine „Vorhut oder Vorausabteilung einer Armee, einen kleinen, schnellbeweglichen Verbund [beschreibt; PG], dessen Aufgabe es ist, in unbekanntes Gelände vorzudringen, mit dem Gegner Fühlung aufzunehmen und die Marschwege für die nachrückenden Hauptstreitkräfte aufzuklären[,]“ (Holthusen 1964: 5)
lässt sich der Übergang zum ersten Parameter-Kapitel beschreiben, welches das Großkapitel Parameter der Avantgarde einleiten wird. Denn das Fortschreiten ist diesem Zitat Holthusens ebenso gemein wie das Vordringen in unbekannte, neue Regionen. Wo aber liegen diese? Und ist das Ziel bereits Bestand jener Überlegungen, die am Startpunkt initiiert wurden? Gibt es überhaupt ‚Ziele‘ oder geht es um die Wege? Was bedeutet ‚neu‘ im Kontext einer künstlerischen Bewegung, die im Prinzip nur aus diesem Neuen bestehen möchte – und was macht das mit dem Alten? Wann kann von Neuem gesprochen werden und welche Reibungsflächen eröffnen sich in dem Moment, in dem der Vergänglichkeit die Existenzberechtigung gewissermaßen abgesprochen wird? Welche Auswirkungen hat eine Kunst, die sich dem steten Fortschritt verschreibt, auf das Revolutionäre? Das Unangepasste, Zer6
Lilienthal und Kjartansson diskutieren obige Thematik in der am 05. Januar 2014 ausgestrahlten ARTE-Sendung Durch die Nacht mit… Chris Dercon und Matthias Lilienthal (2013).
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störerische, Umstürzlerische, gleichwohl das Neuschaffen, Wandeln und Voranschreiten gehen damit einher und mit Eduard Beaucamp zeigt sich, dass die avantgardistische Idee auf „Geschichtsüberwindung, auf permanente Gegenwart beziehungsweise reine Zukunft, auf das Neue und das Absolute“ (Beaucamp 1976: 258) ausgerichtet ist. Mit der Idee des Fortschritts und der Kontinuität als erstem Parametergegensatz der Avantgarde lässt sich ein Bereich in Augenschein nehmen, welcher vielfältige Potentiale, aber ebenso viele Schwierigkeiten sichtbar macht. Das avantgardistische Prinzip ist ohne die permanente Neuausrichtung nicht zu denken, und doch stellt eine Akzentuierung des Neuen die Langfristigkeit einer Bewegung immerzu in Frage, da die Konzepte des Abschieds und des Zurücklassens dem Neuen und Fortschrittlichen gleichermaßen eingeschrieben sind. An den performance-praktischen Einstieg von Nina Gühlstorffs und Dorothea Schroeders Performance Der Dritte Weg schließt sich die begriffliche Annäherung an. Über die historischen Avantgardebewegungen des Kubismus, Futurismus und Dadaismus wird der Weg dann über einen Exkurs zum Manifest bis zu den zeitgenössischen Positionen weiterbeschrieben. Das Kapitel endet mit einer ähnlichen performativen Beschreibung, mit der es begonnen hat, diesmal am Beispiel der Performance Before Your Very Eyes von Gob Squad/Campo. Durch die Verfahrensweise, mit praktischen Seherfahrungen die Großkapitel zu beginnen und zu beenden soll die theoretische Herleitung der Parameter an eine Rezeptionsperspektive geknüpft und auf diesem Weg praktisch eingebettet und vergegenständlicht werden. Um herauszufinden, inwiefern die Parameter der Avantgarde heute aufgegriffen und möglicherweise erweitert werden, ist das dezidierte Eintauchen in die Praxis unerlässlich. Der zweite Parameter versteht sich als eine Art Oppositionspaar, welches tiefer verschränkt ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit Utopie und Gegenwärtigkeit werden zwei Gegensätze in Verbindung gebracht, die die Handlungen zahlreicher avantgardistischer Künstler maßgeblich beeinflusst haben. So wurde mittels künstlerischer Aktionen in die Gegenwart eingegriffen, um die Zuschauer in ihrem Alltag zu erreichen, einzubeziehen und sie für bestehende soziopolitische Umstände zu sensibilisieren. Kunst zu leben und im Alltag zu verankern war und ist ohne ein Bekenntnis zur Gegenwärtigkeit, zum Tun im Hier und Jetzt, nicht denkbar. Und doch verschrieben sich zahlreiche Ismen gleichwohl einer Utopie, einem ‚(Nicht-)Ort‘, auf den man sich zubewegen wollte. Indem die Künstler der Avantgarde „die fiktiven Lebensformen der Zukunft ins Präsens holten […] waren die Avantgarden utopisch und die Utopien avantgardistisch.“ (Münz-Koenen 2009: 352) Derart hegten die Futuristen beispielsweise den Wunsch, eine Welt ohne Zeit und Raum in purer Geschwindigkeit zu bewohnen, die sich dem Unmöglichen stetig annähern und mit Hilfe des technischen Fortschritts nicht zurückblicken sollte. Die utopische Vision war ohne die gegenwärtige Bezugnahme zum kriegstechnologischen Status quo nicht denkbar, mehr noch verlagerten die italienischen Futuristen durch die Unterstützung des diktatorischen Regimes Benito Mussolinis, ihre po-
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litische Tatkraft in die Gegenwart. Der vermeintliche Widerspruch utopischer Visionen und gegenwärtiger Handlung führte nicht nur bei den Futuristen zu Irritationen. In dem Kapitel soll deshalb konkret auf diese eingegangen werden. Dabei rückt nicht nur der Aspekt der Zeitlich- und Räumlichkeit in den Blick, sondern auch die Frage, inwieweit sich Utopie und Gegenwärtigkeit ausschließen oder miteinander wirkmächtig werden können. Das Performancekollektiv SIGNA wird als eröffnendes Exempel mit der Arbeit Die Hades-Fraktur genutzt, um das Utopische zu beschreiben und pars pro toto an Surrealismus und Situationistischer Internationale aufzuzeigen, bevor die Besprechung von She She Pops Performance Schubladen das Kapitel praxisbezogen abschließen wird. Der Performer Andreas Liebmann offeriert mit Wir – ein Solo die Bühne für die Auseinandersetzung mit dem dritten Parameter, in der sich die theoretische Betrachtung auf das künstlerische Wirkungsfeld verdichtet. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Künstler und Kollektiv betont den Wandel innerhalb der Kunstgeschichte, der mit den Avantgarden eine neue Wendung erhielt. Das Genie, die Vorstellung von einem singulär agierenden Künstler, der sein Werk gestaltet, geriet mehr und mehr in den Hintergrund. Betont wurden dahingegen kollektive Denk- und Kreativitätsrahmen, die Raum ließen für kollektive und gattungsübergreifende Zusammenarbeit. Existente Grenzziehungen zwischen Malerei, Performance, Musik, Skulptur und Architektur wurden untergraben und stattdessen versucht, synergetische Effekte zu kreieren, die ganz neue Rezeptionsmodelle eröffneten. Mit einer Gruppe neue künstlerische Methoden zu entwerfen, entwickelte sich während der historischen Avantgarde zu einer prägenden Haltung. Dabei spielte das angesprochene Manifest als literarische Form eine wichtige Rolle des Selbstentwurfs und der Selbstdarstellung. Jenen darin anvisierten Versuch, mit einer ‚WirAttitüde‘ das bürgerliche Gesellschafts-Gegenüber zu erreichen, griffen fast alle Avantgardebewegungen auf. Nichtsdestotrotz folgte die avantgardistische Gruppe meist einer Führungsfigur, so beispielsweise Filippo Tommaso Marinetti bei den Futuristen oder dem Surrealisten André Breton. Beide Künstler stehen im Rückblick jedoch stellvertretend auch für all jene Konflikte, die sich zwangsläufig aus diesem Künstler-Kollektiv-Verhältnis ergaben. Aus Bretons und Marinettis intellektueller Schlagkraft resultierte sehr bald der schleichende Prozess, die Macht erhalten und rigoros vereinnahmen zu wollen. Eigenmächtig gaben sie den Gruppenmitgliedern Dogmen und Normen vor, denen Folge zu leisten war, wollte man die Zugehörigkeit zur Gruppe nicht aufs Spiel setzen und dem Ausschluss anheimfallen. Mit einem heterogenen Verbund hatten diese Gruppenstrukturen nicht mehr viel zu tun. In diesem Kapitel wird deshalb zu fragen sein, wie sich diese und andere Verhältnisnahmen zwischen Kollektiv und Künstlerindividuen gestalteten und welche Vorteile sich aus den Zusammenschlüssen ergaben. Wie verhielt es sich beispielsweise mit soziopolitischen Plädoyers an die Gesellschaft, künstlerischer Direktmitteilung oder der gemeinschaftlichen Herstellung alternativer Kunstmethoden? Wie
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veränderte sich das Selbstverständnis des Einzelkünstlers und wodurch entstanden Konflikte zwischen Künstler und Kollektiven? Ferner: Was bedeutete all das für die künstlerische Produktion? Ausgehend von theoretischen Überlegungen zum Kollektiv wird der Fokus im Verlauf auf die frühen Formen des Kollektivs in der Kunst gerichtet und hernach anhand von Dadaismus, Surrealismus, Abstraktem Expressionismus und Informel sowie den Gruppen COBRA und SPUR konkretisiert. Fragen nach der Autorschaft werden in diesem Kapitel ebenso gestellt wie Vor- und Nachteile der singulären oder kollektiven Produktivität aufgezeigt. Auch die zeitgenössische Zersplitterung und die daraus resultierende Kreation neuer Terminologien für den Kollektiv-Begriff werden problematisiert, insbesondere das Netzwerk. Mit den Ausführungen zum kollektiven Arbeiten von SIGNA und She She Pop sowie der Beschreibung von SIGNAs Die Hundsprozesse wird das Kapitel enden. Der vierte Parameter fragt nach dem Verhältnis von Zuschauer und Künstler. Auch hier geht es nicht nur um ein oppositionelles, sondern hinsichtlich der performativen Kunstformen vor allem auch um ein kollaboratives Verhältnis. Die Künstler-Zuschauer-Relation wiegt für die Avantgarden im positiven Sinne schwer. Durch dieses Verhältnis veränderte sich nicht nur der Rezipientenblick auf die Kunst in hohem Maße, auch die Handlungsschemata der Künstler nahmen neue Formen an. Die Partizipation erhielt Einlass in einen vormals hermetisch abgeschirmten Kunstraum. Umgekehrt bedeutete das: Durch den bewussten Eintritt der Kunst in die gesellschaftliche Öffentlichkeit und die Aufforderung zur Interaktion, war sie fortan auf die Teilnahme der Anwesenden angewiesen. Der Blick wurde dabei vom endgültigen Werk auf die Produktionsbedingungen gerichtet, und der künstlerische Produktionsprozess, der Weg zum Ziel, rückte in den Vordergrund. Das bedeutete gleichermaßen, dass nicht nur räumliche und zeitliche Veränderungen die Kunst vor neue Aufgaben stellten, sondern der Zufall, die Unvorhersehbarkeit und das Risiko zu einer Konstante der künstlerischen Produktion wurden. Der partizipatorische Aspekt durchwirkte die künstlerische Handlungsebene auf vielfältige Weise. In diesem Kapitel soll darüber nachgedacht werden, welche Auswirkungen der Zuschauer auf die (neo-)avantgardistische Kunst hatte, inwieweit es zu Verschränkungen oder auch Irritationen kam und inwiefern die Partizipation Einfluss auf das künstlerische Selbstverständnis nahm. Hierfür werden grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Künstler und Zuschauer und dem damit einhergehenden Partizipations-Begriff angestellt. Ein historischer Rückgriff wird hernach zum Anlass genommen, um ganz generell die veränderten Seh- und Wahrnehmungsbedingungen zu skizzieren. Ein Transfer dieser veränderten Bedingungen auf die performativen Künste kommt ohne eine detaillierte Betrachtung der historischen Strukturen innerhalb theatraler Anordnungen jedoch nicht aus. In der Folge wird der Übergang zu einem performativen Sehen dann direkt zu den Neo-Avantgarden führen. Fluxus und Happening werden exemplarisch herausgegriffen, um anhand von Künstlern wie Allan Kaprow, John Cage oder Wolf Vostell die Mechanismen
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herauszufiltern, die den Einbezug des Zuschauers künstlerisch wirksam werden ließen. Die Arbeit Vote Zombie Andy Beuyz von Showcase Beat Le Mot wird das Kapitel abschließen, da die Partizipation den inhaltlichen Referenzpunkt eben dieser Performance bildet. Für den Einstieg in das Kapitel liefern die Perfomer von Via Negativa mit Hunt for the Real eine adäquate Diskussionsgrundlage. In ihrer Gesamtheit, so lässt sich zusammenfassend sagen, macht die vorliegende Arbeit die Avantgarde anhand von vier Parametern sichtbar und ermöglicht so einen anderen und konzentrierten Blick auf ihre konstitutiven Qualitäten. Zu diesem Zweck ist die methodische Entscheidung getroffen worden, die zeitgenössischen Performances nicht erst im Anschluss als nachgelagerte Episoden zu verhandeln, sondern unmittelbar in die Erörterung der Parameter einfließen zu lassen und zu überprüfen. Die Auswahl der Performances ist selektiver Natur und wird im Gegensatz zu jenen den einzelnen Parametern beispielhaft zugeordneten Ismen zur Folge haben, dass die Performances detailliert beschrieben werden. Die Ismen der historischen Avantgarde, die gewissermaßen allen Parametern zugewiesen werden könnten, jedoch der Übersichtlichkeit halber den Status des Exemplarischen einnehmen sollen, bilden eine allgemeinere Anbindung an den entsprechenden ParameterBegriff. Die Beschreibungen der Performances hingegen sind Ergebnisse einer teilnehmenden Beobachtung und deshalb subjektivierter Zuschreibungen unterworfen. Die Verknüpfung zwischen dem Überbau der Parameter mit den jeweils zugeordneten Ismen der historischen Avantgarde einerseits und den zeitgenössischen Performances andererseits vollzieht sich auf je unterschiedliche Weise, wird jedoch über den Parameter selbst in eine aktive Verbindung gesetzt. Im abschließenden Résumée werden Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen zeitgenössischen Kunstpraktiken und jenen der Avantgarde aus den vier Kapiteln herausgestellt, um den Umgang heutiger Künstler mit dem avantgarden Erbe zu überprüfen und Antworten auf die Frage zusammenfassen, ob und wenn ja wie die performative Kunst eine Neu- oder Weiterschreibung der Avantgarde vornimmt, welche ästhetischen Merkmale dafür verwendet werden und welche Abgrenzungen oder Widerstände künstlerisch wie auch strukturell dafür eine Rolle spielen und gespielt haben.
I. Historisch-begriffliche Prolegomena: Das Performative, Die Avantgarde
Konstellationen des Performativen
V ORBEMERKUNG Das Deutungsspektrum des Performance-Begriffs hat im Zuge einer Aktualisierung des ‚performative Turns‘ 1 Ende der 1990er Jahre explosionsartig zugenommen. Seither ist von der Tanzperformance über das Theaterstück, den Ritualen von Kulturen, der Weitergabe kultureller Werte, dem wissenschaftlichen Vortrag2 bis hin zum Rolling Stones-Konzert vieles unter diesem Begriff subsumiert worden; ganz abgesehen von außerkünstlerischen Performances der Wirtschaft wie der Wertentwicklung von Investments an der Börse, Bewerbungspräsentationen bei einem Vorstellungsgespräch oder Performances von Motoren in der Formel 1. In diesem Überblickskapitel wird der Begriff der Performance gezielt unter ästhetischen Gesichtspunkten beleuchtet. Dabei soll es nicht um eine Diskussion und theoretische Vertiefung der Begriffsvarianten gehen, sondern um einen engeren Zuschnitt dieser für die vorliegende Arbeit. Bereits hier können wir Partizipation, Prozessualität, Ko-Präsenz, Selbstreferentialität und Konstitution von Wirklichkeit(en), aber auch Körperlichkeit, Räumlichkeit, Wahrnehmung, Materialität, Unmittelbarkeit und Vergänglichkeit als Termini festhalten, die repräsentativ für ein umfangreiches Zuschreibungskonvolut stehen, welches sich auftut, wenn man sich mit den Texten zum Performativen auseinandersetzt.3 Das folgende Kapitel fasst diese zusammen.
1
Erika Fischer-Lichte macht die „‚performative Wende‘ in der europäischen Kultur um 1900“ aus, als „Ritualforschung und Theaterwissenschaft“ eigene „Theorien zur Aufführung“ (Fischer-Lichte 2013: 45) entwickelten.
2 3
Siehe hierzu auch Klein/Sting 2005: 17, sowie Peters 2005: 197-217. Vgl. Almhofer 1986/Auslander 1997/Carlson 1996/Fischer-Lichte 2004; 2013/Goldberg 2001/Kaprow 2003/Klein; Sting 2005/Mersch 2002/Phelan 1993/Schechner 2003/Wirth 2005.
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P ERFORMANCE
UND
P ERFORMATIVITÄT
Der Verlauf der Arbeit wird zeigen, dass der Performance-Begriff mit jenem der historischen Avantgarde hinlänglich verschränkt ist.4 Eine Positionierung der Performance kommt ohne Rückgriff auf die Avantgarde deshalb nicht aus, da die Verbreitung der Performance bis in zeitgenössische Entwicklungen hinein ohne elementare Grundbedingungen, die die Avantgarde für die Performance bereithielt und -hält, nicht möglich ist. Da der Avantgarde das nächste Kapitel gewidmet ist, werde ich im Folgenden mit einer Bestimmung der Performance fortfahren, die den Beginn des 20. Jahrhunderts außen vor lässt und unmittelbar hineinschwenkt in die sprachphilosophischen Entwicklungen der 1950er Jahre, genauer gesagt in das Jahr 1955. In diesem hielt John L. Austin seine wegweisende Vorlesungsreihe How to do Things with Words an der Harvard Universität, in der er den Ausdruck des Performativs in seine Sprechakttheorie einführte. Mit ‚performativ‘ beschrieb Austin Sprechakte, die im Zuge des Sprechens Handlungen vollziehen, welche wiederum Auswirkungen auf das Danach entwickeln. Als Beispiel führte er die Heirat oder die Wette an und erklärte, dass vor allem „die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden“ (Austin 1998: 31) von Gewicht seien, damit der Handlungsvollzug gelingen könne. Diese Handlungen seien, so reformuliert Fischer-Lichte Austins Aussagen fast fünfzig Jahre später, „selbstreferentiell, insofern sie das bedeuten, was sie tun“ und „wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellen[, sic!] von der sie sprechen“ (Fischer-Lichte 2004: 32). Zu Beginn unterschied Austin noch zwischen konstativen und performativen Äußerungen und sprach ersteren dabei eine Graduierung zwischen wahr und falsch zu. Da man, wie er später selbst erläuterte, auf der Ebene des Handlungsvollzugs jedoch nicht von wahr oder falsch sprechen könne, entwickelte er in Abgrenzung zum Begriff des ‚Konstativs‘ jenen des ‚Performativs‘. Einige Zeit später revidierte er diese Abgrenzung allerdings und nahm eine alternative Unterteilung vor. Für Erika Fischer-Lichte zeigt sich in dieser Loslösung von einer dichotomen Zuordnung der Nachweis, dass das Performative Dichotomien generell nicht mehr zulasse oder je zugelassen habe, sondern diese Dichotomien im Zuge der ihr eigenen Verfasstheit stets zu destabilisieren versuch(t)e (vgl. Austin 1998: 29 ff.; 88 ff./FischerLichte 2004: 32 ff.). Austin schloss eine Übertragung seines Theoriekonzepts auf das Theater trotz der begrifflichen Nähe zur Aufführung aus. Stellte sich für Austin innerhalb der 4
Als wegweisende und erste Zusammenführung von Avantgarde und Performance gilt gemeinhin RoseLee Goldbergs Band Performance Art. From Futurism to the Present aus dem Jahr 1979.
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Sprechakte auf der Bühne ein „unnatürliche[s]“ (Schumacher 2002: 386) Sprechen 5 dar, lässt sich mit Hilfe von Jacques Derrida darauf verweisen, dass das Sprechen6 ohne den Aspekt des Zitierens per se nicht möglich ist. Dies zeigt sich bereits in dem Moment, in dem beim Gegenüber Verständnis für das Gesagte vorausgesetzt wird, was ohne ein vorgängiges Wissen um den Kontext des Gesagten erst gar nicht möglich wäre. Anders formuliert: Dass eine Ehe geschlossen wird hat mitunter auch mit der Anerkennung der Anwesenden zu tun, die diesem Akt als repetitivem und gesellschaftlich konventionalisiertem ihr Vertrauen schenken und in ihm ein Ritual erkennen, das der Ehe ihre Daseinsberechtigung überhaupt erst erteilt. Derrida verknüpft in seinen Ausführungen den Sprechakt mit dem Ereignis: „Vom Ereignis zu sprechen heißt sagen, was ist, also die Dinge so mitzuteilen, wie sie sich darstellen“ (Derrida 2003: 20 f.). Dabei, also im Sprechen über das Ereignis, ergebe sich gleichwohl das Problem, dass sich dieses Ereignis immer schon ereignet habe. „Die Unvorhersehbarkeit und damit die Tatsache, dass es den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht,“ werde durch das Sprechen über das Ereignis unterlaufen, da dieses „Sprechen zu spät kommt“ (Derrida 2003: 21). Weil es nun im Rahmen performativer Akte zu Ereignissen komme, die einen Handlungsvollzug darstellen, müsse festgehalten werden, dass „das Sprechen vom Ereignis eine Art unvermeidliche Neutralisierung des Ereignisses durch Iterabilität voraussetzt“. Damit meint Derrida, dass die Sprache, die benutzten Wörter und ihre Verwendung bereits bekannt und schon einmal benutzt worden sein müssen, um sie zu verstehen. Dadurch verliere sich „die Einzigartigkeit […] in dieser Iterabilität.“ Das Ereignis könne sich demgemäß trotz seiner „absoluten Singularität“ und „absoluten Unvorhersehbarkeit“ nur ereignen, indem es „in seiner Einzigartigkeit selbst wiederholbar“ (Derrida 2003: 36) werde. Diese Überlegung ist zentral für die Auseinandersetzung mit Performances, denn sie rüttelt am Nimbus der Unwiederholbarkeit. Als Marina Abramović mit ihren Seven Easy Pieces 2005 im New Yorker Guggenheim Museum nicht nur ihre eigene Performance Lips of Thomas aus dem Jahr 1975 wiederaufführte, sondern dies auch mit Performances von Joseph Beuys, Vito Acconci oder Gina Pane tat, war der mediale, aber auch von anderen Performern angeführte Aufschrei groß und der Begriff der Re-Performance geboren. Dass weder der soziale und historische, noch der personengebundene Kontext derselbe waren und allein dadurch der Aspekt der absoluten Wiederholung durchbrochen worden war, wurde im Rahmen der kritischen Stellungnahmen vielfach außer Acht gelassen. An späterer Stelle wird darauf zurückzukommen sein (vgl. Derrida 2003: 20 ff./Schumacher 2002: 385 ff.).
5
Vgl. im Original Austin 1986: 314.
6
Für Derridas Analyse des performative-Begriffs Austins siehe Derrida 1976: 142-151.
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Derridas und Judith Butlers Erweiterungen von Austins Sprechakttheorie geben den Begriffen Performativität und Performance nun eine genauere Kontur. Schumacher hebt hervor, dass der durch Derrida und Butler entfachte Diskurs über das Performative mit der Performativität in Verbindung zu setzen ist. Die Aufführung, der theatrale Akt, das Dargestellte oder auch die Präsenz der Performer sind dahingegen der Performance zuzuschreiben. Marie-Luise Angerer nimmt eine ähnliche Einteilung wie Schumacher vor und beschreibt die Performativität als „identitätskonstruierende Strategie“. Anhand der von Judith Butler ausgelösten Gender-Diskussion7 in den 1990ern verdeutlicht sie diesen Aspekt. So sei die „Performativität im Sinne Butlers die soziokulturell bedingte Zitation der damit einhergehenden geschlechtsspezifischen Normen und Gesetze“ (Angerer 2006: 241). Judith Butler verweist in der von ihr angestoßenen Debatte8 nachdrücklich auf die performative Aneignung des biologischen Geschlechts. Dieses ist: „keine schlichte Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozeß, bei dem regulierende Normen das ‚biologische Geschlecht‘ materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen erzielen.“ (Butler 1995: 21)
Performativität kann demgemäß kein feststehender oder einmaliger Akt sein, sondern die „ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzielt, die er benennt.“ (Butler 1995: 22) Konkret geschieht das qua performativer Akte, wie beispielsweise in rituellen oder repräsentierenden Handlungen. Butler geht also, wie auch die von ihr zitierte Simone de Beauvoir, von einem ‚Frau-Werden‘ statt einem ‚Frau-Sein‘ im Rahmen eines phänomenologischen Verständnisses aus. Man kann Geschlecht, so Butler, nicht als statisches ‚Eins-mitsich-sein‘ verstehen, dessen Handeln man immerzu selbst bestimme. Vielmehr muss man von einem illusionären geschlechtlichen Selbst sprechen, das zwar „instituted through a stylized repetition of acts“ (Butler 2004: 154) sei, sich gleichzeitig jedoch durch den eigenen Körper, dessen Bewegungen, Gesten, Ausdrücke und Verordnungen etabliere. Butler spricht von einem zeitlich begrenzten und sozial determinierten Identitätsmodell, dessen Aufrechterhaltung gerade durch die performative Wiederholung von Handlungen gewährleistet wird. Geht man davon aus, dass die vollzogene Handlung bereits vor einem selbst auf der Welt war, so ist es im Sinne 7
Vgl. dafür neben den Originalquellen Butlers auch die auf dieser und der Folgeseite wiedergegebenen Ausführungen aus meiner unveröffentlichten Masterarbeit: Geldmacher 2007: 8 f.; 18 ff.; 24 f.; 57 ff.; 78 ff..
8
Vgl. insbesondere Das Unbehagen der Geschlechter (1991) und Körper von Gewicht (1995).
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Butlers die individuelle Wiederaufnahme, Aktualisierung und Reproduktion bereits existenter Schemata, die diese Handlung beibehält. Durch die bereits genannten wiederholenden Performances eines bestehenden „set of meanings“ (Butler 2004: 160) werden dabei sozial festgelegte und bedeutende Grundsätze repetiert. Obschon diese Performances jeweils individuell dargestellt und interpretiert werden, ist nach Butler eine völlig freie Abänderung kaum möglich. So vollzieht „the gendered body […] its part in a culturally restricted corporeal space and enacts interpretations within the confines of already existing directives“ (Butler 2004: 161). Setzt man nun voraus, dass Geschlechtsattribute performativ und nicht expressiv sind, dann konstituieren diese „effectively […] the identity they are said to express or reveal“. Dies wiederum bedeutet für Butler, dass sich Geschlecht auf der Ebene der „regulatory fiction“ bewegt, die in Form eines Konstrukts daherkomme, welches sich als „social fiction of its own psychological interiority“ (Butler 2004: 162) definiert. Geschlecht, so bilanziert Butler, kann nur von ‚außen‘ konstituiert werden, da selbst das ‚Innen‘ den sozialen Zuschreibungen zugrunde liegt. Die logische Konsequenz: Um Ausgrenzung oder Strafen der sozialen Umwelt zu umgehen, wird den zugeteilten Geschlechtseigenschaften nachgegangen. Angst macht Butler als Hauptmotivation dafür aus, die vorgefertigten Performationskonzepte durchzuführen. Die Tatsache, dass die ständige Wiederholung der ‚regulierenden Normen‘ perpetuiert werden muss und somit eine Vollendung nicht erreichbar ist, schafft für Butler jedoch Platz für ein Unterlaufen dieser Normierung. Die durch die „ständige Wiederholung“ hervorgerufenen „Instabilitäten“ (Butler 1995: 21) eröffnen Räume für das subversive Unterwandern, um festgezurrte (Identitäts-)Zuschreibungen brüchig werden lassen zu können. Dem Körper schreibt Butler in diesem Zusammenhang eine prioritäre Rolle zu, erkennt sie doch mit dessen Hilfe einen Ausweg aus den dogmatischen Dualismen, wenn das „cultural field bodily through subversive performances of various kinds“ (Butler 2004: 164) erweitert und die binäre Geschlechterordnung damit ad absurdum geführt werde. Für die körperbezogene Performance-Kunst sind die Ausführungen Butlers spannend, da kulturell oder sozial angeeignete Gesten darin ebenso zur Sprache kommen wie die von Derrida angesprochene Iterabilität. Wie der SubversionsAnsatz Butlers kann diese produktiv für ein Ausbrechen aus dem machtstrukturellen Kreislauf sein und mittels künstlerischer Praktiken bewusst forciert werden (vgl. Angerer 2006: 241/Butler 2004: 154 ff./Schumacher 2002: 384 ff.). Wir können festhalten, dass die Ambivalenz und Vielfältigkeit des Performativitätsterminus auch auf den Performance-Begriff zutrifft. Angerer macht darauf aufmerksam, dass es neben der von RoseLee Goldberg (1979) vertretenen grundsätzlichen Offenheit des Begriffs auch die stark körperbezogene Zuspitzung künstlerischer Performances durch Lea Vergine (1974) gab. Goldberg dagegen aktualisierte die Verbindung zu den historischen Avantgarden und belebte das darin formulierte Vorhaben, Kunst und Leben im Zuge der Performance-Kunst ineinander
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zu führen. Die grenzenlose Vielfalt des Lebens sollte dabei eins werden mit den selbstbestimmten Prozessen, die der Künstler in diesem Leben, vielmehr aus diesem heraus entwickelte und welche ergo eine Trennung zwischen lebenspraktischen und kunstpraktischen Handlungen nicht mehr zuließen. Dass somit alles eine Performance werden kann, sieht Angerer jedoch anders. Dabei widerspricht sie neben Goldberg auch Fischer-Lichte. Indem es nur noch darum gehe, „etwas ‚zu tun‘“, werde „der Begriff der Performativität […] sinnlos überstrapaziert“. Angerer vermischt dabei jedoch die anfänglich aufgeführte Differenz zwischen Performance und Performativität, wenn sie davon spricht, dass Fischer-Lichte „so unterschiedliche Praxen wie den Minnegesang, Talkshows, Theater etc. unter dem weiten Begriff ‚performativ‘ zusammenfasst“ (Angerer 2006: 242). Diese Praxen sind meines Erachtens weniger mit der Performativität als der Performance in Verbindung zu bringen.9 Deutlich wird hier die von Schumacher angesprochene „potentielle Zusammengehörigkeit“ (Schumacher 2002: 385) beider Begriffe, die bereits Richard Schechner ausmachte. Dieser ging sogar von einer gewissen Form der Deckungsgleichheit aus: „Performativity – or, commonly, ‚performance‘ – is everywhere in life, from ordinary gestures to macrodramas.“ (Schechner 2003: 326) An Offenheit ist diese Aussage im Übrigen kaum zu übertreffen. Für Schumacher besteht die eigentliche Aufgabe darin, Performance und Performativität in keiner Weise „einseitig als Wert[e] fest[zuschreiben]“ (Schumacher 2002: 402), da ihnen dadurch nicht nur ihre Gemeinsamkeiten, sondern auch ihre Unterschiede genommen werden. Indem Walburga Hülk von der „performative[n] Performance“ (Hülk 2005: 11) als „Ausführung und Aufführung“ (Hülk 2005: 11 f.) spricht, verweist sie auf die Funktionen beider Begriffe: Nicht mehr das Was steht im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern zuvorderst das Dass und das Wie (vgl. Angerer 2006: 241 f./Goldberg 2001/Schumacher 2002: 385 ff./Vergine 2000). Betrachten wir die Performance-Kunst genauer, so lässt sich diese vielfältige Beschreibung auch auf die künstlerischen Ausdrucksformen der Performance übertragen. Terminologisch hervorheben möchte ich an dieser Stelle kurz die Performance, das Happening und das Intermedia, da ihr Verhältnis nach ursprünglicher Trennung heute ineinander übergeht. In seinem Band Performance Art nach 1945 (2001) weist Thomas Dreher auf die ursprünglich in den 1960ern und 1970ern formulierte Unterscheidung zwischen Happening und Performance-Kunst hin, die sich auf der Ebene der Partizipation bewegte. 10 Inkludierte das Happening den Zuschauer und ließ ihn aktiv am Geschehen teilhaben, kam es innerhalb der Performance 9
An anderer Stelle spricht Angerer auch von „alle Aufführungen“ (Angerer 2006: 81) und kommt dem Begriff der Performance hier näher als dem der Performativität ‚als identitätskonstruierender Strategie‘.
10 Siehe hierzu das gesamte Kapitel Künstler/Zuschauer.
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Art zu einer Trennung zwischen Performern und Beobachtern, die sich zumeist räumlich erfassen ließ. Aktuelle Performances versteht Dreher als Überbegriff, der „experimentelle Aktionsformen inklusive ‚Happenings‘ jenseits der Theaterkonventionen“ (Dreher 2001: 19) in sich vereint und etwaige Unterscheidungsmerkmale hinsichtlich der Zuschauerbeteiligung aufgehoben hat. Sowohl das Happening als auch die Performance können für Dreher als „künstlerische Aktionsformen“ bezeichnet werden, die sich, hier verweist Dreher auf Schechner, keiner „schriftlich fixierten“ Vorlage bedienen oder einer stringenten Regie unterworfen sind. Vielmehr geht es seiner Meinung nach um performte „Alltagshandlungen mit, zwischen oder vor Publikum“. Auch die Aktion dient dem Autor als Überbegriff, hier für performative Kunstformen, die das Zusammenspiel von Kunst, Künstler, Öffentlichkeit und Ko-Akteur11 befördern. Dreher spricht dezidiert vom Aktionstheater und fasst darunter „eine[...] herkömmliche Kunstgrenzen überschreitende[...] künstlerische[...] Tätigkeit, die sich auf bildkünstlerische, literarische, musikalische und tänzerische Anregungen gleichermaßen stützt.“ (Dreher 2001: 10) Argumentiert Dreher hier aus einer theaterzentrierten Perspektive und hält mit dem Zusatz -theater an dieser Zuordnung fest, so möchte ich gerade wegen der von ihm verdeutlichten Gattungsüberschreitung die Aktion weiterhin ohne Suffix in all ihrer Offenheit verstehen. Insbesondere Drehers daran anschließende Überlegungen zur Aktion, die er in der Folge um das Intermedia erweitert, verweist darauf, dass das -theater seine Notwendigkeit verliert, da die begriffliche Öffnung spätestens mit dem Intermedia eine weitere Entgrenzung erfährt. Mit Intermedia ist die Verwendung von Videokameras innerhalb der Performances gemeint, die vor allem im Rahmen der ‚Closed Circuit‘-Verfahren12 in den 1960er Jahren vermehrt eingesetzt wurden. Bereits 1952 hatte John Cage im Black Mountain College projizierte Bilder verwendet. Diaprojektor oder andere Bild- und Tonträger spielten fortan eine verstärkte Rolle. Dreher formuliert dazu, dass „[d]ie Integration von Projektionsmedien in Performances [es] ermöglicht […] sowohl[,] ‚acting‘ im Film und im Aktionsraum miteinander zu koordinieren, als auch ‚non-acting‘ in Alltagsereignisse organisierender Filmzeit auf aufgeführte Handlungen zu beziehen.“ (Dreher 2001: 335) Dadurch vergrößerte sich nicht nur das Spektrum der künstlerischen Mittel, sondern auch das der Inhalte der Performance. Michael Rush spricht in die11 Mersch benutzt den Begriff der „Akteure[]“ (Mersch 2002: 237) und „Beteiligten“ (Mersch 2002: 238), die innerhalb der performativen Kunst immer und jederzeit interaktiv teilhaben und die dadurch ihrerseits, diesen Punkt spezifiziert Mersch gesondert, auch ethische Verantwortung übernehmen (vgl. Mersch 2002: 239 f.; 289-298). 12 Gleichzeitige Aufnahme mit einer Kamera und Wiedergabe über einen Bildschirm sowie die Möglichkeit, in diesem Prozess zeitverzögernd oder manipulativ einzugreifen. Siehe für eine Verknüpfung mit der Performance: Dreher 2001: 337-365.
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sem Zusammenhang von einem „‚intermedia‘13 movement“ (Rush 1999: 24), das er mitunter in der sich zu dieser Zeit entfaltenden Kunstrichtung des Fluxus 14 ausmacht, welche gemeinsam mit dem Happening und der Aktion aufkam, jedoch als Begriff nicht wie diese bis heute synonym für die Performance gebraucht wird, sondern in der Literatur als gesonderte Untergruppe aufgeführt wird. Dies halte ich insoweit für problematisch, da die Tatsache, dass das Happening weniger exklusiv als die Fluxusbewegung als Einzelbewegung ausgewiesen wird, wahllos erscheint. Es scheint mir deshalb sinnvoller, Fluxus oder Happening als verschiedentliche performative Kunstformen anzuerkennen, die im Nachhinein jedoch beide in die dann folgende Performance Art übergingen und unter dem Oberbegriff der Performance zu subsumieren sind. Gerade weil Künstler wie Alan Kaprow oder Wolf Vostell Fluxus- oder Happeningveranstaltungen mitgestalteten, wird die Überlappung der Kunstformen an diesen Künstlern selbst offenbar. Gleichwohl entwickelte sich Fluxus zu einer performativen Kunstform, die „the perfect embodiments of Duchamp’s dictum that the viewer completes the work of art“ (Rush 1999: 25) darstellte. Die Teilnahme und Teilhabe des Rezipienten wurde zum unerlässlichen Element ausgerufen und um mediale Darstellungsmittel ergänzt (vgl. Dreher 2001: 19; 326 ff./ Rush 1999: 24 f.). Seit den 1970er Jahren kam es laut Dreher zu „eine[m] Pluralismus von Intermediaformen“, zu denen er auch Performances zählt und welche „durch reaktive und/oder bewegte/verzeitlichte meist elektronische Medien erweitert“ (Dreher
13 Der Intermedia-Begriff wurde 1966 von Dick Higgins ins Leben gerufen, der dadurch die Gattungsüberschreitung zum Thema machte. Als intermediale Arbeiten bezeichnete er „‚visuelle Poesie und poetische Bilder, Aktionsmusik und musikalische Aktion und auch Happenings und Events, sofern sie Musik, Literatur und bildender Kunst konzeptuell verpflichtet sind.‘“ (Zit. nach Knapstein 2006: 86) Die dadurch entstehende „Vielheit von Medienmöglichkeiten“ (Dreher 2001: 39) lasse die eine stringente Kategorisierung nicht mehr zu. Dreher geht in seinem Band dazu über, „‚Aktionstheater‘ bzw. ‚Happening‘ und ‚Performance Art‘ als Multi- und ‚Intermedia‘“ (Dreher 2001: 39) zu bezeichnen. Peter Frank spricht von Intermedia als „Verschmelzung der Künste“ (Frank 1987: Vortragstitel), deren Ursprung sich in den „utopischen Avantgarde-Bewegungen“ (Frank 1987: 10) ausmachen ließe, die jene „integrierende Medien-Praktik“ zum Programm erhoben (vgl. Frank 1987). 14 Die Kunstrichtung Fluxus wird im Großkapitel Künstler/Zuschauer gesondert aufgegriffen. Bereits hier ist zu sagen, dass Frank, wie Rush, der Fluxusbewegung besonderen Einfluss auf die Intermedia-Kunst zuschreibt: „Alle ‚Intermedia‘, die seit dem Beginn der Fluxus-Ästhetik realisiert wurden, sind letzten Endes Variationen, Hinzufügungen und Erweiterungen der Fluxus-Kunst.“ (Frank 1987: 21)
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2001: 12) wurden. Künstler wie Nam June Paik, Bruce Naumann, Allan Kaprow 15, Carolee Schneeman, Joan Jonas, Peter Weibel, Vito Acconci, Ulrike Rosenbach, die Wiener Aktionisten oder Orlan machten vielfältigen Gebrauch von den neu geschaffenen Möglichkeiten. Heute nutzen Performer vielfach filmische Elemente, mediale Installationen, digitale Projektionen oder interaktive Verfahren sowie die Vernetzung mit virtuellen Realitäten.16 Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Medialen dabei nicht direkt thematisiert wird, sondern vielmehr wie selbstverständlich ‚mitläuft‘, ist die Diskussion über das Verhältnis von Anwesenheit, Aufzeichnung und mediatisierter Wiederholung in der Performancetheorie, wie wir feststellen werden, in aller Schärfe geführt worden. Das Medium Performance, so stellt RoseLee Goldberg es in ihrem überarbeiteten Band Performance Art. From Futurism to the Present (2001) heraus, entwickelte sich in eben diesen 1970er Jahren, in denen sich die Performance der Grundlagen der konzeptuellen Kunst bediente und diese greifbar machte.17 Der Werkcharakter und dessen Wertschätzung innerhalb des institutionalisierten Kunstmarktes wurden ersetzt durch die Betonung der Idee und deren prozessualer Ausführung. Goldberg verdeutlicht, dass insbesondere die „[l]ive gestures“ als „weapon against the conventions of established art“ (Goldberg 2001: 7) genutzt worden seien. Die Autorin bürstet die Geschichtsschreibung insoweit gegen den Strich, als sie auch den Künstlern der historischen Avantgarden bescheinigt, zuerst performativ gearbeitet zu haben und dann erst zu der Erstellung jener Werke übergegangen zu sein, die wir heute in den Dadaismus-, Surrealismus- oder Futurismus-Ausstellungen zu sehen bekommen. Die Performance-Kunst habe sich daraufhin nicht nur direkt mit dem Publikum in Kontakt gesetzt und dieses immer auch schockiert, sondern sich gleichwohl selbst, als Medium und Teil des Kunstmarktes, hinterfragt. Ab den 1980ern habe dann wiederum das Publikum mehr und mehr die Teilhabe am Kunstmarkt eingefordert und sei über die Performance in einen unmittelbaren Kontakt zu ihr getreten. Dem Künstler als Künstler zu begegnen, wurde zur unumstößlichen Grundlage für die Performance-Kunst. Auch Goldberg öffnet den Begriff für mannigfaltige Ausdrucksformen: 15 Vgl. hierzu Kaprows Ausführungen zur Video Art: Old Wine, New Bottle (1974) in Kaprow 2003: 148-153. 16 Für einen umfassenden Einblick über mediale Kunstformen des 20. Jahrhunderts siehe Auslander 1999/Dreher 2001: 323-393/Rush 1999. 17 Vgl. hierzu auch Marvin Carlson 1996: 100-120. Goldberg veröffentlichte das Buch 1979. Im Jahr 2011 ist die dritte und editierte Auflage erschienen, die zeitgenössische Künstler wie Tino Seghal oder Matthew Barney mit aufgreift.
36 | RE -W RITING A VANTGARDE „The performance might be a series of intimate gestures or large-scale visual theatre, lasting from a few minutes to many hours: it might be performed only once or repeated several times, with or without a prepared script, spontaneously improvised, or rehearsed over many months.“ (Goldberg 2001: 8)
Heruntergebrochen auf den kleinsten Nenner bedeutet das: „[P]erformance defies precise or easy definition beyond the simple declaration that it is live art by artists. Any stricter definition would immediately negate the possibility of performance itself.“ (Goldberg 2001: 9) Gerade weil alle medialen Formen in die Performance hineinragten, gebe es keine Kunstform mit einem solchen „boundless manifesto“ (Goldberg 2001: 9) und den dazugehörigen Freiheiten (vgl. Goldberg 2001: 7 ff.). Fischer-Lichte argumentiert, dass die Gattungsgrenzen in der PerformanceKunst deshalb verschoben wurden, weil sich die „Artefakte in Handlungsvollzüge“ (Fischer-Lichte 2002: 286) auflösten. Die Dinge gerieten sozusagen in Bewegung und auch das Theater wurde dadurch zur „performative[n] Kunst par excellence“ (Fischer-Lichte 2002: 288), da es sich aus jenen Bestandteilen zusammensetzte, die laut Fischer-Lichte „den Begriff des Performativen als einen Schlüsselbegriff“ auswiesen: Nämlich „eine spezifische Art der Raumwahrnehmung, ein besonderes Körperempfinden, eine bestimmte Form von Zeiterlebnis sowie eine neue Wertigkeit von Materialien und Gegenständen.“ (Fischer-Lichte 2002: 289) Eine vermeintliche Gegensätzlichkeit von Performance-Kunst und Theater kann die Autorin deshalb auch nicht ausmachen, „[a]uch wenn Performance-Kunst in den sechziger Jahren aus einer radikalen Negation nicht nur des kommerziellen, produktorientierten Kunstbetriebs, sondern auch des damals zeitgenössischen Theaters entstanden ist“ (Fischer-Lichte 2002: 296). Differenzen zeigen sich ihrer Meinung nach allerdings hinsichtlich der Begriffe Performativität und Theatralität.18 Fischer-Lichte versucht diese mit einem Vergleich zwischen historischer Avantgarde und Neo-Avantgarde zu begründen. Strebte Erstere die „Theatralität einer künftigen performativen Kultur“ an, ging es Letzterer um die „Performativität einer künftigen performativen Kultur“. Obschon beide Termini „untrennbar miteinander verbunden“ sind, verschiebt sich nach Fischer-Lichte der Zugang zum angestrebten künstlerischen Ziel. War bei den historischen Avantgarden noch die „Performativität […] [der] Weg und Theatralität [das] Ziel“ (Fischer-Lichte 2002: 300), nutzte die Neo-Avantgarde umgekehrt die Theatralität, um die Performativität zu erreichen. Diese Aufteilung der beiden Begriffe mittels zweier aufeinanderfolgender und miteinander verbundener künstlerischer Epochen, hier tatsächlich als Haltepunkt gemeint, ist meines Erachtens nur schwer nachvollziehbar. Da die Gegenüberstellung den unumgänglichen Fakt beinhaltet, dass der Performativitäts-Begriff erst 18 Vgl. hierzu Fischer-Lichte 2002: 294-300.
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später als jener der Theatralität aufgekommen ist, muss von einem verschobenen Vergleich ausgegangen werden. Dieser wiederum kann nur gelingen, weil FischerLichte auch im Nachhinein davon ausgeht, dass das Theatrale selbst dann noch das Ziel für die historische Avantgarde gewesen wäre, wenn sie von der Performativität in seiner allumfänglichen Bestimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Kenntnis gehabt hätte. Da dem aber nicht so war, will mir nicht einleuchten, dass die Theatralität, welche sich durch „Inszenierung“, „Korporalität“, „Wahrnehmung“ und „Aufführung“ (Fischer-Lichte 2002: 299) auszeichnet, von den historischen Avantgarden unbedingt aufrechterhalten worden wäre. Die Performativität hingegen, die sich laut Fischer-Lichte in all diesen vier Begriffen zeigt, jedoch eben nicht all dieser bedürfe (im Gegensatz zur Theatralität), ist meines Erachtens, wenn auch auf graduell unterscheidbare Weise, in Neo- und historischer Avantgarde zu finden. Zu fragen ist deshalb, ob das Festhalten an der Theatralität in dieser Strenge noch sinnvoll ist, gerade wenn jedes seiner vier Bestandteile auch mit der Performativität in Verbindung gesetzt werden kann. In einer aktuelleren Monographie (2013) differenziert Fischer-Lichte den Zusammenhang zwischen Theatralität und Performativität im Sinne eines starken Ineinandergreifens und weist darauf hin, dass letztere im internationalen Diskurs die gebräuchlichere Form darstellt. Dennoch unterscheidet sie weiterhin zwischen Theaterinszenierung und Aufführung, die im Gegensatz zur Inszenierung durch das Unplanbare und Ereignishafte weniger vorhersehbar ist. Während die Performativität auf die „Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft“ abzielt, knüpft man an die Theatralität eher „die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten“ (Fischer-Lichte 2013: 29). Theatralität im Sinne Fischer-Lichtes ist der Performativität demgemäß weiterhin bis auf Ausnahmen gegenüberzustellen. Da all diese Fragen nun einer theater- und/oder performanceontologischen Arbeit19 gut zu Gesicht stünden, nicht aber diesem Überblickskapitel, möchte ich hier festhalten, dass ich für den weiteren Gebrauch die Begriffe Theatralität und Performativität weniger kontrastiv verwenden werde, sondern beide als sich überlagernde Begriffe verstehe, die einer unterschiedlich langen und diesbezüglich spezifischen Wissenschaftstradition angehören, welche neben einer gewissen Deckungsgleichheit auch auf Weiteres Differenzen implizieren wird. Diese werden nun nicht expliziert, sondern vielmehr der Tatsache zuträglich sein, dass heutige performative Kunstformen immer auch Aspekte des Theatralen in sich vereinen. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken. Mit Hans-Thies Lehmann lässt sich dahingehend sagen, dass es sich bei Theater und Performance um eine „(unmögliche) eindeutige 19 Vgl. dazu unter anderem: Balme;Wagner 2004/Fiebach 2008/Lehmann 2005/Warstat 2010/Willems 2009. Im Kapitel Ein neues Sehen? wird dieses Verhältnis noch einmal aufgegriffen.
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Unterscheidung“ handelt, die sich offenkundig darin begründet, dass man „Performance als eine ‚reale‘ Aktion dem Theater [gegenüberstellt; PG], als dem Bereich der Fiktion, der Handlungen ‚Als ob‘, in dem man versteht und in dem die Grenzen klar sind“ (Lehmann 2005: 461). Diese Opposition eben nicht künstlich aufrechtzuerhalten scheint mir auf Grund der systematischen Überlappung und der nicht zu trennenden Verknüpfungen nur konsequent (vgl. Fischer-Lichte 2002: 286 ff./ Fischer-Lichte 2013: 55 ff.; 115; 141/Lehmann 2005: 461 ff.).20 Richard Schechner macht in der Performance, im Gegensatz zum Script, zum Theater oder Drama, zuvorderst die „domain of the audience“ (Schechner 2003: 70) aus: „The whole constellation of events, most of them passing unnoticed, that take place in/among both performers and audience from the time the first spectator enters the field of the performance – the precinct where the theater takes place – to the time the last spectator leaves.“ (Schechner 2003: 71)
Der Autor differenziert zwischen Kulturen, die die Kombination aus Drama und Script beton(t)en, andere dahingegen Theater und Performance. Selbst in der Avantgarde und besonders im Westen sei die Drama-Script-Dominanz ausgeprägt (gewesen). Gleichwohl bildete sich die Performance-Kunst heraus, die diese Dominanz in Frage stellt(e). Mit der einen Definition von Performance tut sich Schechner schwer: „It is hard to define ‚performance‘ because the boundaries separating it on 20 Marvin Carlson weist in diesem Zusammenhang auf die von zahlreichen Performancekünstlern in den 1970ern proklamierte Fokussierung auf Körper und Bewegung hin, welche sie dem im Theater gängigen dramatischen Script und der entsprechend inszenierten Ausstattung entgegensetzten. Im Zuge der Weiterentwicklung der Performances, so verdeutlicht Carlson, habe sich die klare Grenzziehung jedoch aufgelöst, da die medialen Einflüsse und technologischen Referenzen zwangsläufig alternativ geplante und inszenierte Prozesse erforderten und zudem der Sprache wieder Einlass gewährten. Carlson spricht in diesem Zusammenhang von einem „[t]heatre-based mixed media and performance spectacle“ (Carlson 1996: 110) und erteilt damit der Trennung von Performance und Theater eine Absage. In einer aktuelleren Beschreibung über Das Theater der Gegenwart (2013) verdeutlicht der Theaterwissenschaftler Andreas Englhart, dass „es heute aber nicht um die Trennung zwischen dramatischen und performativen dramaturgischen Strukturen“ gehe, da diese immer, und immer auch anders „problemlos ineinander über[gehen]“ (Englhart 2013: 122). Die Frage sei vielmehr dahingehend zu stellen, auf welche Weise das Spiel zwischen „Rolle und Ereignishaftigkeit der Aufführung“ (Englhart 2013: 125) ausgehandelt werden müsse (vgl. Carlson 1996: 104 ff./Englhart 2013: 122 ff.).
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the one side from the theater and on the other side from everyday life are arbitrary.“ (Schechner 2003: 87) Richtungsweisend ist für den Mitbegründer des Künstlerkollektivs Performance Group, das sich 1967 in New York zusammenfand, die Verknüpfung mit dem Ritual.21 Insbesondere die später durch Erika Fischer-Lichter weitergeführten Begriffe Transformation22 oder Liminalität23 lassen sich mitunter auf Schechners ausführliche Beschreibungen von Ritualen non-westlicher Kulturen zurückführen. Dabei ist Schechners „Initiation“ mit der Transformation in engen Zusammenhang zu bringen, da es sich um einen „change in status for participants“ (Schechner 2003: 46) handelt, der gleichermaßen zentral für den transformativen Prozess ist, den der Zuschauer bei Fischer-Lichte in einer Performance durchläuft. Marina Abramović oder Rirkrit Tiravanija sind exemplarisch als Performer zu nennen, die den mitunter dionysischen Performancebeschreibungen Schechners folgen und sich an ritualisierten Handlungsvollzügen abarbeiten. Der Autor verdeutlicht, dass das Ritual sich immer schon mit dem Entertainment abgewechselt habe und auf Grund dessen eine Vielzahl an binären Oppositionen die Performance bestimmte: „Performance originates in impulses to make things happen and to entertain; to get results and to fool around; to collect meanings and to pass the time; to be transformed into another and to celebrate being oneself; to disappear and to show off; to bring into a special place a transcendent Other who exists then-and-now and later-and-now; to be in a trance and to be conscious; to focus on a select group sharing a secret language and to broadcast to the largest possible audience of strangers; to play in order to satisfy a felt obligation and to play only under an equity contract for cash. These oppositions, and others generated by them, comprise performance: an active situation, a continuous turbulent process of transformation.“ (Schechner 2003: 157)
21 Vgl. hier insbesondere Schechners Kapitel From Ritual to Theater and Back: The Efficacy-Entertainment Braid in Schechner 2003: 112-169. Den Übergang zwischen Ritual und Theater macht Schechner wie folgt aus: „The move from ritual to theater happens when a participating audience fragments into a collection of people who attend because the show is advertised, who pay admission, who evaluate what they are going to see before, during, and after seeing it. The move from theater to ritual happens when the audience is transformed from a collection of separate individuals into a group or congregation of participants.“ (Schechner 2003: 157) 22 Vgl. Schechner 2003: 126-136; 191 und Fischer-Lichte 2004: 305-314. 23 Sowohl Schechner als auch Fischer-Lichte beziehen sich dezidiert auf Victor Turner, siehe unter anderem Schechner 2003: 186-189/Fischer-Lichte 2004: 305-314.
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Das wiederum bedeutet, dass „[a]t the descriptive level there is no detail of performance occurring everywhere under all circumstances. Nor is it easy to specify limitations on what is, or could be treated as, performance.“ (Schechner 2003: 290) Schechner gilt als der Theoretiker, der die Performance Studies von den Vereinigten Staaten aus mitbegründet hat. Aus seinem künstlerischen Tun entwickelte er theoretische Positionen, die er an der New York University im Department of Performance Studies zusammenfließen ließ. Für Schechner steht der Blick auf die Performance als lebenserweiternde und prozessuale Praxis außer Frage. Der brasilianische Theatertheoretiker Augusto Boal schreibt in Schechners Grundlagenband Performance Studies. An introduction dazu Folgendes: „Usually people say that a truly artistic show will always be unique, impossible to be repeated: never will the same actors, in the same play, produce the same show. Theater is Life. People also say that, in life, we never really do anything for the first time, always repeating past experiences, habits, rituals, conventions.“ (Zit. nach Schechner 2006: vi)
Schechner subsumiert Sport, Spiel, Performance Art und Ritual unter dem Begriff der Performance und verdeutlicht, dass diese Unterteilungen miteinander verwoben sind. Allan Kaprow spricht in diesem Zusammenhang von „‚[L]ifelike‘ art“, welche von alltäglichen Handlungsvollzügen kaum zu unterscheiden sei. Beides, alltägliche Handlungsabläufe und performte Kunstaktionen, seien „restored behaviours“ (Schechner 2006: 29) und können nicht als erstmalig und einzigartig betrachtet werden. Das Einzigartige spielt auch hinsichtlich der Identität der Performer eine Rolle. Diese sei von Wichtigkeit in der Performance Art, vor allem die Infragestellung und Destruktion der Identität, die sich vor allem mit postmodernen Überlegungen in Verbindung setzen lasse. Das Performative zeigt sich also immer auch darin, dass die Handlung in den Vordergrund rückt: „Das Performative betrifft den Vollzug, seine Zeitlichkeit, das Ereignis der Setzung.“ (Mersch 2002: 217) Dabei ergebe sich aus dem Aspekt der Zeit heraus eine zentrale Unterscheidung. Handele es sich bei den Ereignissen um temporär begrenzte Akte, seien die Werke auf Unendlichkeit angelegt. Indem die Zeit das „‚Nichts‘“ impliziere, sei sie es allererst, die „Sein als Ereignis“ (Mersch 2002: 226) freigebe. Sie schaffe in diesem Sinne auch erst den Raum, um das Ereignis als Ereignis hervorbringen zu können (vgl. Mersch 2002: 226 ff./Schechner 2006: 29; 46; 70 ff.; 157 ff.; 290). Dem Performativen und seiner ‚Setzung‘ begegnet Werner Hamacher mit einer zentralen begrifflichen Neuerung, dem Afformativ. In Anlehnung an Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt verweist er auf die Tatsache, dass „[a]lles Recht […] sich im Unterschied zur Gerechtigkeit also einer Setzung [verdankt], und keine Setzung kommt ohne Gewalt aus – ohne eine Gewalt, die sich in dieser Setzung selber hemmt, verleugnet und kompromittiert.“ (Hamacher 1994: 340) Weil die „Rechts-
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setzung“, an der Hamacher seine Überlegungen beispielhaft ausführt, für ihn einen „performativen Akt[...]“ darstellt, und „die Dialektik von Setzung und Verfall als eine Dialektik der Performanz“ (Hamacher 1994: 342) zu lesen sei, solle eine „‚Entsetzung‘ der Setzungsakte und ihrer Dialektik zumindest provisorisch als absolut imperformatives oder afformatives politisches Ereignis“ bezeichnet werden. Für Hamacher stellt sich diese Entsetzung als Geschehen dar, das sich jeder Bestimmung, jedem „Mittel zum Zweck“ entziehen müsse, um politisch wirksam werden zu können. Allein auf solche Weise sei, im Sinne Benjamins, „reine“ Gewalt möglich. Und doch verweist Hamacher auch auf den „alles andere als unproblematische[n]“ Grundgedanken einer solchen Entsetzung: „So ist Entsetzung für Benjamin ein historisches Ereignis und doch eines, das der zyklischen Geschichte der Rechtsinstitutionen ein Ende macht und von dieser Geschichte nicht durchweg determiniert ist; sie ist ein politisches Ereignis, aber eines, das alle kanonischen Bestimmungen des Politischen – und des Ereignisses – zerbricht“ (Hamacher 1994: 346).
Eingedenk dieses Paradoxons zeigt sich laut Hamacher für die Sprache, die der Autor neben dem Streik als Beispiel für die ‚reine‘ Gewalt anführt: „Sprache ist in ihrer Medialität prä-positional, vorperformativ – und in diesem Sinn afformativ.“ (Hamacher 1994: 348) In Hamachers Theorie geht es somit im Unterschied zu beispielsweise Austin nicht um den Moment der Produktion, „die Darstellung und […] Herstellung“ oder das setzende Ereignis, sondern um „Unterlassung“ (Hamacher 1994: 358), „Aussetzung“ und die Unterbrechung, durch die eine „reine Mittelbarkeit der Sprache“ (Hamacher 1994: 357) allererst entstehen könne. Was bedeuten diese Überlegungen nun für das Performative, dem sich diese Arbeit verschreibt? Hamacher sieht die „‚Afformation‘ […] in Kontrast zu[r] ‚Performation‘“ keineswegs als „Untergruppe der Performativa“ oder als Gegenteil, sondern als „‚Bedingung‘“ für diese. Auch wenn Afformative für ihn nicht „zur Gruppe der Akte – also der Setzungs- oder Stiftungsoperationen – gehören, eröffnen sie sich doch niemals einfach außerhalb der Aktsphäre und ohne Beziehung zu ihr.“ (Hamacher 1994: 359) Daraus folgt: „Das ironische Gesetz des Afformativen ist das Gesetz einer Bastardisierung mit dem Performativen.“ (Hamacher 1994: 371) Dem ständigen Widerstreit zwischen Setzung und Ent-Setzung wird sich in gewisser Weise auch diese Arbeit aussetzen (müssen) und versuchen, sie insbesondere über die disparaten Parameterpaare mitzudenken. Rekurrierend auf Benjamin und Hamacher lässt sich darüber hinaus gerade die performative Kunst als Modus des Politischen verstehen, in dem die Festsetzungsbedingungen sichtbar gemacht und reflektiert werden können. Im Zuge ihrer Performativität überprüft eine solche Kunst nicht nur ihre Bedingungen, ihre eigenen Setzungen, sondern sie ‚zerbricht‘ vielfach vor, während und nach dem Tun das Zustande(ge)kommen(e) im Moment des Zustandekommens. Einer solchen Kunst obliegt demgemäß offenbar die Möglichkeit, sich in
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der performativen Dopplung als ‚afformatives politisches Ereignis‘ ins gesellschaftliche Spiel zu bringen. Im Unterkapitel Voranschreiten ins Hier und Jetzt des Fortschritt-Kapitels werde ich auf diesen Gedanken noch einmal zurückkommen (vgl. Hamacher 1994: 342 ff.; 357 ff.; 370 f.).
(L IVE -)P RÄSENZ
UND ( MEDIALE )
W IEDERHOLUNG
Vertiefen wir uns noch ein wenig weiter in die für die Performance notwendigen Eigenheiten, so weist Peggy Phelan in Unmarked (1993) die Unwiederholbarkeit und die Live-Teilhabe als ebensolche aus. Die Performancetheoretikerin, die wie Schechner lange Jahre am Department of Performance Studies tätig war, argumentiert aus einer gendertheoretischen und psychoanalytischen Perspektive. Indem sie den Blick auf das Nicht-Markierte und vorerst nicht Sichtbare lenkt, gerät das Dazwischen in den Fokus. Mit Jacques Lacan analysiert sie die politische Dimension, die sich aus der „broken symmetry between the self and the other“ (Phelan 2001: 27) ergibt. Als künstlerische Beispiele führt sie unter anderem Robert Mapplethorpe und Cindy Sherman an und proklamiert: „All portrait photography is fundamentally performative.“ (Phelan 2001: 35) So gestalte sich nicht nur das Verhältnis von Photograph und Model, von Model zu Linse, sondern auch die Eigendynamik im Handeln von Model und Photograph, aber auch die im Bild formulierte Arrangiertheit, das Manipulierte, sowie die Rezeption der Betrachter als performativer Akt. Relevant wird für sie dadurch das, was eben nicht sichtbar ist. Gleiches macht Phelan im Film, dem Theater oder auch in der Malerei aus. In einer Definition der Performance stellt sie heraus, dass die Performance dazu bestimmt ist, im Hier und Jetzt stattzufinden. „Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance.“ (Phelan 2001: 146) Zwar kann eine Performance weitere Male performt werden, allerdings wird nach Phelan allein durch diesen Akt die Differenz zur ursprünglichen Performance hergestellt. Im Gegensatz zu Butler oder Derrida begreift Phelan genau das als problematisch. Sie sieht darin weder eine den Dingen inhärente Strategie, noch kann sie in der Betonung dieser Differenz eine mögliche Option der Novellierung bestehender Zuschreibungen erkennen, wie dies vor allem Butler tut. Würden Performances archiviert, filmisch festgehalten oder in dokumentarische Prozesse eingearbeitet, verlieren sie demgemäß das, was ihre Subversivität aufrechterhalte, nämlich das Verschwinden und die Abwesenheit. Um nicht den kapitalistischen Prozessen der Ökonomie anheimzufallen, stellt sich für Phelan der Widerstand gegen die „reproductive representation“ als elementar heraus, da diese einen Grundpfeiler der Performance darstelle. „Performance resists the balanced cir-
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culations of finance. It saves nothing; it only spends.“ (Phelan 2001: 148) Ihre Argumentation begründet Phelan mit der körperlichen Präsenz, die die Performance bestimmt (vgl. Phelan 2001: 27 ff.; 146 ff.). In dem fünf Jahre später mit Jill Lane herausgegebenen Band The Ends of Performance formuliert sie dann allerdings: „Performance and performativity are braided together by virtue of iteration; the copy renders performance authentic and allows the spectator to find in the performer ‚presence‘. Presence can be had only through the citation of authenticity, through reference to something (we have heard) called ,live‘.“ (Phelan 1998: 10)
Damit erschwert sie ihrer eigenen Argumentation, die sie zuvor deklariert hatte, allerdings die Nachvollziehbarkeit, denn der mediale Einsatz verspielt diese Zitation von Authentizität nicht vollständig, er setzt sie nur auf andere Weise um und weist der Präsenz eine alternative Rolle zu. Dass im Zuge technologischer Entwicklungen jedwede Medien zu diesem Körper nicht ins Verhältnis gesetzt werden können und dürfen, folgt man Phelan, erscheint nicht nur fragwürdig, sondern unmöglich. Es steht außer Frage, dass das Live-Erlebnis nicht in Gänze mit medialen Reproduktionen verglichen werden kann. Gleichwohl ist die von Phelan vorgenommene Hierarchisierung der Wahrnehmung überholt. Sie zudem mit kapitalistischen Prinzipien zu verknüpfen und ihr jegliche Subversion abzusprechen, wird dem Spannungspotential reperformter oder medial präsentierter Performances in keiner Weise gerecht. Bliebe Phelan bei ihrer Haltung, dass nur das live Erfahrene und somit auch nicht schriftlich Festgehaltene zur Performance gezählt werden könne, müsste sie konsequenterweise auch dem Aspekt des performative Writings, den Della Pollock im von Phelan herausgegebenen Band skizziert, widersprechen. 24 Und selbst ihre eigene Argumentation mit Hilfe von photographischen und filmischen Beispielen trägt dementsprechend nur dann, wenn die künstlerischen Arbeiten jene für sie notwendige Abwesenheit explizieren und thematisch vollziehen, was im Grunde ausschließlich subjektiv zu bewerten ist. Die französische Performancekünstlerin Orlan, die ihren Körper zahlreichen plastischen Chirurgieeingriffen aussetzt, um sich innerhalb dieser berühmten Frauengestalten wie der Mona Lisa oder der Venus optisch anzunähern, soll in diesem Zusammenhang als Gegenbeispiel verwendet werden. Obschon die Arbeiten der Französin vielfach in den Kontext der Body Art 25 gestellt wurden, distanziert sich 24 Vgl. hierzu Pollocks Aufsatz Performing Writing (Pollock 1998: 73-103), insbesondere ihre Ausführungen zur citational performativity (Pollock 1998: 92-94). 25 Es lässt sich hier explizit feststellen, dass in der Zurückweisung der Zuordnung zu einer bestimmten Performance-Kategorie durch die Performerin selbst, die Unterteilung der
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Orlan von dieser Zuschreibung, ordnet sich selbst der Carnal Art zu und spricht von einer „computer-generated work“ (Orlan 1998: 320), die sie vollzieht. Diese Arbeiten bestehen nicht nur daraus, dass entsprechende Gerätschaften den operativen Prozess unterstützen, sondern dass Orlan die Operation filmen lässt. „The operating room becomes my studio, from which I am conscious of producing images, making a film, a video, photos, drawings with my blood“ (Orlan 1998: 321). Erst dadurch wird der körperliche Ein-Griff nachvollziehbar und im Sinne eines Mit-Erlebens möglich. „In fact, it is really my audience who hurts when they watch me and the images of the surgeries on video.“ (Orlan 1998: 326) Die fleischliche Dimension der Performance, die Orlan sehr wichtig ist, wäre ohne diese medialen Reproduktionen nicht möglich. Natürlich dient ihr der eigene Körper als Ausstellungsstück, an dem sich die Veränderung im Sinne eines ‚Vorher-Nachher‘ aufzeigen lässt. Wie sich der Prozess der Veränderung in den Körper einschreibt, wird aber erst durch die audiovisuellen Medien übersetzbar. In diesem Zusammenhang weist Jon McKenzie, ausgehend von Schechners und Butlers (körperlich) performten Zitationen, auf Performances im Alltag hin, die ganz generell „mechanically and/or electronically cited, stored, played back, and transformed“ (McKenzie 1998: 231) werden. „[T]he end(s) of strictly human performatives“ (McKenzie 1998: 232) kündigte(n) sich also bereits Ende der 1990er an, weil Handlungs- oder Arbeitsabläufe ohne mechanisierte Teilprozesse laut McKenzie kaum mehr auskommen würden (vgl. McKenzie 1998: 231 ff./Orlan 1998: 320 ff./Phelan 1998: 10 ff.). Philip Auslander unterzog Phelans oben genannte Überlegungen in den 1990er Jahren heftiger Kritik. In Liveness. Performance in a mediatized Culture (1999) entgegnet er jener das Medium negierenden Performance-Ontologie Phelans mit einem klaren Bekenntnis zu einer kaum mehr überschaubaren Trennung zwischen Live- und medialisierten Performances: „I am treating live and mediatized performance as parallel forms that participate in the same cultural economy“ (Auslander 1999: 5). Beide konkurrierten sie zwar um Aufmerksamkeit innerhalb dieser, jedoch stellt sich für Auslander die Frage, ob es „clear-cut ontological distinctions between live forms and mediatized ones“ (Auslander 1999: 7) überhaupt gibt. Auslander erkennt also durchaus die Diskrepanz zwischen beiden Formen auf der Ebene der ‚cultural economy‘ an, jedoch nicht in deren charakterlichen Verfasstheit. Er wendet sich gegen eine „intrinsic opposition […] in favor of a view that emphasizes the mutual dependence of the live and the mediatized“ (Auslander 1999: 11). Gründe macht er dabei vor allem im Zuge seiner historischen Erläuterungen zum Fernsehen aus, indem er Fernsehen und Theater zahlreiche Strategien zuordnet, die eiperformativen Kunstformen fragil wird. Auch deshalb werden etwaige Zuordnungsschemata in der Arbeit allgemeiner gefasst und die performativen Kunstformen damit ‚entgrenzt‘.
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nander gleichen. Beispielsweise: „The multiple-camera set-up enables the television image to recreate the perceptual continuity of the theatre.“ (Auslander 1999: 19) Auffällig ist im Zuge dessen für Auslander „the irony that whereas television initially sought to replicate and, implicitly, to replace live theatre, live performance itself has developed since that time toward the replication of the discourse of mediatization.“ (Auslander 1999: 23 f.) Heutige Live-Performances sind für den Autor ohne mediale Verstärkungen kaum noch zu denken, vor allem bei musikalischen Performances wirft das für ihn jedoch vermehrt Fragen auf. Inwieweit verändert sich beispielsweise der Live-Aspekt während eines Konzertes, wenn man lediglich über Monitore Zugriff auf die performenden Künstler erhält? Fischer-Lichte pflichtet der Verlagerung ins Mediale einerseits bei. Ging es der Performance Art in den 1960er und 1970er Jahren vor allem um die Abgrenzung von einer medialisierten Realität, um auf die Relevanz des Authentischen und Unmittelbaren hinzuweisen, könnten laut Fischer-Lichte heutige Performances im Zuge der genutzten „Reproduktionstechnologien“ (Fischer-Lichte 2004: 118) kaum mehr ohne mediale Einflüsse gedacht werden. Andererseits macht die Autorin auf die „leibliche[n] Ko-Präsenz“ (Fischer-Lichte 2004: 118) aufmerksam. Im Gegensatz zu Auslander, der keinen Unterschied mehr zwischen medialisierter und LivePerformance erkennen kann, stärkt Fischer-Lichte den Aspekt der leiblichen Teilhabe. Die dadurch ausgelöste autopoietische Prozessualität besitze eine ganz eigene Dynamik und führe deshalb zu einer veränderten Wahrnehmung der Teilnehmer. Auslander, dies meines Erachtens eine Leerstelle in seiner Argumentation, geht auf den Aspekt der Leiblichkeit kaum ein (vgl. Auslander 1999: 5 ff.; 19 ff./FischerLichte 2004: 118). Im Anschluss an Auslander und McKenzie ist der Debatte seit Anfang 2000 weitestgehend ein Ende gesetzt worden. Mit den Überlegungen beispielsweise Dieter Merschs oder Sybille Krämers bietet sich ein Mittelweg zwischen den entgegengesetzten Positionen an. So macht Mersch in den technischen Errungenschaften eine „Erweiterung der Sinne“26 (Mersch 2002: 92) aus, gleichzeitig aber auch eine Reduktion der Wahrnehmung auf Vorgegebenes, das wiederum zu einem bestimmten Zuschnitt von Wahrzunehmendem und dementsprechend zu „Stereotypie“ (Mersch 2002: 94) führt. Hier nun kommt der Widerstand zum Zug, der dem weiter voranschreitenden Aura-Verlust entgegenzusetzen ist: „Zu bewahren wären dann jene Momente, die sich der medialen techne und ihrer Strategien widersetzten: Einbruch des Nichts, der Stille, des Nichtmachbaren und Unkontrollierten, der Negativität des Schocks oder des Störenden und Widerständigen, der Frakturen und Parado26 Auf die bereits 1964 Marshall McLuhan in Understanding Media: The Extensions of Man verwiesen hatte (vgl. McLuhan 1995: 75 ff.; 98 ff.; 107 ff.; 127 ff.).
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Mersch verweigert sich somit weder der medialen Durchdringung im Sinne Phelans, noch erkennt er die „medial zugerichtete[...] Wahrnehmung“ (Mersch 2002: 113), wie Auslander es tut, an. Vielmehr versucht er den Bruch an und innerhalb dieser zu suchen. Diese Überlegung hat viel damit zu tun, dass für Mersch bereits im Anblick des Werkes eine auratische Erwiderung liegen kann: „Betrachten heißt folglich nicht, in den Blick nehmen, sondern zuvorderst: antworten. Die Antwortstruktur bildet die primäre Form der Wahrnehmung. Sie ergeht aus dem Entzug.“ (Mersch 2002: 184) Das Flüchtige verschwindet also nicht, es bleibt und verharrt wartend, um den, der es sucht, zu provozieren. Erinnern wir uns an die anfänglichen Überlegungen, so lässt sich bilanzierend weniger über die von Phelan ursprünglich proklamierte Unterlassung von Dokumentation, Aufzeichnung oder Sicherung einer Performance diskutieren, als vielmehr darüber, wie die ‚broken symmetry‘ zwischen Selbst und Anderem im LiveErlebnis und im wiederholten Erfahren zu beschreiben ist. Sibylle Krämer 27 fasst dahingegen alternativ zusammen: „Ein Potential zur Transformation weisen Wiederholungsverfahren dann auf, wenn die Reproduktion zugleich als die Inszenierung des Reproduzierten zu begreifen ist. Wenn also das Wiederholen die Aufführung des Wiederholten ist.“ (Krämer 2001: 253) Somit liegt genau im Moment der Zitation die Ambivalenz: einerseits Bestehendes zu perpetuieren, andererseits das Bestehende im Zuge des wiederholenden Tuns in Frage zu stellen und dadurch Kontextverschiebungen vorzunehmen. Diese performative Auseinandersetzung mit dem Handlungsvollzug ermöglicht den Einbezug mediatisierter Formen, ohne ihnen ihr Wirkpotential abzusprechen (vgl. Krämer 2001: 254; 259/Mersch 2002: 113 ff.; 184).
K ÜNSTLER , Z USCHAUER UND ( KOLLEKTIVE ) W AHRNEHMUNG Neben der Leiblichkeit und Medialität, Wiederholung und Ko-Präsenz, knüpfen sich an die Performance auch die Konzepte der Wahrnehmung, Materialität oder 27 Krämer spricht hier eher aus sprach- und kulturwissenschaftlicher und weniger aus kunstwissenschaftlicher Sicht, wie Phelan das mitunter tut. Dennoch stehen ihre Ausführungen denen Phelans diametral gegenüber, die wiederum die Analyse von Sprache und Sprechakt in Unmarked als Basis für ihre künstlerischen Beispiele und die daraus folgende Argumentation aufgreift (vgl. Phelan 2001: 148 ff.).
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Künstler-Zuschauer-Relation: „Im Phänomen der Präsenz des Schauspielers werden der sein Material bearbeitende Künstler, sein Material und der Rezipient auf eine ganz spezifische Weise zueinander in Beziehung gesetzt“ (Fischer-Lichte 2003: 100). Der performative Vollzug weist auf neue Verhältnisse zwischen Künstler, Rezipient und Material hin und ordnet diese keineswegs hierarchisch, sondern immer wieder neu an. Deshalb kann nur noch schwerlich von Schauspieler gesprochen werden. Vielmehr wird fortan, auch ob dessen semiotischer Varianz, der Begriff des Performers Verwendung finden, ist die darin implizite Bedeutung des Vollziehenden doch ebenso relevant wie, angelehnt an von Hantelmann, das performativ Produzierte. Damit meine ich, dass die Dynamik eines performativen Prozesses nicht immer nur an leibliche Präsenz gekoppelt sein muss, diese gleichwohl stetig mitdenkt. Beispielhaft sei hier an Jackson Pollocks Drippings erinnert. Dessen aktionistischer Malakt vermag immer noch über die Linienführung auf den Betrachter dieser vermeintlich unbewegten Bilder einzuwirken. Böhme spricht dahingehend davon, dass der Künstler interessiert ist, das bearbeitete Ding „in bestimmter Weise aus sich heraustreten zu lassen und dadurch die Anwesenheit von etwas spürbar werden zu lassen.“ (Böhme 1995: 34) Das Bild, die Installation, die Skulptur, sie treten aus sich heraus und sind ebenfalls präsent. Die dadurch entstehenden Bedeutungen lassen sich deshalb kaum mehr auf feststehende Zuschreibungen zurückführen, deren Verhältnis von Signifikant zu Signifikat eindeutiger Natur ist. Vielmehr erweist sich diese Linearität als brüchig und führt zu unmittelbaren Ein- und Auswirkungen, deren fehlende Zuordnungsmöglichkeit zu Irritationen führt, die für das performative Erleben unerlässlich sind und die der Materialität den Vorzug vor dessen Bedeutung geben (vgl. Fischer-Lichte 2003: 106 ff./Fischer-Lichte 2004: 243 ff.). Mit der autopoietischen feedback-Schleife erteilt Fischer-Lichte nun dem „Künstler als autonome[n] Subjekt, welches ein autonomes Werk schafft, das die Rezipienten wohl jeweils anders zu deuten, jedoch in seiner Materialität nicht zu verändern vermögen“ (Fischer-Lichte 2004: 284) eine Absage. Durch die Performance-Kunst habe sich der künstlerische Status insoweit geändert, als dass sich die Künstler „nicht mehr gottähnlich ein Werk [schaffen], sondern […] als Versuchsleiter eine spezifische Situation her[stellen], der sie sich selbst und andere aussetzen.“ (Fischer-Lichte 2004: 285) Dieses ‚einander aussetzen‘ führt dazu, dass von einer subjektzentrierten Anordnung des künstlerischen Rahmens und der daraus resultierenden Prozesse nicht mehr ausgegangen werden kann. Vielmehr konstituiert die Aufführung die Aktionen seiner beteiligten Subjekte – seien es die Künstler oder Besucher, die sich immer auch reflexiv mit ihrem Gegenüber auseinandersetzen (müssen). Fischer-Lichte stellt sich unter der feedback-Schleife „ein selbstorganisierendes System [vor; PG], dem permanent neue auftauchende, nicht geplante und so auch nicht voraussehbare Elemente“ (Fischer-Lichte 2004: 287 f.) widerfahren und welches diese mit einbeziehen muss. Gemeint sind für die Performer ungeahnte
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Bewegungen oder Reaktionen der anderen Schauspieler oder das Feedback der Zuschauer. Für diese wiederum ergibt sich durch die fehlenden „Kausalzusammenhänge[...]“ (Fischer-Lichte 2004: 288) eine völlig konträre Wahrnehmung. Da eine narrative Linie nicht mehr erkennbar ist, verschwindet für den Zuschauer jener stabilisierende Faktor, der immer auch eine gewisse Sicherheit und Vorhersehbarkeit impliziert. Ohne diesen ist der Zuschauer auf sich und seine eigene Kategorisierung des Wahrgenommenen angewiesen. Diese entzieht sich gängiger Zuordnungsprinzipien, da sich die multiple Verwendung von Symbolen und Dingen, Leibern und Szenarien chronologischen Handlungsabläufen widersetze. Die „Dinge“, so Fischer-Lichte, seien in diesen Momenten „in Ekstase“ (Fischer-Lichte 2004: 289), es herrsche ein „Exzeß an Aufmerksamkeit“ (Fischer-Lichte 2004: 291). Sich durch diesen durchzuarbeiten bedeutet für den Zuschauer Anstrengung. Es gibt kein ‚Aufdem-Sitz-zurücklehnen‘, vielmehr ist die autopoietische feedback-Schleife immer auch Auslöser dafür, dass man sich in Relation setzt und aktiviert bleibt. Diese gegenseitige Aktivierung, die Wahrnehmung und das Wahrgenommene, aber auch die Emergenz der Handlungen sind wichtige Kriterien im Rahmen der Performance, die sich gleichwohl auch auf andere Bereiche übertragen lassen. Die Wahrnehmung setzt Böhme unmittelbar mit der „affektive[n] Betroffenheit durch das Wahrgenommene“ in Verbindung und formuliert: „Wahrnehmen ist im Grunde die Weise, in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen sich befindet.“ (Böhme 1995: 47 f.) (vgl. Fischer-Lichte 2004: 284 ff./Böhme 1995: 47 f.). Wie nun bündeln in diesem Zusammenhang Umgebungen, oder hier spezifisch: Aufführungsorte Aufmerksamkeiten? Wie ordnen sie die Körper und das Material an? Welche Offenheit oder Geschlossenheit verkörpern sie? Noch in den 1960er Jahren, so Dreher, konnte der Aufführungsort überall und alles sein. Neben kunstspezifischen Orten wie der Bühne oder der Galerie auch jedweder alltäglich genutzte öffentliche oder private Raum beziehungsweise jede außerhalb befindliche Fläche. Für die dort zu vollziehende Aktion erstellte der Akteur dann zumeist einen „Aktionsplan[...]“ (Dreher 2001: 15), der mit oder ohne weitere Performer realisiert werden konnte. Dreher macht auf etwaige Proben und zeitlich bestimmte Vorgaben aufmerksam und verdeutlicht, dass die Improvisation nur eine von mehreren performativen Optionen gewesen sei und immer noch ist. Der Autor führt beispielhaft die Sound-Performances von John Cage an, der eine sehr klare Notation für seine Performances verfolgte, dem es jedoch um das ging, was in den durch diese Rigidität hervorgebrachten Lücken entstehen konnte.28 Die der Performance vielfach zugeschriebene Spontaneität, Einzigartigkeit und Unplanbarkeit verliert somit nichts an ihrer Kraft, die Termini in sich aber müssen differenzierter betrachtet werden, da keine Performance ohne Idee und Konzeption auskommen konnte und kann. Liegt 28 Siehe diesbezüglich eine genauere Betrachtung in dem Kapitel Künstler/Zuschauer.
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es im Ermessen jedes einzelnen Aktionsplans, ob zusätzliche Vorgaben die Performance rahmen oder auch eingrenzen sollen, so kann es dennoch keine künstlerische Performance per se geben, die ohne jegliche Rahmung aus sich heraus entsteht.29 Eine solche wird, wenn überhaupt, immer nur ex post als solche tituliert. Somit gibt es nicht nur für die Ortswahl, sondern auch die darin erfolgte Ausgangssituation und Anordnung einen Plan der Performer, der dann jedoch durch die Ko-Präsenz der Zuschauer irritiert, erweitert, minimiert oder ergänzt wird. Rahmen, Emergenz und Ereignis kommen in der Performance ohne einander nicht aus, erfahren durch ihr Zusammenwirken, aber auch ihre Unplanbarkeit. Dreh- und Angelpunkt ist demgemäß die Wahrnehmung von Künstler und Zuschauer: „Performance is always performance for someone, some audience that recognizes and validates it as performance even when, as it is occasionally the case, that audience is the self.“ (Carlson 1996: 5 f.) Im Moment des Wahrnehmens nimmt der Zuschauer teil und ist durch seine Präsenz und das eigene präsentische Einwirken auf die anderen unwiderruflich in den performativen Prozess eingebunden. Diese Überlegung überführt Dorothea von Hantelmann in eine noch grundsätzlichere Aussage, indem sie davon spricht, dass es „kein nicht-performatives Kunstwerk geben kann“, denn jedes Kunstwerk „bündelt Aufmerksamkeiten, generiert Wirkungen, produziert Erfahrungen und ordnet Körper im Raum an, die diese Erfahrungen machen“ (von Hantelmann 2005: 30).30 Die „überlieferte Dreiteilung in Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetik“ (Fischer-Lichte 2003: 97) kann dabei nicht mehr aufrechterhalten werden. Vielmehr überlagern sich diese Ebenen und subsumieren sich in der Materialität der Aufführung, welche Fischer-Lichte in der „Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit“ (Fischer-Lichte 2003: 98) ausmacht (vgl. Dreher 2001: 15 ff./ Fischer-Lichte 2004: 284 ff.). Für die Räumlichkeit ist der Begriff der Atmosphäre grundlegend. Gernot Böhme versteht unter Atmosphären „Räume, insofern sie durch Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d. h. durch deren ‚Eksta29 Marina Abramović verweist in einem Interview darauf, dass Performance-Kunst für sie „ein ernstes Business“ sei, für das sie „trainiere […] wie ein Astronaut vor einem Raumflug.“ Konkret beschreibt die Künstlerin: „Für The Artist is Present 2010 im New Yorker Museum of Modern Art musste ich zum Beispiel meinen kompletten Stoffwechsel umstellen. Das hat Monate gedauert. Kein Mittagessen, damit mein Magen sich ans Hungern gewöhnt. Wasser nur nachts, damit ich tagsüber, wenn ich im Museum sitze, nicht ständig aufs Klo muss. Ich wurde stündlich zum Trinken geweckt.“ (Zit. nach Bärnthaler 2014: 46) 30 Vgl. hierzu auch: Mersch 2002: 289 f. Mersch spricht an dieser Stelle unter anderem vom „universellen Status“ (Mersch 2002: 289) des Performativen, der sich in Literatur, Theorie und Kunst gleichermaßen zeige.
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sen‘, tingiert sind.“ Für Böhme ergibt sich die Atmosphäre gewissermaßen aus dem gemeinsamen Handlungsvollzug von Mensch und Ding und deren „Konstellationen“. Daraus resultiert eine „gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“, die wiederum auf einem „leibliche[n] Sich-Befinden der Subjekte im Raum“ (Böhme 1995: 32) gründet. Der Autor greift für seine Überlegungen auf Walter Benjamins Aura-Begriff zurück, den er als grundlegend hinsichtlich einer Bestimmung von Atmosphäre erachtet. Benjamin verweist in seinem Kunstwerk-Aufsatz darauf, dass die Aura sich in einer „einmalige[n] Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ (Benjamin 1978: 479) darstellt. Er knüpft seine Überlegungen an das Kunstwerk, dessen Einzigartigkeit sich im Ritual fundiert. Rituelles und Einmaligkeit lassen sich heute im Zuge der Performance im Sinne einer solchen Erscheinung noch einmal anders denken, auch wenn Böhme darauf hinweist, dass „die künstlerische Avantgarde durch den Versuch der Überführung der Kunst ins Leben die Aura der Kunst abschütteln woll[te].“ Dieses Vorhaben sei unerfüllt geblieben, jedoch hätte die Avantgarde erreicht, darauf aufmerksam zu machen, dass das „was ein Kunstwerk macht, nicht durch seine gegenständlichen Eigenschaften allein erfaßt werden kann.“ Böhme setzt Aura und Atmosphäre wie folgt in einen Zusammenhang: „Aura bezeichnet gewissermaßen Atmosphäre überhaupt, die leere charakterlose Hülle seiner Anwesenheit.“ (Böhme 1995: 26) Atmosphären entstehen, ohne die diese Empfindenden darüber in Kenntnis zu setzen. Sie seien „von einer unauffälligen Aufdringlichkeit“ und formieren als „Wirklichkeiten, die sich als Realität geben.“ (Böhme 1995: 47) Sie, die Atmosphären, wirken demnach auf ganz subjektive und unmittelbare Weise auf den sie Erfahrenden ein. Die Verbindung zur Räumlichkeit entsteht nach Fischer-Lichte zwangsläufig. Für sie ist „der performative Raum […] immer zugleich ein atmosphärischer“ (Fischer-Lichte 2004: 200), wiewohl er sich erst über den Akt der Wahrnehmung herstellt. Atmosphären gehen jedoch keinesfalls nur mit Kunst und Künstlerischem einher, sondern sind zuvorderst „etwas räumlich Ergossenes“ (Böhme 1995: 27), das leiblich aufgenommen wird (vgl. Benjamin 1978: 479 ff./Böhme 1995: 26 ff.).
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ALL INCLUSIVE ? AKTUELLE P ERFORMANCEPOSITIONEN AM B EISPIEL VON 12 R OOMS „Die ‚performance‘ legt ihre Erkenntnisbedingungen offen, indem man Schritt für Schritt mitverfolgen kann, was jeweils geschieht, und lässt, umso besser dies gelingt, vollkommen rätselhaft werden, worum es geht.“ (BAECKER 2011: 24)
Performance, Performativität, Liveness, Präsenz, Medialität, Wiederholung, Wahrnehmung, Kollektivität, Räumlichkeit, Atmosphäre, Körperlichkeit, Ko-Präsenz – auf den vorangegangenen Seiten wurden diese performativen Eigenheiten näher erläutert. Was aber geschieht mit ihnen im performativen Prozess? An welchen Stellen können wir sie ausmachen, wie werden sie erfahrbar und sichtbar und wo werden wir ihnen gar nicht erst gewahr? Die kurze Aufeinanderfolge der fortan beschriebenen Performances wird diese Eigenheiten nicht pauschalisiert aufgreifen, sondern ein Angebot für mögliche Anknüpfungspunkte des bisher Herausgestellten unterbreiten. Das Unterkapitel offeriert ein erstes Eintauchen in vollzogene Seherfahrungen und verweist damit auf die fortlaufenden Parameter-Großkapitel, in denen diese Berichte dann konkret an die jeweiligen Oberbegriffe gekoppelt werden. Ann Lee ist nicht Ann Lee. Ann Lee ist wahlweise Nicole Bambroffe, Nikita Olivia Broadbent, Grace Luisa Driess, Ruby Morgan, Emily Mott oder Jade Rankine. Sie ist vielleicht zwölf, dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Mal dünn und kindlich, dann wieder etwas reifer und inmitten der Pubertät; hier blond, da braun, klein und ein anderes Mal größer, und: Sie war einmal eine Animefigur und wurde von Tino Sehgal zum Leben erweckt. In seiner Performance Ann Lee (2011) lässt der deutsch-britische Künstler Mädchen in Kontakt mit Besuchern treten. Immer wieder suchen die vermeintlichen Animewesen in dem viereckigen, recht kleinen Raum den Augenkontakt mit den Beobachtern. Sie fixieren das Gegenüber, sprechen es an, schweigen eine Zeit lang, sprechen weiter. „What“, so lautet eine der Fragen, „would you prefer: To be ‚busy‘ or to be ‚not too busy‘?“ Die mit Hilfe des Blicks fokussierten Besucher überlegen zumeist kurz, dann entwickelt sich ein zurückhaltender Dialog darüber, warum man diese oder jene Antwort abgegeben hat. Wenige Minuten nachdem Ann Lee Nummer eins (oder zwei, drei, vier etc.) den Raum verlassen hat, betritt Ann Lee Nummer zwei (oder eins, drei, vier etc.) den Raum und beginnt mit demselben Text von vorn. Der Spannungsbogen ergibt sich somit nicht nur aus dem, Was gesagt, sondern Wie es gesagt wird. Es ist die Performanz der Worte selbst, sowie die der Performerkörper, die den Begegnungen Nachhaltigkeit verleihen.
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Ann Lee ist eine von zwölf Performances, die in der Ausstellung 12 Rooms. Live-Art/Group Show (2012) im Essener Folkwang-Museum gezeigt wurde.31 So werden alle teilnehmenden Performer einerseits tatsächlich als Kunst-Werke in ihren jeweils eigenen Räumen ausgestellt, die Entwerkung auf Grund der performativen Verfasstheit der menschlichen Ausstellungsobjekte aber nicht nicht konzeptuell mitgedacht. In Zusammenarbeit mit der Ruhrtriennale und dem Manchester International Festival handeln Hans Ulrich Obrist und Klaus Biesenbach im Folkwang Museum Essen aktuelle Positionen von zwölf internationalen Künstlern aus. Die Künstler Xavier Le Roy, Roman Ondák, Marina Abramović, Tino Sehgal, Laura Lima, Santiago Serra, Lucy Raven, Damien Hirst, Allora & Calzadilla, Simon Fujiwara, Joan Jonas und Xu Zhen haben jeweils einen eigenen Raum zur Verfügung gestellt bekommen, um darin zehn Tage lang ihre Performance zu realisieren, ohne ein einziges Mal vor Ort zu sein. Bei Sehgals Arbeit bedeutet das, dass die Mädchen den Augenkontakt mit den Besuchern suchen. Xavier Le Roy arbeitet dahingegen in Untitled (2012) mit dem Aspekt der verhinderten Sichtbarkeit. Hier tritt der Rezipient in einen komplett abgedunkelten Raum, dessen einzige Lichtquelle sich lediglich aus dem Öffnen und Schließen der Tür ergibt. Nur in diesen Momenten lassen sich manchmal zwei, ab und zu drei in schwarzen Stoff gewickelte Wesen in einer der vier Ecken erkennen, deren Bewegungen sich ausschließlich im Miteinander ergeben. Es ist ein Knäuel von Körperteilen, das einerseits keinem singulären Körper direkt zuzuordnen ist, das andererseits aber auch die humane Existenz dahinter permanent in Frage stellt. Die Leblosigkeit erweckt den Eindruck einer Puppe und es bedarf einer langen und intensiven Betrachtung, um Sicherheit über die tatsächliche Existenz eines menschlichen Körpers zu erhalten, sofern diese sich überhaupt einstellt. Dunkelheit und Körperteile vermischen sich und lassen kurz zuvor geglaubte Sicherheiten keineswegs absolut stehen. Das Sehen wird zum permanenten Zwischenspiel von Erkennen und Nicht-Erkennen. Dabei funktioniert die Kommunikation innerhalb der Performance nicht auf einer sprachlichen Ebene, sondern auf einer nonverbalen Anteilnahme, der eine irritierte Wahrnehmung zugrunde liegt, die die im Eingangszitat des Unterkapitels angesprochene ‚Rätselhaftigkeit‘ von Dirk Baecker unmissverständlich aufdrängt. In Lucy Ravens Performance Room Tone (2012) ist der Zuschauer aktiver als er denkt. Die Künstlerin beschreibt das Werk, das sich an das Stück I am Sitting in a Room (1969) von Alvin Lucier anlehnt wie folgt: „‚Sein Stück wurde nie öffentlich aufgeführt. Aber wie in seinem Raum enthält auch dieser Raum ein Mikrofon, zwei Tonbandgeräte, einen Verstärker und zwei Lautsprecher. In diesem 31 Die Ausstellung fand vom 17. bis 26. August 2012 täglich im Museum Folkwang Essen statt.
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Raum nehme ich einen zuvor geschriebenen Text auf. Wenn ich fertig bin, werde ich die Aufnahme abspielen und auch davon wiederum eine Aufnahme machen. Anschließend nehme ich die Aufnahme und wiederhole den Vorgang, bis jede Bedeutung, mit der die Worte aufgeladen sind, von den natürlichen Resonanzfrequenzen des Raums absorbiert worden sind. Was man dann hört, ist der Klang des Raums (the room’s tone).‘“ (Zit. nach o.A. 2012: 27)
Was dem Zuschauer widerfährt, wenn er den stickigen Raum betritt, gleicht einem undurchdringlichen Wust an Geräuschen. Lucier ist in seiner experimentellen Herangehensweise aus naheliegenden Gründen mit John Cage in Verbindung zu setzen, da beide bereits gemeinsame Kompositionen entwickelt haben. Im Raum nun wird man neben den Geräuschen mit dem Anblick einer älteren Dame konfrontiert, die Kopfhörer trägt und hinter einem Mischpult steht, an dem sie ohne den Blick aufzurichten die Regler bedient. Die Teilhabe ist dabei eine vornehmlich sinnliche und verlagert sich neben der Live-Erfahrung vor allem auf einen Moment des Dokumentarischen, auf ein im Nachhinein, da diese Performance die einzige ist, die die Geräusche aller Anwesenden archiviert und langfristig festhält. Flüchtigkeit funktioniert in dieser Performance im Sinne einer festgehaltenen Flüchtigkeit und wird insoweit zu einer nachhaltigen Flüchtigkeit, da sie sich zwar auf dem akustischen Material selbst am Ende nicht mehr zuordnen lassen wird, als Spur gleichwohl materialisiert vorliegt. Während es sich hier um eine Re-Performance Luciers handelt, die von der jungen Künstlerin Raven wiederaufgeführt wird, unterliegt die RePerformance Luminosity (1997) von Marina Abramović einer anderen Methode. Wie bereits 2010 im Zuge ihrer Retrospektive im MoMa in New York, hat die Künstlerin auch für diese Performance männliche und weibliche Performer ausgewählt, die eine ihrer Performances als lebende Stellvertreter wiederaufführen. Wie ein gekreuzigter Jesus halten sie ihre Körper auf circa drei Metern Höhe über dem Boden. Als Stütze dient ihnen lediglich ein Fahrradsattel, auf dem sie nackt das Gleichgewicht zu halten versuchen. Der affizierte Schmerz wird im Zuge des Sichtbaren vorstellbar, wirkt unmittelbar und direkt. Alle dreißig Minuten wechseln die Performer über den Tag verteilt ihre Position. Abramović selbst hatte die Ursprungsperformance in den Kunst-Werken Berlin 1997 sechs Stunden lang durchgehend performt. Diese long durational Performances der Künstlerin leben stark von dem auch meditativen Zugang der Künstlerin zu ihren Arbeiten.32 Im Zuge der
32 Vgl. hierzu beispielsweise Abramovićs Interview mit Adrian Heathfield. Die Künstlerin verdeutlicht darin, dass sie im Alltag kaum Zeit für etwaige Transformationsprozesse habe. Erst ihre Arbeiten gäben ihr den Raum für dauerhafte und längere Einlassungen auf Zustände, die (mentale) Veränderungen hervorrufen können. (Vgl. Abramović 2004: 144151, insbesondere 148).
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verkürzten Performance in Essen, die ohne Abramović stattfindet, widerfährt der Arbeit allein deshalb eine völlig neue Weiterschreibung. Zum aktiven Mittun wird man in Allora & Calzadillas Revolving Door (2011) gezwungen. Hat man einmal den Raum betreten, ist die eigene Bewegung vorprogrammiert. Die Drehtür wird hier nicht durch mechanische Elemente in Bewegung gebracht, sondern durch Performer, die ihre Arme ineinander verschränken und den viereckigen Raum in ein vermeintliches Rund verwandeln. Der Bewegungsmodus der Besucher folgt der Dynamik der Performer. Stehen bleiben scheint kaum möglich, denn nicht nur die menschliche Drehtür drückt von hinten, auch die anderen Besucher, die in der Tür fixiert sind, schieben sich gegenseitig nach vorne. Allora & Calzadilla lassen hierbei nicht nur eine gemeinsame Gruppendynamik entstehen, der man sich immer erst nach einer Runde entziehen kann, sondern werfen auch das Thema der Berührung ‚spürbar‘ auf. Die Besucher schlängeln und winden sich, um keinem auf die Füße zu treten oder zu nahe zu kommen. Es ist ein Spiel von Nähe und Distanz, welches erst endet, wenn man den Ausgang aufsucht. In dieser Performance wird man schneller Teil eines Ganzen, als einem womöglich lieb ist. Entsteht bei dem Künstlerkollektiv auch für den Zuschauer ein kurzfristiges Bewegungskollektiv, in dem Nähe-Distanz-Verhältnisse aus der Spur geraten, wird in Damien Hirsts Hans, Georg/Esther, Anna/Marian, Julian (1992) dieses Verhältnis bewusst wieder aufgebaut. Hier sitzt, ebenfalls im Wechsel, ein eineiiges Zwillingspaar mit den im Titel genannten Namen vor zwei Punktbildern, deren abstrakte Anordnung sich im Gegensatz zu den Geschwistern unterscheidet. Die Zwillinge lesen ein Buch, haben die gleiche Sitzhaltung und werden dadurch tatsächlich selbst zu Objekten. Ist diese Objekthaftigkeit bei den anderen Performances nicht immer sichtbar, gerät die Skulpturalität der lebenden Performer an dieser Stelle unumwunden in den Blick. Die Kuratoren Klaus Biesenbach und Hans Ulrich Obrist seien von der Skulptur inspiriert worden, als sie über das Konzept der vormals elf und nun zwölf Räume nachdachten. Im Begleitheft zur Ausstellung schreiben sie von dem daraus resultierenden Wunsch, den Charakter von Objekten in Frage zu stellen, indem das Objekt durch einen Menschen ersetzt werde. Was passiert, wenn man „einen menschlichen Körper auf das Podest stellt – einen Performer, der für den Künstler agiert“? Der Überlegung lag die Erkenntnis der Kuratoren zugrunde, „dass der Art und Weise, in der sich Ausstellungen auf die Beziehung von Mensch und Objekt konzentrieren, etwas Begrenztes und nicht mehr Zeitgemäßes innewohnt.“ (Biesenbach/Obrist 2012: 4) Was Biesenbach und Obrist versuchen ist eine doppelte Wendung musealer Strukturen. Einerseits irritieren sie das fixierte Blickregime (denn auch wenn die Dinge einen anblicken, so gibt es bei Skulpturen und Bildern zumindest eine statische Seite) und bringen es sprichwörtlich in Bewegung. Andererseits ordnen sie das Verhältnis von Performance und Re-Performance, sowie Zugehörigkeit des Performers zum Künstler, der diesen Performer wiederum agieren lässt, um. Erst mit Abramovićs Ausstellung 7 Easy Pieces (2005) im MoMA ist die
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Re-Performance33 gewissermaßen salonfähig geworden. Immer noch gibt es zahlreiche Kritiker, die dafür plädieren, der Performance ihre Einmaligkeit nicht zu rauben und ihr stattdessen eine unauflösliche Einheit mit dem Künstlerkörper zuschreiben. Dass Abramović diese Identität aufbrach, indem sie Performances von Beuys, Acconci oder Export aktualisiert hervorbrachte, führte zu einer von Kritik begleiteten elementaren Veränderung im Umgang mit Authentizität, Künstlersubjekt und Medialisierung innerhalb der Performance Art. Die Verortung dieser Kunstform im Museum ist, besonders durch Obrist und Biesenbach selbst, vorangetrieben worden, das Konzept, den Live-Art-Werken innerhalb eines Museums nochmals eigene Räume zu gewähren und somit zu singularisieren, jedoch neu. Für die Rezeption birgt dies die Möglichkeit, sich konzentriert und intimer auf das Performte einzulassen. Die Dynamik, die beispielsweise bei Roman Ondáks Swap (2011) entsteht, ist mitunter auf die Enge des Raumes und dessen Isolation zurückzuführen. Dabei sitzen die Schauspieler John Mungai, Michel Peter und Jörg Sellerbeck im Wechsel an einem Tisch und fordern die Zuschauer34 dazu auf, etwas, dass sie bei sich haben mit jenem Gegenstand zu tauschen, das der Schauspieler in der Hand hält und von einem vorherigen Besucher erhalten hat. An Bewerbern und Geboten für den Tausch mangelt es nicht, im Gegenteil, viele überlegen, was sie entbehren können, um das Tauschgeschäft voranzutreiben. Ein Pflaster, eine abgelaufene 4er-Karte für den Berliner Nahverkehr oder auch Halsbonbons – der Tisch wird zum Umschlagplatz unterschiedlichster Gegenstände. Dass dieses Pflaster beispielsweise für den neuen Inhaber keineswegs mehr zu all den anderen Pflastern wandern wird, die sich im Badezimmerschrank stapeln, steht außer Frage. Was hier passiert ist ein ironischer Umgang mit der tatsächlichen Wertigkeit heute hergestellter Kunstwerke, die in ähnlicher Weise bereits Robert Rauschenberg mit Black Market (1961) karikiert hatte. Die kreativen aber auch ökonomischen Strukturen des Kunstbetriebs, für die Hirst im Nebenraum einen ganz eigenen Beitrag geleistet hat, werden dabei auf 33 Für die Re-Performance als Dokumentationsform sprechen sich Daniel Lang/Levitsky, Ariel Speedwagon und Quito Ziegler mit ihrem Projekt The Artist is Absent aus. Am 29. Mai 2010 ließen sie in der 25CPW Gallery 16 Performances von Marina Abramović reperformen und luden auf ihrer Homepage zum nachgelagerten Austausch mit den Besuchern ein. Ihr Standpunkt ist eindeutig: Da die Performance von dem energetischen Austausch zwischen Künstlern und Zuschauern lebe, könne die adäquateste Dokumentation einer Performance für sie nur in deren Re-Performance liegen (vgl. http://www.theartistis absent.com/?page_id=46, Stand: 03.04.2013). 34 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, wie bereits erwähnt und sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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spielerische Weise aufgeworfen und lassen den Begriff des Fetischs virulent werden. Dass Hirst mit seinen Kreativzentralen und der faktorisierten Produktion von Kunst hier süffisant angezwinkert wird, korrespondiert im gleichen Atemzug mit seiner eigenen Performance, denn die Zwillinge sitzen nicht nur teilnahmslos und lassen sich beobachten, sondern treten, einmal angesprochen, in ein Gespräch ein und weisen das Objekthafte damit einerseits als zweifelhaft aus, um es andererseits umso offensichtlicher zu betonen. Gefragt nach dem Kontakt mit Hirst und dessen Idee, stellen die Zwillinge klar, dass Hirst lediglich die Punkte für das Bild und einen, salopp formuliert, Beipackzettel aus London versandt habe, mit dem weitere Kontaktpersonen dann gearbeitet hätten. An ihrer Auswahl sei er in keinster Weise beteiligt gewesen. Die Loslösung von Autorschaft wird an dieser Stelle explizit und verweist einmal mehr auf die Relevanz, die dekonstruktivistische Infragestellung des Autors35 immer wieder zu aktualisieren. Ebenfalls auf die Objekthaftigkeit zielt die Performance In Just a Blink of an Eye (2005) von Xu Zhen ab. Wie den Matrix-Filmen entsprungen schwebt ein Mensch über dem Boden, den Blick nach oben gerichtet, die Arme ausgebreitet, lediglich die Füße haben Kontakt zum Boden. Steht oder fällt er? Wo sind die Halterungen, die die Fixierung dieser Pose überhaupt ermöglichen? Durch die weite Kleidung der Performer bleibt das Gestell, auf dem die Performer liegen unsichtbar. Dieser Zwischenzustand, den Zhen in den Körpern der Performer zu fassen versucht, weist für den chinesischen Künstler auf ein politisches Dilemma hin. Zum ersten Mal zeigte Zhen die Skulptur 2005 in Peking und ließ dort Wanderarbeiter die Rolle der Performer übernehmen. Dabei sollte „die Aufmerksamkeit auf die labilen Weltmärkte mit ihren Auswirkungen auf die informellen Ökonomien von Arbeitern und Mikrounternehmern“ (o.A. 2012: 33) gelenkt werden. Zhen schreibt dem Live-Act somit eine zusätzliche Bedeutung zu, die sich nur über die Lektüre des Begleithefts erschließt (vgl. Lorch 2012: 13). Diesem Interpretationsmodus, vor allem auch der politischen Implikation, verschließen sich Künstler wie Abramović oder auch Joan Jonas. Ihnen geht es vielmehr um Sinnentzug und ausschließliche Präsenz. Jonas versucht das über die ursprünglich von der Künstlerin selbst performte Arbeit Mirror Check (1970). Obschon ihre körperbetonten Arbeiten in den 1960er und 1970er Jahren für eine Hinwendung zu feministischen Themen36 stehen (so wie dies auch Abramović vielfach 35 Vgl. dazu das Kapitel Zur Arbeitsweise von SIGNA und einem Rück- und Ausblick künstlerischer Kollektive. 36 Vgl. hierzu Abramović: „Kunst hat kein Geschlecht. Ich bin ein Künstler. Ich kann den Feminismus und alles, für was er steht, nicht leiden, denn er stellt Frauen in ein Getto. Wenn, dann nennt mich ‚Kriegerin‘. Das Einzige, was in der Kunst für mich zählt, ist, ob sie gut oder schlecht ist.“ (Zit. nach Bärnthaler 2014: 51)
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zugeschrieben wurde), ging und geht es Jonas primär um die Auseinandersetzung mit dem Körper und der Identität. Ohne Verweisendes ist ihr am Präsenten und Gezeigten gelegen. In der Performance fährt eine junge Frau ihren nackten Körper mit einem Spiegel, den sie in der Hand hält, akribisch ab. Keine Stelle scheint sie in den circa 15 Minuten auszulassen. Der Zuschauer wird auch hier in eine Guckkastensituation versetzt, die durch die Nacktheit dem Voyeurismus Eintritt verschafft. Der Körper wird dadurch zur Hülle, die in ihrer Form exakt vermessen und durchleuchtet wird. Zuschreibungen erfolgen auf einen ersten oberflächlichen Blick, charakteristische Merkmale entstehen lediglich über Äußerlichkeiten. Verändert die zeitliche Verschiebung der Performance vom 20. ins 21. Jahrhundert diese fundamental? Meines Erachtens ja. Zwar sind körperpolitische Debatten ebenso aktiv zu führen wie vor vierzig Jahren, jedoch stellt sich der Blick auf Nacktheit als zunehmend ambivalenter dar, denn: Das Verhältnis zwischen inflationärer Nacktheit in Fernsehen oder Internet steht anno 2014 in viel härterem Kontrast zum weiterhin tabuisierten Umgang mit Nacktheit und Sexualität im Alltag. In der aufgeklärten Informationsgesellschaft sind medial verbreitete nackte Körper nichts aufsehenerregendes, tabu wird die reale und greifbare Nacktheit im (nicht-)öffentlichen Raum jedoch dadurch keineswegs. Würden Valie Export und Peter Weibel ihr 1968 auf dem Münchner Stachus performtes Tapp und Tastkino heute noch einmal aufleben lassen, so würde Exports Aufforderung, ihre hinter kleinen Vorhängen versteckten Brüste anzufassen nicht weniger Gesprächsstoff unter den Anwesenden liefern, als es damals der Fall war. Die vermeintliche Aufklärung ändert also nichts an jenem von Michel Foucault akzentuierten Machtparadigma, nach dem sich die Sexualität immer auch an eine „große historische Schuld“ bindet, die die Sünde, die mit der „Natur des Sexes“ (Foucault 1999: 19) einherging, gewissermaßen ersetzt. Es sind die „‚polymorphen Techniken der Macht‘“ (Foucault 1999: 22), die unseren Umgang mit Sex auf vielfältige Weise formen und die innerhalb der „modernen Gesellschaften“ keineswegs die Vertuschung des Sexes vornehmen, sondern das Sprechen darüber verstärken, um ihn dann wiederum „als das Geheimnis geltend machen“ (Foucault 1999: 49) zu können. Damit aber bedient man den Machtdiskurs im besten Sinne, denn „[a]uch wenn man noch so viel von ihm redet und ihn vervielfältigt, abgeteilt und spezifiziert genau dort wiederentdeckt, wo man ihn eingesetzt hat – im Grunde sucht[e] man doch nur den Sex zu verhüllen: Abschirm-Diskurs, Ausweich-Dispersion.“ (Foucault 1999: 69) (vgl. Foucault 1999: 19 ff.; 49 ff.). Wird bei Jonas nun der Körper von Kleidung befreit, um sich ihm auszusetzen und somit eine bewusste Konfrontation herauszufordern, ist die Kleidung bei Santiago Serras Veterans of the wars of Yugoslavia, Bosnia, Kosovo, and Somalia facing the corner (2012) elementarer Bestandteil. Die soldatische Uniform stellt überhaupt erst den Bezug zum Titel her und verleiht dem beschämten ‚Blick in die Ecke‘ Relevanz. Dennoch: Die Wirkung bleibt schal. Zu skulptural und statisch wendet sich die Arbeit lediglich sich selbst zu. Ähnlich ergeht es einem bei Future/Perfect von
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Simon Fujiwara, in der muskulöse Männer unter dreißig aus der Ruhrgebietsregion auf einer Sonnenbank liegen und via Kopfhörer neue Sprachen erlernen. Das Gespräch, welches die Männer, die in ihrem Alltag keine Verbindung zur Kunstszene haben, führen, ist somit ein dialogisches ohne leibhaftigen Referenten auf der anderen Seite. Denn die Stimme im Ohr, sie ist eine gewissermaßen archivierte und gehört keiner in Echtzeit verbundenen und ansprechbaren Person. Die Notwendigkeit dieser fehlenden anderen Stimme erschließt sich jedoch nicht, denn die Performance weist die einseitige Kommunikation nicht als produktive Leerstelle aus, die als Leerstelle neuerliche Fragestellungen aufzuwerfen vermag. Im nächsten und einzig nicht begehbaren, zudem kleinsten und flachsten Raum der Ausstellung geht es um den Dialog mit den Performern. In Laura Limas Arbeit Men=flesh/Women=flesh-Flat (1997/2010/2011) können sich die Performer nur rollend auf dem Boden des Raums fortbewegen. Über ein am Boden befindliches Guckloch ist es den Besuchern möglich, einen Blick zu erhaschen. So ähnelt diese Arbeit wohl am meisten einem zoologischen Ausgestellt-Sein, das sich durch den erklärenden Schriftsatz neben dem Guckloch, auf dem die geistige Behinderung der Performer zur Sprache kommt, verstärkt. Unvermittelt drängt sich das Gefühl auf, dass diese Menschen zur Schau gestellt werden. Es stellt sich die Frage, ob diese Überlegung in dieser Vehemenz ohne Wissen um die Behinderung überhaupt aufkommen würde. Dass die performenden Personen freiwillig mitmachen, wird von deren Betreuern bestätigt. Doch ist es nicht genau diese Irritation, um die es Lima geht? Die eigene Instabilität im Kontakt mit behinderten Menschen, sie wird auf diese Weise offensiv ausgestellt.37 37 Dem Thema widmete sich am 13. Mai 2013 das Symposium Behinderte auf der Bühne – Künstler oder Exponate? Symposium anlässlich von „Disabled Theater“von Jérôme Bel und Theater Hora, das im Zuge des Berliner Theatertreffens stattfand, auf dem das Stück von Bel gezeigt wurde (vgl. http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/theatertreffen/tt13_programm/tt13_programm_gesamt/tt13_veranstaltungsdetail_64534.php, Stand: 20.05.2013). Im Rahmen des Treffens erhielt Julia Häusermann, die in Bels Stück mitspielt und das Down-Syndrom hat, den Alfred-Kerr-Preis als bestes Nachwuchstalent. Peter Laudenbach begrüßt die Entscheidung in seinem Artikel und verweist wie zahlreiche andere Befürworter darauf, dass der Aufruhr um die Auszeichnung und Bels Stück selbst die Relevanz der Debatte untermauere. Mehr noch: „Die Unterstellung, sie [die behinderten Schauspieler; PG] würden von dem Konzeptchoreografen [Jérôme Bel; PG] instrumentalisiert, ist daher nicht frei von Arroganz gegenüber den Künstlern mit Behinderung, denen nebenbei auch noch die Fähigkeit einen eigenen Willen zu haben und sich entscheiden zu können, abgesprochen wird.“ Der Autor plädiert für die verstärkte Arbeit mit Minderheiten, da deren „soziale Exklusion“ sonst dazu führe, dass das Theater „sich selber moralisch diskreditiert.“ (Laudenbach 2013: 13)
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‚Außer Konkurrenz‘ und somit ohne Raum läuft das Konzept von John Baldessari mit dem Titel Unrealised Proposal for Cadavre Piece (1970). Es geht hier um das unvollendete Projekt des Künstlers, der einen Leichnam ausstellen wollte.38 Die Leiche sollte dabei dem Gemälde Andrea Mantegnas Die Beweinung Christi (um 1480) nachempfunden und den Besuchern durch ein Guckloch zugänglich gemacht werden. Durch die Betrachtung, die wie in Mantegnas Werk von den Füßen aus erfolgen sollte, hätte den Besuchern eine perspektivische Nähe erwartet, die zu einer Reaktion führen sollte, welche den Diskurs zwischen Kunst, Tod und Tabu auf neue Weise entfacht hätte. Da es bis heute keine Institution gibt, die der Ausstellung eines Leichnams zugestimmt hat, ist in Essen lediglich der E-Mail-Verkehr an eine Wand geheftet worden, in dem die Kuratoren der 12 Rooms mit den jeweiligen Beteiligten über die Realisierung des Vorhabens debattierten. Dieses unvollständige Werk inkludiert somit als einziges neben Room Tone einen Moment des Dokumentarischen. Materialität und Immaterialität geraten an dieser Ausstellungsstelle in einen ambivalenten Zustand, der darin gipfelt, dass „die Skulpturen nach Hause gehen“, wenn „das Museum seine Türen für den Abend schließt“ (Biesenbach/Obrist 2012: 4).
P ROZESSUALITÄT
UND
ARCHIVIERUNG
Die Ausstellung 12 Rooms überführt die Performance also endgültig in den musealen Rahmen und lässt ihr dennoch Raum, das Vergängliche und Prozessuale nicht gleichzeitig ad acta zu legen. Was aber macht die Manifestierung im Museum mit der ursprünglichen Idee der Performance Art, sie vor einer Festschreibung als archivarisches, dokumentarisches und institutionelles Produkt zu bewahren? Lässt sich eine solche Trennung aufrechterhalten und wenn nein: Wie können wir mit den Live-Erfahrungen, die im Folkwang Museum gemacht wurden und dessen ephemerer Qualität im Sinne einer Dokumentation oder Archivierung umgehen, um die ursprünglichen Eigenheiten der Performance zu bewahren? Diese Frage durchdringt die Performance seit den Avantgarden. Gerade durch die verstärkte Abneigung gegenüber Museen damals und der daraus resultierenden Ent-Werkung im Sinne eines Gegen, wurden Termini wie Institutionalisierung, Ar-
38 Erinnert sei hier auch an das Vorhaben des Künstlers Gregor Schneider, das er 2008 äußerte. In einem von ihm gebauten Raum, der in einem Museum aufgestellt werden sollte, wollte Schneider einen Platz für einen gerade Verstorbenen oder einen im Sterben liegenden Menschen zur Verfügung stellen. Das Vorhaben wurde bis heute nicht realisiert (vgl. Skrandies 2010b): 205 ff.).
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chivierung, Festschreibung, Dokumentation und Konservierung für die Avantgardisten zum ‚roten Tuch‘. Am Ende dieses Kapitels muss deshalb darüber nachgedacht werden, ob nicht eben der kategorische Ausschluss dieser Punkte als einer der Gründe herangezogen werden muss, der die historische Avantgarde irgendwann ins Leere laufen ließ. Dass selbst die vorab angesprochene Retrospektive Abramovićs noch im Jahr 2005 ein solch negatives Echo und althergebrachte Argumentationslinien hervorbrachte, zeugt davon, dass die Einmaligkeit, das Einzigartige und das Ephemere für zahlreiche Vertreter als Hauptkriterien der Performance gelten und eben darum nicht durch mediale Festschreibungen in Gefahr geraten dürfen. Dass sich Museumsdirektoren oder Kuratoren erst mit Beginn des 21. Jahrhunderts konsequent dieser Einschätzung widersetzen und Wege suchen, Performances angemessen auszustellen, zu sammeln und zu archivieren verweist auf den noch neuen und wenig ausgereiften Umgang mit dieser Problemstellung. Forschungsprojekte wie archiv performativ. Ein Modellkonzept zur Dokumentation und Aktualisierung von Performancekunst, welches sich am Cultural StudiesInstitute der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) von 2010 bis 2012 ganz gezielt der Archivierung, Dokumentation und Tradierung der Performancekunst widmete und nicht nur kulturwissenschaftlichen, sondern auch qualitativen Forschungskriterien folgte, stehen für eine mögliche Form der wissenschaftlichen Annäherung an diese Problematik. In dem Projekt wurden zahlreiche Akteure der Performancekunst, wie Wissenschaftler, Kuratoren, Künstler, Sammler oder Archivare interviewt, um darüber Positionen zu den relevanten Begriffen zu erhalten. Diese wurden hernach um die Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Dokumentationsmaterial ergänzt. Die Projektbeteiligten plädieren für einen performativen, vor allem aber auch erweiternden Umgang mit dem Material. Sie begreifen im von ihnen untermauerten Begriff der ‚Tradierung‘ keineswegs das Rekurrieren auf Vergangenes und Veraltetes, sondern den Versuch, im Zuge der Dokumentation von Performance dieser eine Geschichtsschreibung überhaupt zu ermöglichen, diese aber nicht fixierend, sondern erweiternd und verschiebend möglich zu machen. Deutlich wird anhand des Projektes, dass es, wie gehabt, die eine Wiedergabe nicht geben kann und soll. Vielmehr ist mit dem Potential umzugehen, Umschreibungen und somit Veränderungen zuzulassen, um dem performativen Status des Artefaktes eine entsprechende Notation zu ermöglichen. Re-Performances werden von den Projektmitarbeitern als eine mögliche Variante genannt, ebenso die Diskussion über Gesehenes und das Erlebte. Das Performative und Prozessuale soll laut der Projektmitarbeiter deshalb auch im Archiv aufrechterhalten bleiben und der Ort weniger im Sinne der Konservierung und Abriegelung verstanden, sondern öffentlich zugänglich sein. Besonders vehement plädieren die Initiatoren für eine Aufwertung der Zuschauererfahrungen und stellen sich damit gegen eine alleinige Autorschaft der Künstler. Die Wissenschaftler erkennen die persönlichen Erfahrungsberichte
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der Zuschauer nicht nur als lediglich subjektive und damit wenig objektivierbare Dokumente an, sondern machen anhand dieser eine notwendige Möglichkeit zur Wiedergabe vergangener Performances aus. Dieser Aspekt ist elementar, da etwaige Erfahrungsberichte von der Forschung bis dato kaum als relevantes Material berücksichtigt wurden. Auf der Institutshomepage wird das Projekt mit allen Interviews und Ergebnissen ausführlich dargestellt.39 In eine ähnliche, wenn auch thematisch eingeschränkte Richtung geht das Projekt Re.Act.Feminism. A Performing Archive, das zwischen 2011 und 2013 durch Europa tourte und dort mittels Veranstaltungen, Tagungen, Performances oder öffentlichen Ausstellungen zum Diskurs über Queer-, feministische oder genderkritische Performances zwischen 1960 und 1980 einlud.40 Auch das Performance-Archiv des Performers Boris Nieslony, Die schwarze Lade, in dem Performance-Materialien, Videos und Texte von 1975 bis heute angesammelt werden, versucht, sich dem Archiv-Begriff performativ und nicht statisch zuzuwenden, und vor allem Exzerpten, Fragmenten, unvollendeten oder (noch) nicht aufgeführten Konzepten einen Daseinsort zu ermöglichen.41 Die Performance-Kunst aus dem Museumskontext herauszuhalten oder dem Archiv entgegenzustellen, erweist sich als überholt. Kommen wir deshalb noch einmal zu den 12 Rooms zurück. In seinem Artikel über die Ausstellung verweist Michael Kohler darauf, dass bereits in der Neo-Avantgarde das „lebendige Theater“ des Kollektivs Living Theatre, an der in den 1960er Jahren aufgeworfenen Utopie, Kunst und Leben miteinander zu verbinden, scheiterte und dadurch „den Weg aller Kunstutopien“ antreten musste, nämlich im Museum zu landen. Im Konzept von 12 Rooms werde diese Übertragung ins Museale zeitgemäß renoviert. So sei im Folkwang Museum eine „tote Utopie“ zu sehen, doch sehe diese „so gesund aus wie das blühende Leben selbst.“ Und wenn am Ende „die Kunstutopie des lebenden Theaters […] nicht auferstanden ist“ (Kohler 2012: 28), weil das ‚Vorschieben‘ von stellvertretenden Performern durch die Künstler dafür „zu eingängig“ war, so bildet die Ausstellung nach Kohler dennoch eine Option, das Museum für eine Schwellenerfahrung mit den Besuchern zu gewinnen, die ihm sonst fremd geblieben wäre. Nach diesen Schwellenerfahrungen wird die performative Kunst auch weiterhin proaktiv suchen, um der eigenen Prozessualität inmitten von Gewesenem und Zukünftigem eine aktive Stimme zu verleihen.
39 Vgl. http://www.zhdk.ch/index.php?id=39337 (Stand: 22.01.2014). 40 Vgl. für weitere Details: http://www.reactfeminism.de/index.php (Stand: 08.01.2014). 41 Vgl. hierfür: http://www.asa.de/asa_broschure.pdf (Stand: 23.01.2014).
Konstellationen der Avantgarde
V ORBEMERKUNG „The discourse of the avant-garde interests us not because it is an opportunity to promote or discredit another revolutionary romance but because it is the most fully articulated discourse of the technology of recuperation.“ (PAUL MANN 1991: 15)
Auf welche Weise der Diskurs über die Avantgarde in dieser Arbeit geführt werden soll, wurde in der Einleitung bereits erwähnt. Demgemäß verstehe ich sowohl die historische als auch die Neo-Avantgarde als Reservoir für Konzepte, Herangehensweisen und Strategien, die von heutigen performativen Kunstformen überarbeitet aufgegriffen werden. Wie dem vorangegangenen Kapitel wird auch diesem die Funktion eines Überblickskapitels zukommen, das die Avantgarde1 neben dem Performativen begrifflich fundiert. Die Avantgarde nun kann ohne ihre Relation zur Moderne nicht näher befragt werden, schließlich hat die Avantgarde sich im Zuge ihres Abgrenzungsversuchs von der Moderne immer auch auf sie bezogen. Das Verhältnis beider gestaltet sich 1
Unter den Gesamtterminus Avantgarde fallen die historische und die Neo-Avantgarde. Mit den Avantgarden sind in der Folge die einzelnen Bewegungen von historischer und Neo-Avantgarde gemeint, sowie die damit einhergehenden Theorien, Visionen und Konzepte die parallel dazu entstanden und unlösbar miteinander verbunden sind. Letztere werden auch unter dem Begriff des Avantgardismus zusammengefasst, vielfach ist mit dem Suffix -ismus eine über die Ismen hinausgehende Perspektive der Avantgarde gemeint. Avantgarde und Avantgardismus werden daneben auch synonym verwendet. Eine dezidierte Begriffsanalyse wird nicht weiterverfolgt, sondern für eine Subsumierung unter dem Gesamtterminus Avantgarde plädiert.
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als nicht eindeutig zu fassendes, komplexes und kontrovers diskutiertes und wird im Folgenden aufgeworfen, nicht aber in Gänze problematisiert. 2 Zu tun hat das einmal mehr damit, dass die Arbeit sich keiner Epochenanalyse verschreibt. Dieses und das vorangegangene Kapitel sind stattdessen als vorbereitende Grundlage zu verstehen, von der aus in die Parameter-Kapitel übergeleitet wird. Gleichwohl verfolgt dieses Kapitel eine etwas andere Herangehensweise als das zur Performance. Da die Eigenheiten einzeln ausgewählter Avantgardebewegungen erst im Zusammenspiel mit den jeweiligen Parametern augenscheinlich werden, bleibt ein Gesamtüberblick an dieser Stelle aus. Auf den folgenden Seiten wird es stattdessen um eine historische und definitorische Einordnung gehen, die dem anschließenden Teil der Arbeit den Weg bereiten soll.
B EGRIFFSGESCHICHTE UND DER AVANTGARDE
E IGENSCHAFTEN
Für eine Konturierung des Avantgarde-Begriffs lässt sich mit Rodolf Neuhäuser auf das Jahr 1794 blicken, in dem die Zeitschrift Avantgarde als „jakobinische[...] Armeezeitung aus der Zeit des Terrors“, den militärischen Tenor der Vorhut aufgriff und damit „weitere Assoziationen [wie; PG] […] Kampf, Aggression, Revolte, Antagonismen, Feindbilder etc.“ (Neuhäuser 1987: 26) ins Spiel brachte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkte der Philosoph Henri de Saint-Simon die Erzählung der revolutionär-romantischen Herkunft der Avantgarde. Saint-Simon erkannte im Künstler, laut Neuhäuser, „vor allem den gesellschaftlich und politisch aktiven Bürger, dem eine Schlüsselstelle in der Durchsetzung der utopischen Vorstellungen von einer erneuerten Gesellschaft“ zukommen sollte. Saint-Simons Schülerin, Olinde Rodrigues, beschrieb 1825 die Künstler jener Zeit als dienende Avantgarde, die ihre eigenen ‚Waffen‘ in Form von künstlerischen Ideen und Impulsen unter das Volk zu bringen gedachten. Der Avantgardismus erweist sich innerhalb der Kunst bereits bei den Saint-Simonisten als gesellschaftlicher Ausdruck und „Träger der progressiven Ideologie“ (Neuhäuser 1987: 26). Die sich daran knüpfende revolutionäre Determination, Hans-Egon Holthusen spricht etwas genauer von „sozialrevolutionär“, hing der Bestimmung der Avantgarde von Anbeginn an und hatte zur Folge, dass künstlerischer und politischer Fortschritt gleichgesetzt wurden. Holthusen bilanziert, dass „[d]er Künstler […] als Funktionär des gesellschaftlichen Fortschritts [und; PG] die Kunst als Vorausabteilung der Menschheit auf ihrem 2
Zu einer ausführlicheren Darstellung des Verhältnisses von Moderne und Avantgarde siehe beispielsweise: Asholt; Fähnders 2000: 9-27/von Beyme 2005: 31 ff./Damus 2000/ Fähnders 1998/Klinger; Müller-Funk 2004: 9-23/Schmidt-Burkhardt 2005.
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Marsch in eine schönere Zukunft“ (Holthusen 1964: 6) eng miteinander verbunden gewesen seien. Auch wenn Paul Brousse und Fürst Alexander Kropotkin 1878 die politische Zeitschrift L’Avantgarde herausbrachten, ohne sich explizit der Kunst zuzuwenden, wurde der Zusammenhang von künstlerischer Avantgarde und politischer Revolution größtenteils aufrechterhalten. 3 Schmidt-Burkhardt ergänzt, dass „der Deutsch-Französische Krieg und die Unterdrückung der Pariser Commune“ (Schmidt-Burkhardt 2005: 5) dazu beitrugen, den Begriff auf soziopolitische Weise zu untermauern. Im 20. Jahrhundert betonte unter anderem Theo van Doesburg neben der politischen die „‚soziale[...]‘“ und „‚ästhetische[...]‘“ (zit. nach SchmidtBurkhardt 2005: 12) Konnotation des Avantgarde-Begriffs. Wurde dieser zwar weiterhin von einer „antitraditionalistische[n], antibürgerliche[n]“ (Neuhäuser 1987: 26) Konzeption getragen, die eine politisierte Durchdringung nahelegte, war das Ästhetische vom Avantgarde-Terminus fortan nicht mehr zu lösen. Der Krieg in Frankreich führte dann dazu, dass die Terminologie nicht nur in gängigen Printmedien, sondern auch von Literaturzeitschriften aufgegriffen wurde. 1912 verwendete Guillaume Apollinaire den Begriff in seiner Beschreibung futuristischer Künstler. Pierre Albert-Birot, der mit Apollinaire befreundet war, kündigte seine 1916 gegründete Kunstzeitschrift SIC mit dem Zusatz „revue d’avant-garde“4 (Schmidt-Burkhardt 2005: 8) an, auch van Doesburg nannte seine Beitragstitelreihe 1921 Revue der Avant-Garde. Ab dem Jahr 1925 fand der Begriff in der alltäglichen Konversation der Künstler Verwendung und doch geschah dies kaum im Sinne einer „Selbstbezeichnung“ (Fähnders 2007: 279), da die Zugehörigkeit zum jeweiligen Ismus5 für die Künstler im Vordergrund stand. Zu eben diesem Ismus formulierte der Aktion-Herausgeber Franz Pfemfert 1910: „‚Ein ISMUS ist etwas Berechtigtes, denn diese Endung bedeutet die panische Besitzergreifung der Welt durch einen Gedanken‘“ (zit. nach Fähnders 1998: 200). Dadaismus, Futurismus oder Surrealismus stellten Bewegungen dar, in denen sich die verschiedenen Künstler mit Gleichgesinnten zusammenfanden und ihre Gemeinsamkeit in schriftlicher 3
Astrit Schmidt-Burkhardt verweist auf die Teilnahme Charles Baudelaires am Avantgardediskurs, in dem dieser in seinem Tagebuch Mon cœur mis à nu (1859-1865) von den „littérateures d’avantgarde“ schrieb. Im Gegensatz zu den Avantgardisten verneinte Baudelaire aber deren „Gemeinschaftsgeist“ (Schmidt-Burkhardt 2005: 5) und stand ihnen grundsätzlich skeptisch gegenüber (vgl. Schmidt-Burkhardt 2005: 5).
4
Der Vorwurf Albert-Birots, dass sich um 1919 zahlreiche Künstler als Avantgardisten bezeichneten und der Begriff deshalb zu massentauglich geworden sei, führte dazu, dass er die Zeitschrift SIC einstellte (vgl. Schmidt-Burkhardt 2005: 9).
5
Hubert van den Berg und Walter Fähnders differenzieren im Metzler Lexikon zwischen Ismen und Bewegungen, wovon ich in dieser Arbeit absehen möchte (vgl. van den Berg/ Fähnders 2009: 1 ff.).
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Form manifestierten.6 Die kleine Mitgliederzahl der jeweiligen Bewegung ermöglichte es den Künstlergruppen, eine andere Form des Arbeitens zu entwickeln und die Spezifizierung ihrer Vorhaben voranzutreiben. Gleichwohl eröffnete die Avantgarde als Überbegriff parallel zur Etablierung der Einzelbewegungen, ein „quasi definitorisches Bewusstsein“ (Fähnders 2007: 279), das als „avantgardistische[s] Selbstbewußtsein“ (Fähnders 1998: 199) wiederum Einfluss auf die Ismen nahm. In Form eines übergreifenden Netzwerks verstand man sich innerhalb Europas jedoch erst nach 1945. Dies hatte unter anderem damit zu tun, dass die Mannigfaltigkeit der Ismenfindung bereits um 1920 zu selbstkarikierenden Stellungnahmen der Künstler führte und die Bewegungen ihre eigene Begriffsbildung destruierten. Anhand der deutlichen Abgrenzungen der Bewegungen untereinander, aber auch der inhaltlichen Differenzierungen in den Gruppen zeigt sich, dass die Künstler ihre Zugehörigkeit nicht der Avantgarde, sondern der jeweiligen Einzelbewegung zuschrieben (vgl. Fähnders 1998: 199 ff./Fähnders 2007: 200 ff.). Die von Pfemfert angesprochene ‚Besitzergreifung‘ verkompliziert nun die Wirkmächtigkeit der avantgardistischen Ismen selbst, schließlich statuierten diese qua Manifest oder Proklamation ihre eigene Daseinsberechtigung und fielen dem Manifestantismus gewissermaßen anheim. Wie konnte das mit dem avantgardistischen Credo vom Voranschreiten, dem Unabhängigen und Zufallsgeleiteten in Einklang gebracht werden? Stellt die Avantgarde sich aus dieser Perspektive nicht als ruinöse dar, weil ihre Ismen sich im Zuge ihrer Manifestierung jeglicher Legitimation zu berauben scheinen?7 Lautete die Antwort ‚Ja‘, ließe sich bereits zu Beginn der Avantgarde ihr Ende festschreiben. Dass die Ismen in ihrem Versuch eine manifeste Gründungsform zu wählen, langfristig an dieser bemessen werden sollten drängt sich auf. Gerade deswegen dürfen Ruinöses und Scheitern aber keineswegs destruktiv verstanden werden. Wir wissen heute, dass die im Manifest verankerten Vorhaben einer proklamierten Dauer-Erneuerung einerseits im Weg standen, andererseits immer dann ‚nützlich‘ wurden, wenn einem Künstler die individuelle Auslegung oder Zuwiderhandlung der im Manifest festgeschriebenen Thesen als widerständige Abweichung vorgeworfen werden sollte. Diese Diskrepanz legt nicht nur die Volatilität der Avantgarde beispielhaft frei, viel eher enthüllt sie ein Verfahren, wie der dauerhafte Verfall der Avantgarde aufgehalten werden könnte. Indem wir diese Volatilität anerkennen und jedem avantgardistischen Vorhaben zugestehen, kann die Avantgarde rückblickend und fortan als Form verstanden werden, die sich 6
Siehe dazu detailliert den Exkurs: Das Manifest(e).
7
Adorno formuliert in diesem Zusammenhang, dass die „Ismen […] tendenziell Schulen [sind], welche die traditionale und institutionelle Autorität durch sachliche ersetzen.“ (Adorno 1973: 45) Gemäß dieser Aussage widersprechen die Ismen sich selbst, wenn sie als ihr Ziel die Auflösung etwaiger Autoritäten fordern.
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zwar manifestieren lässt, diese Manifestation aber mit einer ästhetischen Haltung in Einklang bringt, welche emergente Prozesse permanent einfordert. Ästhetische Haltung und Theorie der Avantgarde verbleiben dann nicht mehr nur als Ruine, sondern als stets zu renovierender Bau, der entsprechend sich wandelnder Kontexte dauerhaft hinterfragt und angepasst werden muss. Das Manifest als Gründungsmoment würde sogleich an eine diskursive Praxis gebunden, die sich zwar als zielgerichtete Strategie bestimmen lässt, hinsichtlich ihrer Auslegung gleichwohl flexibel und beweglich bleibt. In dieser fluiden Form wird Avantgarde zu einem Denkgebäude, mit dem das Verhältnis von avantgardistischem Tun und zeitgenössischer Performance-Kunst neu bestimmt werden kann (vgl. van den Berg; Fähnders 2009: 1 ff./Bürger 1974: 78/Fähnders 1998: 199 ff./Fähnders 2007: 200 ff./Holthusen 1964: 7/Neuhäuser 1987: 26 ff./Schmidt-Burkhardt 2005: 5 ff.).8 Hierfür ist als erstes ein Blick auf die gemeinsamen Elemente innerhalb der einzelnen Avantgardebewegungen sinnvoll, bevor in den Parameter-Kapiteln die zeitgenössische Performance-Kunst aufgegriffen wird. Dabei lassen sich neben dem ‚Einbruch der Realität‘, der das Verhältnis zwischen Künstler, Rezipient und Kunstwerk in den Avantgarden neu ordnete, weitere Gemeinsamkeiten feststellen. Als solche stellen Asholt und Fähnders den „Gruppen- und Bewegungscharakter“, die „Aufhebung der künstlerischen Autonomie“, „die Überführung von Kunst in Leben einschließlich beider Politisierung“ und „die tendenzielle Auflösung des Werkbegriff[s]“ (Asholt/Fähnders 2000: 15) heraus. Trotz dieser Überschneidungen blieb ein einheitlicher und übergreifender Stil aus. Bürger bemerkt dazu, dass die Avantgarden „die Möglichkeit eines epochalen Stils liquidierten, indem sie die Verfügbarkeit über die Kunstmittel vergangener Epochen zum Prinzip erhoben.“ (Bürger 1974: 24) Das variable und flexible Vermengen von Kunstmitteln, Handlungen und künstlerischen Verfahren wurde zur Grundlage für eine Kunst, die alternative Rezeptionsmodelle einforderte und dem Zufall und der Unbestimmbarkeit die Tür öffnete. In dieser Gemengelage kristallisieren sich jene Parameter der Avantgarde heraus, die im Zusammenhang mit performativen Kunstformen des 21. Jahrhunderts als gemeinsame Schnittpunkte herangezogen werden sollen. Außer der besagten 8
Schmidt-Burkhardt wie auch Asholt und Fähnders sind sich einig darin, dass die „Historisierung und Theorisierung der Avantgarde“ (Asholt/Fähnders 2000: 12) in engem Zusammenhang mit den avantgardistischen Strömungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Neo-, Trans- und Postavantgarde, stehe. Auch sei auffällig, dass die Ausdifferenzierung der Avantgarde in den verschiedenen Nationen keinesfalls homogen erfolgte. Von einer allgemeinen und international gültigen Bestimmung des Begriffs könne deshalb nicht die Rede sein (vgl. Asholt; Fähnders 2000: 12 f./van den Berg; Fähnders 2009: 1/SchmidtBurkhardt 2005: 13).
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kollektiven Arbeit, die immer auch im Kontrast zum Einzelkünstler steht, werden die Künstler-Zuschauer-Relation und die damit einhergehende Betonung partizipativer Ansätze als weiterer Parameter fokussiert. Daneben ist nach dem Bruch mit Kontinuitäten und dem sich daraus entwickelnden Fortschritt zu fragen. Der vierte Parameter, die Utopie, ergibt sich insbesondere aus den „Formen des Widerstands gegen den status quo“ (Münz-Koenen 2009: 352), welcher Avantgarde und Utopie eint und dabei auf ein disparates Verhältnis zur Gegenwärtigkeit verweist. Der Versuch der künstlerischen Bewegungen, eine Gegenwärtigkeit mit utopischen Lebensmodellen gestalten zu wollen, darf bei näherer Betrachtung der Avantgarde einerseits und der zeitgenössischen performativen Kunst andererseits nicht ausbleiben, um – wie auch anhand der anderen drei Parameter – etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten zu können (vgl. Asholt; Fähnders 2000: 12 ff./ Münz-Koenen 2009: 352).
Z UM V ERHÄLTNIS
VON
AVANTGARDE
UND
M ODERNE
Bevor das Verhältnis zwischen avantgardistischem Tun und zeitgenössischer Performance im Rahmen der Parameterstruktur erörtert werden kann, gilt es zuvor das allgemeinere Verhältnis zwischen Moderne und Avantgarde zu bestimmen. Beide sind in einer unzuverlässigen zeitlichen Bestimmung begriffen und funktionieren im Grunde immer nur als regulative Idee. 9 Die kunsthistorische Epocheneinteilung bildet das jedoch kaum ab, wird sie doch größtenteils von einer linearen Geschichtsschreibung bestimmt, der die Relativität solcher Ideen eher fremd ist. Als Ausnahme erweist sich Paul Mann, mit dem die Avantgarde als „a history in resistance to such histories“ (Mann 1991: 9) verstanden werden kann. Auch Walter Benjamin las Geschichte nicht linear, sondern sprach sich für einen historischen 9
Obschon eine analoge Übertragung der folgenden Überlegung Lyotards auf die Verhältnisbestimmung von Moderne und Avantgarde nicht uneingeschränkt möglich ist, so zeigt sich darin der mir wichtige Punkt, dass chronologische Epochenkonstruktionen nur schwer aufrechtzuerhalten sind. Lyotard beschreibt dies anhand des Verhältnisses von Moderne und Postmoderne. Demnach „[können] […] weder die Moderne noch die sogenannte Postmoderne als klar umrissene historische Entitäten identifiziert und bestimmt werden […], wobei die letztere stets nach der ersteren käme. Denn die Postmoderne ist schon in der Moderne impliziert, da die Moderne – die moderne Temporalität – in sich einen Antrieb enthält, sich selbst im Hinblick auf einen von ihr unterschiedenen Zustand zu überschreiten. […]. Die Moderne geht konstitutiv und andauernd mit ihrer Postmoderne schwanger.“ (Lyotard 1988: 6) Unter Erste Unterschiede und Gemeinsamkeiten werde ich auf die regulative Idee zurückkommen.
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Materialismus aus, der Vergangenheit mit Hilfe vergessener, vertuschter oder unsichtbarer Ereignisse, Dinge und Handlungen zu beschreiben versuchte. 10 Das Nicht-Artikulierbare und Ungesagte bekam dabei über die „messianische[...] Stillstellung des Geschehens“ (Benjamin 2007: 138) eine Kraft, die ihren Platz in der Geschichte in Form einer monadologischen Struktur einforderte. Für Benjamin stellte sich dieser Ansatz in allen historischen Zyklen dar, auch in der Moderne. Wenden wir uns also dem Verhältnis von Moderne und Avantgarde zu, so scheint es mir sinnvoll, neben diesen Brüchen auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu skizzieren. Durch diese soll der Versuch angestellt werden, Moderne und Avantgarde parallel zu einer rein zeitlich orientierten Einordnung auf divergente Weise miteinander in Verbindung zu setzen (vgl. Benjamin 2007: 138 ff./Mann 1991: 9 f.). Erste Unterschiede und Gemeinsamkeiten Als Gemeinsames lässt sich bei Moderne und Avantgarde neben dem permanenten Versuch der Erneuerung eine Politisierung der Vorhaben erkennen, die sich im 19. Jahrhundert verdichtet. „Die Moderne wurde zum ‚Projekt‘ erklärt; die prozesshafte Modernisierung wurde zum Programm erhoben. Die Avantgarde – ein Kollektiv-Singular, wie er für das Jahrhundert der Ideologien typisch war – entstand aus dem militärischen Sprachgebrauch und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts für eine Speerspitze des Fortschritts benutzt. Sie sollte die ästhetische Innovation und den politisch-sozialen Fortschritt zugleich maximieren.“ (von Beyme 2005: 31)
Beide „Konzepte“, wie Cornelia Klinger und Wolfgang Müller-Funk es auffassen, stellten „eine[n] radikalen Bruch[...] mit der Vergangenheit“ dar, der neben dem „wissenschaftlich-technischen und gesellschaftlichen Fortschritt[...]“ auch im „Bereich des Ästhetischen“ (Klinger/Müller-Funk 2004: 9) vollzogen wurde. Indem sowohl Avantgarde als auch Moderne als „Gattungsgrenzen übergreifende Sammelbezeichnungen“ verwendet wurden, vereinten sie eine Vielzahl unterschiedlicher künstlerischer Bewegungen in sich.11 In gleichem Maße wurden Moderne und 10 Im Kapitel Fortschritt/Kontinuität wird näher darauf eingegangen. 11 Clement Greenberg ordnet dem Modernismus im Jahr 1960 „mehr als nur Kunst und Literatur“ zu. Vielmehr umfasse dieser „heute fast alles, was in unserer Kultur wahrhaft lebendig ist.“ (Greenberg 1997: 265) Auch erscheint ihm ein komplettes Auseinanderdividieren von Avantgarde und Moderne unmöglich und so hält er an dem Begriff der Moderne im Grunde weiter fest, obschon er ihn 1980 lieber als Modernismus differenziert wissen will, da dies „den großen Vorteil“ habe, ihn „historisch besser situierbar“ (Green-
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Avantgarde jedoch von einer „ständig bevorstehenden Drohung eines Endes“ (Klinger/Müller-Funk 2004: 12) verfolgt, die aus der Suche nach dem Neuen, Aktuellen und dem der Tradition Entgegengesetzten resultierte. Eine Differenz findet sich für die Autoren in der „Zeitauffassung“, da das lateinisch von modo hergeleitete „modern einen auf die Gegenwart bezogenen Fokus“ besitzt, die Avantgarde mit ihrer militärischen Bedeutung einer vorauseilenden Eliteeinheit dagegen ein Spektrum über die Gegenwart hinaus antizipiert, das jedoch nah genug liegt, um es unmittelbar erreichen zu können. Klinger und Müller-Funk ordnen deshalb den Ausspruch „‚the future is now‘“ der Avantgarde zu, wohingegen die Moderne mit „‚now is the future‘“ zu bezeichnen sei. Finde in erstem Fall also die Zukunft bereits in der Gegenwart statt, werde diese in der Moderne „in die Zukunft fortgeschrieben“. Abgesehen von der temporalen Unterscheidung werfen die Autoren eine „geo-politische[...] Differenzlinie“ auf, nach der moderne Länder eher mit den ihrer Meinung nach fortschrittlichen Ländern des anglophonen Westens assoziiert wurden, „zurückgebliebene Länder (wie Deutschland, Italien, Russland und andere osteuropäische Nationen)“ dahingegen repräsentativ für die Avantgarde standen. Der Umkehrschluss liegt auf der Hand und wird als weiteres Differenzkriterium aufgezeigt: Das ‚Zurückbleiben‘ forciert ein ‚Vorwärtskommen‘, das sich vielfach revolutionär und aktiv gestaltet. Mit der Avantgarde werde gemeinhin gesellschaftliches Engagement verbunden, das oftmals „politische Züge“ getragen habe und aktionistisch dahergekommen sei. Für die Kunst bedeutete das, die „engagierte[...] Kunst“ der Avantgarden als Gegensatz zur „reine[n] Kunst“ (Klinger/Müller-Funk 2004: 12) der Moderne zu verstehen. Auch hinsichtlich der Autonomie12 zeigt sich ein Gegensatz. Forcierte die Moderne den Autonomiestatus von Kunst, führte dieser für die Künstler der historischen Avantgarde jegliche Selbstkriberg 1997: 431) zu machen und ihm eine Fortschreibung bis ins Heute zu ermöglichen. Mit Blick auf die Postmoderne müsse kritisch nachgefragt werden, welche adäquatere Vorstellung von Modernismus sie vorlege, um ihr überhaupt eine Notwendigkeit zusprechen zu können. Greenberg spricht sich für eine qualitative Aufrechterhaltung von ästhetischen Maßstäben aus, die er innerhalb der für ihn aktuellen Kunst gefährdet sieht und hält deshalb am Modernismus fest, der im Gegensatz zur Postmoderne „die höchsten Qualitätsniveaus in der Praxis und im Geschmack und in der Wertschätzung von Kunst“ (Greenberg 1997: 444) weiterhin aufrechterhalte. Moderne und Modernismus, Avantgarde und Avantgardismus erhalten durch Autoren wie Greenberg inhaltliche Abstufungen, die von Autoren wie Asholt und Fähnders, von Beyme, Damus oder Schmidt-Burkhardt differenziert diskutiert, von anderen wiederum nur beiläufig gebraucht werden (vgl. Greenberg 1997: 429-445). 12 In den Kapiteln Konstellationen des Performativen und Künstler/Zuschauer wird die Autonomie kontextspezifisch noch einmal aufgegriffen.
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tik von vorne herein ad absurdum. Reflexionen von außen konnten dadurch nur mehr ins Leere laufen und mussten zwangsläufig systemimmanent verbleiben (vgl. von Beyme 2005: 31 f./Klinger; Müller-Funk 2004: 9 ff.). Avantgarde und Moderne zwischen regulativer Idee und historischer Einordnung Kommen wir nun auf besagte regulative Idee zurück, als die sich Moderne und Avantgarde verstehen lassen, und die eine historische Einordnung verkompliziert. Klaus von Beyme koppelt zwar den Beginn der Moderne an die französische Revolution, äußert gleichwohl aber Bedenken, ob eine zeitliche Eingrenzung überhaupt möglich sei. Relevanter scheint hier deshalb der Hinweis, dass vielfach „der Zusatz ‚Klassische Moderne‘ die Beschränkung auf die Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts plausibel zu machen versucht“ (von Beyme 2005: 31). Bei anderen Wissenschaftlern wird diese Vorgehensweise jedoch hinfällig und setzt bereits mit der Romantik ein. Martin Damus greift – wie knapp dreißig Jahre vor ihm Peter Bürger – für eine Zuspitzung den Begriff der „historischen Avantgarden“ (Damus 2000: 20) auf, in dem jene Künstler(gruppen) in Augenschein genommen wurden, die die Kunst in das Leben überführten und „am gesellschaftlichen Leben gestaltend teilhaben“ (Damus 2000: 21) wollten. Auch für Walter Fähnders ist eine solche Spezifizierung der Avantgarde zur ‚historischen Avantgarde‘ eine Möglichkeit, dem „inflationäre[n] und uneinheitlichen Gebrauch[...] des Terminus in Öffentlichkeit und Wissenschaft“ (Fähnders 1998: 199) aus dem Weg zu gehen. Ihren Beginn knüpft er an das futuristische Manifest von 1909, das Ende geht für ihn mit dem Zweiten Weltkrieg einher. Die Moderne bezeichnet Fähnders als „Gegenbegriff“ (Fähnders 1998: 200) zur Avantgarde, welche gleichermaßen aber auch als Oberbegriff zu verstehen sei. Gemeinsam mit Wolfgang Asholt weist Fähnders auf die Position Renato Poggiolis hin, der Anfang der 1960er Jahre von der Avantgarde als „prononcierte[m] Modernismus“ sprach. Die „Homologie zwischen Avantgarde und Moderne/Modernität“ (Asholt/Fähnders 2000: 13), stellten analog zu Poggioli zahlreiche Vertreter der Postmoderne heraus, ohne dieser Homologie jedoch die von Poggioli zugeschriebene Langfristigkeit zuzugestehen (vgl. Asholt; Fähnders 2000: 13 f./von Beyme 2005: 31/Damus 2000: 20 f./Fähnders 1998: 199 f.). Immer wieder wurde die Avantgarde auch als Fortführung der Moderne beschrieben. Von Beyme versteht sie dahingehend „als Radikalisierung der Moderne“ oder auch als „späte radikale Weichenstellung der Moderne“. Eine chronologische Einordnung ist für von Beyme zwar nur im zweiten Schritt relevant, unbeachtet aber lässt er sie nicht. Wie Bürger macht er die „Moderne im politischen Raum ab 1789“ (von Beyme 2005: 32), in Deutschland etwa gegen 1887 aus. Ebenfalls in die
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„zweite[...] Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (Damus 2000: 20) verlegt Damus den Entwicklungsbeginn der modernen Kunst. Die Wurzeln der Moderne reichen also bis in das späte 18. Jahrhundert zurück, Aufmerksamkeit in der Gesellschaft wurde ihr aber insbesondere ab dem Ende des 19. Jahrhundert zuteil. Durch die Abkehr von feudalistischen Ordnungen, die eine Öffnung der Kunst fernab höfischer Vorgaben und Prinzipien ermöglichte, konnte der Wunsch nach künstlerischer Autonomie innerhalb der Moderne tatsächlich realisiert werden. In der Folge führte das nicht nur zu einer veränderten strukturellen Zusammensetzung der Rezipienten, auch die individuelle und subjektive Wahrnehmung der Künstler und deren künstlerischen Äußerungen rückten verstärkt in den Vordergrund. Die Betonung des Abstrakten wurde mimetischen Darstellungen und damit auch der vorgabegetreuen Repräsentation von Wirklichkeit vorgezogen, zumal Letztere die intrinsische Motivation vieler Künstler nur noch selten abbildete. Mimetische und die Wirklichkeit repräsentierende Kunstprinzipien hatten bis zu diesem Zeitpunkt insbesondere durch die „Scheidung der Produktions- von der Rezeptionssphäre“ Bestand gehabt, wie Alfons Backes-Haase verdeutlicht. Durch die „zunehmende Rationalisierung der gesamten zwischenmenschlichen Beziehungen“, sowie die „Ökonomisierung aller Lebenshandlungen“, aber auch durch die „demokratische Einbindung des einzelnen in den […] gesellschaftlich legitimierten Machtapparat“ nahm „das Verlangen nach subversiver Betätigung in einem sekundären Aktionsfeld wie dem der Kunst oder der Literatur“ (Backes-Haase 1992: 11) aber zunehmend ab. An eben diesem Wandel der Lebensbedingungen im 19. Jahrhundert, setzte der Kritikpunkt der avantgardistischen Bewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts an. Mit der von von Beyme paraphrasierten Aussage Kandinskys von 1912, dass die Avantgarde zum einen „das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrhunderts“, zum anderen „das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts“ (von Beyme 2005: 33) vorantrieb, kann deshalb eine historische Rahmung angedacht werden, die allzu eingeengte und ausgrenzende zeitliche Datierungen hinter sich lässt. Meines Erachtens legt nämlich bereits der Kubismus 13 zentrale Grundlagen für die Avantgarden, da er nicht nur maßgeblichen Einfluss auf eine Vielzahl der avantgardistischen Künstler nahm, sondern die für die performativen Künste obligatorische „Realität direkt ins Kunstwerk“ (Spies 1979: 53) holte. Eine unmittelbarere Ansprache an den Rezipienten, auch durch und über das Kunstwerk selbst, war die 13 Obwohl der Kubismus laut Bürger einer anderen „Intention“ als die historischen Avantgardebewegungen folgte, stellte er „das seit der Renaissance geltende Darstellungssystem des zentralperspektivischen Bildaufbaus in Frage“ ebenso in Frage. Und auch wenn der Kubismus die „Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis“ (Bürger 1974: 44) nicht verfolgte, lässt er sich von den novellierenden Maßnahmen innerhalb der Avantgarden kaum abspalten (vgl. Bürger 1974: 44).
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Folge und sollte diesen zur eigenen Sinnproduktion anregen, um die Seelenlosigkeit ebenso wie die materialistische Ausrichtung der Lebensweise zu überwinden. Es zeigt sich daran, dass eine allein zeitliche Zuordnung den damaligen kreativen Prozessen zuwiderläuft. Viel eher sollten die zeitlichen Rahmungen deshalb um die erwähnten Gemeinsamkeiten oder Abgrenzungen ergänzt werden, durch die sich Moderne und Avantgarde einander (historisch) zuordnen lassen. Dies schließt die auch von mir aufgegriffenen Jahreszahlen nicht aus, vielmehr setzt es sie in eine kontextspezifische Relation, die die letztlich nicht genau zu bestimmenden Beginnund Endpunkte von Avantgarde und Moderne flexibilisiert (vgl. Backes-Haase 1992: 11 f./von Beyme 2005: 31 ff./Damus 2000: 20 ff.).
D AS S CHEITERN DER AVANTGARDE ALS P ERFORMATIVITÄT DES S CHEITERNS Dass die Überführung der Avantgarden in eine Parameterstruktur Potentiale birgt, um diese Flexibilisierung einerseits aufzugreifen und andererseits der virulenten Produktivität der Avantgarden gerecht zu werden zeigt sich, wenn man sich abschließend der kontrovers geführten Debatte über Scheitern oder Fortbestehen der Avantgarde widmet. Festzuhalten ist, dass die Avantgarde sich ihrem Ende gegenüber widerständig zeigt und in ihrer Ausrichtung ein solches grundsätzlich nicht vorsieht. Der mit der Pop-Art Mitte der Fünfziger des 20. Jahrhunderts eingeleitete „Paradigmenwechsel der Kunst“ (von Beyme 2005: 33) strebte einen von der historischen Avantgarde abgekoppelten Neubeginn nämlich nicht unbedingt an. Viel eher leitete dieser die Neo- und Postavantgarde ein. Um sich dem heutigen Status quo der Avantgarde anzunähern, werden in diesem Unterkapitel das vermeintliche Scheitern, die Übergänge, aber auch das Fortbestehen der Avantgarde näher beleuchtet. Mit Hal Foster lässt sich dies als erstes tun. Foster verdeutlicht in seinen Ausführungen zum Übergang von historischer zu Neo-Avantgarde, dass der konfrontative, alles in Frage stellende und kritische Blickwinkel der Avantgarde durch die Künstler der Neo-Avantgarde aufgegriffen und lediglich verschoben wurde. Insoweit nämlich, als innerhalb der Neo-Avantgarde die Institutionskritik im Vordergrund stand, die durch eine reflexivere und weniger plakative Weise hervorgebracht werden sollte. Die durch die historischen Avantgarden eingerissenen Grenzen innerhalb der Kunst wurden durch die Neo-Avantgarden nunmehr im Sinne einer veränderten Herangehensweise überprüft und mittels künstlerischer Mittel transportiert, deren Affront nicht zwingend in der Gegenoffensive, sondern im Unterlaufen lag. In seiner Argumentation übt Foster deutliche Kritik an den Thesen Bürgers. Dabei stört er sich besonders an dessen Aussage, dass zwischen Neo- und histori-
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scher Avantgarde in jedem Fall zu unterscheiden sei. Eine solche Differenz müsse nach Foster aber viel eher als „one of degree not of kind“ beschrieben werden, „which points to a flow between the two avant-gardes that Bürger does not otherwise allow.“ (Foster 1994: 14) Auch van den Berg und Fähnders verdeutlichen, dass die historischen und Neo-Avantgarden trotz aller Differenzen „einer Entwicklung“ (van den Berg/Fähnders 2009: 11) zuzuschreiben seien. Dabei wenden sich die Autoren auch gegen die Aussage von Beymes, der der Avantgarde mit dem Jahr 1955 einen faktischen Epochenendpunkt setzt, welcher für van den Berg und Fähnders eine „drastische Abwertung der Avantgarde der 50er, 60er und 70er Jahre“ (van den Berg/Fähnders 2009: 10) bedeutet. Ein definites Ende avantgardistischer Kunstformen lässt sich für die Autoren dahingegen nicht nachweisen. Zwar habe die inflationäre Begriffsverwendung seit Ende der 1980er Jahre dazu geführt, dass im Zuge postmoderner Debatten eine gewisse Distanzierung dazu eingetreten sei. Zeitgenössische Künstler beschrieben eigene künstlerische Positionen gleichwohl weiterhin als avantgard und in bewusster Referenz zu etwaigen Kollektiven der avantgardistischen Bewegungen (vgl. van den Berg; Fähnders 2009: 9 ff./von Beyme 2005: 33 ff./Foster 1994: 13 ff.). Gemeinsam mit Asholt erweitert Fähnders vielmehr die historische und NeoAvantgarde um die „Postavantgarden“14, die beide in den „letzten Jahrzehnte[n] des 20. Jahrhunderts“ ausmachen und „die eine Weiterentwicklung des AvantgardeParadigmas des Bruches und der Transgression unternehmen.“ An der Avantgarde sei auch deshalb festzuhalten, da historische und Neo-Avantgarde „Maßstäbe gesetzt und etabliert haben, die weder in literarisch-künstlerischer Theorie noch deren Praxis hintergehbar sind.“ (Asholt/Fähnders 2000: 16) Dies aber schließe keinesfalls aus, dass beispielsweise die Postmoderne sie erweitere und ergänze. Für die Autoren scheinen sich daran vielmehr Fragen nach dem immer wieder von der Avantgarde postuliertem ‚Vorhut‘-Charakter anschließen, deren Brüchigkeit nicht zu leugnen sei. Die ‚Kunst in Leben-Überführung‘, so ergänzen sie die These Bürgers, sei innerhalb der historischen Avantgarde verfehlt worden, weil die künstlerischen Institutionsangriffe ins Leere liefen. Indem die Institutionen selbst die avantgardistische Kunst als Kunstwerk anerkannten und in ihre eigenen Kontexte einbezogen, sei der Ausweg aus diesem System kaum mehr möglich gewesen. Demnach sei der avantgardistische Tod keinesfalls „konsequenzlos geblieben“, da die Avantgarden „nicht nur die Institution Kunst attackiert, sondern auch die Grenzen von Kunst exploriert“ (Asholt/Fähnders 1997: 13) und in außerkünstlerische Kontexte verlegt hätten. Das „‚Projekt Avantgarde‘“ könne somit keinesfalls als „abgebucht“
14 Die Autoren rekurrieren hier auf Bürgers Terminus, der diesen bereits vor ihnen aufgeworfen hatte.
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(Asholt/Fähnders 1997: 14) betrachtet werden (vgl. Asholt; Fähnders 1997: 12 ff./ Asholt; Fähnders 2000: 15 f.). Eine solch nachhaltige Tragfähigkeit trauen Bürger, von Beyme oder Damus der Avantgarde nicht mehr zu. Bürger verdeutlicht in seinen Thesen, dass die von der Avantgarde proklamierte „Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis“ (Bürger 1974: 72) nicht vollzogen wurde, außer im Rahmen einer „falschen Aufhebung der autonomen Kunst“, wie unter anderem der „Unterhaltungsliteratur und Warenhausästhetik“. Es sei im Sinne dieser Autonomiekritik danach zu fragen, „ob nicht vielmehr die Distanz der Kunst zur Lebenspraxis allererst den Freiheitsspielraum garantiere, innerhalb dessen Alternativen zum Bestehenden denkbar werden.“ (Bürger 1974: 73) Bürger gesteht der avantgardistischen Zielsetzung nach einer Abschaffung der Autonomie durchaus zu, dass die daraus resultierende „Selbstkritik des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst […] das ‚objektive Verständnis‘ der vergangenen Entwicklungsphasen“ (Bürger 1974: 29) ermöglichte. Man könne deshalb von einem „Verdienst“ (Bürger 1974: 35) sprechen, denn erst mit den avantgardistischen Künstlern habe sich „das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik“ (Bürger 1974: 28) begeben. Eine Rückführung der Kunst in das Leben, um die Folgenlosigkeit auszuhebeln, sei dennoch widersprüchlich geblieben, da „[e]ine Kunst, die nicht mehr von der Lebenspraxis abgesondert ist, sondern vollständig in dieser aufgeht, […] mit der Distanz zur Lebenspraxis auch die Fähigkeit [verliert], diese zu kritisieren“ (Bürger 1974: 68). Um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, ist zu große Nähe zwischen Kunst und Leben demnach ebenso wenig dienlich wie allzu große Distanz. Bürger bringt die zentrale Grundproblematik der historischen Avantgarde durchaus auf den Punkt. Welchen künstlerischen Ansätzen zeitgenössische Performancekünstler nachspüren, um der Selbstkritik trotz künstlerischer Autonomie ebenso Raum zu geben wie der Lebenspraxis, wird zu zeigen sein und damit auch, ob sich Franz Koppes Argumentation widerlegen lässt, der die Reorganisation von Kunst- und Lebenspraxis als Illusion bezeichnet, welche spätestens im Zuge der musealen Verwertung auffällig wurde. Die museale Verwertung veranlasste die Künstler der Neo-Avantgarde tatsächlich dazu, den Anspruch auf Realitätsnähe und Authentizität reduzierter in den Vordergrund zu stellen. Den Begriff der Neo-Avantgarde jedoch als unzureichend auszuweisen, wie Philipp Ursprung das tut, scheint wenig hilfreich. Ursprung proklamiert, dass die Neo-Avantgarde die Moderne zwar vollendet habe, aber keineswegs aus dieser herausgebrochen sei. Bereits Bürger hatte dieses Argument angeführt, als er die Happening- und Fluxuskunst herausgriff, um aufzuzeigen, dass auch sie keine künstlerischen Möglichkeiten mehr gestalten konnten, um „die Tradition der Avantgardebewegungen fortzusetzen“ (Bürger
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1974: 79).15 Nicht nur, dass ihren Künstlern die Mittel für die schockierende Wirkung verloren gegangen seien, vielmehr habe die Neo-Avantgarde „[die Avantgarde als Kunst] institutionalisiert […] und negiert.“ (Bürger 1974: 80) Bürger macht in der Folge eine Diskrepanz zwischen künstlerischem Anspruch und gesellschaftlicher Reaktion aus. So sei die Neo-Avantgarde „autonome Kunst im vollen Sinne des Wortes“ gewesen und widersprach damit der angestrebten „Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis“ (Bürger 1974: 80). Foster nun ficht diese Argumentation Bürgers an. Er kritisiert insbesondere, dass Bürger der Avantgarde jene Historizität abspreche, die der Kunst, auch zeitgenössischer, immer schon inhärent sei und ohne die Kunst gar nicht erst existieren könne. Indem Bürger Geschichte als „punctual and final“ verstehe, werde die Avantgarde nicht als veränderliche oder erweiterbare begriffen, die Neo-Avantgarde verkomme so zur „riven repetition“ (Foster 1994: 13). Auch verweigere Bürger sich der Anerkennung aller „new aesthetic experiences, cognitive connections, and political interventions“ (Foster 1994: 16), die die Neo-Avantgarde insbesondere im Zuge ihrer Erweiterung der Institutionskritik produziert habe. Foster betont, dass er Bürgers Theorie der Avantgarde nicht in Gänze in Frage stellen wolle, und doch ist ihm daran gelegen, aufzuzeigen, dass es einen „temporal exchange between historical and neo-avant-gardes, a complex relation of anticipation and reconstruction“ (Foster 1994: 14) gebe. Genau weil die Avantgarde sich als kontextabhängige und performative dargestellt habe, könne sie nicht als statisch und final beschrieben werden. Für Foster sind historische und Neo-Avantgarde keinesfalls über jeden Zweifel erhaben. Gerade die Begriffe selbst zieht er in Zweifel, erscheinen sie ihm doch „too general and too exclusive“ (Foster 1994: 22) für eine zeitgenössische Verwendung. Er schlägt vor, innerhalb der NeoAvantgarde zwischen einer ersten (die Kunst und Künstler der 1950er Jahre umfasst) und einer zweiten (die Kunst und Künstler der 1960er Jahren beschreibt) Neo-Avantgarde zu unterscheiden, um deutlich zu markieren, dass die Kritik an den Institutionen innerhalb dieser ästhetische Blickwechsel verfolgt wurde. 16 Dieses „reworking of the avant-garde, in terms of aesthetic forms, cultural-political strategies, and social positionings […] proved to be the most vital project in art and criticism over the last three decades at least.“ (Foster 1994: 22) Die in den Avantgarden entwickelten Dynamiken haben somit Verschiebungen erfahren aus denen Entwicklungen entstanden sind, die für heutige Künstler maßgeblich erscheinen, um eingedenk des Dilemmas der Institutionenkritik einerseits und dem zumeist notwendigen Gebrauch eben dieser Institutionen andererseits produktiv tätig zu sein. Eine rigorose Opposition erweist sich heute nicht mehr als sinnvoll, stattdessen kann viel eher aus „subtle displacements […] and/or strategic 15 Siehe hierzu das Happening-Kapitel. 16 Für eine ausführlichere Lektüre siehe Foster 1994: 22 ff.
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collaborations with different groups“ eine „formula of practice“ (Foster 1994: 26) hervorgehen, die meines Erachtens gerade in den performativen Künsten ein tragfähiges Gestaltungsrepertoire offeriert (vgl. Bürger 1974: 29 ff.; 49 ff./Foster 1994: 5 ff./Foster 1996: x ff./Koppe 2004: 178 f./Ursprung 2010: 17 ff.). Wir stellen fest, dass die Diskussion über das Verhältnis von historischer zu Neo-Avantgarde auch bedeutet, deren besagtes Ende oder Scheitern mitzudenken. Mit den Worten von Bürger, von Beyme, Damus oder Ursprung gesprochen ist ein Überleben der Avantgarde in Anbetracht ihrer permanenten Suche nach Neuem im Nachhinein unmöglich gewesen. Sie alle schließen in gewisser Weise an Hans Egon Holthusen an, der bereits 1964 den Avantgardismus als entleert und beliebig beschrieb. Seine Kritik verstärkte er mit Hilfe von Magnus Enzensbergers Aporien der Avantgarde (1962). Laut dieser kennzeichnete sich die Avantgarde durch Regression und ging wiederholend, selbstbetrügerisch und nur mehr anachronistisch zu Werke. Das Vorhaben sich immer neu aufzustellen musste deshalb ins Leere laufen, da immer erst im Nachhinein Umwälzendes als solches deklariert werden konnte. Insbesondere die Massenmedien hätten die Kunst dabei vereinnahmt und sie in den industriellen Warenkreislauf überführt. Ein Entkommen, so propagierte Holthusen im Anschluss an Enzensberger, sei nur noch auf der Ebene der künstlerischen Freiheit und in Abgrenzung nach außen hin möglich. Ein Hoffnungsschimmer erstrahlte für Holthusen dennoch eben darin. So könne man „die Aporien des Avantgardismus [nur; PG] hinter sich […] lassen“, wenn man die Freiheit des Künstlers bewahre und sich „von einem abgelegten Entwurf der Freiheit“, damit meinte Holthusen offensichtlich den Avantgardismus und dessen Wiederholungen, loslöse. Auch wenn der neue Entwurf „nicht mehr im überkommenen Sinne avantgardistisch“ (Holthusen 1964: 47) sein möge, so ließen sich für Holthusen dadurch ungeahnte Wege erschließen. Enzensberger und Holthusens Argumentation beruht gleichwohl auf der Annahme einer geschlossenen Historiographie, die es zu widerlegen gilt. So lässt sich beispielsweise mit Lyotard entgegensetzen: „Es ist unmöglich, […] den Unterschied zwischen dem zu bestimmen, was stattgefunden hat (proteron: das frühere), und dem, was kommt (hysteron: das spätere), ohne die Flut der Ereignisse auf ein Jetzt zu beziehen. Aber zugleich ist es nicht weniger unmöglich, sich eines solchen Jetzt zu bemächtigen, weil es sich unaufhörlich verflüchtigt, mitgerissen von dem, was wir den Strom des Bewusstseins, den Lauf des Lebens, der Dinge, der Ereignisse und dergleichen nennen.“ (Lyotard 1988: 5 f.)
Eingedenk dessen ist der Versuch obsolet, die Avantgarden in chronistischen oder anachronistischen Kategorien zu bemessen, da dem Dilemma des Jetzt-Bezugs gar nicht beizukommen ist. Wahr ist, dass die meisten Künstler innerhalb der Ismen eine solche Überlegung dem eigenen Handeln nicht zugrunde gelegt haben und deshalb ihrem ambitionierten Versuch der stetigen Jetzt-Novellierung nicht auf Dauer
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beikommen konnten. Durch die Redundanz der kritischen Schlussfolgerungen, die überhaupt erst durch eine rückblickende Nachbetrachtung möglich werden, schreiben wir, die wissenschaftlichen Beobachter, das Dilemma jedoch wenig konstruktiv fort. Denn: Wenn „man also die verborgenen Tatsachen sucht, bezeichnet und benennt, die man an der Quelle der Übel vermutet, an denen man leidet […], dann wird man unweigerlich das Verbrechen fortsetzen und es erneut begehen, anstatt ihm ein Ende zu setzen.“ (Lyotard 1988: 13) Paul Mann nun versucht diesem ‚Dilemma‘ bezogen auf die Avantgarden damit zu begegnen, den „death“ in den Mittelpunkt der Avantgarde-Theorie zu stellen. Für Mann zeigt sich, dass da „something vital about the death itself“ (Mann 1991: 3) sei. Er verdeutlicht, dass in und durch den Tod die „most productive, voluble, self-conscious, and lucrative stage“ der Avantgarde selbst zur Darstellung komme. Damit schreibt er diese in einen Diskurs über den Tod und dessen Erschöpfung ein, mit Hilfe dessen sie über das Fehlende, Verwischte, Verhinderte oder Ignorierte in den Fokus genommen werden muss. „[T]he avant-garde has begun to live out its death for discourse“, proklamiert Mann, und: „[T]he death of the avant-garde is alive and well.“ (Mann 1991: 31) In dieser performativen Verschiebung des Scheiterns und durch die utilitaristische Aneignung der Destruktion gestaltet sich meines Erachtens der produktive Umschlagpunkt, um die Avantgarde wiederzubeleben (vgl. Enzensberger 1984: 298 ff./Holthusen 1964: 47/Mann 1991: 3 ff.). Von diesem Versuch der möglichen Neuschreibung aus, ist das Kapitel nunmehr zu einem ersten Ende unter Vorbehalt zu bringen. Eine abschließende Erwähnung der Debatte um die Postmoderne darf dabei nicht fehlen, greift die Postmoderne die avantgardistischen Vorhaben doch verändert auf und setzt sich inhaltlich in Relation zu Moderne und Avantgarde. Rodolf Neuhäuser erkennt in der Pluralisierung der globalisierten Gesellschaft analog zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein „dynamische[s] System einander konkurrierender und ablösender Avantgarden“ (Neuhäuser 1987: 31). Man könne dadurch den damaligen Avantgardismus „als Epochenschwelle verstehen, und zwar als Ausdruck einer tiefgreifenden strukturellen Umformung im gesellschaftlichen und literarischen Prozeß“ (Neuhäuser 1987: 32). Heutige Avantgarden seien deshalb nicht als „Ablöse“ zu verstehen, sondern fungierten als gesellschaftlicher Teil, der „in einer pluralistischen Gesellschaft die Werte dieser Gesellschaft permanent hinterfrag[t] und ihrer Kritik unterzieh[t].“ (Neuhäuser 1987: 31 f.) (vgl. Neuhäuser 1987: 31 ff.) Auch wenn sich die Ismen der Avantgarde in Frage gestellt und in der Folge aufgelöst haben, ist ihr Erbe prägend und in permanenter Re-Aktualisierung begriffen. Es ist das Vorhaben dieses Texts, etwaige Aspekte dieser Re-Aktualisierung herauszuschälen und im zeitgenössischen Kunstkontext zu verankern. Weil die Avantgarde, der Vollzug, die Prozessualität und das Ereignis unmissverständlich aneinander gekoppelt sind, muss die Frage nach den Avantgardismen im 21. Jahrhundert eingedenk unserer performativen Kultur notwendigerweise auch in diesem
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Kontext beschrieben werden. Dieter Mersch beispielsweise definiert den Avantgardismus als „konsequente Erschütterung von Kunst als Werk“. Damit erinnert er einmal mehr an Walter Benjamin und stellt die Werkgeschichte „als Serie von Brüchen“ (Mersch 2002: 191) dar, die das Entstandene auseinanderbrechen lassen. Heraus komme eine „Metakunst“ (Mersch 2002: 195), die sich widersprüchlich, selbstbezüglich und werkkritisch zeige. Was folglich aus der Kunst der Avantgarden entstanden sei, könne als „Sprung oder Umschlag“ festgehalten werden, der als „‚Transavantgarde‘ oder ‚Postmoderne‘“ begrifflich eingefasst wurde, seine eigentliche Begründung aber „erst im Übergang zum Performativen erhalten“ (Mersch 2002: 223) habe. Schließlich gehöre „[z]um Werk […] immer der Schaffensprozeß wie zu den performativen Ereignissen die Produktion.“ (Mersch 2002: 224) Eine Performanz innerhalb der Postmoderne ist bei Georg Christoph Tholen im Gegensatz zur Avantgarde nicht mehr nur an der „utopischen, naiven Vermischung von Kunst und Leben orientiert, sonder[n, sic!] an der Re-Inszenierung und Re-Flexion phantasmatischer Vorbilder und Selbstbilder des Menschen, insofern diese als medial konstituierte lesbar werden.“ (Tholen 2008: 10) Grenzt Tholen sich damit von den avantgardistischen Leitsätzen ab, brachte Lyotard rund 30 Jahre vor ihm die avantgardistische Institutionskritik mit der pluralen und vielfältigen Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts zusammen, indem er bilanzierte, dass die Moderne dieser Vielfalt nicht mehr standhalten konnte. Das darin produzierte Wissen, so erläuterte Lyotard, „verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen.“ (Lyotard 1999: 16) Lyotard gestand dem Avantgardismus zu, dem „‚ursprüngliche[n] Vergessen‘“ im Zuge eines „‚Durcharbeiten[s]‘“ (Lyotard 1996: 105) entgegengetreten zu sein. Er sprach sich explizit dafür aus, die avantgardistischen Entwicklungen verändert fortzusetzen und distanzierte sich deshalb von einem Scheitern des avantgardistischen Tuns. Mit seinem Begriff ‚Reécrire‘ fasste Lyotard die Möglichkeit zusammen, nicht „zum Anfang“ zurückzukehren, sondern, rekurrierend auf Freud, Vergangenes durchzuarbeiten. Damit meinte er „eine Arbeit, die das bedenkt, was uns vom Ereignis und seinem Sinn konstitutiv verborgen ist, und zwar nicht nur durch das vergangene Vorurteil, sondern auch durch Dimensionen der Zukunft wie zum Beispiel das Pro-jekt“ (Lyotard 1988: 9). Lyotard revidierte damit in gewisser Weise das Wortfeld der Postmoderne, indem er den Begriff des ‚Reécrire‘ in der Folge als angemesseneren auswies. Dabei bestand für ihn „[d]er Vorzug in zwei Verschiebungen: der lexikalischen Transformation des Präfixes post- in re- und dem syntaktischen Transfer des auf diese Weise modifizierten Präfixes vom Substantiv Moderne zum Verb schreiben (écrire).“17 Betonen wollte er mit dieser Reformulierung, dass 17 Siehe dazu auch Lyotard 1996: 99-105.
80 | RE -W RITING A VANTGARDE „jegliche Periodisierung der kulturellen Geschichte in Form von prä- und post-, vorher und nachher [verfehlt] ist, und zwar schon allein deshalb, weil sie die Position des Jetzt unhinterfragt läßt, die Position der Gegenwart also, von der aus man die chronologische Abfolge der einzelnen Epochen unserer Geschichte richtig überblicken können soll.“ (Lyotard 1988: 5)
Hinzukomme, dass „[d]ie Postmoderne […] keine neue Epoche […], sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat“ (Lyotard 1988: 25) sei.18 Gleichwohl machte er auf ein mögliches Missverstehen des ‚Reécrire‘-Begriffs aufmerksam und entfaltete den Terminus deshalb sehr detailliert. Am Ende bilanzierte er: „Die Moderne zu redigieren heisst, sich jenem vermeintlich postmodernen Schreiben zu widersetzen.“ (Lyotard 1988: 27) Der Titel dieses Buchs und auch die Strategie dieser Arbeit hat wie bereits in der Einleitung bemerkt, in einem daran anschließenden Sinne bestimmt zu werden: Nämlich als Öffnung eines Avantgardediskurses, dessen vielfache Verengung einer zeitgemäßen und objektiveren Betrachtung der damaligen Kunstobjekte nicht gut getan hat. Durchaus ist der Postmoderne anzulasten, dass sie die Strukturen der Moderne, wie bereits Niklas Luhmann anmerkte, keineswegs auflöste, sondern die „Ausdifferenzierung in funktional spezifizierte Sozialsysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst, Erziehung und Recht“ (Werber 1998: 982) beibehielt. Für Niels Werber steht deshalb fest, dass „[z]um postmodernen Nebeneinander der Epochen […] auch die Koexistenz von Moderne und Postmoderne [gehört].“ Dieses Nebeneinander wird in der Kunst zwar deutlich, jedoch: „Alle Überschreitungen – von Marinetti bis Beuys, von Brecht bis Enzensberger – überzeugten nur als Kunst, an der Gesellschaftsstruktur selbst änderten sie nichts.“ (Werber 1998: 983) Die Globalisierung mache das nicht mehr mit, vielmehr erweise sie sich als Motor für eine postmoderne und moderne Koexistenz: „Die Moderne bleibt modern, zumindest in ihren strukturellen Grundfesten […]. Nur ihr Design ist bunt-schillernd, fragmentarisch, montiert und lokal – anders ist es in der Epoche der Globalisierung nicht möglich.“ (Werber 1998: 987) Das Fehlen einer „Gesellschaftstheorie“ und damit einer tatsächlichen „Theorie postmoderner Gesellschaften“ musste für HansPeter Müller dazu führen, dass die Postmoderne keinen Fuß in der gesamtgesellschaftlichen Realität fassen konnte. In rhetorischer Hinsicht fand eine „fatale Langzeitwirkung“ statt, die durch eine positive Entstaubung der kritischen Theorie keineswegs aufgewogen wurde. „[E]ntpolitisierend, entintellektualisierund und unintendierterweise-entproblematisierend“ (Müller 1998: 979) sei das postmoderne Sprechen gewesen und dahingehend keineswegs unproblematisch. Jürgen Haber18 Zur Frage, ob die Postmoderne eine Epoche ist, siehe beispielsweise Grasskamp 1998: 757-765.
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mas kritisierte die Postmoderne besonders scharf und gestand ihr nicht einmal mehr eine mögliche Koexistenz mit der Moderne zu. 19 Damit brachte er insbesondere Lyotard gegen sich auf: „Wenn Habermas, wie übrigens auch Marcuse, diese Arbeit der Entwirklichung als einen Aspekt (repressiver) ‚Entsublimierung‘ begreift und darin das Charakteristikum der Avantgarde erblickt, so deshalb, weil er das Erhabene Kants mit der Freudschen Sublimierung verwechselt und die Ästhetik für ihn eine Ästhetik des Schönen bleibt.“ (Lyotard 1996: 25 f.)
Habermas, so Lyotard, sei überzeugt davon, dass Kultur und Leben nur über die Aufhebung der „‚ästhetischen Kritik‘“ (zit. nach Lyotard 1996: 13) zueinanderfinden könnten und fordere fälschlicherweise eine „Einheit der Erfahrung“ (Lyotard 1996: 13). Diese aber schloss Lyotard aus, da sie der Dezentrierung und Diversität der Postmoderne entgegen laufen und die Linearität der Moderne beibehalten musste. Eine Linearität, die sich nicht nur in einem Verständnis von Zeit und Raum als kontinuierliche Aufeinanderfolge ausdrückte, beispielsweise in Bezug auf die industrielle Produktion und deren technisch relevanten zeitlichen und räumlichen Normierungen (entgegen der Pluralität von zeitlichen Abläufen, der Hyper- und Intertextualität und Multiperspektivität mit Beginn der Postmoderne), sondern auch in den vorangestellten Positionen etwaiger Theoretiker wie Clement Greenberg, der die Malerei als linearen Verlauf von gegenständlicher zu abstrakter Malerei beschrieb und parallel verlaufenden Entwicklungen, vor allem aber darauf folgenden kritisch gegenüberstand (siehe auch Fußnote 44 im Künstler/Kollektiv-Kapitel dieser Arbeit). Im Zuge seiner Argumentation konnte Habermas die Avantgarde zwangsläufig nur suspekt bleiben: „Der radikale Versuch der Aufhebung der Kunst setzt ironisch jene Kategorien ins Recht, mit denen die klassische Ästhetik ihren Gegenstandsbereich eingekreist hatte“ (Habermas 1992: 47). Als „Nonsense-Experimente“ (Habermas 1992: 46) müssten deshalb die avantgardistischen Experimente beschrieben werden, die dem Vorhaben folgten, Kunst und Leben „einzuebnen“ (Habermas 1992: 46). Die Problematik entsteht bei aller Berechtigung für Habermas’ Argwohn in der Rigorosität, in der er diesen formulierte. Die möglichen Potentiale von historischer Avantgarde oder Postmoderne wurden von ihm ignoriert, um der Moderne den Rücken zu stärken (vgl. Mersch 2002: 191 ff./Habermas 1992: 32 ff./Lyotard 1988: 5 ff.; 25 ff./Lyotard 1996: 13 ff.; 105/Lyotard 1999: 16/Müller 1998: 979/Tholen 2008: 10/Werber 1998: 983 ff.). Auf das Neben- und Miteinander, auf die Koexistenz, wie sie die Postmoderne salonfähig machte, aber kommt es an. Dass Moderne, Avantgarde und Postmoderne 19 Vgl. hierfür Habermas 1992, darin insbesondere: 32-54; 55-74; 75-104.
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ohne einander nicht zu denken sind, verlangt nach Anerkennung dessen, was Mann mit Hilfe der Inkonsistenz der Begriffe Moderne und Avantgarde verdeutlicht: „[T]hey merge and blur, absorb each other’s saliences, contaminate and subvert one another, and must therefore be continually salvaged, purified, refocused, redefined, redeployed – but never finally determined.“ (Mann 1991: 55) Für diese Arbeit bedeutet das, der allzu strikten Abgrenzung den Boden zu entziehen, um stattdessen einer Unbestimmtheit nachzugeben, die indes nicht unhinterfragt bleiben soll. Schließlich bleibt die Gefahr der Avantgarde, nicht mehr „über sich selbst hinaus ins nicht mehr Kalkulierbare zu kommen“ und in einer „Kreisbewegung“ zu verbleiben, weiterhin bestehen. Frank Böckelmann, ehemaliges Mitglied der Subversiven Aktion, unterstellt den Avantgarden genau das. Durch den „unentschiedenen Pluralismus“ sei ein Opportunismus entstanden, der sich auf zu viel Offenheit gegenüber allem und jedem berufen konnte. Der daraus resultierende „Vitalpluralismus“ habe dann schnell zu einem „trivialen Individualismus“ (Böckelmann 1991: 216) geführt. Tatsächlich zeigt sich, dass die (un-)gewollt abgesteckten Rahmungen innerhalb avantgardistischer Kunst den zufallsgeleiteten Prozessen kaum mehr Raum ließen, um über die Ränder hinausblicken zu können. An diesem Punkt müssen heutige performative Kunstformen ausgleichend ansetzen, denn das Credo völliger Spontaneität und Regellosigkeit kann den realen künstlerischen Ereignissen nicht mehr standhalten, darf sich aber auch nicht in ihr Gegenteil verkehren. In der Anerkennung dieser Tatsache liegt gleichwohl die Möglichkeit der Überschreitung. Es ist die Formulierung des rigorosen Anspruchs, die zurückgenommen werden muss, um den Übertritt in Unbekanntes zu ermöglichen. Wenn die Rigidität von vorneherein anerkannt, aber nicht im Sinne eines gegen sondern für genutzt wird; wenn sich also nicht fortwährend an der Vertuschung vorgegebener Strukturen abgearbeitet wird, sondern diese bewusst gesetzt werden, dann eröffnen sich meines Erachtens neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten. An diesen Gedanken an- und das Kapitel abschließend lässt sich nochmals auf Bürger zurückkommen, der gut drei Jahrzehnte nach seiner Schrift Theorie der Avantgarde (1974) das von ihm konstatierte „Scheitern der historischen Avantgarden […] jetzt gern nuanciert hätte.“ (Bürger 2004: 200) Bürger stellt fest, dass „die Philosophen der Postmoderne dieses Projekt [der Avantgarden, die Moderne zu überschreiten; PG] zu Ende gedacht“ hätten. Um aber „das Gefühl des Lähmenden“ überwinden zu können, „bleibe nur der Ausweg, den ursprünglichen Impuls der Avantgarden wieder zu entdecken: die Energien der Verzweiflung.“ (Bürger 2004: 210) Der propagierte Aufbruch habe sich zwar nicht realisiert, sei aber keineswegs „erledigt“. Vielmehr, so Bürger im Anschluss an Benjamin, impliziere er „die Merkmale […] einer unvollendeten Offenbarung, die ihre wie immer auch eingeschränkte Erfüllung nur in unserm Denken und Tun finden kann.“ (Bürger 2004: 201) Das, was ausgeblieben sei, gelte es nicht im Nachhinein zu realisieren, sondern dem Ausbleiben und der Lücke zu folgen, um „das zu erkennen, was unsere
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Epoche wie ein Verhängnis bestimmt.“ (Bürger 2004: 210) Bürger rät nunmehr zum zeitgenössischen Blick auf das Material, wodurch auch er selbst jetzt erst fähig sei, von einer anderen Avantgarde20 zu sprechen, als in den 1970er Jahren. Im Anschluss an Adorno und Benjamin und wie bei Mann und Lyotard, erweisen sich das Verborgene, Traumatische und Unbeachtete somit als Fundamente für eine neuerliche Betrachtung der Avantgarde, der diese Arbeit folgen wird. Fest steht, dass dies weder im Sinne einer Rekonstruktion der Avantgarden geschehen wird, noch eine neue postmoderne Variante zu entwickeln wäre. Vielmehr ist die Überlegung anzustellen, inwieweit die in der Avantgarde verwendeten Parameter der Utopie, des Fortschritts, des Kollektivs und der Partizipation in aktuellen performativen Kunstpositionen erweitert, ergänzt oder fallengelassen werden können, ohne sie eingedenk epochenspezifischer (Re-)Kontextualisierungen in Zugzwang zu bringen. Die Tür des Zeitgenössischen bleibt dafür weit geöffnet (vgl. Böckelmann 1991: 216 f./ Bürger 2004: 201 ff./Mann 1991: 55).
20 Bürger greift in seinen Ausführungen den Surrealismus stellvertretend für die Avantgarde heraus. Vor seiner Theorie der Avantgarde hatte er sich 1971 in Der französische Surrealismus eingehend damit auseinandergesetzt (vgl. Bürger 1996).
II. Parameter der Avantgarde
Fortschritt/Kontinuität
P ERFORMATIVES T UN I: N INA G ÜHLSTORFF UND D OROTHEA S CHROEDER – D ER D RITTE W EG „Im Sommer war ich mit meiner Familie in Budapest. Dort haben wir Leute kennen gelernt, die uns fragten: ‚Wollt ihr mit nach Österreich, wir können euch über die Grenze bringen!‘ Wir haben die Entscheidung aufgeschoben, eine Woche. Und an dem letzten Abend, da hat so’n Zigeuner gespielt und da haben wir unter Tränen gesagt, jetzt muss es definitiv sein. Aber wir haben das nicht gemacht, da ist was ins Rollen gekommen, der alte, starre Apparat. Dann kamen wir hier in Jena vom Bahnhof wieder hoch und uns kam da der Pfarrer entgegen und fragte: ‚Was, Sie wieder hier?‘ Meine Schwiegermutter hatte schon all unsere Dokumente aus der Wohnung geholt.“ (OHNE NAMEN)
Erfahrungsberichte wie dieser werden jedem Besucher am Eingang der Kölner Antoniterkirche in die Hand gedrückt und eine Mitarbeiterin des Schauspielhauses der Domstadt fordert die Besucher dazu auf, sich vor das Mikrofon am Altar zu stellen und die Zeilen laut vorzutragen. Kurz darauf wird hörbar, dass dem Vorschlag zahlreiche Zuschauer folgen. Die Zeitzeugenaussagen hallen durch den Kirchenraum und die Anwesenden werden sukzessive zurückversetzt in die Jahre um 1989. Spätestens an dieser Stelle sind sie mittendrin und Teil der theatralen Demonstration Der dritte Weg. Eine theatrale Demonstration. Das dokumentarische Projekt des Theaterhauses Jena unter der Regie von Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder war einer der eingeladenen Beiträge, der im
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Rahmen der HEIMSPIEL-Tagung 1 in Köln und somit erstmalig außerhalb Jenas neu verortet wurde. Produktionen wie diese standen im Fokus des 2011 ausgelaufenen HEIMSPIEL-Fonds der Kulturstiftung des Bundes. Ziel des Fonds war es seit 2006 gewesen, Produktionen zu fördern, die den Weg aus dem Stadttheater in die Gesellschaft, den öffentlichen Raum forcierten – oder umgekehrt, das Verhältnis von lokaler Umgebung und ästhetischen Verfahren aufarbeiteten, kritisch beäugten und provozierten. Immer ging es um Fragen der Einmischung, der Aufmischung, der Integration und Irritation, um einen neuen Blick auf lokale Beständigkeiten. „Was wird aus dem Theater, wenn es sich nicht mehr als Parallelwelt versteht, getrennt vom ‚wirklichen‘ Leben, das es verändern will – und von dem es selbst verändert wird?“ (Schuck 2011: 5) Überlegungen wie diese trieb die künstlerische Leiterin von HEIMSPIEL 2011, Berit Schuck, all die Jahre um und an. Analog zum vorangegangenen Kapitel zeigt sich, dass die Hinterfragung der von den Avantgarden geforderten Verlagerung ästhetischer Praxen hinein in die Gesellschaft auch heute aktuell ist. Die Strategie des Dritten Wegs zeigt deshalb beispielhaft, dass Überlegungen darüber, inwiefern Distinktionen zwischen lebensweltlichem Tun und künstlerischem Vorgehen bestehen, nicht an Strahlkraft verloren haben. So lassen sich hier Anschlüsse zu den Aussagen unter anderem Peter Bürgers herstellen. Dass die historischen Avantgardebewegungen letztendlich gescheitert seien, habe, im ursprünglichen Sinne Bürgers, maßgeblich mit dem Versuch der Vergemeinschaftung von Kunst und Leben zu tun gehabt, aber auch damit, dass die „Brauchbarkeit der Kategorie des Neuen“ (Bürger 1974: 85) an ihre Grenzen gelangt war.2 1
Die dritte und letzte Tagung des HEIMSPIEL-Fonds fand vom 29. März bis zum 3. April 2011 in Köln statt und firmierte gleichzeitig als Abschluss des Heimspiel-Fonds der Kulturstiftung des Bundes, der zwischen 2006 und 2011 rund 60 Produktion unterstützte (vgl. Schuck 2011).
2
Bürger kritisiert in seinen Ausführungen zum Neuen besonders Adornos Auffassung. So „neigt Adorno nämlich dazu, den geschichtlich einmaligen Traditionsbruch, den die historischen Avantgardebewegungen markieren zum Entwicklungsprinzip der modernen Kunst überhaupt zu machen.“ (Bürger 1974: 83) Adorno hatte mitunter davon gesprochen, dass die „Autorität des Neuen […] die des geschichtlich Unausweichlichen“ (Adorno 1973: 38) sei. Innerhalb der Moderne erkennt Adorno eine, wie Bürger es fasst, „Traditionsfeindlichkeit“ (Bürger 1974: 81), die Adorno innerhalb der „nicht-traditionalistischen Gesellschaft [sc. der bürgerlichen]“ (Adorno 1973: 38) ausmacht. Laut Bürger historisiert Adorno die Kategorie des Neuen nicht präzise genug, was dazu führe, dass die Warengesellschaft zum argumentativen Fundort werde. Für diese aber, so Bürger, sei „die Kategorie des Neuen keine substantielle, sondern eine scheinhafte.“ Wie also, fragt Bürger, könne sich innerhalb einer Kunst Widerstand entwickeln, die „sich nun diesem Äußerlichsein der Warengesellschaft anpaßt“? Innerhalb dieser Gesellschaft könne der
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Wie gezeigt modifizierte Bürger seine Thesen mit dem Hinweis auf das zeitgenössische Material, das ins Visier genommen werden müsse. Also, zurück zum Dritten Weg: Nach der Fürbitte eines Zuschauers stehen nach und nach die drei bis dato unbekannten Hauptpersonen des Stücks auf, die sich in dieser Szene als die Jenaer vorstellen, welche die Demonstrationen und Andachten in den Kirchen Jenas bereits vor 1989 entscheidend mitgeprägt und organisiert hatten. Einer davon ist Hartmut Fichtmüller. Es ist ein dichter Erlebnisbericht, den Schauspieler Julian Hackenberg formuliert, um einen Einblick in das Aufbegehren der damaligen DDRBewegung und in Fichtmüllers Innenwelt zu geben. Dann tritt der tatsächliche Hartmut Fichtmüller an das Mikrofon. Er verdeutlicht, dass Performer und Realperson den fiktionalen Umschlagplatz vor Ort nutzen möchten, um dadurch den wahren Begebenheiten, dem tatsächlichen ‚So-war-das‘, Raum zu geben. Fichtmüller versichert, dass es immer noch ausreichend Gründe für Demonstrationen gebe und fordert die Besucher auf, gemeinsam mit ihm diese Protestform hier und jetzt durchzuführen. Zögern. Ruhe. Leises Tuscheln: „Meint der das jetzt ernst?“ Meint er. Wenige Minuten später setzt sich ein Demonstrationszug aus Schauspielern, Zuschauern, Schauspielhausorganisatoren und Zeitzeugen in Bewegung. Ausgestattet mit (noch) weißen Plakatbannern und Lautsprechern betreten sie die Schildergasse, jene Haupteinkaufsstraße Kölns, auf der samstägliches Gedränge herrscht. Die Inszenierung bleibt aufs Erste eben das: inszenierte Szenerie. Durch den Einbezug der Zuschauer und Zeitzeugen in das Stück entstehen jedoch Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, Momente des Realen, Authentizität. Ästhetische und reale Welt prallen aufeinander, weil all die flanierenden Einkaufsbummelnden ob der Zusammenführung von Bannergebrauch, Menschengruppe und Lautsprecher von einer realen Demonstration auszugehen scheinen. Sie schauen auf, bleiben stehen, nach Adorno „unter dem Zwang zur Erneuerung stehende[…]“ (Bürger 1974: 84) Widerstand in der Kunst kaum auffindbar sein. Deshalb sei ‚die Brauchbarkeit des Neuen‘ erreicht. Dabei differenziert Bürger zwischen dem Neuen innerhalb der „künstlerischen Darstellungsmittel“, das durchaus tragfähig sei, und dem von den Avantgardisten avancierten „Traditionsbruch“, der schlussendlich auch die „Aufhebung der Institution Kunst“ vorsah. Letztere ziele, so Bürger, in jedem Falle auf etwas Neues, jedoch sei dieses Neue nicht mit dem Begriff des Neuen zu fassen, da dieser „zu allgemein und unspezifisch [ist; PG], um das Einschneidende eines solchen Traditionsbruchs präzise zu bezeichnen.“ (Bürger 1974: 85) Eine Alternative entwickelt er hingegen nicht. Deutlich macht Bürger jedoch, dass die Avantgarden „die historische Abfolge von Verfahrensweisen und Stilen in eine Gleichzeitigkeit des radikal Verschiedenen transformiert“ hätten. Für künstlerische Bewegungen resultiere daraus, dass sie ihre Kunst nicht mehr als „historisch fortgeschrittener“ (Bürger 1974: 86) reklamieren können (vgl. Bürger 1974: 83 ff.).
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lassen den Menschenzug passieren. Dieser macht sich auf zu den politischen Schaltstellen der Stadt, so beispielsweise dem Kardinal-Frings-Raum, der in jenem Teil des Kölner Rathausgebäudes liegt, der auch den Ratssaal und die Bürgermeisterbüros beherbergt. Performer Kai Meyer berichtet dort aus der Perspektive eines ehemaligen Stasimitarbeiters. In der Piazzetta des Historischen Rathauses gibt sich die stellvertretende Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes die Ehre und richtet ihr Wort anlässlich der fiktiven 20-Jahr-Feier des Mauerfalls an die Besucher. Sie ist, wer sie ist, innerhalb ihrer realen Hülle, und spricht dennoch entfunktionalisiert und fiktiv, da ihre Rede als performativer Akt meint, was gesagt wird, aber der Handlungsvollzug keiner realen Vorgabe folgt, die ihr qua Amt auferlegt wurde. John L. Austins Ausführungen zu Performativität und Wahrheit kommen einem unmittelbar in den Sinn. Die soeben konstituierte Wirklichkeit ist trügerisch, da sie die politischen Örtlichkeiten nutzt, um Vergangenheit erfahrbar werden zu lassen, um uns im nächsten Moment zu zeigen, dass die Zeit längst vorangeschritten ist. Findet man sich als Zuschauer eine Stunde später nachdem man, welch Ironie, wegen einer tatsächlich realen Demonstration das Rathaus nicht verlassen konnte, in einem Raum mit den wahren Zeitzeugen des Zusammenbruchs der DDR wieder, werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neuerlich durcheinandergewirbelt. Abbildung 1: Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder: Der Dritte Weg
Quelle: Joachim Dette/Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder
Die zuvor von Schauspielerin Stefanie Dietrich ‚gespielte‘ Heidemarie Vollmann steht nun mit ihrer Enkeltochter Alina vor einer Kleingruppe von Zuschauern. Es gilt Fragen zu stellen, miteinander ins Gespräch zu kommen, aber auch: Probleme
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ausfindig zu machen, die heute, an diesem Abend, auf der Straße publik gemacht werden sollen. Schnell entwickelt sich eine Debatte unter den Diskussionsteilnehmern – über die Rolle des Staates, das eigene Handeln, die Finanzkrise und die Atompolitik. Wie leben wir? Was treibt uns um? Wo wollen wir hin? Behagliche Konstanz oder mutiges Verändern? Spätestens hier sind Grenzen zwischen künstlerischem Szenario und lebensweltlichen Visionen aufgehoben. Der Blick auf die Geschichte weist den Weg und aus dem Vergangenen erwirkt sich das Zukünftige. Immer ist Fortschritt also auch das ‚Zurücklassen‘ vergangener Kontinuitäten, und doch ist die Re-Aktualisierung von Grundanliegen für zahlreiche künstlerische Positionen relevant. Sie werden darin einer Überarbeitung und Veränderung unterzogen und fungieren dennoch weiterhin als Motor künstlerischer Produktion. Die Diskussion mit den Zeitzeugen verdeutlicht das. Köln im Jahr 2011 und Jena im Jahr 1989, das sind Parallelwelten, wie sie auf den ersten Blick nicht kontrastiver sein könnten. Gleichwohl zeigt sich, dass die sozialen Wünsche und Ängste der Zeitgenossen, vor allem ihre Fragen nach den Verhältnismäßigkeiten von Kapitalismus und/oder Sozialismus sowie ökologischen und ökonomischen Prinzipien verschoben, aber ähnlich sind. An Gründen für Protest mangelt es nicht und so folgt dem Gespräch die Umsetzung in die Tat. Abbildung 2: Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder: Der Dritte Weg
Quelle: Joachim Dette/Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder
Es geht hinaus in die Kölner Luft und die weißen Banner werden mit Parolen der Teilnehmer besprüht: „Gegen Atomkrieg!“ oder „Fang bei dir selbst an!“. Der Demonstrationszug setzt sich mit den Bannern und Lichterkerzen, wie sie bei den De-
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monstrationen vor dem Fall der Mauer im Zuge der Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR verteilt wurden, in Gang. Bei zahlreichen Teilnehmern lässt das Kerzenlicht Erinnerungen aufblitzen, wie sie im späteren Gespräch erläutern. Kollektive Gedächtnisbilder werden aktiv vollzogen und als der Zug erneut durch die Schildergasse wandelt, schließen sich spontan bis dato unbeteiligte Außenstehende an. Kunst und Nicht-Kunst werden zur Diffusionsmasse, eine avantgardistische Grundidee schreitet unentwegt weiter und lässt etwaige zeitliche Disparitäten außen vor. In seinem Vortrag Theater zwischen Kunst und Nicht-Kunst3 nimmt Carl Hegemann während der HEIMSPIEL-Tagung genau zu diesem Thema Stellung. Die im Ankündigungstext des HEIMSPIEL-Programms aufgeworfene Frage: „Führt die Erforschung der Realität mit Mitteln des Theaters zu einer Ästhetisierung der Lebenswelt oder zur Politisierung der Kunst?“ behandelt Hegemann unter anderem mit dem Rückgriff auf Friedrich Schiller und dessen Briefkonvolut Über die ästhetische Erziehung des Menschen.4 Kunst inszeniere im Schiller’schen Sinne eine eigene Moral, so Hegemann, und genieße hernach eine absolute Freiheit. Mittels des Spiels und des Scheins konnte der Mensch den Gesetzen und den Zwängen die Fesseln abnehmen, jedoch hatte dies zu Zeiten Schillers kaum Auswirkungen auf die Realität, verhallte vielfach ungehört. Hegemann verdeutlicht, dass Kunst arbeiten ohne Gebrauchsanweisung sei. Das Nicht-Können sei das konstitutive Moment der Kunst und am Anfang müssten somit Fehler gemacht werden. Demnach habe die Irrationalität viel mit der Kunst zu tun, weshalb es per se keine zweckrationale, moralische Haltung der Kunst geben könne. Im Umkehrschluss ist die Verbindung von Kunst und Nicht-Kunst konstitutiv. Hegemann referiert zur Veranschaulichung eine Überlegung Boris Groys’. In Das kommunistische Postskriptum (2006) entwickelt Groys den Gedanken, dass man als Künstler nicht nach dem Motto ‚anything goes‘ verfahren könne, sondern Kunst nur dann anerkannt werde, wenn sie paradox sei. Sobald Kunst nur als Kunst in Erscheinung trete, rein sein wolle, immanent sei, eben dann handele es sich nicht um Kunst, sondern Kitsch. Kunst, so bilanziert Hegemann, benötige also die Nicht-Kunst, sofern sie kein Kitsch sein wolle. Durch den Bezug auf die Nicht-Kunst sei gleichzeitig ein gewisser Effekt entstanden: Die Erwartung an die Kunst, das Unwahrscheinliche zu präsentieren, sei zum Wahrscheinlichen geworden. Man fordere deshalb förmlich die Irritation und das Unvorhergesehene, sobald man performativen Konfigurationen begegne. Alles müsse neu und anders sein und bleibe dennoch zumeist erwartbar. Die Selbstrealisierung der Unwahrscheinlichkeit sei daher gezwungen, sich auf außerkünstlerische Dinge zu konzentrieren, da in ihnen diese Unwahrscheinlichkeit virulent bleibe. 3
Die Lecture fand am 01. April 2011 im Kölnischen Kunstverein statt.
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Siehe hierzu auch das Kapitel Über die Ästhetik zur Freiheit.
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Somit lägen die Gründe sich auf die Gesellschaft zu beziehen, in der Kunst verankert und seien im Sinne des Fortschritts unerlässlich. Doch auch den umgekehrten Schritt spricht Hegemann an. Demnach beziehe sich die Gesellschaft immerzu auf die Bühne, sei gar eine ‚Bühnengesellschaft‘. Fazit: Beide, Kunst und Gesellschaft, dürfen sich nicht schlucken. Gerade deshalb, so befindet der Dramaturg, komme man nicht mehr hinter eine Kunst mit Laien zurück. 5 Die Laien implizieren das stets Unwägbare auch dann noch, wenn sie sich als Schauspieler zu verhalten versuchen oder mitunter divenhafte Züge annähmen, sich verstellen. Aber immer dann, wenn die Kunst sich auf etwas beziehe, das man nicht im Griff habe, könne es trotz alledem zu etwas Künstlerischem kommen. Kunst müsse demnach ‚passieren‘. Die Nicht-Kunst bilde dafür den Kontext, weil wir eben in dieser Gesellschaft leben. Die Nicht-Kunst selbst müsse sich darob an der Gesellschaft abarbeiten. Eine Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst sei unvermeidlich, jedoch müssen sich beide Bereiche stets aufeinander beziehen. Durch die dadurch heraufbeschworenen Unwahrscheinlichkeiten 6 entstehe zwangsläufig etwas Neues. Dieses Neue, auf Unwahrscheinlichkeiten basierende, ist in den in dieser Arbeit thematisierten Performances virulent. Beim Dritten Weg nun ist es doppeldeutig. Das Potential des Stücks liegt in dem historischen Rückblick, den Schauspieler und Laien gleichsam aufzeigen, aber er liegt eben auch in der Erörterung aktueller, sowie potentieller politischer Zustände, gegen die sich aufgelehnt werden soll. Das Diskontinuierliche ist dem Stück ob der partizipatorischen Teilhabe der Zuschauer und der Zusammenarbeit mit Laien implizit, jedoch produziert diese durch die Schauspieler erweiterte Gruppe die in der Realität verankerte Demonstration. Auch wenn die Beteiligten sie nicht aus einer unabhängigen und intrinsischen Motivation initiiert haben, sondern diese aus einer dramaturgischen Setzung heraus entstanden ist, werden die ästhetischen, aisthetischen, rationalen und fiktionalen Erfahrungen der Teilnehmer im Verlauf haltlos in- und übereinander geschoben. Dies gilt beispielsweise für die außenstehenden Passanten, aber auch für die Besucher, die ab jenem Moment, in dem sie ihre Leitsätze auf die Banner gesprüht oder in den angeregten Diskussionen mit Zeitzeugen und anderen Zuschauern ihre Positionen verdeutlicht haben, die eigene Existenz in die Performance-Waagschale werfen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das Aktivieren des kollektiven Ge5
Wie effizient die Zusammenarbeit mit den immer inflationärer eingesetzten Laien (in der Theaterszene hat sich der Begriff Extras durchgesetzt) ist, war eine auf der damaligen Tagung vielfach und kontrovers diskutierte Frage. In den für dieses Kapitel gewählten Performancebeispielen sind die Kinder in Before your very eyes, im Dritten Weg die Zeitzeugen, also solche zu bezeichnen.
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Hegemann leitet diesen Begriff von Niklas Luhmann ab.
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dächtnisses sowie die Bezugnahme auf das Hier und Jetzt und die Deklaration neuer politischer Dilemmata, all dies lässt den von Hegemann formulierten Ansatz einer Verbindung von Kunst und Nicht-Kunst, die das Nicht-Können als konstitutiven Moment innehat, erfahrbar werden. Die kritischen Auseinandersetzungen und Diskussionen unter den Zuschauern weisen auf den Aspekt des Unvorhersehbaren hin, der zum Bestandteil performativer Künste geworden ist und doch unberechenbar bleibt. Es zeigt sich an dieser Performance, dass der Fortschritt von der Autonomie mitsamt der damit einhergehenden Debatte um die Verknüpfung von Kunst und Leben innerhalb ästhetischer Kontexte nicht zu lösen ist. Wir werden im Verlauf der Arbeit feststellen, dass die Auseinandersetzung der Kunst mit dem Leben auf jeden Parameter der Avantgarde Einfluss nimmt und umgekehrt. Es zeigt sich daran, dass der gesellschaftliche Kontext nicht nur für die avantgardistischen, sondern gleichermaßen für performative Künstler zentraler Bezugspunkt bleibt. Um diese ersten praxisbezogenen Überlegungen nachhaltiger an den Fortschritts-Begriff zu koppeln, dem ohne die Kontinuität wiederum das Moment der Neuerung abhandenkäme, soll im Folgenden eine erste Begriffsklärung vorgenommen werden.
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Unter künstlerischen Vorzeichen über den Fortschritt7 und die Kontinuität nachzudenken heißt, sich auf ein unwägbares Terrain zu begeben, schließlich drängen sich uns in dieser konträren Anordnung unmittelbar die jeweiligen Gegenpositionen auf. Erneuern steht dem Bewahren gegenüber, Progressives dem Reaktionären. Für die einen gleicht das Fortschreiten dem Verlassen eines alten Schiffs, die anderen erkennen den Fortschritt in der Renovierung eben jenes. Für eine Ausarbeitung dieser Begriffspaarung als zentralem Parameter der Avantgarde, ist es deshalb sinnvoll, den Blick auf eine kleine Auswahl von Fortschrittskonzepten zu richten, um einerseits auf deren Ambiguität hinzuweisen, andererseits aber diese vielfältigen Grundlagen zu nutzen, um anhand dessen das explizite Fortschreiten und die Entwicklung neuer künstlerischer Formen und Inhalte aufzuzeigen, die bis in das 21. Jahrhundert hinein Bestand haben. Dafür werden als avantgardistische Beispiele Futurismus und Dadaismus herangezogen, für eine aktuelle Auseinandersetzung sollen das bereits 7
Für einen dezidierteren Überblick über den Fortschritts-Begriff ist auf den von Ludwig Huber herausgegebenen Band Wie das Neue in die Welt kommt. Phasenübergänge in Natur und Kultur (2000) zu verweisen. Darin wird dem Neuen nicht nur allgemein aus wissenschaftstheoretischer, sondern insbesondere aus den unterschiedlichen Wissenschaften heraus auf vielfältige Weise nachgespürt (vgl. Huber 2000).
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angeführte Performancebeispiel des Dritten Wegs, sowie am Ende des Kapitels die Arbeit Before your very eyes von Gob Squad als ästhetische Übersetzungen jener kunsttheoretischen Fragen fungieren, die dieser Arbeit vorausgehen. Wie sich der Fortschritt und im Folgenden die Utopie, das Kollektiv und die Partizipation im Zuge einer zeitgenössischen Rezeption und also über das ästhetisch Unbewusste als Re-Writing der historischen Performancepraktiken lesen lassen, wird sich im Zusammenspiel der beiden Performances eines jeden Kapitels zeigen. Begonnen wird dabei jeweils mit einer Performance, die die Problemstellung des Parameters allgemeiner aufwirft, das Kapitel beenden wird eine spezifische Analyse dieser Problematik, die an einer weiteren künstlerischen Arbeit vorgenommen wird. Der Fortschritt in der Kunst Mit den Überlegungen Joseph A. Schumpeters ein Fortschrittstheorem für die Kunst zu erarbeiten, scheint auf den ersten Blick irreführend. Der Autor, ich beziehe mich im Folgenden auf sein 1942 erschienenes Werk Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, das als Standardwerk innerhalb der politischen Ökonomie gilt, hinterfragt den Status quo der obigen Begriffe und unterzieht dabei besonders den Kapitalismus einer dezidierten Analyse. Dabei würdigt er dessen Errungenschaften, verdeutlicht aber gleichwohl seine Endlichkeit und propagiert, ihn in einen Sozialismus zu überführen. Inmitten dieser Ausführungen entwickelt Schumpeter in seinem siebten Kapitel das Konzept der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter 2005: 134). Dieses entspringt makroökonomischen Grundüberlegungen, legt jedoch die Basis für einen zentralen Gedanken zum Fortschritt, den ich hier aufgreifen möchte. Schumpeter geht davon aus, dass der Kapitalismus als sich stetig verändernder Prozess zu verstehen ist, der nie still steht. Dahingehend stellt er fest: „Der fundamentale Antrieb, der die kapitalistische Maschine in Bewegung setzt und hält, kommt von den neuen Konsumgütern, den neuen Produktions- oder Transportmethoden, den neuen Märkten, den neuen Formen der industriellen Organisation, welche die kapitalistische Unternehmung schafft.“ (Schumpeter 2005: 137)
Existent werden diese neuen Entwicklungen durch „Mutation[en]“ innerhalb der Industrie, die dazu führen, dass „unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert“ (Schumpeter 2005: 137) werde. Dies nun habe zur Folge, dass „unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue [geschaffen]“ (Schumpeter 2005: 137 f.) werde. Es ist dieser „Prozeß der ‚schöpferischen Zerstörung‘“, den Schumpeter als „das für den Kapitalismus wesentliche Faktum“ (Schumpeter 2005: 138) begreift. Hierbei macht er darauf aufmerksam, dass es weniger um den kapitalistischen Umgang „mit bestehenden Strukturen“ gehe, sondern
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vielmehr darum, wie sie erschaffen und „zerstört“ (Schumpeter 2005: 139) werden. Dieses innovative Voranschreiten, das Kreieren neuer Produkte, technologischer Verfahren oder Strukturen, mache die eigentliche Konkurrenz aus. Eine Form der Konkurrenz im Übrigen, die auch rein virtuell funktioniere, weil die Entwicklung neuerer und erfolgreicherer Produkte als die bisherigen stetig möglich sei, obschon sie noch nicht existiere. Es lässt sich aus diesen Thesen Schumpeters ein die Ökonomie aufrechterhaltender Drang zur schöpferischen Zerstörung lesen, der durch ein latentes Konkurrenzempfinden den Fortschritt in Gang hält. Das Neue produziert den Fortschritt und wird immerzu durch diesen hervorgerufen (vgl. Schumpeter 2005: 136 ff.). Künstlerisches Voranschreiten lässt sich nach ebendiesem Prinzip denken. Bereits bei Friedrich Nietzsche finden wir im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra eine Relation zwischen Bruch und/oder Vernichtung einerseits und Schöpferischem andererseits: „Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich, der muss ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. – Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig. Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen-kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen!“ (Nietzsche 2009: 149)
Nietzsche entwickelt hier den Gedanken eines schöpferischen Fortschritts mit all seiner Brachialität, den er in Verbindung setzt mit der Tatsache, dass Gutes und Böses vergänglich sei (vgl. Nietzsche 2009: 149). Mit Horst Bredekamp und Hartmut Böhme, der Schumpeters Zerstörung als „kreative“ (Böhme 2006: 291) bezeichnet, finden sich zwei Zeitgenossen, die die ökonomische Theorie Schumpeters in das Feld der Kultur, Kunst und Architektur überführen. Dabei leitet Bredekamp seinen Begriff der ‚produktiven Zerstörung‘ im Zusammenhang mit dem Bau und Abbau von Sankt Peter bekanntermaßen von Schumpeter ab und verdeutlicht, dass diese Zerstörung fundamental für die Kreation von Neuem, Veränderung und Wandel sei. Böhme wiederum verweist im Zuge seiner Überlegungen zum Gabentausch von Marcel Mauss8 auf Schumpeter. Dabei verdeutlicht er dessen Gedanken, dass „die Zerstörung mit der Schaffung von (neuen) Strukturen in eins fällt, wie umgekehrt jede Wertschöpfung Zerstörung impli-
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Zu Böhmes Ausführungen von Mauss’ Gedanken und der Überführung in eine Theorie des Fetischismus vgl. Böhme 2006: 289-297.
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ziert“ (Böhme 2006: 291 f.). Auf Bredekamps Überlegungen hinweisend konstatiert Böhme: „Dies scheint eine grundlegende Praxis, die weit über die Ökonomie hinausgehend soziale, gouvernementale, politische und künstlerische Prozesse beherrscht. Für den Gabentausch bedeute dies, dass die „Zerstörung […] das Medium der Produktion der sozialen Ordnung, der Hierarchien, der Macht, aber auch der symbolischen Ordnung“ (Böhme 2006: 292)
sei. Die aus einer „immer schneller und verschlingender arbeitenden Zirkulation“ bestehende „moderne Gesellschaft“ (Böhme 2006: 367) bediene sich dabei jener „‚kreativen Zerstörung‘“ (Böhme 2006: 368) Schumpeters. In diesem Zusammenhang nimmt Böhme auf Walter Benjamin Bezug, der in seinem Passagen-Werk von einer „schöpferischen Unordnung“ spricht, die er als „produktive[...] Unordnung“ versteht. Benjamin bezieht diese auf das Tun des Sammlers, verweist gleichwohl aber darauf, dass das Verhältnis zwischen „Zerstreutheit der allegorischen Requisiten (des Stückwerks) […] [und; PG] schöpferische[r] Unordnung“ (Benjamin 1991: 280) noch geklärt werden müsse. Bei Benjamin erscheint die Zerstörung an dieser Stelle zwar vielmehr als Umordnung innerhalb der Unordnung, dennoch ist auch diese dem Prinzip der Veränderung und Neuausrichtung unterworfen und bildet den für den Fortschritt zentralen Grundgedanken ab (vgl. Benjamin 1991: 280/Böhme 2006: 291 f.; 292; 367 ff./Bredekamp 2000: 123). Bevor ich näher auf Benjamins Einlassungen zum Fortschritt eingehen werde, möchte ich zuvor einen kurzen Gedanken Jakob Ullmanns aufgreifen, der die Frage äußert, „ob ‚fortschritt‘ nicht unweigerlich kennzeichen jedes menschlichen handelns ist, d.h. ob es denn […] auch nur denkbar ist, ‚fortschritt‘ zu vermeiden.“ (Ullmann 1998: 89)9 Diese Frage scheint mir grundlegend und mündet in der Erkenntnis, für die Ullmann wiederum die Überlegungen Walter Benjamins zum Messias aufgreift, nämlich dass der Fortschritt „die unverfügbarkeit seines kommens [streicht] und […] daß dieses kommen durchaus nicht die gar allmähliche verwirklichung paradiesischer zustände auf der erde bedeutet, sondern das ende der welt mit schrecken, die jenseits unserer vorstellung liegen.“ (Ullmann 1998: 130) Deutlich macht Ullmann damit, dass der Fortschritt ein zweischneidiges Schwert ist, dem die Unverfügbarkeit implizit ist (vgl. Ullmann 1998: 89 ff.). Walter Benjamin selbst formuliert zum Fortschritt:
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Ullmann diskutiert den Fortschritts-Begriff von einem musikhistorischen Standpunkt aus und zielt dabei auf eine Auseinandersetzung mit der (Nicht-)Verortung und Weiterentwicklung der neuen Musik am Ende des 20. Jahrhunderts ab (vgl. Ullmann 1998).
98 | RE -W RITING A VANTGARDE „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. […] Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.“ (Benjamin 1991: 592)
Mit der Denkbewegung Walter Benjamins lässt sich dem Fortschritt über seine Infragestellung begegnen. Der Philosoph nähert sich dem Fortschritt auf der Ebene der Geschichtsdarstellung an. Dabei rückt er von der linearen Geschichtsschreibung des Historismus ab und setzt diesem den historischen Materialismus entgegen. Benjamin erkannte im linearen Verständnis von Geschichte die Gefahr, das historische Vergessen zu untermauern und den weniger sichtbaren, alltäglichen Dingen und Handlungen ihre Daseinsberechtigung zu rauben. Um genau jenes Nicht-Darstellbare zur Darstellung zu bringen, entwickelte er das Modell einer Geschichtsschreibung, die dieser Überlegung gerecht werden sollte. Dabei ging er davon aus, dass „[z]um Denken […] nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung“ gehöre. Und weiter: „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.“ (Benjamin 2007: 138)
Die Stillstellung, so legt Timo Skrandies Benjamins geschichtsphilosophischen Gedanken dar, resultiere aus einer ganz grundlegenden Kritik an den bestehenden Modellen des Fortschrittsbegriffs, von denen Benjamin sich zu verabschieden gedachte. Konzeptionell konkretisiert Benjamin diese Überlegung in der Stillstellung und im dialektischen Bild. „Wichtig ist, dass Benjamin gegen die Vorstellung einer ‚homogene[n] und leere[n] Zeit‘, in der der Fortschritt verlaufe, das Modell der Stillstellung setzt. In diesem Tempus der ‚Jetztzeit‘ tritt Vergangenes uns bildhaft entgegen.“ Für Benjamin findet sich im monadischen Aufblitzen des bis dato UnDargestellten die Möglichkeit, die lineare Katastrophe in der wir uns befinden aufzubrechen und als destruierendes Modell dem im Historismus gründenden Fortschritt entgegenzuhalten. Benjamin knüpft den Fortschritt also an eine Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Skrandies dazu: „Das Heutige (und wir in ihm) tritt mit dem Vergangenem in eine Konstellation von Ähnlichkeit.“ (Skrandies 2010a): 259) Noch eindeutiger zeigt sich dies an Benjamins Beispiel vom Engel der Geschichte. Dabei geht Benjamin von Paul Klees Bild Angelus Novus (1920) aus, dessen abgebildeten Engel er wie folgt beschreibt:
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„Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Benjamin 2007: 133)
Dieser Sturm agiert als Bewegungsmoment zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Engel der Geschichte ist zwar mittendrin, hat den Blick jedoch gen Vergangenheit gerichtet und somit keine Idee davon, wie die Zukunft aussehen mag. Lediglich die Bewegung des Fortschritts, der Sturm, ist das, was für ihn wahrnehmbar ist, doch gleichwohl nur schwerlich zu beeinflussen. Skrandies macht darauf aufmerksam, dass sich in dem Bild, das seit 1921 in Benjamins Besitz war, „theoretische Grundannahmen der Geschichtsphilosophie und […] methodische[...] Ansätze verdichte[n] […]: die bildhafte Dialektik im Stillstand, das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenem, die Fortschrittskritik, die theologischen Implikationen, die aufgetürmten Dinge und Ereignisse des ‚Jüngstvergangenen‘, die sinnliche Erfahrung des Rätselhaften, schließlich, in der Benjamin’schen Beschreibung und Deutung des Bildes selbst, die Methodik des historischen Materialisten.“ (Skrandies 2010a): 270)
Mit Hilfe der Stillstellung, durch die bestehende Konstellationen aufgebrochen oder ‚chockiert‘ werden können, durch ein solches monadenhaftes Denken, ist für Benjamin eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich, um diese für das Heute und Morgen nutzbar zu machen. Es geht ihm um die Blitzhaftigkeit bestimmter Bilder und Ereignisse, mit Hilfe derer die dialektische Beziehung zwischen Jetzt und Vergangenem erkenntlich gemacht werden kann und durch die überhaupt erst eine Auseinandersetzung mit Gegebenem und Kommendem möglich wird. Für Benjamin zeigt sich im Modell des historischen Materialismus die Möglichkeit, an die Stelle des bis dato existenten Fortschrittgedankens zu treten und eine Alternative zu diesem aufzuwerfen. Denn: „Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.“ (Benjamin 1991: 593) Untergräbt man im Anschluss daran das Modell des Historismus und lässt die ‚Interferenzen‘ sprechen, gelangt man zu alternativen Optionen, um
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künstlerische Prozesse nachzuvollziehen (vgl. Benjamin 1991: 133 ff.; 576 f./Skrandies 2010a): 259 ff.). 10 Das Monadische koppelt Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie nun an die Kunst: „Das Resultat des Prozesses sowohl wie er selbst im Stillstand ist das Kunstwerk. Es ist, was die rationalistische Metaphysik auf ihrer Höhe als Weltprinzip proklamiert, Monade: Kraftzentrum und Ding in eins. Kunstwerke sind gegeneinander verschlossen, blind, und stellen doch in ihrer Verschlossenheit vor, was draußen ist. […] Als Moment eines übergreifenden Zusammenhangs des Geistes einer Epoche, verflochten mit Geschichte und Gesellschaft, reichen die Kunstwerke über ihr Monadisches hinaus, ohne daß sie Fenster hätten. Die Interpretation des Kunstwerks als eines in sich stillgestellten, kristallisierten, immanenten Prozesses nähert sich dem Begriff der Monade.“ (Adorno 1973: 268)
Adornos Prozess und Benjamins Überlegungen zum Fortschritt an dieser Stelle einem konformistischen Blick zu unterwerfen, liegt mir fern, und doch ist mir der Hinweis auf das ‚Bewegte‘ wichtig, das Adorno auch an anderer Stelle expliziert11 und welches beiden Begriffen inhärent ist. Gerade im der Bewegung entgegengesetzten monadischen Stillstand erhält das Prozessuale und Vorwärtsgewandte eine zentrale Eigendynamik, die der Kunst Grenzüberschreitungen ermöglicht, welche wiederum den Blick auf etwas Neues erst ermöglichen. Prozessuales Entwickeln spielt hierfür eine zentrale Rolle. Dabei lässt sich mit Adorno festhalten, dass „[n]eue Kunst […] so abstrakt [ist], wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind. […] Weil der Bann der auswendigen Realität über die Subjekte und ihre Reakti-
10 Die ‚Konstellation von Ähnlichkeit‘ von der Skrandies im Zusammenhang mit Benjamin spricht, lässt sich auf abstrahierte Weise mit Aby Warburgs Konzepten der Pathosformel beziehungsweise der Engramme, vor allem aber mit dem Projekt des MnemosyneAtlasses in Verbindung bringen. Letzterer und die dazu entstandenen Schriftstücke werfen zudem die Überlegung auf, dass Warburg und Benjamin unabhängig voneinander ähnliche methodische Vorgehensweisen in ihrer Forschung verfolgt haben (vgl. Warburg 2010: 231, 306 f., 629 ff., 634, 640-646). Im Résumée wird auf Warburg noch einmal eingegangen. 11 „Ist das Kunstwerk in sich kein Festes, Endgültiges, sondern ein Bewegtes, dann teilt seine immanente Zeitlichkeit den Teilen und dem Ganzen darin sich mit, daß ihre Relation in der Kunst sich entfaltet, und daß sie jene zu kündigen vermögen. Leben Kunstwerke, vermöge ihres eigenen Prozeßcharakters, in der Geschichte, so können sie in dieser vergehen.“ (Adorno 1973: 266)
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onsformen absolut geworden ist, kann das Kunstwerk ihm nur noch opponieren, daß es sich gleichmacht.“ (Adorno 1973: 53)
Das Kunstwerk trägt somit eine gewisse Tragik in sich, wenn es sich, obschon gewollt, eben nicht vom Realraum lösen kann. Mehr noch begibt sich das Neue immer auf einen bereits vorgegebenen Weg, dessen Bestandteile schon existieren. Adorno lenkt den Blick anders zurück als Benjamin, indem er keinen kompletten geschichtsphilosophischen Entwurf vornimmt. Beide bleiben sich gleichwohl gedanklich nah. Die in Benjamins diskutiertem Spannungsverhältnis zwischen Vergangenem und Neuem zu Grunde gelegte Auffassung vom Fortschrittsbegriff transferiert Adorno auf die Kunst. Die Kunst nämlich fundiere sich „in der sich geschichtlich […] verändernden Konstellation von Momenten“ (Adorno 1973: 11). Daraus schließt Adorno: „Die Definition dessen, was Kunst sei, ist allemal von dem vorgezeichnet, was sie einmal war, legitimiert sich aber nur an dem, wozu sie geworden ist, offen zu dem, was sie werden will und vielleicht werden kann.“ (Adorno 1973: 12) Indem sich Kunst ständig einem neuerlichen „Prozeß des sich Abstoßens“ unterwerfe, sei ein Kunstwerk ein „Augenblick“, in dem der Prozess einen Moment lang innehalte. Mehr noch seien „die Kunstwerke Antworten auf ihre eigene Frage, [und; PG] werden […] dadurch selber erst recht zu Fragen.“ (Adorno 1973: 17) Das ‚In-Frage-Stellen‘ und die damit zusammenhängende Pflicht einer immer wieder neuaufgelegten Antwortsuche hält das Fortschreiten in Gang und sei logische Konsequenz, denn: „Aufs Neue drängt die Kraft des Alten, das, um sich zu verwirklichen, des Neuen bedarf.“ (Adorno 1973: 40) Wie auch bei Benjamin ist das Vergangene unhintergehbarer Bestandteil und rettet sich über die aufzudeckenden Brüche hernach über das Neue gewissermaßen selbst: „Seine Zuflucht hat das Alte allein an der Spitze des Neuen; in Brüchen, nicht durch Kontinuität.“ (Adorno 1973: 40) Adorno erkennt im Neuen gleichwohl besagtes kritisches Moment, indem er auf das „abstrakt Neue“ verweist, welches der Stagnation anheimfallen und in „Immergleichheit um[...]schlagen“ könne. Mit Verweis auf den Fetischcharakter von neuer Kunst, der die „Paradoxie aller Kunst [ausdrückt], die nicht mehr sich selbstverständlich ist“ und zum Gewollten werde, untermauert er diese These. Dieser Immergleichheit müsse mit dem Anderen, dem „nicht Gewollte[n]“ (Adorno 1973: 41) begegnet, das Zufällige, Unvorhergesehene zum Programm erhoben werden. In der Folge kommt den Werken dadurch ihre Reduktion aufs ‚Werk-Sein‘ abhanden, stattdessen entsteht laut Adorno das „Vergnügen […], Kunstwerke durch den Prozeß ihrer eigenen Hervorbringung zu substituieren.“ (Adorno 1973: 46) Damit greift der Autor ein zentrales Moment avantgardistischer Praxis auf, das er gleichwohl kritisiert, indem er von einer „Lüge“ spricht, wenn solche Prozesse als geschlossen und fertig beschrieben würden. Daraus folgt: „Der Fortschritt der Kunst als Machen und der Zweifel eben daran kontrapunktieren einander; tatsächlich wird jener Fortschritt begleitet von der Tendenz zur absoluten Unwillkürlich-
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keit“ (Adorno 1973: 47). „Die Wahrheit des Neuen“, so fasst Adorno zusammen, „[…] hat ihren Ort im Intentionslosen. Das setzt sie in Widerspruch zur Reflexion, den Motor des Neuen, und potenziert sie zur zweiten.“ (Adorno 1973: 47) Intentionslosigkeit und Reflexion stehen sich also im Zuge des Neuen im Wege, sind jedoch nicht voneinander zu trennen. Das Intentionslose aber kann nur mit Hilfe des Prozessualen und Noch-nicht-Verfügbaren errungen werden. Somit bleibt die sich entwickelnde Emergenz innerhalb des künstlerischen Prozesses eine, die der Wahrheit am nächsten kommen könne. Sie löst den Blick von der festgeschriebenen Werkstatik, weicht damit einhergehende Festschreibungen auf und gibt den Raum frei für neue Bedeutungen. Wie auf einem Drahtseil läuft sie dennoch für Adorno gleichzeitig Gefahr, Teil der Immergleichheit zu werden. Die performativen Künste des 21. Jahrhunderts versuchen diese tendenzielle Immergleichheit gewissermaßen positiv herauszufordern. Wenn Adorno davor warnt, dass „[u]nter den Gefahren neuer Kunst […] die ärgste die des Gefahrlosen“ (Adorno 1973: 51) sei, dann ist diese Gefahr meines Erachtens nicht minder auf jene zu Zeiten Adornos zeitgenössische Kunst zu projizieren, die im Zuge der Dauer Gefahr lief, durch fehlende Reflektion oder Kontextualisierung keine Widerstände mehr hervorzurufen. Die performative Kunst setzt sich dieser Reflektion und Kontextualisierung im Hier und Jetzt jedes Mal aufs Neue unmittelbar aus. Sie versucht der ‚geduldeten‘ Langlebigkeit aus dem Wege zu gehen, indem sie sich nur im Prozess der Auf- und Ausführung Existenz verschafft und dadurch stets den Kontrast zum Bestehenden sucht. Dieser Kontrast potenziert sich durch die leiblichen Begegnungen von Künstlern und Zuschauern, da sich jedwede verstetigte Statik innerhalb dieser Aufeinandertreffen nicht aufrechterhalten lässt. Eine solche Prozessualität arbeitet einem weiteren Aspekt zu, den Adorno aufwirft: „Substantiell jedoch wird das Allgemeine an den Kunstwerken allein, indem es sich verändert.“ (Adorno 1973: 270) Denken wir in diesem Zusammenhang an das Entrinnen der Erinnerung nach dem Besuch einer Performance. In dem Moment, wo uns ob des Vollzugs im Hier und Jetzt nur die Erinnerung bleibt, wird, so Marie-Luise Angerer, „die Bewegung (von Körpern und Bewegungsprozessen)“ (Angerer 2006: 243) zum elementaren Bestandteil der Performance. Das Sprechen über das Gewesene hält das Erinnerte zwar fest, transformiert es aber dennoch im selben Moment. Der durch das Kunstwerk ausgelöste Rezeptionsvorgang schließt Veränderungen im Nachgang per se also ein, wodurch „[d]ie Dialektik des Allgemeinen und Besonderen“ (Adorno 1973: 270) austariert werde. Der Kritik Adornos, dass durch ein Sprechen über Kunst das „Bekannte[...]“ (Adorno 1973: 269) wiederholt und dadurch dem Allgemeinen die Bühne bereiten könne, enteilt die performative Kunst mittels ihrer vielfach semiotischen Verschiebungen. Denn im Vollzug selbst wird das Allgemeine fraglich. Lassen sich nämlich keine Zuordnungen oder Kategorisierungen an das Erlebte anschließen, werden analoge Verallgemeinerungstendenzen fragil. Was passiert mit dem Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem, wenn eine besuch-
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te Performance plötzlich zur öffentlichen Demonstration wird, die einen binnen kurzer Zeit vom Beobachter zum Beobachteten werden lässt? Performances entfernen die Besucher immer wieder von ihrem gewohnten Deutungskatalog und zwingen zum Entzug vor der unmittelbaren Sinnzuschreibung. Das Allgemeine muss in solchen Momenten zwangsläufig zur Seite treten (vgl. Adorno 1973: 11 ff.; 40 ff.; 53 ff.; 268 ff.). Tilgen aber lässt sich das Allgemeine nicht. Kontinuitäten schaffen ein Korsett, das die menschliche Suche nach Stabilität befriedigt und für die soziale Entwicklung unabdingbar ist. Wir bedürfen ihrer. Gleichwohl ist der latenten Gefahr sich aus diesem Korsett nicht mehr entfernen zu wollen zu begegnen, da, mit Adorno gesprochen, die Redundanz und Immergleichheit zur negativen Spirale werden kann. Wie aber lässt sich das bewerkstelligen, wenn es sich das Allgemeine bereits im gesellschaftlichen Alltag bequem gemacht hat? Wenden wir uns für eine Antwort noch einmal dem Verhältnis von Bestehendem und Fortschritt zu. Boris Groys verweist ebenfalls darauf, dass das Neue aus dem Bestehenden hervortritt, der Versuch darin nach Verschüttetem oder Verborgenem zu suchen aber ins Leere läuft. Neues werde keineswegs mehr hervorgebracht, vielmehr finde eine Umwertung der vorhandenen Werte statt: „Wenn das Neue keine Offenbarung des Verborgenen ist – also keine Entdeckung, keine Schaffung und keine Hervorbringung des Inneren –, dann bedeutet das auch, daß für die Innovation alles von Anfang an offen, unverborgen, sichtbar und zugänglich liegt. Die Innovation operiert nicht mit den außerkulturellen Dingen selbst, sondern mit den kulturellen Hierarchien und Werten. Die Innovation besteht nicht darin, daß etwas zum Vorschein kommt, was verborgen war, sondern darin, daß der Wert dessen, was man immer schon gesehen und gekannt hat, umgewertet wird. Die Umwertung der Werte ist die allgemeine Form der Innovation: das als wertvoll geltende Wahre oder Feine wird dabei abgewertet und das früher als wertlos angesehene Profane, Fremde, Primitive oder Vulgäre aufgewertet. Als Umwertung der Werte ist die Innovation eine ökonomische Operation. Die Forderung nach dem Neuen gehört somit in den Bereich der ökonomischen Zwänge, die das Leben der Gesellschaft insgesamt bestimmen.“ (Groys 1992: 13 f.)
Groys transformiert gewissermaßen Bestehendes zu Neuem, während insbesondere Benjamin das Übersehene aus dem Bestehenden für Neues zu suchen scheint. Warum aber wischt Groys so drastisch über ein solches Vorhaben im Sinne Benjamins hinweg? Gerade in den stillgestellten Momenten, im blitzhaften Auftreten und den daraus resultierenden Interferenzen scheint sich meines Erachtens eine Möglichkeit zu eröffnen, um das von Groys ins Abseits gestellte Verborgene ausfindig machen zu können. Künstlerische Verfahren arbeiten an dieser Grenze zwischen Gelingen und Scheitern. Der Versuch, Verdecktes und Verschüttetes zu entbergen, ist vielen Künstlern Antrieb, mit dem sich alternative Zugänge zu Vergangenem, Gegenwär-
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tigem und Zukünftigem erschließen lassen. Das Allgemeine sieht sich dabei mit einer destabilisierenden Infragestellung konfrontiert, die sich als produktive gestaltet und dem Besonderen einen Platz offeriert. Die Irritation, der ‚Chock‘, werden zur notwendigen Hürde für das Immergleiche (vgl. Groys 1992: 13 ff.). Kommen wir zum Abschluss dieses Unterkapitels nun noch einmal auf die Frage zurück, inwiefern durch die Verknüpfung von Kunst und Leben, von ästhetischen Strategien und gesellschaftlichen Kontexten diese Destabilisierungen und Irritationen hervorgerufen werden können. Was, anders gefragt, machen die bisherigen Überlegungen also mit der Autonomie der Kunst? „Bis ins Innerste“, proklamiert Adorno, „ist die Kunst in die geschichtliche Bewegung anwachsender Antagonismen verflochten. In ihr gibt es so viel und so wenig Fortschritt wie in der Gesellschaft.“ Diese enge Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Status quo liegt auf der Hand. Die Kunstwerke konstituieren sich in dieser, unserer Welt, unterliegen ihren Rahmenbedingungen und werden von Künstlern geschaffen, die dieser zugehörig sind, einer Nation angehören, ihren politischen Systemen unterliegen und innerhalb dieser operieren, sofern sie dort leben. Kunst außerhalb von Welt zu postieren oder gar abzuschaffen, um sich ihrer (gesellschaftlichen) Schuld zu entledigen, die sie immer schon mittragen, würde sie in die Arme der, wie Adorno formuliert, ‚Barbarei‘ drängen. Ein Fortschritt in der Kunst ist somit auch von den „relativ konstante[n] soziale[n] Bedingungen“ (Adorno 1973: 310) abhängig, die für die Kreation künstlerischer Ideen maßgeblich sind. Andererseits besitzt die Konstanz etwaiger Bedingungen etwas, wogegen die Kunst immer auch opponiert, wenn sie das Konstante als die Perpetuierung des Immergleichen begreift. Festzuhalten bleibt mit Adorno in jedem Fall, dass der „Kunst […] durchs Gesellschaftsganze, […] ihre je herrschende Struktur vermittelt“ (Adorno 1973: 313) werde und somit auch jede Autonomie im Kunstwerk sozial durchtränkt sei. Ein Fortschritt ohne diese soziale Determinierung ist innerhalb der Kunst also nicht auszumachen. In der historischen Avantgarde wurde dies nun insoweit radikalisiert, als dass der Autonomie die Fähigkeit abgesprochen wurde, diese soziale Komponente tatsächlich zu leisten. Im Umkehrschluss wurde der Autonomie deshalb gänzlich abgeschworen, da mit ihr eine Separierung von Kunst und Leben verbunden wurde, die man gerade aufheben wollte. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders sprechen dahingehend davon, dass die Avantgarde die Autonomie als „Negativfolie“ benötigte und so zuspitzte, dass die Autonomie zerbrach und in Praxis umschlug, da „nur die Autonomie [ihr] [der Avantgarde; PG] gestattet […] einen Standpunkt zu entwickeln, der die durch sie abgetrennte soziale Welt nicht mehr ignoriert, sondern grundsätzlich in Frage stellt.“ (Asholt/Fähnders 1997: 5) Sofern man Kunst dagegen als Außerordentliches, Geniegebundenes und in Institutionen ‚Ausgestelltes‘ verstand, entfernte man sich, so die Künstler der Avantgarde, von der Idee künstlerisches Tun vom Werk zu lösen und inmitten der Gesellschaft zu verorten. Dieser radikalen Abwendung von
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der künstlerischen Autonomie aber widerspricht Juliane Rebentisch 12 mit Adorno wie folgt: „Engagement sollte sich nicht von der autonomen Logik des Ästhetischen losmachen wollen. Kunst sollte sich nicht dafür entschuldigen wollen, daß sie konstitutiv mit einer Praxis verbunden ist, die weder direkt in Handlung noch aber unmittelbar in Erkenntnis zu übersetzen ist. Kunst eröffnet eine spezifische Erfahrung. Und zwar eine Erfahrung der Distanz, der Verunsicherung des verstehenden Zugangs zum ästhetischen Objekt.“ (Rebentisch 2003: 279)
Adorno formuliert hinsichtlich der Autonomie, dass „sie [die Kunst; PG] zum Gesellschaftlichen durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft [wird], und jene Position bezieht sie erst als autonome.“ Somit entziehe sie sich dem gesellschaftlichen Nutzungsprinzip, berufe sich auf sich und übe Kritik an der Gesellschaft ohne „bestehende Normen“ zu bestätigen. Obschon sich mit der Autonomie auch die Problematik der Ideologie eröffnen könne, die die Kunst als „Vehikel“ zu nutzen vermöge, sei die Kunst schlussendlich nicht in der Lage sich davon „zu dispensieren“. Dies aber gehöre gewissermaßen dazu, da sich die Kunst „[e]inzig durch ihre gesellschaftliche Resistenzkraft […] am Leben“ (Adorno 1973: 335) erhalte. Es gehe der Kunst, so Adorno, nicht um kommunikative Prozesse mit der Gesellschaft, sondern um „Widerstand, in dem kraft der innerästhetischen Entwicklung die gesellschaftliche sich reproduziert, ohne dass sie nachgeahmt würde.“ Das, was an der Kunst gesellschaftlich sei, sei „ihre immanente Bewegung gegen die Gesellschaft, nicht ihre manifeste Stellungnahme“ (Adorno 1973: 336). Schlussendlich gebe es einen „Doppelcharakter von Kunst: der von Autonomie und fait social“. Adorno verweist in diesem Zusammenhang auf den „gesellschaftlich-ökonomisch[en]“ (Adorno 1973:
12 Zu den Unterschieden zwischen Rebentischs Verwendung ästhetischer Autonomie und jener Adornos vgl. Rebentisch 2003: 134 ff. Hierbei ist für dieses Kapitel meines Erachtens folgende Überlegung hervorzuheben: „Die richtige Einsicht in die Historizität ästhetischer Autonomie wäre von Adornos fortschrittstheoretischem Objektivismus zu befreien und auf die geschichtliche Dimension der Erfahrung zu öffnen. Nicht bloße Dauer, sondern die an ihnen vollzogenen Erfahrungen entscheiden darüber, ob, aber auch wie nachhaltig, Werke ihre Spannung verlieren mögen. Denn die historischen wandelbaren Erfahrungen erschließen die Werke auch in ihrem Innovationspotential immer wieder neu. Entsprechend lassen sich Kategorien wie das Neue oder der Fortschritt auch nicht endgültig an bestimmte Gegebenheiten heften. Die Frage, ob, und wenn ja, in welcher Hinsicht ein Werk als fortschrittlich oder komplementär: also reaktionär gelten kann, steht vielmehr innerhalb des ästhetischen Diskurses, in dem sich die Kunsterfahrungen öffentlich manifestieren, immer wieder neu zur Debatte.“ (Rebentisch 2003: 137)
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340) Eingriff durch Kunsthändler, die Maler vertraglich an sich binden würden.13 Die Widersprüchlichkeit in der Verbindung von Gesellschaft und Kunst bleibt demnach nicht aus: „Läßt sie [die Kunst; PG] von ihrer Autonomie nach, so verschreibt sie sich dem Betrieb der bestehenden Gesellschaft; bleibt sie strikt für sich, so läßt sie als harmlose Sparte unter anderem nicht minder gut sich integrieren.“ (Adorno 1973: 352 f.) Für die Künste bedeutet das, dass der Fortschritt und das damit einhergehende Neue nicht ohne das Gesellschaftsganze zu denken ist. Adorno weist dabei gerade auch auf gesellschaftliche Brüche hin, die zu Novellierungen in der Kunst führen. Rebentisch merkt an, dass Adorno seine Idee von Fortschritt jedoch an die Vorstellung knüpft, „die Geschichte des bisherigen Fortschritts ästhetischer Konstruktionsprinzipien weiter[zu]schreiben.“ (Rebentisch 2003: 107) Dabei gehe es zwar nicht um einen affirmativen Akt, sondern um eine kritische Bezugnahme, die eine Weiterentwicklung zur Folge haben solle und die immer mit der Hinterfragung des Materialstandes14 einhergehe. Diesen Materialstand betrachten Adorno und Rebentisch allerdings aus unterschiedlichen Richtungen. Rebentisch stimmt Adorno dahingehend zu, dass „dem Begriff autonomer Kunst […] die Werke einzig durch den Konflikt mit den Gattungsdefinitionen gerecht [werden].“ (Rebentisch 2003: 124) Gleichwohl hält sie nicht wie Adorno an dieser Grenzziehung fest, sondern spricht sich dafür aus, dass die Künste sich „von ihrer Darstellungsfunktion befreien und verstärkt auf ihre jeweiligen Darstellungsmittel […] besinnen.“ (Rebentisch 2003: 124) Auch der von Adorno formulierten Kritik an Abstraktion und Gesamtkunstwerk widerspricht Rebentisch. Dabei wendet sie sich von Adornos Fortschrittsverständnis ab, nach dem man die misslungenen Werke der Moderne aufgreifen und sich daran allererst abarbeiten solle, statt sich unmittelbar neuen zu öffnen. Ihr Fazit: „Will man das ästhetische Potential der derzeit in der Kunstwelt omnipräsenten Verfahren verteidigen, so kann man das offensichtlich nicht im Anschluß an, sondern muß dies in Abrenzung zu Adorno tun.“ (Rebentisch 2003: 131) Gerade weil es aber nun eine solch „notwendige[...] Umstrittenheit der Kategorie ästhetischen Fortschritts“ (Rebentisch 2003: 138) gebe, müsse diese von einem kunstkritischen Diskurs begleitet werden. Dabei, so schließt sie an Thierry de Duve an, gehe es je13 Jutta Held greift in ihrem Aufsatz Adorno und die kunsthistorische Diskussion der Avantgarde vor 1968 die Tatsache auf, dass Adorno bereits 1959, im Zuge des ersten BadenBadener Kunstgesprächs mit dem Thema „Wird die moderne Kunst gemanagt?“ konfrontiert wurde. Adorno habe es dabei, so Held, ausgelassen, die autonome Kunst dahingehend zu kritisieren, dass sie, wie die Produkte der Kulturindustrie, „in das kapitalistische System integriert worden war“ (Held 1992: 49). 14 Rebentisch erläutert Adornos Gedanken zur ‚Vergeistigung des Materials‘ hier: Rebentisch 2003: 107 f.; 113 ff.
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doch nicht um die Problematik, dass sich „ein allgemeiner Begriff von Kunst auf Kosten von Besonderheiten durchgesetzt hätte.“ (Rebentisch 2003: 141) Vielmehr rät sie, den Kunstbegriff „angesichts sehr heterogener und als solcher spezifischer Produktionen immer wieder zur Disposition zu stellen.“ (Rebentisch 2003: 142) Diese Disponierung lässt sich meines Erachtens mit den Überlegungen zum monadischen Denken in Verbindung bringen. Das blitzhafte Auftreten der Monade, ihr teleologisches Moment, ist für den Verlauf der Arbeit deshalb als untergeordnetes Prinzip mitzudenken, weil es sich für die Hinterfragung von zerklüfteten Kategorisierungen und Kontinuitäten als grundlegend erweist (vgl. Adorno 1973: 310 ff.; 335 ff./Rebentisch 2003: 107 ff.; 119 ff.).
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IN DER HISTORISCHEN
AVANTGARDE
Um nun konkret die historische Avantgarde hinsichtlich ihrer künstlerischen Umbrüche, Fortschrittsgedanken und Neuausrichtungen in Produktion und Rezeption zu untersuchen, möchte ich zuerst ein wenig weiter zurückblicken, auf den Beginn des 19. Jahrhunderts, und hier genauer, auf die l’art pour l’art-Bewegung um 1830. Die französischen Romantiker, die diese Bewegung ausriefen, propagierten eine Abkehr von der „normativen Wertzuschreibung“ (Werner 1997: 20), welche bis dato mit der Vorstellung einer künstlerischen Ästhetik einhergegangen war. Gefordert wurde ein Bekenntnis zu sich und der eigenen Arbeit, die Sinnproduktion sollte keinem Zweck unterworfen werden, Kunst vielmehr Selbstzweck sein. Gesellschaftsrelevante Aussagekraft und politische Implikationen hatten dem Anspruch zu weichen, der Ästhetik den Vorrang zu gewähren und die Kunst autonom für sich stehen zu lassen. Es brach sich dadurch jene Idee Bahn, welche dem Impressionismus den Weg wies und zu einer „Ablösung der Malerei von kollektiven und institutionellen Werten“ (Rubin 1978: 18) führte. Auf diesem Weg gen Jahrhundertwende darf nicht vergessen werden, dass dieser sich von vorgeschriebenen Auftragsproduktionen fort- und zur Kunstproduktion fernab klerikaler Vorgaben hinbewegte. Dadurch aber wuchs die Abhängigkeit von jenen Institutionen, die diese Werke alternativ ‚ausstellten‘. So lässt sich die Tatsache, dass Edouard Manet nach Ablehnung eines seiner Gemälde für eine Kunstsalonausstellung den Kaiser von Frankreich, Napoleon III., um Hilfe bat, gar als zynische Wende im Regierungs-Institutionalisierungs-Gemenge verstehen-obschon daraus jener Salon de Refusés hervorging, der allen weiteren abgelehnten Kunstwerke fortan eine Plattform gewährte. Das Verhältnis von Werk, Künstler und Gesellschaft war in der Moderne in einer Neuformierung begriffen, exemplarisch standen dafür Maler wie Claude Monet und Paul Cézanne, aber auch Edgar Degas oder Auguste Renoir. Gleichwohl machte sich diese Neuformierung immer noch auf der Ebene zwischen Künstler und
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Werk, beziehungsweise am Werk, in Form von Perspektivveränderung, Farbe, Raumanordnung oder Inklusion der sinnlichen Erfahrung bemerkbar. Der Kubismus hingegen stellte hernach „die progressivste und radikalste Neubestimmung der Bildsprache im 20. Jahrhundert dar“. Das „Verschwimmen der Grenzen zwischen Malerei und Skulptur, zwischen Bild, Collage und Relief andererseits: Die Aufhebung der Gattungsgrenzen zwischen Malerei und Skulptur“ (Bowness 1998: 105) gehen für Bowness auf den Kubismus zurück. Die von den zentralen Vertretern Pablo Picasso und Georges Braque um 1909 ins Leben gerufene Bewegung, etablierte die Abstraktion in der Kunst und zerlegte dabei im Rahmen des analytischen Kubismus Gegenständliches, vornehmlich Körper, in geometrische Figuren, um den Bildraum für eine simultane Betrachtungsweise zu öffnen. Hierbei wird das Bild laut Damus „im Unterschied zum perspektivischen, nicht statisch, nicht über eine Blickachse auf den Betrachter bezogen, sondern setzt sich aus den subjektiven Bewegungsvorstellungen in flächigem Nebeneinander zusammen“ (Damus 2000: 87). Damus verweist auf die Wichtigkeit des Volumens für die Kubisten, welche sich, wie Picasso und Braque, an das künstlerische Erbe Cézannes 15 anlehnten. So wurde auf den gängigen und illusionistischen Einsatz von Licht und Schatten, sowie die Farbintensität verzichtet und stattdessen die Fläche für eine Veranschaulichung von Voluminösität genutzt. Das Auge sollte hinter die „Oberfläche der Erscheinungswelt“ blicken. Die Einheit von Bild und Darstellung wurde aufgelöst, stattdessen Alltagsmaterialien, wie Tapete, Metall- und Sägespäne oder Kordel in die nun entstehenden Collagen miteinbezogen. Es ging um ein „Nebeneinander unterschiedlicher Weisen der Wahrnehmung und des Seins“ (Damus 2000: 88). Ziel des synthetischen Kubismus war es, sich qua Zusammensetzung unterschiedlichster Darstellungsmodi vom Objekt zu lösen und die bisherigen Vorstellungen im Kopf des Rezipienten zu verunsichern. Die Loslösung von der „materiale[n] Homogenität der Bildoberfläche“ (Damus 2000: 88) war deshalb wichtig, da diese zu einer Verschiebung der Grenze zwischen Umgebung und Werk führte. Auch die „Verzeitlichung der Wahrnehmung auf der einen, die Simultaneität des Differenten auf der anderen Seite sowie das Aufbrechen der kompositionellen, gestalterischen und materialen Einheit des Bildes“ (Damus 2000: 89) kann laut Damus nicht hoch genug eingeschätzt werden, gleiches gilt für einen hierarchielosen Gebrauch der Elemente, der sich auf die Bildanordnung übertrug (vgl. von Beyme 2005: 479/Bowness 1998: 9 ff.; 114/Damus 2000: 87 ff.).
15 Hans-Thies Lehmann macht anhand von Cézanne in der Malerei eine „Autonomisierung der Signifikanten“ fest, die dazu führte, „das Unausdrückliche[…] der Bildhaftigkeit selbst ebenso intensiv zu realisieren wie das vom Bild Abgebildete und Ausgedrückte.“ (Lehmann 2005: 106)
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Von einer ‚Zerstörung‘ des „seit der Renaissance geltende[n] Darstellungssystem[s]“ (Bürger 1974: 99) spricht Peter Bürger, der die Kubisten als die historischen Vorreiter der Montagetechnik ausmacht. Die im ersten Unterkapitel eingeführten Gedanken Benjamins und Adornos lassen sich an dieser Stelle aufgreifen: Das ‚jeweils Gegebene‘, sprich, die seit der Renaissance bestehende Darstellungsweise, wird aufgebrochen, indem ein ‚Sprung‘ innerhalb der ‚kontinuierlichen Katastrophe‘ erfahrbar wird. Das monadologische Denken zeigt sich im Kunstwerk und weist im Kubismus den Weg zu einem neuen Tun, welches mimetische und naturalistische Darstellungsweisen hinter sich lässt und den Zuschauer auffordert, eine individuelle Bildrezeption zu entwickeln. Obschon die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, nehmen wir beispielsweise den Impulsgeber Cézanne, für das monadische Denken im Zusammenhang mit Kunst relevant ist, erweist sich für Adorno das Kunstwerk eingedenk dessen gleichzeitig als „Moment eines übergreifenden Zusammenhangs“ (Adorno 1973: 268). Dieser Zusammenhang wird durch das Zusammenspiel von Vergangenem, Zukünftigem, Gegenwart und dem alles verbindenden Fortschritt hergestellt und mit Hilfe des ‚Chocks‘ zur gedanklichen Stillstellung gezwungen. Futurismus I Folgen wir einem solchen Verständnis von Fortschritt, drängt sich im Anschluss an die Kubisten eine Fokussierung auf die Futuristen auf, welche mit den Kubisten „um die Priorität der neuen Techniken“ (Bürger 1974: 478) fochten. Wir können aufs Erste demnach eine Übereinkunft von Kubismus und Futurismus16 feststellen. Nach dieser, so formuliert es Umberto Boccioni 1912 in seinem Manifest über Die futuristische Bildhauerkunst, führt die Ablehnung einer „ausschließliche[n] Verwendung eines einzigen Materials“ zu einer Aufhebung des „traditionell erhabene[n] […] Sujets“ (Boccioni 1995: 23). Die Berücksichtigung einer sich durch Technik und Maschine verändernden Welt, die gleichsam einen Wandel der Kommunikations-, Produktions- und somit auch individuellen Wahrnehmungsbedingungen zur Folge hatte, ist im Kubismus und gerade im Futurismus erkennbar. Der Futurismus konzentriert sich dabei insbesondere auf den Aspekt der Industrialisierung. Es ist das moderne Großstadtleben, welches die Futuristen begeistert bejahen und deren Attribute sie künstlerisch aufzugreifen versuchen: Dynamik, Geschwindigkeit, zeitliche Beschleunigung sowie radikaler, insbesondere technischer Umbruch. 16 Vgl. für eine europäische Ausdifferenzierung des Futurismus: von Beyme 2005: 407-409; 455-456; 501-503; 574; 584-590; 683-690. Neben dem italienischen Futurismus bildet hier gerade der russische Futurismus eine wichtige Bewegung, die in dieser Arbeit außen vor bleiben muss.
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Hierfür, so markiert Bowness, lieferte besonders der Kubismus mit seiner Vielfalt an Darstellungsoptionen die Inspiration. Fernand Léger und Robert Delauney fanden unter den Futuristen besonders großen Anklang, denn gerade Delauney arbeitete mit Stadtmotiven, die er qua „spezifische[r] Linienführung der durchgreifenden Fragmentierung bewegt und dynamisch“ (Damus 2000: 89) vermittelte. Durch diese Arbeiten lernten die Futuristen, „wie die Oberfläche der Gegenstände durchbrochen und ihre Bewegung im Raum gezeigt werden“ (Bowness 1998: 116) konnte (vgl. Bowness 1998: 116 f./Damus 2000: 89 ff.).17 Der Beginn des Futurismus wird nun vornehmlich mit der Veröffentlichung des Manifest des Futurismus von Filippo Tommaso Marinetti in Verbindung gebracht, welches am 20. Februar 1909 als Titel auf der französischen Zeitung Le Figaro erschien. 18 Unter elf Punkte fasst Marinetti seinen propagandistisch anmutenden Glauben an Fortschritt. Hierbei stellt er vor allem die Industrialisierung und Technisierung als gewinnbringend heraus. Er votiert für die „Geschwindigkeit“ und „Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; […] die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge“. Damit einher geht die klare Bejahung von Militarismus, Gewalt, Krieg und Zerstörung. Diese Themenbereiche entfaltet er in seinen Manifest-Unterpunkten und ergänzt sie um den Aufruf zum Kampf gegen den durch das Bürgertum forcierten Feminismus und die Schließung von „Museen, Bibliotheken und […] Akademien jeder Art“. Nur so, im Zuge des Kampfes, könne Kunst wirksam werden: „Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.“ Der Motor für die ästhetische Herangehensweise der Futuristen war dadurch klar formuliert, multiplen oder andersartigen Ansätzen gewährte die Reduktion auf die genannten Topoi keinen Platz mehr. Die Schönheit sollte mit Gewalt, Dynamismus und Aggressivität einhergehen und der Mann „das Steuer“ halten, „dessen Idealachse die Erde durchquert“ (Marinetti 1995a): 5). Nur der Mann besaß das Recht, sich solcherart von der Schönheit einnehmen zu lassen, um revolutionierend wirken zu können. Für Marinetti implizierte das zugleich die Entledigung jedweder Individualität und Vergangenheit. Kein Blick sollte mehr zurückgehen, vielmehr sollte das zeit- und raumlose Absolu17 Als Beispiel für die Darstellung von Bewegung im Bild vgl. das Werk Hundeleine in Bewegung (1912) von Giacomo Balla in: Rubin 1978: 33 f. 18 Bei Damus findet sich jedoch der Hinweis, dass das Manifest im Nachhinein auf den 11.10.1908 zurückdatiert wurde. Asholt und Fähnders verweisen ebenfalls darauf, dass Marinetti selbst dieses Datum im Oktober als „Geburtstag des Futurismus“ deklarierte und den „Begriff offensichtlich aus der Schrift ‚El futurismo‘ des katalanischen Schriftstellers Gabriel Alomar aus dem Jahre 1903“ (Asholt/Fähnders 1995: 1) übernahm (vgl. Asholt; Fähnders 1995: 1/Damus 2000: 95).
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te, die dauerhafte Geschwindigkeit erkannt und dabei der Anthropozentrismus negiert werden. Das Fortschreiten zeigt sich hier in einer erstmaligen Reduktion der Stellung des Menschlichen zu Gunsten technischer Errungenschaften. Marinettis Vorstellung von Kunstwerk unter diesen Vorzeichen praktizierte er zuvorderst in der Dichtung, aber auch in der Konzeption von Theatertexten. 19 Sein Stück The Electric Puppets, das 1909 in Turin Premiere feierte, führte laut Günter Berghaus zu einem seiner ersten Theaterskandale. Marinetti stellte sich auf die Bühne, verlas sein Manifest und suchte die offene Diskussion mit den Zuschauern, die eine humorvolle Komödie erwartet hatten. Stattdessen wurde jedwede fiktionale Handlung ersetzt durch agitierende und provokative Aussagen, die zum Aufschrei und wütenden Protesten unter der Zuschauern führten. Neben Theaterkritikern schlossen sich im Folgenden Maler und bildende Künstler, wie Umberto Boccioni, Luigi Russolo oder Giacomo Balla Marinetti an, um die Frage nach der künstlerischen Umsetzung futuristischer Ideen öffentlich aufzuwerfen. Zwei Jahre und sieben Manifeste später folgte von Marinetti und einer Gruppe futuristischer Dichter und Maler um Enrico Cavacchioli, Libero Altomare, G.P. Lucini, Boccioni, Russolo und Balla das Manifest der futuristischen Bühnendichter. Darin forderten die Unterzeichner „von den Autoren vor allem die VERACHTUNG DES PUBLIKUMS und besonders die Verachtung des Premierenpublikums“, zudem „den ABSCHEU VOR DEM UNMITTELBAREN ERFOLG, der die mediokren und banalen Werke krönt“. In Folge dessen seien „[a]lle dramatischen Arbeiten, die sich an Gemeinplätzen orientieren oder ihre Konzeption aus anderen Kunstwerken beziehen, sei es Handlung oder Teil ihres Ablaufes, […] absolut zu verachten.“ Auch die Abkehr von „SÄMTLICHE[n] ARTEN HISTORISCHE[r] REKONSTRUKTIONEN“ wurde explizit verlangt (Marinetti/Die futuristischen Dichter/Die futuristischen Maler/Die futuristischen Musiker 1995: 19). Für die praktische Umsetzung der eigenen Thesen riet man den Autoren zur Verwendung des „FREIEN VERS: eine[r] mobile[n] Orchestrierung von Bildern und Klängen“. Die Schauspieler wiederum, denen die Futuristen ob des unreflektierten Publikums allzu „leichten Erfolg“ unterstellten, hätten sich diesem Verständnis nach „absolut der Autorität der Schriftsteller 19 Marinetti besuchte in jungen Jahren regelmäßig das Theater. In seinen hernach publizierten Rezensionen forderte er schon früh eine Novellierung der konservativen Theaterstrukturen ein. Der Theatralität sprach er später die Fähigkeit zu, die Zuschauer aus ihrem Alltag herauszureißen und sie für eine Veränderung der Gesellschaft zu gewinnen (vgl. Berghaus 2005: 99). Exzerpte zum futuristischen Theater finden sich in Es gibt keinen Hund. Das futuristische Theater. 61 theatralische Synthesen von F.T. Marinetti und Aschieri, Balla, Boccioni, Buzzi, Calderone, Cangiullo, Carli, Chiti, Corra, Depero, Dessy, Fillia, Folgore, Ginna, Govoni, Janelli, Nanetti, Pratella, Rognoni, Settimelli, Soggetti und Vasari und 4 Manifeste (Drews/Geerken/Ramm 1989).
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[zu] unterwerfen.“ (Marinetti/Die futuristischen Dichter/Die futuristischen Maler/ Die futuristischen Musiker 1995: 20) Die Realität, die im Zuge der Industrialisierung nunmehr von Geschwindigkeit, Fragmentarismus und Labilität geprägt wurde, führte die Futuristen zunehmend dazu, einer dynamischen Vision der Erfahrung von Wirklichkeit im Rahmen der Kunst eine Plattform zu geben. So hieß es im Technische[n] Manifest der futuristischen Literatur (1912): „Hütet euch aber, der Materie menschliche Gefühle zu unterschieben, erratet lieber ihre verschiedenen Verhaltensimpulse, ihre Fähigkeiten der Kompression und der Ausdehnung, der Kohäsion und der Auflösung, ihre massenhaften Schwärem von Molekülen und ihre Elektronenwirbel.“ (Marinetti 1995b): 26) Diese Überlegung führt einmal mehr zu besagtem Gedanken der Stillstellung, in dessen Rahmen die Momente des Dynamischen trotz der Stillstellung virulent und notwendig bleiben. Die Dynamik spiegelte sich im Futurismus in den Bildern, der Literatur, der Musik oder den Theaterabenden wieder, in denen der Zuschauer seines passiven Charakters beraubt und sich seiner eigenen Handlungsvollzüge bewusst werden sollte. Insbesondere die Destruktion von Syntax und die Forderung nach „BEFREITEN WORTEN“ (Marinetti 1995b): 27) führte zu einem veränderten Modus Operandi in den Künsten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt erhielt das Performative Einzug in die avantgardistische Kunst (vgl. Asholt; Fähnders 1995: XXI/Berghaus 2005: 99 f./Damus 2000: 95/Marinetti 1995a): 5 ff./ Marinetti; Die futuristischen Dichter; Die futuristischen Maler; Die futuristischen Musiker 1995: 19/von Beyme 2005: 496). Exkurs: Das Manifest(e) Für die Futuristen erwies sich das Manifest als erste Gruppierung der historischen Avantgarde als probates Mittel, um die Mitmenschen zu genau diesem Handeln aufzufordern und Aufmerksamkeit zu erregen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Manifeste zumeist für politische Programmatiken genutzt worden, die öffentlich unter das Volk gebracht werden sollten. Mit den Manifesten erhielt die Idee der Überführung von Kunst in die Gesellschaft eine wirksame Plattform. Der „Sprung aus der Kunst“ (Asholt/Fähnders 1997: 5) wurde nicht mehr nur gedacht, sondern ausprobiert und realisiert. Die Tatsache, sich jene Form der politischen Präsentation als künstlerische Darstellungsweise zu eigen zu machen, untermauert die politisch fundierte Ausrichtung der Futuristen, die innerhalb ihrer Kunst beides, Kunst und Politik, einer Symbiose unterziehen wollten. Mit dem der Politik entliehenen Künstlermanifest sollte „die Kluft zwischen Kunst und Leben, zwischen Kunst und Politik“ (von Beyme 2005: 240) überwunden werden. Aus dem Manifest entwickelte sich „eine literarische Gattung sui generis“. Das Kunstwerk entstand in Form einer „Col-
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lage mit raffinierten Reihen von Zeichen und Satzfragmenten“ 20 , welche durch Simplifizierung dem politischen Manifest ähnelte und die Gruppe, derer es entsprang, nach innen und außen konsolidieren sollte. Gerade die futuristischen Manifeste kamen dem eigens veranschlagten „Geschwindigkeitskult“ (von Beyme 2005: 241) jedoch keineswegs nach. Ihre Anzahl blieb überschaubar (vgl. von Beyme 2005: 240 ff.). In Abgrenzung zu diesen Überlegungen trennen die Autoren Asholt und Fähnders klar zwischen politischer und literarisch-künstlerischer Avantgarde. 21 Ihr Hauptargument liefert die fehlende und fragmentierte Kanonisierung. Andererseits verband sich in den Manifesten, wie Asholt und Fähnders diese deklinieren, ein künstlerischer Anspruch mit politischen Überlegungen. Allgemeine Kooperationen von künstlerischer und politischer Avantgarde hatten allerdings zumeist zur Folge, dass sich die Künstler dabei „auf Kompromisse [einließen], die aus heutiger Perspektive ‚kompromittierend‘ scheinen.“ (Asholt/Fähnders 1997: 9) Ganz grundsätzlich führten die Manifeste zu einer zentralen Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Gesellschaft und einer möglichen, „nicht länger vom Leben getrennte[n] Kunst“ (Asholt/Fähnders 1997: 10). Wie bereits im Avantgarde-Kapitel erläutert, wurde die Inklusion des Zukünftigen in den Manifesten explizit und bildete die Grundlage, die Leser zum aktionistischen Tun anzuleiten. Gerade weil die Manifeste „sich ausdrücklich als performativ [verstehen], [ergibt sich] der Schritt zu Inszenierung, Happening und Performance […] zwangsläufig.“ (Asholt/Fähnders 1997: 11) Die Ambivalenz innerhalb der Manifeste löste sich dadurch aber nicht. Manifestation und Vollendung wurden gleichermaßen angestrebt, dem Fortschritt jedoch dauerhaft der Vorrang überlassen, um die Latenz zum Movens zu machen. Es war ein „doppelter Weg“, den „das Projekt der Avantgarde im Medium des Manifestes“ einschlug, um die Kunst in das Leben zu überführen: „Einerseits entwirft es (nicht selten) Zukunftspläne und fordert auf, diese zukünftigen Projekte in die Tat umzusetzen, deshalb der nicht unangemessene Vergleich mit Utopien. Anderer20 Für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Fragment-Theorie und ihrer Wirkung auf den Manifestantismus vgl. Fähnders 2000: 70 ff. 21 Eine dezidierte Ausarbeitung zu diesem Thema findet sich in Hubert van den Bergs Aufsatz Zwischen Totalitarismus und Subversion. Anmerkungen zur politischen Dimension des avantgardistischen Manifests. Van den Berg kommt darin zu der Erkenntnis, dass „das Verhältnis der ästhetischen Avantgarde zur politischen weitaus komplizierter ist, als die oft lapidare Gleichstellung der beiden im gegenwärtigen Totalitarismusverdikt über die ästhetische Avantgarde suggeriert.“ (van den Berg 1997: 76) Vgl. zudem Johanna Klatt und Robert Lorenz mit ihrem Text (2011) Politische Manifeste. Randnotizen der Geschichte oder Wegbereiter sozialen Wandels?
114 | RE -W RITING A VANTGARDE seits aber holt es in einer bestimmten Auffassung von Manifest und Manifestieren das Zukünftige des Projekts in die Gegenwart. Indem es seine zukünftige Realisierung gar nicht (mehr) anstrebt, sondern zugunsten von Gegenwärtigkeit aufgibt, antizipiert es eine Realisierung des Projektes schon hic et nunc.“ (Asholt/Fähnders 1997: 11)
Die einzige Möglichkeit, so verdeutlichen Asholt und Fähnders, sich von dem Verdacht zu befreien, nur auf die vollendete Form eines modernen Kunstwerks abzuzielen und somit der Autonomie Tür und Tor zu öffnen, lag deshalb im „performativen Appell[...]“. Durch den vollzogenen „Rezeptionsbruch“ wurde der Rezipient als derjenige fokussiert, der „die avantgardistische Welt […] zuallererst zu erschaffen hätte“ (Asholt/Fähnders 1997: 12). Die gemeinschaftliche Produktion künstlerischer Ereignisse geriet somit verstärkt in den Blick der avantgardistischen Künstler (vgl. Asholt; Fähnders 1997: 5 ff./Backes-Haase 1992: 116).22 Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff des Manifests, wenn Walter Fähnders sogar davon spricht, dass es das Manifest gewesen sei, „mit dem die Avantgarde ihre Ismen begründet, definiert[,] [und; PG] strukturiert“ (Fähnders 1997: 18) habe? Schließlich war bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine künstlerische Anwendung des Manifests völlig abwegig gewesen, der Begriff zudem weitestgehend unbekannt. Ursprünglich fand der Terminus hauptsächlich im „Seerecht“ (Fähnders 1997: 19) Gebrauch, wo er für eine „‚Staatserklärung‘“ stand, die sich insbesondere „auf die Typen des ‚Kriegs- oder Wahlmanifestes‘“ oder die „öffentliche[...] Stellungnahme eines Fürsten oder einer Staatsregierung zu einer wichtigen Angelegenheit“ (Fähnders 2000: 74) bezog. Das Kommunistische Manifest von 1848 stellte dann eine erste Ausnahme dar, indem es sich dem Kontext der Staatserklärung entledigte. Mit dem Kommunistischen Manifest etablierte sich jene avantgardistische Grundhaltung, die als Aufruf zur Umwälzung daherkam, den Umsturz einläutete und für einen Neuanfang plädierte. Entgegen der sozialistischen Bewegungen in Europa konnte sich dieser im Sinne der Kommunisten nicht an und im Bestehenden vollziehen, vielmehr bedurfte es eines „gewaltsamen Umsturz[es] aller bisherigen Gesellschaftsordnung“ (Marx/Engels 1998: 50). Um sich als europaweite Gegenkraft der herrschenden Bourgeoisie entgegenzustellen, wurde die Mitwirkung aller Bürger an der Proletarier-Bewegung als ‚Speerspitze‘ unbedingt notwendig.23 Mit dem Kommunistischen Manifest verband sich seitdem ein gesellschaftlicher Aufruf zur Revolution, in der sich den gesetzgebenden oder staatlich verankerten Einheiten widersetzt werden sollte, um als parteipolitische Minderheit Einfluss nehmen zu können. Mit Hilfe des Manifests versuchten sich Karl Marx und Friedrich Engels mit der Arbeiterbewegung zu verbünden. Auch wenn das Manifest politischer Natur 22 Vgl. dazu auch: Fähnders 2000: 84 ff., sowie Fähnders 1997: 31 ff. 23 Vgl. dazu ausführlich das Manifest der Kommunistischen Partei: Marx/Engels 1998.
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war und keinen künstlerischen Impetus in sich trug, wird es gemeinhin als Manifest bezeichnet, das basisbildend für spätere avantgardistische Manifeste wurde.24 Gerade der „appellative Versuch jener umfassenden Um- und Neuorganisation des Lebens“ (Fähnders 2000: 73) fand sich in zahlreichen avantgardistischen Manifesten wieder und wurde in diesem um den künstlerischen Bezugsrahmen ergänzt. Festzuhalten bleibt, dass zwischen 1700 und 1910, laut Fähnders, weder im Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums, noch in den einschlägigen Lexika ein Hinweis auf Manifeste im künstlerischen oder literarischen Kontext zu finden gewesen sei. Die Selbstbezeichnung ‚Manifest‘ hat Seltenheitswert und „bezeugt die lange Zeit nur zögerlich verwendete[n; sic!] Selbstaufzeichnung proklamatorischer künstlerischer Texte als Manifest.“ (Fähnders 1997: 20) Anders verhält sich der Begriff als Fremdbezeichnung. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde er für „programmatische[...] Erklärungen“ (Fähnders 2000: 21) durchaus geläufiger. Erst Marinettis Manifest stellte 1909 eine neue Variante des Begriffs im Sinne einer Selbstbezeichnung dar. Als Grundfundamente des Manifests stellt Fähnders „Programmatik, Eindeutigkeit, Öffentlichkeit und Gruppencharakter“ (Fähnders 1997: 21) heraus. Seien Manifeste, die sich als solche bezeichneten, am einfachsten zu erkennen, gestalte sich dies für jene mit anderen „Gattungsbezeichnungen wie Proklamation und Deklaration, Aufruf und Appell, Erklärung, Pamphlet, Offener Brief, Vorwort u.a.m.“ (Fähnders 1997: 21) als schwieriger. Hier müsse der Text einer Prüfung unterzogen werden, um „spezifische Gründe für einzelne Gattungsbezeichnungen“ (Fähnders 1997: 22) herausfiltern zu können. Die Veröffentlichung des futuristischen Manifests 1909 wurde von Marinetti ursprünglich als Test veranschlagt, um herauszufinden, inwiefern es innerhalb der künstlerisch-literarischen Szene Wirkung erzielen könne.25 Und obschon der vormals politische Anspruch nun auf Kunst und Literatur ausgeweitet wurde, so kam die Übernahme der politischen Fundierung „nicht von ungefähr.“ (Fähnders 2000: 75) Die prägendsten avantgardistischen Manifestautoren, Marinetti und André Breton, entwickelten die Form des Manifests gleichwohl weiter und unterzogen diese 24 Mitunter auch in karikierender Hinsicht. So schrieb Richard Huelsenbeck in seiner Erklärung aus dem Jahr 1916 von der „Vereinigung der ‚Ziellose(n) aller Länder‘“ (Ehrlicher 2001: 195). 25 Walter Fähnders weist darauf hin, dass für die Manifest-Rezeption insbesondere die expressionistische Zeitschrift Der Sturm von Herwarth Walden eine große Rolle spielte. Nicht nur, dass die Zeitschrift acht futuristische Manifeste veröffentlichte, vielmehr hielt Walden es „offenbar für angebracht, sprich: für öffentlichkeits- und werbewirksam, zwei Texte mit dem Siegel ‚Manifest‘ zu versehen, die dieses im Original gar nicht trugen.“ (Fähnders 1997: 27)
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mit „narrative[n], eklatant manifestfremde[n], Partien und Strukturen“ (Fähnders 2000: 78). Sie setzten sich damit über bestehende Gattungseigenschaften hinweg und rieten ihren jeweiligen Mitstreitern, ihre Texte auf die von Breton und Marinetti begründete Weise umzuformulieren. Fähnders schreibt beispielhaft von der Belehrung Marinettis gegenüber Henry Maassens: „‚Was bei einem Manifest wesentlich ist, ist die präzise Anklage, die genau dosierte Beschimpfung‘“ (zit. nach Fähnders 2000: 25) Innerhalb des Manifests sollte für Marinetti eine dramaturgische und gleichwohl poetische Herangehensweise mit soziopolitischen Forderungen verknüpft werden. Als Beispiel ließe sich das Manifest Tod dem Mondschein! (1909) heranziehen. Darin heißt es direkt zu Beginn: „Futuristen! – Hört, große flammenschleudernde Dichter, Brüder! Hört! PAOLO BUZZI, FEDERICO DE MARIA, ENRICO CAVACCHIOLI; CORRADO GOVONI; LIBERO ALTOMARE! Verlassen wir Paralysia, zerstören wir Podagra! Wir wollen den großen futuristischen Schienenweg auf den Gaurisankar, den Gipfel der Welt, legen!“
Oder: „Wirbel feindlichen Staubes; blindmachende Verschmelzung von Schwefel, Kali und Salzen für die Kirchenfenster des Idealen! … Guß eines neuen Sonnenglobus! …Bald werden wir ihn sehen! – Feiglinge! Feiglinge… rief ich aus und wandte mich an die Bewohner von Paralysia, die sich unten in Massen stauten, eine Masse von irisierenden Kugeln für unsere Zukunftskanonen…“ (Marinetti 1995c): 7)
Marinettis zeitweilige Geliebte Mina Loy und eine der wenigen weiblichen Futuristinnen lässt sich mit ihren Futuristische[n] Aphorismen (1914) hinsichtlich der Verknüpfung von Proklamation und Prosa hervorheben: „STIRB in der Vergangenheit Leb in der Zukunft. DIE Geschwindigkeit der Geschwindigkeiten beginnt beim Start. ABER die Zukunft ist nur von außen dunkel. Spring in sie – und sie wird vor Licht EXPLODIEREN.“ (Loy 1995: 83)
Jene Textformen, in denen ein thesenhafter Forderungskatalog vielfach durchnummeriert wurde, bilden dennoch die Überzahl der futuristischen Manifeste (vgl. Asholt/Fähnders 1997: 5/Fähnders 1997: 18 ff./Fähnders 2000: 73 ff./Marx; Engels 1998: 50).
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Die Manifeste differierten unter den Ismen erheblich. Folgten die Futuristen zumeist dieser klareren programmatischen und formalen Vorgabe, stellten die Dadaisten kaum zusammenhängende Texte her, sondern bauten auf Fragmente. So formulierte beispielsweise Tristan Tzara in seinem Manifest Dada 1918 über das Manifest: „Um ein Manifest zu lanzieren, muß man das ABC wollen, gegen das 1,2,3 wettern. Sich abmühn und die Flügel spitzen, um kleine und große ABCs zu erobern und zu verbreiten. […] Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotzdem sage ich gewisse Dinge und bin aus Prinzip gegen Manifeste wie ich auch gegen Prinzipien bin. […] Dada bedeutet nichts“ (Tzara 1995: 149 f.)
Wies Tzara hier auf die Ambivalenz des Manifestcharakters hin, um damit zu jonglieren, blieb bei Raoul Hausmanns Manifest von der Gesetzmäßigkeit des Lautes (1918) lediglich eine Aneinanderreihung von Buchstaben in graphischer Anordnung, im Sinne der Konkreten Poesie übrig: „t‘ neksout coun‘tsoumt sonou correyiosou out kolou Y‘ IIITTTITTTTIYYYH Kirriou korrothumn“ (Hausmann 1995a): 149)
Die Deformierung des Manifests, das karikierende Spiel gehörten für die Dadaisten unbedingt zur Verwendung dieser Gattung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfältige mediale Wege der Veröffentlichung und Verbreitung suchte: „Sie reichen vom Plakat an der Litfaßsäule bis zum Sandwich-Mann auf der Straße, vom Flugblatt, Handzettel und Aufkleber bis zum Reklametext und Zeitungsinserat und lassen nicht nur neue Formen der Öffentlichkeit entstehen, sondern bedingen auch neue Gestaltungsprinzipien.“ (Fähnders 1997: 26)
Für Fähnders lässt sich daran eine Novellierung dieser ‚Gestaltungsprinzipien‘ erkennen, die durch die Manifeste allererst hervorgerufen wurde. Gerade die Dadaisten veränderten immer wieder Satztypologien und -strukturen. Während die Futuristen sich wie gesagt sehr stark an Fließtextformen orientierten, die zumeist in eine Einführung unterteilt wurde, welcher eine Auflistung von Unterpunkten folgte, die wiederum bilanzierenden und auffordernden Charakter hatte, gingen die Dadaisten wenig einheitlich vor. So finden sich einerseits Manifeste, die den futuristischen stark ähneln – zum Beispiel das Manifest Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland? (1919) von Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck und Jefim Golyscheff oder das Dadaistische Manifest (1918) von Tristan Tzara. Andererseits de-
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struieren die Dadaisten ihr Sprachmaterial, um es asynchron wieder zusammenzuführen. Hierfür können das Manifest DADA hebt alles auf (1921) von einem Künstlerkollektiv um Tristan Tzara, Max Ernst, André Breton, Man Ray, Richard Hülsenbeck und Luis Aragon oder das Manifest des Herrn Aa des Antiphilosophen (1920) von Tristan Tzara genannt werden. In letzterem heißt es: „ohne die suche nach ich bete dich an der ein ein französischer boxer ist unregelmäßige maritime werte wie Dadas absinken im blut des zweiköpfigen ich gleite zwischen dem tod und den unentschiedenen phosphaten die das gemeinsame gehirn der dadaistischen poeten ein wenig ankratzen glücklicherweise denn nun bergwerk“ (Tzara 1995: 190)
Da der Übergang des Dadaismus zum Surrealismus26 fließend war, zudem Surrealisten wie Breton oder Aragon dem Dadaismus zuvor nahestanden, ähneln auch die surrealistischen den dadaistischen27 Manifesten hinsichtlich dieser Ambiguität (vgl. Fähnders 1997: 26 ff./Tzara 1995: 149 f.).28 Exemplarisch soll an dieser Stelle das Gruppen-Manifest Frage-Antwort [Telegramm nach Moskau] (1930) von der surrealistischen Gruppe angeführt werden: „Frage INTERNATIONALES BÜRO REVOLUTIONÄRER LITERATUR ERBITTET FOLGENDE FRAGE ZU BEANTWORTEN WAS WIRD IHRE STELLUNGNAHME SEIN WENN IMPERIALISMUS SOWJETS KRIEG ERKLÄRT STOP ADRESSE POSTFACH 650 MOSKAU
26 Vgl. hierzu meine Ausführungen in dem Kapitel Surrealismus und Utopie, in dem auch näher auf Bretons Manifeste eingegangen wird. 27 Den Dadaisten spricht Fähnders jedoch eine besonders kunstbezogene Veröffentlichung der Manifeste zu, so zum Beispiel im Rahmen von Lesungen, öffentlichen Präsentationen oder Aktionen (vgl. Fähnders 2000: 85). 28 Einen Überblick über die zwischen 1909 und 1938 erschienenen Manifeste verschafft der Band Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938) aus dem Jahr 1995 von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders.
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Antwort GENOSSEN WENN IMPERIALISMUS SOWJETS KRIEG ERKLÄRT WIRD UNSER VERHALTEN DEN DIREKTIVEN DER DRITTEN INTERNATIONALE ENTSPRECHEN POSITION DER MITGLIEDER DER KOMMUNISTISCCHEN PARTEI FRANKREICHS WENN IHR IN DIESEM FALL UNSERE FÄHIGKEITEN BESSER VERWENDET SEHEN WOLLT STEHEN WIR FÜR PRÄZISE AUFGABE JEDER ANDEREN ART ALS INTELLEKTUELLE ZUR VERFÜGUNG STOP EUCH VORSCHLÄGE MACHEN HIESSE UNSERE ROLLE UND DIE GEGEBENHEITEN ÜBERSCHÄTZEN IN AKTUELLER NICHT BEWAFFNETER KONFLIKTSITUATION HALTEN WIR WARTEN FÜR ÜBERFLÜSSIG UM DIE MITTEL, DIE UNS IN BESONDERER WEISE ZUR VERFÜGUNG STEHEN IN DEN DIENST DER REVOLUTION ZU STELLEN [Die surrealistische Gruppe, Paris]“ (Die surrealistische Gruppe 1995: 397)
Vítezlav Nezval schreibt in Warum ich Surrealist bin. Irrationale Definition (1935) auf noch assoziativere Weise unter anderem: „Ich bin Surrealist Wegen des Schreis aus dem Traum Wegen des Schreis aus dem Traum damit die Folterkammer des Menschengeheimnisses aufgeht Wegen des Schreis aus dem Traum wegen des Schlüssels zur Kindheit Wegen des Schlüsselloches zur Nacht Wegen des Hasses auf den Spiegel Wegen des am Bettrand zerschlagenen Kopfes“ (Nezval 1995: 417)
Bei all diesen Beispielen zeigt sich nun, dass die Aktion in das Manifest selbst verlagert und „das Manifest als Werk, als Aktion, als ästhetische und soziale Praxis […] [inszeniert]“ (Fähnders 1997: 30) wird. Somit erweist sich das Manifest einerseits als Möglichkeit, die eigenen Forderungen an die Öffentlichkeit zu bringen, andererseits bietet das Spiel mit dem ursprünglichen Manifestcharakter die Option für die Künstler, sich mit Zeitgeschichte und avantgardistischer Zielsetzung künstlerisch auseinanderzusetzen, ohne dabei nur die „gattungstypische[...] Forderung nach dem Neuen und dem Anderen“ im Blick zu haben. Dies geht so weit, das Manifest notwendigerweise zu hinterfragen. Die Dadaisten versuchten über ironische Formulierungen den Vollzug einer Manifestation, dem man eigentlich aus dem Weg gehen wollte, zu unterlaufen, indem man beispielsweise davon sprach, dass Dada nichts und gleichwohl alles sei. Fähnders dazu: „Dies Unbehagen am Manifest führt zu aktivistischer Praxis einerseits, andererseits zur manifestkritischen Unterminierung bis zur Selbstaufhebung des Manifests.“ Dies nun geschah inhaltlich oder auf der Ebene der Titelgebung. Manifeste eint zudem eine Struktur „des diskursiv ausgeführten Forderns, Wollens und gegebenenfalls des Niederschmetterns gegnerischer
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Positionen als mainstream.“ (Fähnders 1997: 29) Dabei geht es um das eindeutige Forcieren der eigenen Thesen und die Aufrechnung des „Neue[n] gegen das Alte.“ Im Gegensatz zu den pre-avantgardistischen Manifesten stellt Fähnders die „Intensität, Aggressivität und Konsequenz“ heraus, die das Manifest zum aktionistischen Appell werden ließ. Der Appell gewann seine Eindringlichkeit über den Charakter der Unmittelbarkeit, des, wie Raoul Hausmann es fasst „‚PRÉsentismus‘“ (Hausmann 1995b): 231). Dadurch wurden „Postulat und Tat, Forderung und Gefordertes […] eins, in einem ‚Projekt‘ des Jetzt als Selbstzweck.“ (Fähnders 2000: 88) Das Manifest war demnach durchdrungen von einer performativen Konsequenz, die in sich widerständig geriet. Birgit Wagner verweist darauf, dass der Widerstreit „zwischen der Präsenz des gelebten Augenblicks und dem Projekt der Schaffung des Neuen, das über den gelebten Augenblick hinaus Dauer haben soll, wenn auch nicht für die Ewigkeit“ zu einem notwendigen Gegensatz wurde. Gerade weil die Avantgardisten eine neue Kunstpraxis im Leben verankern wollten, dies aber mit dem Mittel des „Ephemere[n]“ (Wagner 1997: 39) versuchten, seien sie angewiesen gewesen auf etwas Bewahrendes wie die Schrift. Die Unwiederholbarkeit der „avantgardistische[n] Aktion“ wurde im Zuge der Manifeste vom Bereich der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit und dabei „in die Welt […] der aufgeschobenen und wiederholbaren Sinnbildung, […] des kulturellen Gedächtnisses unserer Schriftkultur“ verlagert. Manifeste seien ob ihres aktionistischen Vorhabens „Zwitter“. Somit erhalten die Sätze als Gesprochene „den Status von performativen Äußerungen im Sinne von Austin und Searle: oder versuchen zumindest, diesen Status zu usurpieren.“ (Wagner 1997: 39) Innerhalb der schriftlichen Veröffentlichung wurde eine Funktionsänderung in der Folge spürbar. Dies lag beispielsweise am Adressaten und dem historischen Kontext. Wagner postuliert, dass der performative Aufruf im Jahr 1909 in der Ausgabe des Figaro eine andere Wirkung gehabt habe, als dies heute der Fall sei. Damit geht sie von einem Begriff des Performativen aus, der über den Inhalt generiert wird. Die künstlerische Äußerung wird dabei nicht per se als performativ verstanden, sondern erlangt nur im Moment der Veröffentlichung, im Jetzt-Vollzug, Performativität. Wagner arbeitet sich dabei an Austins Thesen ab. So hebt sie beispielsweise Austins Überlegung hervor, dass Fiktion oder spielerische Situationen keine performativen Äußerungen hervorbringen können. Was Wagner zu klären versucht, ist die schriftliche und mündliche Aussagekraft der Manifeste. Anhand der „Vielfalt an Apostrophen, rhetorischen Fragen und sonstigen Verfahren, die Zuhörer einzubinden: ‚Sieh mich an, netter Bourgeois‘ […] ‚Pfeift, schreit, zerschlagt mir die Fresse!‘“ (Wagner 1997: 48) stellt sie heraus, dass die avantgardistischen Manifeste gewissermaßen als Aktionspläne verstanden werden können. Als weiteres Beispiel kann Francis Picabias Manifest Cannibale Dada (1920) angeführt werden, in dem es heißt:
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„Ihr seid alle in Anklagezustand versetzt: erhebt Euch! Man kann nur mit Euch reden, wenn ihr steht. Steht, als hörtet Ihr die Marsellaise, die russische Nationalhymne oder das God save the King. Steht, als hättet Ihr die Fahne vor Euch. Oder als wäret Ihr vor Dada, welches Leben bedeutet und Euch anklagt, alles aus Snobismus zu lieben, wenn es nur sehr teuer ist.“ (Picabia 1995: 192)
Wagner stellt in ihrer Analyse jedoch fest, dass die „mündlichen Indikatoren“ (Wagner 1997: 49) im Zuge ihrer reinen Verschriftlichung als Text „aus ihrer ursprünglichen auf Einmaligkeit angelegten Sprechsituation herausgelöst“ werden und damit ihre „performative[...] Rolle“ verlieren, vielmehr zur „Gedächtnisspur einer performativen Äußerung“ werden.29 Die Autorin bilanziert, dass „die Verbindung von Aktionismus und Manifest, die das Herzstück des Projekts Avantgarde ausmacht, […] nicht länger zur Verfügung [steht].“ (Wagner 1997: 55) Der einzige Aktionismus, der heute existent sei, sei der „Aktionismus als Performance-Kunst“, in dem das Manifestierte aber keine Rolle spiele. Das Manifest sei heute tot (vgl. Fähnders 1997: 29 ff./Fähnders 2000: 88 ff./Wagner 1997: 39 ff.). Aber ist dem wirklich so? Es lässt sich feststellen, dass sich die Form des Manifests nach der historischen Avantgarde nicht mehr in selbiger Vielfalt präsentiert hat, zumal ihr durch dekonstruktivistische Ansätze auch der „universalistische Gattungsanspruch“ (Fähnders 2000: 89) abhandengekommen ist. Gleichwohl ist das Manifest nicht untergegangen. Im Gegenteil. Fähnders verweist in seinem Text von 2000 auf „[e]ine gänzlich neue, bislang noch gar nicht erforschte Weise des Manifestantismus […] im Internet, das Tausende von Manifesten von nicht-professionellen Usern verbreitet.“ Obschon die „unmittelbare körperliche Kommunikation der Plötzlichkeit“ fehle, sei eine „sofortige[...] Kommunikation“ (Fähnders 2000: 90) möglich. Bekannte Blogger und Internetakteure wie Sascha Lobo, Stefan Niggemeier oder Mercedes Bunz formulierten beispielsweise am 07. September 2009 das Internet-Manifest. Wie Journalismus heute funktioniert. 17 Behauptungen und veröffentlichten es auf der dafür eingerichteten Homepage internet-manifest.de.30 In dem Manifest versuchen die Online-Experten den Journalismus im digitalen Zeitalter zu erklären. Am 2. Januar 2010 folgte Sabria David mit ihrem Slow Media Manifest, in dem sie ihre wissenschaftlichen Thesen zu nachhaltigem Internetkonsum darlegte. Einschneidende und negative Reaktionen erwirkte das Manifest des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik, der am 22. Juli 2011 in Oslo und 29 Wagner unterscheidet zwischen „primäre[r] Schriftlichkeit“, so beispielsweise „zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften“ wie Le Figaro bei Marinetti und „sekundäre[r] Schriftlichkeit von späteren Anthologien“ (Wagner 1997: 49). Bei ersterer sei die „performative Rolle“ der Äußerungen im Gegensatz zur zweiten immer noch spürbar. 30 Vgl. http://www.internet-manifest.de/ (Stand: 28.04.2014).
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auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete. Via E-Mail hatte er kurz vor der Tat ein 1516-seitiges Pamphlet mit dem Titel 2083 A European Declaration of Independence unter anderem an Nachrichtenjournalisten und rechtsgerichtete Politiker versendet. Dieses Schriftstück wurde von den Medien als Manifest bezeichnet, Breivik selbst nahm den Begriff in seiner Schrift nicht auf. Breivik verdeutlichte darin, wie wichtig ihm nach neunjähriger Arbeit die Verbreitung seines Werks über das Internet gewesen sei. Er sah sich als Vorreiter einer „‚europäischen Widerstandsbewegung‘“ (zit. nach Schultz 2011: o.S.), die sich gegen eine marxistische und multikulturelle Gesellschaft stellen wolle, um stattdessen nationalistische und christliche Werte rigoros zu vertreten. Neben der Inklusion zahlreicher Fremdtexte mit ähnlicher Gesinnung, führte er gegen Ende akribisch Protokoll über seine Vorbereitungen für das Attentat, auch der Bombenbau wurde detailliert aufgeschrieben. Die öffentliche Verbreitung dieses ‚Manifests‘ wurde im Internet weitestgehend unterbunden, um keine Nachahmer zu motivieren. Mir geht es hier keinesfalls um einen Vergleich zwischen künstlerischem und politischem Manifest, und doch greife ich diese Debatte auf, weil sie eine performative Kunst-Entwicklung motivierte, die vielfach debattiert wurde. Christian Lollikke, dänischer Dramatiker und künstlerischer Direktor des CaféTeatrets in Kopenhagen, feierte ebendort am 11. Oktober 2012 Premiere mit der Bühnenversion des Manifests. Trotz politischen Protests wurde der Aufführung, mit Berufung auf die künstlerische Freiheit, stattgegeben. Kritisch merkt der Autor des Artikels Dunkler Glanz des Monströsen in der Süddeutschen Zeitung, Thomas Steinfeld, an, dass damit Anders Behring Breivik zum Autor des Stücks geworden sei. Denn obschon die reine Darstellung des Texts als Wiederholung den Anschein eines Ready-Made-Akts habe, handele es sich bei der Reproduktion des Texts auf der Bühne keineswegs um eine neutrale Vorlage, sondern um ein bereits zweckgebundenes Schriftstück. Für Steinfeld werde Theater jedoch erst dann Theater, wenn es „sich Stoffe aneignet. Nicht, wenn es sich ihnen unterwirft.“ (Steinfeld 2012b): 11) Manifeste lassen sich nicht eins zu eins in einen anderen Kontext versetzen. Für die künstlerische Bearbeitung eines solch dramatischen Manifests und dessen Folgen ist das reine Verlesen des Textes fragwürdig. Ohne einen Kontrastpunkt, ohne Überspitzung oder Abstraktion wird es nicht zum ästhetischen Denkanstoß, sondern fällt vielmehr dem Voyeurismus und der Sensationsgier anheim. Abstrahierter arbeitete sich kurz nach Lollikke der Schweizer Regisseur Milo Rau an den Aussagen Breiviks ab. Am 19. Oktober 2012 ließ er Breiviks einstündige Rede, die dieser im Gericht von Oslo verlesen hatte, im Nationaltheater Weimar als Reenactment aufführen. In Breiviks Erklärung stand jedoch kein männlicher Performer auf der Bühne. Hier nuancierte die Deutsch-Türkin Sascha Ö. Soydan die fragwürdigen Thesen. Rau schaffte durch die Besetzung zum Original Distanz, indem er die provokativen Sätze vom darin verdichteten Feindbild selbst sprechen ließ: Einer Person mit multiethnischen Wurzeln. Die gesprochenen Manifestierungen wendeten sich dabei im performativen Sprechakt gegen sich selbst
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(vgl. David 2010: o.S./Fähnders 2000: 89 ff./Helbing 2012: o.S./Bunz u.a. 2009: o.S./Schultz 2011: o.S/Steinfeld 2012b): 11). Im Zuge der in diesem Exkurs aufgeworfenen Thesen haben wir festgestellt, dass das Manifest eine performative Struktur besitzt und somit auch als prozessual und aktivierend zu verstehen ist. Ihr „antizipatorisches Potential“ (Fähnders 2000: 72) nimmt den auf das Hier und Jetzt ausgerichteten Charakter an, ohne dabei die Zukunft und den Fortschritt aus den Augen zu lassen. Das Manifest wird in dieser Ambiguität und auch Zwiespältigkeit stilbildend für die Avantgarde. Durch die „Desavourierung des einsinnig-linearen Manifestierens“ werde, wie Fähnders verdeutlicht, nicht mehr die „Durchführung, Einlösung, Realisierung bestimmter Forderungen gefordert, sondern das Fordern selbst [ins] Zentrum“ (Fähnders 2000: 82) gerückt, was zu einer kritischen Haltung zum Kunstmittel selbst führt. Die alternative Verwendung des Manifests durch die Künstler veränderte demgemäß nicht nur den Blick auf die Avantgarde selbst, sondern auch auf das Verhältnis von Künstler und Rezipient. Der Rezipient wurde „operativ[...]“ (Fähnders 2000: 83) in den Handlungsvollzug der Manifest-Deklaration miteinbezogen. Durch den Sinnentzug, die paradoxe Forderungspalette und die inhaltlichen Varianzen wurde und wird der Leser oder Zuhörer mit der Aufgabe betraut, die Manifeste mit Sinn zu füllen. Es geht also nicht nur um eine zukünftige Handlungsanleitung, sondern um ein performatives Manifestieren im Moment der Rezeption. Für den Avantgardismus bedeutet dies, dass das Hervorbringen neuer Ideen einer Manifestation31 folgt, der nunmehr eine Performativität inhärent sein muss, um das Manifeste beweglich, fluide und undogmatisch zu halten.32 Notwendig wird ein unmittelbarer Vollzug im Hier und Jetzt, der das Präsentische aufwertet, aber Vergangenheit und Zukunft dabei nicht des Feldes verweist (vgl. Fähnders 2000: 72 ff.).
31 Zur Manifestation formuliert Richard Schechner, dass diese im ursprünglich ritualisierten Theater, aber auch in zeitgenössischen Ritualen eine Rolle spielt(e) – zum Leidwesen der Kommunikation, die durch die Manifestation getilgt worden sei (vgl. Schechner 1973: 7). 32 Wie bereits im Kapitel Performance und Performativität erwähnt, würde Hamacher hier nicht das performative Moment stärken, sondern unmittelbar auf das Afformativ verweisen. Seine Überlegungen zur rechtssetzenden Gewalt, lassen sich hier durchaus auf die Problemstellung innerhalb des Manifests übertragen: „Um zu bleiben, was sie ist, Gewalt der Rechtssetzung, muß sie sich in rechtserhaltende verwandeln, muß sich gegen ihren ursprünglichen Setzungscharakter wenden und muß in dieser Kollision mit sich selber verfallen.“ (Hamacher 1994: 340 f.)
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Futurismus II Lenken wir unseren Blick nun auf künstlerische Darstellungsoptionen neben den Manifesten, die den Aspekt des Performativen betonten, so drängen sich uns die Soiréen33 auf. Von 1910 an hielten die Futuristen damit Einzug in den Theatern einiger italienischer Städte. Ihr Ziel war es, nicht nur die angestrebte Einbindung der Bürger in die futuristischen Kunstprozesse voranzutreiben, sondern auch den Bekanntheitsgrad zu steigern. Den Futuristen galt das Theater bis dato als jener totalitäre Ort, an dem die propagierte Beschleunigung des Lebens am künstlerisch angemessensten dargestellt werden konnte. Günter Berghaus verdeutlicht, dass die Futuristen das performative Genre nutzten, um die eigenen künstlerischen und politischen Vorhaben wirkungsvoller demonstrieren zu können. Der Futurist Claudio Vicentini proklamierte dahingehend: „The theatrical performance is the twin brother of the political demonstration.“ (Zit. nach Berghaus 2005: 96) Laut Vicentini versuchten beide Formen den Menschen in die Gegenwart einzubeziehen und hingen deshalb immer auch zusammen. Eine Demonstration sei deshalb stets eine Performance und diese impliziere wiederum das politische Moment einer Demonstration. In späteren Aufzeichnungen differenzierte er diese Gleichstellung: „Theatrical action and political action, although imbued with the same characteristics and setting the same progress in motion… have diverging functions and obey different criteria of success.“ (Zit. nach Berghaus 2005: 102) Der Ablauf der Serate beinhaltete zumeist die Rezitation von Manifesten und die Präsentation futuristischer Dichtung, Performances, Musik und Malerei, die jedoch unterschiedlich zusammengesetzt und auch zu Propagandazwecken benutzt wurden. Ann-Katrin Günzel macht darüber hinaus auf die „Discorsi“ aufmerksam, „die auf den jeweiligen Deklamationsort zugeschnitten waren und provokante Beschimpfungen des lokalen Publikums enthielten, die sich zumeist zu wahren Saalschlachten hochschaukelten.“ (Günzel 2006: 25) In seinem Manifest Das Varieté von 1913, setzt Marinetti die Provokation der Zuschauer an oberste Stelle. Darin heißt es: „3. Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen (der Frack oder das beschädigte Kleid wird selbstverständlich am Ausgang ersetzt). – Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. – Herren und Damen, von denen man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze, damit sie mit obszö-
33 Die gleichbedeutend mit dem Begriff Serate sind.
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nen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander verursachen. – Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.“ (Marinetti 1989: 159)
Einer spannungsgeladenen Atmosphäre wurde bewusst Vorschub geleistet, zumal „die gesamte klassische Kunst“ auf der Bühne „prostituier[t]“ (Marinetti 1989: 159) werden und durch Absurditäten und unlogische Überlagerungen ein Handlungsstrang ad acta gelegt werden sollte. Laut Damus hat Marinetti mit seinen Futuristischen Abenden die „Grenzen der Kunst gesprengt“ (Damus 2000: 98) und die Relation zwischen Publikum und Akteur verändert, da es keine klassische Grenzziehung mehr gab, die zwischen ihnen eine körperliche Distanz herzustellen vermochte. Dies ging gar so weit, dass das Publikum Marinetti mit Tomaten bewarf oder es zu Handgreiflichkeiten kam. Vielfach wurde die Polizei gerufen. Die angebliche Künstler-Publikumsparität ist insoweit zu relativieren, als dass die Versuchsanordnung stets vom Künstler ausging, obschon der dadurch eingeleitete Prozess sich hernach jeglicher Vorbestimmung entzog. Als adäquate Methode spielte deshalb auch die Improvisation, sowie die Übernahme diverser Elemente des Varietétheaters eine große Rolle für die futuristischen Abende. Eine Vermengung künstlerischer Darstellungsformen, ob Tanz, Gesang, oder Kabarett, wurde aufgegriffen, um jedwede fiktionale Darstellung wie sie in klassisch-bürgerlichen Theatern zu diesem Zeitpunkt stattfand zu durchbrechen und ad absurdum zu führen.34 Marinetti schreibt dahingehend in seinem Manifest: „Das Varieté ist von Natur aus antiakademisch, primitiv und naiv, und deshalb kommt der Improvisation seiner Experimente und der Einfachheit seiner Mittel eine um so größere Bedeutung zu (z.B. der systematische Gang um die Bühne, den die Chansonetten am Ende jedes Couplets wie wilde Tiere im Käfig machen).“ (Marinetti 1989: 155) Die Futuristen übten damit institutionelle Kritik und opponierten gegen die Praktiken der bürgerlichen Kunst. In großem Widerspruch stand deshalb kurze Zeit später die Unterwerfung Marinettis unter Benito Mussolinis Kriegsführung. Die Agitation gegen die zumeist staatlich koordinierte Kunst wurde zur leeren Worthülse und Marinetti hatte Probleme, seinem Ruf nach künstlerischer Freiheit und Unabhängigkeit mit der politischen Zugehörigkeit in Einklang zu bringen. Immer wieder wurde der Duce von dem Futuristen sogar als Redner zu den Serate eingeladen. Andererseits konnten Marinetti und die Seinen sich nun jenem machistischen und patriotischen Verhalten der Regierung andienen, das sie im Kleinen stets propagiert hatten. Der Kriegseintritt Italiens 1915 bedeutete für die Futuristen die „konsequente Fortsetzung ihres Futuristischen Aktionismus“ (Vorfelder 2009: o.S.) und der Kriegsverherrlichung. Dass der Krieg ob der Vielzahl gefallener futuristischen Anhänger, die 34 Das epische Theater von Bertolt Brecht bildete zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine weitere Ausnahme.
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Marinetti als Soldaten in den Krieg gefolgt waren, zu ersten Auflösungserscheinungen der gesamten futuristischen Richtung führte, scheint eine zynische Wendung zu sein (vgl. Almhofer 1986: 19/Berghaus 2005: 97; 101; 110/von Beyme 2005: 308/ Damus 2000: 98/Fischer-Lichte 1997: 11/Günzel 2006: 25 ff.; 70 ff./Marinetti 1989: 153 ff.). Der Versuch Marinettis, trotz seiner diskriminierenden und fragwürdigen Inhalte das Leben mit der Kunst zu verbinden und damit einer zentralen avantgardistischen Forderung Folge zu leisten, ist nun aber auch hinsichtlich seiner Dichtung zu betrachten. In diese übersetzte er schließlich den Modus seiner futuristischen Abende, um über die Methoden der fehlenden Repräsentation, Kontextlosigkeit, multimedialen Vermengung und dem entzogenem Sinn eine rein materialgeleitete und sinnliche Rezeption ohne Vorgabeschema beim Rezipienten hervorzurufen. Die gewünschte Bezugslosigkeit provozierte er mittels freigestellter Wörter, denen er jedwede syntaktische, konjugierte oder deklinierte Ver- und Anbindung raubte. Die dadurch entstehende Dynamik sollte sich den alltäglichen Erfahrungen andienen, welche ob der technischen Neuerungen eine andere Wahrnehmungsweise erforderten. Simultane Eindrücke waren nunmehr zu verarbeiten und lineare Strukturen mussten verzweigten und vernetzten weichen. Dieser neue Blick auf literarische, bildliche oder aktionistische Kunst kreierte laut Almhofer „eine neue synthetische Identität von Kunst und Leben in der Gestalt audio-visuell-oleofaktorisch-taktiler Manifestationen, die sowohl räumlich als auch zeitlich vom Künstler spontan dimensioniert wurden“ (Almhofer 1986: 21). Dabei geriet die Vorstellung eines mechanistischen (Menschen-)Bildes in den Blick. In den tänzerischen Extrakten Valentine de Saint-Points, neben Loy eine der wenigen Frauen innerhalb der futuristischen Bewegung, wurden beispielsweise mechanische Bewegungen in die Choreographie eingewebt, um das Verhältnis von Mensch, Körper und Maschine bewegungstechnisch zu erforschen. In literarischer Hinsicht hatte Marinetti bereits mit seinem Roman Mafarka, der Futurist (1910) das futuristische Ideal eines maschinistisch-mensch-lichen Hybrids konzipiert, dem er ein reproduktives Dasein beschied, das frei von Emotionen und voller destruktiver Energien war. An anderer Stelle spielten die Emotionen dahingegen eine große Rolle. Gerade in der Architektur oder Malerei versuchten die futuristischen Künstler durch Abstraktion und Reduktion, Raum zu lassen für das sinnliche und emotionale Erleben der Zuschauer und deren selbstständige Zusammensetzung frei von einer vorgabewirksamen Objektanordnung. Durch ineinander übergehende Formverläufe ohne Begrenzungen wurde dies auch in der Malerei umgesetzt. So beispielsweise in dem Gemälde Umberto Boccionis Der Lärm der Straße dringt ins Haus (1911), in dem Häuserfluchten ineinander übergehen, die Horizontale vollends aufgegeben wird, und dadurch die Bauten zu kippen oder fallen scheinen. Es entsteht eine Bewegung im Bild, die einerseits darin festgehalten wird, gleichwohl scheint sich diese mitsamt der Objekte aus dem Bild herausbewegen zu wollen, da es keine richtungsweisenden Winkel
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mehr gibt. Die abgebildete Frau auf einem der angeschrägten Balkone bildet in ihrer Figürlichkeit eine der wenigen erkenntlich gemachten Elemente auf dem Bild. Sie sticht auch deshalb heraus, weil der chaotische, zersplitterte und dadurch flirrend-dynamisierende Eindruck des Werkes überwiegt und erkennbare Objekte sich rasant an- und ineinanderfügen. Boccioni selbst hatte 1910 in seinem Technischen Manifest der futuristischen Malerei dazu aufgerufen, mittels Licht und Bewegung den Körpern ihre Stofflichkeit zu rauben. Ähnlich wie bei der oben beschriebenen maschinistischen Vorstellung eines ‚futuristischen Menschen‘ lässt sich hier festhalten, dass die Futuristen eine politische und auch gesamtgesellschaftliche Novellierung anstrebten, welche einer „technokratische[n] Gesellschaftsordnung“ (Almhofer 1986: 24) obliegen sollte (vgl. Almhofer 1986: 20 ff./Damus 2000: 98 f.; 116 ff./Malek; Yaremich 2009: o.S.). Eine konträre Haltung zu jenen, die den Futurismus als ersten Ismus der historischen Avantgarden anerkennen, nehmen Lutz Hieber und Stephan Moebius ein. Sie weisen den Futurismus als Bewegung aus, die außer der Entwicklung eines faschistoiden Konzepts keine progressiven Ideen entwickelt hätten. Die Künstler seien „in den Konventionen des modernistischen Kunstbegriffs“ (Hieber/Moebius 2009: 18) verhaftet geblieben. Auf reaktionäre Weise hätten sie an der Vorstellung eines autonomen Kunstwerks festgehalten und müssten deshalb von der Avantgarde abgegrenzt werden. Gegen diese Haltung sprechen meines Erachtens jedoch die Dynamisierung des Künstler-Zuschauer-Verhältnisses und damit einhergehende Ergänzungen der Kunstmittel, die trotz der faschistischen Gesinnung Einfluss auf folgende künstlerische Bewegungen nahmen. Der Einwand Hiebers und Moebius’, dass es schwierig sei, Futurismus und Dadaismus gemeinsam der Avantgarde zuzuordnen und damit eine Verbindung beider Bewegungen herzustellen, verbleibt inkonsequent, da auch die Surrealisten mit ihren linksradikalen, kommunistischen Tendenzen sowie einer nicht minder autokratischen Anführung durch Breton den dadaistischen Vorgehensweisen widersprachen. Wo, wenn nicht in der Avantgarde, wären die Futuristen sodann zu verorten? Müsste man sie eher der Moderne zuschreiben? Oder in einen beziehungslosen Zwischenzustand versetzen? Wahrlich: Die unkritische Bejahung technologischen Fortschritts, die Heroisierung kriegerischer Handlungen und der damit einhergehende radikale Forderungskatalog der Futuristen waren fatal. Erinnern wir uns an Manifeste wie das Politische Manifest des Futurismus (1909) oder das Politische Programm des Futurismus (1913) ist es eine berechtigte Frage, ob es den Künstlern gerade nach Beginn der parlamentarischen Zugehörigkeit eher um die Politik oder die Kunst ging. Mir scheint jedoch, dass die vor allem von Marinetti vorangetriebene Anbiederung an Mussolini nicht generalisierend betrachtet werden darf. Für die meisten Futuristen blieben die ästhetischen Entwicklungen im Vordergrund auch wenn sie, wie bei fast allen Avantgardebewegungen, gesellschaftspolitische Umstürze anvisierten und in dieser Zielsetzung eine diffamierende Richtung einschlugen. Hinsichtlich dieses
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Verhältnisses sei an Benjamin erinnert, der in dieser Kongruenz das Hinauslaufen des Faschismus auf „eine Ästhetisierung des politischen Lebens“ (Benjamin 1978: 506) prognostizierte. Diese neue Form des Ineinandergreifens von Ästhetik und Politik stellte für Benjamin eine Gefahr dar. Dass „[d]er Kommunismus […] mit der Politisierung der Kunst [antwortete]“ (Benjamin 1978: 508), sei die logische Konsequenz gewesen und verdeutlichte für ihn, dass das Ineinandergreifen von Ästhetik, Kunst und Politik Gefahren barg, die beispielsweise durch die Massenmedien eine Eigendynamik entwickeln und negative Folgen nach sich ziehen würden. Ganz explizit bezog sich Benjamin in seiner Argumentation auf eine Passage in Marinettis Manifest, die dieser zum äthiopischen Kolonialkrieg formuliert hatte, an dem er selbst teilnahm. Darin wendete sich Marinetti gegen die generelle Meinung, den Krieg als antiästhetisch zu betrachten. Vielmehr statuierte er: „Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt.“ (Zit. nach Benjamin 1978: 507) Und: „Dichter und Künstler des Futurismus… erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik…von ihnen erleuchtet werde!“ (Zit. nach Benjamin 1978: 507) Das politische, kulturelle und künstlerische Nebeneinander innerhalb der Bewegung, muss deshalb differenziert betrachtet werden. Wie auch für von Beyme, der sich auf Karlheinz Barck und Benjamin bezieht, scheint es mir zutreffend, dem Futurismus ein Streben nach einer „Ästhetisierung der Politik“ zuzuschreiben und nicht, wie dem Surrealismus, eine „Politisierung im Ästhetischen“ (von Beyme 2005: 853). Auch zwischen den Weltkriegen und trotz der ersten Auflösungserscheinungen, die sich durch die hohe Zahl an gefallenen Futuristen im Ersten Weltkrieg ergaben, minimierte sich die Fokussierung auf Politik und Staat nicht. Da sie, wie von Beyme darstellt, „in vielen Bereichen der faschistischen Kunstpolitik eher marginal geblieben waren“, widmeten sich die Futuristen dafür der staatlich geförderten Flugmalerei, die den Propagandazwecken des Ministeriums im Zuge des Zweiten Weltkriegs dienlich war. Die künstlerisch-politische Verquickung ging hernach so weit, dass das Manifest der futuristischen Partei (1918) jene aktiv-politische Phase der Futuristen einläutete, die neben der Unterstützung Mussolinis durch Marinetti auch zur Gründung einer futuristischen Partei führte. 35 Anlässlich der Parlamentswahlen 1919 traten die Futuristen und Mussolini dann mit einer gemeinsamen Liste an. Obschon Marinetti sich weiterhin mit der faschistischen Ordnung als idealem Konzept für die Realisierung seiner Vorstellungen identifizierte, verließ er 1920 das Bündnis, „weil er keine Möglichkeit sah, seine antiklerikalen und republikanischen Ziele umzusetzen.“ Die nationalistische Ausrichtung des Futurismus, das eigene faschistische und totalitäre Verständnis und der damit verbundene Versuch, die Ge35 Vgl. für weitere Ausführungen: von Beyme 2005: 685 f.
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sellschaft als Masse radikal zu beeinflussen, zählen zu den schwarzen Flecken dieser Bewegung. 1924 zog Marinetti sich aus der Politik zurück, wofür, so Malek und Yaremich, auch Mussolinis „‚Marsch auf Rom‘“ (Malek/Yaremich 2009: o.S.) und die erzwungene Machtergreifung 1922 relevant gewesen seien. Seinen totalitären Anspruch übertrug er gleichwohl weiterhin auf den Bereich der Kunst und Kultur (vgl. Benjamin 1978: 506 ff./von Beyme 2005: 685 ff.; 853/Hieber; Moebius 2009: 8 ff./Malek; Yaremich 2009: o.S.). Lösen wir zum Abschluss dieses Unterkapitels nun noch einmal den Blick von dieser negativen politischen Entwicklung, so sollten die ersten nachhaltigen künstlerischen Versuche zusammengefasst werden, die den Futurismus als avantgardistische Bewegung bestimmen. Almhofer bilanziert, dass „im Bemühen um eine Liquidierung einer von der Alltagserfahrung abgespaltenen Sphäre des Ästhetischen vorerst der Akt der Provokation die Stelle des Kunstwerks einnahm“ (Almhofer 1986: 24). Konkret bedeutete dies bei den Futuristen, wie erwähnt, neben den Publikumsbeschimpfungen das Kreieren schockierender oder verwirrender Situationen als erste Ansprache der Zuschauer. Die Provokation wurde forciert, um dem Publikum jedwede Lethargie oder jedes Verharren im bürgerlichen Status quo auszutreiben und stattdessen mittels Wut, Aggression und Unzufriedenheit Reaktionen hervorzurufen, die bestenfalls dazu führen sollten, die gegenwärtige Situation zu hinterfragen und mit den Futuristen dagegen aufzubegehren. Marinetti proklamierte im Varieté-Manifest: „Das Varieté ist das einzige Theater, das sich die Mitarbeit des Publikums zunutze macht. Dieses bleibt nicht unbeweglich wie ein dummer Gaffer, sondern nimmt lärmend an der Handlung teil, singt mit, begleitet das Orchester und stellt durch improvisierte und wunderliche Dialoge eine Verbindung zu den Schauspielern her.“ (Marinetti 1989: 155)
Dem gesättigten Bürgertum sollte im Rahmen ästhetischer Ansätze widerständig begegnet werden. Die Serate erwiesen sich in ihrer kunstübergreifenden Gestaltungsweise parallel zum Varietétheater zudem als performative Darstellungsform, die stilbildend für folgende avantgardistische Bewegungen wurde. Auch die ambige Nutzung des Manifests als gleichermaßen gesellschaftskritisches und künstlerisches Werkzeug muss als zentrale Errungenschaft der Futuristen festgehalten werden (vgl. Almhofer 1986: 24). Dada I Es waren die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die die Kunst der Avantgarden maßgeblich beeinflussten. Darüber hinaus führte, wie gesehen, die vorangeschrittene Industrialisierung Ende des 19. Jahrhundert bei den Futuristen zu einer
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Fortschrittshuldigung, die Technik, Krieg und Militarismus ausnahmslos bejahte. Diesen militärisch-technizistischen Überlegungen entgegengesetzt, entwickelten die Dadaisten kurz darauf eine andere Form von Kunst, nämlich deren Negation. Das fortschrittliche Tun bestand dabei darin, Kunst als Anti-Kunst zu deklarieren und sich von jeglichen Prinzipien eines formalisierten ästhetischen Agierens zu lösen. Zürich 1915: Der Kriegszustand führte einen Kreis von Künstlern zusammen, die sich fortan in Cafés trafen, um neben der bürgerlichen Kunst, auch die nationalistisch-militaristisch orientierte Gesellschaft anzuprangern. Federführende Künstler waren in diesem Züricher Kreis Emmy Hennings und Hugo Ball 36, der vor seiner Übersiedelung in die Schweiz nicht nur für Dramaturgie und Regie expressionistischer Theaterstücke verantwortlich zeichnete, sondern hernach als Kriegsbeobachter an die Front ging und ob seiner Kriegserfahrung beschloss, aktiv gegen „Kriegseuphorie und Kriegspropaganda“ (Damus 2000: 109) vorzugehen. Es folgte in Berlin die Mitarbeit an Die Aktion, einer expressionistischen Zeitschrift, die Ball jedoch alsbald für vergeblich erachtete. Als Exilanten lebten Ball und Hennings von 1915 an in der Schweiz und eröffneten am 5. Februar 1916 in der ‚Künstlerkneipe Voltaire‘ gemeinsam mit Hans (Jean) Arp, Marcel Janco, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und anderen das Cabaret Voltaire, welches seither als Ursprungsort der dadaistischen Bewegung 37 gilt. Sie nutzten die Plattform, um „eine effektive 36 Bernhard Echte, Herausgeber von Balls Band Die Flucht aus der Zeit (1992), bezeichnet Ball als „Begründer des Dadaismus“ und einen der „radikalsten Avantgardisten der europäischen Kunst“ (Echte 1992: 303). 37 Die Herleitung des Begriffs Dada ist umstritten. Leitet der Duden das Wort aus dem Französischen von ‚lautmalend‘ ab, so findet sich bei William Rubin die Bezugnahme auf den in der Kleinkind-Sprache verwendeten Begriff „Schaukel- oder Steckenpferd“, welchen Hugo Ball beim Durchblättern eines deutsch-französischen Wörterbuchs gefunden haben soll. Der Bezug zur Lautmalerei ist in inhaltlicher Hinsicht stimmig, da das Lautgedicht als zentrale Innovation des Dadaismus hervorgegangen ist. Festgehalten werden sollte, dass gerade die Loslösung einer nachvollziehbaren Entstehungsgeschichte Signum für eine Kunstrichtung ist, die dem Zufall eine elementare Rolle zuweist. Auch die Referenz zur Kindersprache entspräche den in den Lautgedichten alogisch zusammengesetzten Silben, dem Nonsens, den Neologismen sowie der zufallsgenerierten Aneinanderreihung. Rubin verweist hinsichtlich der Kleinkindsprache auf „die bewußte Ablehnung überkommener Werte der Erwachsenenwelt, die durch eine Pose absoluter Naivität“ (Rubin 1978: 7) substituiert wurde. Ball selbst formuliert: „Als mir das Wort ‚Dada‘ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius. D.A.-D.A. (über diese mystische Geburt schrieb auch H...k; auch ich selbst in früheren Notizen. Damals trieb ich Buchstabenund Wort-Alchimie).“ (Ball 1992: 296) Huelsenbeck schreibt: „Das Wort Dada wurde durch einen Zufall entdeckt, als wir einen neuen Namen für eine unserer Chansonetten
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Veränderung der bestehenden Ordnung durch deren grundsätzliche Infragestellung im Bereich des Ästhetischen“ (Richter 1964: 25) forcieren zu können. Analog zu den futuristischen Serate, die als Vorbild dienten38, ging es auch bei den dadaistischen Soiréen um ein experimentelles Vermischen unterschiedlicher Kunstformen.39 Ob Tanz, Gesang, Lesungen, atonale und bruitistische Konzerte, Ausstellungen mit Collagen oder Assemblagen, Photogramme oder Lautgedichte: Ziel war die Aufhebung konventioneller Kunstformate und ein Durchmischen der unterschiedlichen Gattungen. Vor allem aber sollte dadurch das Bestreben sichtbar werden, Kunst gänzlich aufzuheben und keine Separation vom Leben mehr zuzulassen. Die Absurdität der dadaistischen Kunst entwickelte sich insbesondere durch die alogische Präsentation und das verwendete Material. Simultangedichte wurden in verschiedenen Sprachen vorgetragen, Masken- und Volkstänze40, Lieder aus anderen Ländern, mystische Anleihen sowie Referenzen afrikanischer Kunst oder zufallsgeprägte Materialanordnungen auf die Bühne gebracht. 41 Die Improvisation spielte stets eine zentrale Rolle und die Aufeinanderfolge war unsystematisch. Die Multiplizierung von Künsten führt für von Beyme zu „einer vagen Konzeption des Gesamtkunstwerks“. Dabei handelte es sich jedoch um eine Konkurrenzsituation unter den Künsten, die trotz der Kritik an hierarchischen Strukturen die je eigene Dominanz herausstellen wollten. Für von Beyme wurde „die Bühne zum Kampfplatz“ (von Beyme 2005: 308). Weniger kritisch lässt sich formulieren, dass es nicht unbedingt nur um den ‚Kampf‘ untereinander ging. Vielmehr wurde gerade auch die suchten. Wir fühlten eine neue Energie, wir fühlten den Sinn der Zeit in unseren Fingerspitzen, das Wort Dada begann seine ungeheure Suggestibilität zuerst auf uns selbst auszuüben.“ (Huelsenbeck 1994: 37) (Vgl. Ball 1992: 296/Huelsenbeck 1994: 37/Richter 1964: 30 f./Rubin 1978: 7 f.). 38 Berghaus weist auf die engen Verbindungen von Tristan Tzara zu den Futuristen hin, von denen er die Serate-Konzeptionen, aber vor allem auch die bruitistischen Konzerte für sich entdeckte. Laut Berghaus soll Huelsenbeck Tzara als eine Art „super-Futurist“ (Berghaus 2005: 136) bezeichnet haben. Auch Günzel macht auf die enge Verbindung zwischen Futuristen und Dadaisten aufmerksam, die ab dem Jahr 1918 jedoch zu bröckeln begann und 1919 in strikter Abgrenzung endete (vgl. Günzel 2006: 247 f.). Vgl. darüber hinaus Berghaus 2005: 175 ff. 39 Vgl. zum Verhältnis von futuristischen Serate und dadaistischen Soireen: Günzel 2006: 217-252. 40 Mary Wigman oder auch Schüler Rudolf von Labans nahmen regelmäßig an den dadaistischen Abenden teil (vgl. Berghaus 2005: 170 f.). 41 Vgl. dazu Echtes Wiedergabe von Richard Huelsenbecks Beschreibungen (Echte 1992: 309), sowie Huelsenbeck selbst in: Huelsenbeck 1994: 46 f. oder auch Richter 1964: 38 ff.
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Kollaboration miteinander motiviert, um für die angestrebte Irritation der Zuschauer möglichst viele Gestaltungsmöglichkeiten zu haben. Ball nahm sich dahingehend unter anderem den Bruch mit der linearen Kunstkonzeption zum Vorsatz. Beispielhaft kann dafür die Inszenierung seiner Lautgedichte42 herangezogen werden. Hatte Marinetti eine Umwälzung auf poetischer Ebene bereits vorangetrieben und die Loslösung der Wörter von ihrer „Funktion als Zeichenträger“ etabliert, so griff Ball diese auf, entwickelte sie weiter und verknüpfte sie mit einer theatralen Performance.43 In einer solchen hatte er sich beispielsweise „[i]n ein enges, röhrenförmiges Kostüm aus blauer Glanzpappe gezwängt und mit einem blauweiß gestreiften Zylinder auf dem Kopf“ (Almhofer 1986: 26) ausgestattet. Das Gewand, das aus 42 Vgl. dazu von Beyme, 2005: 313 ff. 43 Bereits Stéphane Mallarmé hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Anliegen, „den Text zu einem Objekt zu machen, das sein eigenes ‚espacement‘ entfaltet, eine ‚Verräumlichung‘ und somit Körperlichkeit“ erzeugt und jede „Seite wie eine Bühne der Worte scheinen“ (Lehmann 2005: 272) lassen soll. Saskia Reither konkretisiert dahingehend: „In Un coup de dés jamais n’abolira le hasard hat Stéphane Mallarmé gezeigt, dass durch die Verteilung der Wörter auf dem Papierraum eine Trennung zwischen visueller Erscheinung und semantischer Bedeutung erreicht wird.“ Die „graphische[…] Seite des Buchstabens“ habe dadurch „eine neue und eigene Qualität“ (Reither 2003: 53) erhalten, die nicht mehr im Schatten der Semantik stand. Seine moderne Poesie spiegelte sich auch in seinem dramatischen Hamlet-Stück wieder, dass, so Hans-Thies Lehmann, die Form eines „neo-lyrische[n] Theater[s] [annimmt; PG], das die Szene als Ort einer ‚Écriture‘ versteht, in der alle Bestandteile des Theaters zu Buchstaben eines poetischen ‚Textes‘ werden.“ (Lehmann 2005: 95) Kurze Zeit später, um 1914 entwickelte Apollinaire eine alternative Idee, um die Buchstaben in Bewegung zu bringen. Mit seinen Calligrammes schuf er Bildgedichte, die Worte in Bildern aufgehen ließen. Als Beispiel sei das Gedicht Il Pleut/The Raining genannt, dessen Wörter nicht vertikal, sondern horizontal im Sinne von Regenfäden von Apollinaire angeordnet wurden. Im 21. Jahrhundert scheint die Computerpoesie die logische Weiterentwicklung. Dabei handelt es sich laut Reither nicht um „poetische Texte“, die „als Drucktexte entstanden und anschließend in ein Textverarbeitungsprogramm übertragen wurden, sondern deren Herstellung auf der Grundlage der besonderen Eigenschaften des Computers basiert.“ Dabei, so Reither weiter, handele es sich „um hybride, multimediale Texte zwischen Schrift, Bild und Ton, die weder auf Papier ausgedruckt werden können noch ohne den Computer bzw. ein anderes elektronisches Dispositiv (Licht, Monitor, VR-System) rezipierbar sind.“ (Reither 2003: 83) Der Computer und seine funktionalen Eigenschaften werden bei der Computerpoesie „zu einer Bedingung der Poetik.“ (Reither 2003: 13) (Vgl. Apollinaire 1980: 100 f./Lehmann 2005: 95 ff.; 272/Reither 2003: 53; 83). Vgl. für einen ausführlichen Überblick über die Computerpoesie: Reither 2003.
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Formen bestand, die dem Kubismus entlehnt waren, ließ sich als Zitation dieser künstlerischen Stilrichtung verstehen. Von seinen Kollegen wurde Ball zum Podium getragen, wo er, umrahmt von zwei Notenständern und untermalt von Trommelklängen, seine Gedichte vortrug, die „an die Gebete arabischer Muezzine oder den Meßgesang katholischer Priester“ (Almhofer 1986: 27) erinnerten. Die lautstarken, zumeist negativen Zuschauerreaktionen waren erwünscht. Ziel war es auch in der dadaistischen Anti-Kunst die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzulösen, damit Realität nicht nur authentisch nachvollziehbar wurde, sondern im Zuge einer daran anschließenden veränderten Wahrnehmung Anlass zur Mitgestaltung geben konnte. Das Warum der dadaistischen Performance geriet in den Hintergrund, stattdessen gewann das Wie an Relevanz. Die Geräusche, (A-)Tonalitäten und Wortsilben sollten über Gedichte, Lieder und Klänge für die Zuschauer sinnlich erfahrbar werden. An den Simultangedichten, die mitunter von 20 Künstlern auf der Bühne gesprochen wurden zeigt sich, dass ein hermeneutischer Prozess ebenso ad acta gelegt wurde, wie die aus dem aristotelischen Theater bekannte Linearität von künstlerischen Abläufen (vgl. Almhofer 1986: 26 f./Berghaus 2005: 141 ff.; 170 f./ Damus 2000: 109/Huelsenbeck 1994: 36 f./Richter 1964: 10 ff.). Fortan vermengte sich der revolutionäre und anti-künstlerische Impetus der Bewegung mit den Konzepten von Kunst, Politik und Leben und mischte diese neu. Das Anti fungierte dabei gewissermaßen als Wegweiser. Alfons Backes-Haase bezeichnet es als „Credo“, welches die „unendliche Negation“ (Backes-Haase 1992: 17) für die Dadaisten darstellte. Und doch lassen sich beispielsweise die Vielzahl der DADA-Manifeste nicht destruierend, sondern vermittelnd verstehen, obgleich Backes-Haase zurecht darauf hinweist, dass das DADA-Manifest in seinem praktischen Sinn „darauf ausgerichtet [bleibt], nicht so sehr einen konkreten politischen Fortschritt anzustoßen, als vielmehr die Zweifelhaftigkeit politischer Kommunikationsstrukturen erfahrbar zu machen“. Backes-Haase spricht in diesem Fall von einem „metapolitische[n]“ Typ des Manifests, da „der politische Diskurs […] in seiner Doppelbödigkeit und Lügenhaftigkeit wahrnehmbar werde[n]“ (Backes-Haase 1992: 18 f.) sollte.44 Das Manifest sei zentrales Mittel der Darstellung für die Dadaisten gewesen, welches „buchstäblich das mediale Substrat selbst [darstellt; PG], in dem und durch das sie ihre individuelle wie ihre kollektive Identität allererst konstruieren.“ Backes-Haase geht sogar so weit, dass er den Dadaismus als „das Produkt seiner Manifeste“ beschreibt, weshalb „auch alle übrigen Dada-Produktionen erst im Kontext des konstitutiven manifestantistischen Charakters der Bewegung zu begreifen“ (Backes-Haase 1997: 257) seien. Vor allem die Berliner Dadaisten lehnten sich mittels der Manifeste ‚polit-künstlerisch‘ gegen die gesellschaftlichen Zu44 Für weitere detaillierte Ausführungen zum DADA-Manifest, siehe Backes-Haase 1992. Vergleiche in diesem Kontext den vorangestellten Exkurs zum Manifest.
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stände auf.45 Die „politische Überzeugung“ der Dadaisten kulminierte in der „Idee einer informell strukturierten, anarchistischen Gemeinschaft“ (Short 1984: 42). Die Offenlegung der gesellschaftlichen Zustände hatte demgemäß in der absoluten Sinnentleerung, in der Destruktion zu liegen, die lediglich von Zufall und Gegenwart bestimmt werden sollte. Wie bereits angemerkt, musste dadurch auch die Manifestierung eigener Forderungen hinterfragt werden: „Das Dada-Manifest als Medium metasemiotischen Experimentierens zielt so darauf, die (historischen) Bedingungen der Möglichkeit des Akts des menschlichen Bekennens, der für die Gattung Manifest selbst konstitutiv ist, radikal infrage zu stellen.“ (Backes-Haase: 1997: 262)
Der Autor verweist darauf, dass den Dadaisten eine reine Destruktion des Manifests fernlag, es stattdessen um eine „Schaffung von Taktiken der (Selbst-)Inszenierung neuer ‚künstlerischer‘ Bezeichnungsformen“ (Backes-Haase 1992: 263) ging. Darüber hinaus sollte das Manifest eine Grundlage für die Verletzung von Tabus und Provokationen sein. Hierbei macht Backes-Haase auf das „verdrängte Urtabu“ aufmerksam, dass für ihn in der „Materialität menschlicher Zeichenbildung“ (BackesHaase 1992: 264) liege. Die Dadaisten forderten ein praktisches Erleben des Formulierten, nicht die Einverleibung „fremder oktroyierter Parolen“ (Backes-Haase 1992: 267). Es ist dieses Erleben, dass die Dadaisten nicht nur in die Manifestkultur, sondern ganz generell in die Kommunikationslinie zwischen Künstler und Zuschauer einführten. Dabei nahmen die Dadaisten in Kauf, über bestimmte künstlerische Vorstellungen harte Auseinandersetzungen mit dem Publikum zu führen. Die aus diesen und zahlreichen weiteren Aktionen folgende Überlegung der Dadaisten, eine rigorose Überführung von Kunst in Leben und umgekehrt zu erreichen, blieb dennoch ambivalent. Die Widersprüchlichkeit liegt darin, dass die Dadaisten Kunst und Leben, und also Gesellschaft, zusammenfassten, aber dennoch eine Trennung hinnahmen, wenn es um die Entwicklung einer Methode ging, die für die Dadaisten aus der Kunst heraus entstehen sollte. Bowness macht dahingehend kritisch deutlich, dass sich die weiterhin auf künstlerischer Ebene stattfindende Produktivität der 45 Verwiesen sei exemplarisch auf das bereits erwähnte Manifest Was ist der Dadaismus und was will er in Deutschland? (1919), in dem Hausmann, Huelsenbeck und Golyscheff im Namen des Dadaismus beispielsweise „die internationale revolutionäre Vereinigung aller schöpferischen und geistigen Menschen der ganzen Welt auf dem Boden des radikalen Kommunismus“ fordern, sowie „die Einführung der progressiven Arbeitslosigkeit durch umfassende Mechanisierung jeder Tätigkeit“ und „die sofortige Expropriation des Besitzes (Sozialisierung) und kommunistische Ernährung aller sowie die Errichtung der Allgemeinheit gehörender Licht- und Gartenstädte, die den Menschen zur Freiheit entwickeln.“ (Hausmann/Huelsenbeck/Golyscheff 1995: 175)
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Dadaisten mit jedweder destruktiven Vorstellung und Negation von Kunst nicht mehr vereinbaren ließ, da Dada sich „zur Protestbewegung und Kunsttheorie“ (Bowness 1998: 153) entwickelt hatte und somit die Distanz zwischen Kunst und Leben aufrechterhielt. Mit Robert Short lässt sich deshalb davon sprechen, dass die Dadaisten weniger das Ende der Kunst propagierten, als vielmehr eine „völlig neue Auffassung von schöpferischer Tätigkeit, eine neue Gleichung mit den Variablen Kunst – Ich – Realität“ (Short 1984: 20). Diese schöpferische Tätigkeit betonte den Moment und nicht die museale Archivierung. Sie setzte auf die Überwindung formaler und auch nationaler Grenzen 46 , um eine Vermengung unterschiedlichster künstlerischer Äußerungen zu erreichen und die Kategorisierungen in den Köpfen der Rezipienten aufzubrechen. Die Schöpfung sollte Folge eines Prozesses sein, das Ungewisse, Zufällige in sich zu vereinen und finite Konzeptionen außen vor zu lassen. Dass aber auch der Zufall ambivalent zu betrachten gewesen sei, merkt Franz Koppe an. Diese Zufälligkeit beziehe sich auf „den Unbestimmtheitsaspekt der Kunst“ und dieser wiederum sei nur verwertbar, wenn die (hier: dadaistische) Kunst an dem eigentlich „verleugnete[n] Werkcharakter“ (Koppe 2004: 188) gleichwohl partizipiere. Ähnliches gilt für die vorab zitierte Aussage Tzaras, dass Dada ‚nichts‘ bedeute, schließlich formulierten die Dadaisten immerzu den Anspruch, die bestehende bürgerliche Ordnung aufzurütteln. Dieses ‚Nichts‘ lässt sich tatsächlich auf die dadaistische Abkehr von einer antizipierten und bewussten (Be-)Deutung beziehen, jedoch nicht auf den schlussendlich performten (Un-)Sinn. Dieser ist nicht nichts, sondern soll im Zuge seiner Produktion sein. Die Sinnfreiheit schließt dieses ‚nichts‘ eben nicht ein, sondern ist allein durch die Sinnfreiheit selbst und die Referenz zu dem, was sinnfrei ist.47 Was hier geschieht, ist die Folge der ‚metasemiotischen Experimente‘, von denen Backes-Haase spricht. Indem auf der semiotischen Ebene sprachlogische Negationen vorgenommen werden, welche die Sinnfreiheit forcieren, tritt die Aufforderung an den Zuschauer, das Gehörte, Gesehene oder Gelesene mit Inhalt zu füllen in den Vordergrund. Im Dadaismus findet somit nicht nur ein semantischer, sondern auch ein produktions- und rezeptionstheoretischer Ebenenwechsel statt. Die Folge ist eine Abkehr vom bis dato Existenten und eine 46 Zur „Dimension des Internationalismus“ (Backes-Haase 1992: 270) der Dadaisten vgl. Backes-Haase 1992: 270-272. 47 Gleichwohl kann die Sinnfreiheit der dadaistischen Kunst nicht generalisierend auf diesen Ismus der Avantgarde übertragen werden. Hans Arp, jener vorher mit Kubisten und Blauen Reitern befreundete Künstler, plädierte beispielsweise für die Relevanz des Unbewussten, welches durch den Zufall in den Produktionsprozess miteinbezogen werden sollte, was eine, wenn auch andere, Form von Sinnstiftung offenbarte (vgl. Almhofer 1986: 25 ff./Bowness 1998: 153/Damus 2000: 108 ff./Echte 1992: 303 ff.).
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Herausforderung des Zuschauers. Die Tatsache der entstehenden Irritationen, Schockzustände und eben deshalb auch re-aktiven Teilhabe – wenn schon nicht ins Geschehen eingreifend, dann doch mit-erlebend und emphatisch berührt beziehungsweise synästhetisch rezipierend – spiegelte einmal mehr die zunehmende Bedeutung der Wahrnehmung wider. Die entstehende Kollision war gleichwohl abzusehen und bewegte sich zwischen nihilistisch geprägter Haltung und dem Wunsch danach, trotz der Zerstörung progressiv neue ästhetische Kunstideale formulieren zu wollen (vgl. Backes-Haase 1992: 17 ff.; 267 ff./Bowness 1998: 153/Koppe 2004: 188/Richter 1964: 96/Short 1984: 20).48 Beachtet man die Tatsache, dass zahlreiche Künstler während und nach dem Ersten Weltkrieg ob der dramatischen menschlichen Katastrophe die Kunst in ihrer bis dato existenten Form für gescheitert hielten, erscheint der nihilistische und antikünstlerische Ansatz jedoch zwangsläufig. Dieser Sprachlosigkeit kriegsgeprägter und vielfach traumatisierter Künstler folgten nach dem Zweiten Weltkrieg Künstler wie beispielsweise Paul Celan oder die Malerinnen und Maler des Informel. Für die Dadaisten bedeuteten die Anti-Kunst und die nihilistischen Tendenzen, sich von allem abzugrenzen, was vorher gewesen war. Tristan Tzara spricht 1959 von einem „clean break with everything that existed before us, to see life and everything with new eyes, with new and fresh feeling.“ (Zit. nach Berghaus 2005: 166) Weil eine Vielzahl der dadaistischen Künstler im Nachhinein der eigenen künstlerischen Produktion große Relevanz zuschrieb, bilanziert Berghaus: „The Dadaists did not embrace nihilism for its own sake, but mimed the nihilism of the bourgeoisie in order to expose the degradation of humanist values, the butchery of World War I, and the like.“ (Berghaus 2005: 167) Die Dadaisten rückten ihre antikünstlerische Haltung im Rückblick insoweit zurecht, als dass sie das produktive künstlerische Moment hervorhoben.49 Die Destruierung aller bekannten Strukturen und die darauf-
48 Vgl. dazu Balls kritische Äußerungen zum Nihilismus in: Ball 1992: 22 ff., sowie grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Dada und Nihil(ismus) in: Richter 1964: 9497. 49 Koppe kommt in diesem Zusammenhang zu einer sinnvollen Einschätzung, die auch für die Aussage wichtig ist, sich nicht außerhalb der Gesellschaft verorten zu wollen: „Sie [die Kunst; PG] steht und fällt mit der Folie gegen die sie sich abhebt. Anders könnte die Kunstpromotion des Zufalls, seine ästhetische Mystifizierung, weder in Gang kommen noch am Leben bleiben. Und in ihrer ursprünglich radikalen Form war sie ja auch kurzlebig genug. Aber wo immer und solange sie lebt, lebt sie jedenfalls nicht aus sich allein, sondern auch – in apokrypher Partizipation – von dem, wogegen sie steht. Kann doch totale Unbestimmtheit so wenig Kunst sein wie restlose Bestimmtheit.“ (Koppe, 2004: 188) Auch Friedrich Rapp erläutert: „Das Neue, das aufkommt und sich Bahn bricht, wird un-
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folgende Erneuerung wurde gleichwohl nicht relativiert. Dabei ist es spannend, die Parallelität 50 der futuristischen und dadaistischen Kunstprozesse zu fokussieren. Beiden implizit sind die künstlerische Aktionsform sowie die gesellschaftliche Bezugnahme. Vor allem der Wunsch nach einer provokativen Auseinandersetzung mit dem Publikum ließ die jeweiligen Performances vielfach im Ausnahmezustand enden. Im Sinne ihrer politischen Intentionen und der damit zusammenhängenden inhaltlichen Wirkmächtigkeit konnten sie jedoch nicht gegensätzlicher sein. Tzara grenzte die Dadaisten, neben der politischen Ausrichtung, zudem allein schon insoweit von den Futuristen ab, als dass die Malerei kein adäquates Mittel für die avantgardistischen Vorhaben sein konnte. Der Dadaismus sah sich laut Rubin keineswegs als Nachfolger von Kubismus und Futurismus, sondern bestand auf seine „Ahistorizität“ (Rubin 1978: 20). Es war auch der totale Bezug auf die Gegenwart, der sich jeglicher historischen Rückbindung oder modellhaften Vision in die Zukunft verschloss (vgl. Berghaus 2005: 166 ff./Rubin 1978: 20). Der Fortschritt in den Avantgarden war geprägt von dem Drang, gesellschaftlichen Einfluss über eine aktionistisch vermittelte Um-Ordnung zu erhalten. Daraus resultierte ein Wandel innerhalb der Kunstproduktion von der Statik hin zur Bewegung, zur Aktion, zum Prozess des Hervorbringens, der jenen vielfach angesprochenen Bruch mit den damals existenten künstlerischen Darstellungsmethoden zur Folge hatte. Bestehen bleibt deshalb in der Rückschau der Leitgedanke eines instrumentalistisch-rationalen Fortschritts, demgemäß das Vorankommen trotz der dadaistischen Betonung des Selbstzwecks dennoch zweckdienlich 51 blieb. Diese Idee äußerte sich immer schon in dem „Streben nach Publikumswirkung“ (Gomterschwellig noch durch das Alte geprägt, das bisher die fraglos akzeptierte Norm und die handlungsleitende Orientierungsgröße bildete.“ (Rapp 1992: 177) 50 Obschon wie gesagt vielfach von einer Distanzierung der Dadaisten von den Futuristen die Rede ist, muss dies differenziert betrachtet werden. So hingen im Cabaret Voltaire beispielsweise „futuristische Buchstabenplakate von Marinetti“ (Echte 1992: 309), die als stilbildende Vorreiter durchaus gewürdigt wurden. Ball erwähnte in seinen Aufzeichnungen, dass Marinetti ihm dessen Parole in Libertà zusandte und diese „reinen Buchstabenplakate“ (Ball 1992: 41) offenbar Balls Geschmack trafen. Dennoch vertrat gerade Ball grundsätzlich gegenteilige Positionen bzgl. Maschinen oder Krieg. Ball war zudem gegen die Etablierung einer eigenen Kunstrichtung, wie beispielsweise Tzara sie wünschte. Eine solche organisierte Kunstform lehnte Ball ab, jedoch weigerte er sich nicht, Beiträge der „Gründer des Expressionisme, Futurisme und Kubisme“ (Ball 1992: 98) im Cabaret Voltaire zu präsentieren (vgl. Ball 1992: 21; 27 f.; 38; 66; 91/Echte 1992: 308). 51 Zahlreiche Künstler hätten dem widersprochen, so zum Beispiel Georges Braque, der konstatierte: „Nicht der Zweck beschäftigt mich, sondern die Mittel, um ihn zu erreichen.“ (Zit. nach Neugebauer in Burger 1982: 41)
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brich 1978: 23). Die zweckorientierte Stringenz künstlerischen Arbeitens hat sich innerhalb der Kunst von höfischer Auftragskunst bis hin zu offenen Laborprozessen vielfältig verändert und doch zeigt sich, dass beispielsweise das pure l’art pour l’art-Prinzip insbesondere in der Avantgarde verkehrt wurde, um Kunst mit politischen und sozialen Anliegen52 zu verweben. Bilanzierend wird zudem deutlich: Der bis dato ‚gültige‘ und an Aristoteles angelehnte Grundgedanke eines Fortschrittsbegriffs in der Kunst, „wonach jede der einzelnen Künste ihr eigenes Zeitalter hatte, in dem sie sich zu ihrer inneren Vollendung entfaltete“ (Gombrich 1978: 99), konnte spätestens mit den Ismen der Avantgarde nicht mehr aufrechterhalten werden (vgl. Aristoteles 2001/Gombrich 1978: 23 f.; 98 ff.).
V ORANSCHREITEN INS H IER UND J ETZT Blicken wir nunmehr auf das 21. Jahrhundert, ist laut Werner Mittelstaedt von einem gesamtgesellschaftlichen Veränderungswillen nicht mehr allzu viel übrig. Deutet man den Fortschritt als die „Summe aller menschlichen Aktivitäten zur Erzielung eines besseren Zustandes, der positive Auswirkungen auf den Einzelnen und damit letztlich für die Gesellschaft beinhaltet“ (Mittelstaedt 2008: 19), scheinen die Gesellschaften heute eher zurück-, als voranzuschreiten. Mittelstaedt macht die Rückschritte an dem Mythos fest, dass „nur Wirtschaftswachstum im Zusammenspiel mit Produktion [und; PG] wissenschaftlich-technischer Innovationen den gesellschaftlichen Fortschritt garantiert“ (Mittelstaedt 2008: 23). Selbst die seit den 1990er Jahren entstandene Skepsis gegenüber diesem Mythos, welche auf kapitalistischen Gegebenheiten fuße und zunehmend zu Existenz- und Verlustängsten führe, habe ihn nicht zum Erliegen gebracht. Ein Loslösen aber mache der vermeintliche Mangel an Alternativen kaum möglich. Der Fortschrittsgedanke, der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt und positive Energien 53 freigesetzt habe, führe mittlerweile dazu, dass immer weniger Menschen das Gefühl hätten, dass sie von ebendiesem Fortschritt profitierten. Auch wenn vor allem der technische Fortschritt zur Verbesserung des Alltags und zu einer höheren Lebenserwartung beigetragen habe 52 Die „politische und soziale Zugehörigkeit aus den Bildern“ (Gombrich 1978: 97) konnte man laut Gombrich zum ersten Mal im 19. Jahrhundert schließen. Die Geschichte der Kunststile sei von da an unter den Kunsthistorikern auch „als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte zu deuten“ (Gombrich 1978: 98) gewesen (vgl. Gombrich 1978: 97 f.). 53 Gombrich stellt entgegen dieser Aussage in seinem Band Kunst und Fortschritt (1978) heraus, dass der Fortschritt im 18. und 19. Jahrhundert noch sein „beängstigendes Gegenbild, [nämlich; PG] das des Verfalls“ (Gombrich 1978: 76) besessen habe (vgl. Gombrich 1978: 76).
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(Telefon, Internet, Verkehrsmittel oder medizinische Versorgung), haben sich die damit einhergehenden Krisenherde nicht verringert (Atommüll, steigende Privatinsolvenzen, CO2-Ausstoß, Ressourcenknappheit, Hungersnöte oder Kriege). Der Autor verankert den Fortschritt selbst im Wesen der Menschen und geht davon aus, dass sie stets „nach Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen“ (Mittelstaedt 2008: 136) streben, die aus der ureigenen „immanenten Überlebensstrategie“ der Homo sapiens resultieren, welche durch die menschliche Komplexität des Gehirns gegenüber anderen Lebensformen befördert wurde. Um sich aus diesem Teufelskreis befreien zu können, verweist Mittelstaedt auf Adorno und rät „im Idealfall aus dem Bann des bestehenden Fortschritts heraustreten [zu] müssen“ (Mittelstaedt 2008: 143) (vgl. Mittelstaedt 2008: 23; 131 ff.). Für dieses ‚Heraustreten‘ kann die Kunst ein Medium sein, um sich Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen. Einen künstlerischen Ausweg sucht beispielsweise Hans-Thies Lehmann, wenn er von dem Versuch des Theaters spricht, die Gesellschaft aufzurütteln, die sich zwar „durch das fortdauernde Wirtschaftswachstum von der Not der Bedürfnisse zu befreien scheint“, jedoch „in totale Abhängigkeit von eben diesem Wachstum bzw. den politischen Mitteln, es zu sichern“ (Lehmann 2005: 467) gerät. In theatralen Praktiken erkennt Lehmann die Chance, Reflexe und Affekte der Menschen anzuregen, die durch oben genannte Abhängigkeiten und die Enttabuisierung einer medial durchwirkten und rational strukturierten, öffentlichen Gesellschaft in Vergessenheit geraten sind. Gerade weil die „ökonomische Zweckrationalität“ zum „fortschreitenden Ausfall[…] unmittelbar affektiver Reaktion“ führe, sei es an den „im weitesten Sinn ‚theatralen‘ Praktiken […], spielerisch Situationen herzustellen, in denen Affekt freigesetzt wird.“ (Lehmann 2005: 472) Es scheint, dass die bedingungslose Fortschrittsgläubigkeit beendet ist. Friedrich Rapp kommt in seiner Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsgedanken, welchen er als „Verbesserung der menschlichen Verhältnisse im Verlauf der Geschichte“ (Rapp 1992: 10) begreift, zu der Erkenntnis, dass sich mit der Idee von Fortschritt „eine historisch gewachsene, psychologisch wirkmächtige Denkfigur [verbindet; PG], deren konkreter Gehalt sich im Verein mit den jeweils geschichtlich wirksamen Ideal- und Realfaktoren zeitlich gewandelt hat – und auch in Zukunft weiter wandeln wird.“ (Rapp 1992: 7)
Die Fortschrittsidee bleibt problematisch, denn die Parameter, mit denen die Vergleichbarkeit der zu bewertenden Zustände ausgemacht werden sollen, sind alles andere als kongruent. Damit wird der Fortschritt zum „Relationsbegriff“ (Rapp 1992: 29), an den sich zahlreiche Ungewissheiten knüpfen. Schließt der Fortschritt beispielsweise Rückschritte aus? Welche Notwendigkeit besitzt er und wie, fragt Rapp, sähe ein Zustand aus, in dem sich alle Erwartungen an den Fortschritt erfüllen? Wir können den Fortschritt und das Neue im Zuge der Avantgarde als ver-
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meintliches Versprechen verstehen, das in seiner Ambiguität nicht an Spannkraft verloren hat. Dies zeigt sich in Kunst und Gesellschaft gleichermaßen. Der bereits von Voltaire54 aufgeworfene Gedanke, dass, „die Verbesserung der Verhältnisse, insbesondere in den praktischen Künsten und Wissenschaften, ein sich selbst vorantreibender Prozeß“ (Rapp 1992: 155) sei, bleibt aktuell. Auch Rapp hält an der Benjamin’schen Linie fest, dass das Vergangene nicht vom Neuen zu lösen ist, ergänzt jedoch, dass das Vergangene auf kurz oder lang zurückbleiben müsse: „Jede Veränderung ist notwendig auch ein Verlust“ (Rapp 1992: 201) und generiere nicht nur Positives. Die „Doppelgesichtigkeit von gewonnener Freiheit und verlorenem Fundament, von kreativen Möglichkeiten und destruktiver Orientierungslosigkeit“ (Rapp 1992: 209) lässt sich nicht vom Voranschreiten lösen und bleibt untrennbar mit ihr verbunden (vgl. Rapp 1992: 10 ff.; 155 f.; 201 ff.). Es ist einmal mehr Boris Groys mit dem sich neben der vorab beschriebenen ‚Umwertung der Werte‘ auch auf die Ambivalenz des Neuen verweisen lässt, ebenso wie auf dessen Alternativlosigkeit. Einerseits verbinde man, so Groys, mit „dem Streben nach Neue[m]“ (Groys 1992: 9) grundsätzlich ein utopisches Anderes, das die Zukunft einer radikalen Änderung unterziehe, andererseits sei in der Realität das Streben nach Neuem eher einer Desillusion gewichen, die gar „Depressionen“ (Groys 1992: 9) verheiße. Für die Praxen im Bereich des Sozialen und der Kunst ergebe sich daraus jedoch „eine neue Epoche, die frei ist vom Diktat des Neuen und den verschiedenen an der Zukunft orientierten utopischen und totalitären Ideologien“ (Groys 1992: 9). Eine These, die Groys insoweit wieder relativiert, wenn er davon spricht, dass die Postmoderne zwar das Neue als veraltet ausweise, durch das eigene Interesse am Traditionellen aber das Streben nach dem Neuen nicht ablegen könne, da es diesem Traditionellen schließlich angehöre. Ein „so endgültig Neues“ (Groys 1992: 10), das den Weg für alles Neue danach versperren könnte, gab es nicht und wird es wohl kaum geben. Groys konstatiert: „Das Neue ist unausweichlich, unvermeidlich, unverzichtbar. Es gibt keinen Weg, der aus dem Neuen führt, denn ein solcher Weg wäre auch neu. Es gibt keine Möglichkeit, die Regeln des Neuen zu brechen, denn ein solcher Bruch ist genau das, was die Regeln erfordern. Und in diesem Sinne ist die Forderung nach Innovation, wenn man will, die einzige Realität, die in der Kultur zum Ausdruck gebracht wird. Denn unter Realität versteht man das Unausweichliche, Unverfügbare, Unverzichtbare. Indem die Innovation unverzichtbar ist, ist sie Realität.“ (Groys 1992: 12)
54 Voltaire vertrat laut Rapp die Meinung, dass „der aus der empirisch faßbaren Entwicklung abgelesene historische Fortschritt“ im Gegensatz zur „Vorsehung[,; PG] das einheitsstiftende Prinzip“ (Rapp 1992: 161) darstelle.
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Hier finden wir einen Bezug zu der zu Beginn dieses Kapitels aufgeworfenen Theorie Schumpeters. Die der Realität inhärente Innovation ist unserem gesellschaftlichen, sozial-ökonomischen Alltag implizit. Sie eingedenk dessen kritisch zu betrachten und auf ihre Relevanz hin zu überprüfen, ist unter anderem Aufgabe der Kunst. Sie kann jene Zwangsläufigkeit durchbrechen, von der Lyotard schreibt, wenn er darauf hinweist, dass durch den Fortschrittsglauben, die Notwendigkeit für eine „Emanzipation der Menschheit“ (Lyotard 1996: 102) immerzu perpetuiert werde. Die dadurch erhoffte „Orientierung, die positiv eine neue Perspektive eröffnen würde“ (Lyotard 1996: 103) bleibe uns dennoch erhalten und führe zu einem „Unbehagen“, das sich zu einer dauerhaften Destabilisierung der „menschlichen, individuellen und sozialen Entitäten“ (Lyotard 1996: 103) einstelle. Dieses Paradox lässt sich nicht auflösen. Ein Rütteln, eine Auseinandersetzung, ein Abarbeiten daran wird mit künstlerischen Verfahren gleichwohl möglich und bildet für zeitgenössische Gesellschaftskontexte ein notwendiges Korrektiv (vgl. Groys 1992: 9 ff./ Lyotard 1996: 101 ff.). Versuchen wir nun den Fortschritt in zeitgenössischen Performances zu suchen, so ließe sich mit Schumpeter und Groys festhalten, dass es diesen Parameter nicht nicht geben kann. Weil die Innovation unsere Realität beeinflusst, kann sie bei einer künstlerischen Position nicht außen vor bleiben. Sie spiegelt diese in dem Moment, in dem sie dem Realraum begegnet. Die Kritik, dass Kunst heute im Gegensatz zu den Avantgarden weniger revoltierend daherkommt und stattdessen kontinuierliche Prozesse lediglich abbildet, anstatt diese aufzubrechen, hat möglicherweise mit der strukturellen Natur der avantgardistischen Ismen zu tun. Es zeigt sich im Nachzeichnen der Avantgarden, dass ihre Herangehensweise geprägt war von dem Versuch, neue Mittel und Wege zu erforschen, um alternative Artikulationsweisen zu entwickeln. Gleichzeitig herrschte die große Vision, die eigenen Konzepte gesamtgesellschaftlich verbreiten zu können, um Kunst und Leben ineinander zu führen. Zahlreichen zeitgenössischen Künstlern bleibt nunmehr das Dilemma dieses freigeschaufelten Weges, dessen Mittelverwendung kaum mehr zu ergänzen ist. Zwar liefern die neue Medien Inspiration für unbekannte Verknüpfungen, die Irritationszustände der Jahrhundertwende können dennoch kaum mehr wiederbelebt werden. Zeitgenössische Performances müssen sich dagegen häufig dem Vorwurf erwehren, mit nackten Menschen oder körperzentrierten Aktionen kein Aufsehen mehr erregen zu können. Gleiches gilt für etwaige Schockmomente, die Überrumpelung der Zuschauer, die Veränderung der Distanz zwischen Künstlern und Rezipienten. ‚Alles schon mal dagewesen‘, schallt es zahlreichen Künstlern aus den Rezensentenmündern entgegen – und so ist es nach den erkämpften künstlerischen Kämpfen durch die Avantgarden und seit den ‚anything goes‘-Ansätzen der Postmoderne schwerer geworden weiter nach vorne zu schreiten. Seit den 1980er Jahren scheinen zudem das politische Aufbegehren und der Drang, gesamtgesellschaftliche Umwälzungen qua Kunst zu erreichen, weniger zu werden. Jedoch: Blickt man konzen-
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triert auf diese Dynamik ist es nicht die politische Wirkmächtigkeit, die sich verändert hat, vielmehr lässt sich eine begriffliche Verschiebung erkennen. An dieser zeigt sich, dass die Einflussnahme der Kunst nicht auf politische Prozesse hin orientiert sein muss, sondern die Kunst selbst politisch wirksam wird. Im Vorwort des von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers herausgegebenen Bandes Das Politische und die Politik erklären die Autoren dahingehend: „Politisch zu handeln heißt zunächst nicht mehr und nicht weniger, als der polis gemäß zu handeln. Die Politisierung der gemeinsamen Angelegenheiten macht ihre Ordnung qua Mitsprache aller freien und gleichen Bürger verhandelbar und das gemeinsame Geschick so zu einer menschlichen Angelegenheit.“ (Bedorf/Röttgers 2010: 7)
Eine Problematik entstehe nun an jenem Punkt, an dem sich das herrschende Volk als „ortlos und anomisch“ ausweise und somit „philosophisch legitimierte Organisationsprinzipien“ (Bedorf/Röttgers 2010: 7) immer schon in Frage stelle. Die daraus folgende Abwertung der politischen Praxis zog und ziehe sich bis in das Hier und Jetzt und zeige sich beispielsweise in der Politikverdrossenheit. Deutlich wenden sich die Autoren im Folgenden gegen eine Denktradition, die Kultur und Politik auseinanderdividiert. Diese „Trennung […] ohne Schnittmengen“ ist laut Röttgers und Bedorf irreführend, suggeriere sie doch, „dass das eine ohne das andere zu haben sei“. Die so bezeichnete Trennung diverser Bereiche, neben Kultur und Politik werden auch Ökonomie oder Gesellschaft genannt, könne nun mit Hilfe der „Unterscheidung des Politischen von der Politik“, die Autoren sprechen auch von „‚politische[r] Differenz‘“ (Bedorf/Röttgers 2010: 8), ausgehebelt werden. Beide Termini seien gleichwohl allein schon semiotisch nicht voneinander zu lösen (vgl. Bedorf/Röttgers 2010: 7 f.). Bezugnehmend auf Jacques Rancière lässt sich die These etablieren, dass zwar nichts per se politisch sei, jedoch alles politisch werden könne. Dies nun hänge von der „Weise, in der etwas erscheint“ (Bedorf 2010a): 23) ab. Dort, wo die von Rancière etablierte „‚Aufteilung des Sinnlichen‘“ gestört und Handlungsschemata in Frage gestellt würden, könne sich das Politische konstituieren. Es „ereignet sich zunächst nicht als adressierte Forderung, sondern als eine ‚Intervention in das Sichtbare und Sagbare‘“ (zit. nach Bedorf 2010a): 24). Politik, so reformuliert Bedorf Rancière, stehe für die Vorgänge gemeinschaftlicher Machtorganisation, Platz- und Funktionszuordnungen und deren Legitimierung. Das Politische hingegen vollziehe sich „dann, wenn die Ordnung der Herrschaft und der Verteilungsprozesse unterbrochen und die zugrunde liegende Kontingenz dieser Ordnung und ihrer Verteilungen offengelegt wird“. Somit ereigne sich Politisches, „wo politische Ordnungen unterbrochen und neue gestiftet werden, d. h., wenn die Verteilungsregeln der Ordnung (etwa der Demokratie) als nicht selbstverständliche in Frage gestellt werden.“ (Bedorf 2010a): 25)
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Mit Alain Badiou führt Bedorf nun einen Theoretiker an, der den Rancière’schen Überlegungen zu Politik und dem Politischen nahe steht und doch differente Positionen annimmt. Badiou weist wie Rancière auf die Unterbrechung als zentrales Moment des Politischen hin, konstatiert jedoch, dass „Ereignisse des Politischen […] nichts mit Realitäten zu tun [haben], in denen so oder so gehandelt werden muss, sondern sie sind ‚Wahrheitsereignisse‘“ (Bedorf 2010a): 26), zu denen neben dem Politischen auch „Wissenschaft, Kunst und Liebe“ (Bedorf 2010 a): 27) zählen. Diese formierten „einen Bruch mit der Ordnung des Seins, die Subjekte ‚erzeugen‘, die sich ihrerseits durch die Treue zum Ereignis und seiner eine Situation definierenden Wahrheit bezeugen.“ (Bedorf 2010a): 26 f.) Die subjektive Wahrheit sei im Sinne Badious nicht fortschrittsgeschichtlich zu denken, weil sie eben immer subjektiv sei. Dennoch gestalte sie sich auch „universal, da sie in Form einer Maxime gesetzt wird, welche die Situation interpretiert und politische Handlungsoptionen eröffnet.“ Für das Politische resultiere daraus, dass es „eine egalitäre Politik in actu“ (Bedorf 2010a): 27) sei. Bei Badiou, wie auch Rancière tritt die Gleichheit als Grundlage des Politischen auf, welche „einen neuen Zuschnitt der Positionen politischer Subjekte“ einfordere. Im Gegensatz zum „Normalfall“ Politik bilde das Politische die „Unterbrechung dieses Normalfalls“ und lege dessen „Kontingenz“ (Bedorf 2010a): 27) bloß. Mit dem Politischen lassen sich Ordnungsunterbrechungen forcieren, die Kontinuität und Konsens widersprechen und damit das Prinzip der Politik, welches laut Bedorf auf Versöhnung ausgerichtet ist, unterminieren (vgl. Badiou 2003/Bedorf 2010a): 21 ff.). Mit Bedorfs Verweis auf Claude Lefort und dessen These, dass das Politische „für die doppelsinnige Voraussetzung des ‚In-Form-Setzens‘, die Sinngebung (mise-en-sens) und die Inszenierung (mise-en-scène)“ (Bedorf 2010a): 28) stehe, lässt sich hier ein enger Bezugsrahmen zur Kunst setzen. Gerade innerhalb des Kunstkontextes können wir die vorab genannte Unterbrechung als inszenatorische Intervention verstehen. Das ureigene Bestreben der performativen Kunst liegt in diesem interventionistischen und damit politischen Tun. Rancière formuliert dazu: „Damit Kunst Kunst ist, muss sie politisch sein; damit sie politisch ist, muss das Monument zweifach sprechen: als Zusammenfassung der menschlichen Anstrengung und als Zusammenfassung der Kraft des Nichtmenschlichen, die es von sich selbst trennt“ (Rancière 2008: 13).55 Wie kann eingedenk dieser Überlegungen zum Politischen als einem Bruch von Kontinuität die zeitgenössische Kunst in Augenschein genommen werden? Gehen wir davon aus, dass das Politische als ‚offener Möglichkeitsraum‘ zu begreifen ist, 55 Frank Ruda und Jan Völker verweisen allerdings darauf, Rancières Gedanken dahingehend zu verstehen, dass „[n]icht die Kunst […] politisch“ sei, sondern Kunst vielmehr „mögliche Einsatzräume des Politischen hervor[treibt].“ (Ruda/Völker 2008: 107)
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der eine ‚Kommunikation der sozialen Basiserfahrung‘ offeriert, so findet sich ein relevanter Transfer zu all jenen künstlerischen Positionen, die die politische Agitation oder das Revolutionäre nicht mehr über eine inhaltliche Ebene zur Verständigung ausbauen, sondern in ihrem Tun Stellung beziehen und diese Kommunikation mithin implizieren. Wir können eingedenk dieses Verfahrens einen elementaren Unterschied zu der Praxis der Avantgarden ausmachen. Durch die parteipolitische Aktivität zahlreicher avantgardistischer Künstler, aber auch die politiknahen Parolen und dem damit einhergehenden Versuch, eine neue Lebensordnung vorzugeben, liefen die Avantgarden Gefahr, dem Rancière’schen Verständnis der Polizei anheimzufallen. Im Gegensatz dazu operierten gerade die Avantgarden mit ereignishaften Setzungen, die spätestens mit der Neo-Avantgarde als verdichtete Beispiele für das Politische stehen konnten. Für zeitgenössische Performances bedeutet dieser Verlauf, den Moment des Politischen in der unmittelbaren Darstellung, der Aktion, der Intervention einzufassen und gegen eine Zuwendung zur Politik abzusichern. Über das Ereignishafte, Plötzliche und Zufallsgeleitete lässt sich dabei subversiv Voranschreiten und strukturellen Kontinuitäten widerständig begegnen. Das Neue gestaltet sich über das Tun, die Tätigkeit, wie Rancière sagen würde, die über das Hier und Jetzt hinaus Wegbereiter neuer Ideen und Anregungen für Denkprozesse sein kann. Es weiß um die eigene Vergänglichkeit, denn alles Neue, der Fortschritt, jede Avantgarde „end[s] in affirmation because it begins in negation.“ (Mann 1991: 80) Durch den Widerstand kann Kunst im Moment des Sich-Ereignens eine Gegenstrategie entwickeln, die, so sie denn auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist, in Räume vordringt, um dort über eine weitere Aneignung von Anderem wieder anders und wo anders auffällig zu werden. Im Moment der Anerkennung und der Durchsetzung einer Strategie, schreibt sich die ursprüngliche Subversion jedoch gleichzeitig in ihr eigenes Ende ein. Kunst setzt aber hier ein: Sie überprüft manifest gewordene Alternativen. Die Folge ist eine permanente Erschütterung. Erinnert sei an dieser Stelle an die im Unterkapitel Performance und Performativität ausgeführten Überlegungen zu Hamachers Begriff des Afformativs. Denken wir dieses als dem Performativen zugehörig, kann abermals der Gedanke aufgeworfen werden, dass gerade ästhetische Verfahren die ‚Bastardisierung‘ zwischen Afformativ und Performativ, von der Hamacher spricht, in Frage stellen können. Die ‚Intervention‘ nach Rancière, ließe sich so auf einer Ebene wie Hamachers ‚Unterbrechung‘ lesen. Obschon darstellende Kunst nun maßgeblich auf die Weisen der Dar-Stellung und Gestaltung angewiesen ist und damit auf den ersten Blick eben nicht afformativ zu sein scheint, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass ‚afformative politische Ereignisse‘ ihren Weg paradoxerweise auch über die performativen Momente in der ästhetischen Darstellung selbst suchen. An den jeweiligen Umbruchstellen zwischen Stillstand und Bewegung sind sie deshalb mitunter zu finden, die „Auslassungen“ oder „Pausen“ (Hamacher 1994: 360), welche zu jenen Irritationen führen, die für den Künstler und die Zuschauer
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wertvolle Ansätze zur Hinterfragung der eigenen alteingesessenen Produktionsmethoden oder -verfahren bieten. Eine praxisbezogene Anschlussoption bildet diesbezüglich die folgende Performance (vgl. Bedorf 2010a): 28 ff./Rancière 2008: 13 ff.).
P ERFORMATIVES T UN II: G OB S QUAD /C AMPO – B EFORE Y OUR V ERY E YES Über dem auf der Bühne56 aufgestellten Spiegelkasten preist der Text auf der digitalen Laufleiste an, was kurze Zeit später zu sehen sein wird: ECHTE KINDER. Gob Squad, das deutsch-englische Performancekollektiv wird in den kommenden beiden Stunden also nicht auf der Bühne stehen. Der feste Kern der sechs Performer, bestehend aus TheaterwissenschaftlerInnen und Creative Arts-AbsolventInnen der Unis Gießen und Nottingham-Trent, hat sich dieses Mal zurückgezogen. Weg vom öffentlichen Bühnenraum, hinein in das Regiekabuff, von dem aus in Zusammenarbeit mit dem belgischen Produktionshaus Campo die Performance entwickelt wurde und beobachtet wird. Es sei nicht immer einfach gewesen, erklärt Berit Stumpf von Gob Squad im anschließenden Publikumsgespräch, sich in dem zweijährigen Prozess dieser Performance einer völlig neuen Arbeitsweise zu unterwerfen. Before your very eyes folgt, entgegen der anderen Performances des Kollektivs seit dessen Gründung 1994, einer stark konzeptionierten und theatralen Rahmung, die keinen Raum für aktive Interaktion mit dem Zuschauern zulässt und eine Form der Narration schematisch vorgibt. Eine Narration allerdings, die sich mit den individuellen Erfahrungen der kindlichen Laien vermischt, die statt der erfahrenen Künstler die Bühne betreten. Wenig hat diese Narration mit dem sonstigen Arbeiten bei Gob Squad zu tun, in der das Improvisatorische und Zufallsgeleitete den Takt vorgibt. Dieser wiederum kommt ohne Notationen nicht aus, folgt jedoch keiner gänzlich festgelegten Struktur und ermöglicht damit allererst neue Sinnzusammenhänge. In Before your very eyes müssen diese auf anderer Ebene hervorgebracht werden. Dies geschieht, indem der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen ‚Durchsetzung einer Strategie‘ mit einer entgegengesetzten begegnet wird. Gob Squad agieren dieses Mal als tonangebende Regisseure aus dem sogenannten ‚Off‘. Dies nun ist alles andere als unkonventionell. Im Gegenteil. Der Bruch, die ‚Erschütterung‘, sie liegt nunmehr darin, dass die Mitglieder von Gob Squad gerade nie so arbeiten und ihrem künstlerischen Verständnis in dieser Produktion eine Struktur auferlegen, die nicht die ihrige ist. Die Konfrontation mit dem Fremden, mehr noch, die Begeg56 Die Performance fand am 3. Juni 2011 in der Spielstätte Juta des Düsseldorfer Forum Freies Theater statt.
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nung mit dem je singulären Widerstand der einzelnen Performer mit dieser Form des Arbeitens, sie weisen dem Kollektiv einen bis dato nicht verfolgten Weg künstlerischen Tuns. Ein Tun, das deshalb per se konfrontantiv ist, weil es sich der gängigen, bevorzugten Arbeitsweise wiedersetzt und sich damit als jene ‚inszenatorische Intervention‘ herausstellt, von der bereits die Rede war. Obschon also die Methode per se kein künstlerisches Novum darstellt, mehr noch, der Regisseur fast immer zur Grundvoraussetzung darstellender Kunstpraktiken gehört, ist das bewusste Aufgreifen dieser Regie-Position für Gob Squad das Experimentierfeld für eine neue Herausforderung ihres künstlerischen Arbeitens. Verstärkt wird diese alternative Positionierung durch die Tatsache, dass es sich um eine Künstlergruppe handelt, die damit gleichermaßen zur ‚Regie-Gruppe‘ wird. Normalerweise wird die Regie von allen Performern während des Performens selbst, also im Vollzug, vorgenommen. Das ‚Sich-Ereignen‘ ist für den Produktionsprozess des Stückes maßgeblich, die Vielstimmigkeit produktiv. In Before Your Very Eyes begeben sich Gob Squad deshalb auf dreierlei unbekannte Pfade. Der erste impliziert, dass sie die Performance von außen begleiten und gewissermaßen dirigieren müssen, der nächste, dass sie den für sie unbekannten multiplen Blick von Außen zu direkten Regieanweisungen für andere bündeln müssen, der dritte, dass diese ‚anderen‘ Kinder sind. So oblagen bereits die Ansetzungen der gemeinsamen Treffen pragmatischen Vorgaben, die durch die gesetzlichen Auflagen, die bei der Arbeit mit acht- bis 14jährigen Kindern zu berücksichtigen sind, hervorgerufen wurden. Ein anderes Grundverständnis für die Arbeit an sich, zusätzliche Erklärungen und dramaturgische Setzungen wurden daraufhin nötig. Doch genau an dieser Stelle eröffnete sich gleichzeitig das Spannungsfeld für die Zusammenarbeit. Bereits die Art Brut und das Informel, siehe auch das Kapitel Abstrakter Expressionismus/Informel, orientierten sich für die eigene zufallsgeleitete Arbeit an Erfahrungen mit Kindern, deren Spontaneität, Authentizität und Rigorosität Bruchstellen gänzlich anders anordnete. Was daraus im Jahr 2011 folgt ist ein Stück, welches die belgischen Kinder Tasja, Fons, Ramses, Robbe, Maurice, Aiko und Zoe in dem einseitig verspiegelten Kasten in den Mittelpunkt setzt. Und das lautstark. Ekstatisch und wild tanzend zur Musik von Queens Don’t stop me now springen sie hinein in das Spiegelrechteck, das ihnen die Möglichkeit gibt, sich selbst zu sehen, ihnen den Blick in den Zuschauerraum allerdings verwehrt. Die Zuschauer werden parallel dazu Zeugen der ersten und zögerlichen Tanzbewegungen der Kinder, die sie an öffentlichen Plätzen vor der Kamera zum Besten gaben. Auf Leinwänden neben dem Kasten werden diese Videos der jungen Performer unter lauten Musikklängen projiziert. Direkt drängt sich der Altersunterschied zu den hier live performenden Kindern auf. Die Videos müssen Jahre zuvor entstanden sein.
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Abbildung 3: Gob Squad/Campo: Before your very Eyes
Quelle: Phile Deprez/Gob Squad
Eine weibliche Stimme aus dem Off beginnt, den Kindern Handlungsanweisungen zu erteilen und stellt damit einhergehende Fragen. Im Verlauf des Stücks werden die Kinder durch diese Stimme zum Verkleiden aufgefordert, um sich in unterschiedliche Lebensphasen zu ‚verwandeln‘. Die Teenie-Phase inklusive Rauchen, ersten High Heels, Lippenstift und zerfetzten T-Shirts, ist eine davon. Als die OffStimme die Kinder fragt, was sie in ihrem ‚gespielten‘ Alter wohl bereits könnten, lautet eine Antwort: „Sex haben“. Als die gleiche Frage erneut gestellt wird, während die Kinder sich nun als verkleidete Mittvierziger zur oberflächlichen Stehparty treffen, wird die Antwort ergänzt: „Sex haben ohne Kinder zu bekommen“. Die Unbedarftheit wird zur Nüchternheit. Mit dieser Nüchternheit werden die Kinder gleichwohl selbst konfrontiert. Dafür sorgen die Videoaufnahmen aus den eigenen jüngeren Jahren. Zwei Jahre zuvor waren diese entstanden und Grundlage für die darauffolgende gemeinsame Arbeit der Kinder mit Gob Squad. In einer Sequenz liest Ramses vor laufender Kamera einen Liebesbrief seiner ehemaligen Freundin vor, mit der er sich damals ewige Treue geschworen hatte. „Seid ihr immer noch zusammen“, fragt der junge Ramses in die Kamera. Der vor allem optisch gereifte ältere Ramses auf der Bühne schüttelt abschätzig den Kopf. Als der weitaus kleinere und infantil wirkende Robbe im Einspieler ein Stück Knetgummi in die Kamera hält und schmunzelnd offenbart, dass er das anfangs in den Mund gesteckt habe, weil er es für Kaugummi hielt, zeigt sich jene kindliche Naivität und zugleich Ehrlichkeit, die im Prozess des Alterns immer mehr abgelegt werden wird. Der junge Robbe nun fragt den gealterten, ob er immer noch mit dem Knetgummi spiele. Die-
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ser rückt an eine im Spiegelkasten angebrachte Kamera heran und warnt sein vergangenes Ich, das mit dem Knetgummi schnell sein zu lassen, wenn er nicht uncool sein wolle. Die beiden Jahre, die zwischen dem realem und dem virtuellen Robbe liegen, verweisen auf das veränderte Verhältnis von purem So-Sein zu reflektiertem Rollenverständnis. Nichts ist mehr so, wie es mal war. Das Konzept von Gob Squad, die Kinder zwei Jahre zuvor nach ihren Fähigkeiten, Interessen und Vorlieben zu befragen, birgt Potential. In Verbindung mit den damals gestellten Fragen an ihre heutigen Ichs wird das fortschreitende Alter, die psychische und physische Veränderung explizit. Nicht nur wird der eigene Altersprozess brachial vor Augen geführt. Gerade die Unaufhaltsamkeit des Alterns, der Verlust der Unbedarftheit, Offenheit und Naivität wird den Zuschauern offenbart und verweist darauf, dass es für diese Kinder auf der Bühne kein Ausweichen vor der komplexen Gedankenwelt der Erwachsenen geben wird, der sie sich rasant entgegenbewegen. Die katastrophischen Aspekte des Älterwerdens entpuppen sich als zentrales Thema dieser Performance. Wenn die Off-Stimme Zoe in ihrer Rolle als 45-Jährige befragt, was sie denn nun, mit 45 Lebensjahren, könne, ist ihre Antwort: „So zu tun“. So zu tun, als ob einem etwas Spaß macht, obwohl es das nicht tut. So zu tun, als ob einem etwas schmeckt, obwohl es nicht schmeckt oder nett zu jemandem zu sein, obwohl man ihn nicht nett findet. Lügen also, oder abgeschwächt: Sein Verhalten den äußeren Rahmenbedingungen anpassen ohne der eigenen intrinsischen Motivation und Wahrhaftigkeit zu folgen. Die mit dem Altern einhergehende Möglichkeit, sich selbst zu korrumpieren, schwebt den ganzen Abend über den Anwesenden und verdeutlicht, wie sehr das spielerische ‚Verkleiden‘ der Kinder im sozialen Rollenalltag zur Gewohnheit geworden ist. In seinen Thesen zum Fortschritt verweist Mittelstaedt darauf, dass der Ausgangspunkt für diesen in der Verbesserung der Lebensbedingungen und des eigenen Status’ liege. Die damit einhergehende Untreue sich selbst gegenüber, so erscheint es im Anschluss an die Performance, wird dabei zum gängigen Prinzip. Before your very eyes ist eng mit den Kindern und ihrer Sicht auf die Erwachsenenwelt verbunden. Zahlreiche Workshops haben im Probenverlauf stattgefunden, viele Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse wurden ausgetauscht, die vorab skizzierten Fragen von den Kindern selbst vorgegeben, um ein Skript zu erstellen, das allen Beteiligten Rechnung trägt. Berit Stumpf war dabei besonders von den Diskussionen über die Schlussszene überrascht, in der die Kinder ihr eigenes Sterben im Alter darstellen sollten.
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Abbildung 4: Gob Squad/Campo: Before your very Eyes
Quelle: Phile Deprez/Gob Squad
Nicht Tragik und Traurigkeit überkam die jungen Performer, vielmehr entwickelten sie humorvolle Vorstellungen und Momentaufnahmen, welche sich auf der Bühne am Ende des Stücks widerspiegeln. Mit weißem Puder auf Gesicht und Haar und in seniorengleicher Montur fallen die jungen Performer nach und nach tot um, obschon sie doch eigentlich dabei waren, sich mit Tanzbewegungen zu Edith Piafs Non, je ne regrette rien auf den Beinen zu halten. Wie versiert der Blick der Kinder auf die Erwachsenen ist, wird in zahlreichen Szenen deutlich. Die Gesellschaft, so zeigt sich hier, scheint nichts Revolutionäres mehr in petto zu haben, stattdessen dominieren Vorhersehbarkeit und Redundanz. Was in dem Stück fehlt, ist die Interaktion mit dem Publikum, was sich dagegen aufdrängt, ist die Narrationsebene, die der Improvisation ein Stück weit den Atem nimmt. Und doch ist die Performativität dieser Arbeit durch die Unmittelbarkeit, die Intermedialität und den Prozess spürbar. Die Art und Weise, wie es zu dem schlussendlichen Verlauf der Performance gekommen ist, ist gleichwohl ohne die intensive und lange Entwicklungsphase für die Arbeit zwischen Erwachsenen und Kindern nicht vorstellbar. Berit Stumpf erkennt darin die zu Beginn beschriebene Schwierigkeit für die Gob Squad-Performer selbst, da das Kollektiv in der ungewohnten Rolle der ‚außenstehenden‘ Regiegruppe häufiger mit Konflikten konfrontiert wurde, als dies in den Jahren zuvor der Fall gewesen ist. Ganz bewusst fehlt den Arbeiten und dem Arbeiten der Performer ein Korrektiv von außen. Dieses in dieser Performance neu zu bestimmen, gestaltete sich für Gob Squad entgegen ihres eigentlichen Arbeitskontinuums somit komplexer als gedacht. Was anfangs als fixe Idee daherkam,
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wurde im spontanen und unvorhersehbaren Arbeitsprozess mit den Kindern zur Umordnung bisheriger Verfahrensweisen der Künstler. Darin lag das produktive Moment. Für die Zuschauer wiederum bleibt am Ende der Performance die Erkenntnis, dass das Alter Offenheit und Naivität den sozialen Ordnungsprinzipien unterordnet und Spontaneität und Unvorhersehbarkeit eher als Gefahr begreift. Revolution now?57 Wohl kaum. Und dennoch stellt die Intervention von den jungen Laienperformern und Gob Squad das soziale Erwachsenen-Ich auf den Prüfstand und bietet den Zuschauern an, Teil dieser Probe zu werden. Das Voranschreiten offenbart sich eingedenk dessen in dieser Performance in zweierlei Hinsicht. Zum einen im Bruch mit den gewohnten arbeitsmethodischen Kontinuitäten, indem, wie erwähnt, Gob Squad nicht nur als außenstehendes RegieKollektiv aktiv werden, sondern erstmalig auch eine Zusammenarbeit mit Kindern über einen Zeitraum von zwei Jahren eingehen. Zum anderen über jene inhaltlichen Fragestellungen an das Alter, in denen deutlich wird, dass dem Fortschreiten im Verlauf der Zeit auf krude Weise immer stärker Einhalt geboten werden soll und das ‚Verkleiden‘ sich nicht nur auf den Körper, sondern auch das gesamte Handlungssprektrum übertragen lässt. Der Tod als katastrophisches Ende dieses Fortschritts wird jedoch von den jungen Performern als viel weniger grausam künstlerisch umgesetzt, als Gob Squad es möglicherweise selbst erarbeitet hätten. Die menschliche Zerstörung als positive zu denken – ohne die Sicht der Kinder und Jugendlichen wäre dies wohl kaum zu einem Abschlussbild des Stücks geworden, das den Zuschauern am Ende im Kopf geblieben wäre.
57 Revolution now! Eine Inszenierung unter realen Bedingungen war der Titel einer Produktion von Gob Squad, die am 30. Juni 2010 im Kölner Schauspielhaus stattfand und in der es um den Versuch einer mit dem Publikum entwickelten Revolutionierung der bestehenden Verhältnisse ging.
Utopie/Gegenwärtigkeit
P ERFORMATIVES T UN I: SIGNA – D IE H ADES -F RAKTUR 1 ‚Man habe zu warten‘, so lassen sich die englischen Silben und Handbewegungen des Kartenabreißers deuten, während die anderen Besucher schon einmal hineindürfen in das Hotel Timp, eine früher legendäre, mittlerweile jedoch geschlossene Travestiebar in der Kölner Altstadt, um die sich stets boulevardeske Geschichten rankten. Wenn auch nicht nackt, so stehen die Akteure der Performance Die HadesFraktur von SIGNA2 im Mai 2009 doch in ‚Abramović/Ulay-Manier‘3 im Türrahmen voreinander, darauf wartend, dass sich der nächste Schwung Besucher an ihnen vorbeizwängt. Erst danach erhält man Einlass in den schummrig ausgeleuchteten Nachtclub, dessen Inhaber sich als Hades (Arthur Köstler) und Persephone (Signa Köstler) vorstellen, und der mit der Atmosphäre einer verruchten Unterwelt aufwartet, in der sich die als tot bezeichneten Bardamen knapp bekleidet und ohne ein Lächeln an Stangen oder am sitzenden Publikum entlangräkeln. Persephone erklärt die Regeln innerhalb dieser Räumlichkeiten in herrischer Drastik. Es gibt 1
Der im folgenden ersten Unterkapitel formulierte Text ist die erweiterte und überarbeitete Fassung meines Aufsatzes Gelebter Ou-Topos. Leiblichkeit, Macht und Utopie in der Performance, der 2013 in dem Band Choreographie – Medien – Gender erschienen ist (vgl. Geldmacher 2013: 203-214).
2
SIGNA sind ein dänisch-österreichisches Performancekollektiv, bestehend aus dem Ehepaar Signa und Arthur Köstler sowie Thomas Bo Nilsson.
3
Erinnert sei an die Performance Imponderabilia (1977) anlässlich einer Ausstellungseröffnung in der Galleria d’Arte Moderna in Bologna. Marina Abramović und ihr damaliger Partner Ulay standen dabei an zwei eng aneinanderstehen Betonstelen am Haupteingang. Um einzutreten, mussten die Besucher sich durch den schmalen Spalt zwischen den beiden hindurchschlängeln und spontan die Entscheidung treffen, wem sie dabei auf Augenhöhe begegnen wollten (vgl. http://www.medienkunstnetz.de/werke/imponderabilia/, Stand: 12.04.2014).
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Pflaumenschnaps für alle und nach und nach werden die Weltlichen von einem der mit mythischem Namen versehenen Gruppenleiter ausgewählt und einer von sieben Gruppen à sechs bis acht Personen zugeteilt. Fortan gilt es, durch das Haus zu ziehen und in der Gruppe Punkte zu sammeln. Sieger neben der Gruppe mit den meisten Punkten wird am Ende auch eine der mädchenhaften Bardamen sein. Jener von der Gruppe Auserwählten winkt eine Nacht in der Realität, vor den Toren des Timps und damit fernab der trostlosen Unterwelt, für die der Hades steht. Das Punktesammeln selbst besteht aus rigoroser Demütigung der sieben Frauen, die für ihren Wunsch, die bedrückenden Räume zu verlassen, zu allem bereit zu sein scheinen. „Zutreten“, brüllt Gruppenleiter Paris eine etwas ältere Besucherin an, „feste!“. Die so Angebrüllte stockt, erhebt den Fuß, holt aus, und bremst doch kurz vor dem eigentlichen Tritt ab. Vor ihr kniet eines der Barmädchen, Ivana, und streckt ihr das Gesäß entgegen. Ihr Blick ist leer, sie wirkt abwesend, als stünde sie unter Drogen. Abbildung 5: SIGNA: Die Hades-Fraktur
Quelle: Erich Goldmann/SIGNA
Derweil wird die Besucherin immer heftiger von Paris angegangen; die anderen Gruppenmitglieder schauen peinlich berührt zur Seite. Paris schreit sie weiter lautstark an, sie solle an die Gruppe denken und ihrer Verantwortung gerecht werden. Dann tritt sie zu. Mehrfach. Von Mal zu Mal fester. Im nächsten Raum wird ein Gruppenteilnehmer aufgefordert, sich von Natalie, einem weiteren Mädchen, ausziehen zu lassen. Nach längerem Zögern, aber unter den auch hier lautstarken Drohsalven von Gruppenleiter Aias, gibt er nach. Natalie
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umwirbt den Mann, sie schmiegt sich an ihn, versucht ihn von sich zu überzeugen, legt seine Hände auf ihre Brüste. Schnell wird innerhalb der fünfstündigen Performance klar, dass dieser Ort, diese fiktive Welt mitsamt der Spiel-‚Figuren‘ in seiner Fiktion nicht zu greifen ist. Er ist kaum zu beschreiben, wird er doch so dicht und erfahrbar, dass das offenbar Konstruierte einem zwar stetig und fortwährend vor Augen tritt, jedoch keineswegs dazu beiträgt, Klarheit in die changierende Relation von Realität und Fiktion zu bringen. Erniedrigung und Diffamierung gehören, sofern es die Mädchen, die Führer oder Hades, Minos (ein weiterer Performer mit erweiterten Rechten) und Persephone betrifft, zum ‚Schau-Spiel‘ und werden seitens der Zuschauer anfangs noch billigend in Kauf genommen. Sobald jedoch eines der Gruppenmitglieder zu einer erniedrigenden oder unangenehmen Handlung aufgefordert wird, zerbricht die zwar spontane, jedoch bestimmbare ‚Choreographie‘. Macht und Abhängigkeit werden auf Seiten der Rezipienten real erfahrbar, obschon die fiktionale Rahmung mitschwingt. Dieses Dilemma nun führt zu der Grenz(en)losigkeit, die die Atmosphäre mit Spannung und Fragezeichen auflädt. Handelte es sich um einen tatsächlich realen Ordnungsrahmen, in dem Rollenverteilungen oder Hierarchien qua Regelwerk (ob nun juristische Vorgaben oder beispielsweise strukturelle innerhalb der Familie) klar wären, dann würde die Unsicherheit sich auf einer anderen Ebene abspielen. Da jedoch das ‚Regelwerk‘ in der Hades-Fraktur nicht nur neu für die Teilnehmer, sondern auch von der SIGNA-eigenen und nicht feststellbaren Mischung aus Fiktion und Realität durchzogen ist, lassen sich Konsequenzen nicht ausmachen und das eigene Handeln und damit einhergehende Sicherheiten unsicher werden. Diese Ebene des ‚Nicht-Wissens‘ verstärkt einmal mehr die Abhängigkeit und forciert den Kreislauf. Dabei werden Grenzen überschritten. Können wir bei dieser Grenzüberschreitung, diesem Übergehen gesellschaftlicher Kodizes nunmehr einen utopischen gesellschaftlichen Entwurf ausmachen, der erstrebenswert erscheint oder umgekehrt, der so abstoßend ist, dass er dystopische Züge annimmt? Obschon die Zigarettenstummel auf der Treppe beim Aufstieg in die erste Etage noch von Inszenierung zeugen, ebenso wie der Raum des Dionysos, der mit schwarzem Satin-Bett, rotem Licht und Weinkelchen nur so strotzt vor Trivialität, wird spätestens das beklemmende Gefühl beim Betreten der gleichermaßen intentional angelegten Zimmer der Mädchen, die binnen Sekunden den Eindruck von Verwahrlosung, Gefangenschaft oder gar Missbrauch suggerieren, zur Fragestellung. Wie schafft es beispielsweise einer dieser Räume mit den kindlich anmutenden Accessoires, der mit Pferden versehenen Decke, dem dreckigen Boden, wie schafft er es, dass man mit einem Mal die Distanz vollends aus den Augen verliert? Wie also funktioniert diese offenbar choreographierte Parallelwelt? Und warum lassen die Besucher es überhaupt zu, dass die klare Trennung im Laufe der Zeit porös wird?
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Abbildung 6: SIGNA: Die Hades-Fraktur
Quelle: Erich Goldmann/SIGNA
Die Überlegung, in dieser Parallel-Welt einen utopischen Raum oder Formen des Utopischen aufzusuchen, möchte ich gerne vertiefen. Einen möglichen Einstieg in die Suche liefert der Begriff der künstlerischen ‚Micro-Utopie‘. Nicholas Bourriaud bezeichnet mit „micro-utopias“ (Bourriaud 2002: 30) jene Utopien, deren Grundlagen in den Sozialutopien und der Revolution liegen, die aber heutzutage nicht mehr gesellschaftsübergreifend, sondern in überschaubaren, kleinen Konstellationen des Miteinanders stattfinden. Carol Becker spricht ebenfalls davon, dass sich gesellschaftliche Veränderungen für zahlreiche Künstler besonders in Feldern ergeben, die als „microutopic communities“ beschrieben werden könnten. Gemeint sind damit „small locations of utopian interaction“, durch die Zuschauer dazu aufgefordert werden, mit dem Künstler „in unexpected acts with an unspecified result“ gemeinsame Erfahrungen zu machen, die sich jeglicher Vorformulierung entziehen und die uns in einen Zustand versetzen, der daran erinnert, dass „the physical world […] in the incorporeal – in ideas“ (Becker 2012: 68) entwickelt werde. Das utopische Moment findet sich infolgedessen in der Kreation möglicher Realitäten. Eine solche Micro-Utopie ließe sich auf das künstlerische Geschehen im Timp übertragen. Was dort im Grunde genommen unmittelbar nachdem die Besucher den Raum betreten haben entsteht, ist eine schlagartige Verdichtung der Atmosphäre 4, die einem auf Schritt und Tritt folgt und der man sich nicht entziehen kann. Man wird Teil des
4
Siehe dazu das Kapitel Künstler, Zuschauer und (kollektive) Wahrnehmung.
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Geschehens und direkt miteinbezogen. Unwohlsein ob der Ungewissheit, was einen erwartet und gleichwohl Aufgeregtheit vereinnahmen die Sinne, lassen das unangenehme Gefühl körperlich spürbar werden. Dass diese Atmosphäre durch die Gruppeneinteilung und den damit forcierten Gruppendruck, aber vor allem auch durch das militante Regelwerk strukturiert, besser, initiiert wird, scheint der notwendige Gegenpol zu sein, um das fiktional-reale Geflecht wirksam und durchführbar werden zu lassen. Atmosphären zu schaffen bedeutet laut Böhme nämlich, sie mit Macht in Verbindung zu bringen: „Diese Macht [um das Wissen, wie man Atmosphären macht; PG] bedient sich weder physischer Gewalt noch befehlender Rede. Sie greift bei der Befindlichkeit des Menschen an, sie wirkt aufs Gemüt, sie manipuliert die Stimmung, sie evoziert Emotionen.“ (Böhme 1995: 39) SIGNA machen in ihrer Performance eben davon Gebrauch. Als Teilnehmer der Performance ist sich dieser schwer zu entziehen, gleichwohl hat man ‚Eintritt‘ bezahlt, befindet sich in einer vom Schauspiel Köln ausgeschriebenen Performance und fühlt sich ob der institutionellen Sicherheit im Rücken gewissermaßen auch (rechtlich) abgesichert. Eine Alternative zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwurf wird in diesem mikro-utopischen Raum erlebbar (vgl. Becker 2012: 68/Böhme 1995: 39/Bourriaud 2002: 30). Dieser Raum nun, der im Zuge der Performance auch durch die Zuschauer selbst geschaffen und aufrechterhalten wird, weist auf einen Ort hin, der zwar Regeln vorgibt, diese im Zuge der stark sexualisierten und alkoholisierten Stimmung und dem Spiel mit dem Regelbruch allerdings gleichzeitig in Frage stellt. Durch das Verlassen der realen Ordnung und dem Eintritt in einen von alternativen Strukturen durchzogenen Raum, wird dieser blitzhaft zum Ou-Topos. Er ist nicht manifestierbar, lässt sich nicht erklären und bietet zuallererst die Option, sich selbst darin zu verlieren, sich auszuprobieren, selber eine Rolle zu spielen, die man ‚da draußen‘ niemals wahrnehmen würde. Gleichwohl führt die Rigidität der Vorgaben dazu, an jener auf den ersten Blick utopischen Ordnung zu rütteln, um sie auf ihre Echtheit hin zu überprüfen. Die Atmosphäre besticht dabei durch einen permanenten Grad der Verruchtheit, des Abnormen. Dieser Grad aber ist es, der die Zuschauer die Unwägbarkeit der Performance hinterfragen lässt: Wie weit kann ich gehen und wie weit gehen die anderen? Diese Auseinandersetzung mit real erfahrbarer Macht und Abhängigkeit in einer fiktionalen Rahmung führt zu der Grenzenlosigkeit, die die Atmosphäre mit Spannung und Fragezeichen auflädt. Das eigene Handeln und die damit einhergehenden Sicherheiten werden prekär und doch potenziert die Ebene des ‚Nicht-Wissens‘ die Auseinandersetzung mit diesen. Eine solche Ambivalenz wird vor allem von den weiblichen Performern angetrieben und aufrechterhalten. Sie werden als wert- und nutzlos vorgestellt, seien zutiefst zu verachten. Die Diskriminierung durch die anderen Performer der HadesFraktur ist allgegenwärtig. Sie sind Objekte, dienen als Spieleinsatz, sind dazu ver-
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dammt, sich den Besuchern so sehr anzudienen, dass diese ihnen am Ende eine Nacht in der Freiheit ermöglichen. Dafür tun sie fast alles. Sie lassen sich von den Zuschauern an der Scham oder den Brüsten berühren, ausziehen, schlagen oder küssen. Intimitäten, Anfeindungen – es scheint nichts zu geben, was sie nicht erdulden müssen. Wie bereits beschrieben minimiert sich im Zuge der Gruppendynamik die Hemmschwelle, um ‚für die Gruppe‘, aber auch ‚für das Mädchen‘, handgreiflich zu werden. Es sind dennoch immer auch die Mädchen selbst, die Forderungen stellen und an bis dato existenten klaren Vorstellungen von körperlicher Unversehrtheit und Achtung dem Anderen gegenüber rütteln. Das gewichtigste Prinzip dieser Arbeit von SIGNA ist das der Macht, der Angst, der Abhängigkeit und Demütigung. Grundlegend dafür ist die Etablierung des Settings und der Rollen, die die Performer annehmen, die sie aber subjektiv weiterentwickeln. SIGNA geben in ihren Arbeitsprozessen zwar stets das Konzept vor und ordnen Charaktere Personen zu, letzteren aber überlassen sie dann die gesamte Weiterentwicklung ihres neuen Alter Egos, das die Performer wiederum über Wochen leben. Es entstehen Eigendynamiken, die Performer und Zuschauer gleichermaßen an- und umtreiben – all dies nun auf einer realen Ebene.5
M OMENTE
DES
U TOPISCHEN
Um die SIGNA’schen Performances mit der Utopie als weiterem Parameter des Avantgarden in Verbindung bringen zu können, ist eine Schärfung des UtopieBegriffs6 notwendig. Wie in der Einleitung vorangestellt, erweist sich die Utopie für die Künste als Option für eine Vergegenwärtigung des Noch-nicht-Seienden. Nehmen wir die Überlegungen von Münz-Koenen noch einmal auf, die davon spricht, dass die Avantgarden „die fiktiven Lebensformen der Zukunft ins Präsens holten“ (Münz-Koenen 2009: 352) und deshalb als utopisch zu bezeichnen sind, so ist in diesem Kapitel der Frage nachzugehen, wie diese These als gelebte Praxis zu konkretisieren ist. Blicken wir zuerst ganz grundsätzlich auf die Utopie, so zeigt sich, dass sich der Begriff nicht ohne die Gegenwärtigkeit denken lässt. In seinem Vorwort zu Peter R. Werders Band Utopien der Gegenwart (2009) greift Georg Kohler dieses konträre Verhältnis von Utopie und Gegenwärtigkeit auf. Darin verdeutlicht 5 6
Vgl. dazu auch die letzten beiden Unterkapitel zum Parameter Künstler/Kollektiv. Einen dezidierten Überblick über den Stand der Utopieforschung verschafft Andreas Heyer in seinem gleichnamigen Band, vgl. Heyer 2008. Eine aktuelle historische Betrachtung der Utopie bieten Thomas Schölderles Schriften Geschichte der Utopie (2012) und Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse im Begriff (2011).
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er, dass „die Zukunft heute immer auch schon Gegenwart [ist; PG]; gegenwärtige Zukunft, nicht mehr zukünftige Gegenwart.“ (Kohler 2009: 9) Der Grund dafür sei in der „‚Risikogesellschaft‘“ auszumachen, in der wir leben und in der wir mit unserem Handeln zu unserer größten Gefahr werden: „Wir sind und bleiben uns selber in die Hände gefallen.“ Dadurch werde jenes Vertrauen in die Utopien erschüttert, das uns laut Kohler in der Vergangenheit die Zukunft noch als von der jetzigen Gegenwart Befreite vorstellbar gemacht habe. Weil „Präsens und Futur […] sich mehr und mehr zu einem Zeit-Raum [verschweissen]“ (Kohler 2009: 10), müsse die Utopie diesem Wandel angepasst werden. Denn was tatsächlich bleibe sei „das ‚Zukunftstier‘ Mensch“ (Kohler 2009: 11), welches Zukunft in die Gegenwart trage und somit das Zukünftige nicht auslösche. Die Verbindung von Gegenwärtigkeit und Utopischem scheint somit heute weitaus enger verbunden als zuvor, muss jedoch auch andernorts gesucht werden, da der „verheissungsvolle[r] Zeitbruch zwischen Jetzt und Noch-Nicht“ (Kohler 2009: 10), dem das Utopische vormals allererst bedurfte, heute nicht mehr vorhanden sei. In den performativen Künsten wird genau das zum richtungsweisenden Moment. Utopische Konstellationen werden nicht nur thematisiert, sondern ästhetisch realisiert, ereignen sich in der Gegenwart, verweisen gleichwohl auf ein Anderes, wie anhand der begehbaren PerformanceInstallationen SIGNAs sichtbar wird. Was aber hat es mit dem Utopischen ganz grundsätzlich auf sich (vgl. Kohler 2009: 9 ff.)? Als Thomas Morus 1516 mit Utopia ein Werk schuf, das sich mit einer fernen Gesellschaft auseinandersetzte, die neben ihrer demokratischen Verfasstheit den Gemeinschaftsbesitz etablierte und somit die Gleichheit in den Vordergrund der eigenen Staats- und Lebensform stellte, da war neben einer Kritik Morus’ an den damaligen gesellschaftlichen Umständen gleichzeitig die Sozialutopie entstanden. Die ideale Gesellschaft, die der Autor in seinen lateinischen Ausführungen konstituierte, formierte sich als Republik, deren Mitglieder kein Privateigentum besaßen, sondern stattdessen kostenlos die gemeinschaftlich hergestellten Produkte erhielten, die sie benötigten. Schule und Arbeit gehörten zu den essentiellen Pflichten der Utopier, wobei großen Wert auf die künstlerische und wissenschaftliche Ausbildung der Bürger gelegt wurde (vgl. Morus 1992: XX). Die Tatsache, dass die neue Gesellschaftsform Morus’ einer patriarchalen und rationalen Verfassung unterliegen sollte weist darauf hin, dass Morus’ Idee unter heutigen Vorzeichen keineswegs einer nur positiv verstandenen utopischen Anschauung unterliegt. Peter R. Werder verdeutlicht, dass Utopia dezidiert an Männer gerichtet war und „Frauen und Indios“ (Werder 2009: 16) ausschloss. Dennoch waren die Thesen zur Säkularisation und die grundsätzliche Toleranz gegenüber Religionen und Minderheiten eine utopische Idee, deren Realisation heute, im 21. Jahrhundert, angestrebt wird. Utopia setze sich nach Werder aus zwei Deutungsmöglichkeiten zusammen. So sei der Nicht-Ort, der Ou-Topos, in dem Begriff vorhanden, andererseits aber auch der Eutopos, der schönste Ort.
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Morus wird in literarischer Hinsicht gemeinhin als Urheber des UtopieGedankens genannt, jedoch ging bereits Platon in der Politea von circa 375 v. Chr. der Entwicklung eines Staatsgedankens nach, der ‚ideal‘ sein und sich im Zuge der Polis realisieren sollte. Mit den Beschreibungen über Atlantis, die Platon dann um 360 v. Chr. in Timaios und Kritias darlegte, widmete der Philosoph sich dem weiteren Konzept des Nicht-Ortes, dem Ou-Topos. Obschon Platons Ausführungen erst im Nachhinein der Utopie zugeordnet werden konnten, da es den Begriff zu seiner Zeit noch nicht gab, gilt Platon als eigentlicher Entdecker der Utopie. Den Unterschied zwischen Morus und Platon erkennt Werder in der Zielsetzung. Habe Platon die Politeia als normierende „Idealstruktur“ formuliert, sei es Morus um ein „Gedankenexperiment“ (Werder 2009: 23) gegangen. Bei Platon sei zudem die zeitliche und räumliche Verschiebung irrelevant gewesen, da erstere im Sinne eines Zukunftsdenkens noch gar nicht ausgeprägt gewesen sei. In Anlehnung an Werder lassen sich innerhalb der Utopie zwei Tendenzen erkennen. Einerseits die „Technologisierung der Raumutopie“, anderseits der Versuch, im Zuge der Utopie universelle Verbesserungen auf politischer, gesellschaftlicher, aber auch individueller Ebene anzustreben. Ende des 17. Jahrhunderts sei darüber hinaus deutlich geworden, dass die Betrachtung der Utopie sich von dem „Nicht-Hier ins Noch-Nicht“ (Werder 2009: 17) verschob und somit die räumliche Fokussierung durch eine zeitliche ersetzt wurde.7 Mit dem Cyberspace des 21. Jahrhunderts, so Werder weiter, sei diese Bewegung erneut umgekehrt worden. Doch war dem tatsächlich so? Zu Recht weist Werder darauf hin, dass auf Grund der Globalisierung die der Utopie inhärente Gesellschaftskritik abgeschwächt wurde, da die globale Vernetzung zu einer Vielfalt von Bereichen führte, die beispielsweise durch das Internet heute sichtbar werde, weshalb auch Kritik oder Protest an vielen Stellen unmittelbar als Reaktion folgen könne. Eine „einheitliche Alternative“ der Aufruhr sei somit obsolet, vielmehr komme es bei der Utopie aktuell zur Fokussierung von Teilbereichen.8 Aber auch diese sehe sich geänderten 7
Die These Werders ist meines Erachtens fragwürdig, weil Utopie als ureigenes Moment immer auch eine Position des Zukünftigen in sich trägt und deshalb kaum von einer Form der Zeitlichkeit zu trennen ist. Gleichwohl ist in dieser Hinsicht von kategorischen Überlegungen, wie sie sich beispielsweise bei Martin Bondeli finden, abzusehen, in denen davon die Rede ist, dass Utopie „nichts anderes als die Zukunft“ (Bondeli 2007: 18) sein kann. Gerade die von Beat Sitter-Liver erwähnten utopischen Augenblicke würden dabei fatalerweise außen vor gelassen (vgl. Sitter-Liver 2007: XVII).
8
Vgl. hierzu: Sitter-Liver 2007: XX und den von ihm zitierten Konrad Hilpert, der ebenfalls davon spreche, dass es einen utopischen „‚Gesamtentwurf‘“ (zit. nach Sitter-Liver 2007: XX) nicht mehr gebe. Siehe auch Bondeli, der die Subversivität „‚kleiner Utopien‘“ (Bondeli 2007: 31) hervorhebt (vgl. Bondeli 2007: 31).
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Bedingungen ausgesetzt, „nämlich [der] Gleichzeitigkeit der Kritik und des Kritisierten in ein und demselben System“ (Werder 2009: 18). Viel schneller müsse heute auf Problemstellungen eingegangen werden, viel umfangreicher seien die Möglichkeiten sich über Pro und Contra zu informieren. Dem ist zuzustimmen, aber sind diese Gedanken zu Globalisierung oder Netzkulturen nicht insbesondere dadurch geprägt, dass es ein Überlappen von Raum und Zeit gibt? Basiert das Spannungsmoment heutiger Überlegungen nicht viel eher auf Hermann Minkowskis Kontinuum der Raum-Zeit? Meines Erachtens ist das Ineinandergreifen von Raum und Zeit eine der Säulen für eine neuerliche Betrachtung der Utopie. Gehen wir also von einer Durchmengung dieser Ebenen aus, zeigen sich nicht nur aus soziopolitischer, sondern vor allem auch aus künstlerischer Sicht Wege, Utopien produktiv zu denken.9 Doch zuerst noch einmal zurück zu Morus. Mit dem Roman des Briten, so verdeutlicht Werder, habe die Utopie sich allererst formiert. Im Zuge dessen nahm Morus eine kritische Position zu Staat und gesellschaftlicher Ordnung ein und positionierte die Utopie als Ausdrucksmittel einer Kritik. Für eine grundlegende Charakterisierung der Utopie zieht Werder Richard Saage heran, der zusammenfasst, dass Utopien „klar abgrenzbar als alternative Lösung“ fungieren und dabei eng mit dem „aktuellen Zustand“, der Wirklichkeit, verwoben seien. Zudem seien sie „lösungs- und sachorientiert“, indem sie eine „alternative Lösung“ (zit. nach Werder 2009: 24) als mögliche Option offerierten. Diese Zuordnung ist laut Werder bis zum 19. Jahrhundert auf fast alle Utopien anwendbar gewesen. Dann aber hätten neue Formen wie „Science Fiction, […] Film oder Internet“ (Werder 2009: 25) zur Frage einer neuen definitorischen Eingrenzung geführt. Hinzu sei auch die durch „Marx, Bloch, Adorno oder Marcuse“ (Werder 2009: 28) angestoßene „MetaBedeutung“ (Werder 2009: 27) der Utopie gekommen. Die politik- oder sozialphilosophischen Texte dieser Autoren haben die Utopie als literarische Form um den Aspekt des Utopischen ergänzt, in dem „die Utopie an sich, das utopische Fühlen und Denken an sich – das eigentliche Wesen der Utopie“ (Werder 2009: 28) – Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung wurde (vgl. Werder 2009: 17 ff./ Schölderle 2012: 54/Zinsmeister 2005: 9). Es lässt sich feststellen, dass bei Platon oder Thomas Morus diese Auseinandersetzung aus einer „Erfahrung der Ungerechtigkeit der eigenen Gesellschaft“ heraus entwickelt wurde. Im Laufe der Zeit hat sich das geändert und so ist die Utopie, legen wir Corinna Mieths Überlegungen zugrunde, „von Bacon bis zum Marxismus“ 9
Die von Beginn dieses Kapitels Utopie/Gegenwärtigkeit bis hierher formulierten Überlegungen finden sich, wie bereits vorab erwähnt, in gekürzter Form in meinem Aufsatz: Gelebter Ou-Topos. Leiblichkeit, Macht und Utopie in der Performance (vgl. Geldmacher 2013).
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durch das Erreichen eines „materiellen Wohlstand[s]“ (Mieth 2007: 84) geprägt gewesen. Darauf aber folgten die literarischen Dystopie-Konzepte beispielsweise von Aldous Huxley oder George Orwell, „die nicht nur Kritik am Verwirklichungsversuch der Utopie im Marxismus, sondern auch Kritik an den utopischen Idealen selbst äussern.“ (Mieth 2007: 85) Die Gefahr zum Totalitären stand dabei im Vordergrund (vgl. Mieth 2007: 84 f.). Folgt man Thomas Schölderle, lässt sich der Utopie-Begriff in einen klassischen, totalismustheoretischen und sozialpsychologischen unterteilen. Der ‚klassische‘ meint die literarische Auseinandersetzung mit dem Idealstaat, beginnend, so verdeutlicht auch Annett Zinsmeister in ihrer fast identischen Aufteilung, mit Morus’ Schrift. Der totalismustheoretische Utopie-Begriff, den Zinsmeister nur leicht verändert „totalitär“ nennt, beinhaltet bei beiden Autoren die Rückführung auf Karl Popper, dessen Kritik an Platons Staatstheorie darin gründete, dass sich in dieser „Historizismus und (utopische[...]) Sozialtechnik“ vermischten und diese wiederum zu einer „totalitären Gerechtigkeit, […] [und einem; PG] Prinzip des Führertums“ (Zinsmeister 2005: 37) führen konnten.10 „Utopien“, so fasst Schölderle Popper zusammen, „gelten demnach als geistige Vorwegnahme späterer totalitärer Herrschaftsformen.“ (Schölderle 2012: 13) Dem sozialismuspsychologischen Utopie-Begriff bei Schölderle entspricht der „intentionale[...]“ (Zinsmeister 2005: 37) Utopie-Begriff Zinsmeisters. Gemeint ist hier „nicht mehr die Denktradition, sondern […] Utopie als eine Art Bewusstseinsform oder bloße Intention“ (Schölderle 2012: 13), die durch Ernst Bloch, Karl Mannheim und Gustav Landauer geprägt wurde. Mannheims Ansatz differenziert dabei Utopie und Ideologie und ordnet erstere den Machtlosen, letztere den Mächtigen zu, deren Interessen die Ideologie bestimmen. Beide Begriffe gehen von einem „Bestreben“ (Mannheim 1978: 86), die Realität zu suchen aus. Mannheim spricht der Utopie im Gegensatz zur Ideologie aber gewissermaßen einen Grad der Verwirklichung zu: „Erst als bestimmte Menschengruppen solche Wunschbilder in ihr Handeln aufnahmen und zu verwirklichen bestrebt waren, wurden diese Ideologien zu Utopien.“11 (Mannheim 1978: 170) Prägend sei für die sozialpsychologische oder intentionale Begriffsauslegung, dass sie „alles unter den Utopiebegriff subsumiert“ (Schölderle 2012: 13). Auch die Umgangssprache ist im Zuge einer Annäherung an den Utopie-Begriff von Bedeutung, da das Wort ‚utopisch‘ heute gemeinhin als unrealistisch, unmög10 Popper wirft Platon nicht nur vor, einen totalitären Staat zu entwerfen, der der „herrschende[n] Klasse eine unanfechtbare Übermacht“ (Popper 1957: 78) überlässt, sondern gleichwohl einen reaktionären (vgl. Popper 1957: 78; 126-190). 11 Bloch grenzt sich in dem Punkt von Mannheim ab, als dass er davon spricht, dass „Ideologie nicht nur negativ betrachtet werden kann“ (Bloch 1980: 91) und eine Ideologie und Utopie nicht vollends zu trennen seien (vgl. Bloch 1980: 89-91).
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lich oder kaum zu realisieren verstanden wird und negativ behaftet ist (vgl. Mannheim 1978: 86 f.; 170 f./Schölderle 2012: 13/Zinsmeister 2005: 37). Wie aber können wir mit dem Utopie-Begriff heute nun umgehen? Beat SitterLiver formuliert in der Einleitung zu einem von ihm anlässlich zweier Kolloquien zum Thema Utopie heute herausgebrachten Band, dass „[u]topisches Denken und Vorstellen […] in seinem Bestand und in seinen Erscheinungsformen nicht abhängig von Aussagen über seine Angemessenheit, sein Blühen oder seinen Zerfall“ (Sitter-Liver 2007: XII) sei. Der Ruf nach neuen Utopien sei insofern nicht notwendig, als wir diese permanent leben. Auch ein Abgesang auf Utopien verfehle die Realität. Vielmehr kenne das Utopische „Konjunktur, [und; PG] ebenso Tiefpunkte.“ (Sitter-Liver 2007: XI) Existent blieben sie dennoch und dies liegt wohl auch an dem, was Sitter-Liver in Bezug auf Wilhelm Vosskamp rezitiert, nämlich der „‚widersprüchlichen Doppelheit der Gegenwart‘“ (zit. nach Sitter-Liver 2007: X). Damit ist gemeint, dass vor allem Gesellschaften des Abendlandes geprägt seien von einer Grundhaltung, die „Melancholie und Resignation zeitgleich mit Hoffnung und Veränderungswillen“ (Sitter-Liver 2007: X) vereine. Eine solche Doppelheit hat uns auch im 21. Jahrhundert nicht verlassen und wird dies weiterhin nicht tun. Dies wiederum spricht, hier schließe ich mich Vosskamp und Sitter-Liver an, für das Aufrechterhalten eines utopischen Denkens12, dessen Ambivalenz produktiv für den Entwurf des menschlichen Daseins sein kann – im positiven wie im negativen Sinne. Menschen sind es schließlich, die die „Quelle utopischer Ausgriffe und Phänomene“ darstellen und: „‚Utopie‘ und ‚Utopisches‘ verweisen auf eine Seinsweise der Menschen, auf ein Existential […], das sich in zahlreichen Formen ausprägt und damit konkretisiert.“ (Sitter-Liver 2007: XV) Gemein sei jedoch allen, dass sie „eine erwünschte erfüllendere Zukunft zur Sprache“ (Sitter-Liver 2007: XVI) bringen, um, so subsumiert Hans Ulrich Seeber, „,über das unbefriedigende Hier und Jetzt hinauszugelangen‘“ (zit. nach Sitter-Liver 2007: XVI). Auch für die Dystopie sei das der Fall. Anlehnend an Ernst Bloch entwickelt Sitter-Liver „Arbeitshypothesen“, mit denen er keine Bedeutungsvorgabe, jedoch eine Engerfassung impliziert. In diesen stellt er zusammen, dass Utopie für die Verbesserung einer sozialen oder individuellen Lage stehe, deren Status quo als „defizitär“ (Sitter-Liver 2007: XVI) 12 Sitter-Liver unterscheidet zwischen Utopie und Utopisches. Ersteres bezieht er auf literarische Formen, zweites „meint eine Denkweise, auch eine Grundhaltung, allenfalls Elemente in einem grösseren Zusammenhang.“ (Sitter-Liver 2007: X) Zudem leistet SitterLiver einen wichtigen Beitrag in der Diskussion um den einen und „‚richtigen Begriff‘“. Diese Auseinandersetzung verdeckt, so der Autor, dass sich diese Diskussion eigentlich um das „‚richtige Erkenntnisinteresse[…]“ dreht. Sitter-Liver rät von einer zu strengen Enge ab und konstatiert dahingegen eine enge Begriffsführung „innerhalb eines ausgedehnten Bedeutungshofs“ (Sitter-Liver 2007: XV) (vgl. Sitter-Liver 2007: X ff.).
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erlebt werde. Die Utopie thematisiere darüber hinaus nicht nur Verbesserungen für den Menschen, sondern auch der Natur und des Menschen in der Natur. Zudem nehme die Utopie „einen idealen Zustand vorweg“, wohlwissend, dass dieser nicht in Gänze zu ermöglichen sei. Und, diese Hypothese ist für diese Arbeit relevant, die Utopie könne auch „Erfüllung existentialer Transzendenz meinen, etwa im Bereich ästhetischer Erfahrung“. Eine Gegenwart, die als unzureichend empfunden werde, könne dafür unerheblich sein. Da zudem ab und an „Augenblicke von Erfüllung aufscheinen“, stehe Utopie auch „für eben jene Augenblicke, die immer wieder der Unerfülltheit weichen.“ (Sitter-Liver 2007: XVII) Die letzten beiden Überlegungen Sitter-Livers sind für den hier thematisierten künstlerischen Kontext gelungene Ausgangspunkte und bilden jene „realgeschichtliche[...] Resonanzphänomene“ (Schölderle 2012: 159), die das Gegenwärtige einfangen und weitertreiben. Grundlegend, so Schölderle, sei dabei jedoch die Utopie „im Sinne der klassischen Tradition alternativer Gesellschaftsentwürfe und der ‚utopischen‘ Dimension von Wünschen, Hoffnungen, Assoziationen“ (Schölderle 2012: 158) zu trennen. Dahingegen seien „Utopien […] fiktionalisierte Instrumente der Sozialkritik, die in einem rationalen Gedankenexperiment innerweltliche Gegenentwürfe konzipieren.“ (Schölderle 2011: 479) (Vgl. Schölderle 2011: 479/ Schölderle 2012: 158 f./Sitter-Liver 2007: X ff.). In der Hades-Fraktur vollzieht sich dieser Gegenentwurf auf krude Weise, welche die utopische Kritik zu einer dystopischen werden lässt, dieses Verhältnis gleichwohl wieder aufhebt. Der Dystopie ist gemein, dass sie „als Negativ-Utopie, […] das Weiterführen der aktuellen Zustände ins Schwarze projiziert und kritisiert“. Sie stellt somit „eine Gesellschaft [dar; PG] […], die sich negativ entwickelt hat“ (Werder 2009: 71) und wird vor allem in Literatur und Film in Form von totalitären Regimen oder autokratischen Systemen repräsentiert. Eine dystopische Struktur ist der Hades-Fraktur ohne Zweifel gemein, doch wandelt diese immer wieder auf utopischen Faden, wenn sie den Besuchern lustvolle Momente offeriert und diese in schlaraffenlandähnlicher Manier zur Verfügung stellt. Der fiktionalisierte Subtext wird in der Performance zu einer, wie Lars Gustafsson es fasst, „realisierbaren Möglichkeit“. Er beschreibt Utopie als „[e]inen außerhalb der historischen Erfahrung liegenden Gesellschaftszustand“, der noch „unverwirklicht[...] und nur vorgestellt[...]“ (Gustafsson 1985: 82) sei. In diesem Zusammenhang sei die Utopie „eine Vorstellung von etwas, das nicht existiert, aber eine Vorstellung, die sich auf gesellschaftliche Relationen beschränkt“ (Gustafsson 1985: 83). Gustafsson verdeutlicht in dieser Hinsicht, dass es keinen denkbaren Zustand gebe, der nicht realisierbar sei und demzufolge keine utopische Idee keinesfalls durchführbar sein könne. Als Charakteristikum der Utopie macht der Autor dessen Totalität aus, da sie gesamtgesellschaftlich funktioniere und die „bestehenden gesellschaftlichen Beziehungen“ nicht nur hinterfrage, sondern auch einen „Gegenvorschlag bietet“ (Gustafsson 1985: 85). Dieser aber beinhalte immer auch den eigentlichen „Gesell-
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schaftszustand[...]“, weil sie diesen zur Grundlage des Gegenvorschlags erhebe und somit abbilde. Gustafsson nennt die Utopie angesichts dessen „ein Produkt unserer Gesellschaft“ (Gustafsson 1985: 87). Der Umgang mit den Mädchen in der Performance gehört dabei ebenso dazu, wie die Sehnsucht nach Bedürfnisbefriedigung, Spiel und Macht. Für Gustafsson liegt die Problematik der Utopie nun darin, dass sie lediglich im Sinne eines radikalen Bruchs gedacht werde, nicht aber in einem „stufenweise sich vollziehenden organischen Übergang von der jetzigen Gesellschaft zu einer anderen“. Somit könne man nur den utopischen Beginn durchdenken, jedoch keineswegs all das, was darauf folge: „Der beschreibbare Teil einer Utopie ist nur derjenige Teil, der auf der Oberfläche liegt. Was unter der Oberfläche liegt, weiß niemand.“ (Gustafsson 1985: 91) Schlussendlich sei die Problematik der Realisierung einer Utopie mit dem „künstlerischen Schaffen[...]“ vergleichbar, bei dem die Schwierigkeit darin liege, „aus Erfahrungen, die gemacht worden sind, Erfahrungen zu schaffen, die nicht gemacht worden sind.“ (Gustafsson 1985: 100) All das führt laut Gustafsson dazu, dass die utopische Funktion zumeist als „Mythos, als eine Fiktion oder Vorstellungswelt von einem Gesellschaftszustand“ umschrieben werde, „den es geben könne, aber nicht gibt.“ (Gustafsson 1985: 108) Der fiktionale Zustand der Utopie verweigere dieser dabei eine Form der Faktizität. Dem widerspricht Gustafsson indem er die Fiktion selbst differenziert. Als „Gegenfiktionen“ spiegeln die Utopien einerseits „das Fiktive in der bestehenden Gesellschaft“ (Gustafsson 1985: 109), können dies aber andererseits nur durch ihr eigenes fiktives Dasein. Die Fiktion, das versucht Gustafsson damit zu verdeutlichen, ist der Gesellschaft ebenso inhärent wie die Realität. In künstlerischen Formen wird dieses Utopieverständnis nunmehr offenbar. Wir können neben den Thesen Gustafssons zusammenfassend festhalten, dass der Morus’sche Nicht-Ort oder ‚schönste Ort‘ seit dem 20. Jahrhundert viel enger an die Gegenwart geknüpft wird, als dies ursprünglich der Fall war. Damit einher geht eine Durchdringung der Utopie durch Raum und Zeit. Im Rahmen dieser Überlagerung formuliert die Utopie im Sinne Saages eine ‚alternative Lösung‘ zum Bestehenden, die deshalb an die Lebenswirklichkeit angebunden sein muss. Zeitgenössische Überlegungen zur Utopie führen im Anschluss daran zu dem Schluss, dass die vielfach als ‚defizitär‘ empfundene Gegenwart mit Hilfe von Utopien zu einer besseren gestaltet werden könnte. Ästhetische Erfahrungen müssen darum in diesem Gestaltungsvorgang mitgedacht werden, weil sie die Gegenwärtigkeit mit utopischen Vorhaben unmittelbar und vielfältig zusammenbringen können. Gefragt sind eingedenk dessen keine utopischen Entwürfe von neuen Welten, sondern ‚innerweltliche Gegenentwürfe‘, die durch die von Schölderle angesprochenen ‚fiktionalisierten Instrumente der Sozialkritik‘ realisierbar werden könnten. Anhand der
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Künste werden wir im Folgenden versuchen, diesen Gegenentwürfen näherzukommen (vgl. Gustafsson 1985: 83 ff./Schölderle 2012: 12 ff.; 157 ff.; 479).13 Das Utopische in der Kunst „[D]as dieses also ist, was noch nicht ist, was letzte Zukunft, endlich echte Gegenwart ist, sich in Existenz befindliches Selbstproblem, noch unbekannte, unfertige Utopie.“ (BLOCH 1923: 247)
Um die Utopie fortan auf der Ebene der Kunst zu verhandeln und sie noch einmal mit der Avantgarde in Verbindung zu bringen, möchte ich mit Adorno und dessen Auslegung des Utopie-Begriffs beginnen. Adorno folgt nicht dem Modus, eine Gesellschaftskonzeption zu entwerfen, die sich auf positive Weise einer Verbesserung zuwendet. Vielmehr wird von ihm eine „negative Forderung formuliert“ (Mieth 2007: 85), die aus einer Kritik am totalitären Potential der Gesellschaft resultiert. Demgemäß stellt die Hades-Fraktur eine utopische und nicht dystopische Option dar. Adornos Gedanken möchte ich nun über die sich daran schließende Kritik aufgreifen. In Seels Schrift zu Adornos Philosophie der Kontemplation (2004) grenzt sich Seel von Adornos Haltung zur Utopie und damit auch der Avantgarde ab. Nach Meinung Seels habe Adorno die „utopische Energie“ (Seel 2004: 65) der Avantgarde zu stark fokussiert. Da aber „[ä]sthetische Avantgarden […] Bewegungen [sind], die in einem bestimmten Anschauungsbereich nie da gewesene Formen, oder genauer: ein nie da gewesenes Ineinander von Formen, hervorgebracht haben“ (Seel 2004: 68), könne von Utopien nicht die Rede sein, da sich Utopien für Seel als „his13 Eine Verhältnisbestimmung von der Utopie und Heterotopie Foucaults wird in dieser Arbeit ausbleiben, obgleich sie weiteren Deutungen der Performances Raum gewähren würden. Für eine weiterführende Begriffsbestimmung siehe Michel Foucaults Text Andere Räume aus dem Jahr 1967. Darin schreibt Foucault: „Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien. Und ich glaube, daß es zwischen den Utopien und diesen anderen Plätzen, den Heterotopien, eine Art Misch- oder Mittelerfahrung gibt; den Spiegel.“ (Foucault 1992: 39) (vgl. Foucault 1992: 34-46)
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torisch unmögliche Zustände […] [erweisen; PG], deren Realisierung auf absehbare Zeit versperrt ist.“ (Seel 2004: 65) Dies widerspreche der Avantgarde, die sich prozessual als Ereignis vollziehe und im Hier und Jetzt, nicht im Zukünftigen zu verorten sei. In Abgrenzung zu „ästhetischen Phänomenen wie der Natur oder dem Sport“, so Seel, entstehe das zentrale Moment der Kunstwerke „[i]n den Konfigurationen ihres Erscheinens“. Der „Gehalt“ ergebe sich also auf der Ebene des Dargebotenen, welcher mit einem „anschaulichen Bewusstsein leiblicher und geistiger, historischer und kultureller Gegenwart“ in Verbindung gebracht werde. Avantgardistische Werke „verändern das Spiel“ der Kunst und das damit zusammenhängende „Bewusstsein von Gegenwart“ (Seel 2004: 69). Dies geschehe, „[i]ndem sie [die Kunst; PG] so mit dem Gleichlauf des Wirklichen bricht“, dass deutlich werde, „wie sehr das Wirkliche ein Mögliches und wie sehr das Mögliche ein Wirkliches“ (Seel 2004: 70) sei. Für Seel konstituiert sich im Bewusstsein darum das Potential, die Brüchigkeit der Gegenwart wahrzunehmen, um daran neue ästhetische Überlegungen anzuschließen. Es gehe also de facto nicht nur um eine Negation des Bestehenden, sondern immer auch um dessen Novellierung und die Konstruktion neuer Denk- und Sehofferten. Warum aber, so lässt sich Seel an dieser Stelle kritisch befragen, schließen diese Denk- und Sehofferten das Utopische aus? Die Kritik Seels an Adorno bezieht sich auf dessen „teleologische“ (Seel 2004: 72) Sicht auf die Kunstproduktion, welche der Prozessualität und Unvorhersehbarkeit künstlerischer Projekte entgegenstehe. Dieses Spiel mit dem Zufall ist gerade hinsichtlich performativer Praktiken wahrlich unerlässlich. Da sich das künstlerische Ereignis erst im Vollzug als solches generiert, wissen weder Zuschauer noch Performer selbst das mögliche Ziel eindeutig zu bestimmen. Als sich Valie Export in ihrer Performance Tapp- und Tastkino (1968) einen ‚Kinokasten‘ mitsamt Vorhang vor die nackten Brüste schnallte und ihr Ko-Akteur Peter Weibel auf dem Münchner Stachus die Passanten aufforderte, in den Tastkasten hineinzugreifen, da war zu keiner Zeit klar, in welche Richtung sich die Performance bewegen würde. Natürlich gab es das formulierte Ziel Exports, mittels Taktilität die Realität und deren Teilnehmer aus einer reproduzierten Distanz zu (er-)lösen, jedoch galt nicht dem Ziel das Interesse, sondern dem Handlungsvollzug, dem prozessualen Weg dorthin oder eben auch nach anderswo. Kritik manifestiert Seel aber gerade an Adornos Entsendung der Kunst in den Bereich der Utopie, da sie den Zufall ausschließe. Was formuliert Adorno dazu nun genau? „Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien ist, daß Kunst Utopie sein muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten, nicht Utopie sein darf. Erfüllte sich die Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende.“ (Adorno 1973: 55)
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Da Adorno den künstlerischen Avantgardismus „nicht allein ästhetisch, sondern im selben Atemzug politisch [begreift]“14, zeige sich dieser „als vorauseilende Antizipation der Möglichkeit des hier und heute Unmöglichen“. Doch liegt in dem zuvor angeführten Zitat Adornos nicht ein Hinweis auf dessen ambivalente Haltung zur künstlerischen Utopie? So ‚müsse‘ die Kunst Utopie sein, ‚dürfe‘ sich aber nicht als diese erfüllen. Wahrlich nutzt Adorno die Form der Utopie für seine Aussage, doch macht er auch auf den Zwiespalt zwischen Müssen und Nicht-Dürfen aufmerksam. Seel hält jedoch nicht an diesem Zweideutigen fest, sondern reklamiert, wie Adorno selbst, dass, sofern dieses Unmögliche eintreten würde, die Kunst fortan bedeutungslos wäre.15 Kunstwerke, bemerkt Seel, „setzen sich in eine bis dahin unbesetzte Position […] [und; PG] realisieren die Möglichkeit, die mit ihnen plötzlich da ist.“ (Seel 2004: 74) Utopisches sei ihnen deshalb fern, weil sie ihr Tun in actu vollziehen. Seel beschreibt den künstlerischen Kern mithin als „anti-utopisch“, stattdessen gehe es um „das Potential […] ihrer puren Gegenwart“ (Seel 2005: 75). Seel bilanziert: „Kunst ist […] immer auch eine Störung der guten Ordnung innerhalb und außerhalb des ästhetischen Bereichs – und damit ein Testfall der Erfahrungsfähigkeit der Gesellschaft, die sie mit einer Anschauung ihrer Gegenwart konfrontiert.“ Die Kritik der Kunst entstehe „dadurch, dass sie Kunst ist: dass sie in der Gegenwart eine andere Gegenwart schafft.“ (Seel 2004: 76) In SIGNAs HadesFraktur entwickelt das zeitgenössische Performancekollektiv dieses Spiel mit den Gegenwarten. Warum aber schließt sich Seel gemäß eine utopische Dimension darin aus? Nur, weil sie sich in actu vollzieht? Viel eher liefert die Verlagerung in das Ästhetische doch die Chance, sich mit der von Gustafsson aufgeworfenen Schwierigkeit der ‚gemachten Erfahrungen, die in ungemachte transformiert werden sollen‘ produktiv auseinanderzusetzen und die Realisation des Utopischen in der Kunst weiterhin aufzusuchen, wohlwissend, dass sie nicht de facto realisiert werden kann und als eine Option verbleibt. Dieser Gedanke wäre in Einklang zu bringen mit der von Adorno formulierten „Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem“. Für Adorno spiegelt sich darin „die utopische Figur von Kunst.“ Mehr noch: „Während sie zur absoluten Negativität gedrängt wird, ist sie kraft eben jener Negativität kein absolut Negatives.“ (Adorno 1973: 347) Die Negativität hat für Adorno, dessen Utopieverständnis auch als dystopisches eingeordnet wurde, Relevanz und liegt mitunter im menschlichen Verhältnis zum Tod begründet. In einem Radiointerview widmeten sich Ernst Bloch und Adorno im Gespräch mit Hans Krüger am 6. Mai 1964 den Möglichkeiten der Utopie. Deutlich
14 Hier positioniert sich Seel konträr zu Corinna Mieth (vgl. Mieth 2007: 85). 15 Seel macht gleichwohl deutlich, dass Adorno sich nicht für die „Selbstüberwindung der Kunst“ (Seel 2004: 76) ausgesprochen hat.
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wird darin, dass beide, so kontrovers sie sich dem Thema zuwenden, im Tod gemeinsam einen zentralen Auslöser für die Utopie ausmachen. Adorno dazu: „Es gibt in der ganzen Utopie etwas höchst, etwas sehr tief Widerspruchsvolles. Nämlich dass sie auf der einen Seite, ja, ohne die Abschaffung des Todes nicht, gar nicht konzipiert werden kann. Dass aber auf der anderen Seite diesem Gedanken selber, ich möchte sagen die Schwere des Todes und alles was damit zusammenhängt, innewohnt, wo dieses nicht drin ist, wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, da gibt es eigentlich auch keine Utopie.“ (Zit. nach Bloch 2008: Minute 03:55 bis 04:36)
Dies bedeute: „Über diese Antinomie des Todes hinwegzugehen und so zu reden, von der Abschaffung des Todes, als ob der Tod nicht wäre.“ Darin liege der Versuch, so stimmt Bloch zu, dem Tod zu entkommen: „Es gibt die medizinischen Utopien, die nichts geringeres in sich haben wie die Abschaffung des Todes.“ (Bloch 2008: Minute 19:41 bis 19:46) Der Tod nun sei laut Adorno „der tiefste Grund, der metaphysische Grund dafür, dass man eigentlich von Utopie nur negativ reden kann“ (zit. nach Bloch 2008: Minute 05:14 bis 05:37). Das Negative versteht Adorno meines Erachtens nicht als Destruktives, ebenso wenig wie übrigens die Kunst. Die negative Prägung ist somit kein absolut Negatives und verbleibt gewissermaßen in selbiger Ambivalenz wie auch das Verhältnis von Kunst und Utopie. Die von ihm beschriebene ‚Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem‘, in der sich die ‚utopische Figur der Kunst‘ spiegele, stellt für dieses Kapitel eine grundlegende Annahme dar, die sich nicht nur für die Kunst der historischen Avantgarden, sondern vor allem auch für zeitgenössische Performances als schlüssig erweist. Der nicht enden wollende ambivalente Zustand zeigt sich gerade in Live-Performances, die der Flüchtigkeit und Präsenz, dem Ephemeren und Unhaltbaren, dem Sicht- und Unsichtbaren sowie der Volatilität Raum geben und darüber Kunst mit Utopie überhaupt erst in Verbindung bringen können (vgl. Adorno 1973: 55 f.; 347/Bloch 2008: o.S./Geldmacher 2010: 243/Seel 2004: 65 ff.). Wie nun wird dieses Verhältnis in aktuellen Debatten formuliert? „Utopien imaginieren mögliche Wirklichkeiten und behaupten damit die potentielle Realität der Fiktion“, heißt es bei Verena Kuni und Manfred Rothenberger. Und auch wenn Kunst und Utopie nicht gleichzusetzen seien, so gehe beiderlei eng miteinander einher. 16 Beide, Kunst und Utopie, leben davon, die von der Realität gesetzten
16 Mieth stellt fest, dass „Kunst überhaupt, unabhängig von ihrem Inhalt, als ‚utopisch‘“ bezeichnet werden kann, sofern sie „Differenzen und Leerstellen schafft oder ganz allgemein eine ‚Distanzierung von der Lebenswelt‘ ermöglicht.“ Dabei kommt sie jedoch zu der Erkenntnis, dass man „das Spezifische des utopischen Denkens nicht von anderen
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Grenzen zu übergehen und sich dennoch gesellschaftlich zu verankern. Die Utopie könne infolgedessen keine „ortlose Kunst sein“, da „sie sich ihren Ort nicht nur entwerfen, sondern ihn auch besetzen“ müsse. Kuni und Rothenberger bezeichnen die Utopie als „Möglichkeitsraum […] zwischen dem Sein und dem Nichts“. Von der Überlegung, dass die Utopie ein „Ort in Raum und Zeit“ sei, sehen sie jedoch ab. Vielmehr handele es sich bei der Utopie um eine „Methode […], die zum ureigentlichen Handwerk der Kunst gehört“. Diese „reflektiert, bricht, transformiert“ (Kuni/Rothenberger 2002: 4 f.) unsere Wirklichkeit und setzt sie neu zusammen. Die Utopie formiert sich somit als übergeordnetes Denkkonzept und keineswegs nur als literarisches, wie wir bereits feststellen konnten.17 Der Ansatz von Kuni und Rothenberger lässt sich als Kompromiss zwischen den Ansätzen Adornos und Seels verstehen und ermöglicht uns, gerade performative Kunstformen als ‚Möglichkeitsräume zwischen Sein und Nicht-Sein‘ zu begreifen, die uns als Rezipienten ein utopisches Potenzial aufzeigen, welches wir zwar durchleben können, das eine direkte Überführung in unseren Alltag aber nicht zur Verfügung stellt, da es sich sonst selbst auflösen würde (vgl. Kuni/Rothenberger 2002: 4 f.).18 Es lässt sich festhalten, dass allen Utopiekonzepten der Aspekt der Differenz gemein ist. Utopie kann sich laut Andrea Günter „als eine Denkform der Differenz verstehen.“ (Günter 2007: 111) Damit meint die Philosophin, dass „[a]ls Differenz […] die Utopie kategorial [ist,] aber nicht als Ort oder als fixe Position, sondern als eine Relation, eine Spannung zwischen dem So- und dem möglichen Anders-sein“ (Günter 2007: 113). Diese Relationalität steht der Avantgarde nicht mehr so brachial entgegen, wie Seel es angeführt hat, sondern ließe sich mit der prozessualen Wei-
Phänomenen im Bereich der Kunst oder der Kreativität abgrenzen kann.“ (Mieth 2007: 83) 17 Bondeli weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass das 21. Jahrhundert durch Utopien geprägt wird, die „das Ideenrepertoire von Raum, Zeit und Geschichte“ um jenes der „produktive[n] Künstlichkeit, Virtualität und Simulation“ (Bondeli 2007: 30) erweitern. Literaten würden infolgedessen durch technisch versierte Ingenieure oder Designer ersetzt (vgl. Bondeli 2007: 30). 18 Dennoch ist und bleibt die Utopie grundlegend für einen „gemeinschaftsstiftenden Horizont“, der jede Gemeinschaft laut Weibel bedarf. Utopien seien jedoch als Nicht-Orte so gesehen nicht fassbar und müssten deshalb aus der „Verortung der Dinge“ (Weibel 2006: 58) bestehen. Mehr noch ist nach Martina Ruhsam die paradoxe Situation anzuerkennen, „dass die Utopie in der atopischen Realität des Hier und Jetzt, im Topos, also im Ort stattfinden muss“ (Ruhsam 2011: 191). Ruhsam lässt sich hier gedanklich mit Kuni und Rothenberger zusammenbringen und verweist einmal mehr auf das Paradox der ortlosen Verortung der Utopie.
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terentwicklung innerhalb der Kunst zusammenbringen, die sich einer Statik widersetzt und der Performativität, dem Vollzug in actu, den Vorzug gibt. Auch David Pinder stellt dahingehend für das heutige Utopieverständnis eine Veränderung zu den traditionellen Utopien fest. Die Betonung, so Pinder, liege nunmehr auf „process, dynamism, and movement towards the not-yet-set“. Theoretische Modelle von „Henri Lefebvre, Herbert Marcuse and Ernst Bloch“ haben ebenso ihren Beitrag geleistet, wie die feministischen Vertreterinnen seit den 1970er Jahren. Pinder verdeutlicht, dass insbesondere „practices that work with sites through interaction, participation and dialogic encounter“ zahlreiche zeitgenössische Künstler beeinflussen und damit diese Prozesse „in the modes of social engagement, negotiation, alliance, community formation and democraticisation“ (Pinder 2012: 131) verlagert werden. Damit bezieht er sich explizit auf Nicholas Bourriauds Idee der Relational Aesthetics, in der die Verlagerung sozialer Kunstinteraktionen in die Realität eine gewisse Abkehr von utopischen oder imaginierten Visionen verlangt, weil Bourriaud die Zuschauer dabei nicht mehr nur in einer Möglichkeitsform angesprochen sieht, sondern sie als Teil einer neu geschaffenen realen Gruppe in der Performance selbst real verortet. Gerade die von Bourriaud immer wieder beispielhaft angeführten musealen Kochperformances Rikrit Tiravanijas werden dann von ihm als besagte ‚micro-utopias‘ beschrieben und lassen somit einen Widerspruch entstehen. Ganz offenbar unterscheidet der Autor zwischen allumfassenden und kleineren Utopien. Dies wiederum könnte mit Werders Überlegungen zusammengebracht werden, im Rahmen von kleineren ‚Teilbereich-Utopien‘ größere Wirkungsmöglichkeiten ausmachen zu können. Ein zentraler Unterschied zwischen Werder und Bourriaud, und hier liegt auch der von Pinder angeführte Kritikpunkt am Konzept der Relational Aesthetics, findet sich aber im Protest. Während Werder die Utopie als kritische Alternative ausmacht, ist bei Bourriaud eher ein ‚mit‘ als ein ‚gegen‘19 zu erkennen. Dass dabei das System, welches die fehlende soziale Gemeinschaft allererst produziert unberührt bleibt und keineswegs angefochten wird, scheint auch mir ein berechtigter Einwand zu sein (vgl. Günter 2007: 111 ff./Pinder 2012: 131 ff.). Welche Möglichkeit aber hat Kunst dann, um über utopische Szenarien systemische Gegebenheiten in Frage zu stellen? 20 Widmen wir uns dem im Beispiel der Hades-Fraktur aufgeworfenen Aspekt der Macht, ist noch einmal darauf zurückzukommen, ob hier nicht vielmehr ein dystopes Szenario im Stil von George Or19 Selbigen Vorwurf macht auch Tom Holert Bourriaud. Vgl. dazu dessen Ausführungen in Holert 2010: 137 ff. 20 Vgl. auch von hier an bis zum Unterkapitelende einen erweiterten und bearbeiteten Textausschnitt aus meinem Aufsatz Gelebter Ou-Topos. Leiblichkeit, Macht und Utopie in der Performance (vgl. Geldmacher 2013: 203-214).
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wells 21 1984 offeriert wird. Wahrlich kann von einer Idealstruktur innerhalb der Mikro-Gesellschaft, die SIGNA entwirft, kaum gesprochen werden. Die mitunter grausamen Strafen für etwaige Vergehen zeugen nicht von einer besseren Alternative zur bestehenden Gesellschaftsstruktur, wie es Morus im Sinn hatte. Es geht, und hier kommt man dem Dystopie-Gedanken nahe, viel eher um das Ausmalen einer überbetonten autokratischen Führung. Was jedoch die Silbe ‚Dys-‘ zu einer ambivalenten macht, ist wie bereits erwähnt die Tatsache der (Wol-)Lust, mit der die meisten Besucher der Welt von SIGNA begegnen. So liegen die einen stundenlang mit Dionysos auf seinem weichen Bett, lassen sich hemmungslos von Paris küssen oder versuchen, sich an einem oberkörperfreien Ringkampf mit Achill. Andere berichten im Gespräch mit den Mädchen in ihren Zimmern unter Tränen vom Verlust der Mutter oder den Schwierigkeiten mit der Familie, wieder andere torkeln pflaumenschnapsgetränkt die Treppen rauf und runter. Die eigene Identität spielt an diesem Ort keine Rolle mehr, man ist, wer man sonst nicht ist und tut, was man sonst nicht tun würde. Der ‚Möglichkeitsraum zwischen dem Sein und dem Nichts‘, den SIGNA schafft, wird ge- und belebt. Dieser Nicht-Ort Hades impliziert somit Lust und Leid zugleich. Er formiert nicht als reine Kritik an bestehenden Systemen, sondern spielt mit dem Regelbruch, mit dem Potential des eigenen Austreten-Wollens aus der Gesellschaft und der Konformität des Lebens per se. Es habe zahlreiche Besucher gegeben, berichtet ein Performer22 nach den Arbeiten an der Performance, die an der Hades-Welt festhalten wollten, die immer wiedergekehrt sind, die Kontakt zu den Performern respektive ihren Rollen, aufgenommen haben, um ihnen weiterhin nah zu sein, um aber auch das oder so zu sein, wie sie sonst nicht sein konnten. Ex negativo liegt in dieser Sehnsucht eine erschreckend reale Bedürfnisbefriedigung, die als Motor für eine Vielzahl von Teilnehmern der Performance dazu führte, über die eigenen ethischen Vorstellungen hinwegzusehen und sich unterdrückten, insbesondere stark sexualisierten Wünschen hinzugeben. SIGNA nutzen und potenzieren das Phänomen immer noch bestehender Geschlechts- und Verhaltensstereotypen, um diese konzentriert vor Augen zu führen. Die Diskriminierung der Frauen in der Performance widert an, besonders in den Momenten, in denen die blauen Flecken der Frauen sichtbar werden und verdeutlichen, dass alle Schläge, die ihnen wiederfahren, kein Fake, kein Spiel, kein ‚Theater‘ sind. Die Zwickmühle, die durch den performativen Raum vorgegeben wird, nämlich dass die weiblichen Performer davon profitieren, wenn man ihnen ihre masochistischen Wünsche erfüllt, macht jene undurchschau21 Für weitere Ausführungen zu George Orwells Utopiekonzeption vgl. Schölderle 2011: 287-294, sowie 2012: 131-139. 22 Auf Wunsch des Performers bleibt dieser anonym. Das Gespräch fand im Mai 2009 in Köln statt.
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bare Machtstruktur, die dieser Rollenverteilung unterliegt, deutlich. Die Mädchen sind Opfer und Täterinnen zugleich. Sie produzieren Mitleid, um auserwählt zu werden und forcieren Gewalt, um dem Hades zu entkommen. Ihr Verhalten folgt dem rigiden Machtapparat von Persephone und Hades, die Verstetigung des Bösen macht dennoch auch vor ihnen nicht halt. Sie sind Teil des Apparats und propagieren die eigene Erniedrigung, um anderweitig ihren Konkurrentinnen überlegen zu sein. Was bleibt sind irritierende Einsichten über immer noch existente Paradigmen im 21. Jahrhundert. Die Zurschaustellung der Frau als unterwürfiges und schwaches Geschlecht ist, obschon bewusst plakativ, Bestandteil der gesamten Performance. Das Erschreckende aber ist die Aneignung dieser Vorbedingung unter der Prämisse, dadurch der Freiheit der Frauen näher zu kommen. Ist eine systemische Unterwerfung demnach notwendig, um einen Ausweg zu finden? Es scheint mir diese bis zum Ende ungelöste Frage, die dystopisches und utopisches Potential in der Performance zusammenlaufen lässt und produktiv macht. Keine Utopie ist ohne Macht, oder nach Popper, ohne Totalitarität zu haben, doch muss eine totalitäre Utopie nicht zwangsläufig Dystopie sein. Idealtypische Konstellationen implizieren immer schon die Foucault’schen „Dispositive von Macht“ (Foucault 1999: 93)23, mit denen derjenige, der die Utopien denkt verwoben ist.24 Somit findet sich bei SIGNA weder ein Idealzustand noch ein lediglich gedankliches Konstrukt. Die dystopische Momente implizierende Utopie lässt Raum, um Grenzen zu überschreiten, sich vor sich selbst zu erschrecken und auf leibliche Weise die Konfrontation mit sich und den eigenen Bedürfnissen zu leben. Dies ist insoweit positiv, als dem Verlassen des Nicht-Ortes keine juristischen Konsequenzen folgen. Was bestenfalls bleibt, ist eine nachhaltige Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Stereotypen, einer Ethik und Moral, die an diesem Abend mehrfach auf die Probe gestellt wird und einen auch nach dem Austritt in die Kölner Nachtluft nicht loslässt. Die unmittelbare leibliche Gren23 Ich beziehe mich hierbei unter anderem auf die Aussage Foucaults, dass „[a]lle Arten der Beherrschung, Unterwerfung und Verpflichtung […] somit am Ende auf Gehorsam hinaus[laufen].“ (Foucault 1999: 106) Für Foucault ist dies auf die Verfahrensweisen der Machtinstitutionen seit dem Mittelalter zurückführen, die sich „als Instanzen der Regelung, der Schiedsgerichtsbarkeit und der Grenzziehung präsentiert haben“ (Foucault 1999: 107). Im Zuge dessen entstanden Machtbeziehungen, oder wie Foucault sagt: „Kräfteverhältnisse[…]“ (Foucault 1999: 113), die „nicht den Überbau [bilden], der nur eine hemmende oder aufrechterhaltende Rolle spielt – wo sie eine Rolle spielen, wirken sie unmittelbar hervorbringend.“ (Foucault 1999: 115) Im Sinne der Zusammenführung von Utopie, Performance und Macht sind diese Gedanken Foucaults relevant. 24 Gerade hier sei nochmal an die patriarchalen Voraussetzungen für Morus’ Utopia erinnert.
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zerfahrung in Form von Angst, Ekel, Lust oder Schmerz im utopischen Raum ist unwiderruflich. Obschon immer wieder als Utopie schlechthin benannt, stünde der zu Beginn genannte Cyberspace der einverleibten Nachhaltigkeit in den Arbeiten von SIGNA möglicherweise entgegen. Denn um Machtstrukturen oder Diskriminierungen zu erkennen, ist gerade die physische ko-präsente Erfahrung im Möglichkeitsraum der Performer essentiell. Eine Separation von Fiktion und Realität, weltlichem und utopischem Raum kann dadurch nicht aufrechterhalten werden; zwangsläufig geht alles ineinander über. Das Nicht-Erkennen birgt gleichwohl eine Gefahr: Schaffen SIGNA nicht lediglich einen Simulationsraum, der zur Reproduktion des Bestehenden beiträgt und sich dann auch noch im Sinne Poppers totalitär gibt, statt an den Grundfesten des großen Ganzen zu rütteln? SIGNA formulieren dahingehend, dass es ihnen um einen Entwurf gehe, der Existentes vor Augen führen soll, jedoch von den Besuchern selbst mit Bedeutung gefüllt werden müsse. Im Sinne der Performance macht das Sinn, im Zuge einer systemischen Kritik bleibt zu fragen, ob ein Unbehagen nur bei jenen entsteht, die sich der immer noch bestehenden Unzulänglichkeiten des Machtdiskurses in der Gesellschaft von vorne herein bewusst sind. Und doch ergibt sich für die Performance die Möglichkeit, im Zuge eines transformativen Prozesses die Welt „from its macro to its micro arrangements“ (Dolan 2001: 455) zu verändern. Jill Dolan verdeutlicht, dass für sie die Performance einen jener Bereiche darstelle, „where a live experience, as well as an expression, through content, of utopia might be possible.“ (Dolan 2001: 456) Die von Dolan angestrebte Utopie finde jedoch keineswegs woanders oder wann anders statt, sondern „takes place now, in the interstices of present interactions, in glancing moments of possibly better ways to be together as human beeings.“ (Dolan 2001: 457) Die Autorin verdeutlicht, dass es ihr mit dieser Haltung nicht darum gehen könne, eine UtopieIdee zu entwickeln, die ein real existierendes Utopia darstelle, „if that’s not an oxymoron“ (Dolan 2001: 459), wie sie selbst klarstellt. Auch liege es ihr fern, die Utopie als die einzig mögliche Lebensform anzustreben, da die angestrebte Harmonie und Konfliktlosigkeit immer auch Gefahren berge. Ihr geht es vielmehr darum der Frage nachzuspüren, wie die Utopie über die durch Performances ausgelösten Affekte erfahrbar wird. Affekte und Emotionen seien es nämlich, die die Utopie verkörpern und eben nicht der realweltliche und strukturelle Aufbau von Gesellschaft. Dolan spricht sich demgemäß gegen eine konkrete, materielle Form der Utopie aus und verlagert diese in die Immaterialität (vgl. Dolan 2001: 455 ff.). Im Sinne dieser Immaterialität haben auch die historischen Avantgarden den Aspekt der Utopie mit ihrem Tun in Verbindung gebracht. Das Utopische in den Avantgarden zeigt sich jedoch nicht im Bestreben, die Utopie als Utopie künstlerisch in der Gegenwart zu erfassen, sondern vielmehr im Sinne Morus’ Konzepte als Utopie zu formulieren, welche schnellstmöglich realisiert werden sollten, jedoch vorerst in einer gewissen Ferne lagen. Asholt und Fähnders dazu:
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„Wichtig bleibt aber nicht allein der Hinweis auf die historische Funktion der Manifeste, sondern auch auf deren Gegenwartsorientierung. Wenn die Grenzen einer zur Institution gewordenen Kunst aufgesprengt werden sollten, so um eine andere, nicht länger vom Leben getrennte Kunst zu verwirklichen oder zumindest als Utopie zu entwerfen.“ (Asholt/Fähnders 1997: 10)
Ich würde die Überlegung von Asholt und Fähnders deshalb um die Anmerkung ergänzen, dass die Utopie in den Manifesten25 eine zweischneidige war. Per se stellte sich für die Avantgardisten die Forcierung des Moments als elementar heraus, gleichwohl blieb ihnen zu Beginn kaum anderes übrig, ob der gesellschaftlichen Strukturen das Manifest als Massenkommunikationsmittel zu nutzen, um darin die utopischen Vorhaben zu formulieren und somit eine Form zu wählen, die von Dolans performativer Utopie-Idee im Sinne einer Leiblichkeit erst einmal entfernt blieb.26 Es ging ganz funktionalistisch darum, eine größere Anzahl Menschen von der eigenen Haltung zu überzeugen. Im Zuge der Verschriftlichung und des mannigfaltigen Drucks war ein größerer Radius der Erreichbarkeit gewährleistet. Utopie wurde hier also nicht im Sinne Dolans als unmittelbar erfahrbares Szenario, sondern als möglichst zügig zu erreichende Lebensform konzipiert. In diesem Sinne nochmal Asholt und Fähnders: „Manifeste sind im eigentlichen Sinne utopische Entwürfe; das gilt für politische Manifeste, aber erst recht für Manifeste der künstlerischen Avantgarde“ (Asholt/Fähnders 1997: 10). Das Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und künstlerischen Positionen der Avantgarde ist demgemäß von einer Differenz im Gebrauch der Utopie geprägt, beiden ist jedoch eine Auseinandersetzung mit der Utopie gemein. Im Zuge dessen würde ich der Position Wolfgang Ullrichs klar widersprechen, der im Gespräch mit Michael Reuter der Avantgarde zugesteht, utopische Umwälzungen forciert zu haben, diese Haltung in der Gegenwartskunst aber nicht ausmachen kann. Diese sei vielmehr „reaktiv und reflektierend“. Beides ist sehr wohl der Fall und führt doch auch zu jenem Punkt, über welchen die Avantgarde ins Heute transportiert und reformuliert werden könnte, nämlich das Bewusstsein dafür zu entwickeln, Vergangenes und Zukünftiges im Ereignishaften zu vereinen. Dass das Utopische in den künstlerischen Ereignissen des 21. Jahrhunderts nicht mehr zu finden sei scheint mir ein Trugschluss. Der Kunstwissenschaftler sieht den Künstler von heute als „Gegenwartsanalytiker. Er versucht auf der Höhe der Zeit zu sein und mit seiner Kunst ein reflexives Double zur Gegenwart zu bilden.“ Dies ist unwidersprochen der Fall, gleichwohl ist das Denken um ein Anderes, der kreative Umgang mit dem Schaffen alternativer Lebensräume dadurch nicht unwichtiger geworden. Das Mar25 Eine Auseinandersetzung zum Manifest findet sich im Exkurs: Das Manifest(e). 26 Der performative Charakter des Manifests steht meines Erachtens dagegen außer Frage.
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kante ist vielmehr, dass die andere Möglichkeit des (Er-)Lebens, das Utopische, heute bestenfalls im Hier und Jetzt, in der absoluten Gegenwart aufblitzen kann. Utopie wird damit keineswegs gedacht als flächendeckendes gesellschaftlich funktionierendes Konzept, sondern als, wie Dolan es sagt, Affekt. Ullrich begreift die Utopie wie es mir scheint in diesem Sinne nicht, sondern grundsätzlicher. Zeitgenössische Künstler, so konstatiert er, „wollen mit ihren Arbeiten keine Räume öffnen, in denen Utopien entstehen könnten.“ (Zit. nach Reuter 2009: o.S.) Das Gegenteil scheint mir dahingegen möglich (vgl. Reuter 2009: o.S.). Um einen detaillierteren Eindruck davon zu gewinnen, warum Utopie heute immer noch eine Rolle spielt und inwiefern sie sich von den historischen und NeoAvantgarden weg- oder zubewegt hat, möchte ich im Folgenden zwei Gruppierungen aus dieser Zeit herausgreifen und konturieren, die hinsichtlich utopischer Szenerien bedeutsam sind – und das nicht im Sinne detaillierter Utopiekonzeptionen, sondern vielmehr im darüber hinausgehenden Diskurs über Utopie (vgl. Abensour 2011: o.S.).
D IE U TOPIE IN DER HISTORISCHEN AVANTGARDE UND N EO -AVANTGARDE Wenn von Utopie in den Avantgarden die Rede ist, drängt sich die wohl bekannteste auf besondere Weise auf: Die Ineinanderführung von Kunst und Leben. Eine Spannung entfaltet sich in und an diesem Vorhaben schon deshalb, weil sie stets zur Sprache kommt, wenn vom Scheitern der Avantgarde die Rede ist. Da diese Ineinanderführung schlussendlich Utopie geblieben und nicht real transferierbar gewesen ist, hat sie, provokativ gesprochen, eine Epoche zu Fall gebracht. Aus der Perspektive eines hermetischen Utopie-Begriffs ist dieses Scheitern kaum zu bestreiten. Nichtsdestotrotz lohnt ein genauer Blick hinein in die Ismen selbst, um Überresten nachzuspüren, die verdeutlichen, dass von einem generellen Scheitern nicht die Rede sein kann, erinnern wir uns an das Kapitel Zum Verhältnis von Avantgarde und Moderne, es vielmehr Fragmente, Bruchstücke und Reste gibt, die bis in heutige künstlerische Produktionen und Positionen übertragen werden können und müssen. In diesem Zusammenhang ist es ebenso wichtig danach zu fragen, wo die Grundidee für diese utopische Vorstellung überhaupt ihren Ursprung genommen hat? Für die Beantwortung dieser Frage sind die Kunstwerke Marcel Duchamps wesentlich. Mit dem Fahrrad-Rad (1913), dem Flaschentrockner (1914) und Fountain
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(1917) wagte sich Duchamp 27 auf ein bis dato völlig unbekanntes Terrain. Die Auswahl an sich, die Statuierung eines Alltagsgegenstandes als Kunst – und hierbei sei auf die Differenz zu den Objets trouvés28 verwiesen, jenen ‚gefundenen‘ Objekten also, die immer auch trotz ihrer Alltäglichkeit, ihres Abfallcharakters einer Bearbeitung unterzogen wurden – war ein Affront. So wurde das Urinal, welches Duchamp als Beitrag für eine Ausstellung eingereicht hatte, abgelehnt, obschon keine Jurybewertung stattfand. Duchamp, der das Werk unter dem Namen R. MUTT herausgebracht hatte, äußerte sich anonym zu der Ablehnung, indem er darauf verwies, dass allein die Auswahl, aber auch die neue Titelzuordnung und die damit einhergehende Offerierung eines neuen Sinnzusammenhangs, als Kunst zu würdigen sei. Duchamp, so bilanziert Martin Damus, lieferte die Antwort auf die Frage nach dem Verständnis von Kunst mit seinen Objekten, welche für Duchamp fern jeder Ästhetik waren.29 Michael Rush macht den Einfluss Duchamps auf die fortan folgende Kunstgeschichte nicht nur in seinem Handeln aus, sondern darin, „what he allowed or initiated in art. The type of thinking he encouraged made explorations into different media and artistic forms seem very natural, almost expected.“ (Rush 1999: 22) Gleiches propagierte auch Francis Picabia. Jedoch war dessen Arbeitsweise durch vielfältigere Stilwechsel geprägt. Für beide war die verschärfte Auseinandersetzung mit technischen Apparaturen, Maschinen oder daraus resultierenden Bewegungen nicht (nur) bewundernder Natur wie etwa bei den Futuristen. Viel27 Rubin lässt die Dada-Bewegung mit Duchamp beginnen. Repräsentativ ist Duchamp meines Erachtens gerade deshalb für die anderen Dadaisten, da auch er über futuristisch, kubistisch oder fauvistisch geprägte Arbeiten zum Dadaismus kam. Eine Vielzahl der Künstler bewegte sich wie gesagt vorher in anderen Stilrichtungen (vgl. Rubin 1978: 26, sowie eine detailliertere Betrachtung Duchamps: 26-55. Siehe auch: Spies 1979: 135147). 28 Koppe verweist in Anlehnung an Bürger darauf, dass durch die Objets trouvés die eigentlich negierte Werkkategorie in ihrer ästhetischen Qualität und „Kunstfähigkeit“ (Koppe 2004: 191) sogar erweitert wurde. Zudem sei der Versuch, das Kunstwerk zu zerstören auch dadurch ins Gegenteil verkehrt worden, dass „mit der entpragmatisierenden und isolierenden Nobilitierung noch des Banalstem zum Schönen, die doch wiederum ihrerseits nicht von der Provokation des Hohns zu trennen sei“ die Kunst zwar weniger tradiert daherkam, jedoch „andererseits in irritierender Weise mehr“. Eine Ambiguität habe sich deshalb auch hinsichtlich des künstlerischen Werkcharakters ergeben. Diese wurde „in demselben Maß bestätigt wie […] dementiert“ (Koppe 2004: 186). Für Koppe hat sich eine Destruktion der Kunst im Zuge der Avantgarde somit nicht realisiert (vgl. Koppe 2004: 186-191). 29 Zum New Yorker Dada und dem Verhältnis zwischen Picabia, Duchamp und auch Man Ray vgl. Rubin 1978: 66 ff.
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mehr begegneten Picabia und Duchamp Maschine und Technik „mit Misstrauen und bitterer Ironie“ (Short 1984: 27). Picabia und Duchamp waren überzeugt davon, dass durch die Unvereinbarkeit technischer Apparate und Kunst ihre Werke per se keine Kunst sein könnten. Dass die Künstler von ‚der eigenen Kunst‘ sprachen, erinnere man sich an Duchamps oben genannte Einwürfe, weist, wie bereits erwähnt, gleichwohl auf das widersprüchliche Verhältnis des Vorhabens hin, eine Nicht-Kunst zu deklarieren, die dennoch als Kunst beschrieben wurde. Nichtsdestotrotz: Diese anarchistisch-provokative30 Haltung sorgte für Aufruhr und rüttelte an den Grundfesten des Kunstdiskurses (vgl. Damus 2000: 105 f./Koppe 2004: 191/Rubin 1978: 54 f.; 66 ff./Short 1984: 27/Spies 1979: 150 f.).31 In der Schwierigkeit sich mit der eigenen Kunst gegen die Kunst per se zu stellen zeigt sich aber eine Problematik, die der Utopie, wie wir festgestellt haben, gleichermaßen inhärent ist. Einerseits ist der Bezug zum gegenwärtigen Alltag nicht gewollt, da sich die Utopie wie die Kunst eben dazu abzugrenzen gedenkt und dagegen opponieren will. Andererseits kommen beide ohne diese Strukturen nicht aus, müssen sich, um die eigenen Ideen überhaupt statuieren zu können, mit diesen auseinandersetzen. Warum überhaupt Nicht-Kunst und warum Utopie, wenn der Einfluss auf die Gegenwart völlig irrelevant sein sollte? Um Nicht-Kunst und Utopie einen Sinn, eine Gestaltungsmöglichkeit, einen Raum für Veränderungen zu lassen, müssen sie sich zwangsläufig mit der Gegenwart beschäftigen. Die Utopie von Kunst und Leben als Einheit setzt sich demgemäß einer doppelten Schwierigkeit aus, da es gewissermaßen um eine zweifache Verneinung der gegenwärtigen Situation geht, die im Ursprung aber nicht gewollt sein kann, wenn sie nicht bedeutungslos verbleiben möchte. Mit Duchamp nun wurde das Sprechen über künstlerische und alltägliche Gegenstände auf radikale Weise ein anderes. Dadaisten und Futuristen erweiterten die Duchamp’sche Objektbezogenheit um die Verknüpfung von Sprache, Ding, menschlichem Körper und Schrift. Fortan sollte die Radikalität der Leben-KunstÜberschneidung nicht nur erlebt, sondern aktiv gelebt werden. Die Surrealisten widmeten sich diesem Vorhaben auf noch einmal andere Weise, in dem sie die Ebene der Sur-Realität ins Spiel brachten. Im Folgenden werde ich mich diesem Ismus konzentrierter zuwenden. 30 In gleichem Maße lässt sich die Haltung jedoch auch als eine analytisch-rationale beschreiben, bedenkt man die Konsequenz, mit der Duchamp den Kunstmarkt und dessen Simplizität offenlegte. 31 Dieses Verwerfen bestehender Vorstellungen lässt sich besonders mit der Kritik Balls am Hegelianismus, Kantianismus und der Aufklärung aufzeigen, sowie anhand seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche (vgl. Ball 1992: 21 f.; 36 f.; 71; 120; 139; 175; 178 f.; 180 f.; 196 f.; 206 f.; 212; 217; 279)
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Surrealismus und Utopie Surrealistische Pfade zwischen dadaistischen Altlasten und konkretem Neubeginn Die Entstehung des Surrealismus ist einerseits nicht ohne den Dadaismus zu denken. Andererseits wird das Verhältnis beider Ismen kontrovers diskutiert. Während beispielsweise von Beyme von einer Weiterentwicklung und einem ‚Übergang‘ spricht, in dem ein vormals Gemeinsames zu einer reformbedürftigen und hernach neu auszurichtenden Bewegung wurde, spricht Richter aus eigener Erfahrung davon, dass Dada von Breton nicht nur übernommen, sondern auch weitergeführt worden sei, „indem er [Breton; PG] eine umfassende Theorie und Methode entwickelte, die Traum und Zufall bis hin zur Halluzination einbezog“. Für Richter sei es die Entwicklung dieser beiden Elemente, die den Surrealismus vom Dadaismus unterscheide. Dennoch: „Der Surrealismus gab Dada Bedeutung und Sinn, Dada gab dem Surrealismus Leben“. Richter spricht gar davon, dass der Surrealismus den Dadaismus „gefressen“ (Richter 1964: 201) habe. Eine gegenseitige Abhängigkeit kann für Richter deshalb nicht abgestritten werden, eine isolierte Betrachtung erscheint obsolet. Short versucht dagegen eine Differenzierung herauszuarbeiten. So behauptet er, dass „die hervorstechendsten Prinzipien des Surrealismus bereits vor der Ankunft des Dadaismus in Paris und unabhängig von ihr von den jungen Pariser Schriftstellern umrissen worden waren“. Er geht sogar so weit davon zu sprechen, dass Dada für die spezifische dadaistische Form in Paris lediglich „eine beschränkte Randbedeutung“ (Short 1984: 53) dargestellt habe.32 Zudem lehnt sich Short an Bretons Aussage an, nach der die Zeit zwischen 1919 und 1925 eine intuitive Phase im Sinne des Surrealismus gewesen sei und dem Manifest von 1924 entsprechend bereits ein experimenteller Zeitraum voranging. Richter stellt hinsichtlich der Äußerungen Bretons allerdings fest, dass diese „nur post factum als surrealistisch bezeichnet werden können“ (Richter 1964: 200).
32 Short widerspricht sich dahingehend selbst, wenn er proklamiert, dass unser Eindruck des Dadaismus „[o]hne den Pariser Dada […] unklar und verschwommen“ sei, ja, mehr noch, dass „[d]ie enorme Verstärkung, die die Stimme des Dadaismus in der Hauptstadt des europäischen Modernismus erhielt, […] ihrem provinziellen Geschrei nachträglich zusätzliche Kraft und Bedeutung“ (Short 1984: 53) verliehen habe. Indem laut Short der Dadaismus seine eigentliche Sogwirkung in Paris entwickelt habe, was ich für eine streitbare These halte, stellt sich gleichwohl die Frage, wie Short gleichzeitig Bretons oben genannte These untermauern kann, wonach diese Phase bereits dem Surrealismus und nicht dem Dadaismus zugeschrieben werden müsse (vgl. Short 1984: 53).
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Der Verhältnisbestimmung zwischen Pariser Surrealisten und Dadaisten liegt eine militärische Ebene zu Grunde. So weist Rubin auf die Tatsache hin, dass beispielsweise Breton, Aragon, Soupault, Georges Ribemont-Dessaignes, Jean Paulhan oder Paul Éluard Militärdienst geleistet und somit zumeist erst 1919 von Dada erfahren hätten. Da sich Dada als anti-kriegerische, anarchistische Bewegung darstellte, wäre ihr mit der einsetzenden „Entspannung nach dem Waffenstillstand“ ein erheblicher Grund für die eigenen (Re-)Aktionen verloren gegangen. Der von Dada propagierte Nihilismus wirkte in gewisser Weise kontraproduktiv zu der nun veränderten politischen Lage. Dass mit Duchamps Hinwendung zur „Maschinenkunst“ (Rubin 1978: 152) und dem Selbstmord von Jacques Vaché zwei zentrale Persönlichkeiten des Dadaismus diesem verloren gingen, wird von Rubin ebenfalls als Auslöser für das Ende der dadaistischen Bewegung genannt. Obschon ein definites Ende des Dadaismus kaum zu setzen ist, können neben Rubins Erwähnungen auch der von Breton selbst benannte Barrès-Schauprozess33, sowie der Kongress von Paris als Gründe ausgemacht werden (vgl. von Beyme 2005: 273/Breton 1996: 80 ff./ Richter 1964: 189 ff./Rubin 1978: 152/Short 1984: 53 ff.). Neben allen Unterschieden machen Paul Young und Paul Duncan Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ismen an Begriffen wie ‚Inspiration‘ und ‚gemeinsamer Rebellion‘ fest. Ihr Hinweis, dass sich mit ihrer Kritik an der bürgerlich-starren, aufgeklärten und ignoranten Gesellschaft und dem daraus resultierenden Aufbruch hin zu den „Abgründe[n] des menschlichen Geistes“ (Young/Duncan 2009: 19) Parallelen zur Romantik erschließen, ist relevant.34 Edith Almhofer ergänzt, dass zahlreiche Surrealisten bis zur tatsächlichen qua Manifest formell bestätigten Gründung 1924 Dadaisten gewesen seien und ihr ‚Wandel‘ nicht zwingend in der künstlerischen Praxis offenbar geworden sei. Es sei den Surrealisten also weniger um die Kreation einer neuen künstlerischen Stilistik gegangen, vielmehr verstanden sie sich „als Bewegung poetischer, philosophischer und politischer Natur, die [sich] in der Nachfolge des nihilistischen dadaistischen Gedankengutes um eine Neusetzung35 positiver kultureller Werte“ (Almhofer 1986: 29) bemühte.
33 Hier kam es zum endgültigen Bruch zwischen Breton und Tzara, sowie Picabia, der erst gar nicht teilnahm (vgl. Breton 1996: 71; 80-84/Richter 1964: 189-191/Rubin 1978: 163). 34 Bowness spricht davon, dass Bretons Gründungsmanifest als „durch die Freudsche Theorie auf den neuesten Stand gebrachte Neuformulierung der Romantik“ (Bowness 1998: 155) zu betrachten sei. Vgl. auch Short 1984: 80; 120 und bezugnehmend auf Bretons Verhältnis zu Novalis: Puff-Trojan 2010: 85 ff. 35 In diesem Zusammenhang merkt Richter kritisch an, dass Breton den Dada im Zuge des Surrealismus zu einer „irrationale[n] Kunstbewegung [umfunktionierte; PG], die zwar
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Breton selbst erörtert im Interview mit André Parinaud, dass er und Aragon der überholten und abgenutzten „Neckereien“ überdrüssig waren und als eine der wenigen bemerkt hatten, dass die Dada-Zeitschriften und -Aktionen auf der Stelle traten, mitunter „stereotyp und verkalkt“ waren. 36 Eben darum traten Aragon und er für „eine radikale Erneuerung der Mittel, für die Verfolgung der gleichen Ziele auf entschieden anderen Wegen“ (Breton 1996: 78) ein (vgl. Almhofer 1986: 29/Breton 1996: 78/Young; Duncan 2009: 19).37 Utop(olit)ische Sur-Realität(en) Wie nun gestaltete sich der Surrealismus jenseits seiner dadaistischen Ursprünge? Für die Klärung lässt sich das von Breton verfasste Manifest von 1924 heranziehen, durch welches, ähnlich wie bei Marinetti, die Bewegung ausgerufen wurde. Von Beyme stellt fest, dass „[d]er Surrealismus […] neben dem Futurismus die einzige Künstlergruppe [war], die von ihren Führern kollektiv an ein politisches Engagement herangeführt werden sollte“ (von Beyme 2005: 530). So ist auch für diese Bewegung das politische Movens im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen, und eben nicht nur auf das Künstlerische bezogenen (Aus-)Wirkung mitzudenken. Von vorne herein implizit war auch dem Surrealismus die Vorstellung, Kunst und Leben ineinander führen zu wollen. Laut Peter Bürger stellte dieses Vorhaben für die Surrealisten gleichzeitig eine Problematik dar, da sie „die Kunst so wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat, d.h. als abgespaltene, zum organisierenden Prinzip gesellschaftlicher Praxis […] mach[te]. Damit [wurde] Kunst nach wie vor als das Andere der Gesellschaft gefaßt.“ (Bürger 1982: 6) Diese bereits formulierte Schwierigkeit blieb eine immerfort bestehende.
Dada gänzlich übernahm, aber die Dada-Rebellion in einer strengen geistigen Disziplin kanonisierte.“ (Richter 1964: 201) 36 Der Grund, warum die Auseinandersetzung beider Kunstformen an dieser Stelle so stark in den Fokus rückt obliegt nicht nur der tatsächlich kontroversen Bewertung innerhalb der zugrundeliegenden Literatur, sondern der Frage danach, ob die Gattungszuteilungen zum einen überhaupt noch relevant sind und zum anderen möglich. Die Tatsache, dass es sich um vielfach ein- und dieselben Personen gehandelt hat, die von Dadaisten zu Surrealisten ‚wurden‘ und die ihren künstlerischen Ausdruck wild zwischen beispielsweise bildender Kunst und/oder Aktionen, Plastiken, Coll-, Frott-, Gratt- und Assemblagen, Literatur, Fotomontagen, Filmen und Manifesten kreiseln ließen, drängt diese Frage auf. 37 Das Ende der dadaistischen Bewegung und die damit einhergehende Relation zum Surrealismus werden im Kapitel Dada II und Surrealismus II – Ausschlussverfahren erneut aufgegriffen.
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Unmittelbar zu Beginn des Ersten Manifests des Surrealismus (1924)38 nahm Breton darauf Bezug, indem er dazu aufforderte, sich der durch den Positivismus heraufbeschworenen „realistische[n] Haltung“ (Breton 1977: 13) zu erwehren, die nach dem Prozessieren gegen die materialistische nun als nächste Freiheit, Moral und Intelligenz zum Erliegen gebracht habe. Breton verweigerte sich der damit einhergehenden Logik, dem Rationalismus, der faktischen Analyse und der daraus resultierenden Klassifikationssucht, sowie der Benachteiligung von Geist und Gefühl. Mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds, insbesondere dessen 1900 erschienener Traumdeutung, statuierte sich für ihn ein Neubeginn. Dieser wurde nicht nur qua Manifest, sondern auch durch die Veröffentlichung der Zeitschrift La Révolution Surréaliste forciert. In dieser Ende 1924 zum ersten Mal veröffentlichten Schrift fanden sich neben surrealistischen Beiträgen und Bretons Manifesten auch klare politische Forderungen. Eine davon, nämlich die, dass man „zu einer neuen Erklärung der Menschenrechte“ kommen müsse, verdeutlicht, dass der Umbruch als gesamtgesellschaftlich und, wie Parinaud es in seiner Interviewfrage an Breton zusammenfasst, als „gleichzeitig poetische[…], moralische[…] und politische[…] Revolte“ (Breton 1996: 121) verstanden wurde. Gleichwohl wurde die tatsächliche „Hinwendung zur Politik“ (Breton 1996: 139) von Breton erst Mitte 1925 augenscheinlich. Relevant ist diesbezüglich der von Breton geäußerte Gedanke, dass die „sozialen Veränderungen der Welt […] Vorrang vor allen anderen“ (Breton 1996: 159) gehabt hätten und der Marxismus-Leninismus von ihm als das „erforderliche Werkzeug“ (Breton 1996: 150) befunden wurde und sich bewährt habe. Obschon Breton und andere Surrealisten ihre kommunistische Einstellung öffentlich machten, indem sie der Parti communiste français (PCF) beitraten, wäre es laut Breton nicht zu Äußerungen gekommen, die nur als politisch-revolutionäre Aktionen ohne künstlerischen Impetus stattfanden.39 Jutta Held schreibt dahingehend von einer anfängli38 Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Manifest vgl. Holländer 1982: 244-312. 39 Kritisch merkt Short an, dass für die von Breton eingeforderte Revolution der Gedankenund Erfahrungswelt jegliche sozio-politischen Bedingungen außen vor gelassen und keine externe Unterstützung für dieses Unterfangen in Anspruch genommen wurde. Das sollte sich ändern, denn der Versuch im Ersten Manifest, jedwede „Filtrierung“ (Breton 1977: 28) oder ideologische Vorgefasstheit auszuschließen, musste ab dem Moment hinterfragt werden, ab dem entgegen der ursprünglichen institutionellen Loslösung die politische Parteizugehörigkeit zahlreicher Surrealisten diesen ein gewisses Maß an (Ver-)Ordnung auferlegte und abverlangte, welche das Unbewusste nicht unberührt lassen konnte. Breton argumentierte rückblickend, dass die Kritik am politischen Eintritt zur Folge gehabt habe, „die Kunst wie eine Zuflucht zu betrachten und unter welchem Vorwand auch immer zu leugnen oder zumindest anzuzweifeln, daß uns die soziale Befreiung des Menschen weniger angehe als die Emanzipation des Geistes“ (Breton 1996: 156). Vgl. darüber hinaus
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chen Unsicherheit der Surrealisten darüber, „ob der Revolution oder dem Surrealismus der Vorrang gebühre.“ (Held 2005: 21) In Bretons Gespräch mit Parinaud wird zudem deutlich, dass fernab politischer Zuordnungen insbesondere der Liebe40 eine gewichtige Einflussnahme auf die surrealistische Kunst zugesprochen werden sollte. In dieser kam für Breton nämlich das Vorhaben zum Vorschein, nur „einen Teil unseres Geistes einer vernunftbetonten und disziplinierten Aktivität hinzugeben“ (Breton 1996: 160), den anderen Teil jedoch von Traum, Unbewusstem, ALogik, Emotion und (Sehn-)Süchten leiten zu lassen (vgl. Breton 1996: 6; 12 f.; 121 ff.; 150 ff./Breton 1977: 18/Young; Duncan 2009: 19). Dass diese Haltung vielfach kritisch bewertet wurde, liegt auf der Hand und dennoch mag diese Kritik auch der Tatsache geschuldet gewesen sein, soziopolitische Veränderungen eben nicht im Rahmen der Surrealität, sondern nur auf der Ebene der Realität verwirklichen zu wollen. Für die Surrealisten aber galt, wie Maurice Nadeau formuliert, dass für eine umfassende Veränderung zu Beginn eine Veränderung des Geistes der Mitbürger stehen musste und keine „physische […] und manifestierte […] Ordnung der Dinge“ (zit. nach Short 1982: 344). Die Surrealität41, so fasste Breton in seinem Ersten Manifest zusammen, wäre schließlich jene Form von „absolute[r] Realität“, die „durch die Auflösung dieser Breton 1977: 75. Dahingegen habe der Surrealismus sich eben nicht nur selbst genügen, sondern wirkmächtig eingreifen wollen. Die Gefahr der Partei-nahme durch die Partei, welche die surrealistische Unabhängigkeit angriff, erkannte Breton gleichwohl (siehe hierzu auch die Auseinandersetzung mit Pierre Naville, Leiter der Gruppe Clarté, in: Breton 1996: 144-151; 157 ff.). Wohl auch deshalb währte die Parteizugehörigkeit nur kurz. Die Kritik die Short rückblickend konstatiert, macht sich weniger am politischen Eintritt, sondern ganz grundsätzlich an der Tatsache fest, dass die Surrealisten weder in das politische Geschehen einwirken konnten, noch „grundlegende […] Beiträge zur Entwicklung politischer Theorien“ generierten. Vielmehr sei die Betrachtung der Surrealisten hinsichtlich ihrer politischen Implikationen eher in jenem Bereich interessant, in dem „durch eine Reihe von außerordentlich klaren polemischen Schriften […], die eigenen intellektuellen, künstlerischen und moralischen Auffassungen mit den Zielen und Methoden des internationalen Kommunismus“ verwoben wurden. Ein Grundstein dafür lässt sich mit Short in der Forderung der Surrealisten ausmachen, dass Dichtung von jedem und nicht nur von dazu (aus)gebildeteten Künstlern kreiert werden sollte. Durch diese Verallgemeinerung sei aus der ästhetischen eine ethische „Angelegenheit“ (Short 1982: 341 ff.) geworden, die gleichermaßen kommunistische Züge offenbarte (vgl. Breton 1977: 27 f.; 156 f./Held 2005: 21/Short 1982: 340 ff.). 40 Siehe hierfür Breton 1977: 94. 41 Der Begriff Surrealismus geht auf Guillaume Apollinaire zurück, der diesen 1917 erstmals erwähnte, und welcher übersetzt ein Überwirkliches, eine über der Realität stehende
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scheinbar gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit“ (Breton 1977: 18) entstehe. Der revolutionäre Duktus, die soziokulturelle Umwälzung, der Anspruch, der Gesellschaft einen neuen Vorschlag von Realität zu unterbreiten ist hier von Belang und fügt sich in eine Reihe zu auch der Utopie zugeordneten Charakteristika. Weder explizierte Breton selbst den Begriff der Utopie, noch setzte er die Surrealität mit der Utopie gleich. Stattdessen schwebt die Utopie in einer von heute auf den Surrealismus blickenden Denkbewegung mit und ist nicht nur im Sinne einer alternativen Seinsweise, sondern auch als alternativer Topos, als anderer Ort des Seins zu diskutieren. Um die Veränderungen innerhalb des Surrealismus aufzugreifen, ließ Breton 1930 dem ersten sein Zweites Manifest folgen, das sich als Antwort auf jene Behauptungen verstand, nach denen die „‚persönlichen Fragen‘“ von den „‚politische[n] Divergenzen‘“ (Breton 1977: 48) überdeckt würden.42 Dezidiert ging Breton in diesem Zweiten Manifest auf die in seinem Sinne zu unterstützenden Aussagen Marx’, Engels’, Lenins und Trotzkis ein und betonte die surrealistische „Zugehörigkeit zum Prinzip des historischen Materialismus“ (Breton 1977: 68) sowie die Verbundenheit zum „Ziel des marxistischen Denkens“ (Breton 1977: 73). Auch hinsichtlich der Relation zur sozialen Ordnung war ein Wandel festzustellen. So wäre es für ihn „unumgänglich […], die Frage nach der sozialen Ordnung, unter der Surrealität meint. Breton formuliert in seinem Manifest, dass er und Soupault im Zuge des ‚automatischen Schreibens‘, „diese neue Form des reinen Ausdrucks mit dem Namen SURREALISMUS“ versahen, auch zu Ehren Guillaume Apollinaires, wie Breton betont. Gleichwohl merkt er an, dass dieser vorerst nur die „Vokabel Surrealismus“ etablierte, ohne sie entsprechend theoretisch zu rahmen. Ging es Apollinaire also zuvorderst um das Buchstabenmaterial, dass es zu betrachten gälte, richtete Breton den Blick auf das Unbewusste. Breton spricht hinsichtlich des Surrealismus von einem „[r]eine[n] psychische[n] Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ (Breton 1977: 26) Ferner sollten „vernachlässigte[…] Assoziationsformen“ unter Einbezug des Traumes und des Spielerischen sowie „die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen“ forciert und durch den Surrealismus ersetzt werden, um „zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme“ (Breton 1977: 27) beitragen zu können. Dazu zählte eine „neue Moral“ (Breton 1996: 41), die durch das surrealistische Vorhaben generiert werden müsste. So sei der „Surrealismus […] der ‚unsichtbare Strahl‘, der uns eines Tages unsere Gegner besiegen lassen wird“ (Breton 1977: 43) (vgl. Breton 1977: 25 ff.). 42 Holländer spricht von einer „Revision“, denn: „Breton hat von dem Recht, sich selbst zu widersprechen, so oft Gebrauch gemacht, dass man in seiner Taktik fast eine eigene Kunstform vermuten darf“ (Holländer 1982: 256).
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wir leben, in der leidenschaftlichsten Weise zu stellen, ich meine die Frage um Annahme oder Ablehnung dieser Ordnung“ (Breton 1977: 66). Dabei setzte er sich kritisch mit der Parti communiste auseinander, versuchte das Verhältnis zwischen Kommunisten- und Surrealistendasein zu klären und mokierte sich über ehemalige Surrealisten, die ihre vormalige Zugehörigkeit im Zuge des Parteieintritts ad acta gelegt hätten. Deutlich wird hier, dass das aktive Bekenntnis zu einer Partei und deren Dogmen mit der Freiheit des künstlerischen Wirkens immer auch zu Kollisionen führte und führt. Ähnliches lässt sich beispielsweise auch für Joseph Beuys oder, wie gesehen, die Futuristen sagen. Die Rechtfertigungen, die Breton auch in Entretiens (1996) mehrfach vollzog, und als die auch das Zweite Manifest gelesen werden kann, verdeutlichen den offensichtlichen Konflikt, der sich aus (vermeintlich) künstlerischer Freiheit und Parteizugehörigkeit ergibt. Noch deutlicher wird dies in Bretons Aufsatz von 1935 Als die Surrealisten noch Recht hatten, in welchem der Bruch mit der Kommunistischen Partei sowie vorangegangenen politischen Entscheidungen vollzogen wurde. In dem Pamphlet griff Breton gemeinsam mit anderen Unterzeichnern wie Salvador Dalí, Man Ray, Max Ernst oder Meret Oppenheim konkret das sowjetrussische Regime und deren Führer an, die durch ihre Beschränkung der freien Gedanken und Meinungsäußerungen der eigentlichen „politischen Konzeption […] reaktionär“ (Breton 1977: 108) gegenüberstünden. Für Short erweist sich diese Distanzierung als unausweichlich. Zu different seien die Haltungen von Kommunisten und Surrealisten gewesen, beispielsweise hinsichtlich der hegelianischen Dialektik, der marxistischen Auslegung sowie der revolutionären Gedanken. Diese, so bilanziert Short, äußerten sich bei den Surrealisten dahingegen vielmehr „subjektiv und spirituell“. Ein ganz grundsätzlicher Unterschied machte sich deshalb auch an der revolutionären Zielsetzung fest, die für die Surrealisten weniger in der Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterklasse lag, als vielmehr in der je individuellen Erfahrung und dem brachliegenden Denken (vgl. Breton 1977: 48 ff.; 106 ff./Short 1982: 360 ff.). Weil jedoch laut Short die Surrealisten auf der Handlungsebene zumeist im „Stadium der politischen ‚Agitation‘“ verharrten, blieb es bei einigen wenigen Aktionen, wie beispielsweise dem „Sprengen von Versammlungen, Überfälle[n] auf Zeitungsredaktionen, [der; PG] Beleidigung von Priestern und Soldaten“ (Short 1982: 364 ff.).43 Gegen diesen fehlenden öffentlichen Aktionismus richteten sich indes die Gruppierungen Contre-Attaque, Acéphale und FIARI, deren Mitglieder zumeist den Surrealisten angehörten beziehungsweise angehört hatten, von deren Grundgedan43 Grundsätzlich waren neben den Manifesten die Literatur und die bildende Kunst bevorzugte Ausdrucksmittel der Surrealisten.
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ken sie sich aber nun abzusetzen gedachten. Vor allem die ersten beiden Kollektive einte der Versuch, noch markanter mit ästhetischen Mitteln politisch widerständig zu werden. Short und Bürger weisen insbesondere Contre-Attaque zwar als randständige Gruppe innerhalb der Surrealisten aus und betonen ihre Wirkungslosigkeit. 44 Dagegen nimmt unter anderem Stephan Moebius (2009) gleichwohl eine Kontraposition ein.45 Ins Leben gerufen wurde Contre-Attaque 1935 von Georges Bataille, Pierre Kaan und Jean Dautry in Paris mittels eines Appells an interessierte revolutionäre Intellektuelle. 46 Auch André Breton trat ihr unmittelbar bei. 47 Die Gruppe forderte dazu auf, sich gegen den Faschismus zu stemmen und trotz oder gerade wegen einer kritischen Haltung des Kapitalismus gegenüber Alternativen zum Kommunismus zu entwickeln, da dieser das Vertrauen der Unterstützer nicht mehr rechtfertigte. Neben theoretischen Überlegungen ging es den Gründern parallel um eine praktische Umsetzung mit durchaus militanten Methoden. Dabei, so stellt Moebius fest, wurden „die Mittel, die der Faschismus zur Fanatisierung und Begeisterung der Massen anwendet, für links-revolutionäre Zwecke“ genutzt, um eine Massenbewegung auszulösen und eine Verbesserung des gesellschaftlichen Zustands zu erwirken. Bataille, der eigene kritische Studien zum Faschismus hinsichtlich dessen psychologischer Fundierung und Verwendung hervorgebracht hatte, machte dahingehend deutlich, dass dem Faschismus nur mit dessen eigenen Mitteln beizukommen wäre. Dabei sollte die revolutionäre Umsetzung keiner staatlichen oder parteipolitischen Vorgabe nacheifern, sondern aus Straßenprotesten der Masse hervorgehen. Dem Entstehungsmanifest, neben den Genannten auch von Eluard, Péret, Claude Cahun, Pierre Klossowski oder Georges Ambrosino unterzeichnet, folgten nicht nur Sitzungstreffen bei Jaques Lacan, sondern auch ein Anstieg der Anhänger auf bis zu 70 Personen, denen als Vorbilder mitunter Friedrich Nietzsche oder Charles Fourier dienten. Letzterer spielte mit seinen Überlegungen zur sozialen Utopie eine wichtige Rolle. Insbesondere seine Überlegungen zur Befreiung des Menschen von „sozialen Zwängen“ (Kilian 2013: 116) waren von großem Interesse für die Mitglieder. Eine Heftreihe mit dem Titel Cahiers de ContreAttaque endete bereits nach der ersten Ausgabe, gleichwohl wurde eine Vielzahl von Veranstaltungen konzipiert, die qua Diskussionen und Vorträgen Wege für eine 44 Für eine kritische Auseinandersetzung mit Acéphale, siehe Blanchot 2007: 26 ff. 45 Vgl. neben Moebius auch aus einer anderen Perspektive: Stone-Richards 2003: 302-336. 46 Vgl. für den organisatorischen Aufbau der Gruppe und dessen Strukturen: Kilian 2013: 110 ff. 47 Der genaue Zeitpunkt und auch die Hintergründe des Eintritts sind unklar. Patrick Kilian vermutet, dass „die zunehmende Isolierung der Surrealisten nach dem internationalen Schriftstellerkongress im Juni 1935 und der Ausschluss aus der PCF ihn [Breton; PG] zu diesem Schritt bewegt hatten.“ (Kilian 2013: 102)
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„Veränderung der Mentalitäten der Menschen und der Bekämpfung jeder nichtuniversellen, nationalistischen Gemeinschaft“ (Moebius 2009: 93 f.) aufzeigen sollten. Der Versuch, so formuliert Moebius, die auf Emile Durkheim, Sigmund Freud, Marcel Mauss und Robert Hertz basierenden Überlegungen für eine affektive und ekstatische Begeisterung der Masse zu nutzen, wurden zum zentralen Ziel. Dabei stand auch hier jedoch weniger die von Freud forcierte strukturierte Massenbewegung im Blickpunkt, als vielmehr die Befreiung des „Individuum[s] in der revolutionären Ekstase [welches; PG] […] im Moment seiner Selbsttranszendenz eine subjektive Befriedigung“ (Moebius 2009: 96) erfahren sollte. Die Relevanz des Diskurses innerhalb der Gruppe, der durch eine unmittelbare Hervorbringung stattfand und sich im kollektiven Miteinander vollzog, scheint mir zentral, weil er mit einem Gedanken zur Utopie zusammengebracht werden kann, den der Philosoph Miguel Abensour starkmacht. Abensour erklärt, dass die Utopie „darauf abziel[t], die gegenwärtige Realität zu überwinden und sie durch eine neue Form der Realität zu ersetzen.“ Für die Surrealisten war diese neue Realität die Surrealität. Auch hier wurde „eine bessere Gesellschaftsordnung und eine zukünftige Freiheit“ anvisiert und gleichzeitig Bestehendes in Frage gestellt. Der Utopie falle dabei die Aufgabe zu, „blinde[...] Flecken aufzuspüren an denen die Emanzipation in ihr Gegenteil umschlägt, sie einzukreisen und sie zu dekonstruieren, um neue utopische Durchbrüche zu ermöglichen.“ Ein hervorzuhebender Punkt in Abensours Thesen liegt nun meines Erachtens in der Aussage, dass „die Besonderheit des neuen Geistes der Utopie nicht so sehr darin [besteht], Utopien zu produzieren, sondern in einem Diskurs über die Utopie, einem neuen Denken der Utopie.“ (Abensour 2011: o.S.) Abensour formuliert diese Sätze im Kontext weiterer Erläuterungen zum „neuen Geist der Utopie“, welcher uns heute ereile und doch ist es der Diskurs, der für ContreAttaque und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits eine entscheidende Rolle spielte und somit einen Bezugspunkt zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem herstellt. Darüber hinaus ist es damals wie heute die Mannigfaltigkeit der Utopie, die diese, wie Abensour sagt, vor ihrem Tod im 19. Jahrhundert bewahrt und bis ins heute überführt habe. Der Unterschied liege heute jedoch darin, dass es nicht mehr wie noch zu Zeiten Thomas Morus’ darum gehe „Utopien zu produzieren, sondern […] einem Diskurs über die Utopie, eine[m] neuen Denken der Utopie“ Rechnung zu tragen. Künstler, die in ihrem Tun diese Diskurse führen, vollziehen Utopie somit auf eine Weise, die nichts mehr mit einer gesamtgesellschaftstheoretischen Reformulierung gemein hat, sondern viel kleinteiliger funktioniert. Die Surrealisten und ihre Folgebewegungen haben auf ihre Weise diesen Diskurs angefacht, die Situationisten haben ihn, wie wir im Verlauf sehen werden, weiterentwickelt und SIGNA gestalten ihn auf daran anschließende Weise anders aus. Abensour erkennt in der Utopie keine „Vorstellung einer nach Perfektion strebenden glücklichen Gesellschaft oder einer nirgends existierenden Gesellschaft“. Die Morus’sche Annäherung an den Begriff wirft er demnach über Bord und spricht
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stattdessen davon, dass es der Utopie darum gehe, „dem Realen seine Massivität, seine Verdinglichung und seine Versteinerung zu nehmen.“ Ihr obliege „die Funktion, das Gewicht des Realen oder dessen, was sich als real präsentiert, aufzuheben. Und um das zu erreichen, verschiebt sie das Reale, versetzt es in Bewegung, hebt es aus den Angeln, um durch die bleierne Schicht des sogenannten Realen das Andere, ein anderes Sein, zu erahnen.“ (Abensour 2011: o.S.)
Gleichzeitig überschreite die Utopie laut Abensour durch die Verschiebung das Reale, erweitere und verändere „unsere Horizonte“ und öffne neue Optionen, um Beziehungen, Räume, bestehende Ordnungen oder Lebensweisen zu überdenken. Zu fragen habe sich die Utopie heute jedoch, welches Ziel sie mit dieser Verschiebung verfolge: Zielt sie „[a]uf das Anderssein oder auf anderes als Sein“ ab? Abensour findet darauf eine Antwort, indem er die Utopien unterteilt in „jene[...], in der die Verschiebung auf eine neue Topie ausgerichtet ist und jene[...], die von der Verschiebung fortgerissen wird und sich im Nirgendwo einrichtet“. Beide vereine gleichwohl, dass die ambiguen Verschiebungen von Realität(en) zu einer Vielzahl von Möglichkeiten führen (vgl. Abensour 2011: o.S./Kilian 2013: 110 ff./Moebius 2009: 89 ff). Die Diskurse innerhalb von Contre-Attaque drehten sich einerseits um diese Realitätsverschiebungen, andererseits sollten sie in politischem und aktivem Handeln aufgehen. Eine durch den Anschlag auf den Sozialisten Léon Blum ausgelöste Großdemonstration antifaschistischer Unterstützer in Paris ließ Contre-Attaque 1936 zum ersten Mal öffentlich aktiv werden. Mit Hilfe von Flugblättern wurden die Arbeiter zur Revolte aufgefordert, der Demonstration wohnte man in persona bei. Der Aktion auf der Straße folgte eine Verlagerung ins Kino. Dafür geriet Luis Buñuels L’Âge d’Or (1930) in den Mittelpunkt zahlreicher gemeinschaftlicher Diskussionen. So wollte man den Film nicht nur in Kinos vorführen, sondern parallel durch Debatten oder Nachbesprechungen rahmen, um dadurch vielgestaltige gedankliche Prozesse bei den Rezipienten in Gang zu setzen. Patrick Kilian erkennt im Aufgreifen des Films einen deutlichen Bezug zu einem surrealistischen Grundanliegen, welches Bataille und Breton anfangs noch einte. Seiner Meinung nach „[scheint das Kino] [i]n seiner Position als Vermittler zum Unbewussten […] wie prädestiniert dafür zu sein, Batailles und Bretons revolutionäre Ideen umzusetzen.“ (Kilian 2013: 124) Dass die Gruppierung sich dennoch bereits zwei Monate nach der Demonstration wieder auflöste, war mitunter einem Neologismus von Jean Dautry zu verdanken. Mit „‚surfascisme‘“ (zit. nach Moebius 2009: 97) hatte Dautry das Bestreben des Bündnisses den Faschismus zu überwinden beschreiben wollen. Für die Surrealisten in der Gruppe führte dieser Begriff allerdings zum Widerspruch und der Loslösung eines Großteils um Bretons Person. Moebius macht den Grund für die Auf-
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lösung zudem in der Missachtung der materiellen und existenziellen Bedürfnisse der Arbeiter aus, welche mit der theoretisierten und elitären Haltung der ContreAttaque-Anhänger nichts anfangen konnten. Breton und Bataille gerieten dabei in einen solch existenziellen Konflikt, dass an eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zu denken war. 48 Schlussendlich konnte somit auch Contre-Attaque nicht in jener Weise von den eigenen theoretischen Bestrebungen Abstand nehmen, der nötig gewesen wäre, um unter den französischen Bürgern eine tatsächlich revolutionäre Aufruhr auszulösen. Die Strategie wiederum, das Subjekt für eine Veränderung zu aktivieren findet sich auch bei Abensours Thesen zur Utopie und verdeutlicht die Grundidee, das Rütteln an der bestehenden Realität im Kollektiv zu betonen, dem Subjekt jedoch dabei weiterhin gerecht werden zu müssen. Im (post-)surrealistischen Sinne implizierte dies, sich dem eigenen Unbewussten, der Phantasie, den Mythen und den Träumen zuzuwenden, um die individuellen Erfahrungen hernach innerhalb des Kollektivs expressiv auf die Gesellschaft zu übertragen. Bataille sprach in seinen beiden Cahiers-Aufsätzen Vers la révolution réelle und Front Populaire durchaus dezidiert von einem revolutionären Umsturz, der sich innerhalb der Massen vollziehen müsse und dachte dies weit radikaler als Breton, indem er zur antifaschistischen Gegengewalt aufrief. 49 Held formuliert in diesem Zusammenhang: „Gewalttätigkeit wurde zu einer Art Existential, unter dem wesentliche Lebensäußerungen des Sub48 Vgl. zu diesem Konflikt zwischen Bataille und Breton auch die Ausführungen Vittoria Borsòs in ihrem Aufsatz „Rêve d’une pensée hétérologigique“. Georges Bataille am Ursprung ohne Ursprung (1997): 55 ff.; 59 f. Der Ausgangspunkt für die Überlegungen Borsòs in diesem Text ist ganz grundsätzlich die Heterologie Batailles. Mit Hilfe dieser wendet die Autorin sich „jene[m] Erbe[…] der Moderne [zu; PG], das sich statt aus der Doxa der Aufklärung aus ihrem kritischen Potential herleitet.“ (Borsò 1997: 49) In diesem Zusammenhang führt Borsò auch Lyotards „Selbstkritik“ an, „die ihn [Lyotard; PG] zur Revidierung des von ihm geprägten Begriffs der Postmoderne und zu dessen Ersatz durch ein kritisch verstandenes Programm führte (Redigieren der Moderne)“ (Borsò 1997: 49). Die Verknüpfung, die Borsò an dieser Stelle ihres Aufsatzes zu Lyotard herstellt, möchte ich hervorheben, da sie eine Verbindungslinie zu den Ausführungen im Kapitel Das Scheitern der Avantgarde als Performativität des Scheiterns darstellt. 49 Hinsichtlich Batailles Ästhetik betont Borsò dessen „Suche nach einer nicht diskursiven Kunst“, die es auf „die Ablehnung, die Zerstörung“ (Borsò 1997: 52) anlegt. Eine solche Ästhetik „wendet sich entschieden gegen eine zeitgenössische, identifikatorische Kunst, die durch ihre Integration in den nationalsozialistischen Diskurs eine erneute und weitaus zerstörerische Allianz von Transgression und Gesetz herbeigeführt hat.“ (Borsò 1997: 53) Das Prinzip einer ‚nicht diskursiven Kunst‘ verfolgt wiederum die Performance-Kunst bis heute und strebt damit gleichermaßen eine permanente Ent-Identifizierung an.
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jekts begriffen wurden.“ (Held 2005: 46) Und doch differenzierte Bataille laut Held zwischen den kriegerischen Mitteln des Militärs und „dem ‚combat‘, der auf der Stärke und dem Mut des Individuums beruht.“ (Held 2005: 48) 50 Eine langfristige und tiefgreifende Übertragung jener Vorhaben auf die Masse, die sich für Bataille gleichwohl nicht mehr allein in der Arbeiterklasse ausmachen ließ, sondern allgemeiner gefasst werden sollte, blieb im Rückblick dennoch aus. Die nach dem Zerwürfnis zwischen Breton und Bataille entstandene Bewegung Acéphale sollte dieser ernüchterten Bilanz progressiv begegnen. Den Aspekt der Gemeinschaft versuchte Acéphale auf kollektive und performative Weise hervorzubringen und entwickelte dafür ein Gegenmodell zu gewaltsam erschlossenen, faschistischen oder undemokratischen Gemeinschaften. Begründer der Gruppierung war auch hier, gemeinsam „mit anderen surrealistischen Dissidenten“, Bataille. Erneut wurde eine gleichnamige Zeitschrift (1936-1937) herausgebracht, diesmal von Bataille, Klossowski und André Masson, und daneben eine „Geheimgesellschaft“ (Moebius 2009: 99) konzipiert. Zeitschrift und Geheimgesellschaft wiederum wurden unmittelbar Bestandteil des Collège de Sociologie, das Bataille mit Roger Caillois und Michel Leiris im Jahr 1937 ins Leben gerufen hatte. Die Gründung bedeutete zeitgleich jedoch das Ende der Zeitschrift.51 Denis Hollier vermutet, „daß Acéphale sein Erscheinen nur einstellte, um sich desto entschlossener in der Klandestinität einzurichten oder, um den Ausdruck Blanchots zu übernehmen, in der unerhörten Kommunität einer Geheimgesellschaft. Ein unsichtbarer Acéphale im Wald von Marly folgte dem Acéphale aus Papier.“ (Hollier 2012b): 28)
Das Collège, dem unter anderem auch Hans Mayer, Alexandre Kojève oder Jean Paulhan angehörten und in dessen Sitzungen man mitunter Walter Benjamin oder Julien Benda antraf, forcierte Fragestellungen, die sich theoretisch mit den faschistischen Energien innerhalb der Gesellschaft auseinandersetzten. Um diesen zu begegnen arbeitete man an der Reaktivierung der „in den Tiefenschichten des Sozialen noch schlummernden Lebensenergien der kollektiven Ekstase“ (Moebius 2009: 99).52 Freud, Hegel, Marcel Mauss und Emile Durkheim wurden zu zentralen theo50 Für weitere Ausführungen zum Verhältnis von Contre-Attaque zur Gewalt, siehe Held 2005: 45 ff. 51 Für einen erstmals umfassenden Überblick der innerhalb des Collège produzierten Texte, siehe Hollier 2012a). 52 Borsò beschreibt „de[n] Weg, den Batailles Heterologie geht [als; PG] orgiastisch, dionysisch, grotesk.“ (Borsò 1997: 59) Es zeigt sich in diesem Zusammenhang einmal mehr der Einfluss, den Batailles Überlegungen auf zahlreiche Forderungen des Collège genommen haben.
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retischen Stichwortgebern. Man forderte eine Gesellschaft, die sich gegen eine autokratische und gleichsam religiös indoktrinierte Führungsebene richten sollte, um stattdessen einer durchaus ekstatischen, zweckfreien Herrschaftslosigkeit den Weg zu bereiten, die eng geknüpft sein sollte an die „aktive Präsenz des Sakralen“ (Ambrosino/Bataille/Caillois/Klossowski/Libra/Monnerot 2012: 30). Neben der „Sakralsoziologie [sociologie sacrée]“ (Ambrosino/Bataille/Caillois/Klossowski/ Libra/Monnerot 2012: 29) galt dabei dem Mythos besondere Aufmerksamkeit. Zu diesem formulierte Bataille: „Denen, die in Kunst, Wissenschaft oder Politik keine Befriedigung finden konnten, steht noch der Mythos zur Verfügung.“ Gemäß Bataille war dieser „nicht nur die göttliche Gestalt des Schicksals und die Welt, in der diese Gestalt sich bewegt; er ist Sache der Gemeinschaft, von der er untrennbar ist und die im Ritus von seinem Reich Besitz ergreift. Er wäre Fiktion, wenn nicht die einträchtige Zustimmung, die ein Volk in der Erregung der Feste zeigt, ihn zur vitalen menschlichen Realität werden ließe.“ (Bataille 2012a): 284)
Held zeigt auf, dass die anfangs von den Surrealisten bekämpften „mächtigen politischen und moralischen Instanzen des Bürgertums“, für die „Mythos und Religion“ anfangs standen, im Zuge des Collège eine „neue Wertigkeit“ (Held 2005: 44) erhielten, indem sie anders gewendet und durchleuchtet wurden. Man begab sich auf die Suche nach den produktiven Momenten, die für die „selbstgewählten Gemeinschaften“ (Bataille 2012b): 56), für die Bataille plädierte, basisbildend werden sollten. Um gleichwohl nicht in der Fiktion oder Utopie zu verharren, postulierte Bataille in seinem Vortrag Der Zauberlehrling: „Wenn die Wahrheit, welche die Wissenschaft offenbart, ihren menschlichen Sinn verloren hat, wenn die Fiktionen des Geistes nur noch auf den fremd gewordenen Willen des Menschen reagieren, verlangt die Erfüllung dieses Willens, daß diese Fiktionen wahr gemacht werden.“ (Bataille 2012a): 275) Für die Mitglieder des Collège hatte eine Gemeinschaft, die diese theoriegebundenen, aber dahingehend kritisch reflektierten „Aktivität[en]“ (Ambrosino/Bataille/Caillois /Klossowski/Libra/Monnerot 2012: 29) aufgriff, nicht mehr viel gemein mit den wirkungslos gebliebenen Forderungen des Surrealismus. Bereits 1929 hatte Benjamin in seinem Aufsatz Der Sürrealismus zwar anerkannt, dass die Surrealisten jenen „radikalen Begriff von Freiheit“ (Benjamin 1982: 27) entwickelt hätten, der nötig für die Revolution sein würde. Diese an den Rausch und das Ekstatische zu knüpfen war zudem auch damals vornehmliches Ziel der Surrealisten. Und doch kam ihnen dabei offenbar jene Hinwendung zum Alltäglichen abhanden, für die Benjamin plädierte, als er schrieb: „Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, sürrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer
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Benjamin machte im Surrealismus Ende der 1920er Jahre zwar die notwendigen, mitunter spirtituellen Bausteine für eine Revolution aus. Gleichwohl band er diese bereits damals unmittelbar an den Leibraum: „Auch das Kollektivum ist leibhaft. Und die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, ist nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen, in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht. Erst wenn in ihr sich Leib und Bildraum so tief durchdringen, daß alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leiblichen Innervationen des Kollektivs revolutionäre Entladung werden, hat die Wirklichkeit so sehr sich selbst übertroffen, wie das Kommunistische Manifest es fordert.“ (Benjamin 1982: 30 f.)
Dieser Verbindung wurden die Surrealisten am Ende allerdings nicht mehr gerecht und so ließen sich Benjamins noch 1929 unterstützenden Thesen im Zuge des Collège knapp acht Jahre danach als Surrealismus-Kritik lesen, aus der sich nunmehr jene Forderungen entwickelten, die die Acéphale in die Tat umzusetzen gedachte. Doch auch bei dieser Gruppe machte sich bereits nach zwei Jahren eine zunehmende Diskrepanz zwischen erkenntnistheoriegesättigtem Überbau und tatsächlicher Ausführung breit. Schon 1939 fanden Acéphale und Collège trotz der ambitionierten Vorhaben ihr Ende. Eine weitere Gruppierung, die kurz zuvor 1938 von Breton, Leo Trotzki und Diego Rivera ausgerufene Bewegung der Fédération Internationale des Artistes Révolutionnaires Indépendent (FIARI), die den Antistalinismus forcierte, blieb ebenfalls nur von kurzer Dauer. Für Moebius zeigte sich in den Aktionen von FIARI, der von den Mitgliedern publizierten Zeitschrift Clé und den zugehörigen „Bildern, […] Manifesten, Flugschriften, Plakaten, Karikaturen oder Zeitschriften“ (Moebius 2009: 106) dennoch ein Versuch surrealistische Politik zu betreiben, die das gespaltene Subjekt und dessen Unbewusstes in den Fokus rücken wollte, um damit die antikapitalistische, antifaschistische und antistalinistische Haltung auf die Masse zu übertragen. So wenig prominent die Gruppierungen Contre-Attaque, Acéphale (in Verbindung mit dem Collège de Sociologie) und FIARI im Zusammenhang mit dem Surrealismus diskutiert werden, so sehr sind sie in dieser Arbeit zu erwähnen, als sie alle der Versuch einte ihre vielfach utop(olit)ischen Vorhaben gleichzeitg an sichtba-
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re Aktivitäten zu binden und in der Realität zu verankern (vgl. Held 2005: 44 ff./ Hollier 2012b): 27 ff./Kilian 2013: 121 ff./Moebius 2009: 97 ff./Short 1982: 362). Und die Kunst? Kehren wir nun noch einmal zur surrealistischen Kerngruppe zurück, so fehlt bislang ein konkreter Blick auf die Kunst. Wie aber explizierten sich besagte theoretische Beschreibungen der Surrealisten innerhalb der künstlerischen Produktion? André Breton lieferte mit seinem Ersten Manifest von 1924 eine dezidierte ‚Anleitung‘ zur surrealistischen Kunst und griff den Prozess des automatischen Schreibens gesondert auf. Es handelt sich dabei um eine der markantesten surrealistischen Ausdrucksformen, die sich im ‚Akt‘ des unbewussten Zugangs zum eigenen Denken äußerten, der, wie bereits erwähnt, ähnlich dem Traum dazu verhelfen sollte, fernab jeder Rationalisierung und Logik eine freie Geistesausübung zu ermöglichen. Dass die daraus resultierende Inspiration zudem frei von Zweifeln hinsichtlich ästhetischer Ansprüche oder moralischer Vorgaben war und schlicht schöpferischen Impulsen Folge leistete, war für den Surrealisten wichtig. Erfahrbar wurde dieser psychische Automatismus durch das häufige Versetzen in hypnotische Schlaf- oder tranceartige Abwesenheitszustände. Die in diesen Situationen produzierten Protokolle über die erlebten Denk- und Redeprozesse führten laut Damus zu „absurden und angeblich aufrührerischen Texten“ (Damus 2000: 169). Dabei widmete Breton dem Aspekt der Sprache eine zentrierte Auseinandersetzung und verband sie mit der Idee, diese surrealistisch und bestenfalls dialogisch zu nutzen, um zu einer vorbehaltlosen Sprache zu gelangen.53 Eine Form utopischer Verschiebungen von Realität im Sinne Abensours wurde zumindest subjektiv dadurch möglich und topische Neuformulierungen, wie wir später auch bei den Situationisten sehen werden, gerieten in den Blick, obschon diese vielfach stakkatoartig und ephemer daherkamen und sich als vergänglich herausstellten. Was die surrealistische Bildproduktion angeht, so verglich Breton diese mit jener, welcher ein Opiumrausch zugrunde lag. Gemeint waren Bilder, die sich dem Künstler, hier zitiert Breton Baudelaire, „spontan und tyrannisch anbieten“ (zit. nach Breton 1977: 34). Bildbeispiele seiner befreundeten Surrealisten auf der Leinwand oder im Kopf führte Breton selbst an: „‚Eine Kirche erhob sich strahlend wie eine Glocke‘. Philippe Soupault“ oder: „‚Im ausgebrannten Walde Saßen die Löwen in der Patsche‘. Roger Vitrac“ (zit. nach Breton 1977: 36). In diesem Zu53 Maurice Blanchot bemerkt, dass die surrealistische Haltung der Sprache gegenüber dazu geführt hat, dass nicht nur Sprache Subjekt wurde und die eigene, gesuchte Freiheit identisch mit dem Wort, sondern auch, dass das automatische Schreiben analog zum menschlichen Denken zu setzen war, sich also nicht mehr davon unterschied (vgl. Blanchot 1982: 38 ff.).
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sammenhang vermerkt Damus, dass der Automatismus „[b]ildkünstlerisch […] nicht besonders ergiebig“ (Damus 2000: 169) gewesen sei. Breton dahingegen, so lässt uns Bowness wissen, habe durch die 1920 mit Soupault begonnenen Experimente des automatischen Schreibens nach und nach erkannt, „daß es vornehmlich das Bildhaft-Visuelle der automatischen, durch Träume inspirierten Poesie war, von dem die größte Wirkung ausging“. Daraufhin habe Breton „leicht widerstrebend, jenen ‚bedauerlichen Notbehelf‘, die Malerei“ (Bowness 1998: 158) akzeptiert. Mit Paul Klee, André Masson, Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, Joan Miró, Max Ernst, René Magritte oder Yves Tanguy fanden sich zentrale Maler, die die vormals als literarisch-philosophische ausgelegte Bewegung54 um die Malerei erweiterten.55 Hinsichtlich der surrealistischen Kunstformen, lässt die Aussage Bretons aufhorchen, in der er ein Desinteresse an den „künftigen surrealistischen Techniken“ proklamiert: „Schwerwiegender scheinen mir, ich habe das oft genug zu verstehen gegeben, die Anwendungen des Surrealismus auf die Aktion zu sein.“ In der diesem Satz zugehörigen Fußnote konkretisiert er den Gedanken, indem er sich eine Bekanntheit der „surrealistischen Methoden“ erhofft, welche eine „neue Moral“ (Breton 1977: 41) nach sich ziehen solle, die die bestehende und zu Destruierende ersetzen müsse. Der Ausgangspunkt für diese neue Moral lag in der von Short erwähnten Annahme der Surrealisten, dass „zwischen einer veränderten Wahrnehmung der Welt und der tatsächlichen, objektiven Veränderung der Welt“ keine Lücke bestehe. Der Autor macht an dieser Haltung gleichwohl „eine schwere Bürde moralischer Verantwortung“ (Short 1984: 84) für die Künstler fest, welche durch ihre Arbeit auf die Rezipienten und deren mögliche neue Welt Einfluss nahmen. Dieser erfolgte durch die unmittelbare ‚Verbildlichung‘ des Inneren qua Dichtung und bildender Kunst. Freie Assoziation, Direktheit, fehlende Distanz, Drastik, als Beispiel wären Pérets „‚Gelächter eines verborgenen Teiches, in dem geistesabwesende Propheten ertrinken‘ (Péret)“ (zit. nach Short 1984: 87) zu nennen, gelten im Sinne Shorts als surrealistische Zuschreibung, die nicht nur durch Zusammenhanglosigkeiten des Dargestellten hervorgerufen wurde, sondern auch durch die Vielzahl erotischer, libidinöser Motive. Beispielhaft könnte hier zudem Dalís Pho54 Bowness weist darauf hin, dass trotz ihrer Erwähnung im Manifest von 1924 weder Bildhauer noch Maler dieses unterzeichnet haben (vgl. Bowness 1998: 158). 55 Zur ausführlichen Analyse surrealistischer Malerei vgl. Bowness 1998: 158-165/Damus 2000: 168-173/Short 1984: 83-169. Darin sind besonders die automatische Malmethode Massons und die Versuche Ernsts hervorzuheben, qua surrealistischer Collagen, Grattagen und Frottagen, die Wahrnehmung mit neuen Reizzuständen zu konfrontieren. Diese wurden durch die Arbeit mit dem Zufall, dem Einbezug alltäglicher Materialien, sowie dem Hervorrufen halluzinatorischer Zustände zu erzeugen versucht.
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tokomposition Das Phänomen der Ekstase (1933) angeführt werden, in dem Dalí Männer- und Frauengesichter mit zumeist geschlossenen Augen, leichtem Lächeln auf den Lippen um zum Teil angedeuteten nacktem Schulterbereich aneinanderreiht und mit Aufeinanderfolgen von Ohrbildern dem Gesicht einer weiblichen Statue, einem schiefen Stuhl und einem blumenähnlichen Gewächs kombiniert. Dalís Bilder, die von 1929 an einer „‚kritisch-paranoide[n] Methode‘“ folgten, stehen laut Short für eine „dynamische […] Neuinterpretation der Welt im Akt der Wahrnehmung“, welcher dazu führen sollte, „ein Objekt anzusehen und dabei ein anderes zu sehen – in willentlichen alternativen Deutungen der Außenwelt“ (Short 1984: 110). Es zeigt sich allerdings daran, dass der surrealistische Versuch dieses sehr individuellen und freiheitlichen geistigen Einbezugs des Betrachters einmal mehr einer sozialen Neuordnung von Welt widersprach, respektive, die von Breton angesprochene Moral keine konsensuelle Grundlage besitzen konnte ohne die geistige Freiheit der Einzelnen einzuschränken. Durch das Bestreben, „die Halluzination, die Perversion und das ‚Verbrechen‘“ (Short 1984: 112) zu zeigen und beim Rezipienten herauszufordern, um traumatischen, verdrängten Erlebnissen oder Bedürfnissen näherzukommen, wurde die Idee einer Moral obsolet. Allein die Diversität der surrealistischen Werke ließ das nicht zu. Bretons wichtiger und von Short aufgegriffener Hinweis, dass gesellschaftliche Gegebenheiten Reaktionen auf „unausgesprochene […] Wünsche und Forderungen der menschlichen Psyche“ (Short 1984: 124) seien, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen verallgemeinerter Vorstellung und subjektiver Verfasstheit. So stellt sich daran anschließend die Frage, ob die surrealistische Wirkweise eben nicht für eben diese Problematik einer breiter aktionistisch angelegten Durchdringung bedurft hätte (vgl. Breton 1977: 29 ff.; 41/Damus 2000: 169/Short 1984: 69 ff.; 112 ff.). In seinem Manifest von 1953 Was der Surrealismus will gibt Breton einen hilfreichen Hinweis für eine mögliche Antwort: „Es ist heute allgemein bekannt, daß der Surrealismus als organisierte Bewegung seinen Ursprung in einer weitgespannten, auf die Sprache zielenden Aktion hat“ (Breton 1977: 127). Breton nimmt Bezug auf diese eine Sprache, um zu verdeutlichen, dass die Aktion vor allem dessen ‚Geheimnissuche‘ betreffe. Aktion also gedacht als „Aufstand gegen die Tyrannei einer gänzlich entwerteten Sprache“, die mit Hilfe des automatischen Schreibens laut Breton vollkommen anders funktioniert als die Versuche anderer Literaten wie beispielsweise James Joyce. Zu behaupten, dass dieser Aufstand lediglich auf einer schrift- oder bildsprachlichen Kunstebene verhandelt wurde, würde der surrealistischen Bewegung gleichwohl nicht gerecht. Der sich aus diesem Vorgehen bahnbrechende Versuch einer Neubestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse, er ist es, der hier herauszugreifen ist und der vor allem immer einen Aspekt im Auge hat:
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den der Liebe zwischen Mann und Frau.56 Breton machte die ‚Ent-schleierung‘ dieses „Faszinationspunkt[es]“ gar als den Unterschied zu anderen, ähnlichen „Lehren“ (Breton 1977: 128) aus. Dem Gedanken folgte in Bretons Manifest eine Eloge auf die Frau und ihre Bedeutung, die er aus einer historischen Perspektive entwarf. Dass er hernach über die Frau auf das „Menschliche[...]“ (Breton 1977: 129) zu sprechen kam, welchem jedweder Leib-Seele-Dualismus fremd sei und dem das Ziel der Liebe nicht abhandenkommen dürfe, ist von Belang, als er seine Überlegung in der „Notwendigkeit der Wiedererschaffung des ursprünglichen Androgynen“ (Breton 1977: 130) enden lässt, welche durch die Menschen verkörpert werden müsse. Breton überschritt mit seinen Überlegungen Tabugrenzen und ebnete der Libido als „Quelle der von der Phantasie bestimmten Inspiration“ (Short 1984: 91) einen Weg heraus aus dem „schlechten Gewissen“.57 Gleichwohl klärte er über diesen Gedanken das Verhältnis vom Surrealismus zur Natur, welche sich den Surrealisten durch das „poetische[...] ‚Bild‘“ offenbarte. Für Breton lag insoweit in dem Mittel der „poetische[n] Intuition“ (Breton 1977: 132) die Basis für eine strukturelle Umordnung der Welt, die einer utopischen Reformulierung den Weg bereiten sollte. Denken wir an die gendertheoretische Auseinandersetzung zu Beginn am Beispiel von SIGNA lässt sich erkennen, dass hier soziokulturelle Diskurse im Zuge eines ästhetischen Prozesses bearbeitet und über den Weg einer Verallgemeinerung zu „neuen utopischen Durchbrüchen“ (Abensour 2011: o.S.) fähig sein können. Ganz konkret bedeutete das im Surrealismus, dass dieser laut Short „zwei der wesentlichsten Befreiungskämpfe dieses Jahrhunderts […]: den der Begierde und den der Frau“ (Short 1984: 151) ins Visier nahm (vgl. Breton 1977: 127 ff./Short 1984: 91 ff.; 151).58 Festgehalten werden muss einmal mehr, dass die surrealistischen Aktionen kaum weitere Aktionsformen nach sich zogen,59 die die Gesellschaft außerhalb des surrealistischen Zirkels miteinbezogen. Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Performancepraktiken zeigte sich im Surrealismus demnach weniger der Versuch, über den Handlungsvollzug neue Wahrnehmungsweisen zu generieren. Die Aktivierung 56 Als wohl bekannteste Belege hierfür lassen sich Bretons Texte Nadja (1928) und L’amour fou (1937) anführen. In Arkanum 17 (1944) greift er die Thematik des Androgynen auf. 57 Zu den Aspekten Erotik, Begehren und der Rolle der Frau im Surrealismus vgl. Short 1984: 142-169. 58 Im Surrealismus stieg die Anzahl weiblicher Künstlerinnen, die sich wie beispielsweise Meret Oppenheim, Valentine Hugo oder Dorothea Tanning der Bewegung aktiv anschlossen, im Gegensatz zu anderen avantgardistischen Kollektiven deutlich an (vgl. Short 1984: 151). 59 Vgl. dazu auch Michael Stone-Richards 2003: 303.
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des Gegenübers schien nicht primäres Ziel und somit auch nicht die gemeinschaftliche Übertretung eigener topischer Begrenzungen. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb der Surrealismus vielen der weniger kunstvertrauten Bürger möglicherweise fremd blieb und eine gesamtgesellschaftliche Durchdringung nicht stattfand. Mehr noch, eine utopische Verschiebung der Realität konnte deshalb nur kurzfristig und nicht auf Dauer angedacht werden, weil die Surrealisten eine auf alle Subjekte übergreifende und von ihren eigenen Vorstellungen losgelöste Veränderung nicht zuließen. Im Vergleich scheint mir das dadaistische Vorgehen dahingegen ein stärker ‚basisorientiertes‘ gewesen zu sein. Mit den Aktionen, die inmitten der Gesellschaft vollzogen wurden, ließ sich dem Anspruch, eine grundlegende Wende einzuleiten, weitaus näherkommen, als mit der doch immer auch isolierten Praxis der Surrealisten, deren Nähe zum Publikum randständig blieb, obwohl es als zentrales Ziel formuliert wurde. In Verbindung mit der Breton’schen Vorstellung davon, das Imaginäre Realität werden zu lassen, stellte sich zudem die Frage, wie diese Realität auf jeden Einzelnen bezogen weiterzudenken gewesen wäre. Für Blanchot konnte und kann ein solches „anderswo“ nur im „nirgends“ liegen. Demgemäß führe der Weg den Menschen immer durch das Unfertige, das Prozessuale, suche gleichwohl nach dem „absolute[n] Ereignis, bei dem alles verwirklicht ist“ (Blanchot 1982: 45) und verwebe den utopischen mit dem performativen Pfad (vgl. Blanchot 1982: 44 f./Short 1984: 70). Zu konstatieren ist, dass die Surrealisten eine im Vergleich zu anderen avantgardistischen Bewegungen lange Verweildauer besaßen, hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Ambitionen jedoch weitgehend erfolglos blieben. Mehr noch: Die Gruppenstruktur geriet auf Grund der zahlreichen von Breton initiierten Ausschlüsse ins Wanken. Zwar würde ich von einem endgültigen Scheitern des Surrealismus bilanzierend nicht sprechen, da gerade der Surrealismus einen großen Einfluss bis ins Heute genießt.60 Die Situationisten trugen das surrealistische Gedankengut hinein in die 60er und 70er Jahre und verwoben sie mit den in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts randständig gebliebenen Aktionen. Gleichwohl zeigt sich, dass der Surrealismus eben nicht als Surrealismus ins Hier und Jetzt ragt, sondern im Sinne seiner surrealistischen Charakteristika: Der Einbezug des Unterbewussten, die Verlagerung topischer Erfahrungsräume, die Reformulierung individueller Wahrnehmungsweisen, der Aufbau einer neuen Sicht auf Welt, verwoben mit dem politischen Impetus, eine Revolution über die ästhetische Wahrnehmung zu erreichen. Der Blick auf die Neo-Avantgarden und hier die Situationistische Internationale, soll den Umgang mit diesen Charakteristika und dessen Weiterentwicklung aufzeigen (vgl. Rißler-Pipka 2010). 60 Gerade im Film haben sich die surrealistischen Einflüsse bis heute bewahrt, beispielsweise in David Lynchs Lost Highway (1997) oder Brazil (1985) von Terry Gilliam.
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S URREALISTISCHES , S ITUATIONISTISCHES , U TOPISCHES „Wurden künstlerische Kollektive in den 60er und 70er Jahren großteils durch eine gesellschaftliche Utopie zusammengehalten, so gibt es in künstlerischen Kollaborationen heute keine ideologische Klammer oder keine kollektive politische Intention mehr, die die kollaborierenden Künstler repräsentieren (wollen) würden.“ (RUHSAM 2011: 193)
Das Zitat von Martina Ruhsam provoziert, da es Utopie und Ideologie auf eine Ebene stellt.61 Für den Blick auf die Situationistische Internationale scheint diese Überlegung nunmehr spannend, da wie bereits bei den Surrealisten, die Überlappung von Ideologischem und Utopischem bereits in der Struktur der Gruppe lag, die am Ende eine führende Person (Guy Debord) als tragende Säule innerhalb des Kollektivs nicht zu harmonisieren wusste. Damit meine ich, dass die ursprüngliche Idee, das Reale über ein gemeinschaftliches Tun an das Utopische zu koppeln auch an den ideologischen Vorgaben eines markanten und autokratischen Charakters scheiterte. Es lässt sich hier, wie wir sehen werden, eine zentrale Unterscheidung zum heutigen Umgang zeitgenössischer Kollektive mit Formen des Utopischen ausmachen. Bevor wir uns der Gegenwart widmen, soll, sozusagen als Bewegung des Übergangs zwischen Surrealisten und zeitgenössischen Kollektiven, der Fokus auf die Neo-Avantgarde und hier explizit die Situationistische Internationale (SI) erfolgen, die in ihrem Rückbezug auf surrealistische Herangehensweisen an das Ästhetische und dessen Weiterentwicklung gewichtigen Anteil am Diskurs über die Utopie innerhalb der Avantgarden hat. Der These Ruhsams, dass die Utopien in den NeoAvantgarden von vorne herein eine Koalition mit dem Ideologischen eingingen, ist meines Erachtens insoweit im Grunde zu widersprechen, als die Utopien erst durch den performativen Gebrauch diverser Einzelpersonen Züge des Ideologischen erhielten. Für einen konzentrierten Blick auf das Verhältnis von Avantgarden und Utopie, werde ich einmal mehr mit einer kurzen historischen Einführung und Kontextualisierung der SI beginnen (vgl. Grimberg 2006: 187).
61 Zur Differenz von Ideologie und Utopie, siehe Mannheim 1978: 49-94.
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Die Situationistische Internationale Bevor sich die Gruppe 1957 als Bündnis situierte und 1958 unter dem Namen Situationistische Internationale firmierte, ging ihr ein längerer Entstehungsprozess voraus. So wollte der Mitbegründer Asger Jorn nach dem Ende von COBRA 62 1951 seinen Forderungen weiterhin eine Plattform geben, was fortan mit Hilfe der Internationalen Bewegung für ein imaginatives Bauhaus geschah, die die Malerei durch architektonische und stadtplanerische Einflüsse erweitern sollte. Ab 1955 folgte das Laboratorium für außergewöhnliche künstlerische Experimente, welches er mit Giuseppe Pinot-Gallizio im italienischen Alba gründete und in welchem die beiden nicht nur politische Diskussionen führten, sondern hinsichtlich chemischer Veränderungen von Malfarben oder Malsubstanzen innovative Erzeugnisse kreierten. 63 Crow weist in diesem Kontext auf die prosperierende Wirtschaft zu jener Zeit in Europa hin, welche nicht nur die Lebensqualität verbesserte, sondern auch dem Konsumbedürfnis der Menschen einen kräftigen Schub verlieh und das kapitalistische Prinzip beförderte. Um den daraus resultierenden negativen Begleiterscheinungen Einhalt zu gebieten und eine Wende in der Politik herbeizuführen, bedurfte es neuer Aktionismen. Die Lettristen64, welche seit 1953, personifiziert durch vor allem Jean Isidore Isou, Guy Debord, Gil J. Wolman und Michèle Bernstein, einen Wandel hinsichtlich des Konsumdenkens einforderten, sahen in dem Laboratorium einen kompatiblen Mitstreiter. Kunst und Politik sollte nicht mehr separiert, der Alltag stattdessen mit Handlungen aus beiden Bereichen durchzogen werden. Nach dem Zusammenschluss von 1957 galt es für die SI laut Syring, „die platte Konformität der Gewohnheiten, die Banalität der modernen Städte, den Ausverkauf der Avantgarden“ anzugreifen. In dem Band Gesellschaft des Spektakels (1967) von Guy Debord, seines Zeichens Kopf der SI, formulierte dieser die „qualitative Erneuerung des durch Industrialisierung, Konsumzwang und Entfremdung pervertierten Alltags“ (Syring 1990: 19). Argumentativ arbeitete er sich in seinen Thesen an Surrealismus und Dadaismus ab: „Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben.“ Zwar schrieb er beiden Ismen eine revolutionäre Relevanz zu, sah sie aber gleichwohl als gescheitert an. Die Situationisten dagegen wollten ihre Kraft daraus schöpfen anzuerkennen, dass „die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst“ (Debord 1978: 107) seien. 62 Siehe hierzu: Ohrt 1990: 99-160. 63 Vgl. dazu ausführlich: Zimmer 2002: 177. 64 Siehe zudem: Ohrt 1990: 15-25.
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Kunst wäre „gezwungenermaßen Avantgarde“, die jedoch nicht existiere, weil die Avantgarde wiederum „ihr Verschwinden“ (Debord 1978: 106) wäre (vgl. Debord 1978: 106 ff./Syring 1990: 19 f.). Um zu einer „kritische[n] Veränderung des gesamten urbanen Lebensraums“ beitragen zu können, verfolgten die Situationisten zwei Methoden: das dérive und das détournement. 65 Mit Letzterem wurde versucht, das nur noch innerhalb der Konsumption verankerte Leben subversiv auszuhebeln. Dies sollte nicht durch die aktive Kreation neuer Lebensbedingungen geschehen, vielmehr galt es, sich „gewöhnlicher Gebrauchsgüter und allgemein vertrauter Erfahrungsmuster [zu] [bedienen] und sie in irgendeiner Weise gegen das System [zu] [kehren]“ (Zimmer 2002: 179). Debord bezog diese Überlegung dezidiert auf die künstlerische Produktion und wollte dadurch neue Kontextualisierungen und Bedeutungszuschreibungen hervorrufen. Existierende Werke wurden unter der Bedingung des „Spiel- und Lustprinzip[s]“ (Crow 1997: 52) aufgegriffen, verfremdet und als neue Milieukonstruktion aufgeworfen. Die Verfremdung als Möglichkeit kulturelle Zuschreibungen aufzulösen und neu zu setzen, sollte den bestehenden Sinn transformieren und irritieren.66 Konkret bedeutete dies, wie in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Potlatch zu lesen war: „Je nachdem was Sie suchen, wählen Sie eine […] mehr oder weniger dicht bevölkerte Stadt […]. Bauen Sie ein Haus. Richten Sie es ein. […]. Bringen Sie die geeignetsten Personen sowie die passende Musik und alkoholische Getränke zusammen.“ (Zit. nach Ohrt 1990: 159) Gemeint war darüber hinaus die „Verfremdung und subversion von Straßen, Denkmälern und Gebäuden durch Graffitis.“ (Hecken 2006: 28 f.) Dieses ‚Spiel- und Lustprinzip‘, und hier nun kommt der Begriff dérive zum Tragen, sollte laut Crow zur Lebensgrundlage aller werden, um danach zu handeln und mit dem Bestehenden umzugehen. Das utopische Potential lag in der Überlegung, einen Bedeutungsverlust herkömmlicher Handlungs- und Denkweisen anzustreben, der hinweg von kapitalistischen Grundzügen, hin zu einer egalitären Lebenspraxis führen sollte. Debord meinte mit dem Begriff dérive „ein zielloses Umherschweifen im urbanen Raum zur Schaffung von psychographischen Situationen“ 65 Zimmer weist darauf hin, dass die Begriffe von Debord teilweise synonym gebraucht wurden und eine klare Trennung deshalb schwierig wird. Zudem führt Zimmer den von Gilles Ivain aufgeworfenen Begriff des „‚unitäre[n] Urbanismus‘“ (Zimmer 2002: 179) auf, welcher die Änderung der gesamten Lebensraumbedingungen untermauere (vgl. Zimmer 2002: 179). 66 Für Zimmer können die Situationisten als Vorreiter der Konzeptkünstler bezeichnet werden. Jeff Wall oder Dan Graham stellten diese Relation beispielsweise in Interviews auch unmittelbar her (vgl. Zimmer 2002: 181).
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(Zimmer 2002: 114).67 Dabei handelte es sich um „ein meist in kleinen Gruppen im städtischen Umfeld stattfindendes Sich-Treiben-Lassen, das anfangs relativ stark vom Zufall beeinflusst“ (Orlich 2011: 21) wurde. Indem qua spielerischer Herangehensweise diese Technik praktisch verfolgt wurde, fand die theoretische Überlegung ihre prozessuale Form im Herumstreifen durch Paris während und nach tagelangen Alkoholexzessen oder in Aktionen wie einer Wanderung durch den Harz „mit Hilfe eines Stadtplanes von London“ (Zimmer 2002: 180). Das Spielprinzip wurde aus einem theoretischen Verständnis heraus angedacht und die Situation konnte dieses um eine praktische Variante ergänzen. Gleichzeitig ließ sich die Situation als ‚bloßen‘ Zustand fassen, der Raum für ein ästhetisches Empfinden geben konnte, welches unmittelbare gesellschaftliche Umwälzungen nach sich ziehen sollte. In eine Situation versetzt zu werden bedeutete für Jorn: „[A]n einer Bewegung teilnehmen, indem man Widerstände einführt, die Abweichungen und Veränderungen in der Bewegung erzeugen, die sie aufwühlen oder überstürzen, die sie in Geschehen umwandeln.“ (Zit. nach Ohrt 1990: 168) Die Situationisten stellten die gegenwärtigen Probleme ihrer Zeit nicht nur in Konferenzen, verschiedenen Zeitschriften, Malerei und Aktionen, sondern auch im Rahmen von Manifesten in Frage. So zum Beispiel in jenem aus dem Jahr 1960, in dem die Zielrichtung der Gruppe einmal mehr untermauert wird. Darin wird besonders das Verhältnis zur technischen Entwicklung augenscheinlich. Die technischen Neuerungen werden als „unaufhaltbar[...]“ (o.A. 1990: 39) bezeichnet und als Auslöser „gesellschaftliche[r] Entfremdung und Unterdrückung“ markiert, welche sich nicht umgestalten lassen, sondern nur von „dieser Gesellschaft selbst zurückgewiesen werden“ können. Diese Gesellschaft, gefangen genommen von „aufgezwungener Arbeit und passiver Freizeit“, habe deshalb im Spiel die Freiheit zu leben: „Die Ausübung dieser spielerischen Schöpfung ist die Garantie der Freiheit eines jeden und aller im Rahmen der einzigen durch die Nichtausbeutung des Menschen durch den Menschen garantierten Gleichheit“. Indem die Arbeitsbedingungen im Produktionsbereich automatisiert würden – hier scheint sich ein Zuspruch für die technischen Entwicklungen herauslesen zu lassen – und sich parallel die „Vergesellschaftung der lebenswichtigen Güter“ (o.A. 1990: 39) vollziehe, gerate, so prognostizierten die Situationisten, die Notwendigkeit der Arbeit immer mehr in den Hintergrund und die Freiheit des Individuums verstärkt in den Vordergrund. Es ging um einen neuen Gesellschaftsentwurf, der jedoch innerhalb der gegebenen Bedingungen verwirklicht werden sollte. Ausgehend von einem Diskurs über das Utopische im Sinne Abensours, scheint eine Veränderung der Realität möglich. Meines Erachtens er67 Ausführlich setzt sich Roberto Ohrt mit dem Situations-Begriff auseinander, indem er über dessen Auslegung durch Hegel, Kierkegaard und Sartre zu jener der Situationisten gelangt (vgl. Ohrt 1990: 161 ff.).
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fährt dieser Diskurs in Verbindung mit einer performativen Praxis eine tatsächliche Möglichkeit, den vorab beschriebenen ‚Möglichkeitsraum zwischen dem Sein und den Nichts‘ zu eröffnen. Beispielhaft für die Situationisten kann diese Praxis auch im unitären Urbanismus ausgemacht werden. In diesem wurde unter anderem ein Konzept für die Architektur einer situationistischen Stadt gestaltet, welches gleichzeitig Kritik am bestehenden und funktionalistischen Stadtgefüge ausübte. Diese utopische Stadt sollte die wohnräumliche Trennung von Arbeit und Leben negieren und der daraus resultierenden Passivität Abhilfe schaffen. Es ging den Situationisten um eine Aktivierung der Bürger über stadtplanerische und architektonische Mittel, die wiederum unmittelbaren Einfluss auf ihr Handeln haben sollte (vgl. Crow 1997: 52/o.A. 1990: 39/Ohrt 1999: 159 ff./Orlich 2011: 21; 142 ff./Zimmer 2002: 177 ff.). Für die Situationisten waren es neben dem städtebaulichen Eingriff, der nie realisiert wurde, die „interventionistischen Kunst-Guerilla-Aktionen“ (Zimmer 2002: 178), die als performativer Versuch zur subversiven Gegenwehr gegen das Klima des Konsums zu verstehen waren. Entgegen bürgerlich-konservativer Kunstparadigmen sollten im Herstellen von Situationen Kontraste zu schematischen und institutionellen Vorgaben entwickelt werden. Man versuchte eine Situation zu kreieren, „die jede Umkehr verunmöglicht“ und dadurch „das eingelöste Versprechen der Avantgarde“ (Grimberg 2006: 189) darzustellen gedachte. Gesucht wurde jedoch kein neuer, vom Alltag abgespaltener Topos, sondern die Konfrontation mit dem kritisch betrachteten Alltag selbst. Nur in diesem konnte eine performative Aneignung auch fruchtbar werde. Thomas Hecken weist dahingehend auf die Tatsache hin, dass der Aspekt der Konstruktion wichtig gewesen ist. Die Situationisten konstruierten dabei ihre eigene Situation, um sich ihr aktiv auszusetzen. Ein bloßes ‚Auf-sich-zukommen-lassen‘ lag ihnen fern (vgl. Hecken 2006: 24). Das Herstellen der Situationen verband sich mit scharfer Institutionskritik. In ihrem Manifest prangerte die SI beispielsweise die bürokratisch-organisierte UNESCO an, welche statt experimenteller Neuüberlegungen im Kunst- und Kulturbereich die Verwaltung des Status quo aufrechterhielt und auf Grund dessen besetzt werden müsste. Geschehen sollte dies im Zuge der „totale[n] Beteiligung“, welche sich „gegen das Spektakel“ richtete. Der „konservierte[n] Kunst“ wollte sie als „Organisation des erlebten Augenblicks – ganz direkt“ entgegentreten. Zudem sollte die „parzellierte Kunst“ eine global wirksame, „alle verwendbaren Elemente gleichzeitig umfassende Praxis sein“, die aus dem Kollektiv heraus erwachsen und insoweit als anonym zu verstehen sein würde, da sie sich jeglicher Lagerung als Ware entzöge. Um der Einseitigkeit traditioneller Kunst zu entkommen, würde „die situationistische Kultur eine Kunst des Dialogs und der gegenseitigen Beeinflussung“ ansetzen. Als „minimale Absicht“ stünde somit die globale Verbreitung ihrer „Revolution des Verhaltens und eine[s] dynamischen unitären Urbanismus“ (o.A. 1990: 39 f.) an. Dazu zählten die Autoren des Manifests die Vermischung von
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Künstlern und Gesellschaft, wodurch die Kommunikation untereinander gebündelt und von ihrer Einseitigkeit befreit werden sollte, denn: „[J]eder [wird] zum Künstler auf einer höheren Ebene“, ergo jeder Situationist. Die daraus resultierende „multidimensionale[...] Inflation der Tendenzen, der Experimente, der radikal verschiedenartigen ‚Schulen‘“, würde dann dazu führen, dass der Gleichzeitigkeit statt der Sequenz Vorrang gewährt werden würde. Die Tatsache, dass jeder Künstler werden könne implizierte zudem, dass dieses Künstlerdasein auch „für die Konstruktion seines [des Künstlers; PG] eigenen Lebens“ (o.A. 1990: 40) gelte. Die fehlende Nachhaltigkeit wurde am Ende jedoch auch der Situationistischen Internationale zum Verhängnis: 1972 löste sie sich auf.68 Der Prinzipienwandel, der sich mit den historischen Avantgarden vollzogen hatte, fand gerade in den politisch brisanten 1950er und 1960er Jahren großen Anklang. Eine Dauer der kunstaktivistischen Durchdringung der Gesellschaft blieb jedoch auf Grund der fehlenden Mobilisierung der Masse aus. Ohrt macht dabei den fehlenden „Schauplatz, auf dem die Aktivität der S.I. zu beurteilen möglich gewesen wäre“ als Grund aus: „Situationen für eine kleine Begegnung mit der Außenwelt wurden vielleicht konstruiert; Berichte darüber gibt es nicht […]. Man mied natürliche kulturelle Ereignisse, die am Ender 50er Jahre […] von Interventionen aus dem Publikum begleitet waren.“ (Ohrt 1990: 302) Dadurch aber entzog man sich der Kritik durch dieses Publikum, welches notwendig gewesen wäre. Indem man den Rezipienten kein „eigenes Werk […], eine[...] schöpferische[...] Tätigkeit“ gewährte, konnte in der Gegenwart kein „Konfliktraum“ (Ohrt 1990: 309) erfolgen. Eine utopische Funktion der Kunst wurde demgemäß zwar anvisiert, jedoch in dem Moment unmöglich, in dem die SI zwar nach „einer Wirklichkeit ohne Repräsentation“ strebte, diese aber gleichwohl ohne „ästhetisches Motiv“ (Ohrt 1990: 311) erreichen wollte (vgl. o.A. 1990: 39 ff./Ohrt 1990: 302 ff.). (Neo-)Avantgardistischer Transfer ins Hier und Jetzt Auch wenn die Situationisten dem eigenen Anspruch gesamtgesellschaftlich einzuwirken zum Opfer fielen, weil sie die Mitglieder dieser Gesellschaft, wie bereits die Surrealisten, nicht ‚mitzunehmen‘ gedachten, kann ihnen in ästhetischer Hinsicht ihre Vorreiterrolle für die performativen Kunstformen nicht abgesprochen werden. Lehmann verdeutlicht dies anhand des postdramatischen Theaters. Durch die Überlegung, qua „hergestellter Situation“ eine „herausfordernde Umgebung“ für die Zu68 Auf den Aspekt der fehlenden Nachhaltigkeit in Bezug auf weitere Aktionsbündnisse neben der SI verweist auch Zimmer 2002: 176. Thomas Crow bilanziert in diesem Kontext, dass die SI Debords nur deshalb noch Ansehen genieße, weil sie sich mit der französischen Studentenbewegung zusammengetan habe (vgl. Crow 1997: 54).
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schauer zu begründen, die diese zur Förderung von Aktivität und Kreativität nutzen sollten, seien wichtige Grundgedanken für das vom Autor postulierte postdramatische Theater entstanden. Er hebt dabei den situationistischen Gedanken des Spiels hervor und erklärt: „Spielerisch schafft Theater eine Lage, bei der man sich dem Wahrgenommenen nicht mehr einfach ‚gegenüber‘ stellen kann, sondern beteiligt ist und daher akzeptiert, daß man, wie es Gadamer von der ‚Situation‘ betont, so in ihr steht, daß man ‚kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann‘.“ (Lehmann 2005: 181)
Welchen Einfluss avantgardistische und neo-avantgardistische Gruppierungen auf heutige haben, zeigt sich beispielsweise anhand der Occupy-Bewegung, die sich insbesondere auf Guy Debord und dessen Thesen aus Die Gesellschaft des Spektakels bezieht. Gleichwohl bemerkt Thomas Steinfeld, dass es sich bei der Bezugnahme der Occupy-Vertreter um ein Missverständnis handelt. Wahrlich gebe Debord mit seinem kritischen Blick auf den monetären Gebrauch, die dadurch materieller werdende Weltanschauung, die Warenhaftigkeit sowie dessen Fetischcharakter in der Gesellschaft Ideen vor, die für Occupy und ihre Kapitalismuskritik zutreffend seien. Die Kunst aber sollte im Sinne Debords nicht nur dafür zuständig sein, der „Theorie eine Praxis zu verleihen“, sondern „auch Vorgriff sein auf das, was mit und nach der Revolution Leben sein sollte“. Für die Occupisten stehe das Verhältnis von Revolution und künstlerischem Tun nun gar nicht zur Debatte, vielmehr handele es sich lediglich um einen „klagenden Gestus“, der Debord befremdlich gewesen wäre. Es sei ihm, Debord, nicht um das „Moralisieren“ gegangen, sondern darum „zu zeigen, was sei.“ (Steinfeld 2012a): 15) Die Occupisten stünden in diesem Punkt dem situationistischen Grundgedanken entgegen. Ziehen die Occupisten somit lediglich die politischen Attribute der situationistischen Praxis zur eigenen Legitimation heran, möchte ich abschließend in Abgrenzung dazu noch einmal die Dualität ästhetisch-politischer Praktiken hervorheben, die bei den Surrealisten und den Situationisten gleichermaßen auszumachen sind. In Verbindung mit den diesem Kapitel zu Grunde liegenden Überlegungen zum Utopischen wird diese Dualität meines Erachtens produktiv. Wie zu Beginn erläutert, war und ist die Utopie ‚Möglichkeitsraum‘ für Aspekte vor allem auch des Politischen und der Politik. Realisierbar aber schien die Utopie im Morus’schen Sinne in der Vergangenheit nicht zu sein, wurde vielmehr zeitlich oder räumlich an einen Nicht-Ort verlegt, gestaltete sich als außer-ordentlich. Ein historischer Bruch zu dieser Denktradition lässt sich mit den historischen Avantgarden ausmachen, bei denen die Überzeugung wuchs, im Zuge des ästhetischen und gewissermaßen diskursiven Handelns eine Vergegenwärtigung der Utopie zu ermöglichen. Verhallte das Vorhaben der Surrealisten auf Grund der fehlenden praktischen Überführung in den Alltag, schufen die Situationisten mit den Situationen tatsächlich einen Raum, um alternative Ordnungen ins
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Spiel zu bringen. Gleichwohl blieben diese auch den Situationisten eher subjektdenn gruppenorientiert und nicht allgemeingültig, sondern singulär, obschon der Anspruch ein anderer gewesen war (vgl. Lehmann 2005: 181/Steinfeld 2012a): 15). Es zeigt sich, dass auch im 21. Jahrhundert die Versuche, Utopien mit ästhetischen Mitteln zu vergegenwärtigen nicht nachlassen. Deutlich wird am Beispiel von SIGNA, dass zwar auf ein gemeinschaftliches Tun hingearbeitet wird, dieses aber als Tun ebenso einzigartig und wenig dauerhaft bleibt. Damit ist der Utopie im 20. ebenso wie im 21. Jahrhundert die Möglichkeit zur Generalisierung abhandengekommen. Der entscheidende Unterschied liegt meines Erachtens nun darin, dass dies heute auch gar nicht mehr der alles überlagernde Anspruch ist. Zum einen, weil es wie zu Beginn beschrieben im Zuge der Globalisierung und der medialen Ausdifferenzierung von Informationen und somit Weltwissen, oder Wissen von Welt, kaum mehr eine all das berücksichtigende Utopie geben kann ohne im gleichen Moment der Beschreibung beliebig zu werden. Zum anderen ist das Scheitern vergangener Utopien, die den Anspruch des kompletten Einbezugs von allem und jedem hatten, gewissermaßen Warnung und zur Maxime des eigenen Handelns geworden. Die Utopie mischt mit und gestaltet sich über den Diskurs, über die thematische Setzung und das performative (De-)Stabilisieren dieser Setzung. Im Fall von SIGNA kann das im Sinne eines übergeordneten Verhältnisses von Gender, Körper und Macht geschehen, welches in ein utopisiertes räumliches Szenario transformiert und dadurch als Ordnung neu erlebt werden kann – oder muss. Bei dem abschließend zu betrachtenden Kollektiv She She Pop ist es die dezidierte Auseinandersetzung mit dem subjektiven Blick auf eine Utopie, die in diesem Fall tatsächlich den Gedanken des ‚besten Staats‘ aufgreift und in Frage stellt.
P ERFORMATIVES T UN II: S HE S HE P OP – S CHUBLADEN Wer ist eigentlich wir? Über 20 Jahre ist der Mauerfall nun her, doch zu behaupten, dass seit der Wende aus den ehemaligen Bewohnern der DDR und der BRD ‚ein Volk‘ geworden sei, erschiene fahrlässig. Nicht nur, dass die soziokulturellen und ökonomischen Faktoren wie Lohnniveau oder Mietspiegel keine Äquivalenz aufweisen, auch die subjektive Wahrnehmung vieler Bürger hält mit den politischen Bestrebungen nicht stand, die friedliche Revolution in ein homogenes Miteinander überführt zu haben. Immer noch ist der Blick von ‚Wessis‘ auf ‚Ossis‘ und vice versa geprägt von Vorurteilen und Unterschieden. Doch welche Differenzen lassen sich tatsächlich ausmachen und wo liegen gleichwohl Gemeinsamkeiten? Wie lassen sich die konträren Wege der Sozialisierung miteinander verknüpfen und welche charakteristischen Prägungen haben die unterschiedlichen politischen Systeme im
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Einzelnen hinterlassen? In ihrer Arbeit Schubladen69, gehen die allesamt in Westdeutschland aufgewachsenen Performerinnen des Kollektivs She She Pop diesen Fragen auf den Grund. Über Bekannte und Kollegen traten sie in Kontakt mit in Ostdeutschland geborenen Frauen. Dieser Kontakt basierte, so erklärt die Performerin Berit Stumpf von She She Pop, zuallererst auf Brieffreundschaften. Das, was heute unter internationalen Tandem-Partnerschaften bekannt ist, fand zwischen den insgesamt elf Frauen innerhalb einer Sprache statt. Eine Sprache aber, deren Semantik gegenläufiger nicht sein konnte. Den differenten Bedeutungszuschreibungen widmet sich das Kollektiv auf eigene Weise auf der Bühne: „Stopp,“ ruft dafür die eine West-Performerin ihrem Ost-Gegenüber zu, „was heißt „Kapitalismus“? Antwort: „Lange, graue Menschenschlangen, die vor den leeren Häusern mit der Aufschrift ‚Arbeitsamt‘ stehen.“ Kurz darauf ein erneuter „Stopp“-Ausruf und die West-Performerin gibt Antwort auf die Frage, was Kommunismus heiße: „Lange graue Schlangen vor den leeren Häusern auf denen ‚Kaufhalle‘ steht.“ Ein Bild, ein ausgetauschter Bestandteil, eine andere Weltordnung. Immer wieder kommt es im Verlauf zu weiteren „Stopp“-Unterbrechungen, in denen sich die Frauen aus Ost und West zu Begriffserklärungen auffordern, wie beispielsweise „Was heißt Talent?“, „Was Erziehung?“, „Was Bett mit Gitterstäben?“, „Was oder wer ist ein Pazifist?“ In der Performance bilden die kurzen Zwiegespräche zwischen drei Ost-WestFrauenpärchen die Grundlage für den zweistündigen Abend. Aus persönlichen Dokumenten wird sich gegenseitig vorgelesen, Musik vorgespielt, vorgesungen, das Gegenüber mit einer Kamera im Interviewmodus befragt. Mitunter sind das auch fremde Texte einer anderen Performerin, die, so Johanna Freiburg von She She Pop, im Sinne der Dramaturgie griffiger gewesen sind – aber nur dann, wenn sie der eigenen Perspektive nah kamen und nicht fremd erschienen. Die Ich-Erzählerinnen sind somit ‚sie selbst‘ und lediglich die 80er Jahre Klamotten mit Glitzer, Rüschen und Leoprints werfen sie aus der tagesaktuellen Bahn. Für die ein oder andere Tanzeinlage rollen sie mit ihren Bürostühlen durch den Raum, entfernen sich von ihren in ‚U‘-Form aufgestellten Tischen, über denen ansonsten immer dann ein Licht aufgeht, wenn ein Dialog an ebendiesem Tisch beginnt. Gerollt wird beispielsweise, wenn sich Johanna Freiburg, Annett Gröschner, Alexandra Lachmann, Peggy Mädler, Berit Stumpf und Ilia Papatheodorou zu den Bücherkisten an der Bühnenrampe bewegen. Darin findet sich ein wilder Reigen quer durch die ost- und westdeutsche Literatur seit den 1970ern. Fündig wird jeder, der sich insbesondere für Erziehungsratgeber oder feministische sowie postmoderne Literatur interessiert: Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer, Virginia Woolf, Alice 69 Die Performance fand am 15. November 2012 in der Spielstätte Juta des Forum Freien Theaters in Düsseldorf statt.
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Miller. Ostdeutsche Autorinnen bleiben namenlos. Liegt das an dem großen Nachholbedarf der Westlerinnen? Abbildung 7: She She Pop: Schubladen
Quelle: Benjamin Krieg/She She Pop
Dem Feminismus widmet She She Pop viel Zeit und eine Vielzahl der Dialoge dreht sich um die Mädchen- und Mutterrolle in der jeweiligen Gesellschaft. Empört wird Peggy von Ilia korrigiert, wenn sie es bei „Arbeiter“ oder „Atheist“ belässt, ohne das elementare „-in“ hinzuzufügen. Annett, Alexandra und Peggy sehen das recht gelassen. Sie sind geprägt von einem Bild des einheitlichen Arbeiters, das Männer und Frauen gleichsam umfasst. Von den Ex-DDR-Frauen werden die ExBRD-Damen als überbehütet und mutterbezogen dargestellt. Eine überpräsente Mutter war und ist ihnen fremd, durch den frühen Arbeitseinbezug der Mütter und dem Besuch der Krippe scheint Ihnen ein feministisches Freischaufeln nicht notwendig, schließlich ergaben sich für die Frauen in der ehemaligen DDR weder ökonomische Einbußen noch soziale Nachteile durch die Geburt der Kinder. Der Begriff der Freiheit wird so zu einem zwiespältigen und verdeutlicht die Gegenbilder von Individuum hier und Kollektiv dort. Auch in der Sexualität, sowie der Tabuisierung des Körpers zeigen sich die konträren Lebensweisen. Einerseits das private ‚Für-Sich-Sein‘ im Westen, andererseits das öffentliche Ausleben und der freizügige Umgang beispielsweise mit Nacktheit im Osten. Doch die Öffentlichkeit wird gleichzeitig zum korrigierenden Maß aller Dinge und Freiheit in jenem gläsernen
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Staat zur Chimäre. Kindheit, Jugend und Erwachsenenstatus exerzieren die Performerinnen durch, und wird zu Beginn noch aus den Schulheften und Poesiealben vorgelesen, dienen später Liebesbriefe und Erfahrungen aus einem Heiner MüllerSeminar als Referenz für das individuell Erlebte. Apropos Heiner Müller. Der ist neben Kati Witt der ‚Konsens-Gewinner‘, denn beide können sich wohlwollender Zuschreibungen aus Ost und West erfreuen. Kati Witts Carmen-Kür von 1988 wird von Berit und Peggy just auf den Bürostühlen nachgerollt – allerdings zu Smetanas Moldau. Musikalisch gibt es gleichermaßen Trennendes und Verbindendes. Wir sind geboren, um frei zu sein von Ton Steine Scherben konkurrieren dabei mit dem Traumzauberbaum von Reinhard Lakomy, auch als ‚Neidlied‘ bekannt geworden. Tanita Tikaram, die in Deutschland geborene Britin, wird mit Twist in my Sobriety vorgelegt – von Ostfrau Peggy, die damit ihre großen Lieben und Enttäuschungen verbindet. „Nie auf dich hören“, so heißt es übersetzt bei Tikaram, „und nie tun, was du sagst.“ Während Ilia zu John Lennons Imagine über die Bühne hüpft, schwingt Peggy ihre Arme zu Gamzatovas Krane. Immer wieder, so zeigt sich auch in der musikalischen Auswahl, wird die Freiheit zum Thema. Nur der Blick auf diese obliegt völlig unterschiedlicher Perspektiven. Wird im kommunistischen Liedgut der Frieden im Kollektiv gesehen, das sich gegen kapitalistische Gesellschaften wendet und diese durchaus militärisch zu bekämpfen bereit ist, steht Lennons Lied für die Friedensbewegung, die sich von Nationalismen oder Dogmen freimachen möchte. Dass Lennon auch gegen das Privateigentum ansingt, hat in der ehemaligen DDR dennoch nicht zu einer positiven Besetzung dieses Songs geführt – im Gegenteil. Die begriffliche Festschreibung von Frieden und Freiheit innerhalb einer Gesellschaft, das wird im Verlauf der Performance klar, ist ohne die einzelnen Biographien, die die gesellschaftlichen Vorgaben einatmen, ausatmen und dabei reproduzieren, kaum zu realisieren. Wie aber soll aus diesen so unterschiedlichen Lebenswegen ein gemeinsamer geschaffen werden? Die Frage stellt sich permanent und verdeutlicht vor allem, mit wie viel Verlust die Utopie einer vereinten Nation vor allem auf Seiten der Ostdeutschen verbunden ist. Die Videoprojektion im Bühnenhintergrund macht diese potentielle und doch auch leere Gemeinschaft zum Thema. Unauffällig wechseln sich Bilder von Versammlungs-, Gruppen- oder Tagungsräumen ab. Die Stühle oder Plätze sind unbesetzt, verweisen aber auf eine Ordnung, die ein kollektives Beisammensein forcieren soll. Gegen Ende der Performance, nachdem die West- und Ostfrauen mit ihren Gleichgesinnten akribisch über die jeweils anderen hergezogen und kein Vorurteil („Die Wessis trinken immer Prosecco,“ oder „Die Ossis saufen immer Wodka“) ausgelassen haben, bilanzieren die Sechs ihre Erlebnisse nach dem Mauerfall. „Ich habe euch ein Bild mitgebracht“, beschreibt Alexandra, der als Autorin in ihrem ‚echten Leben‘ das Performen auf der Bühne, wie sie selbst sagt, bis dato völlig fremd gewesen war. Das Bild, welches sie ihrem Gedächtnis entlockt, zeigt sie inmitten vieler anderer Beteiligter, die 1990 die Autonome Republik Utopia am
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Prenzlauer Berg ausriefen. Gemeinsam wollte man eine Gegenoffensive zu den Feierlichkeiten des 3. Oktobers starten, um vor neuerlichen Nationalismen und allzu starkem Patriotismus zu warnen. Lange aber hielt die utopische Republik nicht, denn relativ schnell brach sich Ernüchterung Bahn. Und doch zeugt die Ausrufung vom Dilemma der unterschiedlichen Staaten. Wurde ein utopischer Raum von vielen Ostdeutschen kurz vor der Auflösung der DDR in der ehemaligen BRD ausgemacht, so schwand dieser, als deutlich wurde, dass die BRD nicht mit der DDR ineinanderfloss, um einen neuen Nicht-Ort zu konstituieren. Vielmehr wurde versucht, die DDR-Strukturen aufzulösen und durch jene der BRD zu ersetzen. Sollte das Demokratie sein? Für die Westdeutschen wiederum blieb und bleibt die DDR weniger ein utopischer, denn ein dystopischer Ort. Daran können auch die elf Protagonistinnen nach ihrer eineinhalbjährigen Zusammenarbeit nicht rütteln. Eine Zusammenarbeit, der nach der zu Beginn erwähnten Phase der Brieffreundschaft, in der sich die Ost- und Westdeutschen angenähert hatten, fortan gemeinsame Treffen folgten, für die schriftliche und akustische Überbleibsel sowie Materialien aus den eigenen Kellern, Schubladen, Schränken und Dachböden hervorgekramt wurden. Briefe, Tagebücher, Musik, Photographien, erinnerte Bilder und Erzählungen wuchsen zu einem autobiographischen Fundus, der deutlich machte, wie unterschiedlich die Akzente gesetzt wurden. In den Treffen bildeten sich nach und nach dann jene Themen heraus, die eine generationsübergreifende Dynamik erkennen ließen. Immer wieder hätten die Performerinnen sich aus dem Prozess herausgezogen, als Betrachter eine Außenperspektive angenommen, um dann wieder hineinzuspringen und auf die Innensicht einzuwirken. Berit Stumpf erklärt, dass She She Pop eben darum stets mit mehreren und wechselnden Performern arbeiten, die nicht alle auf der Bühne stehen. So könne man immer mal wieder reinrutschen und konstruktiv auf die Performance einwirken. Jeder müsse dabei die Rolle des Performers und des Regisseurs annehmen, eine klare und stringente Rollenaufteilung gebe es nicht, ergo auch keine hierarchische Konstellation. Alle Entscheidungen müssen konsensuell getroffen werden. Der Vorstellung eines kollektiven Arbeitsverhältnisses kommt das sehr nahe, es verdeutlicht aber auch die Schwachstellen.70
70 Siehe dazu auch die Kapitel Momente des Kollektiven und Zur Arbeitsweise von SIGNA und einem Rück- und Ausblick künstlerischer Kollektive.
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Abbildung 8: She She Pop: Schubladen
Quelle: Benjamin Krieg/She She Pop
Johanna Freiburg weist selbst darauf hin, dass es im Nachhinein schade gewesen ist, dass konfliktgeladene Diskussionen nicht weitergedreht worden sind. Sie trifft dabei den Punkt, der als Kritik gegen das Stück gewendet werden kann, denn: Solche Konflikte fehlen. Auch wenn das Stück mit vorwurfsvollen Wortkaskaden endet, wie beispielsweise „Hast Du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man eine Sprache spricht und sich nicht versteht? “, so verweist diese lediglich auf den Grundtenor der Performance, nämlich auf die Schwierigkeit, eine Sprache zu sprechen und doch unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen zu haben. Ein Deutschland? Diese Vorstellung bleibt eine utopische und zeigt gleichwohl die Relevanz des Diskurses darüber, um den transformativen Prozess am Laufen zu halten. She She Pop stellen Überlegungen zu einer ‚idealen Gesellschaft‘ an, die im Sinne einer ost-westdeutschen Einheit vorerst Utopie zu bleiben scheint. Das Performancebeispiel zeigt in diesem Fall eine Möglichkeit, im 21. Jahrhundert Performance und Utopie in Verbindung zu setzen. Gleichwohl greifen She She Pop den Aspekt der Utopie für ihre Art des Arbeitens sehr generell auf. So stellt sich über das Schaffen einer annähernd realen Situation während der Performances für die Künstlerinnen ein Handlungsrahmen her, der den Zuschauern und dem Kollektiv „die Diskussion und das gefahrlose Erproben utopischen Handelns“ (She She Pop o.J. b): o.S.) ermöglicht. Mit SIGNA haben wir zu Beginn des Kapitels einer weiteren Variante der Performance-Utopie-Konnexion folgen können. Diese Varianten sind in ihrer Vielfalt nicht unter den sprichwörtlichen einen Hut zu bringen und bilden somit jene ‚Micro-Utopien‘ (Bourriaud) oder ‚kleine Utopien‘ (Bondeli), die
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unsere Gegenwart durchwandern, ohne daraus den Anspruch eines ‚Gesamtentwurfs‘ (Hilpert) zu entwickeln. Der Anspruch der Utopie, so formulierte bereits Ernst Bloch, liegt dabei nicht darin, „Ideale zu verwirklichen, sondern man hat dieses Wesen, womit die gegenwärtige Gesellschaft schwanger ist, in Freiheit zu setzen.“ (Bloch 1980: 71) Irritierendes, Tabuisiertes, Nicht-Ausgesprochenes oder Konfliktreiches zu Tage zu bringen, das ist der ureigene Impuls der Utopie, der bis ins Heute nicht an Stahlkraft verloren hat. Nicht unerwähnt darf am Ende dieses Kapitels nun jene Frage bleiben, die im aktuellen Sprechen über Utopien des 21. Jahrhunderts den wohl vielfältigsten Antwortreigen nach sich zieht: Sind virtuelle Welten die Weiterführung des Ou-Topos – oder eben nicht? Eine ausführliche Antwort wird in dieser Arbeit ausbleiben, gleichwohl zeigt sich, dass die Thematik Theorie und Praxis ganz wesentlich durchdringt. Kurz möchte ich deshalb die Auseinandersetzung mit jenen unfassbaren Welten, die Technik und Mensch in Kontakt bringen und sich gleichwohl außerhalb realgesellschaftlicher Organigramme konfigurieren, zuspitzen. In virtuellen Welten bietet sich ganz allgemein die Möglichkeit, die „total immersion into a world whose reality exists contemporaneously with one’s own“ (Rush 1999: 208) erleben zu können. Immersive Praktiken drängen sich auch bei den performativen Installationen SIGNAs auf, jedoch unterscheiden sich ihre fiktionalisierten (Real-) Welten von der Realität virtueller Welten, da der virtuellen Realität (VR) jede Stofflichkeit fremd ist. Obwohl sie wegen dieser fehlenden Stofflichkeit „nicht per se Utopie“ (Werder 2009: 195) sein können, wie Werder proklamiert, wird den virtuellen Welten vielfach ein Status des Utopischen zugeschrieben. 71 Insbesondere die Kreateure VR-basierter Verfahren bemühen sich, die Leiblichkeit nicht nur beispielsweise innerhalb virtueller Gameplattformen zu potenzieren, sondern die virtuelle Realität mit mobilen Geräten wie Datenbrillen auch im realen Alltag zu verankern. So entstehen räumliche Verschiebungen, gedankliche Übertragungen oder kinetische Erweiterungen. Diese Transfertätigkeiten greift das Performerkollektiv machina eX72 auf. Die Künstler widmen sich in ihren Arbeiten dem Verhältnis von Performern, Besuchern und virtuellen Welten. Dafür entwickeln sie eigens Computerspielwelten und übertragen sie auf die Bühne, in denen der Zuschauer ebenso zum Akteur wird. Somit interagieren Performer und Zuschauer permanent als entvirtualisierte Avatare. Indem das Kollektiv die Immersion auf transferierte Weise 71 Vgl. hierzu mein Aufsatz Gelebter Ou-Topos. Leiblichkeit, Macht und Utopie in der Performance (vgl. Geldmacher 2013: 203 f.). 72 Einen vielfältigen und interaktiven Überblick über die Projekte des Kollektivs erhält man auf der Homepage der Künstler: http://machinaex.de/ (Stand: 11.04.2014). Als beispielhafte Performance für dieses Kapitel möchte ich auf Wir aber erwachen (2012) hinweisen: http://machinaex.de/project/wir-aber-erwachen/ (Stand: 11.04.2014).
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zur Säule der Performance-Abende macht, öffnen sich Räume, die die Sinne aller Teilnehmenden anders und ungewohnt in Anspruch nehmen. Was aber macht das abschließend mit der Utopie? Durch die Verknüpfung von virtuellen Elementen und leiblichen Handlungen innerhalb performativer Praktiken werden die Anwesenden zu Entwicklern neuer Situationen, die sich bei machina eX in einer konfusen Dopplung von fiktional-realen und virtuellen Welten wiederfinden. Dabei werden beide, realer und virtueller Raum, in ihrem gemeinsamen Verweis auf ein Anderes zwar gegenwärtig annähernd erfahrbar, bewahren sich aber gleichzeitig ihre utopische Potentialität. Verliert die virtuelle Konfiguration jedoch die Konnexion zum leibhaftigen Handlungsrahmen, wäre diese Potentialität zu hinterfragen. Ohne diese körperliche und taktile Vernetzung nämlich, verbleibt sie auf einer Ebene, in der das Stoffliche durch die spezifischen Modi der virtuellen Welten ersetzt werden muss – und damit für die Gegenwart (noch) nicht gestaltbar werden kann (vgl. Werder 2009: 194 ff.).
Künstler/Kollektiv
P ERFORMATIVES T UN I: ANDREAS L IEBMANN – W IR – EIN S OLO 1 Einen ‚gemeinsamen‘ Abend möchte der Performer Andreas Liebmann an diesem Juniabend 2012 im FFT Juta2 in Düsseldorf mit den Besuchern verbringen. Bestehen wird dieser, so wird sich in der Folge zeigen, aus der kollektiven Aktion aller Teilnehmer auf der Bühne sowie der Konfrontation verschiedener den Anwesenden unbekannter Einzelpersonen mit dem Künstler. Wir – ein Solo lautet der Titel der Performance und wenige Minuten später folgen Details zu diesem Oxymoron. Denn ehe Liebmann die Anwesenden auffordert, auf die Bühne herunterzukommen, verkündet er das für den weiteren Verlauf des Abends zentrale Detail: Die Zuschauer sollen ihm und seinen Worten fortan gedanklich folgen. Der expliziten Aufforderung, „jetzt“ den Nachbarn auf der rechten Seite anzuschauen, kommen zahlreiche Anwesende durch ein Drehen ihres Kopfes nach. Dies aber bleibt fast das letzte ‚Versehen‘, denn danach ist allen klar, dass die Teilhabe ohne physischen Einsatz vonstattengehen soll. Man begibt sich also im Geiste auf die Bühne und wird von Liebmann eingeteilt, um einen Chor zu bilden, der für ihn das Gemeinschaftsbeispiel schlechthin darstellt. Die einen haben dabei zu jubeln, die anderen zu singen, wieder andere sollen bestimmte Laute von sich geben. Der Akustik beraubt, symbo-
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Auszüge aus den Kapiteln Performatives Tun I: Ausschnitt aus Andreas Liebmanns Wir – ein Solo und Momente des Kollektiven finden sich in veränderter Fassung in dem noch unveröffentlichten Aufsatz Einer bewegt alle. Zur performativen Produktion von Kollektiven und Singularitäten, welcher voraussichtlich im Winter 2015 in dem von Timo Skrandies, Henrike Kollmar und Katharina Kelter herausgegebenen Sammelband Bewegungsmaterial erscheinen wird.
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Die Performance fand am 5. Juni 2012 im Forum Freies Theater in Düsseldorf in der Spielstätte Juta statt.
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lisiert Liebmann seine Rolle als Chorleiter durch energetische Bewegungen: Er scheint den Taktstock zu schwingen und zeigt durch seine Gestik, dass er vom ein oder anderen Einsatz nicht allzu angetan ist. Doch hör- und sichtbar wird von den Urhebern der zu hohen Gesänge oder des schiefen Tons nichts. Liebmann skizziert, die Zuschauer malen schweigend aus. Im besten Fall, so wird der Performer später im Publikumsgespräch berichten, stehen die Zuschauer selbst auf der Bühne und imaginieren das Gespräch nicht lediglich von ihren Sitzen aus. Abbildung 9: Andreas Liebmann: Wir – ein Solo
Quelle: Benjamin Krieg/Andreas Liebmann
Liebmann ist gewillt, die ihn beobachtende Gruppe über eine Stunde an sich zu binden. Er möchte, dass man ihm auf Schritt und Tritt folgt, doch immer wieder geschieht das, was in seinem Experiment per se angelegt ist: Die Individuen der Gruppe, die sich zwar als kollektives ‚Wir‘ angesprochen fühlen, jedoch schlussendlich als ‚Ich‘ agieren und handeln müssen, können sich ob der fehlenden physischen Kontrolle dem ganzen Spiel entziehen. So gesehen funktioniert das ‚Wir‘ in dieser Performance primär auf der psychischen und nicht wie sonst so oft auf einer physischen Ebene, die wiederum das Gruppengefühl ob der Sichtbarkeit, die häufig durch ein gemeinsames ‚Auf-der-Bühne-Agieren‘ entsteht, verstärken könnte. Im Zuge dieser Sichtbarkeit nämlich wird die Gemeinschaft, die sich innerhalb kurzer Zeit im Rahmen performativer Aktionen gründet, referentiell. Damit ist gemeint, dass man sich beispielsweise insoweit auf sie beziehen kann, als dass sie einem jenen Mut überträgt, den man alleine in einer ungewohnten Situation nicht hätte, an-
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dererseits aber auch ein Verantwortungsgefühl auferlegt, das ein Zuwiderlaufen der Gruppendynamik erschwert. Mehr noch: Sich gegen die Gruppe zu stellen erfordert Courage und bleibt auf Grund der zumeist unbekannten Gruppenzusammensetzung vielfach aus. Man unterlässt es, weil man nicht aus der Reihe tanzen oder ‚auffällig‘ werden und die Blicke auf sich ziehen will. Innerhalb der Performance lässt Liebmann plötzlich ab von den Zuschauern, von seinem Chor. Er hisst eine überdimensionale Fahne, bringt sie mit Hilfe eines Ventilators lautstark zum Wehen und beginnt auf seinem Cello zu spielen. Auf die Fahne werden Wörter projiziert, die sich zu einer Geschichte über eine dreiköpfige Gruppe entwickeln. Mal schneller, mal langsamer werden die Projektionen sichtbar und Liebmann unterstützt die Geschwindigkeit mit dramatischen Streichbewegungen. Das Fragmentarische der aufflackernden Wörter lässt Erinnerungen an die surrealistischen Wortkaskaden der écriture automatique aufkommen. Einmal mehr entstehen ambigue und individuelle Bilder in den einzelnen Zuschauerköpfen, die, tauscht man diese nach der Performance aus, vielfach keine Berührungspunkte mehr haben. Abbildung 10: Andreas Liebmann: Wir – ein Solo
Quelle: Benjamin Krieg/Andreas Liebmann
So sind die Teilnehmer an dieser Stelle der Performance kein Teil einer Gesamtgruppe, sondern verbleiben vorerst unbeteiligte Beobachter. ‚Wir‘, das sind in diesem Falle ‚die‘ und nicht ein Kollektiv in das man inkludiert ist, sondern von außen betrachtet und somit auch autark für sich erschließen kann. Liebmann stellt in der etwa 70-minütigen Performance vielfältige Modelle singulärer und kollektiver
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Aggregatzustände vor. Er setzt sich zwischen die Zuschauer, distanziert sich von ihnen, wälzt sich über den Boden oder fordert das Publikum auf, gemeinsam Bewegungen auszuprobieren, die keiner der anderen macht. Es sollen Varianten erdacht werden, die eine Differenz zu den anderen sichtbar machen. Dabei deformiert er seinen Körper auf krude Art und Weise. Im Publikumsgespräch erklärt er, dass er auf diesen Teil der Performance im Zuge einer Improvisationsübung mit Jugendlichen gekommen ist. Als er diese gebeten habe, in der Gruppe Bewegungen zu entwickeln, die sich von jenen der anderen unterscheiden sollten, sei dies schier unmöglich gewesen, irgendwann sei man immer wieder bei ähnlichen Bewegungen angelangt. Im Rahmen seiner Performance führte ihn das zu Überlegungen der Schwarmbewegungen. Es ist einer der markantesten Teile seiner Performance, wenn er versucht zu simulieren, wie er und die imaginierte Zuschauergruppe gemeinsam einen Bewegungsrhythmus entwickeln, den keiner vorgibt, sondern der im Miteinander entsteht. An diesem Punkt, in diesem Moment, entsteht etwas, was als Kollektivkörper bezeichnet werden könnte. Es gibt keinen ‚Kopf‘, keinen Leiter, keine Hierarchie – das ‚Wir‘ entscheidet und somit jeder Einzelne im großen Ganzen und gleichwohl als großes Ganzes. Dieser Körper fungiert als Imaginäres, nicht Sichtbares. Er entsteht über eine mimetische Kollektivierung, die jeden Einzelnen mit einbezieht, jeden führt und gleichzeitig von jedem geführt wird. Die Immaterialität von Gemeinschaft und die Materialität der Performance gehen dabei eine spannende Relation ein. Beides lässt den Kollektivkörper eben nicht nur zur Fragestellung, sondern zum Zentrum des Abends werden, zu dem, um das es geht. „Was macht uns bewegt?“, diese Frage schwirrt die gesamte Performance über mit den Besuchern durch das FFT und lässt diese nicht mehr los. Als kollektiviertes Bewegungsmaterial der Performance können sie sich nicht entziehen, sind Teil des Prozesses von dem Moment an, in dem sie den Raum betreten haben. Liebmann selbst changiert inmitten der dadurch entstehenden Verhältnisse und Strukturen. Einerseits drängt er dem anwesenden und doch virtuellen Publikum seine Wünsche und Anforderungen auf, ruft dieses an, ihn zu lobpreisen, giert nach Selbstbestätigung. Anderseits konterkariert er dieses machtstrategisch fragwürdige Spiel mit alternativen Kollektivformen, die eine Enthierarchisierung vorantreiben könnten. Ob dies gelingt scheint ihm selbst fraglich. Das Ich-Du-Wir-Verhältnis vermag keinen Ausgleich vorgeben zu können. Welche Irritationen Künstler und Kollektiv in ihrem Zusammenspiel, aber auch in ihrer Abgrenzung widerfahren bleibt unbestimmt und nicht vorhersehbar. Liebmann spielt eben damit: Mit dem komplexen und stets existenten Versuch bei sich zu bleiben und doch in das Kollektiv einzutauchen. Das Ich im Wir ist jene Chance und gleichwohl jenes Dilemma, das in allen (künstlerischen) Kollektiven zur Sprache kommt. Durch dieses Ich werden Gemeinschaft, Produktivität und kreatives Potential forciert, gleichzeitig aber besteht die Gefahr, dass all dies in Konflikte übergehen, zu Reibungen mit und Abgrenzungen von den anderen Mitwirkenden des Kollektivs führen kann.
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Um über das Verhältnis von Künstler und Kollektiv 3 nachdenken zu können, möchte ich mich zuvor den Begriffen Kollektiv und Gemeinschaft4 zuwenden, die vielfach synonym gebraucht werden und nur schwerlich semantisch voneinander abzugrenzen sind. So blieben sie laut Michael Opielka „ein in der Literatur ungeklärtes 3
In dem Großkapitel Künstler/Zuschauer wird die Seite des Zuschauers näher beleuchtet werden. Eingedenk der Tatsache, dass beide Kollektive, also Künstler- und Zuschauerkollektiv, sich aus Performances nicht fortdenken lassen, sobald mindestens zwei Besucher oder Künstler zugegen sind, stellt sich eine erste Grenzziehung ob der Parameterstruktur dieser Arbeit als provisorisch dar, die keinesfalls den Status einer strikten Trennung haben soll, schließlich sind beide Parameter miteinander verschränkt. Dass der Zuschauer als „Teil des Produktionskollektivs“ (Vaßen 2013: 137) verstanden werden muss, scheint kaum zu konterkarieren, die Rolle des Ko-Akteurs ist gewissermaßen gesetzt. Eine Trennung zwischen der Künstler-Zuschauer-Relation und dem Verhältnis von Künstler zu Kollektiv wird vorgenommen, um dem Umfang der Themen Übersichtlichkeit zu verschaffen. Dafür wird der Kollektiv-Begriff in diesem Kapitel detailliert betrachtet und auf die Relation zwischen Künstler und Künstlerkollektiv hin angewendet. Hinsichtlich des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer kann der Kollektivterminus dann vorausgesetzt werden. Vgl. hierzu auch den Sammelband Kollektive in den Künsten, in dem Matthias Rebstock im Namen der Herausgeber eine ähnliche Unterteilung vornimmt, gleichwohl aber darauf verweist, dass eine „isolierte“ (Rebstock 2008: 9) Betrachtung zwischen produzierenden und rezipierenden Kollektiven nicht möglich sei (vgl. Rebstock 2008: 9 ff.).
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Die Erforschung von Gemeinschaften geriet relativ spät in den Fokus sozialwissenschaftlicher, politischer oder auch philosophischer Theoriedebatten. Erst Mitte der 1980er Jahre kam es hierzulande zu gezielten Auseinandersetzungen, nachdem Ferdinand Tönnies sich bereits 1887 erstmals der sozialen Gemeinschaft und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft gewidmet und Emile Durkheim oder Max Weber kritische Gegenpositionen entwickelt hatten. Michael Opielka weist darauf hin, dass in den USA ein entsprechender Diskurs über Gemeinschaft bereits Mitte der 1970er angestoßen wurde. Aus soziologischer Perspektive kann Gemeinschaft als „soziale Bindung von Individuen an Bezugspersonen und die gemeinsame alltägliche Lebensführung“ (Grundmann 2006b): 7) bezeichnet werden. Durch diese Forschung nun habe sich die These herausgebildet, dass die Gesellschaft sich weniger aus individuellen, sondern stattdessen viel eher aus gemeinschaftlichen Handlungen heraus konstituiere. Damit einher gehe, dass es keine „formale[n] Kriterien“ gebe, die die Gemeinschaft bestimmten, vielmehr sei es „das konkrete Handeln individueller Akteure in Hinblick auf ein gemeinsames Handlungsziel.“ (Grundmann 2006a): 9) (Vgl. Grundmann 2006a): 9/Grundmann 2006b): 7/Opielka 2006: 10 ff.).
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Verhältnis“ (Opielka 2006: 154). Dadurch, dass „Gemeinschaft […] ein Kollektivbegriff“ (Diehl 1940: 265) ist, kann auch umgekehrt vom Kollektiv als Gemeinschaftsbegriff gesprochen werden (vgl. Diehl 1940: 265). War der Gemeinschaftsbegriff im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorherrschend, geriet er nach dem Zweiten Weltkrieg als Reaktion auf die „mörderische Behauptung einer ‚Volksgemeinschaft‘“ (Opielka 2006: 153) durch die Nationalsozialisten in die Kritik. Erst in den 1960er Jahren, und maßgeblich unterstützt von der „linken Semantik“ der 1968er-Bewegung, habe dann der Begriff des Kollektivs, insbesondere in sozial- und bildungswissenschaftlicher Hinsicht, Einzug gehalten, auch wenn eine erste Nennung im Sinne kommunitaristischer Gesellschaftssysteme bereits früher stattfand. Ab 1960 formierte der Kollektiv-Begriff sich dann aus der Perspektive des „sich emanzipierenden Individuum[s]“ (Opielka 2006: 154) und ließ das Subjekt nicht mehr außen vor. Obschon der Gemeinschaftsterminus Mitte der 1980er in wissenschaftlicher Hinsicht neuerliche Beachtung fand, ist der Kollektiv-Begriff bis heute zu einem gleichwertigen Begriff geworden, der sich von seiner zu Beginn stark sozialistisch-kommunistischen Prägung, auch im Sinne von „Masse“ (Engell/Siegert 2012: 9), befreien konnte. In diesem entpolitisierten Sinne soll er auch in dieser Arbeit verstanden und dabei keinesfalls als Gegen-, sondern als Parallelbegriff zur Gemeinschaft gedacht werden. Gleichwohl wird das Kollektiv als ‚Gebrauchsbegriff‘ präferiert, da zeitgenössische Performancegruppen sich selbst zumeist als Kollektive und seltener als Gemeinschaften bezeichnen. Gerade weil sich beide Begriffe überlagern, möchte ich ihnen aufs Erste für eine inhaltliche Fundierung einzeln näherkommen. Kollektiv und Gemeinschaft werden deshalb zu Beginn getrennt betrachtet, keineswegs aber grundsätzlich auseinandergedacht. Diese Tendenz widerspricht auf den ersten Blick den Überlegungen Herbert Blumers, die Urs Stäheli herausstellt. Stäheli verweist auf das Trennende zwischen Kollektiv und Gemeinschaft, indem er verdeutlicht, dass das „Zusammen-Handeln“ (Stäheli 2012: 99) im Kollektiv kein gemeinschaftliches sein muss. Im Sinne Herbert Blumers sei das kollektive Handeln den ritualisierten und routinierten Handlungen einer Gemeinschaft vielmehr gegenüberzustellen, da das Kollektiv gleichwohl durch ein „Verhalten ohne Intention“ (Stäheli 2012: 102) bestimmt sei, dessen Ziellosigkeit maßgeblich für etwaige „Selbstorganisationsprozesse“ (Stäheli 2012: 103) werde. Ist diese Überlegung insbesondere für heutige Performancekollektive eine notwendige Voraussetzung der eigenen Arbeit, möchte ich Gemeinschaft und Kollektiv weniger deutlich voneinander abgrenzen, weil Überlappungen kaum in Gänze ausgeschlossen werden können (vgl. Diehl 1940/ Opielka 2006: 153 ff./Stäheli 2012: 99 ff.).
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Die Gemeinschaft Blicken wir als erstes auf den Begriff der Gemeinschaft, lässt sich auch diesem über seine Infragestellung begegnen, die insbesondere Jean-Luc Nancy in seinen Werken La communauté désœvrée (1983) und Singulär plural sein (2004) aufwirft. Nancy verweist auf die Gefahr eines gewaltsamen Zustandekommens von Gemeinschaft. So sei bei politisch motivierten Gemeinschaften wie dem Kommunismus5 der ge5
Kritik am Kommunismus übt auch Maurice Blanchot und referiert dabei auf Nancy. Seine Gedanken knüpft er an die Problematisierung von Georges Batailles Thesen zur Gemeinschaft (siehe hierzu beispielsweise Batailles Ausführungen in seinem Vortrag Die Sakralsoziologie und die Beziehungen zwischen ‚Gesellschaft‘, ‚Organismus‘ und ‚Wesen‘ (Bataille 2012b): 43-62), den Bataille am 20. November 1937 im Rahmen des Collège de Sociologie hielt. Auch wenn Blanchots Auslassungen und Batailles Grundsätze hier nicht weiter ausgeführt werden sollen, scheint mir die Erwähnung eines Kunstprojekts des Künstlers Thomas Hirschhorn sinnvoll, welches diese theoretischen Positionen gewissermaßen vernetzte. Der Schweizer benennt seine Installationen vielfach nach Philosophen oder Künstlern. Auf der 11. documenta (2002) stand beispielsweise sein Bataille-Monument für die gesamte documenta-Laufzeit in einem sogenannten ‚Problemstadtteil‘ der Stadt Kassel. In seinen Monumenten lässt er generell Bücher der namensgebenden Person, wie Bataille in Kassel, in einer Papp- oder Holzhütte ausliegen und verknüpft diese mit gemischten Materialien wie pornographischen Heften, Kopien theoretischer Texte, Stiften, Blättern, Pappe zum Beschriften, einer Bibliothek oder einer Radiound/oder TV-Station, von der aus Sendungen mit den Besuchern produziert werden. Der installierte Raum steht allen offen und führt in den meisten Fällen dazu, dass die umliegenden Bewohner ihn nicht nur gemeinsam mit Hirschhorn aufbauen, sondern auch weiterhin nutzen, obschon sie mit etwaiger Literatur oder Kunst bis dato selten in Kontakt gekommen sind. Hirschhorn versteht Kunst als politische Form, um soziale Situationen herzustellen. Das Gramsci-Monument (www.gramsci-monument.com) baute er mit Anwohnern, die er dafür auch bezahlte, in der New Yorker Bronx auf (1. Juli bis 15. September 2013). Der Bau beherbergte neben unterschiedlichen theoretischen Schriften, einer Radiostation und einem Konstrukt, das das Erstellen einer täglichen Zeitung ermöglichte auch eine Bühne. Auf dieser stellte der Philosoph Marcus Steinweg, der bereits zahlreiche Kunstprojekte mit Hirschhorn realisierte, täglich manifestartige Thesen zu einem bestimmten Thema vor. Am 28. August 2013 trug seine 60. Lecture den Titel What is a collective? Darin hieß es unter anderem: „The collective is perhaps nothing other than the community without community evoked by Georges Bataille and Maurice Blanchot (although in different ways).“ (Steinweg 2013: o.S) Dass Blanchot und Bataille die Gemeinschaft in ihrer Negation begreifen ist demnach ein Gedanke, der durch Steinwegs Thesen aktualisiert und im Zuge des künstlerischen Szenarios an, in und um das
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meinschaftliche Grundgedanke nicht per se gesetzt, sondern konstituiere sich erst über ein gemeinsames Ziel. Dieses wiederum benötige dafür zumeist drastische Methoden, um die unterschiedlichen Interessen zusammenzuführen. Daran anschließend ist deshalb die Frage zu stellen, ob es Gemeinschaften geben kann, die auf neutrale und non-hierarchische Weise entstehen. Oder ist der Grundgedanke einer gemeinschaftlichen Idee und deren Übertragung auf die gesamte Gesellschaft ohne Disziplinierung gar nicht erst möglich? Für eine Annäherung kommt Nancy auf den Tod 6 der Individuen zurück, welcher die Basis für die Gemeinschaft bildet, da sich „gerade durch den Tod […] die Gemeinschaft [offenbart] – und umgekehrt.“ (Nancy 1988: 35) Nancy meint damit die „Unmöglichkeit ihrer Einswerdung“ (Nancy 1988: 38) und bilanziert: „Die Gemeinschaft garantiert und markiert in gewisser Weise die Unmöglichkeit der Gemeinschaft – dies ist ihre ureigene Geste und die Spur ihres Tuns.“ (Nancy 1988: 38) Im Zuge dessen könne sie weder Werk noch Projekt sein und solle dies auch nicht werden. Nancy stellt fest, dass „die Gemeinschaft […] weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raumes der Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Sein“ (Nancy 1988: 45) ist. „Der Verlust, die Unabschließbarkeit der Gemeinschaft“, so führt Thomas Bedorf die Gedanken Nancys zusammen, „ist gerade das, was diese kennzeichnet“ (Bedorf 2010b): 149). Sie entgehe in diesem Zusammenhang jeglicher Identität, da sie in ihrer Unabschließbarkeit der Absolut-Setzung der Identität zuwiderlaufe. Mehr noch: Die Relationalität, die durch den „Sinn einer Kommunikation, [der] Zugehörigkeit zu einer Welt“ entstehe, ist mit der Identität nicht in Einklang zu bringen. Für die „Entwerkung“ (Nancy 1988: 69) aber sei eine permanente
Gramsci-Monument als utopische Idee zur Verfügung gestellt wurde. Steinweg verdeutlichte dabei, dass es keinen absoluten Zusammenhalt geben könne, da dieser immer schon mit dem Zwang zur Reduktion verbunden sei, welcher sich für jedwedes Miteinander als negativ darstelle. Einem solchen Zwang müsse deshalb mit größtmöglicher NichtFestlegung begegnet werden. In diesem Punkt lassen sich Nancy, Bataille, Blanchot und Steinweg miteinander in Verbindung bringen (vgl. Blanchot 2007: 10 ff./Johnson 2013: o.S./Steinweg 2013: o.S.). 6
In Michel Foucault findet sich ein bekannter Vorreiter dieser Denkfigur. Für ihn ist „[d]er Tod des Menschen […] ein Thema, das es möglich macht, das Funktionieren des Begriffs ‚Mensch‘ im Bereich des Wissens aufzuzeigen.“ (Foucault 2001: 1037) Maurice Blanchot greift Nancys und einmal mehr Batailles Thesen zum Tod auf und bilanziert: „Es gibt keine Gemeinschaft, wenn nicht das erste und letzte Ereignis gemeinsam wäre, das bei jedem aufhört, gemeinsam sein zu können (Geburt und Tod).“ (Blanchot 2007: 22 f.)
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Kommunikation7 oder Mit-Teilung notwendig, die das Werk8 substituiere und stattdessen auf ein Zusammen-, Gemeinsam- und Mit-Sein hinwirke. Letzteres beinhaltet laut Nancy nicht jene belastende Vorbestimmungen, beispielsweise des Religiösen, und entziehe sich deshalb gängigen Vorurteilen. Gerade weil „die gemeinschaftliche Existenz […] im Grunde die Unausweichlichkeit [ist], das Soziale als das Zwischen zu betrachten“, so verdeutlicht Bedorf, ist „das Soziale wesentlich als Relationalität zu verstehen, hinter der keine Hinterwelt der ‚Akteure‘, der ‚Subjekte‘ oder ‚Personen‘ zu finden ist.“ (Bedorf 2010b): 150 f.) Das Mit stellt für Nancy demgemäß den elementaren Bestandteil für die Aufrechterhaltung des Seins dar. Ohne das Mit sei das Sein nicht zu haben. „Das Sein kann nur als Mit-ein-anderseiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert.“ (Nancy 2004: 21) Das bedeutet für Nancy: „Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins.“ (Nancy 2004: 59) Für die Singularitäten besteht somit keine Option, sich „von seinem Sein-mit-mehreren […] zu trennen“ (Nancy 2004: 61). Herauszustellen ist an dieser Stelle, dass Nancy im Ursprung nicht von einem Mit-Sein ausgeht, das unterschiedliche Singularitäten miteinander vereint, sondern dass das Mit-Sein zuvorderst dem Sein einer Singularität zugehörig und deshalb kein Anderes ist (vgl. Bedorf 2010b): 149 f./Nancy 1988: 32 ff; 62 ff./Nancy 2004: 11 f.; 38 ff.; 100 f.). Nancy spricht stets von Singularitäten und nicht von Individuen. Für ihn sind Singularität und Individualität nicht vergleichbar: „Die Singularität ereignet sich nicht in der Ordnung der Atome, diesen identifizierbaren, wenn nicht sogar identischen Identitäten, sondern auf der Ebene des clinamen, das selbst nicht identifiziert werden kann.“ (Nancy 1988: 22)
Bedorf formuliert hierzu, dass „[v]on der Singularität des Sinnentwurfs zu sprechen, […] bereits die Pluralität der sozialen Gemeinsamkeit [impliziert].“ (Bedorf 2010b): 152) Martina Ruhsam gibt zu Bedenken, dass Nancy von dem Gedanken einer Entität Abschied nehme, die in sich geschlossen sei und für sich selbst stehe. Die Autonomie des Individuums, welches in gewisser Weise isoliert seinen Platz in der Gemeinschaft einnehme, werde ersetzt durch eine relationale Singularität, „die selbst einen Knotenpunkt des Mit darstellt, eine Singularität, die permanent im Werden und damit offen ist.“ Auf Grund dieser „konstitutive[n] Offenheit“ sei 7
Zur Kommunikation vgl. Nancy 1988, S. 63-69 sowie die von ihm formulierte Fußnote 11 auf Seite 46 seines Textes, ausformuliert auf Seite 172 f.
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Gemeinschaft als Nicht-Werk bedeutet nach Nancy „das, was sich aus dem Werk zurückzieht, was nichts mehr mit Herstellung oder Vollendung zu tun hat, sondern auf die Unterbrechung, die Fragmentarisierung, das In-der-Schwebe-Sein trifft.“ (Nancy 1988: 70)
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„Sein überhaupt nur als Mit-Sein möglich“ (Ruhsam 2011: 30). Die damit einhergehende Kommunikation finde deshalb „infra- bzw. intraindividuell und transindividuell“ (zit. nach Bedorf 2010b): 152) statt. Nancy meint mit dem Infraindividuellen gewissermaßen ein ‚zwischen den Zeilen‘, eine spezifische „‚Form‘ […] oder eine[...] Stimmung“ (Nancy 2004: 29) in der man auf jemand anderen trifft. Das führt Nancy zu dem Schluss, dass Präsenz immer auch als Ko-Präsenz denkbar ist. Demgemäß können die unterschiedlichen Präsenzweisen „nur stattfinden, wenn vor allem Ko-Präsenz stattfindet. Ein einzelnes Subjekt könnte sich nicht einmal bezeichnen und sich auf sich als Subjekt beziehen.“ (Nancy 2004: 71) Das Mit fungiere deshalb als unerlässlicher Teil der Präsenz, die somit gleichzeitig Ko-Präsenz sei. Für das Individuum bedeutet das, dass ein Denken über sich ohne andere plurale Singularitäten nicht möglich ist (vgl. Nancy 2004: 71; 101/Ruhsam 2011: 30). Übertragen wir diesen Gedanken auf die Performance von Liebmann so lassen sich das Mit-Sein und die pluralen Singularitäten eingedenk ihrer Abstraktion zusammenbringen. Nicht nur, dass Liebmann einfordert, dass es unserer Vorstellungskraft bedarf, um die Performance überhaupt in Bewegung zu bringen. Vielmehr werden wir auch unaufgefordert als singuläre Subjekte angesprochen, um das Mit-Sein unserer Singularitäten mit denen der anderen zu einem doppelt kopräsenten Mit-Sein zu verbinden. Es geht um das gemeinsame Herstellen einer Situation, das gemeinsame Erleben und Durchführen. Ob diese Handlung nun eine aktive oder passive, eine physische oder psychische ist, bleibt erst einmal unerheblich. Vielmehr dreht sich alles um die ad-hoc-Gemeinschaft, die die Anwesenden in einem Raum an einem bestimmten Ort – Nancy spricht von „Raum-zeit“ (Nancy 2004: 99) – vereint und performative Bilder hervorbringt, welche zugleich aber auch immer wieder zu einer „Des-Identifizierung“ (Bedorf 2010b): 155) führen. Dass diese sicht- oder unsichtbar sind, sich haptisch oder mental überprüfen lassen können, oder eben auch nicht, gerät dabei in den Hintergrund. Denn, und dieser Aspekt ist meines Erachtens gerade für performative Kunstformen von Belang: „Der Sinn besteht weniger im Kommunizierten als in der Kommunikation selbst.“ (Ruhsam 2011: 32) Es geht demnach darum, sich zu einem, im Sinne Bedorfs ‚Als-ObKollektiv‘ zusammenzufinden, das sich in einem steten Akt der performativen ‚Des-Identifizierung‘ befindet und sich dabei seiner selbst gewahr werden kann (vgl. Bedorf 2010b): 155). Performances widmen sich wie wir wissen weniger der Bedeutung des Performten als dem Akt des Performens selbst. Nicht das Was, sondern das Wie wird zum richtungsweisenden Moment. Auch hier zeigt der Blick auf Liebmanns Performance: Ob es zum gemeinsamen Handeln kommt ist weder vorhersehbar noch sichtbar. Schließlich ist nicht von einem Kollektiv an Zuschauern auszugehen, welches lediglich teilhaben soll und bestenfalls den Aufforderungen folgt. Vielmehr geht es um den permanenten Austausch von Liebmann einerseits und den rezipierenden Besuchern andererseits, die im Versuch mit ihm zu kommunizieren durch-
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aus scheitern werden, sich beispielsweise den Ansagen Liebmanns entziehen oder möglicherweise gar nicht erst verstehen, was Liebmann meint. Es geht um eine Kontingenz der (Denk-)Handlungen von Liebmann und den Rezipienten, die nicht gesetzt sein kann und darf. Dabei treten die Bausteine des Kollektiven bei Wir – ein Solo auf drei Ebenen auf: Auf einer inhaltlichen, auf einer settingspezifischen und eben changierend auf einer beide involvierenden Mischebene. Mit dem Inhaltlichen meine ich, dass Liebmann das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv explizit zum Thema macht, mit Setting, dass die anwesenden Subjekte auf eine gewisse Weise einander zugeordnet werden (hier der Künstler, da das Publikum). Dass Liebmann mit der Aufforderung eines gemeinsamen Tuns ein Wir produzieren möchte, welches dennoch unter seiner Führung in einem hierarchischen Zustand verbleibt, ist jener Teil, der beide Ebenen vermengt, da er nicht nur etwas mit der Anordnung des Stücks, sondern auch mit dem Aktionsradius der Besucher zu tun hat. Fest steht, dass „derjenige, der spricht, […] auf singuläre Weise [spricht] und sein Sprechen […] nicht notwendigerweise mit den Artikulationen derer, die dieses Wir noch umfasst, koinzidieren [muss].“ (Ruhsam 2011: 38) Diese Voraussetzung ist für das gemeinsame Erleben performativer Äußerungen insofern anregend, als es der Vielheit Rechnung trägt, die bereits in der Sinnmannigfaltigkeit der Performance an sich angelegt ist. Am Publikumsgespräch nach Liebmanns Performance wird deutlich, dass es das eine Sprechen über das Erlebte trotz einer gemeinsamen Erfahrung nicht geben kann. Auf künstlerisch-rezeptiver Ebene geht damit ein Unverständnis und Unwohlsein einher, das sich auf Grund der Sinnmannigfaltigkeiten beim Rezipienten einstellt. Die menschliche Suche nach Ausgewogenheit und Klarheit wird im Konzept des Mit-Seins konterkariert, da die permanente Kommunikation keinen Endpunkt fixieren kann und will. „Die Idee vom Mit-Sein“, so bilanziert Krassimira Kruschkova, „setzt kein Gemeinsames einer Gruppe, keinen gleichbleibenden Plural voraus, sie setzt sich dessen Mangel aus. Erst über dieses Aussetzen der Zusammengehörigkeit ist das Zusammenhalten des Geteilten und Differenten denkbar.“ Dieser Mangel bildet ihrer Meinung nach jedoch die Grundlage der kollaborativen Praxis und ist dafür verantwortlich, dass die „Unmöglichkeit einer gleichberechtigten Partizipation“ (Kruschkova 2011: 9) zum wesentlichen Moment des kollektiven Arbeitens wird. Ohne ein Pendeln zwischen Destruktion und Produktivität ist das Mit-Sein nicht denkbar. Das Mit-Sein impliziert also unterschiedlich denkende plurale Singularitäten und bringt Körper zu einem Kollektiv zusammen, das sich nicht als statisch begreift. Diese Überlegung gilt es konzentrierter zu fassen und anhand des Begriffs des Kollektivkörpers kurz aufzufächern (vgl. Kruschkova 2011: 9 ff./Ruhsam 2011: 38 f.).
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Der Kollektivkörper Der Kollektivkörper hängt seit jeher mit „dem Körperbild der jeweiligen Epoche“ (Ruhsam 2011: 158) zusammen. Bezugnehmend auf Thomas Hobbes’ LeviathanIllustration und Schrift 9 von 1651 greift Ruhsam den bereits von Christina von Braun formulierten Gedanken auf, dass „eine Gemeinschaft durch einen Souverän bzw. durch eine Versammlung verkörpert werden musste.“ (Ruhsam 2011: 159) Die Idee einer solchen Verkörperung wurde von der christlichen Auffassung vorangetrieben, die besagt, dass Gott und die Gläubigen eins werden können. Im Katholizismus geschieht dies beispielsweise im Zuge der Eucharistie, in welcher der göttliche Körper sprichwörtlich einverleibt wird. Auch Nancy nimmt sich dieses Beispiels an, um den Ursprung der Gemeinschaft in der Moderne zu erklären. Neben der Einswerdung stellte sich die „Teilhabe des Menschen am göttlichen Leben“ (Nancy 1988: 28) als wichtiges Moment der Kommunion heraus. Die Tatsache, dass man über Gemeinschaft nachdenkt, so Nancy, kann sehr wohl damit zusammenhängen, dass die Menschen in der Moderne die Erfahrung machten, „da[ss] die Gottheit sich unaufhörlich aus der Immanenz zurückzog […] und da[ss] das göttliche Wesen der Gemeinschaft – oder die Gemeinschaft als Existenz des göttlichen Wesens – das eigentlich Unmögliche darstellte.“ (Nancy 1988: 29) Nancy aber wendet sich gegen die Form des Gemeinschaftskörpers, da für die Entstehung von Gemeinschaft der Verlust der „Immanenz und die Vertrautheit einer Einswerdung“ (Nancy 1988: 32) maßgeblich sei. Wenn aber „[d]ie Ontologie des Mit-seins […] eine Ontologie des Körpers, aller Körper – unbelebter, belebter, fühlender, sprechender, denkender, wiegender Körper“ sei und Körper vor allem bedeute, „was außerhalb ist, als außerhalb, abseits, gegen, bei, mit einem (anderen) Körper, mit dem Körper am Körper, was zur Dis-Position steht“ (Nancy 2004: 131), dann stehen diese Körper eben auch in einem Verhältnis zu anderen Körpern. Sylvia Sasse und Stefanie Wenner verdeutlichen, dass „der Körper immer auch Teil einer sozialen Performanz [ist], die ihn durch Rituale Regeln, Organisationsformen zugleich an einen symbolischen Träger bindet und in Bezug zu anderen in der Gemeinschaft setzt.“ (Sasse/Wenner 2002: 9) Dieses Verhältnis lässt sich nicht nur im Sinne einer kommunistischen Gemeinschaft denken, in der der Gemeinschaftskörper tatsächlich fragwürdig wird. Nehmen wir die Besuchergruppe im FFT, so stellt sich diese Gemeinschaft keineswegs als homogene, in sich geschlossene oder konforme dar. Sie verweist lediglich auf eine Verhältnisnahme untereinander (‚wir sehen uns zusammen eine Performance an‘). Eine gemeinsame Zielsetzung oder Ideologie würde dabei zu weit führen und sähe über die differente Wahrnehmung und finale plurale 9
Siehe zum Verhältnis von Kollektivkörper und Hobbes’ Leviathan die Ausführungen von Volker Wortmann 2008: 39-45.
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Bedeutungszuschreibung hinweg (vgl. Nancy 1988: 29 ff./Nancy 2004: 131/Ruhsam 2011: 158 ff.). Auf diese Differenz in der Gemeinschaft aber kommt es an. Georg Christoph Tholens Beitrag zur Vortragsreihe Mit-Sein. Zur Aporie der Gemeinschaft in Tanz und Performance, den Ruhsam zitiert, macht darauf aufmerksam. Er gibt zu bedenken, dass der Wunsch einer Gemeinschaft nach Wesensgleichheit obsolet sei, da „[d]as Commune, also Gemeine, […] das gemeinsam Geteilte Zur-Welt-Kommen [ist]. Dieser Prozess oder dieses Werden ist […] das Fehlen und Verfehlen jeglicher Wesenheit und Substanz“ (Tholen 2008: 2 f.). Um Gemeinschaft wahrhaftig denken zu können, muss, so Ruhsam in Bezug auf Rancière10 und Tholen, das Differente, die Unterscheidung und das Unheinheitliche in den Blick genommen werden, wie es auch Kruschkova formuliert. Dem verweigert sich Nancy nicht. Gleichwohl negiert er, ebenso wie Blanchot11 in dekonstruktivistischer Lesart, die Gemeinschaft selbst, macht in ihr eine permanente An- und Abwesenheit aus und denkt die Differenz weniger in ihr, sondern im Rahmen von Neuschöpfungen. Giorgio Agamben diskutiert die unmögliche Wesensübereinstimmung ebenfalls, hält an der Gemeinschaft aber dennoch fest. Somit könne „das Gemeinsame keinesfalls das Wesen eines Einzeldinges ausmachen“ (Agamben 2003: 23), da dieses nicht auf eine „Idee“ oder „allgemeine Natur“ (Agamben 2003: 22) zurückzuführen sei (vgl. Agamben 2003: 21 ff./Tholen 2008: 2 ff.). Das Kollektiv Wenden wir uns von der Gemeinschaft über den Kollektivkörper nun dem Kollektiv zu. Gemäß Karlheinz Messelken lässt es sich als „das Personal von sozialen Systemen [verstehen; PG][,] das als solches immer eine abzählbare Vielheit von Individuen umfasst, die durch die Systemfunktionen als solche einander zugeordnet und 10 Siehe hierzu unter anderem Rancière 2009: 26 ff. 11 Vgl. hierzu auch Gerd Bergfleths Formulierungen über das Verschwinden der Gemeinschaft bei Nancy und Blanchot. Bergfleth erkennt Ähnlichkeiten, verdeutlicht aber auch, dass Nancys Gemeinschaft im Gegensatz zu Blanchots eine sei, der man „ungefragt“ (Bergfleth 2007: 168) angehöre und deren Anforderungen man sich zu stellen habe. Blanchot, so Bergfleth, „errichtet in seiner Schrift eine Gemeinschaft äußersten Anspruchs, die von vornherein im Horizont des Unmöglichen steht.“ (Bergfleth 2007: 115) Gleichwohl sei sie „notwendig“ (Bergfleth 2007: 166). Die Abwesenheit als Moment, der die Gemeinschaft stetig zu Fall bringt ergebe sich aus der Überlegung Blanchots, Gemeinschaft durch Leben und Tod zu rahmen und dadurch „ihr Unmögliches, das sie uneingestehbar macht“ (Bergfleth 2007: 167) unaufhaltsam an sie zu binden (vgl. Bergfleth 2007: 112 f.; 168 f.).
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also gesammelt und verbunden sind.“ (Messelken 2002: 277) Diehl führt in seiner Schrift von 1940 den Kollektivismus ebenfalls nur auf Gesellschaftssysteme zurück und fasst unter „kollektivistische Gruppe[n] die Systeme, welche an die Stelle des Privateigentums an den Wirtschaftsmitteln das Gemeineigentum treten lassen wollen.“ (Diehl 1940:1) Dazu zählen laut Diehl der Sozialismus, der Kommunismus und der Agrarsozialismus (vgl. Diehl 1940: 135 f.). In seinem Buch The Social System thematisiert Talcott Parsons 1951 die Kollektivität und grenzt diese deutlich von Institutionen ab: „A collectivity is a system of concretely interactive specific roles. An institution on the other hand is a complex of patterned elements in role-expectations which may apply to an indefinite number of collectivities.“ (Parsons 2006: 39) Die ‚Interaktivität der spezifischen Rollen‘ ist bis heute eine zutreffende Beschreibung in den Handlungsschemata von Kollektiven geblieben und bildet Chance und Dilemma zugleich. Entgeht man dadurch einerseits einer statischen Anordnung und verharrt im Zuge der Aktivität und Emergenz eben nicht in einer einmaligen Zu- und Festschreibung, können sich andererseits plurale Abhängigkeiten, Ansprüche, Vorlieben oder Anforderungen entwickeln, die zu konfliktären Situationen innerhalb des Kollektivs führen können. Parsons verdeutlicht: „For some classes of participants the significance of collectivity membership may be predominantly its usefulness in an instrumental context to their ‚private‘ goals. But such an orientation cannot be constitutive of the collectivity itself, and so far as it predominates, tends to disrupt the solidarity of the collectivity.“ (Parsons 2006: 41)
Er weist darauf hin, dass die kollektiven keinesfalls den individuellen Vorhaben entgegenzusetzen seien, aber: „[W]ithout the attachment to the constitutive common values the collectivity tends to dissolve.“ (Parsons 2006: 41) Gemeinsame Werte sind demnach bindend, um die Einflussnahme des subjektiven Inputs im Umkehrschluss möglich zu machen oder besser: auszuhalten. Dieses permanente Austarieren scheint meines Erachtens das sprichwörtliche ‚Zünglein an der Waage‘ für die Stabilität eines Kollektivs. Es zeigt sich, dass die sozialwissenschaftliche Definition des Kollektivs dieses ursprünglich zumeist in gesellschaftspolitischer und hierarchisierter Hinsicht dachte. Messelken argumentiert, dass eingedenk dessen eine totale Unterordnung von Individuum und übergeordnetem Kollektiv innerhalb der „modernen Gesellschaft, die als eine reich strukturierte jedes Individuum auch in eine Fülle wechselnder Kollektivitäten hineinstellt“ (Messelken 2002: 278), nunmehr überholt sei.12 Dieser 12 Auch Blake Stimson und Gregory Sholette stellen fest, dass insbesondere die Globalisierung kapitalistischer Strukturen, der Neoliberalismus, aber auch die Anschläge des 11.
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Gedanke korrespondiert mit den fragmentierten Identitäten und verweist auf die Notwendigkeit des Aushandelns von ambivalenten Ansprüchen seitens Individuum und Kollektiv, sowie beiden untereinander. Lorenz Engell und Bernhard Siegert geben zu bedenken, dass sich das Kollektiv nicht in Richtung Einzelnem oder Ganzem auflösen könne und auch nicht durch deren Relation bestimmt werde. Auf Grund der Streuung und fehlenden Festlegbarkeit erweise sich das Kollektiv als in jeder Hinsicht prozessual und praktizierbar. Zu beschreiben sei es deshalb auf „deskriptiv[e]“ (Engell/Siegert 2012: 6) Weise (vgl. Engell; Siegert 2012: 5 f./Messelken 2002: 278/Parsons 2006: 39 ff.). Es zeigt sich, dass eine eindeutige Kollektivdefinition insbesondere im künstlerischen Bereich nicht mehr vorzufinden ist. Kollektive sind heute anzusiedeln zwischen „loose associations of like-minded individuals working toward a common goal, to rigid, cadre-like, single-minded organizations with a vanguardist, democratic centralism at their heart.“ (Drew 2007: 99) Wir finden diese kontrastierende Sicht Drews in der Beschäftigung mit den künstlerischen Kollektiven der historischen Avantgarde und der zeitgenössischen Performance wieder. Der Umgang mit der Selbstdefinition, der eigenen Ausrichtung und deren Realisierung bleibt dabei das Maß für eine Dauerhaftigkeit jeder künstlerischen Gemeinschaft. Die tragenden Begriffe dieses Kapitels 13, Kollektiv und Gemeinschaft, sind deshalb im Grunde nicht auseinander zu denken, sondern vielmehr im Sinne von Verschiebungen zu verstehen, die sich insbesondere durch die Fokussierung der wissenschaftlichen Betrachtungsweise ergeben. Aus dieser heraus erfolgt die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Begriff. Im Folgenden wird es zuvorderst um das Verhältnis von Individuum und Kollektiv und/oder Gemeinschaft, genauer: um das Verhältnis von Künstler und Künstler-Kollektiv gehen. Dafür ist zu Beginn ein historischer Überblick über künstlerische Kollektive notwendig.
September 2001 zu einer „radical transformation“ der Idee des Kollektivismus geführt hätten. Die Transformation habe gleichwohl den Fokus des Kollektivgedankens der Moderne nicht aus den Augen verloren, nämlich das soziale Leben in den Mittelpunkt des (künstlerischen) Schaffens zu stellen (vgl. Stimson/Sholette 2007: 11 ff.). 13 Zur Frage danach, ob es sich beim Kollektiv um einen Begriff handelt, siehe Engell/ Siegert 2012: 5 f. Danach sei „jedes kollektive Zusammenspiel seinerseits partikular“ (Engell/Siegert 2012: 6) und entziehe sich zwar der Zusammenfassung unter einen Begriff; ohne „Begriffsarbeit“ (Engell/Siegert 2012: 6) sei das Kollektiv dennoch nicht zu bestimmen (vgl. Engell/Siegert 2012: 6).
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Das Kollektiv in der Kunst Betrachten wir dafür im Sinne einer stichwortartigen Darstellung die „zweihundertjährige[...] Geschichte“ (Nollert 2005: 21) des Künstlerkollektivs14, so lässt sich mit den Nazarenern in Rom beginnen.15 Nollert macht als Voraussetzung für das Entstehen erster Kollektive die Lossagung der singulär arbeitenden Künstler von den Zünften aus. Gleichwohl orientierten sich insbesondere die Nazarener weiterhin an dem mittelalterlichen Zunftprinzip, indem sie deren gemeinschaftliche Produktionsweise übernahmen und weiterentwickelten. Man verstand darunter eine gruppenspezifische Arbeitsweise, die einer individuellen Förderung ebenso wie normierten Produktionsvorgaben den Rücken kehrte. So wurde es möglich, unabhängigere Arbeitsformen außerhalb hierarchisch organisierter Gemeinschaften zu entwickeln, wie sie in den Zünften bereits existierten. Die Zusammenschlüsse der Nazarener zu Beginn und der Präraffaeliten in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden demgemäß aus einer Dynamik, die im Folgenden den Entschluss vieler Künstlergruppen prägen sollte, nämlich gemeinschaftlich politische Dispositionen zu entwickeln und verankern. Die Kritik galt damals insbesondere der Akademiemalerei, die es zu überwinden galt. Beide Gruppen strebten dabei die Reformierung der Kunst aus einem religiösen Verständnis heraus an, welcher zudem eine bessere Ausbildung zu Grunde gelegt werden sollte. Ein gemeinsames Signatur-Symbol auf den Arbeiten und das Tragen ähnlicher Trachten und Frisuren, welches die Präraffaeliten derart allerdings nicht taten, führten zu einer auch nach außen hin sichtbaren Zusammengehörigkeit. Dennoch wurden die Arbeiten bei beiden Kollektiven, bis 14 Immer noch ist die Literaturlage zu Kunstkollektiven, die deren gemeinsame Arbeit auf ästhetischer, sozialer und künstlerischer Ebene diskutiert, relativ schwach. Vgl. hierzu Nollert 2005: 21 und Zimmer 2002: 15-25. Ausführlicher, auch hinsichtlich der Beschreibung gruppendynamischer Arbeitsprozesse der einzelnen Gruppen seit den Avantgarden, äußert sich Hans Peter Thurn in seinem Aufsatz von 1991: 100-129. 15 Erwähnung finden sollte zudem die Überlegung Hanns-Josef Ortheils, der bereits in der Renaissance erste Künstlerkollektive ausmacht: „Raffael und Bramante, Leonardo da Vinci und Michelangelo sind […] nur die heute prominentesten Teilnehmer an einer kollektiven Groß-Projekt-Arbeit, die in gemeinsamer Planung von Architekten, Bildhauern, Malern und Zeichnern im Auftrag der Päpste durchgeführt wurde.“ (Ortheil 2008: 206) Ortheil verweist gleichzeitig darauf, dass eine „[e]ngere Gemeinschafts-Konstruktion […]“ (Ortheil 2008: 217) erst mit den Nazarenern emblematisch wurde. Hinsichtlich der Kollektive in der Renaissance würde ich deshalb eher von Vereinigung denn Kollektiv sprechen, da die Zusammenarbeit weniger auf Grund eines gemeinschaftlichen Wunsches nach Zusammenarbeit entstand, als vielmehr durch die oder den gemeinsamen Auftraggeber (vgl. Ortheil 2008: 206 ff.).
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auf eine Reihe von Portraits, nicht im gemeinschaftlichen Prozess ausgeführt, sondern zumeist individuell. Das heißt, es gab gemeinschaftliche Aufträge, deren Konzeption zusammen diskutiert, in Sektionen unterteilt und von den jeweiligen Mitgliedern dann individuell ausgeführt wurde (vgl. Ortheil 2008: 216 ff./Wimmer 1991: 79 f.). In chronologischer Hinsicht folgte den Nazarenern um 1889 die Künstlerkolonie Worpswede in der besonders die künstlerische Arbeit mit und durch die Natur propagiert wurde. Der Status einer Kolonie wurde durch gemeinsame Wohn- und Arbeitsstrukturen gewonnen und verlagerte sich recht schnell auf andere Orte in Frankreich und Deutschland. Die Kolonien blieben dabei keineswegs isoliert, sondern bildeten ein „interlokales Netz“ (Thurn 1991: 104) untereinander. Kunst und Leben flossen dabei in Einklang mit der Natur ineinander und wirkten sich nicht nur auf die ästhetischen, sondern auch die sozialen Arbeits- und Lebensbedingungen aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgten dann Brücke und Blauer Reiter, obschon letztere Gruppierung gemeinhin als „lose Vereinigung von befreundeten Künstlern“ (Belgin 1996: 23) und im Rückblick weniger als kollektiv arbeitendes Ensemble verstanden wird, das besonders durch Wassily Kandinsky und Franz Marcs Redaktionstätigkeit und die gemeinsame Herausgabe des Almanach 16 geprägt wurde. 1909 wurde die Neue Künstlervereinigung München gegründet aus der dann später der Blaue Reiter hervorging. Das Gemeinsame wurde unter den Künstlern des Blauen Reiter weniger in der Malerei, in den künstlerischen Prozessen oder den sozialen Lebensumständen sichtbar, als vielmehr im Zuge von Gruppenausstellungen, für die man sich zusammenschloss. Für eine fehlende Gruppenstruktur sprechen neben der Auswahl unterschiedlichster Motive oder stilistischer Merkmale insbesondere der reduzierte Austausch und Kontakt untereinander. Auch die jeweils eigene Sicht auf die „Freisetzung des Geistes“ (Jähner 1984: 80) und die damit einhergehenden Entwicklungen von Alternativen zur Realität, die sich auf die expressionistischen Malerei auswirkten, gerieten konträr. 17 Die Brücke dahingegen lässt sich als Gruppe einordnen. Horst Jähner spricht davon, dass es ein Künstlerkollektiv wie die Brücke „[i]n diesem Ausmaß und mit dieser Konsequenz“ (Jähner 1984: 6) vorher so kaum gegeben hat. Vereint zeigten sie sich in der Konzeption von Gruppenausstellungen, der Verfolgung gleicher künstlerischer Ziele – wie beispielsweise der Minimierung von Distanz zwischen Künstler, Kunstwerk und Volk –, aber auch der Ausweitung ihrer künstlerischen Mittel und Materialien. Gemeinsam hegten sie den Wunsch nach einer neuen 16 Vgl. Originaldokumente zur Entstehung des Almanach in Hüneke 1991: 77-162. 17 Zu den unterschiedlichen theoretischen Überlegungen der Künstler des Blauen Reiter sowie Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst, siehe Hüneke 1991: 321-394.
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Formsprache und Arbeitsweise, die sich gegen die an den wilhelminischen Hochschulen gelehrten Vorgaben stellte und münden sollte in einer antibürgerlichen Lebens- und Arbeitsweise. Diese war geprägt von einem engen Naturbezug und einer damit einhergehenden „sinnlich-erotische[n]“ (Belgin 1996: 13 f.) Sicht auf Werk und Gruppe, um die existenten Tabus und Dogmen hinter sich zu lassen (vgl. Belgin 1996: 13 ff./Jähner 1984: 6 ff./Thurn 1991: 104). Mit den Futuristen, den Kubisten, Fauves18, Surrealisten oder Dadaisten, sowie den Künstlern des Informel, des Abstrakten Expressionismus, des Bauhaus oder De Stijl nahm die Gruppenbildung mit Beginn des 20. Jahrhunderts immer vielfältigere und gesellschaftspolitischere Formen an. Vielschichtiger wurden dabei auch die künstlerischen Produktionsprozesse und Werke, die die Kollektive ihrerseits hervorbrachten. Maler, Performer, Musiker oder Literaten tauschten ihre individuellen Herangehensweisen nicht nur untereinander aus, auch in theoretischer Hinsicht entwickelten sie Positionen, die über ihr ästhetisches Tun hinausgingen und Einfluss auf soziale Rahmenbedingungen nahmen. Dabei beeinflussten die Gruppen sich auch untereinander, denkt man an die Futuristen und Kubisten, deren Wirkweisen die Expressionisten aufgriffen, oder der Einfluss der Surrealisten auf die Abstrakten Expressionisten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die internationale Vernetzung verstärkt an Bedeutung, zumal eine gemeinsame Zusammenarbeit erst nach den kriegerischen Auseinandersetzungen grenzüberschreitend möglich werden konnte. Der Krieg und die Greuel der Nationalsozialisten hatte Spuren hinterlassen, die sich vor allem in der künstlerischen Bezugnahme zum eigenen Körper äußerten. Der körperliche Ausdruck im und die Auseinandersetzung mit dem Material gerieten in den Blick, vielfach gekoppelt an Aspekte der Versehrtheit und Unversehrtheit, des Leidens und der Lust. Ab den 1960er Jahren wurden diese mit konkreten politischen Aussagen verknüpft. COBRA, SPUR, Wiener Aktionisten, Situationisten oder die Fluxus- und Happeningbewegungen stehen für diese Entwicklung. Es folgten weitere Jahrzehnte der Zusammenkunft politisch aktiver Künstler. In den 1970er, 80er und 90er Jahren setzten sich Performancekollektive wie die Guerilla Girls, WeibsBilder, King Kong Kunstkabinett, Black Market International, Women’s Action Coalition, BüroBert oder Kollektive Aktionen mit feministischen und gendertheoretischen, soziokulturellen und zunehmend auch mit inter- und transkulturellen Fragestellungen auseinander (vgl. Belgin 1996: 10 ff./Jähner 1984: 73 ff./Nollert 2005: 21 ff./Thurn 1991: 100 ff./Wimmer 1991: 78 ff./Zimmer 2002: 30 ff.).
18 Zum Verhältnis von Fauves und Brücke, siehe Jähner 1984: 43 ff.
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Zum Verhältnis von Künstler und Kollektiv „Alle Kunstpraxis ist, mehr oder weniger, sozial und kollaborativ. Dies zu leugnen entspricht weitgehend einer vom Markt gesteuerten Mystifizierung. Während das paradigmatische Kunstwerk heute generisch und duchampiesk ist, bleibt der Künstler ein romantisches Konstrukt.“ (ART & LANGUAGE 2005: 71)
Die künstlerischen Entwicklungen der letzten 200 Jahre zeigen eine Erosion der Monopolstellung des Einzelkünstlers, doch auch wenn das Performancekollektiv Art & Language in seinem Zitat auf den Widersinn des einzeln vor sich hin arbeitenden Künstlers aufmerksam macht, kann aus kunsthistorischer Sicht von einer tatsächlichen Auflösung des Künstlersubjekts bis heute nicht gesprochen werden. Was sich jedoch seit den 1990er Jahren zeigt ist eine immer stärker auftretende Abkehr einer isolierten singulären Arbeitsweise, die durch einen „Spielraum an Differenzen“ befeuert wurde.19 Es sind seither „heterogene Teams mit mobilen Hierarchien“ (Ruhsam 2011: 163) entstanden, die den Künstlern das Handeln in einem Kollektiv erleichtern und gleichzeitig zeigen, dass ein zurückgezogen arbeitender Künstler spätestens im Zuge der Vermarktung seiner Kunst auf kollektive Strukturen angewiesen ist. Dieser ‚Spielraum an Differenzen‘ ist nun zu betrachten, da er für das Verhältnis von Künstler und Künstlerkollektiv eine essentielle Rolle spielt. Der Blick auf die bereits Ende der 1960er Jahre aufgekommene Infragestellung des Künstler- und Choreographensubjekts war, ist und bleibt dahingehend unerlässlich. Neben Autoren wie Jacques Derrida, Julia Kristeva und Louis Althusser lösten Roland Barthes mit seinem Aufsatz zum Tod des Autors (1968) und Michel Foucault in seinem Vortrag Was ist ein Autor? (1969) eine weitreichende Debatte zum Verhältnis von Werk und Autor aus. Barthes entwickelte dabei die Überlegung, den Sinn eines literarischen Textes nicht mehr über die (vielfach biographische) Rückführung auf den Autor herzuleiten, sondern die Sinnproduktion vor allem dem Leser zuzuschreiben. Barthes argumentiert, dass ein hermeneutischer Zugriff auf den Text über Autordetails bereits in dem Moment nicht mehr möglich werde, in dem die Schrift, die écriture, auftaucht. Am Beispiel von Stéphane Mallarmé zeigt er auf, dass die Sprache performt, nicht der Autor. Die Handlung wird somit durch den Akt der Versprachlichung selbst und die Rezeption durch den Leser initialisiert. Barthes führt neben 19 Christine Biehler verweist dabei explizit auf die „erneute Hinnwendung zu partizipatorischen Werkformen in der Bildenden Kunst“ (Biehler 2008: 85).
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Mallarmé die Surrealisten mit ihrer écriture automatique an und stellt deren „ Prinzip und […] Erfahrung des kollektiven Schreibens“ als Beitrag für eine „[E]ntsakralisier[ung]“ (Barthes 2009: 188) des Autors dar, da dieser dadurch entschwinde und durch den „Schreiber“ ersetzt werde. Was er tue, sei deshalb als „[p]erformativ“ (Barthes 2009: 189) zu bezeichnen, da die produzierte Äußerung nicht mehr auf einen Inhalt zurückgeführt werde, sondern der einzige Inhalt der hervorgebrachte Akt selbst sei. In ihrer Einleitung zu Barthes’ Aufsatz kritisieren die Herausgeber des entsprechenden Bandes die Bezugnahme zum Performativ im Sinne Austins als „irreführend“ (Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 2009: 182), da für eine performative Äußerung die „originale Äußerungssituation und […] die Autorität des Sprechers“ (Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 2009: 183) maßgeblich sei. Mir hingegen scheint die Argumentation Barthes’ weniger irreführend als konsequent, da Barthes ganz generell keine Originalität mehr auszumachen vermag, welche nunmehr durch eine permanente Zitation und Rezitation ersetzt werde. Wenn der Handlungsvollzug des Schreibens im Sinne Barthes’ als Zusammenstellung vielfältigster Subtexte oder „Schriften“ gedacht wird und erst durch den Leser zur Vollendung kommt, dann handelt der schreibende „Jemand“ (Barthes 2009: 192) ebenso wie der Leser tatsächlich im Sinne eines performativen Aktes, in welchem das Tun im Sinne von Barthes’ „[E]ntwirr[en]“ (Barthes 2009: 191) vollzogen wird und somit als Akt im Hier und Jetzt im Vordergrund steht (vgl. Barthes 2009: 187 ff.). Foucault greift in seinem Vortrag die Überlegungen Barthes’ ohne namentliche Erwähnung auf, spricht sich jedoch gegen das tatsächliche Verschwinden und den ‚Tod des Autors‘ aus, sondern hält dessen Einflussnahme weiterhin für gegeben. Foucault schärft vielmehr den Blick auf die Diskurse, die ein Werk begleiten und die den Autor im Sinne seiner Funktion verändern. Durch die über den Text hinausgehenden Diskurse könne der Sinn eines Textes nicht mehr nur noch auf den Autor als einzigem Sinngeber zurückgeführt werden. Historische und soziale Kontexte in denen die Lektüre vorgenommen werde und aus denen heraus etwaige Diskurse entstehen wirken auf den Text ein. Autorschaft gerät im Sinne Foucaults insoweit relativ, als „die Individualität des Autors“ (Foucault 2001: 1010) genauso fraglich wird wie das als Einheit begriffene Werk selbst. Foucault betont jedoch die Art des produzierten Textes, wenn er verdeutlicht, dass die eigentlichen Autoren von „unbegrenzte[n] Diskursmöglichkeit[en]“, die sogenannten „Diskursivitätsbegründer“ (Foucault 2001: 1022), von Romanautoren zu unterscheiden seien. Erstere nämlich haben „nicht einfach eine Reihe von Analogien ermöglicht […], sondern ebenso eine Reihe von Unterschieden. Sie haben den Raum für etwas anderes als sich selbst geöffnet, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben.“ (Foucault 2001: 1023) Wenn also der Autor zum Anstoßenden für einen Diskurs wird, den er zur weiteren ‚Bearbeitung‘ freigibt, dann öffnen sich dadurch „Quelle[n] von Bedeutungen“ (Foucault 2001: 1030) für das Werk, die der Autor von sich aus nicht hätte herstellen können. Foucault fordert deshalb den Blick auf den „durch das Ver-
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schwinden des Autors leer gelassenen Raum zu richten, der Verteilung der Lücken und Bruchstellen nachzugehen und die […] freigewordenen Stellen und Funktionen auszuloten.“ (Foucault 2001: 1012) Im Anschluss an diese Überlegungen bleibt festzuhalten, dass sich die ‚Autoren‘ im Zuge der Diskurse multiplizieren lassen und dadurch nicht nur der Autor oder Künstler, sondern auch das produzierte Werk den Nimbus der geniegebundenen Einzigartigkeit verliert. In den bildenden und darstellenden Künsten führte die autorkritische Debatte zu einer Infragestellung des bis dato zumeist „männliche[n], weiße[n], abendländische[n]“ (Krieger 2007: 162) Künstlers. Susan Leigh Foster verdeutlicht, dass gerade wegen dieser Reduktion auf bestimmte Merkmale eines Künstlers eine Gegenbewegung zum gängigen Kunstproduktions- und Choreographenprinzip erfolgt sei. Mit der Kollaboration von John Cage und Merce Cunningham habe diese prinzipielle Produktionsveränderung in den 1960er Jahren ihren Ursprung genommen: „[T]heir use of chance procedures for sequencing events and the seeming disjunction between dance and music challenged the prevailing conception of the artist as expressing an inner subjectivity.“ (Foster 2011: 61) Die einzelnen Tänzer und ihre ganz eigene Motorik, ihre Ein- und Ausdrücke, Gefühle und Gedanken sollten in die Probenprozesse einfließen und ließen das Konzept jenes genieartigen Einzelkünstlers brüchig werden. Das Genie, so bilanziert Hajo Kurzenberger, welches zwar immer schon auf eine Sonderstellung im Verhältnis zur ‚Masse‘ bestanden habe, jedoch auf deren Beachtung stets angewiesen und darum unmittelbar mit dieser verbunden gewesen sei, habe im 20. Jahrhundert ein letztes sporadisches Aufkommen erfahren. Eingeleitet worden sei die Geniekritik aber bereits vor Foucault oder Barthes durch Friedrich Nietzsches und Walter Benjamins Anmerkungen zum Geniediskurs, den Letzterer vor allem kritisch hinsichtlich einer „faschistische[n] Vereinnahmung und Missbrauch“ (Kurzenberger 2009: 182) in den Blick nahm. Auch die durch die Moderne aufgekommenen Diversifikationen innerhalb der „Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsprozesse“ (Kurzenberger 2006: 54) lösten, verbunden mit der sozialen Eingebundenheit künstlerischen Tuns, die Idee eines autonom agierenden Genies mehr und mehr auf. Das Theater stellt für Kurzenberger die Rahmung dar, in der nicht nur seit der Antike das Postulat einer politischen Auseinandersetzung erhoben wurde, sondern die Rezeption immer schon in einer kollektiven Zusammen-Setzung erfolgen sollte. Erweitert auf die gesamte darstellende Kunst hat die mittlerweile nicht mehr auszuschließende Forderung nach Mitbestimmung seitens der Schauspieler, Performer und Tänzer am Produktionsprozess zu einer Ausweitung kollektiver Zusammenarbeit geführt (vgl. Foster 2011: 65/Foucault 2001: 1009; 1012; 1021 ff./ Kurzenberger 2006: 53 f.). Cage und Cunningham stehen als eine der ersten Choreographen für die Implementierung dieser Dehierarchisierung, indem sie das Fragmentarische und die daran anknüpfende Potenzierung der (performten) Fragmente während der gemeinsamen Arbeit zusammenführten. Diese Arbeitsweise verstärkte sich durch die Tatsache,
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dass Performer viel eher in Projekten als in Kompanien oder Ensembles arbeiteten. „Rather than focus on elaborating the singular artistic vision of an individual, or on a rigorous methodology for inventing and sequencing movement, these artists embarked on collaborations that were project driven.“ (Foster 2011: 66) Für Tanzchoreographen folgte daraus, sich von subjektiven und technischen Vorgaben an die Tänzer zu lösen und zu Befragungen der Tänzer überzugehen. Aber auch die Hinwendung zu interdisziplinären Projekten und zur genreübergreifenden Arbeit, wie Cunningham, Cage und Rauschenberg sie forcierten, setzte sich spätestens seit den 1970er Jahren durch. Dabei wurde auch die künstlerische Selbstbefragung zum Thema, vor allem das Verhältnis zwischen Kunst, Werk, Kunstinstitutionen und Gesellschaft, das durch die Auflösung eines vermeintlichen Autors ihre Relationen neu überdenken musste (vgl. Foster 2011: 66 ff./von Bismarck 2006: 280). Für den Status des vormals autarken Choreographen weist dieser Prozess auf eine diversifizierende Vorgehensweise hin, in der einer Offenheit und auch Freiheit der Mitwirkenden Rechnung getragen wird und umgekehrt interkulturelle und intersubjektive Einblicke nicht mehr ausgeschlossen werden können. Eine alleinige Aneignung der Welt durch ein Künstlersubjekt war und ist kaum mehr möglich. Gleichwohl sind die Konfliktanfälligkeit, etwaige Egoismen oder Konkurrenzverhältnisse dadurch keineswegs ausgehebelt worden. Vielmehr ist die Produktivität immer auch an Formen der Durchsetzung gebunden, die völlig egalitäre Verhältnisse gewissermaßen ausschließen. Kurzenberger verdeutlicht am Beispiel der Berliner Schaubühne, dass Gremien wie das Direktorium, die auf den ersten Blick die Entscheidungsbefugnisse alleinig innehaben, immer wieder mit Schauspielern und Regie über formale und ästhetische Entscheidungen diskutieren und erst nach diesen Diskussionen zu einem tatsächlichen Beschluss kommen können. Hier offenbart sich eine strukturelle Hierarchie, die durch kooperative Kommunikationsmaßnahmen überdies nicht hermetisch funktionieren soll. Es zeigt sich, dass innerhalb eines kommerziellen Kunstkreislaufs die ‚Ware‘ Kunst bestimmter Entscheidungen bedarf, daraus resultierende Konflikte und Spannungen aber auch produktiv genutzt werden können (vgl. Krieger 2007: 162/Kurzenberger 2006: 57 f.). Wo aber lässt sich der Künstler nach seiner poststrukturalistischen Infragestellung nun im 21. Jahrhundert de facto ansiedeln und welchen Stellenwert besitzt er heute noch? Krieger hält fest, dass der Künstler „als […] herausragende[s], schöpferische[s] Individuum nicht aus der Welt zu schaffen“ sei. Dennoch stehe er heute nicht mehr nur für den Schöpfer, sondern auch für den „Philosoph[en], […] Lehrer, Handwerker und Ingenieur, Impresario des Zufalls, Regisseur und Organisator“ (Krieger 2007: 171). Wolf-Dieter Ernst würde dieser Aufzählung noch den Ideengeber hinzufügen, da das Werk als Ausweis des Künstlertums mit Hilfe Duchamps abgesetzt worden sei. Durch das Fehlen von unmittelbaren und materiellen Zugehörigkeiten, bewegt sich „die Künstlerrolle zwischen Auflösung und Verfestigung“ (Krieger
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2007: 174), die insbesondere durch die Hinzunahme des Zufalls keiner Statik mehr anheimfallen könne. Dabei bleibe diese Rolle jedoch stabil und weiterhin für den Kunstmarkt unerlässlich. Hierzu zählt auch, dass viele Künstler Aufgaben des Marktes selbst übernehmen. Ob kuratorische, kunstkritische oder wissenschaftliche Tätigkeiten – der Künstler ist ebenso wenig nur noch auf eine Rolle zu reduzieren wie die Genres, die sie oder er bedient. Von Videoinstallationen über Filmkunst, bildende und darstellende Kunst, musischen Happenings bis zu Performances vermengen zahlreiche Künstler all diese Sparten und lassen sich nicht mehr einer Kunstform zuschreiben. Der Künstler sei „nicht totzukriegen“ (Krieger 2007: 178). Mir scheint dies eine wichtige Erkenntnis, um von hier aus auf das künstlerische Kollektiv zu blicken, denn: Kunst lässt sich im Sinne Ernsts nie alleine hervorbringen. Gleichwohl verweist Florian Vaßen auf die Unterscheidung zwischen „öffentlichen“ und „intimen“ Kunstformen. „Um so öffentlicher die jeweilige Kunst ist, etwa Architektur, Theater, Film, Internet, um so stärker neigt sie auch zu kollektiven Arbeitsweisen, und je intimer sie ist, wie z.B. Literatur, desto individueller wird sie auch produziert und rezipiert.“ (Vaßen 2013: 128) Performativen Kunstformen ist gewissermaßen ein Anteil an Kollektivität implizit, da ihr ‚auf- oder ausführen‘ immer für jemanden stattfindet (vgl. Ernst 2006: 37 ff./Krieger 2007: 171 ff./Reckwitz 2010: 111/Vaßen 2013: 128). Die Bedingungen für die Künstler haben sich wie bereits festgestellt in wirtschaftlicher und gesellschaftsstruktureller, hier vor allem globaler und medialer Hinsicht, in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Hinzu kommt, dass für die oben genannte Genreüberschneidung spartenübergreifende Kooperationen entwickelt wurden, die Künstler an unterschiedlichen Orten und Institutionen zusammenführen. Auch das Prinzip der Laborarbeit vereint Künstler nicht nur im Zuge von Workshops, sondern darüber hinaus auch in gemeinsamen Projekten. Diese Projekte wiederum nutzen Ressourcen von Netzwerken, über die sich Künstler miteinander verständigen können, die sie vielmehr selbst bilden. Veränderte Bedingungen, veränderte Begriffe All diese Modelle des gemeinschaftlichen Arbeitens stehen trotz ihrer insbesondere finanziellen Nachteile auch für einen freiheitlicheren und unbegrenzteren Arbeitsprozess. In diesem Zusammenhang sind neue Begriffe wie die der Multitude, Komplizenschaft oder Kollaboration entstanden, die unter anderem Martina Ruhsam expliziert und die in diesem Unterkapitel einer Betrachtung unterzogen werden sollen. Die Multitude wird bestimmt dadurch, dass sie „auf Selbstorganisation und Selbstbestimmung angewiesen [ist], während sie zugleich unaufhörlich der Erfahrung einer gewissen Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit der Ereignisse ausgesetzt“ (Ruhsam 2011: 164) sei. Das Prekariat werde zum ständigen Begleiter, welcher
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Angst auslösen könne weil Sicherheiten verloren gehen und „staatliche Absicherungen“ im postfordistischen Zeitalter fehlen. Da die darin entstehenden Arbeitsverhältnisse flexibler und „immaterieller“ geworden seien, werde „der Intellekt als das Gemeinsame und Sichtbare […] zum Hauptinstrument der Multitude, die nicht mehr an Souveränität glaubt.“ (Ruhsam 2011: 165) Was sich also im Übergang von fordistischer zu postfordistischer Arbeitsweise ändere, sei die Relevanz von Intellekt, Kommunikation, Sprache und Kognition. Den Multitude-Begriff20 geprägt haben vornehmlich Michael Hardt und Antonio Negri, die die Multitude dem Volk als in sich einheitlichen Terminus entgegenstellen: „Die Multitude hingegen sind viele. Die Menge weist in sich unzählige Unterschiede auf, die niemals auf eine Einheit oder eine einzige Identität zurückzuführen sind.“ Es seien „singuläre Differenzen“ (Hardt/Negri 2004: 10), die die Multitude ausmachen und die wiederum mit dem Netzwerkcharakter des Internets beschrieben werden könne, „denn erstens bleiben die verschiedenen Knoten ungeachtet ihrer Verbindungen im Netz in ihrer Differenz bestehen und zweitens sind die Ränder des Netzwerks offen, so dass jederzeit neue Knoten und neue Beziehungen hinzukommen können.“ Hardt und Negri erkennen das Gemeinsame als ein durch die Differenz Entstandenes. Sie gehen von produzierter Gemeinsamkeit aus, die nicht einfach schon da sei. Dadurch werde eine „Produktion des Gemeinsamen“ für „jede[...] Form von gesellschaftlicher Produktion“ (Hardt/Negri 2004: 11) maßgeblich (vgl. Hardt, Negri 2004: 10 ff./Ruhsam 2011: 164 ff.). Die Komplizenschaft, so Ruhsam in Anlehnung an Gesa Ziemer, inkludiert dahingegen „Verbündete, die gemeinsam und eng miteinander verflochten agieren“, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Dabei erwirken sie den Eindruck eines „Einzelgänger[s], […] handeln […] [jedoch] nie allein“. Vielmehr wechseln sie in ihren Rollenzuschreibungen und agieren äußerst flexibel und non-hierarchisch. Durch die „kriminalistische[...] Konnotation“ besitze der Begriff einen negativen Impetus, der Gedanken an eine verbrecherische Tat aufkommen lasse. Die „positive Kreativität“ (Ruhsam 2011: 169), so Ruhsam nach Ziemer, wird allerdings außer Acht gelassen. Gerade die Ergänzung der „komplementären Kompetenzen“ (Ruhsam 2011: 172) führe zu einer Effizienz für das Erreichen des gemeinsamen Ziels. Für eine dauerhafte und nachhaltige Zusammenarbeit sei die Komplizenschaft nicht sinnvoll, da ihre Zielsetzung eine kurzfristige sowie zielorientierte darstelle und der Prozess kaum eine Rolle spiele. Dieser wiederum ist für den Kollaborationsbegriff nach Florian Schneider zentral. Im Gegensatz zur Komplizenschaft liegt die Konzentration bei der Kollaboration laut Schneider auf dem „künstlerischen Prozess“ und nicht auf dem „Produkt“, das „Nebensache“ bleibe. Vergleicht man die Kolla20 Vgl. hierzu Hardt/Negri 2004: 115 ff. Die Autoren widmen sich darin auch der feministischen Theorie Judith Butlers und der körperbezogenen Performativität: 224-227.
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boration mit der Kooperation 21 , so bestehe letztere auf „eindeutig identifizierbare[...] Subjekte“, während die Kollaboration aus „schwer kategorisierbaren und identifizierbaren Involvierten entwickelt [wird].“ (Ruhsam 2011: 177) Der hohe Komplexitätsgrad und eine fehlende Klarheit machen für Schneider den Reiz der Kollaboration aus. Da durch die Betonung von Kommunikation in einem globaleren Rahmen Arbeitsweisen öffentlicher würden, sei die Kollaboration, das Miteinander, wichtig. Für die Kunst bedeute dies, dass „der Fokus vom Werk auf den kollaborativen Prozess und die zunehmende Bedeutung von sprachlich-kognitiven Fähigkeiten bzw. konzeptuellen Kompetenzen“ gerichtet werde. Dabei komme es zu deren „Demokratisierung“ (Ruhsam 2011: 167), die beispielsweise bei all den Kollektiven beobachtet werden könne, die Laien in ihren Performances einsetzen. Ruhsam geht in diesem Zusammenhang allerdings nicht auf den ebenso relevanten Aspekt der negativen Konnotation von Kollaboration ein. Gerade im parteipolitischen Bereich trägt diese ein wenig positives Erbe. Im Vergleich zur Komplizenschaft scheint mir auch hier das Zusammenspiel zwischen Produktivität und Illegalität möglich. Gleichwohl wird der Begriff der Kollaboration vielfach gebraucht, wenn von gemeinschaftlichem Arbeiten in der Kunst die Rede ist. Peter Weibel stellt die Kollaboration dahingegen in Frage. Seine Kritik betrifft die Werklosigkeit und den Übergang zur Akzentuierung des kollaborativen Produzierens, durch die das Produkt in den Hintergrund rücke. Weibel plädiert dahingegen für in der Gemeinschaft entstandene Werke, damit es weiterhin zu einer menschlichen und nicht maschinellen Kommunikation kommen könne. Dass diese Werke dann in einer netzbasierten Gesellschaft von „vernetzten Egoisten“ (Weibel 2006: 60) aufrechterhalten würden, nimmt er insoweit in Kauf, als dass das Zuwiderlaufen von Vereinzelung durch das Netz und vermeintlich gemeinschaftlichem Handeln in einer Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten sei. Weibel ist darin zuzustimmen, dass das Beibehalten des Produktes relevant ist, auch, um Diskussionsgrundlagen für die nachfolgenden Generationen bereitzuhalten. Ein Ende der Kommunikation erkenne ich im Zuge der Fokussierung auf den Prozess dennoch nicht. Im Gegenteil. Wird dieser Prozess in bildlichem, mündlichem oder Schriftmaterial festgehalten, scheint mir das Werk lediglich eine hin21 Mit der Kooperation in der Kunst setzt sich Dieter Hoffmann-Axthelm auseinander. Für ihn bedeutet diese, „die künstlerische Arbeit als Miteinander unterschiedlicher einzelner zu organisieren.“ Der Unterschied zur vormaligen Künstlergruppe liege aber darin, dass die bis dato existente „Arbeitseinheit“ aufgebrochen und „auf unterschiedliche Individuen, die sich voneinander abstoßen, einander ergänzen, vor allem aber den Arbeitsprozeß in Gang halten“ (Hoffmann-Axthelm 1991: 155), verteilt werde. Kooperation wird von Hoffmann-Axthelm insbesondere im Sinne der Arbeitsverteilung gedacht (vgl. Hoffmann-Axthelm 1991: 154 ff.).
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sichtlich Raum und Zeit veränderte Form anzunehmen. Es entzieht sich der Statik und vollzieht sich in einem ephemeren Zustand, der eine Festschreibung nicht zulässt, jedoch eben darum die Kommunikation darüber am Leben erhalten kann. Obschon ich die Kollaboration weniger strikt zurückweisen würde wie Weibel, scheint mir das Kollektiv begrifflich praktikabler und möglicherweise offener einsetzbar, sowie weniger wertend als die Kollaboration. Und das, obschon die durch den Kommunismus hervorgerufene politische Semantik dem Kollektiv-Begriff lange anhaftete und zu negativen Implikationen führte. Laut Angelika Nollert ist dies mitunter so weit gegangen, dass bei der Selbstbezeichnung bevorzugt von künstlerischen Teams oder Gemeinschaften gesprochen wurde, um das Kollektiv begrifflich zu umgehen. Das Künstlerkollektiv, wie es in dieser Arbeit zur Sprache kommt, entzog sich im Laufe der Jahre aber jenem Sog eines vermeintlich sozialen und stattdessen autokratischen Gemeinsinns, welcher machtstrukturell durchwirkt und auch in den historischen Avantgarden offenkundig wurde. Nach einer Übergangsphase steht er heute vielmehr für eine Bündelung und Anerkennung individueller Ideen, deren Potentiale zur Gruppendiskussion gestellt und innerhalb dieser auch verhandelt werden können (vgl. Nollert 2005: 19/Ruhsam 2011: 167 ff./Weibel 2006: 60 f.). Einer genauen Betrachtung bedarf abschließend der Netzwerk-Begriff. Ab 1960 erlebte er eine hohe Aufmerksamkeit, die durch den Management- und Unternehmenskontext entstand. Geriet er danach vielfach wieder in Vergessenheit, erfährt er heute durch die Verlagerung von Kommunikation und Handeln auf digitale und computergestützte Medien neuerliche Resonanz. Die mit den technischen Bedingungen einhergehende „kulturelle Neugier, ein spielerisches Interesse an technischen, natürlichen und sozialen Netzwerkarchitekturen“ (Porombka/Schneider/ Wortmann 2006: 7) habe die Vielfalt der Netzwerke so erweitert, dass es eine allumfassende Formbestimmung dafür nicht mehr gebe. In der Folge müsse immer wieder aufs Neue herausgefunden werden, wie sich der „Zusammenschluss einzelner Elemente“ in ein Verhältnis zum „zusammengeschlossene[n] Einzelstück“ setzen lasse. Dies inkludiere Varianzen und Dynamiken, die nicht bestimmbar oder vorhersehbar seien und den Netzwerken die Möglichkeit geben „mit sich selbst zu spielen“ (Porombka/Schneider/Wortmann 2006: 8). Dass die Verbindung zwischen Arbeit und Netzwerk dabei weiterhin einen zentralen Bezugspunkt ausmache, stellen die Herausgeber des Bandes Netzkulturen. kollektiv.kreativ.performativ um Christopher Balme und Wolf-Dieter Ernst in ihrem Vorwort heraus. Indem die Arbeit, hier halten sich die Autoren an Hardt und Maurizio Lazzarato, zu einer „‚affektiven‘“ geworden sei, könne sie nicht mehr nur als reiner Konsumgüterproduzent angesehen werden. Vielmehr gerieten „immer auch soziale Beziehungen und ästhetische Entwürfe des Selbst“ in den Fokus. Dadurch löse sich eine klare Grenzziehung zwischen Privatleben und Arbeit respektive Öffentlichkeit auf. Für den Künstler bedeute das, dass er das „Monopol auf die Möglichkeit [verliert], Affekt und
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Arbeit zu kombinieren, wenn diese Möglichkeit zur Basis einer allgemeinen Wertschöpfung wird.“ (Bairlein/Balme/von Brincken/Ernst/Wagner 2011: 8) Netzwerkartige Prozesse implizieren zahlreiche Einflussnehmer, es herrsche gar ein „Imperativ der Kooperation“, da das „Teilen zur Arbeit“ (Holert 2010: 135) der Arbeit werde. Die Autoren verdeutlichen, dass „der ästhetische Gegenstand als distribuiertes und heterogenes Gebilde“ (Bairlein/Balme/von Brincken/Ernst/Wagner 2011: 9) auftrete und der gesamte kreative Akt zu einem vorläufigen Verfahren werde, das nicht linear verlaufe (vgl. Bairlein; Balme; von Brincken; Ernst; Wagner 2011: 8 ff./Holert 2010: 129 ff./Porombka; Schneider; Wortmann 2006: 7 ff.). Netzwerke bewegen sich innerhalb dieses veränderten Rahmens. Wolf-Dieter Ernst schreibt den Netzwerken drei unterschiedliche Bedeutungen zu. In ökonomischen und organisatorischen Zusammenhängen bilde das Netzwerk eine unumgängliche Ressource, um „bestimmte Ziele zu erreichen“. Ernst spricht hierbei vom „strategischen Gebrauch personaler Ressourcen“. In der Technik sei das Netzwerk „Teil unserer materiellen Kultur“ und zeichne sich durch „die dezentralisierte und egalitäre Verknüpfung aller Punkte miteinander“ aus. Drittens greift Ernst den Rhizom-Begriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari auf und nennt diesen stellvertretend für die philosophische Konzeption des Netzwerkes, in dem es darum gehe „kulturelle Prozesse in ihrer Komplexität und Rückkopplung zu analysieren.“ (Ernst 2011: 57) Deleuze und Guattari sprechen dezidiert vom Rhizom als „System“, in dem „[j]eder beliebige Punkt […] mit jedem anderen verbunden werden [kann und muß]“ (Deleuze/Guattari 1977: 11). Als Produzent des „Unbewußten“ lasse das Rhizom „neue Aussagen, andere Wünsche“ (Deleuze/Guattari 1977: 29) zu und weite diese in Form von „Dimensionen“ (Deleuze/Guattari 1977: 34) aus. Ernst widmet sich der Netzwerkbedeutung und erkennt darin zentrale Übereinstimmungen zur Performance. Beide teilen sie „das Anliegen einer radikalen Kritik der Präsenz, Intention und Ontologie und setz[en] an dessen Stelle die Idee einer kontinuierlichen Zitation, Wiederholung und Relationalität.“ (Ernst 2011: 58) Darüber hinaus könne beiden Termini keine „Idee“ oder „Anschauung“ (Ernst 2011: 60) zugeordnet werden, da sie nicht verabsolutierend oder fertig und deshalb auch beobachtbar seien. Vielmehr sei eine Analyse dieser Begriffe nur auf performative, auf vollziehende Weise, möglich. Ernst lehnt sich hier an die von Bruno Latour geprägte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) an.22 Latour macht in dieser deutlich, dass Gruppen in permanenter Neu-, Um- und Weiterbildung begriffen sind. Fallen sie der Statik und Ordnung anheim, lösen sie sich auf. So wie die Gruppen per se relativ werden, werden es auch die handelnden Akteure. Latour denkt dabei Dinge und Menschen egalitär und löst die Subjekt22 Latours Ansatz ist für die Theoriebildung des Netzwerks relevant, soll hier jedoch nicht weiter diskutiert werden.
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Objekt-Relation auf, indem er ausgehend von bühnenhaften Aufführungssituationen verdeutlicht, dass es nie nur einen allein handelnden Akteur geben und somit „jedes Ding“ (Latour 2007: 123) Einfluss nehmen und zum Akteur werden könne. Diese Egalität meint Ernst, wenn er Performancekollektive als „‚soziale[...] Netzwerk[e]‘“ versteht, die sich „von unten“ (Ernst 2011: 79) und somit ohne leitenden Vorgesetzten gründen und die gemeinsamen Arbeitsweisen gestalten. Gleiches gilt auch für den Beobachter und den Beobachteten. „Netzwerke sind Koproduktionen“ und damit entstünden sie in der „Zusammenarbeit“ von allen Akteuren. Da „[d]ie einzelnen Verbindungen, aus denen ein Netzwerk geknüpft ist […] als beständige Aktivität verstanden [werden]“, sie „Aktionen“ seien, ergebe sich, dass die dabei Involvierten als „‚Aktand[en]‘“ (Ernst 2011: 63) fungieren. Latour ist in seiner Problematisierung des Akteurs wichtig zu erwähnen, dass dessen Handeln gebunden ist an die anderen Akteure innerhalb des Netzwerks: „Wenn es von einem Akteur heißt, er sei ein Akteur-Netzwerk, unterstreicht dies vor allem, daß er die Hauptquelle der Unbestimmtheit über den Ursprung der Handlung darstellt.“ (Latour 2007: 82) Diese Unbestimmtheit dürfe jedoch keineswegs ausgeräumt werden, vielmehr ergehe sie aus der Tatsache, dass das Handeln immer in Relation stehe zu Anderen und Anderem. Sie wird zur maßgeblichen Voraussetzung und versetzt Akteur, Netzwerk und Handeln dadurch in eine dauerhaft verwobene Schwebe (vgl. Deleuze; Guattari 1977: 11 ff./Ernst 2011: 57 ff.; 76 ff./Latour 2007: 62 ff.; 81 ff.; 122 ff.) Als praktisches Beispiel für ein webzentriertes Performance-Netzwerk 23 ließe sich der Performer-Stammtisch24 nennen. Dabei handelt es sich um eine Gruppe, die eine Homepage von und für Künstler, Wissenschaftler oder interessierte Zuschauer, die sich mit der Performance- und Live-Art-Szene auseinandersetzen, betreibt. Die Seite gilt dem Austausch über künstlerische Positionen, aber auch allgemeinen Fragestellungen. Diese können in regelmäßigen Treffen, einem Blog oder per Mail diskutiert werden. Es geht um eine aktive Kommunikation und die gleichzeitige Vernetzung, um aktuelle Informationen über Performances, Tagungen, neue Strategien oder die Planung von Treffen. Der Performer-Stammtisch weist all das auf, was Ruhsam als „Kombination von Kompetenzen, Wissen und Ressourcen“ beschreibt. Es zeigt sich auch beim Stammtisch eine „multizentrale, rhizomatische“ (Ruhsam 2011: 175) Struktur, die qua virtueller Vernetzung zudem multiple Möglichkeiten der Erweiterung und Entgrenzung besitzt und „selbstproduktiv[...]“ (Wagner 2011: 127) wird. Latours Ansatz geht in theoretischer Hinsicht über die Konzeption des Performer-Stammtischs hinaus. Jedoch: Was genau wann, wie und 23 Einen beispielhaften Überblick über Netzkunst im Allgemeinen geben Josef Bairlein (Bairlein 2011: 81-94), Meike Wagner (Wagner 2011: 121-134) und Gunther Reisinger (Reisinger 2011: 231-239). 24 Siehe: http://www.performerstammtisch.de (Stand: 10.08.2013).
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auf welche Weise von den Akteuren hervorgebracht wird, geschieht in einem emergenten Prozess, der die Latour’sche Unbestimmtheit spiegelt. Arbeiten im Kollektiv Jenes Hervorbringen und damit das performative Tun künstlerischer Kollektive soll nun im Folgenden fokussiert werden. Fassen wir dieses ‚Tun‘ aus den vorangegangenen Unterkapiteln noch einmal zusammen, so offenbart sich in der Zusammenarbeit unterschiedlicher Performancekollektive mit diversen Institutionen ein Wandel, der sich in den vergangenen Jahrzehnten eingestellt hat: Die Ko-Produktionen haben seit den 80er Jahren eklatant zugenommen und stehen somit immer stärker dem Gedanken entgegen, an einem Haus ein ständiges Ensemble zu installieren. Stattdessen entstehen Kombinationen aus Kollektiven und Institutionen, die zu einer Vervielfachung von Produktionsweisen führen und für die Zuschauer den Vorteil haben, in ihrem lokalen Umraum ein vielfältigeres Angebot an performativer Kunst erleben zu können. Für die Kollektive resultiert daraus neben dem changierenden Input und der Arbeit fernab althergebrachter Strukturen und Grenzen gleichwohl eine finanziell prekäre Situation, da sie keine kontinuierlichen Zuschüsse erhalten, sondern individuelle Förderungen oder Honorare beantragen müssen. Die künstlerische Unabhängigkeit geht somit auch mit einer existenziellen Instabilität einher, die immer wieder neu abgewogen werden muss (vgl. Ruhsam 2011: 176 ff.). Beispielhaft ist dafür auf die bereits erwähnten Performer von She She Pop zurückzukommen. Seit 1996 arbeiten die sechs Performerinnen und ein Performer zusammen. Über ihre Arbeit schreiben sie auf ihrer Homepage: „Wir erarbeiten unsere Shows im Kollektiv. Es gibt keine Regisseurin – aber auch keinen Autor und keine Schauspieler. Texte und Konzepte werden gemeinsam entwickelt. Zugleich stellt unser Verständnis von Performance die künstlerische Verantwortung der einzelnen Performerin ins Zentrum. Insofern ist Autorschaft bei uns weniger eine individuelle Leistung, eher die Antwort auf eine Frage: Wer kann diesen Text, diese Handlung jetzt auf der Bühne verantworten. […] Jenseits der einzelnen Show – aber ebenso in den besten Szenen jeder Aufführung – begreifen wir die künstlerische Arbeit im Kollektiv als unsere fatale und großartige Herausforderung.“ (She She Pop o.J. a): o.S.)
Die AbsolventInnen des Gießener Studiengangs für Angewandte Theaterwissenschaften haben sich, wie sie in Gesprächen bestätigen, bewusst gegen ein hierarchisches Konzept der Zusammenarbeit entschieden. Maßgeblich für die Produktivität des Kollektivs sei die individuelle Performance jedes Einzelnen, also auch das Recht darauf, dieses eigene Tun zu verantworten, gleichzeitig aber das in der Gruppe entwickelte Konzept nicht zu unterlaufen. Natürlich liegt darin die eigentliche
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Komplexität. Das Verhältnis von „Indivuum und Gemeinschaft“ bestimme „alle Arbeiten“ von She She Pop und werde deshalb nicht nur innerhalb des Arbeitsprozesses als Verhältnis, sondern auch in thematischer Hinsicht relevant (vgl. She She Pop o.J. a): o.S.). René Block und Angelika Nollert stellen in dem Vorwort ihrer Publikation zu der von ihnen kuratierten Ausstellung Kollektive Kreativität25, ein kollektives Arbeitsinteresse seit den 1990ern fest. Dieses spiegle sich jedoch nicht nur auf Seiten der Künstler wider, sondern habe sich auch auf die Kuratoren übertragen, die sich für gemeinsame Projekte zusammenschlössen. Das Kuratorinnenkollektiv What, How & for Whom hat sich bewusst nicht für eine temporäre Zusammenarbeit zusammengetan, sondern für eine von „Kontinuität und Dauer“ geprägte. Auch wenn der Aspekt der „Selbstzerstörung“ (What, How & for Whom 2005: 10) der gemeinsamen Arbeit inhärent sei, können daraus „konkrete[...] soziale[...] Wandlungen mit Vorstellungen von radikaler Individuation“ entstehen, die „Umgestaltungskräfte“ freiwerden lassen. Keineswegs müssen diese auf den Konfliktfeldern „Autonomie gegenüber dem Kunstbetrieb [und] Kritik des bürgerlichen Konzepts des öffentlichen Raumes“ gründen, denn die „oft vorgetäuschte[...] Nicht-Formalität einer Gruppe“ (What, How & for Whom 2005: 11) lasse sich nicht aufrechterhalten. Jedes noch so non-hierarchische Kollektiv bedürfe struktureller Zugehörigkeiten und lasse sich dadurch für eine „kritische Autonomie“ nutzbar machen, innerhalb derer man die eigene „Selbstrepräsentation“ (What, How & for Whom 2005: 13) als Gruppe befördern könne (vgl. Block; Nollert 2005: 5/What, How & for Whom 2005: 10 ff.). Für die Seite der Künstler bedeutet das, dass die eigene Arbeit nicht mehr durch einen „große[n] gesellschaftspolitische[n] Entwurf“ geprägt ist, sondern durch „gemeinsame, selbst entworfene Praxis.“ (Ruhsam 2011: 194) Der Zusammenhalt funktioniert deshalb immer stärker über die zuvor angesprochenen Netzwerke, Labore, Projekte und erfordert eine ursprüngliche Ziellosigkeit. In flexiblen Gruppierungen soll der Prozess nunmehr Richtungen entwickeln und Pfade aufnehmen, die zu Beginn der Zusammenarbeit möglicherweise noch gar keine Rolle spielten. Wichtig dabei bleibt, dass die Künstler als Singularitäten, die in Erscheinung treten „durch Methoden der Desidentifikation“ (Ruhsam 2011: 196) zu einem Miteinander gelangen, in dem sie sich keinem grundsätzlichen Konsens unterwerfen müssen, sondern die heterogene Zusammensetzung der Gemeinschaft innerhalb einer sich schnell verändernden Informationsgesellschaft produktiv werden lassen können. In dieser wird die kollektive Arbeit geprägt durch ambige Subjekte, die zu einer Multiplizierung des Inputs beitragen können. Im Sinne einer solchen Multiplizierung 25 Die Ausstellung fand vom 1. Mai bis zum 17. Juli 2005 in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel statt.
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des Inputs und der sich dadurch verändernden Performance- und Theaterpraxen macht Hajo Kurzenberger auch bei prominenten Dramatikern wie George Tabori, Peter Stein, Heiner Goebbels und Peter Brook eine Hinwendung zum Performativen aus. Das „Unfertig-Spontane“, die „Präsenz“ und die „allgemeingültige Unmittelbarkeit“ (Kurzenberger 2006: 64) rücken dabei verstärkt in den Vordergrund. Im Rahmen der Probenarbeit werde deshalb über die Darstellung sperriger, auf Irritation hinarbeitender theoretischer Texte von konstruktivistischen Theoretikern vielfach versucht, Diskrepanzen zwischen Text und Spielweisen herzustellen. Die Schauspieler oder Performer entfremden sich somit aufs Erste von ihren eigentlichen Rollen, um über die kollektive Arbeit darauf zurückkommen zu können. Diese kollektive Arbeit sei nicht im Sinne einer von Beginn an gemeinschaftlichen Annäherung gemeint, sondern solle sich im Zuge einer individuellen Hinterfragung entwickeln, um dadurch in einen Diskurs mit den anderen zu treten. Dadurch entstehende Widerstände, Hinweise, Bejahungen oder Projektionen bilden Grundlagen für neue Bewegungs-, Denk- und Handlungsräume. „Spannungsverhältnisse“ (Kurzenberger 2009: 190) müssen in diesem Sinne positiv verstanden werden, weil ein harmonisches Miteinander den Prozess viel eher verlangsamen und möglicherweise stoppen würde. Mehr noch sei die „Gefährdung“ (Kurzenberger 2006: 193) für die Produktivität der Zusammenarbeit notwendig (vgl. Kurzenberger 2006: 64 f./Kurzenberger 2009: 190 ff./Ruhsam 2011: 194 ff.). Goebbels selbst bezeichnet seine Form des Produktionsprozesses im Gespräch mit Wolfgang Schneider als „Workshop[...]“, innerhalb dessen er „mit allen nur denkbaren Mitteln“ (Goebbels/Schneider 2006: 116) arbeite. Dieser impliziere ein Zusammenspiel aus musischen und theatralen Momenten, aber auch die permanente Interaktion mit Licht- und Tontechnikern, Musikern, Schauspielern oder Videokünstlern. Erfolge die Vorauswahl des Themenfeldes durch ihn, gebe er dieses hernach für die anderen frei. Die daraufhin erfolgende Improvisation sei fortan ergebnisoffen und kontrovers, etwaige Spannungen, Unsicherheiten und Risiken jedoch absolut notwendig für die Live-Situation und den Kontakt mit den Zuschauern. Es brauche permanente Unsicherheiten und Widrigkeiten, um über die daraus resultierende Fragilität an einzigartige Momente zu gelangen, die jede Aufführung zu einer anderen und immer wieder neuen machen. Am Beispiel des Performancekollektivs SIGNA wird dieser Aspekt am Ende des Kapitels noch einmal konkretisiert (vgl. Goebbels/Schneider 2006: 116 ff.). So sehr die Fragilität also einerseits Chance ist, so ist ihr ein Scheitern gleichermaßen inhärent. Alle gemeinschaftlichen Zusammensetzungen eint das Austarieren von individuellen Einzelinteressen und gruppenspezifischen Zielen, Motiven und Vorgehensweisen und es zeigt sich, dass jene Fragilität in ihrer Gleichzeitigkeit von Produktivität und möglicher Destruktion zum Tragen kommt. Dass sich Individuen dennoch für ein Kollektiv entscheiden, hängt unter anderen von Faktoren ab, die Thurn als „Stützungseffekt[e]“ (Thurn 1991: 109) bezeichnet. Solche Stützen
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finden sich in der Bündelung von Interessen und unterschiedlichen Kreativitätspotentialen, aber auch in der erweiterten Adressierung möglicher Rezipienten. Im Zuge gruppendynamischer Arbeitsprozesse wird die Übernahme der Stile oder Arbeitsweisen anderer auf die eigene Arbeit möglich, in einigen Kollektiven ist eine einheitliche Arbeitsweise und Formgebung sogar gewünscht. Eben hier ergibt sich jedoch eine der Schnittstellen für Konfliktsituationen, denn die individuelle ‚Stimme‘ nicht untergehen zu lassen und dabei das Gemeinsame stets im Blick zu behalten scheint eine der markantesten Schwierigkeiten innerhalb kollektiver Zusammenarbeit zu sein. Ein weiterer Punkt der besonders in den Kollektiven der historischen Avantgarde zu erheblichen Differenzen führte war das Plädoyer für die Gleichberechtigung unter allen Teilnehmern, welches aber insoweit ad absurdum geführt wurde, als es vielfach eine federführende Person gab, die die Aktivitäten maßgeblich steuerte. Doch nicht nur die Steuerung, auch die Hervorhebung der eigenen Wichtigkeit für die Gruppe führte zu Komplikationen, erinnert sei an Ernst-Ludwig Kirchner oder Wassily Kandinsky. Auch wenn es Personen bedarf, die den künstlerischen Prozess auf kreative und fordernde Weise am Laufen halten, hier wären die verstorbene Pina Bausch mit ihrem Wuppertaler Tanztheater, Frank Castorf an der Berliner Volksbühne oder Claus Peymann am Berliner Ensemble zu nennen, zeigt sich, dass eine Zentrierung auf eine Person nur dann funktioniert, wenn diese von vorne herein gemeinschaftlich geklärt und strukturell verankert ist. Sobald jedoch von einem festgelegten ‚Wir‘ in der Gruppe die Rede ist, dieses dann im Endeffekt aber von einem ‚Ich‘ repräsentiert wird, lassen sich Brüche innerhalb der Gemeinschaft kaum vermeiden. Oben genannte historische Gruppenbeispiele zeigten, dass die Gruppenordnung gerade auch durch die Zuspitzung auf eine Führungspersönlichkeit zerfiel, da rigorose Ausschlussverfahren oder singuläre Einzelaktionen die Folge waren. Gleichwohl: Wird von den Mitgliedern nicht ausreichend Verantwortung übernommen, war und ist das Kollektiv zwangsläufig in Auflösung begriffen. Selbiges lässt sich über das „hochemotionale[...] Mit- und Gegeneinander“ (Thurn 1991: 115) sagen, das durch die Überlagerung von künstlerischen und alltäglichen Problemstellungen, sowie der Vermengung von Kunst und Leben innerhalb vieler Gruppen der historischen und Neo-Avantgarde entstand. Vor allem schriftliche „Kompromißformeln, in denen Ichverwirklichung und Sozialanbindung dauerhaft aufeinander abgestimmt“ worden sind, gab es nicht. Deren Ablehnung resultierte aus der Abwehr „vorgefertigte[r] Regelsysteme[...]“, die auch deshalb nicht aufgestellt wurden, weil man der Meinung war, Konflikte bewusst austragen zu müssen und jede Norm als hinderlich für die kreative Leistung zu betrachten. Die Manifeste, das wird daran deutlich, funktionierten somit als Leitfäden, um Grundideen zu Papier zu bringen, eine Leitlinie im Sinne einer gesetzlichen Rahmung oder einer Arbeitsplatzanordnung bildeten sie nicht. Zwar wurde in den Ausschlussverfahren immer wieder mit Manifest-Verstößen argumentiert, für eine tatsächlich fundierte
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Auslegung konnten sie aber nicht herhalten, da sie viel zu allgemein formuliert wurden. Es ist also möglicherweise auch das Unterlassen einer Verschriftlichung von konkreten Handlungsmaximen, die zu einer Kompromisslosigkeit führte, der zahlreiche ausgeschlossene Künstler zum Opfer fielen. Die Angst vor der Beeinträchtigung von Freiheit und Handlungsspielraum innerhalb der künstlerischen Produktivität spielte eine elementare Rolle dafür, jene konstruktive Engerführung des gemeinsamen Arbeitens zu vermeiden, die aus heutigen Arbeitskollektiven wiederum kaum mehr fortzudenken ist. Da „Kontroversen um künstlerische Fragen, um Personen, kulturelle und gesellschaftliche Positionen, um Marktstrategien, Mitwirkungsmöglichkeiten und Erfolgsanteile“ (Thurn 1991: 119) zu jedem Künstlerkollektiv dazugehören, sollten sie nicht unbeachtet bleiben, sofern die gemeinsame Arbeit auf Langfristigkeit angelegt ist (vgl. Thurn 1991: 115 ff.). Liljana Filipović weist darauf hin, dass der Zusammenbruch vieler Kollektive auch daran lag und liegt, „dass der Stimulus für das Schaffen kollektiver Arbeit von außerhalb der Gruppe selbst stammt“ (Filipović 2005: 102). Die äußeren Umstände zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so die politischen Spannungen im Zuge des Krieges, die damit einhergehende finanzielle Situation oder die Restriktionen innerhalb der Gesellschaft, sobald Problemstellungen öffentlich angeprangert wurden, übten Druck auf die gemeinschaftliche Arbeit der Kollektive aus. Gleiches galt für die Sorge, keine kuratorische Aufmerksamkeit zu erzielen. Grundsätzlicher betrachtet haben die Schwierigkeiten innerhalb kollektiv verstandener Arbeitsmodelle laut Hartmut Esser mit dem sozialen Handeln in sozialen Situationen zu tun, die entstehen, wenn mehr als ein Akteur auf einen anderen trifft und die beiden einander nicht nur wahrnehmen, sondern ihr Handeln aufeinander ausrichten oder abstimmen. Einander persönlich kennen müssen sie sich nicht. Verstärkt sich der Kontakt unter den Akteuren, werden also beispielsweise gemeinsame Interessen verfolgt, ergibt sich eine ganz banale Problematik, nämlich dass „die Menschen schon an einer Kooperation interessiert [sind], weil ihnen das manches (lebens-)wichtige Problem löst, [a]ndererseits aber soll die Kooperation nicht allzuviel kosten und nicht allzu riskant sein und vor allem nicht dazu führen, daß man schließlich ganz alleine etwas schafft, von dem nur die anderen etwas haben.“ (Esser 2000: 14)
Esser gemäß resultiert aus dieser Grundannahme, dass „Koordinationsprobleme, Dilemma-Situationen und Konflikte“ zum „Hintergrund für alle denkbaren sozialen Situationen und für jedes soziale Handeln“ (Esser 2000: 15) würden (vgl. Esser 2000: 2 ff.). Die Künstlerkollektive arbeiten somit innerhalb eines doppelten Spannungsfeldes. Einerseits müssen sie mit potentiellen Konflikten der sozialen Situationen per se umgehen, andererseits entstehen auf der Ebene der Zusammenarbeit unter höchst subjektiven, vielfach auch existenziellen Bedingungen zusätzliche Konfliktberei-
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che. Durch die Dauerhaftigkeit der Zusammenarbeit, die wochen-, monate- oder jahrelang sein kann und vielfach mit räumlicher Nähe einhergeht, wird eine permanente Konfrontation unausweichlich. Das wiederum führt vielfach zu einem NäheDistanz-Problem, welches in den sozialen Situationen des Alltags nicht geübt werden kann, da diese flüchtigerer Natur ist. Die Kollektive stehen deshalb vor der zusätzlichen Anstrengung, damit gewissenhaft umzugehen. Tauchen wir abschließend noch einmal ein in die zu Beginn beschriebene Arbeit von Andreas Liebmann, so ist die Frage zu stellen, warum sich der Künstler in seiner Performance über das Verhältnis von Subjekt und Kollektiv der Arbeit in einem Künstlerkollektiv entzogen und eine ganz subjektive Auseinandersetzung mit der Thematik gesucht hat. Im Publikumsgespräch nach seiner Performance im FFT verdeutlicht Liebmann, dass er immer schon in unterschiedlichen Kollektiven gearbeitet habe, für diese Performance gleichwohl bewusst alleine agieren wollte. Relativ schnell habe sich dann allerdings herausgestellt, dass ein einsames und unabhängiges Arbeiten nicht möglich sein würde. Obschon er alleine auf der Bühne performe und das Konzept entwickelt habe, wäre das Projekt ohne die künstlerische Mitarbeit von Martin Clausen und Beatrice Fleischlin nicht zu dem geworden, das es nun sei. Dem künstlerischen Kollektiv entschwindet er demnach genauso wenig in Gänze wie dem Künstler-Zuschauer-Kollektiv. Denn auch wenn er sich den Besuchern im körperlichen Sinne immer wieder entzieht, so ist dies im Sinne der Performance nur konsequent. Um die Beziehung zum Publikum einerseits aufzubauen, durch herrische Aufforderungen andererseits zu torpedieren, ist seine Einsamkeit, die wiederholte Reduktion auf Sich-Selbst, unerlässlich. Dadurch entsteht eine Vermengung von Sicht- und Unsichtbarkeiten, die durch den nie wirklich aufzulösenden Kollektivkörper bestehen bleibt und gleichermaßen Materialität und Immaterialität verschränkt. Das daraus resultierende ephemere Dasein wird in der Folge zur spannenden Hinterfragung der Ich-Du-Wir-Relation. Durch das Herstellen von Bedeutung über das Nicht-Vorhandene und das Statuieren von Wir, durch dessen Verunsicherung, gerät Liebmanns Performance ins Wanken und verweist auf die Erkenntnis, dass es den allein agierenden Geniekünstler innerhalb performativer Kunstpraktiken insoweit nicht geben kann, da er notwendigerweise der Rezeption des Zuschauers als Ko-Akteur bedarf. Bereits hier beginnt im Sinne Essers soziales Handeln.
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K ÜNSTLER UND K OLLEKTIV IN DER HISTORISCHEN AVANTGARDE UND N EO -AVANTGARDE Das Konglomerat aus Performance, sozialem Handeln und kollektivem Miteinander hat sich, so konnten wir bis hierhin feststellen, im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts verdichtet und intensiviert. Dabei zeigt die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen performativen Kunstkollektiven, dass avantgarde und neo-avantgarde Vorreiter für die eigene gemeinschaftliche Entwicklung maßgeblich sind. Viele Kollektive nennen insbesondere Dadaisten, Futuristen, Fluxuskünstler, Surrealisten und Situationisten als prägende Gruppen für das eigene Tun.26 In diesem Unterkapitel wird deshalb die Spezifik einzelner (neo-)avantgarder Gruppen in den Blick genommen und gleichermaßen überprüft, ob es sich um eine Gruppe handelte. Dabei geht es um die explizite Betrachtung der Gegensätzlichkeit innerhalb gemeinschaftlicher Strukturen. Da die Surrealisten, Dadaisten und SPUR fest mit dem KollektivBegriff verwoben sind, sollen die Künstler des Informel und des abstrakten Expressionismus kontrastierend dazu aufgeführt werden, um die Varianz der Gruppierungen untereinander herauszustellen. Dada II und Surrealismus II – Ausschlussverfahren 27 Die durch den Ersten Weltkrieg evozierte Zersplitterung von Kunstzentren auf viele verschiedene Orte hatte maßgeblichen Einfluss auf die Dadaisten und führte zu einer netzwerkartigen Struktur. Köln, New York, Berlin, Paris, Zürich 28 – von dort aus begann sich der Dadaismus nach Schließung des Cabaret Voltaire nach Kriegsende und dem damit verbundenem Verlassen des schweizerischen ‚Vakuums‘ weiterzuentwickeln. Dies hatte gleichzeitig eine Aufteilung der Gruppen in politisch motivierte und unpolitischere Künstler zur Folge. Exemplarisch soll an dieser Stelle die Berliner Gruppe aufgegriffen werden, die sich im Verlauf von Kurt Schwitters abgrenzte, dem deren radikal-politische Ansätze fremd blieben. 26 Vgl. dafür die Zitate von Kollektiven wie BijaRi, flying City, BankMalbekRau oder B+B in: Block/Nollert 2005: 70 ff. 27 Der Fokus wird bei den Surrealisten und Dadaisten auf den Ausschlussdynamiken liegen, da diese maßgeblichen Anteil an der Gruppenauflösung hatten. Für eine historische Einordnung der Gruppen, siehe die Kapitel Dada I, Surrealismus und Utopie und Surrealistisches, Situationistisches und Utopisches. 28 Während Almhofer oder Huelsenbeck selbst die Züricher Dada-Gruppe als federführend innerhalb des Dadaismus betrachten, betonte Rubin die Bedeutung der New Yorker Gruppe, insbesondere Picabias und Duchamps (vgl. Almhofer 1986: 26 ff./Huelsenbeck 1994: 63/Rubin 1978: 23/Richter 1964: 84 - 104).
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Schwitters verfolgte vielmehr die Idee, eine Aktivierung und Vergemeinschaftlichung der Menschen voranzutreiben, die ohne Zwänge oder Druck auskommen sollte. Für die Künstler konnte die Kunst, wie sie von Schwitters verstanden wurde, einen Ausweg für die des Alltags überdrüssig gewordene Menschheit bilden. In der dadaistischen Kunst erkannte er die Kraft, auf die gesamte Kultur Einfluss zu nehmen, ohne sich umgekehrt von den sozialen Bedingungen negativ beeinflussen zu lassen. Der Dadaist ging von einer Kunst aus, die die „Alltagswelt selbst zu ihrem [gemeint sind die dadaistischen Künstler; PG] Material und Betätigungsfeld“ (Damus 2000: 118) werden lassen sollte und somit die sozialen Bedingungen allererst zu formen vermochte. Obschon Schwitters aus heutiger Perspektive die Übergänge zwischen Alltagswelt und Kunst ineinanderfließen ließ und somit dem avantgarden Credo folgte, war er zu seiner Zeit Kritikern aus den eigenen Reihen ausgesetzt, die sich an seiner unpolitischen Haltung rieben. Dabei stieß sein bewusster Rückgriff auf Kunst als maßgebliche Formel für den Alltag einigen anderen Dadaisten negativ auf. Huelsenbeck beispielsweise verweigerte Schwitters nicht nur aus Gründen der fehlenden politischen Radikalität, sondern auch auf Grund „seiner Verbindungen zum expressionistischen Sturm-Kreis“ (von Beyme 2005: 314) den Zutritt zur Dada-Gruppierung. Huelsenbecks feindliche Haltung dem Expressionismus29 gegenüber traf den Nerv der meisten anderen Dadaisten. Weniger verabsolutierend, eher integrierend äußerte sich dahingegen Ball. Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass auch einige Dadaisten nicht gefeit vor Ausgrenzung und Hermetik waren und Dogmen über die freie Meinungsäußerung und künstlerische Zielsetzung stellten. Gerade die von Schwitters entwickelte Merz-Kunst30 muss jedoch als wichtiges Exempel im Sinne eines performativen und sozialen Arbeitens verstanden werden. Neben Collagen schuf Schwitters mittels alltäglicher Gegenstände – bevorzugt Abfällen – Bauten, Bilder, Gedichte und darüber hinaus eine Zeitschrift. Grenzüberwindungen zwischen Alltag und Kunst offenbarten sich bei Schwitters durch seine Merzbauten. So ließ er „mit dem Merzbau in seinem Haus [Kunst] in den Raum hineinwachsen“ (Damus 2000: 118) und vernetzte in seinen Arbeiten öffentliche und private Lebenswelten. Bowness spricht davon, dass die Merz-Kunst für Schwitters ein „Lebensstil“ (Bowness 1998: 154) gewesen sei. 31 Schwitters’ Konzept einer ‚Merz-Bühne‘ wurde zu einem Impulsgeber für die Aktionskunst. Dabei wollte er 29 Zum Beispiel: „‚Expressionismus ist ein Plakatstil‘“ (zit. nach von Beyme 2005: 116). 30 Vgl. dazu auch Rubin 1978: 138-151. Der Begriff Merz ist laut Bowness als Ableitung „[a]us dem Fragment der Zeile ‚Commerz- und Privatbank‘ in einer seiner Collagen“ entstanden (Bowness 1998: 154). 31 Eine Bezugnahme zu dem zeitgenössischen Künstler Gregor Schneider und seiner Arbeit Haus U R (2001) sei an dieser Stelle notiert.
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die Merzer, also alle am Bau beteiligten Künstler, als Kreateure eines „abstrakten Merzbühnenwerks“ verstanden wissen, die als Literaten-Ersatz eine ganz neue Form von „Wirklichkeit konstituierenden Phänomenen“ (Almhofer 1986: 27) kreierten.32 Obwohl er die Menschen als Material mitsamt ihrer sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten in die Aktionskunstwerke einbezog, ist Schwitters als Wegweiser für die performativen Künste der 60er Jahre vielfach unbeachtet geblieben. Dabei wandte er sich in seinen Arbeiten nicht nur an mitwirkende Künstlerkollegen, sondern auch an die Rezipienten, die für die Mitgestaltung essentiell werden sollten. Die Absurdität des Gruppenausschlusses wird dadurch umso deutlicher. Gerade weil Schwitters seine Arbeiten nicht exkludierend, sondern inkludierend verstand, ergo im besten Sinne politisch, ist die Ausgrenzung im Nachhinein schwer nachvollziehbar. Dass Schwitters’ Kunst von den Berliner Dadaisten um Richard Huelsenbeck 33 , Raoul Hausmann, Hannah Höch, John Heartfield, George Grosz und Johannes Baader als unpolitisch eingestuft wurde, kann aus heutiger Sicht deshalb weniger mit Schwitters’ Haltung, als vielmehr mit dessen Materialgebrauch zusammengebracht werden. So arbeitete die Berliner Gruppe vor allem mit der Fotomontage, in welcher die Künstler Fragmente von Bildern und Texten aus Zeitschriften oder der Werbung zusammensetzten. Es ging ihnen nicht zwingend um eine Parteinahme, sondern um den Einbezug von gesellschaftlicher Realität, ohne eindeutige Lesarten vorzugeben. Dadurch wollte man einen heterogenen Charakter erzeugen, der weder ästhetischen Kunstvorstellungen entsprechen, noch leichten Verständniszugang ermöglichen sollte. Dass die Fotomontagen nichtsdestotrotz als Propagandamittel und auch Kunst verstanden wurden, steht dazu in einem Missverhältnis. 34 Durch diese kritische Konfrontation von Leben und Kunst zeigte sich, dass Letztere nicht negiert werden konnte, sondern immer auch Bezugspunkt blieb. In diesem Punkt, so lässt sich aus heutiger Perspektive sagen, waren sich die Berli32 Rubin spricht dahingehend von Schwitters’ „Plänen für einen Gesamtkunstmerz (einem synthetischen Happening, das sich gleichzeitig an Auge und Ohr, Geruchs- und Tastsinn wenden sollte)“ (Rubin 1978: 24). 33 Laut von Beyme verließ von Huelsenbeck die Züricher Gruppe in Richtung Berlin auch, weil er diese als nicht politisch genug empfand (vgl. von Beyme 2005: 116, aber auch Huelsenbeck 1994: 71). 34 Martin Damus, der den Aspekt dieses Missverhältnisses aufwirft, lässt allerdings unausgesprochen, dass die Gefahr der Parteinahme von den Dadaisten sehr wohl registriert und entsprechend reagiert wurde. So hätten beispielsweise George Grosz oder Otto Dix mit der Etablierung der Neuen Sachlichkeit respektive dem Magischen Realismus zu einer erneut inhaltlicheren und bildlicheren Kunstform gefunden, in denen die Satire eine gewichtige Rolle spielte. Formale Aspekte traten hier wieder in den Hintergrund (vgl. Bowness 1998: 154).
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ner Gruppe und Schwitters in keinster Weise unähnlich. Vielmehr gestaltete sich die Merz-Kunst genau als jene Alternative zu den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, der die Dadaisten stetig nachspürten (vgl. Almhofer 1986: 27 ff./ Backes-Haase 1992: 74/Ball 1992: 98/von Beyme 2005: 116; 314/Damus 2000: 118 ff./Richter 1964: 114 f./Rubin 1978: 141). Das endgültige Ende der dadaistischen Bewegung lässt sich mit Hilfe der Pariser Dadaisten erschließen, die zum Dreh- und Angelpunkt wurden. 1920 fand dort eine Ausstellung statt, in der Collagen von Max Ernst 35, aber auch „Possen“ von André Breton36, Louis Aragon und Philippe Soupault, den Herausgebern der Zeitschrift Littérature, kombiniert wurden. Bereits 1919 hatte Tristan Tzara 37 Zürich in Richtung Paris verlassen, wo er alsbald mit dem Littérature-Kreis in Kontakt kam und sich diesem anschloss, ebenso Francis Picabia, der kurz zuvor mit oben genannten Künstlern den Paris-Dada etabliert hatte. Auch Duchamp, Man Ray, Ernst und Arp fanden den Weg nach Paris, wo der Dadaismus jedoch „eine Sache der Literaten, nicht der bildenden Künstler“ (Richter 1964: 174) wurde und neben seinem Höhepunkt seine „spektakulärste Auflösung“ (Short 1984: 53) erlebte. Stellte die Ausstellung ein erstes verbindendes Aufeinandertreffen von dadaistischen und surrealistischen Künstlern dar, begründete die Aufführung des Ballettstücks Relâche im Jahr 1924 in Paris das tatsächliche Ende des Dadaismus38, das gleichermaßen dem Surrealismus den Weg wies. Die Aufführung unter der Federführung von Francis Picabia lässt sich als Gemeinschaftsprojekt von Künstlern wie Eric Satie, Man Ray, Duchamp und René Clair verstehen, welches unterschiedliche Kunstformen miteinander verband. Neben Filmprojektionen von Clair zu Beginn, der musikalischen „Interpretation eines bekannten, anstößigen Studentenliedes“ durch Satie, welches die Zuschauer unmittelbar mitsangen, vermeintlich bezugsloser Tanzbewegungen der Künstler auf der Bühne, oder der Darstellung eines „‚Tableau Vivant‘, in welchem zwei nackte Akteure ein Cranach’sches Bild zum Thema Adam und 35 Rubin schreibt Ernst „eine führende Rolle in dem eigentümlich poetischen, intellektuellen und antiästhetischen Klima […] nach 1918“ zu, die „bahnbrechend für die surrealistische Malerei“ (Rubin 1978: 120) gewesen sei. Für Ernst, wie aber auch zahlreiche andere Dadaisten, bildeten die Schriften Friedrich Nietzsches eine wichtige Quelle. Im Jahr 1922 siedelte Ernst auch auf Grund der Verbindung zu André Breton nach Paris über und forcierte dort seine fortan illusionistisch-surrealistische Kunst (vgl. Backes-Haase 1992: 63/ Bowness 1998: 154 f./Rubin 1978: 120). 36 Bretons Reaktion auf Ernsts Collagen bespricht Richter 1964: 163. 37 Laut Richter hatte Tzara bereits zwei Jahre zuvor Kontakt zu Literaten in Paris aufgenommen, so beispielsweise mit Apollinaire (vgl. Richter 1964: 171). 38 Rubin erkennt in Relâche ein Residuum der Dada-Bewegung und bezeichnet es als „Experiment“ (Rubin 1978: 152).
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Eva nachstellten“ (Almhofer 1986: 28) – das Spiel mit unterschiedlichen Darstellungsebenen auf und neben der Bühne, per Zitation oder realer Auftritte, machte den Abend zu einem „Spektakel“, welches die surrealistischen Kunstpraktiken prägte (vgl. Almhofer 1986: 28 f./Rubin 1978: 152). Dass der Dada in gewisser Weise in den Surrealismus überging, ist nicht monokausal zu klären. Essentiell erscheinen in jedem Fall interne Streitereien 39, die pluralistische Ausrichtung des Dadaismus sowie Bretons Erkenntnis, „dass der DadaKlamauk sich rasch verbrauchte, und dass eine Bewegung positive Ziele entwickeln musste“ (von Beyme 2005: 117). Short macht den Nihilismus als destruktives Element aus, der die Dadaisten dazu gezwungen habe, sich im selben Moment, in dem sie in Aktion traten, davon zu lösen. So „pendelte [der Dadaismus; PG] pausenlos zwischen formaler Freiheit und lebendiger Spontaneität hin und her, ahmte jedoch letztere nur nach“ (Short 1984: 79). Dass diese für Short schlussendlich nur noch Effekt erhaschende und klischeehafte Anwandlung des Dadaismus zu seinem Ende beitrug ist nachvollziehbar, wird von dem Autor jedoch sehr einseitig bewertet. Die Tatsache, dass gerade der Nihilismus unter den Dadaisten kontrovers diskutiert wurde, bleibt bei Short außen vor.40 Dennoch überholte sich Dada in seiner Zielsetzung gewissermaßen selbst und fiel jenen gruppenspezifischen Negativ-Mechanismen anheim, die bereits angesprochen wurden: Ideologisierung, veränderte Perspektiven, ein zunehmend uneinheitliches Verhältnis zwischen singulärer und kollektiver Ausdrucksweise und der daraus resultierende Ausschluss (vgl. Short 1984: 79 ff.). Diese Ausschlussdynamik kann innerhalb der Dadaisten als gruppendynamischer Prozess und eben nicht als singulärer Akt verstanden werden, da für die Dadaisten eine der gesamten Bewegung vorstehende Führungsperson, wie Marinetti oder Breton, nicht auszumachen ist, sondern diese sich wenn dann innerhalb der Untergruppierungen herausbildeten. Die Drastik der Ausschlussverfahren von Künstlern wie Artaud, Aragon, Soupault, Éluard, Dalì oder Vitrac muss als ein Grund für das Scheitern einiger Kollektive angeführt werden. Der Surrealismus mit Breton als „intellektuelle[m] Führer“ (von Beyme 2005: 118) sticht dabei im Rückblick heraus. An ihm wird deutlich, dass die ‚Denkfreiheit‘ stark eingegrenzt und strikt verabsolutiert wurde, auch wenn das Gruppencredo ein gänzlich anderes war. Es mutet in diesem Zusammenhang widersinnig an, wenn Breton einerseits ‚zweckfreie Denkspiele‘ oder die Verweigerung „vorgefaßter Ideen“ (Breton 1977: 27) propagierte, andererseits aber Max Ernst und Joan Miró nach deren Besuch des Russischen Balletts von Djagilev einer öffentlichen Maßregelung unterzog. Gegenüber 39 Einen zentralen Konflikt stellt jener zwischen Tzara und Breton dar (vgl. von Beyme 2005: 117). 40 Vgl. beispielsweise Ball 1992: 22.
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Yvan Goll wurde Breton sogar handgreiflich, weil dieser eine ‚surrealistische Eigeninitiative‘ ins Leben gerufen hatte, die nicht von Breton veranlasst wurde.41 Erkennbar wird innerhalb des eigentlich dem individuellen und unterbewussten Produzieren verschriebenen Surrealismus eine Normierung und ideologische Verfasstheit, die Breton einforderte. Diese stand im völligen Widerspruch zur andererseits forcierten subjektiven Empfindung der Künstler und der darüber hinaus erwünschten Freiheit des Einzelnen, die ja eben nicht für andere verfügbar sein sollte. Seine im Ersten Manifest die Gesellschaft anprangernden Sätze: „Die unausrottbare Manie, das Unbekannte aufs Bekannte, aufs Klassifizierbare zurückzuführen, schläfert das Gehirn ein. Der Wunsch, zu analysieren, ist stärker als die Gefühle“ (Breton 1977: 15), verkehren sich dahingehend ins Gegenteil, weil Breton sich und die anderen Surrealisten genau einer solchen Klassifikation und den damit verbundenen analytischen Kriterien unterwarf. Die daraus folgenden unüberbrückbaren Differenzen innerhalb der Bewegung42 führt Michael Stone-Richards in Anlehnung an Maurice Blanchot auf weitere Faktoren zurück. Er macht diese in den nachkriegsbedingten Erfahrungen von Unvollkommenheit, Brüchigkeit, Trauer und Negativität aus. Diese wiederum hätten zur Folge gehabt, dass die gemeinschaftliche Zusammenarbeit zwar solidarische und egalitäre Prinzipien anvisierte, diese aber für die eigenen revolutionären Vorhaben nicht adäquat umsetzen konnte. Die entstandene Solidarität widersprach vielmehr der machtdirektiven Haltung, die Breton immer stärker annahm. Benjamin schreibt im bereits erwähnten Sürrealismus-Aufsatz dazu: „Es gibt in solchen Bewegungen inmmer einen Augenblick, da die ursprüngliche Spannung des Geheimbundes im sachlichen, profanen Kampf um Macht und Herrschaft explodieren oder als öffentliche Manifestation zerfallen und sich transformieren muß.“ (Benjamin 1982: 18) Es stellen sich deshalb grundsätzlich die Fragen, ob es Gemeinschaften gibt, in denen sich eine solche Explosion, ein solcher Zerfall nicht einstellt und andersherum, ob eine gesellschaftliche Umwälzung ohne führungspraktische, zentralisierte Ordnung überhaupt möglich sein kann, ohne den eigenen Idealen untreu zu werden. 41 Von Beyme weist am Beispiel von Marc Chagall auf Bretons Schwierigkeit hin, Fehler einzugestehen. Chagall wurde von Breton erst nach vielfachem Kritikerlob akzeptiert. Erwähnenswert ist auch der Disput mit Kurt Seligmann, dessen Bilder Breton wegwarf, nachdem Seligmann Breton hinsichtlich eines Details zu korrigieren versuchte. Konflikte beschwor Breton auch dann herauf, wenn er nicht nur politische Meinungsunterschiede ausmachte, sondern Künstler wie zum Beispiel Robert Desnos parallel einem lohnabhängigen Beruf nachgingen. Egalität schlug hier in autokratische Bevormundung um (vgl. von Beyme 2005: 118 f.). 42 Für weitere Ausführungen zum Ende der surrealistischen Bewegung, siehe StoneRichards 2003: 300 ff.
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Auch im 21. Jahrhundert zeigen etwaige Debatten um die digitale Verbreitung geistigen Eigentums oder die Komplikationen innerhalb von Parteien wie den Piraten, die hierarchische Prinzipien oder festgelegte Organisationsstrukturen zu unterbinden versuchen, dass es eine valide und adäquate Antwort darauf bis heute nicht gibt (vgl. von Beyme 2005: 118 ff./Breton 1977: 15 ff.). Dem Surrealismus wurde wie auch dem Dadaismus zudem ein Aspekt zum Verhängnis, der für ihre künstlerische Produktivität gleichermaßen unerlässlich war. Beide Gruppen beriefen sich auf unterbewusste Erfahrungen oder, wie beim Dadaismus, auf die bewusste Erzeugung performativer und damit ephemerer Momente. Gleichzeitig aber fehlte es an einem Haltepunkt oder einer Koordinate, um auf Dauer wirksam zu werden. Der Wunsch nach kollektiv gestalteter Veränderung blieb deshalb langfristig ein ebensolcher, denn: Veränderung bedarf Positionierungen, um über die Wiederholung überhaupt erst Differenzen oder Brüche nachvollziehbar machen zu können. Viele Performer gingen auch deshalb ab den 1980er Jahren zu einer Melange aus einmalig und mehrfach performten Arbeiten über (vgl. von Beyme 2005: 119/Short 1982: 59/Stone-Richards 2003: 304; 321 f.; 331). Abstrakter Expressionismus/Informel Der Erste und der Zweite Weltkrieg waren wie bereits erwähnt Katalysatoren für die Entstehungsprozesse der historischen und Neo-Avantgardebewegungen. Führte beispielsweise das Exilantendasein Balls und Hennings und die Auflehnung gegen den Krieg zur Gründung des Cabaret Voltaire, bildete der Krieg für die Futuristen die zentrale Konstante ihres Selbstverständnisses. Die Kriegszustände stellten deshalb nicht nur historische Rahmungen der Kunstformen dar, auf die reagiert wurde, sondern waren auch für die eigene Konstituierung, ob nun in affirmativer oder konfrontativer Hinsicht, notwendig. Das Informel und der Abstrakte Expressionismus standen unter diesem Einfluss, obschon sich die negativen Auswirkungen auf die Künstler des Informel gerade in existenzieller und psychologischer Hinsicht von jener der Abstrakten Expressionisten unterschieden. Diese den geographischen und soziopolitischen Umständen geschuldete Tatsache wirkte sich, wie zu zeigen sein wird, auch auf die Gruppendynamik aus.43 43 Trotz zahlreicher Ähnlichkeiten liegt eine Differenz beider Kunstformen in ihrer unterschiedlichen Beachtung und Popularität. Tayfun Belgin verweist auf die geringe Publikationsdichte über das Informel. Kay Heymer beklagt zudem die reduzierte Beachtung der informellen Künstler durch die Kunstgeschichte, welche sich alsbald anderen Stilen zuwandte. Zudem habe die für die Abstraktion wegweisende Ausstellung auf der documenta II von 1959 das Kräfteverhältnis verdeutlicht, in dem die informelle Malerei aus
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Abstrakter Expressionismus Blicken wir nun auf den Abstrakten Expressionismus, so führten die Folgen des Krieges dazu, dass der Kontakt zwischen den amerikanischen Künstlern und der avantgardistischen Kunstszene Europas, vor allem jene der Surrealisten, durch die in den Vereinigten Staaten emigrierten Künstler verstärkt wurde. Zwischen 1939 und 1945 flüchteten, ähnlich wie dies in den 20er Jahren für Paris galt, zahlreiche Künstler nach New York und lösten eine wesentliche Verlagerung der europäischen Avantgarde in Richtung Vereinigte Staaten aus. Bereits vor der Übersiedelung hatten die Amerikaner in den Arbeiten der europäischen Avantgardisten Inspirationsquellen für das eigene Tun ausgemacht, diese jedoch nicht im Sinne einer eigenen Kunstrichtung weiterentwickelt. Die Gründe für das nur gering ausgeprägte amerikanische Kunstselbstverständnis sind unter anderem in den mangelnden Finanzierungsmöglichkeiten der Künstler zu suchen, die zur Folge hatten, dass die meisten Künstler einem weiteren Beruf nachgehen mussten, um für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können. Die mit dem New Deal einhergehende Kunstförderung ab den 1930ern wurde darum von den Künstlern als essentielle Finanzierungsoption angesehen. Dabei fungierten die staatlichen Programme Works Project Administration (WPA) und Federal Art Project (FAP) im Grunde als politisch und künstlerisch neutrale Unterstützungsorganisationen in Sachen Arbeitsbeschaffung und Finanzierung, die keine kreativen Einschränkungen vorgeben sollten und die Künstler unter monetären Gesichtspunkten als Kollektiv vereinten. Doch die Unabhängigkeit hielt nicht lange an. Vermehrt wurde die Kunstförderung zu einem politischen Mittel der Einflussnahme auf die amerikanische Avantgarde. Auf der anderen Seite erging durch den Einfluss zahlreicher osteuropäischer Einwanderer wie beispielsweise Ad Reinhardt, Lee Krasner oder Adolph Gottlieb ein Linksruck durch die Abstrakten Expressionisten. Protegiert von den beiden völlig konträren 44 Publizisten Harold Deutschland eine deutlich geringere, gar randständige Präsenz im Gegensatz zur amerikanischen und französischen Malerei zu Teil wurde. Marie-Luise Otten thematisiert die unglückliche Hängung der europäischen Künstler auf der documenta II, die auch auf Grund der großformativen amerikanischen Werke zustande kam und vor allem bei den deutschen Künstlern einen „Schock der Zurücksetzung“ (zit. nach Rennert 2010: 36) hinterlassen hätte. Rennert vermutet, dass die Kuratoren versucht hätten mittels einer zurückhaltenderen Berücksichtigung deutscher Künstler hinsichtlich deren Kriegsvergangenheit jeglichen Vorwürfen der Bevorzugung aus dem Weg zu gehen (vgl. Belgin 1997: 32 ff./Heymer 2010: 22; 25/Rennert 2010: 36). 44 Mit Thomas Dreher lässt sich die gegensätzliche Sichtweise Greenbergs und Rosenbergs auf den Punkt bringen: „Während Clement Greenberg, damals der bekannteste amerikanische Kritiker, […] das Resultat ausschließlich als Kunstobjekt bewertet, ohne die Lesbarkeit der visuellen Zeichen als Spuren eines Prozesses zu erkennen, betont Rosenberg
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Rosenberg und Clement Greenberg, bewegte sich anfangs ein Teil der Künstler in eine linke, vom Trotzkismus45 beeinflusste Richtung, zu der Trotzki46 selbst auch
[…] den prozessualen Aspekt“ (Dreher 2001: 63). Deutlich wird diese Überlegung Drehers meines Erachtens vor allem in Rosenbergs grundsätzlich anderer Herangehensweise an die Kritik abstrakt-expressionistischer Werke. Diese, so Rosenberg, „must begin by recognizing in the painting the assumptions inherent in its mode of creation. Since the painter has become an actor, the spectator has to think in a vocabulary of action: its inception, duration, direction-psychic state, concentration and relaxation of the will, passivity, alert waiting. He must become a connoisseur of the graduations between the automatic, the spontaneous, the evoked.“ (Rosenberg 1961: 29) Damit scheint Rosenberg von einer flexiblen Herangehensweise durchdrungen zu sein, die meines Erachtens bei Greenberg durch ein eher kunsthistorisch-festgelegtes Gerüst bestimmt wird, welches ‚angewendet‘ wird. Eine solche Vorgehensweise zeigt sich vornehmlich in den alternativlosen Manifestationen, die Greenberg in seinen Essays formuliert, vgl. unter anderem den Aufsatz von 1955 über Amerikanische Malerei: Greenberg 1997: 194-224. 45 Ausführlich geht Serge Guilbaut auf den Einfluss der Kommunistischen Partei in Amerika ein und verdeutlicht wie die amerikanischen Künstler durch die KP zu ihrer eigenen Rolle innerhalb statt außerhalb der Gesellschaft fanden. Nicht nur sollte dem Rechtsruck durch den Faschismus Einhalt geboten werden; es galt zudem einen Zusammenhalt unter den Künstlern zu schaffen, der sie mit mehr künstlerischer Schlagkraft gegenüber autoritären Regimen und auch den finanziellen Widrigkeiten durch die Wirtschaftskrise ausstatten sollte. Zu dieser Zeit galt das Zusammendenken politischer Diskussionen und künstlerischer Arbeit als angebracht, um auf die sozialen Dilemmata hinweisen zu können. Dies sollte sich im Verlauf ändern. Das Vorhaben aber, sich gegen Tendenzen des Nationalismus zu wehren und dennoch die gesellschaftliche Rahmung zu inkludieren, in der die künstlerische Produktion stattfand, wurde aufrechterhalten. Gerade weil die sozialen Bedingungen sich immer auch am Künstler offenbarten, dessen Wahrnehmung beeinflussten und somit nicht isoliert betrachtet werden können, unterlag auch die abstrakte Kunst gesellschaftlicher Einflüsse obschon das vielfach negiert wurde (vgl. Guilbaut 1983: 39-70). 46 So veröffentlichte er in der Zeitschrift Partisan Review im August 1938 einen Brief mit dem Titel Kunst und Politik, in dem er laut Guilbaut „sowohl eine radikale Kritik an der totalitären stalinistischen Kunstkonzeption wie auch ein[en] Lobgesang auf die Unabhängigkeit der Kunst“ äußerte und sich deutlich gegen den totalitären Stalinismus aussprach, der jeglicher künstlerischen Freiheit keine Chance lasse. Dabei, so formulierte Trotzki, liege die Subversivität und Kritikfähigkeit in der Unabhängigkeit. Für die amerikanischen Künstler und deren desolate wirtschaftliche und kulturelle Lage sah er deshalb die Möglichkeit einer revolutionären Neuerung innerhalb der Verbindung von „freie[r] Kunst mit
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Stellung bezog.47 Der Wunsch nach Neutralität und die „Angst vor Ideologie“ (von Beyme 2005: 822) erschwerte es den amerikanischen Künstlern zunehmend, einen eigenen Standpunkt zu wahren. Besonders der Kalte Krieg führte in der Folge dazu, dass nicht nur formal-ästhetische Beweggründe, sondern auch politische für den Erfolg und die weitere Förderung ausschlaggebend wurden, weshalb eine linkspolitische Haltung problematisch wurde (vgl. von Beyme 2005: 803 ff./Guilbaut 1983: 66 ff.). Um die künstlerische Position der amerikanischen Avantgarde zu stärken, musste eine gemeinsame Haltung gefunden werden, die sich aufs Erste in Abgrenzung zum Surrealismus oder allgemeiner gefasst der „europäischen, insbesondere französischen […] Avantgarde“ (Reckwitz 2010: 98) befand. Dies geschah im Jahr 1942 über eine spielerische Zitation der europäischen Avantgarde selbst. Dabei griffen die Künstler der Gruppierung American Modern Artist die Idee des Salon des Refusés auf. Sie kreierten eine Kopie der avantgardistischen Taktik, die die eigene finanzielle und gesellschaftliche Situation zur Schau stellen, gleichwohl aber verdeutlichen sollte, dass der eigene Ausschluss aus der amerikanischen Museumslandschaft nicht zu tolerieren sei. Der von internationaler, vor allem europäischer Kunst geprägte Kunstmarkt sollte die zeitgenössische amerikanische Kunst nicht länger ignorieren. Neben den American Modern Artists entwickelten sich zu dieser Zeit vereinzelte Gruppierungen, von denen die Federation of Modern Painters and Sculptors (FMPS) hervorzuheben ist. Mit ihrem konstituierenden Manifest vom 13. Juni 1943 in der New York Times übten sie nicht nur scharfe Kritik an zwei expliziten Bildern von Adolph Gottlieb und Mark Rothko, sondern eröffneten zudem eine Grundsatzdebatte über die voranschreitende Verfehlung amerikanischer Kunst, die immer noch in der Nachahmung der Pariser Avantgarde begriffen wäre und deshalb dem Vorhaben der Globalisierung, geschweige denn einer Anerkennung von amerikanischer Kunst als amerikanische Kunst, zuwiderliefe. Langfristige Zusammenar-
revolutionären Bestrebungen“ (Guilbaut 1983: 53). Um das revolutionäre Ziel zu erreichen, müsse sich die Kunst immer treu bleiben (vgl. Guilbaut 1983: 56 f.). 47 Dass die Roosevelt’sche Förderung ab 1938 wieder abnahm, obwohl dadurch eine Form von amerikanischer Kunst entstanden war, die sich von der Pariser Schule abnabelte, ist auf die Kritik der amerikanischer Bürger zurückzuführen, die den Einfluss von Trotzkisten und anderen Gruppierungen nicht gut hießen. Immer mehr wurde die Förderung zu einem Politikum und brachte die Roosevelt-Verfechter gegen die McCarthy-Unterstützer auf. Die Unterstützten wiederum traf die Reduktion der Finanzierung, darunter unter anderem Arshile Gorky, William Baziotes und Adolph Gottlieb, hart. Die WPA, die weiterexistierte, übte gleichermaßen immer stärkeren Druck auf die Künstler und deren Kunstmotivik aus (vgl. von Beyme 2005: 820/Guilbaut 1983: 69).
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beiten und überregional erfolgreiche Kollektive ergaben sich aus diesen beiden Gruppierungen jedoch nicht. Die Bewegung der Abstrakten Expressionisten entwickelte sich deshalb nicht aus einem bewussten Zusammenschluss verschiedener Künstler. Der Name fiel laut Guilbaut das erste Mal durch Hilda Loveman in einem Artikel über die Whitney Jahresausstellung von 1945, in der die Autorin in der amerikanischen Malerei eine Tendenz zum Abstrakt-Expressionistischen ausmachte. Die Künstler selber taten sich dahingegen schwer mit kategorisierenden Bezeichnungen und Zuschreibungen. Die koexistierenden Begriffe Action Painting, von Rosenberg in Art News aufgeworfen, New York School oder Informalism sowie das Color Field Painting als Beschreibung des gerade durch Rothko geprägten flächigen Malstils, standen allesamt im Raum, trafen jedoch im Grunde nie den gesamten Gruppenteil. So distanzierte sich Still scharf von Motherwell, Newman und Rothko, auch Ad Reinhardt negierte Gruppenzugehörigkeiten. Motherwell verweigerte sich gänzlich dem expressionistischen Vorbild, so dass die expressionistische Betonung vielen Künstlern in ihrem Selbstverständnis nicht entsprach. Gleiches gilt laut von Beyme für das Abstrakte, welches die Künstler in den 50ern durch „inhaltsgeladen[e] und nichtfigurativ[e]“ (von Beyme 2005: 830) Malerei substituierten. Was nun die Bezeichnung Abstrakte Expressionisten angeht, so vermutete Clement Greenberg, dass „die […] nicht ganz treffende Bezeichnung […] von Robert Coates im New Yorker geprägt“ wurde. Den Begriff der Action Painter ordnete Greenberg Harold Rosenberg zu, kritisierte jedoch, dass Rosenberg ihn „auf drei oder vier Künstler beschränkt[e], die in der Öffentlichkeit unter der ersten Bezeichnung [Abstrakte Expressionisten; PG] bekannt“ (Greenberg 1997: 195) waren. Dagegen differenzierte Rosenberg die Zusammenfassung der Künstler, indem er die Konzeption einer ‚Schule‘ verneinte, da die Künstler in ihrer Praktik eben keiner terminologisierten Stilistik und theoretischen Rahmung folgten, sondern lediglich sich selbst. Er banalisierte die eigene Begrifflichkeit, indem er fomulierte: „Call this painting ‚abstract‘ or ‚Expressionist‘ or ‚Abstract-Expressionist‘, what counts is its special motive for extinguishing the object, which is not the same as in other abstract or Expressionist phases of modern art.“ (Rosenberg 1961: 28) Eine manifeste Definition lag ihm darum fern. Die Zuordnung zu einem künstlerischen Kollektiv war den Künstlern bereits hinsichtlich der Namensgebung fremd, obschon die stilistischen Ähnlichkeiten und der enge persönliche Austausch untereinander deutlich in diese Richtung weisen. Besonders von staatlicher Seite wurden sie als Gruppe verstanden, dabei unterlagen beispielsweise Ad Reinhardt, Gottlieb oder Rothko gezielt der Beobachtung durch das FBI, da diverse Abgeordnete der Regierung innerhalb der Bewegung kommunistische Zugehörigkeiten vermuteten, was beispielsweise bei Ad Reinhart auch bis in die 40er Jahre zutraf. Dies nun legt die Vermutung nahe, dass der Versuch zahlreicher Regierungsmitglieder, die Abstrakten Expressionisten als kommunistische
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Gruppe zu deklarieren, Einfluss darauf nahm, dass die Künstler des Abstrakten Expressionismus sich nicht nur als apolitisch48 verstehen wollten, sondern bewusst gegen gruppenkohärente oder kollektive Arbeitsweisen und Strukturen votierten, zumal der Kollektivismus als Begriff in dieser Phase in den Vereinigten Staaten fast synonym zum Kommunismus verwendet wurde. Demgemäß lassen sich die Abstrakten Expressionisten eher mit der Gruppe des Blauen Reiter und somit im Sinne einer Vereinigung verstehen. Die fehlende Gruppenzugehörigkeit im Inneren eines Künstlerzirkels, so zeigt sich hier, muss somit nicht immer mit der äußeren, hier staatlichen, Wahrnehmung übereinstimmen (vgl. von Beyme 2005: 825 ff./Dreher 2001: 67/Greenberg 1997: 195/Guilbaut 1983: 143/Rosenberg 1961: 24 f.). Künstlerische Ausdrucksmittel im Sinne einer Performativität Die durch den Kalten Krieg und die Politik innerhalb der McCarthy-Ära ausgelöste pessimistische Grundstimmung im Land führte bei den Künstlern zu einer Hinwendung zum Mythos und den Primitiven. Man erkannte darin die Möglichkeit mit den zeitgenössischen Ängsten umzugehen und diesen einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Insbesondere der Mythos49 galt den amerikanischen Malern „als das einzige Mittel, mit dem ‚Menschen‘ in einen Dialog zu treten und seine Entfremdung zu überwinden“. Dabei rückte der Rezipient in den Blick. Es entwickelte sich der Glaube „an die Möglichkeit, Kunst und politisches Handeln wieder miteinander zu verbinden, ohne die Kunst unter einer Propagandaflut zu begraben“ (Guilbaut 1983: 186). Die Aktion der Maler wurde dabei jedoch nicht öffentlichkeitswirksam und interaktiv vollzogen, sondern ausschließlich im Bild. Dies hatte zur Folge, dass der Einbezug der Rezipienten nicht direkt, sondern indirekt ein teilhabender war. 50 Dass von einem aktionistischen Malakt unter Einbezug des Betrachters die Rede war,
48 Im Fall der Abstrakten Expressionisten spricht Guilbaut von einer praktizierten „politische[n] Apolitik“ (Guilbaut 1983: 24). 49 Vgl. für das Verhältnis der Abstrakten Expressionisten zum Mythos: Rosenberg 1961: 31-35. 50 Man darf vermuten, dass die Bilder Jackson Pollocks deshalb so starken Anklang fanden, weil sie den Aktionismus der Produktion auf eine Weise transportierten, die den Betrachter ergriff und auch heute noch ergreift. Die filmischen Aufnahmen Namuths ließen, wie wir im Verlauf sehen werden, zudem einen Einblick in die Malaktionen Pollocks zu, die das Affiziertwerden der Zuschauer beförderte und diese ‚ins Werk holte‘. Diese Tatsache kann jedoch keineswegs auf alle Abstrakten Expressionisten bezogen werden. Vielfach wurde der persönliche Malakt nicht in einen größeren Betrachtungskontext gestellt (vgl. Guilbaut 1983: 140 f.).
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hatte auch mit der Ausweitung der Bildformate51 zu tun, die bis zu fünf Meter Breite erreichten und eine Größe annahmen, welche bisherige Wand- oder Tafelbilder laut Dreher in den Schatten stellte. Die dadurch entstandene neue Bild- und Realraumsituation wurde um eine alternative Wahrnehmungsweise erweitert, die den Beobachter in eine aktive Betrachtungsposition versetzte, indem er sich das Bild anderweitig ‚aneignen‘ musste. Fortan konnte der Betrachter „von der Selbstverortung im Realraum (mit mitlaufender Wahrnehmung des Bildes als Objekt an der Wand) zur Selbstverortung im Bildraum (mit mitlaufender Realraumselbstverortung) und wieder zurück switchen“ (Dreher 2001: 64). Durch Techniken wie die des Drippings wurde diese Wahrnehmungs- und Bewegungsambiguität des Rezipienten weiter forciert. Hier zeigt sich ein deutlicher Bezug zu den Surrealisten. Seine anfangs figürliche Malerei gab beispielsweise Jackson Pollock mehr und mehr für eine ganzheitliche Abstraktion auf, die er mit der Dripping-Technik52 zu einem ihm eigenen Stil entwickelte. Bereits Max Ernst hatte eine Blechdose mit Farbe gefüllt, diese mit einem Bindfaden verbunden, ein Loch hereingestochen und dann über eine Leinwand geschwenkt (vgl. Damus 2000: 253/Dreher 2001: 64 f./Guilbaut 1983: 140 f./Spies 1998: 73).53 Die singuläre und subjektive Herangehensweise an den Malakt wurde, einmal mehr ein Widerspruch zur ursprünglich angedachten apolitischen Verortung, kei51 Obschon mit Bowness festzuhalten ist, dass bereits Monet diese in seinem Spätwerk verwendete (vgl. Bowness 1998: 168). 52 Mit der Dripping-Technik ist das lose Verteilen der Farbtropfen von „(Email- und) Ölfarbe“ (Dreher 2001: 59) über der Leinwand mit dem Pinsel gemeint. David Alfaro Siqueros, mexikanischer Muralist, hatte Pollock seine Maltechnik des „Pistolero-Approach“ (von Beyme 2005: 681) 1936 selbst beigebracht. Seine Vorgänger Siqueros und Ernst leugnete Pollock nicht, verdeutlichte aber, dass er die Technik in einer neuen, freieren Dimension anwendete. Gleiches gilt für den psychischen Automatismus der Surrealisten, den Pollock sich aneignete, ihm jedoch eine improvisatorische Ausführung folgen ließ und von Zufallsbeherrschung in seinen Bildern nichts wissen wollte. Freie Kunstartikulation, das bedeutete für Pollock eine Hemmungslosigkeit, die dennoch stets einem bestimmten Prinzip des Künstlers folgte (vgl. von Beyme 2005: 681). 53 An dieser Stelle läuft die Argumentation Koppes ins Leere. Koppe stellt den Zufall im Zuge des Tachismus als einen Ästhetisierten dar und merkt an, „daß der Zufallskunst der Zufall nie ganz gelingen will und wohl auch nie ganz gelingen soll: haften ihr doch vielmehr allemal unverkennbare Züge kompositorischer oder struktureller Eigenart an Zufallsstrukturen, ohne die ihre verschiedenen Objekte beliebig austauschbar wären (Was sie ja durchaus nicht sind).“ (Koppe 2004: 189) Indem Pollock selbst diese Argumentation immer wieder auf sich selbst anwendete, kann Koppes Erwähnung kaum als Kritik verwertbar gemacht werden.
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neswegs ohne Bezug zur Gesellschaft gedacht. Robert Motherwell formulierte gemäß Guilbaut dahingehend, dass es in der Kunst der Abstrakten Expressionisten nicht um die reine „Egozentrierung“ (Guilbaut 1983: 107) gehen solle. Kein Individualismus sollte propagiert, sondern vielmehr der eigens empfundenen Realität innerhalb der Kunst Ausdruck verliehen werden. Die Empfindung bildete dabei „die Reaktion von ‚Körper-und-Geist‘ als Ganzes auf die Ereignisse in der Realität“ (zit. nach Guilbaut 1983: 107). Auch Harold Rosenberg las diese Haltung aus der Malweise heraus und verdeutlichte, dass der Malakt als Aktion nicht mehr von der Künstlerbiographie gelöst werden könne. Dadurch sei das Action-Painting von derselben „metaphysical substance as the artist’s existence“ (Rosenberg 1961: 27). Im Umkehrschluss hieß das: „The new painting has broken down every distinction between art and life“ (Rosenberg 1961: 28), weshalb alle Bereiche, die in irgendeiner Form der Aktion nahe stünden auf diese zurückwirken würden.54 Um sich dem Entstehungsprozess anzunähern, der diese Betrachtungssituation überhaupt erst zutage brachte, sind Pollocks Malaktionen zu konkretisieren, weil sie das Verhältnis von Performance und bildender Kunst maßgeblich veränderten. Den von Werner Spies aufgeworfenen Gedanken, dass der Film von Hans Namuth über die Arbeitsrituale Jackson Pollocks von 1951 nicht nur einen Wirkungssog in der damaligen Zeit ausgelöst habe, sondern auch „die entscheidenden Kommentatoren Pollocks – Harald Rosenberg, Clement Greenberg und später Allan Kaprow – unbewusst diesen Film beschrieben, wenn sie von Pollocks Malerei zu sprechen meinten“ (Spies 1998: 68), ist eine elementare Feststellung.55 Es kommt mit diesem Film zum ersten Mal zur Verschränkung eines dokumentarischen Festhaltens der Arbeitsweise eines Künstlers in Bewegtbildern und der daraus resultierenden Entschleierung, Veröffentlichung und Popularisierung dessen. Die künstlerische Arbeit wurde einerseits für jedermann sichtbar und dadurch vereinfacht und durchschaubar, andererseits stieg der Bekanntheitsgrad des Künstlers und verstärkte dessen Relevanz. Die Medialität im Sinne einer Vermittlung war für die Rezeption von 54 Über die dadurch entstehende Schwierigkeit der Kunstkritik, siehe Greenberg 1961: 28 f.; 33 ff. 55 Dezidiert sprechen Reißer und Wolf vom Begriff des Legendentums, welches durch die mediale Begleitung von Pollocks Aufstieg und durch seinen frühen Unfalltod 1956 entstanden sei. Auch Andreas Reckwitz greift diesen Aspekt auf und ergänzt ihn um die Erkenntnis, dass durch diese erste sichtbare und öffentliche Dokumentation der Arbeitsweise eines Künstlers die Ambivalenz zwischen Mythologisierung und […] Entmythologisierung des Künstlers als kreativem Subjekt“ (Reckwitz 2010: 99) stattgefunden habe. Hinzu komme die Bedeutung von Pollocks Werk für die Etablierung eines „Neuanfangs in der Kunst“ (Reißer/Wolf 2003: 38), die mitunter auch von de Kooning und Newman bestätigt wurde (vgl. Reckwitz 2010: 98 ff./Reißer; Wolf 2003: 36 ff.).
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Jackson Pollock von Wichtigkeit. Mehr noch spiegelte diese, wenngleich in negativer Hinsicht, auf Pollock zurück, der an dem daraus resultierenden öffentlichen Druck zerbrach (vgl. Bowness 1998: 166 ff./Damus 2000: 252 f./Dreher 2001: 59 ff./Greenberg 1997: 117 ff.; 133 ff.; 353 ff./Guilbaut 1983: 111 ff.; 190 f.; 216; 225/ Kaprow 2003: 1 ff./Reckwitz 2010: 98 ff./Reißer; Wolf 2003: 36 ff./Spies 1998: 67 ff.). Pollock ging der ihm eigenen Ausdrucksweise, in der der Künstler zum „MalAkteur“ und die Leinwand zur „Bild-Aktionsfläche“ (Dreher 2001: 61) oder „Arena“ (Spies 1998: 67) wurde, von 1945 an nach.56 Von vorneherein stand der Prozess des Malens, das Tun, das ‚im Bild sein‘ und nicht das finale Werk im Mittelpunkt. 56 Zuvor hatte er sich von Thomas Hart Benton unterrichten lassen, der ihm die Kunst Diego Riveras näherbrachte und so in die mexikanische Wandmalerei einführte, die ihn zu besagtem Muralismus überleitete. Aber auch die expressionistische Malerei José Clemente Orozcos übte Einfluss auf Pollocks Lehrzeit bei Benton aus, ebenso die Kunst der Indianer. Insbesondere die Wirkung des Werks von Pablo Picasso hinterließ bleibenden Eindruck und lässt den von Spies zitierten William Rubin zu der Überlegung kommen, dass Picasso gar zur Überfigur geriet, demgegenüber Pollock während seiner psychiatrischen Behandlung 1939/40 einen solchen Hass entwickelte, welcher sich in einer Serie von Zeichnungen wiederspiegelte, denen eine „überhitzte […] Picasso-Manier“ (zit. nach Spies 1998: 70) zugrunde lag. Auch der Einfluss von Joan Miró, Max Ernst und André Masson und, wie bereits erwähnt, die surrealistische Methode des Automatismus waren zentral. Pollock beendete die figurative Malerei 1943 mit einem Auftrag Peggy Guggenheims, für den Eingang ihrer Wohnung ein Wandbild zu malen. Hierfür entwickelte er die Arbeit mit dem Großformat – das Bild war sechs Meter hoch und zwei Meter breit – parallel zu jener Form der Malerei, die auch als ‚All-over‘ bezeichnet wird. Damit ist das reduzierte Spiel der Kontraste gemeint, das sich zwischen hellen und dunklen Farben herstellt, um nunmehr „zu einem, alle Andeutungen einer Komposition negierenden, die ganze Bildfläche füllenden, offenen Feld“ (Damus 2000: 253) zu gelangen. Bereits vor Pollock hatten Newman, Gottlieb und Rothko das Großformat entdeckt, um sich von der europäischen Moderne abzugrenzen. Später folgten Still, de Kooning und andere, wenn auch auf je verschiedene Art und Weise. Deutlich wurde der Wille, sich von den französischen Avantgarden zu entfernen und jegliche Verbindungslinien zu kappen. Clement Greenberg formulierte dazu: „Ein amerikanischer Künstler, der Anspruch auf absolute Ernsthaftigkeit erheben will, leidet noch immer an einer Abhängigkeit von dem, was die Pariser Schule, Klee, Kandinsky und Mondrian bis 1935 hervorgebracht haben“ (Greenberg 1997: 123). Er erkannte zu diesem Zeitpunkt in der Malerei nur bei Jackson Pollock den Ansatz, trotz der „vollständigen Aneignung der französischen Kunst“ (Greenberg 1997: 135) einen Ausweg für eine radikal-amerikanische Malerei zu finden (vgl. Damus 2000: 252 f./Greenberg 1997: 123 ff./Reißer; Wolf 2003: 37).
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Dabei ließ Pollock ein körperliches Verhältnis zur Leinwand entstehen, indem er die Leinwand auf den Boden legte, über diese lief und seine Fuß- und Knieabdrücke im Werk sichtbar wurden. Es entstanden Werke wie beispielsweise One: Number 31 und Autumn Rhythm: Number 30 von 1950 auf denen „Tropfspuren […] rhythmisch über die Bildfläche auf und abführende Linien [bilden], die sich durchdringen und teilweise zu Flecken verdichten“ (Dreher 2001: 61). Es ist diese auf die Leinwand gebrachte Aktion, die einen dynamischen Malprozess nicht verschweigen will, sondern alle Spuren sichtbar macht. Die abstrakten Grundgedanken der „Autonomie von Form und Farbe“ oder dem „Überdenken der der Malerei an die Hand gegebenen Mittel zur Kreativität auch jenseits von Subjektivität“ (Reißer/Wolf 2003: 35 f.), wurden von Pollock hinlänglich erweitert. Allan Kaprow erkannte in den Arbeiten, so reformuliert Dreher, nicht nur eine „Tendenz zur Raumgestaltung, zum ‚environment‘“, sondern eine eindeutige Übertragung des Produktionsprozesses auf den Beobachtungsprozess. Mehr noch öffnete sich dadurch „ein […] Weg von der Aktionsmalerei zur neoavantgardistischen Wiederbelebung des Dadaismus“ (Dreher 2001: 65). Der Beobachter würde nunmehr zum Ko-Produzenten. Die Gründerfigur des Happenings machte Pollock und den Abstrakten Expressionismus damit zu einem Vorreiter, zu einer Inspirationsquelle der eigenen Arbeit. Kaprow konstatierte, dass Pollock „‚in‘ his work“ (Kaprow 2003: 4) gewesen sei. Damit habe Pollock die Malerei um das Ritual erweitert respektive die Malerei als Material des Rituals ausgewiesen und so zu einem Malakt werden lassen. Dieser Akt korrespondierte mit der Größe der Leinwand und dem dadurch beeinflussten Raum. Er inkludierte den Zuschauer, der in dieser Anordnung vom „participant“ zum „observer“ würde. Indem Pollock die Maltraditionen aufgegeben habe, ermöglichte er einen aktiven Einbezug „in ritual, magic, and life“ (Kaprow 2003: 6 f.). Die Aufgabe lag für Kaprow nun bei den nachfolgenden Künstlern, diese ‚Vorarbeit‘ aufzugreifen und weiterzuführen.57 Die anderen Sinne müssten innerhalb dieser Erweiterung angesprochen, Gerüche, Bewegungen, Geräusche aufgegriffen werden. Materialien wie Neonlichter, Rauch, Socken oder Stühle sollten fortan genutzt werden, um „happenings and events, found in garbage cans, police files, hotel lobbies; seen in store windows and on the streets“ dienlich zu sein. Diese „new concrete art“, vermochte die Künstler zu einem ganz neuen Verständnis ihrer selbst zu führen: „Young artists of today need no longer say, ‚I am a painter‘ or ‚a poet‘ or ‚a dancer‘. They are simply ‚artists‘. All of life will be open for them. They will discover out of ordinary things the meaning of ordinariness. They will not try to make them extraordinary but will only state 57 „Pollock, as I see him, left us at the point where we must become preoccupied with and even dazzled by the space and objects of our everyday life, either our bodies, clothes, rooms, or if need be, the vastness of Forty-second Street“ (Kaprow 2003: 7).
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their real meaning. But out of nothing they will devise the extraordinary and then maybe nothingness as well.“ (Kaprow 2003: 9)
Kaprow sah in Pollocks Arbeiten das Entstehen einer neuen Kunstform, die Rosenberg in folgende Worte fasste: „What was to go on the canvas was not a picture but an event.“ (Rosenberg 1961: 25) Der Zuschauer konnte und kann dies durch die unmittelbare Rezeption des Bildes und den kurzen Sicht-Abstand zu diesem nachempfinden. Der Grund dafür mag einerseits in Bildgröße und Entstehungsprozess, aber doch auch in der eigens aktivierten Suche des Nachverfolgens von Linien oder, wie bei Newman oder Rothko, Farbfeldern58 liegen. Die Auflösung des Rahmens und die Erweiterung der Bildfläche führten nicht nur dazu, dass der Maler dem Malakt körperlich beizukommen versuchte, sondern zu jener veränderten Wahrnehmung des Betrachters und dessen körperlichen Einbezug. 59 Durch die Unmittelbarkeit, Direktheit und Drastik der Bildkonzeption, die verantwortlich für die Novellierung der Rezipientenrolle war, wird der Malakt zur Aufführung und mit der „Performativität des künstlerischen Akts […] eine Performativität des künstlerischen Selbst[s]“ (Reckwitz 2010: 103). Kollektivierung ist hier nicht im Sinne eines gemeinsamen Entstehungsprozesses unter Künstlern zu denken, sondern vielmehr auf einer zweiten Ebene, jener zwischen Künstler und Rezipient. 60 Gleichzeitig band sich das Kollektiv der Abstrakten Expressionisten wie gezeigt auf eine vielfach auch von außen angetragene Determinierung und finanzielle Abhängigkeit (Staat/Politik) zurück, weniger aber über gemeinsam vollzogene Arbeitsprozesse. Somit scheint mir die interne Gemeinschaft der Abstrakten Expressionisten abschließend als lose Vereinigung bestimmbar (vgl. Dreher 2001: 60 ff./Kaprow 2003: 4 ff./Reißer; Wolf 2003: 40). Informel Etwaige Überlegungen stellen sich hinsichtlich des Informel61 als ambivalenter dar. Trotz aller Übertragungslinien zwischen Informel und Abstraktem Expressionismus 58 Vgl. dazu Damus 2000: 254 f./Spies 1998: 95; 97-101/Reißer; Wolf 2003: 55-69. 59 Siehe diesen Gedanken erweiternd: Dreher 2001: 65-67. 60 Siehe hierzu ausführlich das Großkapitel Künstler/Zuschauer. 61 Der Begriff des Informel wird höchst unterschiedlich verwendet. Anlehnen möchte ich mich an die Arbeiten von Reißer und Wolf oder Damus, die ihn auf Michel Tapie zurückführen, dessen Buch Un art autre (1952) synonym für die „neue, unformale Kunst ‚Art informel‘“ (Damus 2000: 247) stand und als neue Malbewegung gegen bis dato gültige Kunstprinzipien verstanden wurde. Ein weiteres Synonym findet sich mit dem Tachismus, der erstmals von Pierre Guégin 1950 benannt wurde. Willi Kemp stellt fest, dass sich bis heute keine einheitliche Begriffsbestimmung für das Informel gebildet habe, da
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zeigt sich, dass die aus der Kriegssituation resultierenden eingeschränkten Möglichkeiten der Kunstproduktion maßgeblich Einfluss auf Form und Inhalt der europäischen Kunst nahmen. Insbesondere für die deutschen Künstler rückte zudem die Suche nach einer eigenen nationalen und individuellen Identität in den Vordergrund. Die Frage danach, wie Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg fortan artikuliert werden sollte, prägte die künstlerische Arbeit.62 Von einer befreiten Kunstausübung nach der Naziherrschaft63 konnte keine Rede sein. Die Zerstörung jeglicher musealer und infrastruktureller Elemente, die hygienischen Bedingungen, Krankheiten und Hunger, Armut, fehlendes Material, aber vor allem auch „Angst, Schuldgefühl und Vergangenheitsbewältigung“ (Posca 1997: 13) prägten das Dasein der Künstler als Teil einer kriegstraumatisierten Bevölkerung (vgl. Belgin 1997: 40 f./Posca 1997: 13 f./Spies 1998: 36 f.). Ein gewaltiger künstlerischer Aufbruch mitsamt novellierendem oder gar revolutionärem Konzept war auch deshalb nicht gegeben, weil man jeglichen ideologisch gefärbten Vorhaben mit Misstrauen begegnete. Dem Kollektiv als künstlerischer Arbeitsform entzog man sich deshalb konsequent, die Selbstsuche stand im Fokus. Dafür wurde eine gegenständliche, realistische Malerei abgelehnt und der Rückgriff auf die moderne Kunst in Erinnerung gerufen, die im Krieg nicht beachtet und/oder unterdrückt worden war. Es kam zu einer Rückbindung an „Expressionismus, Surrealismus, Konstruktivismus und Kubismus“ (Posca 1997: 15). Über die Auseinandersetzung mit diesen Richtungen versuchte man sich einer neuen Stilistik anzunähern, die Verdrängtes und Verunsichertes sichtbar machen sollte. Es ging um die ganz subjektiven physischen und psychischen Erfahrungen, welche die Grundlage für die Malerei bilden sollten und einem, wie Willi Kemp formuliert „elementaren Befreiungsprozess“ gleichkamen, der nur vor „dem kulturellen und politischen Hintergrund der damaligen Zeit Ende der 40er, Anfang der 1950er Jahre“ (Kemp 2010: 47) verstanden werden konnte. Jedwede kompositorische Strenge, auch im Sinne einer harmonischen Farb- und Formgebung geriet von nun an in den Hintergrund. Stattdessen wurde eine Grobheit betont, die über das ‚Durchwühlen‘, das ‚Durcharbeiten‘ des Materials, aber auch die Hervorhebung der Farbe, die sich vormals der Form unterordnen zu hatte, sichtbar wurde. Spachtelbearbeitung, grobe Körnungen, Pulverisierungen, Mischungen aus Leim, Tinte, Schlämmkreide und das Vermengen und Durchzeichnen dieser es statt eines Stils, dem einheitliche Elemente zuzuschreiben wären, lediglich allgemeine „informelle Strukturen“ (Kemp 2010: 45) gebe (vgl. Belgin 1997: 32/Bowness 1998: 169/Damus 2000: 247/Heymer 2010: 21/Posca 1997: 8/Reißer; Wolf 2003: 76). 62 Vgl. zu der Kriegssituation und deren Auswirkungen auf die Künstler: Kemp 2010: 48 f. 63 Für Ergänzungen zu den Künstlern und ihren kriegsbedingten Erfahrungen, siehe Posca 1997: 14.
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Schichten wurden zu einem Ausdruck, der laut Martin Damus Seh- und auch Tastsinn parallel in Anspruch nahm und durch die dick aufgetragenen Farbschichten aus abstrusem Material ambivalente Eindrücke auslöste. Die Bilder aus dem 1944/45 entstandenen Bilderzyklus Geiseln von Jean Fautrier zeigen beispielhaft diese andersartige Plastizität und neuartige Oberfläche. Reißer und Wolf sprechen bei Fautriers Bildreihe von „Farbfiguren, die aus einem ortlosen diffusen Farbgrund aufscheinen und unwillkürlich Assoziationen an deformierte Köpfe und Leiber freisetzen“ (Reißer/Wolf 2003: 82). Fautrier bediente sich einer freien Formensprache, welche ihn dennoch nicht gänzlich von der figürlichen Malerei entfremdete. Der von Spies rezitierte Francis Ponge, der 1945 einen Aufsatz zu Fautriers Geiseln verfasst hatte, verwies auf die Tatsache, dass es nicht mehr um Dargestelltes ging, sondern vielmehr um eine „Verwandlung des Unerträglichen in Schönheit“, die in einer, so Spies, „neue[n] Ästhetik des Hässlichen“ (Spies 1998: 36) mündete. Diese Ästhetik verwob sich mit dem für das Informel relevanten philosophischen64 Gerüst des Existenzialismus, welcher sich als „fruchtbarer Nährboden“ (Reißer/Wolf 2003: 76) für die Künstler erwies. Die von Jean-Paul Sartre angeregte Infragestellung der menschlichen Existenz beschäftigte die Gesellschaft und veranlasste die informellen Maler dazu, neben der Feststellung einer Sinnlosigkeit auch auf die Suche nach einer neuen Freiheit zu gehen, die sie in der malerischen Entgrenzung finden sollten (vgl. Damus 2000: 243/Heymer 2010: 19/Kemp 2010: 47 ff./Posca 1997: 15 ff./ Reißer; Wolf 2003: 76 ff./Spies 1998: 36 ff.). Insbesondere die freie Formensprache der informellen Malerei veränderte die Rolle des Betrachters grundlegend. Dieser wurde kompromisslos zum „NachErleben des Werkes“ (Belgin 1997: 33) aufgefordert und musste von einer ‚Vorgabe‘ oder Sichtweise des Malers Abstand nehmen. Wie auch im Abstrakten Expressionismus blieb die inhaltliche und formale Veränderung der Bildelemente für den Künstler selbst nicht ohne Folgen. Die Abstraktion ermöglichte ihm größtmögliche Freiheit 65 , dennoch kann von einer Deformierung oder regellosen Formlosigkeit nicht die Rede sein. Vielmehr war es die Relation zur Form, die bestehen blieb, um 64 Spies verweist in Bezug auf Fautriers Bilder auf die „radikalen pseudo-narrativen Werke von Sartre, Genet oder Nathalie Sarraute“, in denen ebenfalls die „Entmachtung der normativen Psychologie, ein Beschreiben von intersubjektiven Osmosen, die dem Flüssigen zustreben, die die gegliederte Persönlichkeit, die Temperamentlehre, die Freud’schen Instanzen aufgeben und durch ein System ständigen, nie zum Stillstand der Tat kommenden Hin- und Herschwappen unbewerteter Stimmungen ersetzen“ (Spies 1998: 36) zum Vorschein kommen (vgl. Spies 1998: 36 ff.). 65 Für eine ausführlichere Betrachtung der Farb-, Form-, Fläche- und Raumkonzeptionen, die sich im Informel allesamt erweitern, öffnen und individuell verändern ließen, siehe Belgin 1997: 34 ff.
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überhaupt Nicht-Form werden zu können. Jean Dubuffet wird in diesem Zusammenhang von Ulrich Reißer und Norbert Wolf die „folgenreichste[...] [ästhetische] Umwertung in der Kunst der Nachkriegszeit“ zugeschrieben. Die von ihm begründete Art brut66 bestimmen die Autoren als „Kunst ohne Hobel und Schliff, die sich antikulturell und antiprofessionell gibt und mit dem akademischen Ästhetizismus und seinen Zwängen bricht“ (Reißer/Wolf 2003: 80). Dubuffet ließ sich dafür von der „Infantilität sowie unkultivierte[n] Spontaneität des Kindes und der Geisteskranken“ (Bowness 1998: 170) inspirieren und verabschiedete sich im Zuge seiner primitiven Malerei von malerischen Tradierungen, um diesen seine ‚rohe Kunst‘ entgegenzusetzen. Wie bei Fautrier wurde auch in seinen Werken die Figürlichkeit nicht vollends abgestoßen, sondern löste sich von den konventionellen Vor-bildern. Exemplarisch hierfür ist Dubuffets Corps de Dame67 (1950). Das Bild zeigt einen stilisierten Kopf-Bauch-Bein-Korpus, der dem von Kindern gezeichneten Kopffüßler ähnelt. Die Körperteile dieses ballonähnlichen Wesens werden in Form von Einritzungen oder Kritzeln auf der Materialoberfläche sichtbar.68 Das Unterlassen eines vermeintlichen Professionalismus sollte nicht nur ein neues Verständnis für Kunst einfordern, sondern dem Künstler Raum geben, um den Malakt auch als aktionistisches Handwerk zu verstehen, in dem Herangehensweise, Materialien und Auftrag auf die Leinwand auf unterschiedlichste Weise vollzogen werden konnten. Auch hier stand der Prozess vor der Kreation einer bestimmten und allgemein nachvollziehbaren Bedeutung. Diese Freiheit projizierte sich insoweit auf den Betrachter, als die Bildanordnung die Gelegenheit für individuelle Rezeptionsvorgänge bot. Durch die „Farb- und Malereignisse“ wurden „Fragmente neuer Realität“ (Damus 2000: 251) geschaffen und damit eine Alternative zu den bestehenden realen Bedingungen aufgeworfen, die auf künstlerische Weise lebensweltlichen Kontakt aufnahm (vgl. Damus 2000: 251 f./Belgin 1997: 32 ff./Bowness 1998: 171). Dubuffet, Fautrier und auch Wols (Alfred Otto Wolfgang Schulze) kreierten dahingehend ein ästhetisches Fundament, das später im Nachkriegsdeutschland von den Künstlern K.O. Götz, Emil Schumacher, Peter Brüning oder Hans Hartung69 66 Als ausführliche Bild- und Textquelle zur Art brut sei an dieser Stelle auf Lucienne Peirys Buch Art Brut. Jean Dubuffet und die Kunst der Aussenseiter (2005) verwiesen. 67 Vgl. die Abbildung in Spies 1998: 39. 68 Dubuffet entwickelte dadaistische und surrealistische Kunstvorstellungen weiter. Sein Werk enthält gleichermaßen Anleihen an Paul Klee oder Pablo Picasso, obschon er sich immer wieder auch kritisch von Ihnen absetzen wollte (vgl. Peiry 2005: 13; 29 ff./Spies 1998: 38). 69 Hartungs Werke zählen nicht nur zu den frühesten (Mitte der 30er Jahre) und innovativsten Bildern des Informel, sondern gelten auch als wegweisend für die „expressive Pinselschrift“ (Reißer/Wolf 2003: 93).
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aufgegriffen und erweitert wurde. Trotz der Zusammenschlüsse diverser Künstler zu Gruppen kann gleichwohl nicht von der Entwicklung eines gemeinsamen Stils gesprochen werden, da alle beteiligten Künstler eine individuelle Richtung entwickelten und beibehielten. Die unterschiedlichen Befindlichkeiten, die die Künstler umtrieben, führten zu einer „entspannten[n] Demokratie“ innerhalb des Informel, die im Existenzialismus vereinende Wurzeln ausmachten. Es hat, so von Beyme, „keine hektischen ideologisierten Gruppen […] [gegeben], sondern unabhängige Individuen, die gelegentlich ihre Kräfte zu einer gemeinsamen Unternehmung vereinten“ (von Beyme 2005: 840). Man wollte der Subjektivität ausreichend Raum gewähren, um insbesondere die künstlerische Bewältigung der Kriegserfahrung frei von dogmatischen Vorgaben zu stellen. Gleichwohl bildeten sich mit der Münchner Gruppe ZEN 49, den Mitgliedern von junge westen aus dem Rheinland, der Düsseldorfer Gruppe 53 und der Quadriga aus Frankfurt Zusammenschlüsse von Künstlern, die als Kollektive zu bezeichnen sind. Kay Heymer schränkt dabei ein, dass „die einzige programmatisch und stilistisch konsequent auf die informelle bzw. lyrisch-abstrakte Bildsprache ausgerichtete Institution“ (Heymer 2010: 23) die Quadriga gewesen sei. Laut Kemp erfand sich das deutsche Informel mit einer Ausstellung von Quadriga im Jahr 1952 in der Frankfurter Zimmergalerie Franck. Die in den Bildern von K.O. Götz, Heinz Kreutz, Otto Greis und Bernhard Schultze verwendeten Materialien und deren Formlosigkeit zur Befreiung ebendieser sei für die deutschen Sehgewohnheiten revolutionär gewesen. Maßgeblichen Anteil an der Verbreitung informeller Kunst in Deutschland hatte der Galerist und Kunstkritiker Jean-Pierre Wilhelm, der gemeinsam mit Manfred de la Motte 1957 die Galerie 22 in Düsseldorf gründete, um dort entgegen der vielfach verbreiteten Kategorisierung der Künste und der Separierung unterschiedlicher Ausdrucksweisen eine Plattform für die Künstler des Informel zu ermöglichen, ohne ihnen formale Vorgaben aufzudrängen. Die Begriffe Bild und Komposition wurden dabei in Frage gestellt und die Malerei zur Handlung, die den Weg freilegte für „Bewegung, Dynamik und Zeit, Reihung, allover und Endlosigkeit“ (Rennert 2010: 32 f.). Diese neue Bildsprache schlug in der Kunstkritik und Kunstwissenschaft hohe Wellen. Die ungegenständliche Kunst in ihrer Deformierung, Brachialität und Verwerfung nachvollziehbarer Lebensabbildung bildete daraufhin die Grundlage für tiefgreifende Debatten (vgl. Belgin 1997: 40 f./von Beyme 2005: 840/Heymer 2010: 21 ff./Kemp 2010: 47 ff./Posca 1997: 25 ff./Rennert 2010: 33 ff.).70 70 Eine dieser Debatten bildete das Darmstädter Gespräch, welches 1950 anlässlich der Ausstellung Das Menschenbild in unserer Zeit Künstler, Kunsthistoriker und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenführte. Dabei rückten die konträren Thesen von Willi Baumeister als Befürworter der modernen Kunst und Hans Sedlmayers,
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Das Informel stellt sich hinsichtlich einer kohärenten Kollektivstruktur, dies lässt sich bilanzierend festhalten, tatsächlich als wenig eindeutig dar. Suchten einige Künstler bewusst die kollektive Zusammenarbeit, arbeiteten andere lieber singulär für sich. Für die Künstler des Informel war ihre Unabhängigkeit von zentraler Bedeutung. Im Rahmen der gemeinsamen Ausstellungen sollte beispielsweise der subjektive Zugang zu den eigenen Werken nicht in Frage gestellt werden. Das Verhältnis von Individuum und Gruppe schlug wie beschrieben insbesondere wegen der historischen Erfahrung in Richtung Individuum aus, ignorierte die Gruppe als Form jedoch keineswegs, sondern reduzierte sie auf besagte kleinere Gruppierungen. Die Gruppen COBRA und SPUR Der Einfluss des Informel auf andere Gruppen in den Nachkriegsjahrzehnten war nicht unerheblich. Darstellen lässt sich dies am Beispiel der Gruppe COBRA. Diese griff die künstlerischen Mittel des Informel auf, versuchte sie jedoch mit lebensweltlichen Strukturen zusammenzubringen und damit eine gewisse Alternative zur „Sprachlosigkeit und [der] damit verbundene[n] Unverbindlichkeit“ (Damus 2000: 249) der informellen Künstler zu entwickeln. Zusammengesetzt aus den ersten Kritiker dieser Kunstform, in den Vordergrund der Tagung. Sedlmayer formulierte seine Kritik „auf der Grundlage einer metaphysisch-religiösen Argumentation“ (Skrandies 1996: 45). Seiner Meinung nach führte der eingeschlagene Weg der Abstraktion nicht nur zum „Verlust der Mitte“ (zit. nach Evers 1950: 48) des Menschen, sondern auch zu einem „falschen Selbstbewusstsein der Kunst“ (zit. nach Evers 1950: 52). Indem die abstrakte Malerei versuche „von dem naturalistischen Menschenbild […] wegzustreben, in der Absicht, ins Übernatürliche aufzustreben, [stürzte] der Mensch in ein unter dem Menschlichen Stehendes [hinunter]“ (Evers 1950: 58). Mit Timo Skrandies lässt sich auf die zum damaligen Zeitpunkt virulente „‚Entartungs‘-These“ (Skrandies 1996: 45) verweisen, welcher Sedlmayer den Weg ebnete. Dieser ‚Rückfall‘ in nationalsozialistische Argumentationsmuster verdeutlicht das damals immer noch bestehende ideologische Auseinanderklaffen zwischen gesellschaftlichen Positionen und dem notwendigen Eingriff der Künstler, diesem immer noch konsensfähigen Gedanken künstlerisch entgegenzutreten. Baumeister widersprach Sedlmayers These, nach der der Mensch seine ‚Mitte‘ verliere unter anderem mit der Aussage: „Der Mensch ist in der abstrakten Malerei vorhanden wie in jeder anderen Malerei. Er ist doch drin. Der Mensch ist auch in Landschaften, in denen keine Menschen sind. Der Maler ist im Bild, wie der Mensch in der Natur enthalten ist“ (zit. nach Evers 1950: 144). Das Darmstädter Gespräch steht sinnbildlich für die dogmatischen Strukturen, die nach dem Krieg den Aufbruch erschwerten, gleichwohl aber auch auf die Dringlichkeit verwiesen, diesem Dogmatismus entgegenzuwirken und eine neue Sprache zu finden (vgl. Evers 1950: 48 ff./Sedlmayr 1985/Skrandies 1996: 49 ff.).
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Buchstaben der Herkunftsstädte der Künstler Copenhagen, Brüssel und Amsterdam (COBRA) begründeten die Vertreter unter diesem Namen 1948 neben einer Gruppe eine Zeitschrift, um „eine primitive, vom Archaischen und kollektiven Unbewussten ausgehende allgemein verständliche Kunst zu praktizieren“. Federführende Künstler waren neben Asger Jorn auch Egill Jacobsen, Karel Appell, Corneille sowie K.O. Götz71, der später wie gesagt großen Einfluss auf das Informel nahm. Die Künstler schufen „starkfarbige figurative Bildwelten“, welche als „sprechende“ im Sinne einer Einmischung daherkommen sollten. Reißer und Wolf vergleichen die Malerei von COBRA mit jener der abstrakten Expressionisten, die ebenso den „expressive[n] rauschhafte[n] Schaffensmodus und die surrealistische Idee des Automatismus [als] die beiden Eckpunkte auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen“ (Reißer/Wolf 2003: 83) in den Vordergrund stellten. Eine Eliminierung des Figürlichen war dabei keineswegs gesetzt, vielmehr wurde insoweit mit der Brüchigkeit und Auflösbarkeit des Figurativen gespielt, als dass das Figurative der gestischexpressiven Ausdrucksweise unterworfen wurde und keiner Formvorgabe folgte. Für Heymer lässt sich daran erkennen, dass die Persönlichkeit der Künstler immer im Vordergrund gestanden habe und das Gruppengefüge zweitrangig verblieb. Nina Zimmer dementiert diese These, indem sie in ihrem Text verdeutlicht, dass die Gruppe eine zentrale und „wichtige Position von Gemeinschaftsarbeit vor 1960“ (Zimmer 2002: 68) eingenommen habe. Es habe eine Vielzahl von gemeinschaftlichen Malprozessen in diversen Brüsseler Ateliers gegeben, in denen jeder Anwesende, dies seien nicht nur Künstler, sondern auch Kinder und Laien gewesen, einen Wandabschnitt beliebig bemalen konnte. Neben diesen Gemeinschaftsarbeiten erwähnt Zimmer auch die Kollaborationen zwischen Malern und Dichtern, die „‚peinture-mots‘“ (Zimmer 2002: 73). Hierbei wurden automatisches Schreiben und spontaner künstlerisch-gestalterischer Ausdruck in Form von Skulpturen oder Ölbildern zusammengebracht. Welche Relevanz die Gruppenarbeit für COBRA besaß, lässt sich laut Zimmer anhand des Manifests von 1948 feststellen, in dem Dotremont formuliert: „‚Wir arbeiten gemeinsam, und wir werden gemeinsam arbeiten‘“. Während Constant zudem auf die Kreativität einging, die allen Menschen zu Teil werde, prägte Jorn den Begriff der „‚kollektive[n] Subjektivität‘“ (zit. nach Zimmer 2002: 76). Damit sollte die individuelle Schaffenskraft mit dem Unterbewusstsein des Kollektivs und jenen Formen der Realität verwoben werden, welche dem All71 Kay Heymer spricht Götz den Status einer „Schlüsselfigur der jungen Kunst in Deutschland“ (Heymer 2010: 22) zu. Nicht nur seine Zeitschrift META, auch die internationalen Kontakte, die unter anderem durch seine COBRA-Zugehörigkeit entstanden, weshalb er als einer von wenigen auch Ausreisegenehmigungen erhielt, waren für damalige Galeristen und Künstler essentiell. Gleiches gilt für die Publikation seiner Essays und die daraus resultierende Belebung der Kunstszene (vgl. Heymer 2010: 22).
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gemeinsinn aller Menschen entspräche. Jorn erweiterte die „Autorschaft bis hin zum Betrachter“ (Zimmer 2002: 76) und erwies sich damit gleichermaßen wegweisend für Aktionskunst und Happening der 60er Jahre. Der Betrachter wurde von Jorn als ‚Mitarbeiter‘ verstanden, mit dessen Hilfe die Basis für eine „‚demokratische und volkshafte Kunsttendenz‘“ (zit. nach Zimmer 2002: 76) geschaffen werden könne. Der Betrachter als Ko-Akteur geriet in den zentralen Blick der Kunstschaffenden, der hermetische Zirkel vieler Künstlerkollektive wurde dadurch bewusst negiert und stattdessen geöffnet (vgl. Damus 2000: 249 f./Heymer 2010: 21/Reißer; Wolf 2003: 83/Zimmer 2002: 73 ff.). Diesen Einbezug formulierte eine mit der COBRA über Asger Jorn verbundene Gruppierung kurz darauf noch radikaler: Die SPUR. Auch diese Gruppe stand zu der Kunst des Informel 72 in einem zwiespältigen Verhältnis, da sie zwar geprägt von deren künstlerischer Ausdrucksweise war, sich gleichwohl aber für eine verstärkt performative und insbesondere gemeinschaftliche Herangehensweise an politische Grundsatzthemen aussprach, die in der informellen Malerei ihres Erachtens zu wenig ersichtlich wurden. Wie bei den Situationisten war damit auch die Überlagerung von Kunst- und Lebensprinzipien gemeint. Der „einsame[...] Freiheitskämpfer im Atelier“ (Zimmer 2002: 134), als welchen man den Künstler des Informel bezeichnete, konnte dem nicht mehr gerecht werden. Helmut Sturm, Heimrad Prem, Lothar Fischer und HP Zimmer gründeten die SPUR 1957 in München und nahmen per Manifest das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft in Augenschein. Gemeinsam wollte man das individuelle Denken stärken, um dadurch eine ganzheitlich wirksame Erneuerung der Gesellschaft forcieren zu können. Dabei sollte die Durchsetzung der eigenen Forderungen, die über die Kunstebene hinaus in die gesellschaftlichen Rahmungen reichen sollten, vorangetrieben werden. Der Gruppe traute man mehr Effektivität und Durchschlagskraft zu, als dem einzelnen Künstler allein. In Faltblättern zu SPUR-Ausstellungen propagierte man das gemeinsame Schaffen, hob aber zugleich hervor, dass man die individuellen Kreativitätsprozesse nicht einschränken, sondern vielmehr mit der „kreativen Rezeption des Betrachters“ (Zimmer 2002: 170) verbinden wollte. In einem von Zimmer erwähnten unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1958 wird das Bestreben der SPUR deutlich, den „künstlerische[n] Individualismus […] innerhalb eines Systems von menschlichem Miteinander“ (Zimmer 2002: 171) zu stärken. Damit rückte die SPUR von einer Gesellschaft ab, die sich als funktionalistisch verstand, um stattdessen mit Hilfe gemeinschaftlicher Arbeiten und künstlerischer Ansätze ein verändertes gesellschaftliches Verständnis hervorbringen zu können. In dieser Zeit wurde Asger Jorn auf die Gruppe aufmerksam und nach ersten gemeinsamen Treffen entstand 1959 ein Manifest, gemäß dem Europa vor einer 72 Vgl. zur Kritik am Informel: Zimmer 2002: 134-141.
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großen Revolution und einem Putsch stehe, welcher sich kulturell vollziehen sollte. Der Duktus mit dem das Ost-West-Bündnissystem angeprangert und zu einer Neuerung aufgerufen wurde, verdeutlichte zugleich den politischen Anspruch der Künstler. Dabei bezogen die Künstler eine Gegenposition zu den kommunistischen Gruppenideologien im Osten und den massenkonsumistischen Auswirkungen des Wirtschaftswunders. Die Gratwanderung zwischen gruppendynamischem Miteinander und purem Individualisten-Dasein, die sich in dieser produktiven Gegensätzlichkeit in den Kunstwerken niederschlug, blieb innerhalb der SPUR stets manifest. Rückblickend lässt sie sich in ein Verhältnis zu Nancys Mit-Sein setzen, das unterschiedlich denkende plurale Singularitäten immerzu voraussetzt. Über gemeinsame Vorstellungen und Forderungen kam die SPUR nun in Kontakt mit der Situationistischen Internationale 73, die geprägt war von der durch Debord vermittelten Forderung nach einer gemeinsamen Produktion, die Debord auf zwischenmenschliche Situationen bezog und die es für die SPUR künstlerisch umzusetzen galt. Dabei, so lässt sich mit Zimmer feststellen, ist die informelle Malerei trotz aller Kritik immer auch malerisches Mittel gewesen, welches jedoch erweitert wurde. Ob Übermalungen, Kratzer oder Inskriptionen – der Duktus ging über die informelle Malerei hinaus und verwies auf einen in der Gruppe entwickelten Prozess in Form von Bildern, Assemblagen, Papierarbeiten, Plakaten, Bemalungen von Möbeln und Architekturmodellen. Es zeigte sich jedoch, dass das von den Situationisten propagierte kollektive Handeln dem der SPUR so wichtigen Individualismus keinen Raum mehr ließ. 73 Neben der SPUR wird auch ZERO vielfach mit der Situationistischen Internationale ins Gespräch gebracht. Zimmer allerdings weist auf eine E-Mail von Otto Piene vom 10.07.1999 hin, in der er formulierte, dass man bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von der SI gehört habe. Die 1958 von Heinz Mack und Otto Piene in Düsseldorf gegründete und 1961 um Georg Uecker erweiterte Gruppe ZERO entstand aus der Forderung nach einer Überwindung des starren Informel, indem neben einer ‚Farbreinigung‘ die Beliebigkeit und Unverbindlichkeit der informellen Kunst aufgehoben werden sollte. Neben der Farbbedeutung ging es den Mitgliedern jedoch besonders um den Einbezug von Licht und den Elementen Feuer, Luft und Wasser sowie der Kinetik in die Kunst. Neben der Verbindung von Mensch und Natur, welche die Künstler zurückforderten, sollten die technischen Möglichkeiten stärker aufgegriffen werden. Dabei versuchten die ZEROKünstler, dem platonischen Schönheitsideal folgend, neue Techniken, Mensch und Kunst zu vernetzen. Kritisch stand ZERO dem musealisierten Werk und den enstprechenden Produktionsbedingungen gegenüber. Trotz der Fundierung als Gruppe wies stellvertretend Piene auf die individuelle Unabhängigkeit der einzelnen Künstler hin. ZERO löste die gemeinsame Arbeit 1966 auf (vgl. Reißer; Wolf 2003: 104 ff./Zimmer 2002: 116; 183 ff.; 279).
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Kurzzeitig versuchte die SPUR es zwar der SI gleichzutun und die Gemeinschaftsarbeit in das Zentrum des eigenen Wirkens zu stellen, so übernahm sie unter anderem das Credo der SI, „eine Mehrfach-, bzw. Kollektivsignatur“ (Zimmer 2002: 185) zu verwenden. Eine komplette Vereinheitlichung aber widerstrebte der SPUR und war auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten. Im Jahr 1962 kam es zwischen SI und SPUR zur Spaltung. Wollten die Situationisten „die Arbeiterklasse als das revolutionäre Subjekt der Geschichte“ in den Mittelpunkt stellen, rückte die SPUR nicht von der Idee ab, dass die „eigentliche politische Avantgarde“ (Lange 1990: 211) von den Künstlern selbst gebildet werden musste. Dennoch, darin war die SPUR sich einig, sollte ein Leben als Künstler für jeden Menschen möglich sein. Die Spaltung wurde auch hier über einen Ausschluss der SPUR vollzogen, der seinen letzten Anklagepunkt in den Irritationen rund um die Herausgabe der SPUR-Zeitschrift Nr. 7 fand. In jener Ausgabe boten Prem, Sturm, Zimmer und Fischer ein illustratives und literarisches Verwirrspiel feil, das auf diverse Konflikte im Zusammenhang mit den Situationisten einerseits und insbesondere Debord andererseits anspielte. Dieser hatte angeordnet, die Herausgabe der Zeitschrift auf die niederländischen Situationistin Jacqueline de Jong zu übertragen. Als die SPUR-Gründer sich diesem Vorhaben widersetzten und Nr. 7 eigenständig herausbrachten, wurde die Verbannung durch Debord vollzogen. Das Ausschlussprinzip blieb somit auch in der NeoAvantgarde ein gruppenspezifisches Instrument. Die SPUR arbeitete noch einige Jahre künstlerisch zusammen, befand sich jedoch um 1965 auf Grund einer zu großen Nähe und Vertrautheit zunehmend in Lethargie und fehlender Inspiration begriffen und geriet an einen Wendepunkt. Nach diversen Änderungen 74, die jedoch nicht die erhoffte Wirkung erzielten, löste sich die Gruppe 1966 in der Gruppe Geflecht auf. Jene darin verpflichtend vorgegebenen gemeinschaftlichen Arbeitsstrukturen stießen aber auf Unmut und führten zur Abkehr von Fischer, Zimmer und Prem. Die später unter anderem durch ehemalige SPUR-Mitglieder begründete Subversive Aktion ging in der Folge politisch einflussreichere Wege. Für die SPUR war neben der Loslösung von der SI auch die Auflösung am Ende konsequent. Einerseits verwies sie damit auf ihre kollektive Forderung nach gemeinschaftlichen Arbeitsprozessen, denen das Individuum nicht zum Opfer fallen sollte, andererseits 74 Es erfolgte der Versuch, sich mit der Gruppe Wir zusammenzuschließen, die jedoch nicht gesellschaftspolitisch, sondern „metaphysisch-religiös motiviert“ (Zimmer 2002: 237) war. Nicht mehr das Kunstwerk, sondern die sogenannten „‚Anti-Objekte“ (Zimmer 2002: 241) standen im Vordergrund und repräsentierten jene Form von Lebensgestaltung, die über die ‚reine Kunst‘ hinausgehen sollte. 1966 kam es im Zuge einer an beide Gruppen gerichtete Auftragsarbeit für den Berliner Kunstverein zu der neuerlichen Frage nach der Auflösung der Gruppen (vgl. Zimmer 2002: 237 ff.).
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sah sie im kreativen Stillstand und der fehlenden Dynamik ein Signal dafür, sich als Einzelkünstler aus einer Gruppe zu lösen, da diese ihrer Funktion so nicht mehr nachkommen konnte (vgl. Crow 1997: 54/Lange 1990: 211/Zimmer 2002: 170 ff.; 236 ff.).75 75 Im Zuge der 1967 aufflackernden Studentenproteste und dem dadurch veränderten „politisch-kulturelle[n] Klima“ (Zimmer 2002: 245) bestand für zahlreiche Künstler politischer Handlungsbedarf. Bereits 1963/64 hatten mehrere Künstler, unter ihnen auch das ehemalige SPUR-Mitglied Dieter Kunzelmann, die Subversive Aktion gegründet. Der Gruppe gehörte neben Rudi Dutschke auch Bernd Rabehl an, die sich wiederum alsbald dem Deutschen Studentenbund (SDS) in Berlin anschlossen. Die antiautoritären Praktiken und Denkstrategien der Subversiven Aktion waren wichtiger Impulsgeber für den SDS, der dem „‚utopisch-aktionistischen Revolutionsmodell‘“ (Lange 1990: 211) der Subversiven Aktion in vielfältiger Weise folgte. Kunzelmann hielt dabei stets Kontakt zu seinen vormaligen SPUR-Mitstreitern. Bis zur endgültigen Auflösung von Geflecht im Jahr 1969 galt deren Gemeinschaftsatelier als „politische[r] Club“ (Zimmer 2002: 246) und war Diskussionsort für zahlreiche Gruppentreffen. Man wollte das studentische Aufbegehren mit Hilfe von „spielerisch[en]“ (Dreßen 1990: 53) Aktionen erzeugen, die über das reine Aufzeigen von Widersprüchlichkeit der Realität gegenüber hinausgehen sollten, um eine eigene Realität hervorbringen zu können. Das Wiederaufgreifen dadaistischer und surrealistischer Methoden implizierte die Möglichkeit auf spielerisch-künstlerische Weise die Realität zu unterlaufen. Die SI mitsamt SPUR fungierten in diesem Sinne als Vermittler, um die direkte Teilnahme innerhalb der Gemeinschaft im unmittelbaren Hier und Jetzt zu erreichen. Wolfgang Dreßen bezeichnet die SPUR als Wegbereiter der Studentenbewegung. Man beschloss auf einem gemeinsamen Treffen, dem Wunsch nach einer Veränderung der Gesamtgesellschaft mit revolutionärer Drastik nachzukommen, die sich jedoch nicht mehr nur am Proletariat ausrichten sollte. Ein Blick auf die osteuropäischen Länder verdeutlichte die fehlende Durchsetzungskraft kommunistischer Prinzipien, die keinen Umbruch herbeigeführt hatte. Stattdessen knüpfte man an „eine traditionelle Sprache revolutionärer Politik“ an, die verbunden wurde mit dem Beitritt zum SDS, obschon die ‚subversive‘ Zugehörigkeit dabei nicht preisgegeben werden sollte. Zurecht macht Dreßen auf den Widerspruch aufmerksam, den wir bereits bei den Surrealisten ausfindig machen konnten: Sich einerseits gegen die bestehende Wirklichkeit zu wenden, diese zu verneinen, sich aber andererseits politische Handlungsoptionen dieser Wirklichkeit anzueignen, um die eigenen Forderungen durchzusetzen. Rudi Dutschke, dem dieses unausgegorene Verhältnis durchaus bewusst war, versuchte dem mit der Konzentration auf „sprengende[…] Aktion[en] […] durch eine Minderheit“ entgegenzutreten, obschon er damit „[d]ie Funktionalisierung der Aktion auf dem Feld des Politischen“ (Dreßen 1990: 55) betrieb. Der angeprangerten Macht sollte mit gleichen Mitteln begegnet werden (vgl. Dreßen 1990: 53 ff./Lange 1990: 211 ff.).
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P ERFORMATIVES T UN II: SIGNA – D IE H UNDSPROZESSE 76 „Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“ (GERICHTSKAPLAN ZU JOSEF K. IN DER PROZESS)77
Grau. Alles ist grau und trist an und in diesem Gebäude, dem Basalgericht Köln 78, in welches die ehemalige Kölner KFZ-Zulassungsstelle umfunktioniert wurde. Der Boden, die Dienstbekleidung der Angestellten, die Schreibtische, die Computer, die Gänge. In Kleingruppen werden die Besucher von einer grau-weiß bekleideten Dame mit streng gebundenem Dutt in eines der 70 Bürogebäude gebracht, in welchem der Angestellte Abraham Krall mit seiner Assistentin Annie Mandelbaum bereits auf die Besucher gewartet hat. Diese, 100 werden pro Abend eingelassen, bekommen allesamt eine Akte ausgehändigt, die nach und nach immer mehr Details ihrer Identität beinhalten wird. Name, Geburtstag, Beruf, Adresse, Familienstand, Anzahl der Sexualpartner, Hobbies, Krankheiten und vieles mehr. „Sie sind nun verurteilt!“, lässt Frau Mandelbaum die Besucher wissen. Keine Gründe, keine Vorgaben, nur der Hinweis, dass dem auf der Akte vorgegebenen Terminplan, der unter anderem Verhöre, Besuche bei der Gerichtsetikette, dem Zentrum für seelisches Wohlergehen, des Erblasses, der Zentralregistratur oder der Richterin vorsieht, möglichst zu folgen sei. Verpasst man einen Termin, kann bei der Terminkoordination ein alternativer gefunden werden. Entstehende Freiräume sollen, so die Hinweise auf der Akte, mit dem Aufsuchen eines Anwalts oder der Stärkung in der Cafeteria gefüllt werden. Letztere wirkt in ihrer kühlen Kargheit wenig einladend, zudem völlig verödet und bildet somit jene Atmosphäre ab, die sich in den Büros oder auf den Gängen breitmacht, auf denen Putzfrauen ihre Putz- oder Büromitarbeiterinnen ihre Aktenwagen auf- und abrollen.
76 Die im Folgenden im Kapitel Performatives Tun II: SIGNA – Die Hundsprozesse formulierte Performancebeschreibung findet sich in überarbeiteter Fassung in meinem Aufsatz: Reflexive Manipulation – Strategien der Affektion bei SIGNA (vgl. Geldmacher 2014). 77 Zit. nach Kafka 2008: 182. 78 Die Performance fand am 29. April 2011 in der ehemaligen KFZ-Zulassungsstelle in Köln statt.
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Abbildung 11: SIGNA: Die Hundsprozesse
Quelle: Erich Goldmann/SIGNA
Unterbrochen wird diese Tristesse von den Kindern der Langzeitangeklagten, die in aufreizenden Outfits, schriller Musik und mit lautem Geschrei durch das Gebäude jagen und als Unruhestifter die sterile Luft zerschneiden. Überhaupt: Die Langzeitangeklagten. Carl Block, Ferdinand (‚Ferdie‘) Messerli und all die anderen erweisen sich in ihren durchschwitzten und dreckigen Klamotten als Sinnbilder für den körperlichen und optischen Zerfall, den der Prozess mit sich bringt. An ihnen wird nicht nur die Radikalität des Prozessverlaufs deutlich, Ihre Hoffnungslosigkeit wird in den Schauprozessen innerhalb des sechsstündigen Performanceverlaufs immer und immer wieder vor Augen geführt. Empathische Momente entstehen im Zuge der Konfrontation mit diesen Langzeitangeklagten. Beispielsweise, als Carl Block und eine Besucherin lange, sehr lange auf den Einlass bei der Richterin warten. In diesen 20 Minuten erzählt Block ihr von seiner erfolgreichen Vergangenheit als hanseatischer Kaufmann und seiner Tochter, die nun von den Großeltern aufgezogen werden müsse und die er vermisse. Er fängt an zu weinen und die Intimität, die in diesem Moment entsteht ist pur, real, nah und andererseits natürlich inszeniert und fiktional. Dennoch: Es menschelt inmitten der stark erdrückenden Szenerie, man lässt sich als Zuschauer ein, ist drin – und wird doch jäh aus dieser herausgerissen, wenn es wieder um die eigene Anklage geht, die man nicht einordnen kann und über die man nie erfahren wird, warum sie erhoben wurde. Frei nach Franz Kafkas Der Prozess erarbeitet das Performancekollektiv SIGNA mit über 60 Performern und Komparsen eine Performance-Installation, die die Zuschauer weder gänzlich miteinbezieht, noch eine Betrachtung nur von außen gestattet. Der Verhaf-
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tung folgen in vielfältiger Hinsicht kafkaeske Situationen, die sich auf Ebenen vollziehen, welche sich einer chronologischen oder auch linearen Beschreibung entziehen. Klar ist, dass die gesamte Performance von jedem Besucher selbst abhängt, und dem, was er daraus macht. Sofern sie nicht bereit sind, sich in die Strukturen des Basalgerichts hineinzubegeben, um mit diesen Strukturen zu arbeiten, sie zu bejahen, verneinen, sich an ihnen zu reiben, ist die unmittelbare Abgabe der Akte an der Zentralregistratur und dem Austritt aus dem Gebäude die einzige Konsequenz. Nach circa einer Stunde gehen einige diesem Wunsch nach. Es kostet sie offensichtlich Überwindung, wie sie in einem späteren Gespräch offenbaren, weil der Machtapparat, der durch die Installation suggeriert und durch die Performer verstärkt wird, realer ist als gedacht.79 Abbildung 12: SIGNA: Die Hundsprozesse
Quelle: Erich Goldmann/SIGNA
Für die anderen aber, die während der Performance auch mit diesem Wunsch nach Austritt und, ja, Flucht spielen, geht es weiter. Hinein in Zimmer, die bei bloßer 79 Es zeigen sich hier die bereits im Kapitel Performatives Tun I: SIGNA – Die HadesFraktur herausgearbeiteten und für SIGNA zentralen Themen der Macht, Hierarchie und Abhängigkeit. Etwaige Überschneidungen in der Beschreibung beider Performances ergeben sich zwangsläufig und hängen darüber hinaus mit der im Kapitel Zur Arbeitsweise von SIGNA und einem Rück- und Ausblick künstlerischer Kollektive beschriebenen Strategie SIGNAs zusammen.
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Einsicht Ekel und Abneigung hervorrufen. So muss man für Verhör I die Schuhe vor der Zimmertür ausziehen, um sodann einen vor Dreck stehenden, muffigen Teppich zu betreten, der einem kaum eine andere Möglichkeit gibt, als auf Zehenspitzen zu gehen. Oder all die verwaisten, leeren Räume, in denen sich keine Langzeitangestellten oder Mitarbeiter finden, in denen aber trotzdem Pferdeschaukeln, Puppenköpfe und rosafarbene Kinderaccessoires aneinandergereiht sind und einen Eindruck der unsichtbaren und doch angedeuteten Pädophilie hinterlassen. Oder die Räume der Langzeitangestellten selbst, die angefüllt sind mit Dreck, Unrat, Matratzen, ausgetretenen Zigarettenstummeln, leeren Wodkaflaschen, abgewrackten Sesseln. SIGNA setzen stark auf sinnliches Erfahren. Dazu zählt insbesondere die olfaktorische Wahrnehmung. Übelriechende Räume, stinkende Kleidung, mit Rauch, Alkohol und Schweiß durchtränkte Zimmer rufen schnell Abneigung, Ekel oder Unwohlsein hervor. Dies gilt auch für die Amtsräume, in denen mitunter Zigarettenstummel und Asche im Waschbecken liegen. Die drei Zimmer der Gerichtsetikette lassen besseres vermuten und doch ergeht sich dort der übersüße Duft eines zu extremen Parfums in der Luft und raubt einem die Luft zum Atmen. Die Aufenthalte in den jeweiligen Zimmern lösen eine Abwehrreaktion aus, die sich durch die zwischenmenschlichen Kontakte verstärkt. Es gibt in diesem Basalgericht kaum Personen, mit denen sich pure Sympathie verbände. Zwei Besucher erhalten Eintritt bei dem stark cholerischen Willem Feigenbaum. „Warum haben Sie Ihre Telefonnummer nicht angegeben?“, kläfft er die eine Frau an. „Schlechte Erfahrungen“, sagt diese. Es folgt ein Gespräch, in welchem er sie mehr und mehr provoziert und sie immer zickiger reagiert. Natürlich wird klar, dass es darum geht. Sich einerseits über die Maße einzubringen, andererseits bei sich zu bleiben. „Ich halte fest“, bilanziert Feigenbaum, „dass sie selbstüberschätzend und überheblich sind.“ Die Zuschauerin will etwas sagen, doch er unterbricht sie harsch mit der Frage: „Wie viele Sexualpartner hatten sie bisher?“ Die Frau scheint selbst überrascht darüber, dass sie antwortet. Die Antworten – offenbar gehen sie je länger man Teil der Szenerie wird leichter von den Lippen. Eben hier greift das subtil austarierte Spiel der Performer, die es auf ernüchternde Weise schaffen, jenes Abhängigkeitsverhältnis zu vermitteln, welches die Zuschauer trotz innerer Abwehrhaltung Dinge preisgeben lässt, die völlig privat sind. Mehr noch: Es macht sich ein verklärendes Gefühl von Nähe und Distanz breit. Einerseits also wissen die Besucher darum, dass es sich um ein Spiel handelt, sie selbst also auch eine Form der eigenen (Mit-)Bestimmung einbringen. Andererseits wird durch diese Rahmung eine Waghalsigkeit offeriert, auf die einzulassen man aus purer Neugier ebenso bereit ist. Was passiert, wenn…? Feigenbaum möchte hernach eine Schweißprobe von der Besucherin entnehmen, nachdem er sich vorher im Waschbecken erleichtert hat. Sie lässt ihn gewähren. Derweil wird im Verhörtrakt ein Besucher ausgepeitscht. Ensemblemitglied? Es stellt sich später heraus, dass dem nicht so ist.
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Ziehen die teilweise langen Wartezeiten, der Toilettengang oder der kurze Plausch mit den anderen Besuchern diese immer wieder aus der Fiktionalität hinaus, holen einen die durchaus persönlichen Gespräche mit den Performern oder deren drastische Handlungsweisen wieder herein. Das wird bei der Auseinandersetzung zwischen Ricard (‚Rici‘) Penzig, dem Richtergehilfen, und Olga Santino, Servicekraft, deutlich. Penzig will an ihr exemplifizieren, dass sie auf Grund ihrer nicht unterernährten Figur offensichtlich Essen in der Cafeteria gestohlen haben müsse. Er zwingt sie, sich vor den Besuchern bis auf die Unterwäsche auszuziehen und beginnt ihr hernach nicht nur zu unterstellen, gestohlen zu haben, sondern auch sich auf Kosten des Basalgerichts zu bereichern. Sie sei „faul, dumm, zutiefst zu verachten“. Doch damit nicht genug. Penzig beginnt, der aus dem osteuropäischen Raum stammenden Santino rassistische und an nationalsozialistische Thesen anschließende ‚Argumente‘ an den Kopf zu werfen. Als sie seinen Anschuldigungen widerspricht, beginnt er, sie zu schlagen. Einmal, dann ein weiteres Mal. Eine Zuschauerin steht auf, verlangt von Penzig damit aufzuhören und ihr ihre Akte auszuhändigen. Diese Diskriminierung sei nicht auszuhalten und widerstrebe jeder rechtlichen Normativität. Nach und nach erheben sich auch die anderen Zuschauer. Penzig lässt von Santino ab und versucht die Besucher zu beruhigen. Diese sind aufgebracht, obwohl ihnen natürlich klar ist, dass Olga Santino nicht Olga Santino ist, sondern Camilla Bonde und das Maximilian Pross den Penzig nur spielt. Und doch ist eine Grenze erreicht, mit der fiktionalen Handlung einverstanden zu sein. Die Gewalt ist in diesem Räumen spürbar und sie lässt nicht nur die Besucher aggressiver und lauter werden, sie überlagert auch alles rationale Denken. An gewissen Punkten ist alles Handeln affektiv – so auch in jenem Moment des Aufbegehrens. Was das Basalgericht konsequent und dauerhaft durchfährt, ist ein Gefühl der Angst. Wie ein Flurgeist zieht sie durch die drei Geschosse des Gebäudes und lässt einem Gefühl der Freiheit und Sicherheit nicht den Hauch einer Chance. Darauf nun, auf dieser Angst, baut der Machtapparat des Gerichts auf. So gibt es einige, die zu Beginn falsche Namen oder Adressen, falsche Nummern oder Berufe angegebenen haben. Wenn selbst die Überprüfung des Personalausweises keine Klärung bringen kann, weil keiner mitgenommen wurde, schreiten die Beamten zu anderen Methoden. Dazu zählen intrigante Verhörmethoden, parallellaufende Internetrecherchen, unmittelbare Anrufe der Nummern und weitere Optionen, von denen der Angeklagte selbst erstmal gar nichts mitbekommt, sondern vielmehr an einer anderen Stelle mit Beweisen konfrontiert wird, die ihn zur Offenbarung zwingen oder eben zur Lüge. Das Netzwerk der Beteiligten ist immens und überraschend. Es handelt sich um einen autoritären Überbau, der sich über die Zuschauer wölbt und dem nur schwer zu entkommen ist. Mit Hilfe von Angst und Druck werden die Bekenntnisse tatsächlich dort schneller entlockt, wo die Umgarnung fast beiläufig geschieht und doch rigoros durchgezogen wird – ‚Big Brother is watching you‘! Natürlich geschieht dies, weil die Zuschauer sich trotz allem in ei-
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nem sanktionsfreien Raum wähnen, in dem keinesfalls etwas passieren wird, weil es sonst zu polizeilichen Sanktionen kommen würde. ‚Wir sind nicht Josef K.‘, geht es den Besuchern durch den Kopf und gerade deshalb erscheint die Hemmschwelle geringer, sich auf dieses ‚Spiel‘ einzulassen. Als jedoch die persönlichen Angaben der Zuschauer an anderen Stellen immer wieder verwertet und aufgebaut werden, macht sich jenes unangenehme Gefühl breit, welches die gesamte Performance durchzieht: Man ist gläsern und abhängig. Als am Ende alle Performer mit den Besuchern in der Eingangshalle zusammenkommen und im Kollektiv Sätze wie „Verhalten Sie sich ruhig!“, ausrufen, die durch eine schrille Lautsprecherstimme Unterstützung finden, zudem verhüllte (Puppen-)Körper in Plastiksäcken inmitten von Blutflecken auf einen Haufen geworfen werden, soll angedeutet werden, welches Schicksal alle Teilnehmer zu erwarten hätten. Die Zuschauer werden aufgefordert, sich entlang einer weißen Linie aufzustellen und die Akten abzugeben. Wer das nicht tut wird durchsucht und ruppig zur Herausgabe gezwungen. Mit Akte wird keiner die Räume verlassen. Nachdem jeder einzelne Besuchername von der Akte abgelesen wurde, erfolgt die höfliche Bitte, das Amt zu verlassen. Als Verabschiedungsfloskel heißt es: „Wir melden uns bei ihnen.“ Was als Plattitüde klingt, verbleibt jedoch nicht als solche. Viele von denen, die Ihre Nummer hinterlassen haben, bekommen einige Tage später einen Anruf. „Wir möchten gerne eine Hausdurchsuchung bei ihnen durchführen“, heißt es da aus dem Mund von Herrn Krall. Oder Herr Lanig bittet darum „am Dienstag um 10 Uhr im Zentrum für seelisches Wohlergehen vorstellig zu werden.“ Wer sich darauf einlässt wird wahlweise besucht, trifft sich an unterschiedlichsten Orten innerhalb Kölns oder erhält erneut im Basalgericht Einlass, wo auch außerhalb der Geschäftszeiten reges Treiben herrscht. Das Ende, es bleibt offen und unbestimmbar, die Akte existiert weiter, das reale Portfolio, welches preisgegeben wurde, wird für den weiteren Spielverlauf genutzt. Dass dies verstörend wirken kann, macht Christian Bos in seinem Artikel Auf Lenis schmutziger Matratze deutlich. Darin berichtet er, dass seine Freundin ihn einige Tage nach dem Besuch der Performance auf den Anruf einer Leni Rochus angesprochen habe, die lieb grüßen lasse und anfrage, ob er mal vorbeischauen könne. Der ersten Aussage, er kenne keine Leni, folgt die Erinnerung an die Krankenschwester des Anwalts Octavio Huld. Telefonate wie diese tragen Potentiale der Unwägbarkeit in sich, weil keineswegs klar ist, wie die Reaktion des zumeist unbeteiligten Umfeldes auf diese Anrufe ausfällt. Und darum geht es SIGNA natürlich. Um eine Entgrenzung, die Rückzugsmöglichkeiten erschwert und strikte Trennungen zwischen Fiktivem und Realem brachial aufhebt. Was nicht funktioniert ist der ‚Ausstieg‘, da SIGNAs Performance das Privatleben der Zuschauer konsequent weiterverfolgt (vgl. Bos 2011a): 22).
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Z UR ARBEITSWEISE VON SIGNA UND EINEM R ÜCK - UND AUSBLICK KÜNSTLERISCHER K OLLEKTIVE Dass dies nun möglich wird, hängt mit der bereits erwähnten speziellen Arbeitsweise von SIGNA zusammen. Alle mehr als 60 Beteiligten Performer lebten das Dasein im Basalgericht. Sie waren Teil dessen und nicht davon zu lösen. Das aber hieß auch, das reale Leben, die alltäglichen Strukturen, während der Arbeit für SIGNA einzustellen. „Während der Spieltage schliefen wir fast die ganze Zeit in einem der Räume“, erzählen Zalar Kalantar und Kateryna Timokhina80, die beide als Statisten an der Performance teilnahmen. Die verwüsteten Hochbetten in den Schlafzimmern, die neben den Arbeitszimmern der Basalgerichtsmitarbeiter über die Stockwerke verteilt waren, wurden auch außerhalb der Performances normal genutzt und verblieben nicht nur als Requisite. Vier Monate vor der Premiere hatten alle Beteiligten um Arthur und Signa Köstler und Thomas Bo Nilsson mit der Arbeit in dem ehemaligen Kölner Amtsgebäude begonnen. Monate, die die unterschiedlichen Individuen miteinander verbrachten, um sich und die subjektiven Eigenheiten kennenzulernen und die Zeit für die Entwicklung einer Vielzahl von Ideen bedeuteten. „Von Anfang an war unsere Meinung gefragt und das, obwohl wir nur die sogenannten ‚Jackys‘, die Statisten, gewesen sind“, berichtet Kalantar. Mit Thomas Bo Nilsson und den anderen habe er akribisch an der Zersetzung der bestehenden Raumstrukturen gearbeitet, um diese mittels der Requisiten mit neuer Bedeutung aufzuladen. Helen Brecht81, Regiehospitantin bei SIGNA, spricht von einer ganz bestimmten Vertrautheit unter den Performern, welche das gesamte Darstellergespann auf die Zuschauer ausstrahle und notwendig sei, um die atmosphärische Intensität überhaupt spürbar werden zu lassen. Zur Folge hat das, dass der Rezipient Raum für die eigene und ganz subjektive Ko-Autorenrolle erhält, die er bei SIGNA immer auch ausfüllen muss. Handeln wird zur Voraussetzung für die Teilnahme. Andererseits resultiert aus den gemeinschaftlichen Arbeitsprozessen an der Performance eine lückenlose und stringente Zusammenarbeit unter den Performern, die entscheidend für die Stabilisierung jenes fiktionalen Raumes ist, der dadurch überhaupt erst zu einem Realraum werden kann. Neben der individuellen Herangehensweise fordern Arthur und Signa Köstler ihren Performern gleichwohl „emotionale Stabilität“ und „Disziplin“ (zit. nach Bos 2011b): o.S.) ab. Im Zuge einer Geschichte, die jeder für die eigene ‚Rolle‘ selbst entwickelt, werden von allen Performern auf knapp 100 Seiten biographische Hin80 Das Gespräch mit Zalar Kalantar und Kateryna Timokhina fand am 10. Mai 2011 in Düsseldorf statt. 81 Der E-Mail-Verkehr und das Gespräch mit Helen Brecht erfolgten den gesamten Mai 2011 über.
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tergründe formuliert, die zwar im Verlauf der Performances nicht zum Vorschein kommen, die jedoch für die persönliche Ausgestaltung der Performance unabdingbar sind. Die Konsequenz, mit der die jeweiligen ‚Rollen‘ als diese nicht mehr erkennbar werden, ist essentiell für den Performanceverlauf bei SIGNA. Dies aber erfordert die bedingungslose Aufgabe des eigentlichen Alltags der Beteiligten: „Ich bekam mein Unileben überhaupt nicht mehr hin“, gibt Kateryna Timokhina zu. Selbst wenn nicht gespielt wurde, sprach man sich untereinander mit den Rollennamen an, verließ die Rolle kaum. So agierte und handelte sie häufiger als Arletta Gregoreska denn als Kateryna Timokhina. Für private Beziehungen, aber auch berufliche Verhältnisse ist die Arbeit mit SIGNA nicht unkompliziert. Ein Schauspieler aus der Performance Die Hades-Fraktur (2009) versank so sehr in der Arbeit und in seiner Figur, dass es zu einer Beziehungskrise mit seiner Freundin kam, die vor allem Schwierigkeiten mit den sexuellen Handlungen ihres Freundes innerhalb der Performance hatte. Diese spielen bei SIGNA eine große Rolle. Die sexuelle Anspannung, die wie gezeigt auch die Hundsprozesse durchzieht, scheint ein gewichtiger Aspekt zu sein, um eine physische und psychische Öffnung der Zuschauer zu erwirken. So ist es einerseits der Voyeurismus aller Besucher, auf den die Performer setzen können und mit dem sie spielen. Doch auch die subversive Anziehung, die durch die vielfach auffällig attraktiven Performer entsteht, lädt eine Vielzahl der Zwiegespräche mit Intensität auf. Dadurch entsteht das bei vielen Besuchern durchaus rauschhafte ‚Sich-Einlassen‘. Seitens der Performer erfolgt dieses über die kommunenartige Arbeits- und Lebensweise, während der gesamten Proben- und Produktionszeit. Angenommene Gerüche, fehlende Hygienebedingungen, permanentes Miteinander, Diskussionen und Gespräche, die sich über den Tag verteilen. Das Eintauchen in das Szenario wird so über Wochen zur eigentlichen Realität der Performer und ermöglicht es wiederum den Zuschauern, von einer Form der Authentizität sprechen zu können, die jegliche ‚Bühnenhaftigkeit‘ und jeden ‚Aufführungscharakter‘ zu verlieren scheint. An SIGNA zeigen sich die bereits im Kapitel Performatives Tun II: She She Pop – Schubladen angeführten Aspekte, unter denen zeitgenössische Kollektive in der Kunst heute vielfach arbeiten. Dazu zählt als erstes der Versuch, die individuelle Herangehensweise jedes Einzelnen keiner gruppenkohärenten Norm zu unterwerfen, sondern sie als positiv für das gemeinsame Projekt zu bewerten. Flache Hierarchien und demokratische Entscheidungsfindungen über Abstimmungen sollen dazu führen, eigene Positionen nicht nur zu vertreten, sondern überhaupt erst vorzubringen. Die Problematik wie sie sich in der historischen Avantgarde vielfach offenbarte, nämlich die eigene Stimme nicht erheben zu können, wird dadurch reduziert, obschon klar ist, dass die grundsätzliche Idee der Performance nicht aus dem Blick geraten darf. Um die kollektive Arbeit in konstruktive Bahnen zu bringen, bedarf es „eine[r] Vorstellung, eine[s] Entwurf[s], ein[es] Konzept[s], eine[r] Idee oder Theo-
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rie“ (Kurzenberger 2009: 200 f.). Die gemeinsame Arbeit kommt ohne einvernehmlich beschlossene Leitlinien nicht aus. Neben dieser gemeinsam diskutierten Rahmung verbindet sich ein weiterer kollektivübergreifender Aspekt mit den Faktoren der „[a]ußenbewirkte[n] Zergliederung“ (Thurn 1991: 122). Indem der Anspruch die Welt zu verändern in zahlreichen zeitgenössischen Kollektiven auf das Vorhaben reduziert wird, ‚im Kleinen‘ zu beginnen, sinkt die Fallhöhe für deren Zergliederung. Das bedeutet konkret, dass gesellschaftliche Umbrüche nicht über einen generalisierenden Allmachtsanspruch von Künstlern initialisiert werden können, sondern viel eher über Auseinandersetzungen innerhalb eines lokalen Umfelds. Im Vergleich zu zahlreichen Kollektiven der historischen und Neo-Avantgarde zeigt sich, dass die vielfach umfangreichen Ansprüche auf Veränderung nicht erfüllt werden konnten und es dadurch zu Schuldzuweisungen oder grundsätzlichen Auseinandersetzungen über Relevanz, Anspruch und Durchschlagskraft kam. Gleichwohl darf die damals existenzielle Einflussnahme äußerer negativer Faktoren im Vergleich zu den heute stark verbesserten Lebensbedingungen nicht außer Acht gelassen werden. Durch das Aufsuchen von Exilen, dem Umzug in wirtschaftlich reizvollere, „ferne[...] Kunstmetropolen“ (Thurn 1991: 123), aber auch durch den parallel zum Gruppendasein errungenen Einzelerfolg, ob nun hinsichtlich positiver Werkbesprechung oder im Zuge des Abverkaufs der je eigenen Kunst, konnten Missstimmungen innerhalb der Gruppe kaum vermieden werden. Erfolg und Misserfolg wurden und werden zum Gradmesser jedes Kollektivs. Sobald die künstlerischen Projekte angenommen werden, kann man sich der Aufmerksamkeit von Institutionen, aber auch potentieller Interessierter am Kollektiv ebenso sicher sein wie sich verstetigender neuer Finanzierungsmöglichkeiten. Dieser „Aufmerksamkeitsgewinn“ ist jedoch nicht ausschließlich verbindend und motivierend, sondern kann gleichermaßen die „Konkurrenz zwischen den Künstlern“ befördern und „die Kohärenz der Gemeinschaft“ (Thurn 1991: 124) reduzieren. Anerkennung und erhöhte Aufmerksamkeit sind demnach ambivalent zu betrachtende und dennoch unerlässliche Bestandteile von Kollektiven. Auch die jeweiligen finanziellen und sozialen Lebenssituationen, sowie der in vielen Staaten immer noch vorgenommene Eingriff politischer Instanzen in die Produktionsprozesse der Künstler stellen Faktoren dar, die auf das Gruppengefüge einwirken. Durch alle genannten Punkte nun fließt das Verhältnis von Macht und Abhängigkeit (vgl. Thurn 1991: 123 f.). Genau diese Themen stellen SIGNA in ihren Arbeiten ins Zentrum. Sie hinterfragen damit nicht nur ganz grundsätzlich den gesellschaftlichen Umgang damit, indem sie in den Hundsprozessen auf Kafkas Schloss- und George Orwells 1984Metapher zurückgreifen, um eine Auseinandersetzung mit machtstrukturellen Organisationssystemen spürbar werden zu lassen. Indem sie keine Antworten vorgeben, sondern auf die Konfrontation mit den Besuchern und anderen Performern abzielen, verdeutlichen sie vielmehr, dass die darin verborgenen Konflikte maßgeb-
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lich für alle sozialen Situationen sind. Gerade weil die Performer innerhalb des Überwachungskomplexes das Drei-Instanzen-Modell Freuds an den Teilnehmern durchexerzieren, vollziehen sich Konfrontationen inmitten von normativen Rigiditäten, aber auch trieb- und affektgebundenen (Auf-)Forderungen. Dadurch geraten nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Performer in einen Zustand des permanenten Aushandels zwischen Über-Ich und Es und setzen sich mit der Problematik überwachungsstaatlicher Maßnahmenkataloge auf ganz persönliche Weise auseinander. Diese Interaktion mit den Zuschauern wird für die Performer zum selbstkonstituierenden Moment. Das heißt, dass die Abhängigkeit und die Gelingensbedingungen vervielfacht werden. Natürlich bleibt die Abhängigkeit der Besucher von den Vorgaben des unterbreiteten Szenarios bestehen, gleichwohl agieren allesamt immer auch subjektiv und autark. Destabilisieren die Künstler also ihre eigene Einflussnahme, hat das zwangsläufig auch Auswirkung auf das Künstlersubjekt und damit einhergehende Führungsprinzipien.82 Dieses Austarieren zwischen Individuum und Gruppe, zwischen Einzelnem und Vervielfachtem, zwischen Macht und Ohnmacht ist immer schon prägend für die Arbeit innerhalb künstlerischer Kollektive gewesen und wird es weiterhin bleiben – stetig verstärkt durch die partizipierenden Zuschauer. Eine Auseinandersetzung mit dieser Erkenntnis nicht auszublenden, sondern sie künstlerisch zur Beobachtung zu stellen scheint mir eine Option, um sich der jeder Gruppendynamik impliziten Destruktion gewahr zu werden und ihr produktiv zu begegnen. Somit können wir seit der Wende zum 20. Jahrhundert einen Wandel feststellen, der sich nicht nur darin zeigt, dass Einzelkünstler sich häufiger in Künstlergruppen 82 Von Führungsprinzipen spricht Alexandra Borchardt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der auf den ersten Blick ein völlig anderes Thema aufgreift, nämlich weibliche Eigenschaften. Borchert hält fest, dass man „beim Übergang von der traditionellen auf die heutige, digital geprägte Welt einen Wandel der Führungs- und Lebensprinzipien beobachten“ könne. Im Gegensatz zur vormals „klassische[n], wenn man so will, männliche[n] Welt von Arbeitsteilung, Hierarchie und Herrschaftswissen“ werde in unserer digital geprägten Welt „vermehrte Kommunikation, horizontale Vernetzung, Flexibilität und Zusammenarbeit“ erforderlich, „Dinge, von denen vielfach behauptet wird, dass Frauen sie besser beherrschen.“ (Borchardt 2013: 11) Es lässt sich an dieser Stelle zumindest rein hypothetisch die Frage stellen, ob die zumeist männlich dominierten Kollektive der historischen und Neo-Avantgarde, in Ermangelung dieser Eigenschaften ihrer Auflösung schneller anheimgefallen sind, als dies mit einem erhöhten Anteil von Frauen der Fall gewesen wäre. Siehe hierfür auch die aktuelle Debatte zur gender diversity, die im Sammelband Macht oder ökonomisches Gesetz? Zum Zusammenhang von Krise und Geschlecht (Kurz-Scherf/Scheele: 2012) ausführlich diskutiert wird (vgl. Borchardt 2013: 11).
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zusammenschließen, sondern auch darin, dass die noch in vielen Ismen der historischen Avantgarden angestrebte ‚Entindividualisierung‘ innerhalb der Gruppe im Verlauf der folgenden Jahrzehnte angepasst wurde. Dies geschah erstmals durch Zusammenschlüsse wie dem Blauen Reiter, dem Informel oder dem Abstrakten Expressionismus, in denen eine losere Verbindung bestand, die die einzelnen Künstler nicht mehr zu gemeinsamen motivischen Elementen zwang. Später folgende Kollektive wie die SPUR oder COBRA propagierten bewusst die ‚kollektive Subjektivität‘ und erkannten die eigentliche künstlerische Produktivität in der individuellen Schaffenskraft, die über die Gemeinschaft potenziert werden konnte. Und auch in der gemeinsamen Arbeit heutiger Kollektive zeigt sich, dass die Bestrebungen der Gruppe den einzelnen Subjekten ausreichend Raum für die individuellen Impulse lassen müssen, um eine auf Dauer gestellte Zusammenarbeit überhaupt möglich machen zu können. Dass die Besucher performativer Kunstprozesse zudem seit den 1960ern zunehmend Teil eines gemeinsamen ‚Wahrnehmungskollektivs‘ wurden, liegt auch darin begründet, dass die Subjektivität der Künstler nicht mehr destabilisiert wird. In den Ismen der historischen Avantgarde hat sich gezeigt, dass sich die Künstler durch diese Destabilisierung ihrer eigenen Wünsche, Ideen und Motive beraubten und die Gruppe entweder verließen oder Konflikte heraufbeschworen. Da die Einzelarbeit in der zeitgenössischen Gruppenarbeit ihren (Individual-)Wert behält, kann die Inklusion weiterer Teilnehmer als produktive Ergänzung verstanden werden, obschon die daraus resultierende Unvorhersehbarkeit gleichermaßen auch Nachteile mit sich bringen kann, die im Kapitel Ein neues Sehen? erläutert werden. Für die performativen Künste ist der Unterschied zwischen frühen avantgardistischen und zeitgenössischen Kollektiven auch noch auf einer anderen Ebene auszumachen. Dadurch, dass sich das künstlerische Material viel stärker dem Immateriellen anverwandelt hat und sich deshalb Objekte oder Aufführungen vielfältiger gestalten, mitunter von vorne herein negiert werden, gerät das gemeinsam kreierte Ereignis, die Aktion oder Performance in ein verändertes Verhältnis zu den daran Teilhabenden. Wurde bei den Abstrakten Expressionisten die Aktion noch als rein rezeptionsästhetische Erweiterung verstanden, die sich zwar im Rahmen eines prozessualen Aktes am Bild abspielte, jedoch immer noch an dieses gekoppelt war, wird der Bildträger oder das ‚analoge‘ Werk heute um ephemere Ereignisse oder kurzzeitige Installationen ergänzt. Im Sinne einer Musealisierung, Archivierung, künstlerischen Tradierung oder just Erinnerung ist das kollektive Gedächtnis der Performer und Rezipienten deshalb für den performativen Akt sowie dessen Rekonstruktion oder Wiedergewinnung richtungsweisend geworden. Im folgenden Kapitel wird diese Relation zwischen Künstler und Rezipient noch einmal ausführlich aufgegriffen und expliziert.
Künstler/Zuschauer
P ERFORMATIVES T UN I: V IA N EGATIVA – H UNT FOR THE R EAL In der Lecture Performance Hunt for the Real1 bildet der Text Erasing the Audience von Blaz Lukan das theoretische Fundament. Verlesen vom künstlerischen Leiter des Kollektivs Via Negativa, Bojan Jablanovec, wird der Text, der sich der Relation zwischen Performern und Zuschauern widmet, zum Stichwortgeber. Zu allererst für die Performer selbst, die im Folgenden kurze Sequenzen aus ihrem PerformanceRepertoire an den entsprechenden Stellen auf die Bühne bringen. Jablanovec, der als Dramaturgie-Professor an der Theaterakademie Ljubljana tätig ist, holt über seinen Text das performative Ereignis auf die Bühne. Via Negativa lenken dabei den zuerst verschriftlichten, dann gesprochenen, hernach gehörten und abschließend ins Theatrale überführten Text ins Zentrum des Zuschauerblicks. Dies nun geschieht auf verschiedenen Ebenen. Als erstes ist da der oral vorgetragene Text. Mittels Beamer werden Photographien auf eine Leinwand projiziert, die willkürlich erscheinen. Zwischendurch wird der Vortrag von den Geräuschen eines PhotoDruckers gestört, der ein zu Beginn der Performance geschossenes Photo mitsamt einer Performerin und den Zuschauern ausdruckt. Hinzu kommen abrupte Einspielungen von Musik. Und dann sind da die Performer, die die von Jablanovec vorge-
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Die Performance Hunt for the Real von Via Negativa fand am 17. November 2011 im Forum Freies Theater in der Spielstätte Juta im Rahmen der internationalen Ko-Produktionsreihe des FFT, exposed. grenzen der schaulust, statt. Das Stück war das erste Stück der Performanceserie Via Nova, welche die slowenischen Künstler aus Ljublijana in Düsseldorf an drei Abenden auf die Bühne brachten. Naked Presence, die zweite Performance, fand in der Düsseldorfer Kunsthalle statt, Ja Ja Ja Nee Nee Nee in den Kammerspielen des FFT. Alle Performances setzten sich aus unterschiedlichen Sequenzen der 17 Einzelarbeiten zusammen, die seit der Gründung des Kollektivs 2002 entstanden waren.
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tragenen Performancebeschreibungen live performen. Das Setting für diesen ersten Einstieg in Hunt for the Real besteht aus einer bewusst oppositionell gehaltenen Sitzordnung, die das konfrontative Gegenüber von Zuschauern und Performern verdeutlichen soll. Die sieben Performer, inklusive Lecturer Jablanovec, sitzen auf Stühlen vor einer ebenerdigen Freifläche, die wohl deshalb den Gestus einer Bühne vermittelt, weil sie sich in einem Theater befindet und der Stuhlreihung für die Zuschauer gegenüberliegt. Vorhänge gibt es nicht, der Raum ist erleuchtet und wird auch nicht abgedunkelt, um die Zuschauer in diesem Dunkel als unsichtbare Masse versinken zu lassen. Daraus folgt: Alle anwesenden Personen befinden sich auf der vermeintlichen Bühne. Nach dem Ende des Vortrags und den szenischen Live-Einspielern bildet die nächste Performance mit Grega Zorc, Barbara Kukovec und Boris Kadin einen radikalen Bruch mit dem in gewisser Weise akademischen Gestus zuvor. An ein Nummerngirl erinnert Barbara Kukovec, als sie in ihrer knappen Kleidung mit einer Packung I love Milka-Schokolade vor die Zuschauer tritt. Dort beginnt sie, ein Schokoladenherz nach dem anderen in ihre Vagina einzuführen. Der so geleerten Packung folgt die nächste, danach eine weitere halbe. Zwei Herzen hat sie sich zudem auf die Augen gelegt. Damit sie nicht herunterfallen, überstreckt sie den Kopf in den Nacken. Sehen kann sie auf Grund der zerlaufenden Schokolade nichts mehr, blind sucht sie nach den Schokoladenherzen in der Schachtel, der Kopf beginnt zu zittern, irgendwann passen keine weiteren Herzen mehr in ihr Geschlecht. „Oh Gott“-Ausrufe oder leise Zischgeräuche in den Zuschauerreihen durchziehen den kleinen Raum. Diese Konfrontation von Künstlern, Zuschauern und Handlungsvollzügen ist für Jablanovec maßgeblicher Ausgangspunkt der Kommunikation in den performativen Künsten: „Each story or situation in front of a spectator is there in order to communicate something, to make a statement, to make a person (spectator) you’re talking to recognize and feel something.“ (Zit. nach Laveyne 2010: o.S.) Der Schokolade folgt die Rote Beete. Hierfür füllt Grega Zorc Rote BeeteGläser in eine Schüssel um und greift mit den Händen in die Schüssel. Er durchmischt sie und stopft die Rote Beete in die Hemd- und Hosentaschen seines weißen Anzuges. Dabei erklärt er den Anwesenden, dass Rote Beete gesund sei und gibt detailliert Auskunft darüber, gegen was es als hilfreiche Medizin angewendet werden könne. Am Schluss, als sich fast nur noch Rote-Beete-Saft in der Schüssel befindet, taucht er seinen Kopf darin ein. Lange. Das japsende Herausreißen des Kopfes lässt auf sich warten. Als Zorc den doppelt geröteten Kopf aus dem Saft zieht, atmen viele Zuschauer laut durch. Zorc schlendert in eine Ecke des Raumes, trocknet sich ab und wechselt die Kleidung. Was bleibt ist die hartnäckigen Rote-BeeteRöte an den Händen. Während der Aktionen von Zorc und Kukovec hat sich Kadin im hinteren Teil der Bühne niedergelassen. Er nimmt sich zwei große Brotlaiber vor, um sie auszuhöhlen. Danach steigt er mit den Füßen in die Brote und funktio-
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niert sie zu einem übergroßen Schuhwerk um. Hernach beginnt er, sich Schinkenstücke ins Gesicht zu kleben. Es ist das Fett der Wurst, das das Fleisch haften lässt. Die Art und Weise, wie diese drei Aktionen nebeneinander stattfinden, gleicht den in dieser Arbeit beschriebenen collagierten Abenden von Surrealisten oder Dadaisten, in denen parallele und unzusammenhängende Performances an- und ineinandergefügt wurden. Die Künstler eignen sich Alltagsgegenstände, hier dezidiert Lebensmittel, an, deren eigentliche Funktion keine Rolle mehr spielt. Nichts wandert in den Mund, alles in oder an andere Körperteile. Abbildung 13: Via Negativa: Hunt for the Real
Quelle: Marcandrea/Via Negativa
Uros Kaurin kommt hinzu, der ganz zu Beginn dieser Aktionen als Clown maskiert und mit einem Bademantel bekleidet davon gesprochen hatte, nicht Teil dieser unsinnigen Performance werden zu wollen. Stattdessen sei ihm daran gelegen, sich zu verweigern. Er beginnt, eine 0,5-Liter-Flasche Bier nach der anderen zu leeren. Ohne aufsehenerregende Exaltiertheit, vielmehr belanglos und auffallend zügig. Schnitt!
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Jablanovec ignoriert die Performer und fährt mit seiner Lecture fort. In der dadurch neu beginnenden nächsten Teilperformance namens Buyer with an eye, philosophiert er über den Wert von Kunst. Katarina Stegnar betritt die Bühne und hält einen 10-Euro-Schein in die Höhe. Dieses Eintrittsgeld hätten die Zuschauer für diesen Abend investiert. Die Zuschauer trügen also Verantwortung, denn nur durch ihr Geld könne Kunst entstehen. Im Gegenzug erhielten sie für diesen Wert Kunst. Die Marx’schen Gedanken von Tausch- und Gebrauchswert durchweben den Vortrag und werden zugleich performativ nachvollzogen. Der Tauschwert meint hier jenes bezahlte Geld, welches die Erwartungshaltung der Zahler an die Performer heranträgt, den Tausch ihrerseits zu erfüllen. Inwieweit den Zahlenden das Gesehene nützlich erscheint, vermittelt sich im Gebrauchswert. Walter Benjamin und nach ihm insbesondere Boris Groys haben darauf hingewiesen, dass „der Kapitalismus eine reine Kulturreligion“ sei und somit „[d]er Kult der kapitalistischen Religion […] natürlich ein Kultus der Ware [ist]“ (Groys 2003: 64 f.). Diesen Kultus der Ware beschwört die Performance, indem Katarina Stegnar den Euro-Schein mit ihrem eigenen Blut beträufelt, ihn in ein verglastes Kästchen legt und auf dem Glas ihre Unterschrift hinterlässt. Das Geld ist zum Artefakt geworden und so fordert sie die Zuschauer auf, hierfür zu bieten. Das Geld erhält einen weiteren Verwendungszweck. Einerseits handelt es sich bei dem Geldschein um einen für diese Performance investierten Betrag. Andererseits ist gerade wegen des nicht vorhandenen Werts der Vorgang Stegnars möglich, nämlich, den Gebrauch zu verändern und ihn in ein anderes Tauschgeschäft zu überführen. Boris Jablanovec formuliert derweil, dass das Kollektiv sich wie alle anderen Menschen auch dem Marktwert unterwerfen müsse und die Performance zur „pure economic relationship of exchanging the values“ werde. Parallel aber degradiere Stegnar die symbolische Bedeutung des Geldes, mache es zu einem „stage prop“ (zit. nach Laveyne 2010: o.S.) und kreiere es als Kunstwerk. Die Auktion bleibt bis zum Ende konfus. Es herrscht offensichtliche Unsicherheit bei den Zuschauern, ob man am Ende tatsächlicher Besitzer des Objektes würde, biete man mit. Unklar ist auch, ab welchem Preis man für das in einer Performance hergestellte Kunstwerk einer relativ unbekannten Performancegruppe in den Handel einsteigt. Das Verhandeln zwischen Performern und Zuschauern endet auch dann nicht, wenn Stille herrscht. Das Nonverbale, jedes Zögern, jedes Nachdenken oder Reflektieren wird zum unerlässlichen Movens für den weiteren Verlauf. Der künstlerische Akt, dem die Teilnehmer beiwohnen, wird spätestens dann zur Realität, wenn man für das Geld den blutbefleckten Schein im Glaskasten mit nach Hause nehmen kann. „Our aim is simple: to give the audience and ourselves a chance to be alive in this artificial situation“ (zit. nach Laveyne 2010: o.S.), verdeutlicht Jablanovec. So lange man diesen Raum also nicht verlässt, bleibt man Teil der Performance, der dadurch ausgelösten Erfahrungen, angestellten Vermutungen und fiktionalen Realitäten. Oder umgekehrt?
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In ihrem Programmheft widmen sich Via Negativa mit Bezug auf Alain Badiou detailliert der Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Realität. Nach Badiou kann nichts „‚beweisen, dass das Reale auch tatsächlich real ist – es sei denn im System der Fiktion, wo es die Rolle des Realen spielen kann.“ (Zit. nach Via Negativa 2010: o.S.) In den performativen Künsten werde dieses Vermischen immerzu perpetuiert. Es ist eine Testfläche, mit der das Reale gesucht und erprobt wird. Der Titel Hunt for the Real soll in dieser Hinsicht verstanden werden. Katarina Stegnar offeriert aber nicht nur ihr Blut. Sie drückt nunmehr fünf männlichen Besuchern Klingeln in die Hand und fordert sie auf, gemeinsam mit ihr einen Walzer zu intonieren. Nach mehrfachen disharmonischen Versuchen schiebt sie ihren Rock hoch, so dass der Blick auf ihre Scham frei wird. Wer mit der Klingel läute, erklärt sie, dem gäbe sie sich hier und jetzt hin. Stille. Überrascht blickt sie zu den Männern auf und fragt, ob sie nicht attraktiv genug sei? Sie wiederholt die Aussage. Erneute Stille. Ein weiteres Mal bietet sie den Herren an, mit ihr hier Sex haben zu können, doch wieder klingelt keiner. Anspannung, Neugier, offensichtlich auch Beklemmung erfüllen den Raum. Wie weit würden Performerin und Zuschauer gehen, wenn ein Klingelton fiele? Unausgesprochen verbleibt diese Frage im FFT. Stegnar zieht den Rock wieder herunter und blickt auf eine Videoprojektion an der Wand. Zu sehen ist Pina Bauschs Stück Le Sacre du Printemps, in der Bausch mehrmals mit dem Gesicht gegen eine Plexiglasscheibe stößt und danach zusammenbricht. Stegnar, ausgebildete Tänzerin, möchte diese Sequenz mit einem Ko-Akteur aus dem Publikum nachstellen. Der Zuschauer soll sie in diesem Zustand des Zusammenbruchs begleiten. Als der ausgewählte Mann nach kurzem Zutun wieder zu seinem Platz gehen soll, stürzt die Tänzerin zu Boden und bleibt liegen. Der Zuschauer schaut sich kurz um, zögert, kehrt jedoch nicht zu ihr zurück, sondern geht zu seinem Platz, ohne ihr aufzuhelfen. Irritiert schaut die Performerin dem Mann nach. Es sind kurze Einwürfe wie diese, die all jene ethischen Fragestellungen zur Verhandlungssache machen, die spätestens seit der Performance Art in den 1960er Jahren gängiges Vokabular zu sein scheinen und doch in jeder einzelnen Situation immer wieder neu verhandelt werden müssen. Partizipatives Aushandeln, das in Komik aufgeht, zeigt sich in der Performance Fontaine. Der seit dem Entleeren der oben angesprochenen Bierflaschen nicht mehr in Erscheinung getretene Boris Kadin tritt erneut vor die Sitzreihen der Zuschauer. Leicht angetrunken gibt er zu verstehen, dass er nicht nichts produziere. Im Gegenteil. Sein Körper sei die ganze Zeit im Prozess und produktiv. Für einen Beweis greift er nach einer durchsichtigen Plastikflasche und uriniert hinein. Die Zuschauer lässt er dabei wissen, dass Künstler innovativ und kreativ sein müssen. Und doch habe man auch Müll zu wertschätzen, denn dieser könne immer und immer wieder verwertet und weiterverarbeitet werden. Analog zu Marcel Duchamps Fountain kündigt er an, nun selbst zur Fountain zu werden. Klassische Musik von Verdi dringt durch die Lautsprecher. Der Performer beginnt den Urin in seinen Mund
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fließen zu lassen und parallel zu den Tönen sprudelnd in die Luft zu spritzen. Die Zuschauer der ersten Reihe versuchen, den Urintropfen auszuweichen, hier und da sind „Ih“- oder „Igitt“-Zwischenrufe zu hören, viele lachen ob der Absurdität dieser Aktion. Das Ende des Zyklus’ Hunt for the Real leitet erneut Uros Kaurin ein, indem er sich bis auf die Unterhose entkleidet und auf alle Viere begibt. Er beginnt wie ein Hund zu bellen und mit einem Ball zu spielen. Erwartungsvoll wirft er diesen in die Zuschauerreihen und wartet hechelnd, dass die Fänger den Ball wieder zurückwerfen. Nach und nach entledigen sich die anderen Performer ebenfalls ihrer Kleidung und wollen allesamt den Ball für sich gewinnen. Das Bellen und Kläffen wird immer lauter, das Hecheln exzessiver. Der Schweiß, der sich nach einiger Zeit auf den Körpern der Performer bildet, zeugt von der körperlichen Verausgabung. Hektik und Lärm dringen durch den Raum. Auf Geheiß Jablanovecs soll ein Zuschauer den Ball, der mittlerweile spuckfeucht ist, festhalten. Uros Kaurin versucht das Spielgerät zurückzuerobern und den kurzzeitigen Ballbesitzer zu überreden, ihm diesen auszuhändigen, doch der Zuschauer bleibt konsequent. Abbildung 14: Via Negativa: Hunt for the Real
Quelle: Marcandrea/Via Negativa
Die nonverbale Ebene der Kommunikation wird zum zentralen Element für den Fortgang der Performance. Keine Partizipation ohne Kommunikation. Keine Teilhabe ohne das dialogische Verhältnis zwischen Zuschauer und Künstler. Am Schluss der Performance wird dieses Verhältnis explizit. Die Performer stehen schwitzend in einer Reihe. Grega Zorc dankt den Zuschauern schwer atmend
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für diesen Performance-Abend. Sie seien es, die diesen überhaupt möglich gemacht hätten. Jeder Zuschauer wird als Einzelakteur gefeiert. Dann: Stille. Die Performer bleiben in einer Reihe stehen und blicken erwartungsvoll zu den Besuchern. Diese harren gleichermaßen aus. Fest steht alsbald: Der konsequente Abschluss des ‚Rollentauschs‘ liegt im Warten der Performer auf den Abgang der zuschauenden KoAkteure. Weitere Minuten vergehen, bis sich die ersten von ihren Sitzen erheben. Kein Applaus auf der einen Seite der Bühne, kein gemeinschaftlicher Bühnenabgang auf der anderen. Stattdessen streben die Teilnehmer dem Ausgang entgehen, laufen an den Künstlern vorbei, einige bedanken sich. Viele aber bleiben sitzen. Mitten in diesem Geräuschwirrwarr beginnt Grega Zorc über Erwartungshaltungen im Theater zu sprechen. Manche kommen vom Ausgang wieder zurück, einige bleiben auf der Bühne, die sie überquert haben, stehen, wieder andere setzen sich noch einmal hin. Als Zorc das Sprechen einstellt und minutenlang erneut nichts geschieht, bricht der nächste Schwung Besucher auf. Nicht alle, aber ein paar. Das Geduldspiel geht weiter. Am Ende ist kein Ende. Es bleibt ein unentwegtes Produzieren (vgl. Via Negativa 2010: o.S.).
M OMENTE
DER
P ARTIZIPATION „Kunst ist eine Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert; man hört nicht auf zu leben solange man damit beschäftigt ist, Kunst zu machen und wenn man lebt ... hört man nicht auf mit dem Machen von Kunst beschäftigt zu sein.“ (JOHN CAGE) 2
Im vorangegangenen Kapitel zum Verhältnis von Künstler und Künstlerkollektiv wurde bereits angedeutet, dass der Kollektiv-Begriff nicht nur das Verhältnis der Künstler untereinander, sondern auch jenes der Künstler zu den Zuschauern umfasst. Wurde der Fokus dabei auf die Künstlerseite gelegt, geht es mir im Folgenden insbesondere um die Relation, die sich zwischen Künstlern und Zuschauern herstellt. Gemeint ist die Partizipation, die im Sinne einer ästhetischen Teilhabe nicht nur die Produktions-, sondern insbesondere die Rezeptionsprozesse beeinflusst. Mit diesem Kapitel möchte ich mich deshalb nicht nur aktuellen Problemstellungen widmen, die der partizipative Ansatz in der Kunst impliziert, sondern einmal mehr über einen Rückblick auf die (Neo-)Avantgarde nach Ursprüngen suchen, ohne die heutige performative Arbeiten nicht auskommen würden. Konzentriert werde ich 2
Zit. nach Diederichs 1975: 165.
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hierfür die Happening- und Fluxuskunst betrachten, die hinsichtlich des sich verändernden Künstler-Zuschauer-Verhältnisses wegweisend für die sich ab den 1970er Jahren konstituierende Performance Art gewesen ist. 1975 verknüpft Frank Popper in seinem Band Art – action and participation, die für ihn wesentlichen Punkte der sich damals wandelnden Kunst: Das Environment und die Partizipation des Betrachters. Für den Autor liegt diese Entwicklung auf der Hand, da die kinetische Kunst bereits von 1860 an damit begonnen hatte, die Blickwinkel, Um-Räume, vor allem aber die ästhetische Erfahrung des Rezipienten maßgeblich zu verändern. Im Zuge einer „total response“ (Popper 1975: 10) steht der Rezipient nicht mehr nur kontemplativ der Kunst gegenüber, sondern kann sich ihr auch physisch keineswegs mehr entziehen. Dieser physische Einbezug, die neuen installativen Anordnungen, die Relevanz des (öffentlichen) Raumes, vor allem aber auch die Bezugnahme auf den und/oder das Gegenüber sind auf die „disappearance of the ‚object‘ in art“ (Popper 1975: 13) zurückzuführen. Die Reduktion des vormals mitunter sakralisierten und auch ritualisierten Umgangs mit Kunstobjekten verstärkt den subjektiven Einbezug und verlagert die Bewegungsmodi, die bis dato mit Kunst verbunden wurden. Die statische Betrachtung wird zunehmend erweitert durch die eigendynamische Umrundung und Aneignung eines Kunstwerks. Zeitgenössische Autoren wie Nato Thompson beschreiben die „‚participatory art‘“ (Thompson 2012: 21) als Kunst, die „some action on behalf of the viewer“ bedürfe, um überhaupt vervollständigt werden zu können. Für Thompson stellt sich innerhalb der „[s]ocially engaged art“ (Thompson 2012: 18) die Frage nach der Relation von Leben und Kunst seit den 1990ern neu. Dabei zielt er auf jenen Aspekt der Partizipation ab, der die „methods of working“ in den Mittelpunkt stellt, welche „genuine interpersonal human relationships“ (Thompson 2012: 21) in den Blick nehmen, um innerhalb dieser politische, soziale und ästhetische Fragestellungen ineinanderlaufen zu lassen. Die Do It Yourself (DIY)-Bewegung hatte damit Anfang der 1990er Jahre im Anschluss an die Künstler der 1960er Jahre die Verbindung von Leben und Kunst nicht nur erneut salonfähig gemacht, sondern mit sozio-politischem Anstrich auch an Konzepte der Nachhaltigkeit gekoppelt. Anna Dezeuze beschreibt die so entstandenen Kunstwerke als „artistic practices, that require an active physical and/or conceptual participation on the part of the spectator.“ (Dezeuze 2010: 1) Formale Kriterien wurden dahingegen irrelevant. Die Do It Yourself-Kunst entstand „only through a potential participation. The verb ‚do‘ suggests an emphasis on process and actions to be performed by an active spectator in real time and space, while the pronoun ‚it‘ remains open, as the result of this process will be determined by each individual’s unique personal experience.“ (Dezeuze 2010: 4 f.) Dezeuze verdeutlicht, dass im Zuge der „second wave of do-it-yourself practices“ (Dezeuze 2010: 4) in den 1990ern insbesondere Nicholas Bourriaud und
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Hans-Ulrich Obrist zu federführenden Vorreitern wurden. Letzterer mit seinem Do it-Projekt3, Ersterer mit seinen Ausführungen zu den Relational Aesthetics, die bereits im Kapitel Zum Utopischen in der Kunst Erwähnung fanden. Die zeitlich darauf folgende Veränderung der Zuschauerbeteiligung durch „user-generated content on the web“ (Dezeuze 2010: 5) schlug dann ein völlig neues Kapitel für DIYKünstler auf. Insbesondere das Verhältnis von potentiellen oder aber auch reglementierten Einflussmöglichkeiten der Teilnehmer bietet seither erweiterten Diskussionsbedarf. Einerseits erscheint das Netz als schrankenloser Ort subjektiver Eingriffsmöglichkeiten, andererseits funktionieren Vorgaben oder Begrenzungen hier weniger über vom Künstler zugelassene materiell sichtbare Elemente. Vielmehr kann der Grad der Teilnahme im virtuellen Raum durch datenspezifische Ordnungssysteme reguliert werden, deren subversives Unterlaufen nur mittels Hacking möglich erscheint. Wie ausgewogen partizipative Praxen den Aspekt der gleichberechtigten Teilhabe zwischen Künstlern und Rezipienten gestalten, ist und bleibt den anordnenden Personen überlassen. Zumeist sind das die Künstler. Und doch ist im Moment der Veröffentlichung der Raum für jedwede Zerschlagung ursprünglicher Konzeptionen gegeben. Künstler, so stellt Groys fest, sind immer auch auf die Aufmerksamkeit der Zuschauer angewiesen. Es ist ihre Bewertung, die am Schluss auch über den Marktwert von Objekt und Künstler entscheidet. Dezeuze ergänzt dies um den Fakt, dass „experience itself“ mittlerweile zur „economic commodity“ (Dezeuze 2010: 16) geworden ist. Die Abhängigkeiten, die durch diese Relation zwischen Künstler, Zuschauer und künstlerischem Prozess entstehen, nehmen Einfluss auf jeden einzelnen dieser Akteure. Weil diese innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs stehen, zeigt sich, dass die Debatte um die autonome Kunst kaum aufzulösen ist. Gerade mit dem Einzug partizipatorischer Arbeitsweisen in die Kunst gerät die Autonomie in Gefahr. Zum einen, weil die soziale Ordnung und damit einhergehende Regelsysteme immer schon Teil des künstlerischen Arbeitens sind. Zum anderen, da durch diese soziale Aneignung auch die Auswirkungen innerhalb dieser sozialen Ordnung und den damit in Kontakt stehenden Menschen spürbar werden und gerade nicht im Rahmen einer isolierten künstlerischen Parallelwelt. Hat sich die avantgardistische Parole nach der Ineinanderführung von Kunst und Leben damit seit den 1990ern doch verwirklicht und die Autonomie des Kunstwerks über den ‚Gehilfen‘ Partizipation aufgehoben? Auch gegen Ende dieser Arbeit bleibt für mich der kritische Einwand an einer gänzlichen Aufhebung der Autonomie, den Adorno, Bürger oder Rebentisch erheben, plausibel und wichtig. Die „spezifische Erfahrung“, die Kunst ermöglichen kann, steht im maßgeblichen Zusammenhang zur „autonomen Logik des Ästhetischen“ (Rebentisch 2003: 279). Gerade bei per3
Für nähere Informationen, siehe den von Obrist herausgegebenen Band Do it (2013).
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formativen Kunstwerken ist diese Erfahrung für Künstler und Rezipient notwendig, um das Werk prozessual mitgestalten zu können. Soziale Rahmung und ästhetischer Handlungsraum kollaborieren dabei unmissverständlich und doch verbliebe die Arbeit im Sozialen ohne den ‚ästhetischen Partner‘ wirkungslos. Das subversive Rütteln am Bestehenden kann nur über die Berufung auf ästhetische Strategien, die wiederum an die von Rebentisch erwähnte ästhetische Logik anschließen, eine spürbare Wirkmächtigkeit erlangen. Die Partizipation erreicht deshalb nicht über die permanente Abgrenzung Relevanz, sondern über den gemeinschaftlichen Prozess inmitten von gesellschaftlichen und ästhetischen Kontexten. Zu fragen wäre im Anschluss an Thompson deshalb nicht danach, was Kunst, sondern vielmehr, was Leben ist. Die Verbindung zwischen Künstlern und Zuschauern lässt Überschneidungen zu, die mit immer neuen Fragestellungen einen redundanten und um sich selbst zirkulierenden Kunstkreislauf problematisch werden lassen. Auf welche Weise dies geschehen kann zeigt sich in den Performances, die in dieser Arbeit beschrieben werden. Die Arbeiten von Showcase Beat Le Mot, Via Negativa, SIGNA oder Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder zeigen, dass die ursprüngliche Bestimmung, die um die Begriffe Zuschauer, Künstler, Bühne, Kollektiv oder öffentlicher Raum rankt, zu Fall gebracht wird (vgl. Dezeuze 2010: 1 ff./Groys 2008: 20 f./Popper 1975: 7 ff./Rebentisch 2003: 279/Thompson 2012: 21 ff.). Dies nun geschieht mittels kommunikativer Prozesse, die wie ein Netzwerk die teilnehmenden Subjekte und Objekte miteinander verknüpfen. Immer häufiger erfolgen diese auf digitale Weise. Die Partizipation wird auch in den kommenden Jahren die Auseinandersetzung damit suchen müssen: „Die Internet-Revolution, die in den Neunzigerjahren angetreten war, um durch Dezentralisierung, Kooperation und Transparenz neue Möglichkeiten individueller und kollektiver Freiheit zu schaffen, ist in ihre gegenrevolutionäre Phase eingetreten“ (Stalder 2014: 10), formuliert Felix Stalder. Zwar sind Modelle der Teilhabe über die neuen technischen Plattformen einfacher und schneller geworden, jedoch erweist sich die dadurch errungene vermeintliche Freiheit als zweischneidige. Die kommunikative Funktion ist im Sinne der Dezentralisierung breiter gestreut denn je, die Abhängigkeit von den verwendeten Datenströmen und ihren virtuellen Besitzern hat die Freiheit aber vielfach auch beschränkt. Nicht erst seit der durch Edward Snowdon enthüllten Erkenntnis über die Ausspähung von sensiblen und dem Datenschutz unterliegenden Informationen werden die Funktionen von Teilhabe in Frage gestellt. Weil aber die webzentrierte Kunstproduktion und darüber generierte Vermarktungswege aus den performativen Künsten nicht mehr fortzudenken sind, ist Kunst dazu angehalten, kritisch mit ihren eigenen ‚Sprachrohren‘ umzugehen. Es zeigt sich, dass Partizipation keinesfalls in eine gleichgültige ‚Ja-Sage-Mentalität‘ verfallen darf, in der der ‚Gefällt mir‘-Button bei Facebook zum Synonym für demokratische Teilhabe wird. Vielmehr kann mit Hilfe performativer Künste eine Sensibilität für dieses kollektive Tun der Mitbestimmung entstehen, das im anonymen Rahmen webzentrierter An-
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ordnungen durchaus problematische Auswirkungen haben kann. Markus Miessen und Hannes Grassegger greifen diesen Aspekt in ihrem Band Albtraum Partizipation auf. Darin erkennen sie in der Partizipation, die insbesondere online jederzeit möglich ist, „keine Lösung, sondern ein Organisationsmodell.“ Für eine „[e]chte Demokratie“ ist gleichwohl nicht nur ein sporadisches Mitmachen bedeutsam, sondern die „persönliche Verantwortung und Beschäftigung mit einem Thema.“ Der „pseudopartizipativen Scheindemokratie“ muss mit „[r]eale[n] Personen“ (Miessen/ Grassegger 2012: 10) begegnet werden, die die Allgemeinheit nicht ausschließt, sondern vielmehr in die Verantwortung nimmt. Indem jeder fortan zum „Autokraten“ (Miessen/Grassegger 2012: 11) werde, könne dem partizipativen Albtraum begegnet werden. Die Autokratie, die per se erstmal keine Legitimität durch andere benötigt und im Sinne eines Selbst-Herrschens zu verstehen ist, halte ich als Begriff in dieser Debatte jedoch für allzu belegt, dennoch ist das kritische Einfordern tatsächlicher Anwesenheit und realem Rückbezug ein wichtiger Aspekt. Die Autoren transferieren die Problemstellung auf die Architektur und erkennen eine mögliche Alternative in einem fragestellenden Außenseiter, der in künstlerische Projektprozesse involviert wird. Da demokratische Prozesse immer in Bewegung und nicht auf ein Ende hin zu denken sind, wird die „proaktiv[e]“ (Miessen/Grassegger 2012: 193) Teilhabe notwendiger denn je. In künstlerischen Prozessen setzt sich die interdisziplinäre und kollektive Arbeit verstärkt durch, eben darum können ‚Außenseiter‘ aus anderen Interessensbereichen den Dialog für nachhaltige Lösungsoptionen vorantreiben. Dabei müssen die „Rahmenbedingungen glasklar“ und „unmissverständlich[...]“ (Miessen/Grassegger 2012: 194) sein, damit man innerhalb dieser „Substrukturen unklar“ bleiben könne, um am Ende wiederum produktiv zu werden. Es zeigt sich: Die Produktivität eines kollektiven Prozesses reduziert sich gerade nicht, wenn alle Teilnehmenden um eine gemeinsame Anordnung wissen, sondern ermöglicht erst eine dauerhafte Wirkung. In dieser Rahmung nun sei die „Kollationierung konfliktueller Stimmen und Perspektiven“ von Gewicht. Nur durch diese könne das „Handlungspotenzial“ (Miessen/Grassegger 2012: 195) angeregt werden, das für kreative Produktionsprozesse nötig sei. Für die Kunst hat sich durch die Verstärkung kollektiver4 Entscheidungsfindungen und entsprechender Teilhabe viel verändert. Nicht nur Medienkritiker, sondern auch Autoren wie Miessen und Grassegger befördern den Ruf nach körperlicher Ko-Produktion und Sichtbarkeit der Teilnehmer. In den Avantgarden ist diese Ko-Produktion vor allem durch die 4
Auf die engen Zusammenhänge und möglichen Überschneidungen zwischen diesem und dem vorangegangenen Kapitel, habe ich bereits hingewiesen. Es zeigt sich darüber hinaus, dass nicht nur die Parametertopoi Künstler und Kollektiv miteinander verknüpft sind, sondern diese immer auch im Verhältnis zu den Parametern Fortschritt und Utopie stehen.
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Künstler des Happening und Fluxus konsequent vorangetrieben worden. Bevor diese konkreter betrachtet werden, soll vorab jedoch noch ein historischer Rückblick zum Verhältnis von Künstler und Zuschauer angestellt werden, um theoretische Grundgedanken herzuleiten, die maßgeblich für den Perspektivwechsel von der Produzenten- auf die Rezipientenseite waren und die Basis für partizipative Strategien legten (vgl. Miessen; Grassegger 2012: 7 ff.; 187 ff./Stalder 2014: 10).
D AS V ERHÄLTNIS
ZWISCHEN
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Über die Ästhetik zur Freiheit Ansetzen möchte ich hinsichtlich dieses Perspektivwechsels bei Friedrich Schiller. Der Dramatiker und Philosoph hatte mit seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) dem damaligen Verhältnis von aktivem Künstler und passivem Zuschauer innerhalb des Theaters eine Streitschrift entgegengestellt. Von nun an sollten Kunst (und die Schönheit) eine neue Funktion erhalten, nämlich „den Menschen menschlich und frei“ (Matuschek 2009: 129) machen. In seinem Kommentar fasst Stefan Matuschek zusammen, dass laut Schiller die künstlerischen Produzenten den Menschen keine „schöne oder künstlerische Darstellung erzieherisch wirksamer Inhalte“ (Matuschek 2009: 129) mehr als Lernvorlage vorsetzen sollten. Stattdessen erhoffte er sich, dass die Partizipierenden durch die Schönheit und die Kunst ihre ganz subjektiven Erfahrungen von Menschlichkeit und Freiheit machen würden. Alleinig durch die kunstspezifische Schönheit könnte der Mensch auf sich und seine Erfahrungen zurückgeworfen und darüber zur Freiheit innerhalb der Gesellschaft gelangen. Im Zweiten Brief der ästhetischen Erziehung proklamierte Schiller, dass die politischen Problematiken der Gesellschaft ihren Weg „durch das [Ä]sthetische“ (Schiller 2009: 13) nehmen. Für Schiller erwies sich die „schöne Kunst“ (Schiller 2009: 35), wie er es im Neunten Brief ausführte, als „Werkzeug“, mit Hilfe dessen der menschliche Charakter, trotz der „Einflüsse[...] einer barbarischen Staatsverfassung“ (Schiller 2009: 35) veredelt werden konnte. Auch wenn es dem „politischen Gesetzgeber“ möglich wäre, das „Gebiet“ der Kunst „zu sperren“, bliebe ihm die Herrschaft genau darin verwehrt. Schiller forderte in diesem Brief die jungen Künstler auf, sich ihrer Rolle als ästhetische Erzieher klarzuwerden und damit einen gesellschaftlichen Auftrag wahrzunehmen. Der Zuschauer 5 wurde im Kantischen Sinne hinsichtlich seiner Mündigkeit, Menschlichkeit und Freiheit adressiert und sollte dieser im Zuge der schönen Kunst näherkommen. In diesem Zusammenhang entwarf Schiller im Vierzehnten Brief den 5
Den Begriff Zuschauer verwendet Schiller in seinen Briefen nicht.
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„Spieltrieb“ (Schiller 2009: 58) als wegweisenden Begriff für seine ästhetische Erziehung. Neben dem „Sachtrieb“, als dem, „was die reale, physische Existenz des Menschen aufrechterhält“ und dem „Formtrieb“, als jenem Trieb, der „aus dem Physischen hinaus aufs Ideelle aus[ge]richtet [ist; PG] und dieses Ideelle in der Realität zur Geltung zu bringen versucht“ (Matuschek 2009: 177), vereinte der Spieltrieb beide Forderungen dieser Triebe. Der Fünfzehnte Brief Schillers rekurriert implizit auf Kants Kritik der Urteilskraft. An dieser Stelle erörterte Schiller, dass das ästhetische Urteil nicht aus dem Gegenstand heraus entstehen würde, sondern durch den Betrachter und dessen Spiel mit dem wechselweisen Auftreten von Verstand und Eingebung. Schiller folgte Kants Gedanken 6, grenzte sich laut Matuschek dennoch insoweit von Kant ab, als er der Schönheit eine „objektive Bestimmung“ (Matuschek 2009: 183) und dem Gegenstand einen Wert zugestand. Kant hingegen negierte dies. Beide verband dagegen in zentraler Weise das Spiel. Schiller hob hervor, dass der Mensch nur dort spiele, „wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller 2009: 64) Dass der Mensch auf diese spielerische Weise eine Erfahrung machen kann, die Kant und hernach Schiller das erste Mal theoretisch einfassten, ist bis heute von Belang. Wie aber wird diese Erfahrung zu einer in Freiheit? Die Kunst, so Schiller im Zweiundzwanzigsten Brief, bildet den Ausgangspunkt für diese „Freiheit von Leidenschaften“ (Schiller 2009: 91). Inhaltliche Belehrungen oder künstlerische Versuche der Läuterung seien dabei aber völlig fehl am Platze. Den Inhalt negierte Schiller damit zugunsten der Form, da nur von dieser „wahre ästhetische Freiheit“ (Schiller 2009: 90) zu erwarten sei.7 Für Schiller konnte erst durch die ästhetische Erziehung die Überführung hin zu einem vernünftigen Menschen möglich werden. Hier wird trotz aller Parallelität zu Kants Einlassung der zentralste Unterschied zu dem Philosophen deutlich. Nach Kant, so Matuschek, sei die Schönheit nur „durch die Sittlichkeit“ (Matuschek 2009: 194) zu erreichen. Schiller strebt genau den ent6
Zur kritischen Betrachtung der Kantischen Reflexion durch Schiller vgl. Matuschek 2009: 183 f.
7
Matuschek weist in diesem Zusammenhang auf Schillers Dramen hin, die im Gegensatz zu Schillers Forderung ohne eine inhaltliche Zuspitzung kaum denkbar seien und durchaus deutungsspezifische Aussagekraft für sich beanspruchen. „Mit der Theorie einer ‚rein ästhetischen‘ Wirkung wären sie nicht angemessen zu erfassen“ (Matuschek 2009: 201), proklamiert Matuschek. Dem Kommentator von Schillers Werk ist jedoch darin zu widersprechen, lediglich im Ready-made oder im objet trouvé eine Form der Kunst ausmachen zu können, die Schillers Vorstellung der Inhaltslosigkeit entsprechen könnte. Hier lässt er weitere Formen der in dieser Arbeit angesprochenen (neo-)avantgardistischen Kunst meines Erachtens unbeachtet.
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gegengesetzten Weg in seiner ästhetischen Erziehung an. Eben dadurch könne der „[E]inzelne[...] zur politischen Freiheit befähig[t]“ (Matuschek 2009: 203) werden. Durch die ästhetischen Einlassungen Kants und hernach Schillers unterliegt die ästhetische Sicht des Menschen auf die heutige Kunst einem vielfältigeren Blick. Dass, wie Schiller formulierte, erst über das Spiel ein Empfinden für Schönheit möglich werde, möchte ich als Gedanken für die hier zu betrachtenden performativen Kunstformen festhalten, in denen spielerische Interaktionsformen und das Aushandeln von Zuständen wichtige Bestandteile darstellen (vgl. Matuschek 2009: 129 ff.; 170 ff./Schiller 2009: 13 ff; 35 ff.; 58 ff.). Ein neues Sehen? Die veränderten Seh- und Wahrnehmungsbedingungen der Menschen wurden auch bei den auf Schiller folgenden Theoretikern vielfach am Beispiel der Kunst und hierbei insbesondere anhand des Theaters exemplifiziert. Dem Wandel von einer theatralen Anordnung, die bereits in den Konstellationen des Performativen angesprochen wurde, hin zu einer Form, die der Vielfalt von performativen Gestaltungsund Deutungsformen Rechnung trägt, ist deshalb genauer nachzugehen. Notwendige Schlüsse für die aktuelle Relation zwischen Künstlern und Zuschauern werden sich darüber herstellen lassen. Seit jeher dient das Theater im Kulturkreis des Abendlandes „als Modell des gesamtheitlichen Denkens“ (Rapp 1973: 29). Nach Uri Rapp hatte das damit zu tun, dass „das Theater […] durch viele Generationen hindurch als Metapher und Analogie zur menschlichen Lebenswelt dienen [konnte], weil es in sich selbst ein Abbild und Symbol menschlicher Interaktion“ (Rapp 1973: 31) war und ist. Diese Interaktivität beruht unter anderem auf der Darstellung und damit auf jenem „Aspekt des menschlichen Handelns, der für die Wahrnehmungen der anderen geschieht (unbeabsichtigt oder beabsichtigt)“ (Rapp 1973: 32). Mittlerweile wissen wir, dass gerade die Body Art-Performances der 1970er Jahre die Darstellung insoweit untersuchten, als sie erstmals die eigene Körperwahrnehmung in den Fokus nahmen, die im Theater bis dato nicht subjektorientiert vollzogen wurde, sondern den Kriterien der jeweiligen Rollenvorgabe zu folgen hatte. Zu denken ist beispielsweise an dramaturgisch angelegte Schmerzdarstellungen von Schauspielern in Dramen oder Tragödien. Empfindungen und Gefühle erfolgten größtenteils rollenbezogen, vorgabegetreu und dadurch reglementiert, dass der Stich mit dem Messer oder das Erschlagen angedeutet wurden. Im Gegensatz dazu versuchte sich Marina Abramović über die Schmerzerfahrungen in ihren Performances in ihr unbekannte mentale Zustände vorzudringen. In der Performance Art must be beautiful, Artist must be beautiful (1975) bürstete sie ihre Haare stundenlang kräftig, irgendwann rhythmisch, zwischenzeitlich abwesend, dann wieder konzentriert. Nach einiger Zeit begann ihre
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Kopfhaut zu bluten, was sie erst später bemerkte, da das Bürsten die Kopfhaut betäubt hatte. Zeigen sich in diesen Körpererfahrungen bei Body Art-Performances und Dramendarstellungen zwar markante Unterschiede, so eint beide Beispiele gleichwohl, dass es um ein ‚für jemanden‘ geht. Die Darstellung oder das tatsächliche Vollziehen des Schmerzes entäußern sich und wenden sich ungefiltert an den zuschauenden Adressaten. Seit der Frühromantik hat sich eben dieser Rezeptionsprozess ambig weiterentwickelt (vgl. Abramović o.A.). Diese Weiterentwicklung wurde maßgeblich beeinflusst von dem von FischerLichte als „Paradigmenwechsel“ beschriebenen Wandel hin zu einer performativen Ästhetik im Theater. Rekurrierend auf das Performance und PerformativitätsKapitel können wir festhalten, dass mit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Bruch innerhalb der bis dato bekannten Kommunikationsformen des Theaters vollzogen wurde. Die vom Ende des 18. Jahrhunderts an existente „interne Kommunikation“ der Schauspieler auf der Bühne, verlagerte sich auf die „externe Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauern“ (Fischer-Lichte 1997: 9). Georg Fuchs ging 1905 davon aus, dass sich das „dramatische Kunstwerk“ (zit. nach Fischer-Lichte 1997: 9) erst im Erleben herstellt und von jedem Zuschauer anders wahrgenommen wird. Weder die Bühne noch der dramatische Text, so Fuchs, ist für das dramatische Kunstwerk Grundlage des Bestehens, sondern das Erleben durch den Zuschauer, welches immerzu alterniere und von Raum und Zeit abhängig sei. Das Bekenntnis zu einem performativen Erleben, das die individuellen und unbestimmbaren Erlebnisprozesse des Zuschauers anerkennt und den Handlungsvollzug von der Bühne auf den Zuschauerraum mitüberträgt, erfolgte damit schon vor den historischen Avantgarden.8 Viele Regisseure begannen daraufhin wie Vsevolod E. Meyerhold in 8
Bereits Richard Wagner hatte 1850 in seiner Schrift Das Kunstwerk der Zukunft zur Aktivierung der Zuschauer im Rahmen eines Gesamtkunstwerks aufgefordert. Diese sollten aktiv am Entstehungsprozess des Kunstwerks mitwirken: „In der Anordnung des Raumes der Zuschauer giebt das Bedürfniß nach Verständniß des Kunstwerkes optisch und akustisch das nothwendige Gesetz, dem, neben der Zweckmäßigkeit zugleich nur durch die Schönheit der Anordnungen entsprochen werden kann; denn das Verlangen des gemeinsamen Zuschauers ist eben das Verlangen nach dem Kunstwerk, zu dessen Erfassen er durch Alles, was sein Auge berührt, bestimmt werden muß. […] [D]er Darsteller ist Künstler nur durch volles Aufgehen in das Publikum.“ (Wagner 1850: 188 f.) Wagner betonte in seinen Ausführungen, dass hierfür der entsprechende Raum noch geschaffen werden müsse, da die Architektur damaliger Theater für eine solche Interaktion zwischen Künstlern und Zuschauern nicht ausgeprägt genug sei. Wagners partizipative Forderungen, die er in seinen Inszenierungen wirksam werden lassen wollte, stießen gleichwohl nicht auf allumfassendes Wohlwollen. Theaterskandale und Publikumsaufstände waren die Folge. Fischer-Lichte erkennt darin ein Gegenargument für jene „einseitige Darstel-
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ihren Inszenierungen den „‚vierten Schöpfer‘“ (zit. nach Fischer-Lichte 1997: 10) und das Stück durch die „Vorstellungskraft“ (zit. nach Fischer-Lichte 1997: 10) des Zuschauers vollenden zu lassen.9 Die reine Kontemplation und damit Konsumtion des Stücks wurde durch das Prinzip der Übertragung abgelöst. Die Zuschauer sollten ihre aktiven Zuschauererfahrungen im Theater hinein in die Gesellschaft transferieren. Trotz dieser novellierenden Ansätze blieb eine grundlegende Umwälzung des bürgerlichen Theaters aus. Erst die Avantgardisten brachten die Grundfesten des Theaters zu Fall und entwickelten „neue[...] Wahrnehmungsmöglichkeiten“ (Fischer-Lichte 1997: 15), die sie unter anderem über eine Novellierung der „überlieferte[n] Raumkonzeption der illusionistischen Guckkastenbühne“ und über die Ausarbeitung „eine[s] spezifischen Modus der Zeichenverwendung […], welcher die pragmatische Ebene dominant setzt“ erreichten. Die distanzierte Bühnensituation (also Bühne versus Zuschauerraum) wurde in Frage gestellt. Erwin Piscator ließ sich daraufhin 1927 von Walter Gropius das Konzept für ein Totaltheater 10 entwerfen, in dem es unter anderem einen „ranglose[n] Zuschauerraum“ (Fischer-Lichte 1997: 16) geben sollte, der flexibel gestaltet werden konnte und die Zuschauer mitten ins Geschehen holte. Gropius strebte danach, die Besucher „‚aufzurütteln, zu bestürmen, zu überrumpeln und zum Miterleben des Spiels zu nötigen.‘“ (Zit. nach Fischer-Lichte 1997: 19) In der Folge wurde dem Theaterraum verstärkt der Rücken gekehrt, um sich an öffentliche Orte zu begeben, die „zum Leben der Zuschauer in unmittelbaren Bezug standen“ (Fischer-Lichte 1997: 22). Den radikalsten Versuch unternahmen Fischer-Lichte nach dabei die Dadaisten: „Die theatralen Aktionen der Dadaisten an den Originalschauplätzen bürgerlicher Rituale wie Kirche und Regierungssitz entlarvten so diese Rituale selbst – Gottesdienst, Parlamentssitzung – als theatrale Prozesse.“ (Fischer-Lichte 1997: 24) Eine Deutung dieser theatralen Konzeptionen wurde obsolet und führte dazu, dass das Geschehen zumeist unverstanden blieb. Diesem Missverstehen wendete sich besonders Antonin Artaud zu. Das Wort „Dominante“ (Fischer-Lichte 1997: 31) strich er aus seilung der Avantgardisten“, die sich als Vorreiter für etwaige Umbrüche beschrieben wissen wollten. Anerkennend stellt die Autorin jedoch fest, dass die Avantgardisten die Zuschauerreaktion „ausdrücklich zum Programm erhoben“ und nicht nur als „Nebenprodukt“ (Fischer-Lichte 1997: 10) betrachtet hätten (vgl. Fischer-Lichte 1997: 10/Groys 2008: 21-24/Wagner 1850: 183-204). 9
Dies implizierte bei den Theoretikern des sowjetischen Theaters zu jener Zeit auch immer eine gesellschaftliche Übertragung. Fischer-Lichte verweist auf Platon Keržencev, der im Theater die Möglichkeit sah, „schöpferisch den Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft voranzutreiben.“ (Fischer-Lichte 1997: 14)
10 Der Entwurf wurde aus finanziellen Gründen nicht realisiert (vgl. Fischer-Lichte 1997: 19).
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nem Wortschatz und sprach stattdessen von „‚Zauberformeln‘“ (zit. nach FischerLichte 1997: 31). Die Sprache wurde durch Gesten, Tänze, Laute oder Geräusche substituiert. Nach Fischer-Lichte war das Publikum aber auch Mitte der 1930er Jahre noch wenig begeistert von etwaigen Vorgängen auf der Bühne gewesen. Und das, obwohl sich die bruitistischen Konzerte, Laut- und Simultangedichte der Dadaisten und Futuristen fast zwanzig Jahre vorher verbreitet hatten. Es zeigt sich, und auch hier wäre eine Parallele zu zeitgenössischen Performancebeispielen zu ziehen, dass die De-Rhythmisierung gewohnter Seh- und Wahrnehmungsschemata keine Konvention zu werden scheint. Positiv gewendet bedeutet das, dass diese DeRhythmisierungen ihre Irritationsfähigkeit nicht verloren haben. Mit Blick auf das postmoderne Theater und den Versuch, dieses mit dem Theater der Avantgarde in Relation zu setzen, weist Fischer-Lichte auf eine zentrale Differenz hin. Im Gegensatz zur Avantgarde wird dem Vorhaben, „Kunst in Leben zu überführen, d.h. den Zuschauer zu schockieren oder in einen Rausch oder Trancezustand zu versetzen“, heute nicht mehr gefolgt, um einen „‚neuen‘ Menschen“ (Fischer-Lichte 1997: 35) aus dem Zuschauer zu machen. Vielmehr bleibe es bei Anstößen, die anerkennen, dass der Zuschauer nicht bedingungslos ‚formbar‘ sei, sondern seine Mündigkeit qua Eintritt ins Geschehen ebenso in die Waagschale werfe wie das der Künstler tue. Fischer-Lichte macht den Zuschauer vielmehr als „unumschränkten Herrscher über mögliche Semiosen“ (Fischer-Lichte 1997: 35) aus. Es lässt sich feststellen, dass die Rezeption im Laufe der Jahrzehnte immer auch Produktion ist und das Zuschauen zum gleichzeitigen Handeln wird. Dabei treten die Zuschauer autark über das Bühnengeschehen zu sich selbst in ein Verhältnis: „Zuschauen erweist sich hier als ein kreativer Akt, der die Identität des Zuschauenden sowohl in Frage stellt als auch hervorbringt.“ (Fischer-Lichte 1997: 36) Das Zuschauen stellt damit einen Handlungsvollzug dar, der ohne die Möglichkeit, den eigenen Status fortwährend in Frage zu stellen nicht funktionieren würde. Dieses reflexive ‚zuschauende Ko-Agieren‘ setzt damit einen Zuschauer voraus, der das Bühnengeschehen und sich selbst differenziert und distanziert in den Blick nehmen kann.11 Einer „Gleichsetzung von Theater und Welt, bzw. menschlichem Leben“ (Fischer-Lichte 1997: 37) erteilt Fischer-Lichte eine Absage und verdeutlicht, dass das Zuschauen fernab des Theaters „in der Tat nichts anderes ist als Zuschauen“ (Fischer-Lichte 1997: 37).12 Inwieweit 11 Und macht gleichwohl deutlich, dass sich die vielfach gewünschten Irritationen auch darin begründen, dass diese Reflexion nicht immer vorhanden ist oder aufrechterhalten werden kann. 12 An dieser Stelle lassen sich kontrastierend Christopher Balmes Thesen zur Öffentlichkeit anführen. Der Theaterwissenschaftler macht am Beispiel von Christoph Schlingensiefs Arbeit Bitte liebt Österreich. Erste österreichische Koalitionswoche (2000) deutlich, dass die politische Wirksamkeit von Performances oder theatralen Installationen im Pakt mit
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es gerade durch die Performancearbeiten zeitgenössischer Künstler radikale Möglichkeiten gibt, diese von Fischer-Lichte ausgemachte klare Trennung zu durchbrechen, zeigt nicht nur die Auseinandersetzung mit den für diese Arbeit gewählten Performances, sondern auch ein Blick auf die Gesellschaft selbst. Erinnert sei hier insbesondere an die auf der HEIMSPIEL-Tagung angestoßene Debatte über das Verhältnis von Theater und Gesellschaft, die zu Beginn des Fortschritt-Kapitels aufgeworfen wurde (vgl. Fischer-Lichte 1997: 9 ff.; 17 ff.; 31 ff.). Jene distanzierte Haltung des Zuschauers vom Bühnengeschehen spielte im Anschluss an Meyerhold und Piscator jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem für Bertolt Brecht eine zentrale Rolle. Der Dramatiker entwickelte mit seinem Epischen Theater eine weitere Verhältnisbestimmung zwischen Künstler und Zuschauer, die sich zeitlich mit den historischen Avantgarden überschnitt, in der eine explizite künstlerische Zusammenarbeit jedoch ausblieb. Brecht teilte gewiss zentrale avantgardistische Zielsetzungen, ihm war aber keineswegs an einer Auflösung der Kunst gelegen und auch die unmittelbare Interaktion zwischen Künstler und Zuschauer im Sinne eines tatkräftigen Einbezugs sowie eine Auflösung von Bühnenund Zuschauerraum fand bei ihm nicht statt. Seine Überlegungen fußten insbesondere in der Abwendung von der aristotelischen Dramatik. Dezidiert kritisierte er die darin fehlende autarke Beteiligung der Zuschauer, deren Status als Repräsentanten der Gesellschaft unbeachtet blieb. Zwar nahm diese Theaterform das Publikum als zentralen Parameter wahr und bezog ihn in den dramatischen Akt gedanklich mit ein, jedoch keinesfalls, um ihm ein skeptisches Verhältnis zum Geschehen auf der Bühne zuzugestehen. Die auf der Bühne dargestellten Katastrophen sollten stattdessen unhinterfragt aufgesogen werden, um sich der kathartischen Praxis hinzugeben. Eine reflektierte Übertragung auf den eigenen gesellschaftlichen Kontext wurde ihnen laut Brecht dadurch verwehrt. Walter Hinck bilanziert die Brecht’schen Ausführungen dahingehend, dass ein solches Theater „die blinde Schicksalsgläubigkeit der Menschen“ (Hinck 1977: 19) unverhohlen bediente, statt damit zu brechen. Um diese Form von Hörigkeit aufzulösen, setzte Brecht auf das Prinzip der Verfremdung. Seine dramaturgischen Anordnungen sollten den Zuschauern eine bedeutungsoffene Lesart ermöglichen und zur eigenen Vervollständigung auffordern. Auch die direkte Ansprache der Schauspieler an das Publikum statt zum jeweiligen der Öffentlichkeit eine völlig neue Rezeptionsästhetik entwickelt habe und damit auch eine andere Dimension der Realität herstelle. Seit der Face-to-Face-Kontakt unter den KoAkteuren um mediale Verbreitungsmöglichkeiten erweitert wurde, haben sich die Relationen von Ort, Zuschauerschaft und Teilhabe um ein Vielfaches potenziert. Indem performative Konzepte die Distribution des Ästhetischen einerseits und die öffentliche Sphäre andererseits aufgreifen, wächst ihr Radius an politischer Einflussnahme und Relevanz (vgl. Balme 2011: 54/Poet 2001).
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Rollenpartner involvierte die Besucher in das Stück und beraubte sie ihrer ursprünglichen Unsichtbarkeit auf der vormals ‚dunklen Seite‘ des Theatersaals. Diese Veränderung der Bühnenhaftigkeit sollte die Existenzberechtigung gesellschaftlicher Normen auf den Prüfstand stellen und mit den Lebenswelten der einzelnen Zuschauer verknüpfen. Damit, so merkt Hans-Thies Lehmann an, hat in Brechts Epischem Theater, eine „Erneuerung und Vollendung der klassischen Dramaturgie“ (Lehmann 2005: 48) stattgefunden, die für das spätere postdramatische Theater bedeutete, dass es sich um ein „post-brechtsches“ (Lehmann 2005: 48) handeln sollte. Lehmann begründet dieses post damit, dass grundlegende Erweiterungen aufgenommen, jedoch viele Elemente auch überformt oder gänzlich abgelegt worden seien. Die Fabel gehörte zu einem dieser ausgesonderten Relikte ebenso Brechts „politische[r] Stil, [der] Tendenz zur Dogmatisierung und […] Emphase des Rationalen“ (Lehmann 2005: 48) gehabt hätte. Das postdramatische Theater nimmt damit zwar Platz auf der von Brecht bereiteten Bühne, um die „Fragen nach Präsenz und Bewußtheit des Vorgangs der Darstellung im Dargestellten und […] nach einer neuen ‚Zuschaukunst‘“ (Lehmann 2005: 48) aufzuwerfen, sich dabei jedoch der „autoritativen Geltung von Brechts Theaterkonzept“ (Lehmann 2005: 48) zu entziehen. Das ‚neue Sehen‘, das sich von der Jahrhundertwende bis zum postdramatischen Theater und den dieses erweiternden performativen zeitgenössischen Praxen entwickelt hat, verfolgt somit gestern wie heute ähnliche Ziele, trotz verschiedenartiger Nuancierungen. Was die damit einhergehenden Schwierigkeiten angeht, so kann der folgende Gedanke Rebentischs zu den Avantgarden auch auf die Theaterkonzeptionen Meyerholds, Artauds, Brechts oder aktueller Performancekünstler übertragen werden. Laut Rebentisch bedeutete die avantgardistische „Suche nach einem anderen Publikum“ keineswegs einen Zugewinn an Zuschauern, sondern „eine qualitativ andere Art der Kunstbetrachtung als diejenige, die man mit dem bürgerlichen Kunstpublikum verband: eine leer formalistische Kontemplation, die letztlich im Dienste der Selbstvergewisserung desselben stand.“ (Rebentisch 2003: 273) Für diese, das ist gewiss, scheint bis heute nicht jeder Zuschauer so einfach zu gewinnen zu sein (vgl. Hinck 1977: 19; 122 ff./Lehmann 2005: 48). Ein performatives Mit-Tun Die performative Ästhetik verändert damit nicht nur das Verhältnis von Zuschauer und Künstler, sondern auch das aller Beteiligten zu sich selbst. Die Introspektion wird zum essentiellen Bestandteil der performativen Künste und modifiziert die handlungsspezifischen Zusammenhänge im Theater radikal. Gemäß Lehmann liegt diesen Zusammenhängen nunmehr ein ‚Performance Text‘ zugrunde, der sich aus der „Art der Beziehung des Spiels zu den Zuschauern, die zeitliche und räumliche
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Situierung, [sowie; PG] Ort und Funktion des Theatervorgangs im sozialen Feld“ (Lehmann 2005: 145) zusammensetzt und der die Bereiche von „linguistischem Text“ und „Inszenierungstext“ (Lehmann 2005: 145) alternativ anordnet. Im postdramatischen Theater beinhalte der ‚Performance Text‘ „mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozeß als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information“ (Lehmann 2005: 146). Hinzu komme der „Einbruch des Realen“ in die Theatersituation, der bei den Zuschauern dazu führe, dass man „durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat“ (Lehmann 2005: 173), verunsichert werde. Das, was Lehmann mit dem postdramatischen Theater umschreibt, lässt sich kaum lösen von jenen Performances, die das Theater in ihrer Selbstbeschreibung nicht mehr aufgreifen. Erinnern wir uns zum Beispiel an die Performances von SIGNA, so ist diese Unentschiedenheit Basis für die permanente Verunsicherung der Besucher, die für den Prozess der Performances notwendig ist. Wie beschrieben, leisten beispielsweise die räumlichen Installationen außerhalb von kunstspezifischen Orten und in lokal verankerten Gebäuden ihr übriges. Ein solches Setting an einem öffentlichen Ort bricht von vorneherein mit der vermeintlich klaren Trennung von Fiktion und Realität. Bei SIGNA kommt hinzu, dass, wie bereits erwähnt, viele der Performer zum Teil in den ‚Spielräumen‘ leben. Sie schlafen dort, essen dort, mitunter verlassen sie sogar in ihrer Rolle das Gebäude und werden außerhalb dessen für die von ihnen dargestellten verwahrlosten Obdachlosen gehalten. So geschehen beispielsweise bei Carl Block (Frank Bätge) und Ferdinand Messerli (Andreas Schneiders) aus der Performance Die Hundsprozesse13, die diese Erfahrung in Köln machten. Mittels einer solchen „Ambiguität“ zwischen Realität und Fiktion, so beschreibt Lehmann für das postdramatische Theater, „geht die theatrale Wirkung und die Wirkung auf das Bewußtsein aus.“ (Lehmann 2005: 173) Bestimmt wird die Fiktion zwar immer seitens der Realität: „Ohne Reales kein Inszeniertes. Repräsentation und Präsenz, mimetisches Spiel und Performance, Dargestelltes und Darstellungsvorgang“ (Lehmann 2005: 175). Dennoch gestalten sich die performativen Künste vielfach dann am waghalsigsten, wenn sie den Übergriff des einen in das Terrain des jeweils anderen verschwimmen lassen. Dies nun lässt den Zuschauer allein mit seiner subjektiven Zusammensetzung des Gesehenen. Wo fühlt er mit, wo nicht, wo erschließen sich ihm Zusammenhänge, an welcher Stelle in keinster Weise, wo grenzt er sich ab, wo sucht er Sinn, wo lässt er es sein? Lehmann verdeutlicht: „[W]enn gilt, daß allein die Art der Situation über die Signifikanz von Handlungen entscheidet, und daß es zum wesentlichen Moment der Theatererfahrung wird, daß der Zuschauer sei13 Vgl. das Kapitel Performatives Tun II: SIGNA – Die Hundsprozesse.
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ne Situation selbst definiert, so muß er auch selbst die Verantwortung dafür übernehmen, die Art und Weise seiner strukturellen Beteiligung am Theater zu definieren.“ (Lehmann 2005: 176)
Die Zeiten, in denen Theater sich als „‚sozial und moralisch unproblematisch‘“ (Lehmann 2005: 177) erwies und den Zuschauer Zu-Schauer sein ließ, seien damit vorbei. Eben weil das Reale zur Theaterpraxis geworden sei, spiele die Ethik darin eine besondere Rolle und ziehe den Zuschauer dauerhaft zur Verantwortung. Dies führt laut Lehmann zu „performance-ähnlichen Theaterformen“ (Lehmann 2005: 178), durch die situative Erfahrungen zu einem neuen Sehen führen. Lehmann hält hier zwar an einer Differenz zwischen Theater und Performance fest, stellt jedoch die Situation und das Ereignis als Fundamente des postdramatischen Theater heraus, in denen es „um das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten“ gehe. Dieser Vollzug ist selbstreferenziell, steht für sich und muss „keine bleibende[n] Spuren des Sinns, des kulturellen Monuments usw. hinterlassen“ (Lehmann 2005: 178). Ein solches Verfahren wiederum leitet der Theaterwissenschaftler von den neo-avantgarden Praktiken des „Happening und [der; PG] Performance Art“ (Lehmann 2005: 179) ab: „Beide sind durch den Bedeutungsverlust des Textes mit seiner eigenen literarischen Kohärenz charakterisiert. Beide bearbeiten die körperliche, affektive und räumliche Beziehung von Akteuren und Zuschauern und erkunden die Möglichkeiten der Partizipation und Interaktion, beide akzentuieren die Präsenz (das Tun im Realen) gegenüber der Re-Präsentation (der Mimesis des Fiktiven), den Akt gegenüber dem Ergebnis.“ (Lehmann 2005: 179)
Im Gegensatz zu den historischen Avantgarden, Lehmann nennt Futurismus, Dadaismus und Surrealismus, stehe in heutigen aktionskünstlerischen Prozessen nicht mehr die „Veränderung der Welt, die sich in der gesellschaftlichen Provokation ausdrückt“ (Lehmann 2005: 180) im Vordergrund, „sondern […] [die] Herstellung von Ereignissen, Ausnahmen, Augenblicke der Abweichung.“ (Lehmann 2005: 180) Tatsächlich lässt sich dies als eine zentrale Differenz zwischen heutigen künstlerischen Äußerungen und denen der Avantgarden festhalten. Die Ausdrucksmittel, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert wurden, haben an Signifikanz nicht verloren, jedoch folgt ihr Einsatz einem anderen Zweck, der weniger gesellschaftsübergreifend, sondern viel eher lokaler und basaler, vielfach nur selbstbezüglich verläuft. Die avantgardistischen Mittel haben sich deshalb keineswegs erschöpft, fußt die ästhetische Auseinandersetzung der Zuschauer mit dem Tun der Akteure doch heute wie um die Jahrhundertwende immer noch auf den Begriffen der Präsenz, des Prozesses, der Hervorbringung oder der Partizipation. Stattdessen wurde beispielsweise der Kampf gegen das bürgerliche Theater, den die Avantgarden vielfach fochten, mittlerweile durch eine Fusion von theatralen Strukturen und perfor-
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mativen Handlungsweisen ersetzt, die stetig hinterfragt werden. Zehn Jahre nach Erscheinen von Lehmanns Postdramatischem Theater zeigt sich, dass die Beschreibung von Theater als „soziale[r] Situation“ (Lehmann 2005: 182), in der die Zuschauer zum selbstreflexiven Handeln aufgefordert werden und damit keinem Werk mehr beiwohnen, sondern einem Prozess, keine Grenzziehung zur Performance mehr zulässt. Welche Argumente führt Lehmann nun also an, um bei aller Annäherung dennoch an dieser Grenze festzuhalten? Da ist vor allem das Argument der Körperlichkeit. In der Performance-Kunst macht Lehmann nicht die außerhalb des Künstlers existente Wirklichkeit als grundlegendes Material für eine Transformation aus, sondern den Künstlerkörper, der zum thematisierten Aktionsraum werde. Diese SelbstTransformierung stelle insoweit einen abgrenzenden Aspekt zum Theater dar, als dort nicht das ‚Performerselbst‘ transformiert werde, „sondern eine Situation und vielleicht das Publikum.“ (Lehmann 2005: 248) Lehmann konkretisiert: „Mit anderen Worten: selbst in der noch so sehr auf Präsenz orientierten Theaterarbeit bleibt die Transformation und Wirkung der Katharsis 1) virtuell 2) freiwillig und 3) künftig. Das Ideal der Performance Art dagegen ist ein Prozeß und Moment, der 1) real 2) emotional zwingend und 3) hier und jetzt geschieht.“ (Lehmann 2005: 248)
Lehmann hat mit dieser Aufteilung freilich Recht, jedoch ist sie viel eher auf Body Art-Beispiele zu beziehen als auf Performances im Allgemeinen, die zumeist medialen Zeit-Verschiebungen oder fiktionalen Teil-Anordnungen unterliegen und ebenso sehr mit der Realität ringen wie es das Theater tut. Die Performance Art zudem immerzu mit Direktmitteilungen in Verbindung zu setzen, verwehrt jenen Kollektiven die Zugehörigkeit, die sich der von Lehmann eigens angesprochenen Überschneidung von theatralen und performativen Charakteristika zugehörig fühlen und sich somit weder hier noch dort verortet wissen wollen. Via Negativa, SIGNA, Gob Squad oder Showcase Beat Le Mot arbeiten allesamt mit den avantgardistischen Mitteln des Experiments und der Unbestimmtheit, doch versetzen sie diese in heutige gesellschaftliche Strukturen. Künstler wie Boris Nieslony, Angie Hiesl & Roland Kaiser oder Marina Abramović nutzen gänzlich andere Mittel als Via Negativa oder She She Pop das tun, allen aber ist gemein, sich weder ausschließlich über eine emotionale (Er-)Zwingbarkeit der Aktion im Hier und Jetzt zu definieren, noch einer möglichen kathartischen Wirkung zu verschließen. Besonders SIGNA nutzen historische Dramenstoffe und ihre aristotelischen Implikationen, um sich daran auf die dem Kollektiv eigene Weise abzuarbeiten. Lehmanns Ausführungen über die Relation von Theater zu Performance-Kunst sind unerlässlich, dennoch begründet er seine Kategorisierung fast ausschließlich mit Performances, die rituellen Praxen folgen und Selbsttransformationen oder körperliche Verletzungen fokussieren. Dass er diese zuvorderst weiblichen Performerinnen zuordnet, lässt den Schluss zu, dass
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er die Performance Art auf die Body Art zuspitzt und darüber seine definitorischen Schlussfolgerungen zieht. Gerade weil die 70er Jahre für die weiblichen Künstlerinnen einen zentralen Raum schufen, die eigene Rolle im Zuge der feministischen Debatte zu hinterfragen und über die sich etablierende Performance Art künstlerisch zu überprüfen, ist der Rückgriff nicht verwunderlich. Dennoch fehlt der zeitgenössische Blick auf die zunehmende Überschneidung von Theater und Performance, die sich in den Performanceprojekten seit Mitte der 1990er ankündigte und die Lehmann durchaus thematisiert. Das mit dieser Annäherung einhergehende Dilemma für den Theater-Begriff formuliert Lehmann so: „Theater wendet sich in der Nachfolge der Kunst auf den Betrachter zurück. Wenn man eine solche zwischen ‚Theater‘, Performance, bildender Kunst, Tanz und Musik gelegene Praxis nicht mehr als Theater bezeichnen will“, (Lehmann 2005: 183) könne man es ja fortan wie Bertolt Brecht „‚Thaeter‘“ (Lehmann 2005:184) nennen. Lehmann verdeutlicht, dass „die Grenzen des Theaters zu Praxisformen, die wie die Performance Art eine Realerfahrung anstreben, fließend werden“ und auf Grund der von der Performance Art übernommenen „Unmittelbarkeit einer gemeinsamen Erfahrung von Künstler und Publikum“ ein „Grenzbereich zwischen Performance und Theater entstehen mußte.“ (Lehmann 2005: 241) Der „Prozeß zwischen Bühne und Publikum“ (Lehmann 2005: 245) rückte die Produktion von präsentischen Ereignissen nach der Verabschiedung des Werk-Charakters mehr und mehr in den Vordergrund und erteilte der Repräsentation eine Abfuhr. Theater wurde „Selbstgegenwart“ (Rancière 2009: 16). Für Lehmann führte dieser „Kern des Performance-Gedankens“ (Lehmann 2005: 245) dazu, dass die „künstlerischen Kriterien“ unwichtiger wurden. Der individuelle Zuschauerblick ersetzte die „objektiv[e]“ Überprüfbarkeit vom Werk. Gleichzeitig wäre es in den 1980er Jahren auch „zu Theatralisierungen in der Performance Art“ (Lehmann 2005: 241) gekommen, beispielsweise „bei der Suche nach elaborierteren visuellen und auditiven Strukturen, medientechnologischer Erweiterung und einem Umgang mit längeren Zeiträumen der Performance.“ (Lehmann 2005: 242) Gerade in der Performance-Kunst aber zeigt sich bereits in den 1970ern eine Hinwendung zu besagten Aspekten. So begann Tehching Hsieh 1978 mit seinen One-Year-Performances. Joseph Beuys’ Performance I like America and America likes me fand fünf Tage im Mai 1975 statt und die long-durationalperformances von Marina Abramović in den 1970ern, die zumeist über Stunden, Tage, Wochen oder Monate andauerten, waren oftmals deshalb auf verlängerte Zeiträume angelegt, um den von der Künstlerin angestrebten Trancezustand zu erreichen, der die Erfahrung der eigenen Präsenz allererst hervorbringen konnte. Auch die closed-circuit-Verfahren oder die videoinstallativen Arbeiten von Bruce Naumann, Valie Export, Ulrike Rosenbach oder Nam June Paik in diesem Zeitraum sind zu erwähnen.
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Dahingegen scheint mir viel eher die erst spät in den Performancekünsten akzeptierte wiederholte Aufführung von Performances 14 ein Punkt zu sein, den die Performance-Kunst vom Theater übernommen hat. Aktuelle Performances finden mittlerweile vielfach an unterschiedlichen Tagen statt. Die Idee der ursprünglichen Einzigartigkeit von Performances wird zudem insoweit durch den Gedanken aufgehoben, dass jede neue Aufführung Weisen der Produktion und Rezeption aufzeigt, die so noch nie dagewesen sein können, weil die Erlebbarkeit eines Zustands sich immer verschiebt – egal ob die Inhalte dieselben bleiben oder nicht.15 So bleibt am Ende neben der aktiven Teilhabe der Zuschauer der Performance nur noch die ‚dramatische Textgrundlage‘ als theaterspezifische Eigenheit, die möglicherweise als kontrastive Aspekte aufgeführt werden könnten. Da sich aber auch hier immer wieder Überlagerungen zeigen, möchte ich bilanzierend die performative Praxis als Überbegriff aufrechterhalten, die einer Differenz zwischen Theater und Performance die Relevanz entzieht (vgl. Abramović 2011: o.S./Derrida 1976: 6 ff./Lehmann 2005: 145 ff; 173 ff; 182 ff., 241 ff.). Hinsichtlich der besagten aktiven Teilhabe sind nun abschließend die kritischen Anmerkungen Rancières aufzugreifen, um das agierende Mit-Tun als Unterscheidungskriterium zu hinterfragen. In seinem Band Der emanzipierte Zuschauer spricht sich Rancière dafür aus, dem Zuschauen seine abhandengekommene Relevanz wieder zuzugestehen. Rancière entgegnet damit jenen Kritikern, die es als „schlecht“ empfinden, dass der Zuschauer im Theater lediglich zusehe und dadurch passiv bleibe. Ausgehend vom „Paradox des Zuschauers“, nach dem es „kein Theater ohne Zuschauer“ (Rancière 2009: 12) geben könne, verteidigt Rancière das betrachtende Zusehen ohne explizite Aktivierung. Schauspieler und Zuschauer müssten demnach nicht auf derselben Ebene miteinander in Kontakt treten, schließlich sei eine „Distanz“ die „normale Bedingung jeder Kommunikation.“ (Rancière 2009: 21) Indem man diese Distanz anerkenne zeige sich vielmehr, dass der Versuch die Distanz aufzuheben allererst „die Distanz schafft“ (Rancière 2009: 22). Die von Rancière forcierte „Emanzipation“ des Zuschauers entsteht deshalb dadurch, „Sehen“ als „Handlung“ anzuerkennen. Im Zuge der Anerkennung werde eine kritische Befragung der „Struktur der Herrschaft und der Unterwerfung“ (Rancière 2009: 23), die mit dem Künstler-Zuschauer-Verhältnis einhergehe, möglich. „Wir müssen nicht die Zuschauer in Schauspieler/Akteure verwandeln […]. Jeder Zuschauer ist 14 Siehe hierzu die Vorbemerkung im Kapitel Konstellationen des Performativen. 15 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Derrida’sche Prinzip der différance, welches Intentionalität und Bedeutungsvorgabe nicht zulässt, gleichwohl aber den Bruch, die Andersheit in der Bezugnahme auf ein ‚zu Wiederholendes‘ und somit Bestehendes vollzieht. Für eine ausführliche Klärung des Begriffs, siehe Derrida 1976: 6-37; für die Iterabilität: 142-155.
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bereits Akteur seiner Geschichte, jeder Schauspieler, jeder Mann der Tat ist der Zuschauer derselben Geschichte.“ (Rancière 2009: 28) Rancière bestreitet, dass durch das Vertauschen der Künstler- und Zuschauerrolle oder der Verlagerung von Performances an öffentliche Orte, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufgehoben werden könnten. Vielmehr verbleibe das Ergebnis dadurch reine „Äußerlichkeit“ (Rancière 2009: 26). Für eine tatsächliche Durchdringung werde stattdessen eine Relation notwendig, die aus „Erzählern und Übersetzern“ bestehe. Dabei begutachte der Zuschauer als „aktiver Interpret“ (Rancière 2009: 33) das ihm Berichtete oder Gezeigte und setze es eigenständig zusammen. Rancières These lässt sich hier als Argument anführen, die Aktivität, das performative Mit-Tun der Zuschauer, nicht ausschließlich über die Mobilisierung zu erfassen. Beobachten, Sehen, Übersetzen, Zusammensetzen – die Partizipation beginnt immer schon vor einer möglichen Handlungsaufforderung. Bilanzierend zeigt sich demgemäß auch im Zuschauen mit oder ohne Handeln kein Kriterium mehr, durch das sich Theater und Performance auseinanderdividieren lassen könnten (vgl. Rancière 2009: 11-34). Um diesen Gedanken Rancières praktisch zu verdeutlichen, möchte ich zum Abschluss dieses Unterkapitels auf eine Performance des Künstlerduos Angie Hiesl und Roland Kaiser zu sprechen kommen. In ihrer Stadt-Intervention Dressing the City und Mein Kopf ist ein Hemd (2011)16, die an mehreren Tagen auf dem Kölner Ebertplatz und dem Heinrich-Böll-Platz stattfand, nahm eine Vielzahl von internationalen Performern Kontakt mit flanierenden Passanten und dem Stadtraum auf. Die Performer setzten sich dabei über ihre Kleidung mit ihrem Umraum in Verbindung. Ein Performer beispielsweise zog sich sein T-Shirt und seine Hose über Kopf und Beine, während er sich gleichzeitig auf und unter einem Geländer entlanghangelte. Eine andere Performerin stülpte ihren Pullover über eine Stehbeleuchtung, die sich am Rand des Fußgängerweges befand. Ihr Körper wurde dadurch fest an die Beleuchtung gebunden. In der so entstandenen Halteposition begann sie, durch ausufernde Bewegungen in Grenzbereiche des Fallens zu geraten. Die Dehnbarkeit des Pullovers wurde dabei zur unvorhersehbaren Richtlinie für Erfolg oder Misserfolg ihrer eigenen Balance. Gab der Pullover im Rahmen der einen Bewegung zu stark nach, musste sie sich flink vorm Fallen schützen. Hielt der Pullover während einer anderen Bewegung die Spannung, gelang es ihr in dieser über einen längeren Zeitraum zu verharren. Über 90 Minuten nahmen Pullover, Körper und Stehbeleuchtung ein stetig variierendes Verhältnis zueinander ein. Die nächste Performerin joggte ein ums andere Mal kreisförmig um einen Baum und entledigte sich dabei ihrer zahlreichen übergestreiften Badeanzüge und Sportoutfits. Andere Performer 16 Die Performance fand vom 26. August bis 10. September 2011 sieben Mal für eine Dauer von 90 bis 120 Minuten am Ebert- und am Heinrich-Böll-Platz in Köln statt. Siehe auch: http://vimeo.com/39887465 (Stand: 24.03.2014).
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nutzten die Klinkersteine an der Hohenzollernbrücke und der Fassade der zur Philharmonie gehörigen Werkstätten, um dort unter anderem Strumpfhosen in geometrischen Anordnungen anzubringen und künstlerische Stillleben zu kreieren. Einige Meter weiter widmete sich ein in Jeanshose und Jeansweste gekleideter Performer einem Haufen vor ihm liegender Jeans. Minutenlang warf er allesamt in die Höhe, bis er schwer atmend abrupt damit aufhörte, sie akkurat zu falten begann und nebeneinander legte. Hernach formierte er die Jeans der Länge nach für ein Hüpfkasten-Spiel in Reih und Glied, so dass die Kästen durch gefaltete Hosen markiert wurden. Die (Performer-)Körper, die mit den Kleidungsstücken Häutungsprozesse vollzogen, veränderten aber nicht allein die urbane Stadt-Struktur, indem sie am Ende der Performance die Woll- und Stoffkleidung an den Geländern, Wänden und Bäumen zurückließen. Sie nahmen auch Einfluss auf die Koordinaten der Passanten, die diese für ihren Gang durch die Stadt ausgewählt hatten. Ob freiwillig oder nicht: Zahlreiche Fußgänger oder Radfahrer unterbrachen ihren schnellen Schritt oder ihre Fahrt, um stehenzubleiben, zuzuschauen, genervt nach einem Umweg zu suchen oder zögerlich an der Szenerie und den Stehengebliebenen vorbeizukommen. Manche setzten sich hin, bemerkten plötzlich die nächste Aktion, die aus einem anderen Blickwinkel noch versteckt geblieben war und begaben sich einige Meter weiter. Viele der Performer hielten minutenlang inne und ließen die Zuschauer im Unklaren darüber, ob es sich nur um eine Pause oder das tatsächliche Ende der Performance handelte. Die Handlungsräume verschoben sich permanent, eine Kontinuität innerhalb der Aktionen war nicht erkennbar. Einige der Performer mischten sich ab und an unter die Zuschauer und stachen ganz plötzlich und unerwartet aus der anonymen Gruppe heraus, indem sie mit tänzerischer Biegsamkeit Kontakt zu einem Objekt des Stadtraumes aufnahmen. Die unterschiedlichen Performances erstreckten sich über eine größere Fläche im öffentlichen Raum Kölns, die sich für die Flanierenden nicht direkt überblicken ließ. Vorgegebene Blickregime wurden allein durch das Bespielen dieser großflächigen ‚Bühne‘ unmöglich. Auch wenn Performer und Orte über die Tage der Performance hinweg dieselben blieben, so alternierten die Bewegungs-, Aktions-, und Rezeptionszusammenhänge, die auf die Zuschauer einwirkten. Gleichzeitig erfuhren auch die Performer ihre Körper in Auseinandersetzung mit der Kleidung, den Gegenständen (Baum, Geländer, Lampe, Wand) und den Passanten im Minutentakt neu. Sichtbares, vormals Verstecktes, Langweiliges oder Aufregendes veränderten sich trotz ihrer Wiederholungen ein ums andere Mal. Die Performance zeigt beispielhaft eine der vielen Varianten, wie die Zusammensetzung von Performern und Rezipienten erfolgen kann. Bei Angie Hiesl und Roland Kaiser erwies sich diese Zusammensetzung als spontane und situative, da zahlreiche Passanten per Zufall Teil der Stadt-Intervention wurden. Das Zusehen wurde hier zum Moment der Teilhabe und Teilnahme. Ein Mit-Tun brauchte es nicht, um Anteil zu nehmen. Die Arbeit der Künstler rekurriert dabei auf künstleri-
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sche Vorgänge in den 1960er Jahren, die für das Aufeinandertreffen von Künstlern und Zuschauern nachhaltige Folgen haben sollten. Gemeint sind Happening und Fluxus, an deren Modi zeitgenössische Performancepraktiken anknüpfen. Im Folgenden sollen diese für das partizipative Verhältnis wichtigen neo-avantgardistischen Bewegungen detaillierter betrachtet werden.
K ÜNSTLER
UND
Z USCHAUER IN DER N EO -AVANTGARDE
„Gehen sie; hoeren sie; sprechen sie; 1. Ruine Maximinenstrasse (Eingang Domstr.)
/Mehrere Truemmerloecher; gehen Sie
2. Ruine Maximinenstrasse (Eingang Domstr)
dort hinein. Bleiben Sie ruhig stehen
3. Ruine Maximinenstrasse (Eingang Domstr.)
und hoeren Sie die Geraeusche des
4. Ruine Maximinenstrasse (Eingang Domstr.)
Hauptbahnhofs, verlieben Sie sich!
5. Sudermannplatz
/Urinieren Sie in dem Truemmergrund-
6. Maximinenstrasse
stück und denken Sie an Ihre besten
7. Domstrasse 21
Freunde
8. Hohenzollernring 60
/Stellen Sie sich an diese Stelle, so lange bis der naechste Unfall passiert.
9. Im Stavenhof neben Nr. 5 10. Ecke Luebecker-Maybachstrasse
/Fuer Juergen Becker. /Stellen Sie sich 5 Minuten an diese Stelle und ueberlegen Sie, ob 6 Menschen oder 36 Menschen in der Nacht des 1000-Bomber-Angriffs hier umgekommen sind.
11. Lindenstrasse 58 12. Thuermchenswall (Hauseingang) 16
/Gehen Sie in den Hauseingang dieses armen Hauses und beobachten Sie die Spiele der Kinder, dann nehmen Sie einen Fisch in den Mund und gehen spazieren.
13. Maastrichter Strasse 14 14. Maybachstrasse 170 15. Juelicher Strasse 18 16. Ecke Richard Wagner Str.-Bruesseler Str. Schrottplatz 17. Im Stavenhof Nr. 12
/Dort sehen Sie sicher alte Autowracks,
18. Friesenwall 112-116
die von Kindern ausgepflueckt werden. Nehmen Sie auch ein Stück Auto mit.
19. Hansaring 64 20. Friesenwall 112-116 21. Friesenwall
/Gehen Sie von hier aus zum Eigelstein
310 | RE -W RITING A VANTGARDE 22. Buttermarkt 1 gegenüber der Galerie Lauhus in ein Kino, und wiederholen Sie alles, 23. Victoriastrasse 5
was dort gezeigt wird.
24. Hansaring 45-47
/Gehen Sie von dort aus in einen
25. Glockenring 2
Waschsalon und fragen Sie, in welchem
26. Limburger Strasse 15
Jahr wir leben; schauen Sie dann ununterbrochen auf die Auslagen eines Wurstgeschaeftes.“ (Vostell 1970b): 313 f.)
Am 15. September 196117 wird Köln als erste deutsche Stadt Ort eines Happenings von Wolf Vostell. Der Künstler kündigte Cityrama (1) als „permanente realistische demonstration an 26 stellen in koeln“ (Vostell 1970b): 313) an. Bereits 1958 hatte Vostell mit der Performance Das Theater ist auf der Straße in Paris seine erste Dé-coll/age-Aktion auf europäischen Boden gebracht und damit ein neues Kunstkapitel aufgeschlagen. Nicht nur die rigorose Vermischung von Kunst und Alltag, sondern vor allem der Aufruf zum öffentlichen Mit-Tun wird zum Prinzip dieser Kunstform, in dem die Partizipierenden das Ereignis und die Ausführung des Happenings mitbestimmen. Das Verhältnis von Künstler und Zuschauer erfährt durch die Drastik der Happenings den Anstrich einer bis heute prägenden Ko-Operation. Happening und Fluxus haben zahlreiche Gemeinsamkeiten und die Künstler beider Bewegungen waren vielfach auch in der jeweils anderen aktiv. Gleichwohl liegt vor allem in der Art des Zuschauereinbezugs eine wichtige Differenz. Waren die Happenings maßgeblich auf die Zuschauer und deren Mit-Machen ausgerichtet, wurde in den Fluxusaktionen Wert auf die Anwesenheit der Besucher gelegt, die Aktion jedoch ohne direkte Einflussnahme der Besucher ausgeführt. Die Fluxuskünstler waren stattdessen eher an den Verbindungslinien zwischen „everyday objects and events and art“ (Rush 1999: 24) interessiert, die sie auf improvisatorische und spontane Weise herausarbeiten wollten. Es fehlten hier zwar gezielte Handlungsaufforderungen an die Zuschauer, doch kann keineswegs von einer Passivität des Publikums gesprochen werden. Durch das aleatorische Moment der Fluxusaktionen waren Reaktionen des Publikums nicht nur erwünscht, sondern wurden bewusst provoziert. Um sich der Happening- und Fluxuskunst nun konkret anzunähern, muss der Zugang zu den künstlerischen Arbeiten dieser Bewegungen auf alternative Weise erfolgen. Denn da die temporären und flüchtigen Ereignisse selten transkribiert oder per Kamera aufgenommen wurden, ist eine individuelle eigenständige Zusammensetzung und Rekonstruktion der Archivalien notwendig. Für eine Definition von Happening und Fluxus bedeutet das, sich in gewisser Weise von vorne herein aus17 Zwischen 1958 und 1961 hatte Vostell die Stellen für das Happening ausgewählt.
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zuschließen. In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Ausstellungskatalog 18 Happening & Fluxus 19 (1970/71) verdeutlicht Hanns Sohm: „es gibt weder hier noch in der ausstellung eine fix-fertige antwort auf die fragen: was ist happening, was ist fluxus, was auch nicht im sinne dieser kuenstlerischen bemuehungen ist“ (Sohm 1970: o.S.). Dem Ausstellungskatalog den Untertitel Materialien hinzuzufügen ist darum programmatisch konsequent. Auch wenn die Abfolge bei Sohm chronologisch geordnet ist, verdeutlicht der Archivar, dass eine Stringenz des ‚Repräsentierens‘ ob der nur geringfügig vorhandenen Skripte, Vorlagen oder Konzepte für diese Kunstformen von vorne herein ausgeschlossen bleibe. Stattdessen zeigt der Band Manifeste, Texte, Notizen oder Plakate der Künstler, die auf die Abkehr vom Werk und die Hinwendung zum Ereignis verweisen. 20 Nicht das detaillierte 18 Die Ausstellung Happening & Fluxus fand vom 6. November 1970 bis zum 6. Januar 1971 im Kölnischen Kunstverein statt. 19 Sohm schloss aus seiner Ausstellung die ‚Aktionen‘ als Kunstform explizit aus, da „diese spaeter mit ausgesprochenem underground-sozialkritischem und politischem charakter auftraten“ (Sohm 1970: o.S.). Offenbar bezog sich Sohm dabei auf die Situationisten und die Gruppe SPUR. Eine solche Trennung von Aktion, Fluxus und Happening wird in dieser Arbeit nicht verfolgt. 20 Auch der von Wolf Vostell und Jürgen Becker herausgegebene Band Happenings 1956 (1964) verfährt auf diese dokumentarische Weise. Becker formuliert in der Einführung: „Dieses Buch ist eine Dokumentation. Das heißt, die vorgeführten Phänomene werden nicht weiter umschrieben, sondern sie stellen sich selber dar: in Fotos, Partituren, Manifesten, Chroniken. Im Hinblick auf Fluxus und Happenings könnte die Dokumentation als Konserve erscheinen, insofern beide Phänomene allein in ihrer Praxis erfahrbar sind. Daß Happenings das Thema dieses Buches stiften, gründet in der Ansicht der Herausgeber, daß sie den hier vorgeführten darstellenden Künsten ihre Tendenz zur Aktion, zum Ereignis erklären“ (Becker 1964: 18). Die beiden Autoren stellen den Happenings im Untertitel die Pop-Art und den Neuen Realismus anbei. Dabei geht es weniger um eine Gleichstellung der Bewegungen, sondern vielmehr um eine Gegenüberstellung. Beispielsweise verweist Becker auf die Funktionslosigkeit der Zuschauer in diesen beiden Künsten: „Die so bestimmte Verhaltensweise eines Happening-Teilnehmers unterscheidet ihn von jedem Publikum, wie es Kunstereignissen gegenüber bislang sich verhalten hatte. Freilich gilt dieser Unterschied nicht in jeder Veranstaltung: so beschränken sich die amerikanischen Pop-Artisten, soweit sie öffentlich agieren, zumeist darauf, innerhalb eines environments ihre Aktionen allein oder mit einer Gruppe von Darstellern durchzuführen, ohne daß die Zuschauer in die Vorgänge miteinbezogen werden. Dagegen nun sind es vor allem Allan Kaprow, der Initiator des amerikanischen und Wolf Vostell, der Initiator des Happenings in Deutschland, die die eingeübte Distanz zwischen dem Kunst-Ereignis und seinem Publikum kassiert haben“ (Becker 1964: 13). Pop-Art-Künstler und Neue Realisten nahmen
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Festhalten in Schrift oder Bild, sondern der unmittelbare Vollzug stand im Vordergrund der Aktionen, die detailgetreue Dokumentation der Happenings oder der Fluxusaktionen nahm dagegen wenig Einfluss auf die Vorüberlegungen. Die Dinge festzuhalten oder zu vollenden, erwies sich von Anbeginn als Antithese zur eigenen prozessualen Arbeitsweise. Aus Mangel an Schriftstücken oder genauen Ablaufplänen wurden deshalb die zumeist grob gestalteten konzeptuellen Anweisungen 21 der Künstler für die beteiligten Zuschauer oder ko-agierende Performer unerlässlich. Sie fungierten als mögliche Leitfäden, die aber keineswegs als alternativlose Handlungsreplik verstanden werden sollten, wie wir im Folgenden sehen werden. Fluxus Als George Maciunas bei den Internationalen Festspielen Neuester Musik 1962 in Wiesbaden mit seinen Performance-Mitstreitern auf der Theaterbühne ein Klavier mit Steinen bewarf und hernach zersägte, zerschlug und zertrümmerte, rückte der konzertante Musikgenuss in weite Ferne. Das Konzert sprühte vor Atonalität und fehlender Harmonie, in den Blick geriet dahingegen die gesamte Klangbreite des mit ihren Arbeiten durchaus Einfluss auf Happening, Fluxus und Performance. So bezogen sie alltägliche Objekte mit ein und wollten die Lücke zwischen Kunst und Alltag überwinden. Auch gestalteten sich ihre künstlerischen Prozesse als vielfach politische Interventionen. Manuela Kramp weist in ihrer Dissertation über Polit Pop (1997) beispielsweise auf die Werke von Klaus Staeck, Ulrich Baehr und Wolf Vostell hin, die sich als politisch engagierte Werke interpretieren lassen. Vostells Décollage Der Kandidat als klassisches Pop-Art-Werk zu deklarieren ließe sich gleichwohl hinterfragen. Wahr ist: Die Grenzen verschwimmen, weil die Aktivität der Zuschauer durch Bilder gänzlich anders generiert wird und Partizipation sich auf andere Weise darstellt. Vostell durchbrach zwar die Gattungsgrenzen von Pop-Art, Happening oder Fluxus, gleichzeitig verdeutlichte er jedoch öffentlichkeitswirksam, sich der Happening- und Fluxuskunst zuzuschreiben. An dieser Stelle sollte auch auf den Einfluss der japanischen Gruppe Gutai hingewiesen werden, die Jiro Yoshihara 1954 in Tokio gegründet hatte und die als parallele Entwicklung zu Happening und Fluxus für die asiatische Aktionskunst steht. In den 60er Jahren vereinte sich Gutai mit der Hi Red Center Group, die wiederum eng mit den Künstlern des New Yorker Fluxus zusammenarbeitete. Allan Kaprow schloss eine direkte Einflussnahme durch Gutai stets aus. Erst 1958 habe er von der Gruppe erfahren, zu einem Zeitpunkt also, da er bereits selbst an Happenings arbeitete. Die Aussage Reißer und Wolfs, dass die Gruppe für Kaprow ein wegweisender Stimulus gewesen sei, ist dahingehend zu relativieren (vgl. Becker 1964: 13 ff./Held Jr. 1988: o.S./Kramp 1997/Reißer; Wolf 2003: 178). 21 Die Nähe zur Conceptual Art zeigt sich bei zahlreichen Happenings.
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Instrumentenkörpers. Die Zerstörung der für das Instrument vorgesehenen Bestimmung und die diese ersetzende neue Sinnoption standen nunmehr im Vordergrund. Semantische Relationen wurden negiert, das Bedeutende und Bedeutete verquert. Es ging um das Aushebeln gängiger Erfahrungsmodi und Bedeutungskontexte, die in den Fällen der Fluxuskonzerte weitreichend waren. So wurde einerseits die Erwartungsrelation zwischen Zuschauer und Künstler konterkariert, andererseits wurde den Gegenständen ein gleichwertiger Part innerhalb der Performance zugestanden. Mit den Dingen wurde interagiert. Indem das Klavier beispielsweise mit Kartoffeln, Eiern oder Wasser gefüttert und getränkt wurde, fielen existente Zuordnungsschemata, die das Instrument bis dato implizierte, weg. Für die Aktionen waren die dem Alltag entrissenen Materialien maßgeblich, da in ihrer De- und Refunktionalisierung ein zentrales Moment der Leben- und Kunst-Überlagerung liegen sollte, die gleichwohl nicht immer in einem dauerhaft existenten Objekt ihren Abschluss finden musste. Ein Jahr zuvor, 1961, hatte George Maciunas der von ihm konzipierten, jedoch so nie veröffentlichten Kunstzeitschrift den Namen Fluxus gegeben und die Kunstrichtung begründet. Abgeleitet vom lateinischen Verb fluere, was so viel bedeutet wie ‚fließend‘, aber auch ‚zerrüttet‘ und ‚zerfallend‘, stand der Begriff für ein internationales Künstlernetzwerk, das in Einzelaktionen, gemeinsamen Ausstellungen, Konzerten und Festivals wie den vorab genannten Festspielen daran arbeitete, den Gattungsbegriff in seine Einzelteile zu zerlegen. Die für damalige Augen und Ohren unbekannte (Un-)Sinngenerierung irritierte die Zuschauer und -hörer und ließ sie zumeist ratlos zurück. So auch nach Benjamin Pattersons Arbeit Paper Piece (1960), in der fünf Performer fünfzehn Papierstreifen, größtenteils Zeitungen, nach des Künstlers Anweisung geräuschvoll rascheln ließen und dann lautstark in Stücke zerrissen. Über zehn Minuten drangen dabei die Knister- und Reißgeräusche des Papiers durch den Raum und bildeten eine ungewohnte Geräuschkulisse. In seiner Bestandsaufnahme zeitgenössischer Musik formulierte Ramón Barce 1964, dass die formellen Verständnismodi innerhalb der Kunst nicht mehr angewendet werden konnten, weil die Form durch den Ritus substituiert und der Klang von den Neo-Dadaisten ad acta gelegt worden war. „Das Ersetzen des Klanges durch den plastischen Ritus zwingt uns dazu, die Anstrengungen dieser plastischen Bedeutungen zu ertragen.“ (Barce 1964: 148) Das Rituelle erschloss sich für den Autor aus dem Zirkushaften, dem Tabu und dem Unmöglichen. Am Beispiel von Nam June Paiks Sonata quasi una fantasia (1962) konkretisierte Barce die Relation zum Tabu. Während der Wiedergabe des Beethoven-Werkes hatte sich Paik bis auf die Unterhose ausgezogen, was Unverständnis bei den Zuschauern hervorgerufen hatte, die mit gänzlich anderen Erwartungen in das Konzert gegangen waren. Paik aber nutzte viele seiner Konzerte, um den Umgang mit Körperlichkeit in einem stilisierten und konventionalisierten Rahmen zu thematisieren. Als er die Cellistin Charlotte Moorman, mit der er häufig zusammenarbeitete, bei seiner Opera Sextro-
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nique (1967) in New York halbnackt musizieren ließ, wurde diese „wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet“ (Wick 1975: 138 f.). Auch wenn Rainer Wick davon spricht, dass die „sozialen Zielvorstellungen“ (Wick 1975: 137) der Fluxuskünstler unausgesprochen blieben, war es ihnen ein großes Anliegen, der konservativen und bürgerlichen Gesellschaft ihre eigenen Schranken vorzuhalten. Der Wunsch nach damit einhergehenden markanten Veränderungen wurde dabei getragen von Aussagen wie der von Roger Vailland: „Jeder Freiheitsgedanke, der nicht mit der Absicht einer Weltänderung verbunden ist, hat am Ende ‚reaktionäre‘ Konsequenzen.“ (Zit. nach Barce 1964: 147) Für dieses gesellschaftliche Wachrütteln vereinte Fluxus die unterschiedlichsten Kunstformen wie konkrete Poesie, neue Musik, den Tanz, das Theater und die bildende Kunst in sich und lehnte sich damit an die dadaistischen und futuristischen Wegbereiter der Avantgarde an. Neo-Dada wurde zum Synonym für die Bewegung. Für Maciunas stellten die Musik- und Geräuschkompositionen, aber auch die simultanen und konkreten Aufführungsmotive Anbindungen an den Futurismus dar. Die Collagen, naiv-humoristischen Spielformen oder provokanten theatralen Improvisationen rekurrierten wiederum auf etwaige Motive der Dadaisten. Aber auch Duchamps Readymade spielte laut Maciunas eine wichtige Vorreiterrolle. Das Fluktuierende des Fluxus meinte somit nicht nur das Ineinanderfließen unterschiedlichster Kunstgattungen, „sondern auch die Aufführungspraxis selbst, die wegen der Einbeziehung von Zufallsmethoden und geringer formaler Festlegungen von Fall zu Fall stark variieren“ (Wick 1975: 52) konnte. Wie bereits bei den Futuristen, Dadaisten, Surrealisten und Situationisten blieb das Streben nach gesellschaftlicher Durchdringung, Bekanntheit und revolutionärem Umbruch qua Kunst auch im Fluxus weitestgehend aus. Einerseits, weil im Grunde immer nur eine selektive Rezipientenschaft erreicht wurde, andererseits, weil die Wirkmächtigkeit der Aktionen zwar für den Moment stets groß war, hinsichtlich einer Längerfristigkeit jedoch zum Erliegen kam. Erst im Zuge der unmittelbaren Politisierung künstlerischer Aktionen in Verbindung mit beispielsweise dem SDS22 konnte von einer stärkeren gesellschaftlichen Einflussnahme gesprochen werden. Dass diese politische Zugehörigkeit wiederum künstlerische Freiheit eingrenzte und ein hierarchisiertes Arbeiten zur Folge hatte, verweist einmal mehr darauf, in welchem Spannungsfeld sich die Künste bewegen, wenn es darum geht, die revolutionären Ideen innerhalb staatlicher Systeme zu implementieren. Mit Fluxus und Happening beginnt meines Erachtens dennoch ein Umdenken hinsichtlich der Art und Weise, wie mit dieser Problematik umzugehen ist. Obschon man einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch im Blick hatte, versuchte man diesem Vorhaben über lokale Interventionen näherzukommen, die über den Kontakt mit 22 Siehe Kapitel Die Gruppen COBRA und SPUR.
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Bürgern oder auch wenig Kunstinteressierten entstehen sollte. Einem fehlenden Anschluss an die Gesellschaft, wie er gerade bei den Surrealisten augenscheinlich wurde, begegnete man mit offensiver Öffentlichkeit. Indem Fluxus sich darüber hinaus den Banalitäten des Alltags widmete, die man an Materialien knüpfte, welche in den 1960ern gang und gäbe in bürgerlichen Haushalten waren, holte man die Rezipienten gewissermaßen aus den eigenen Lebenskontexten ab, um sie dann mit der radikalen Reformierung des Bekannten zu konfrontieren. Die Happenings ergänzten diese Form der Interaktion, wie wir im Folgenden sehen werden, um die Komponente des aktiven Aufforderns zum kollektiven Gemeinschaftshandeln (vgl. Barce 1964: 147 ff./Knapstein 2006: 89/Reißer und Wolf 2003: 176/Wick 1975: 137 ff.). Happening Ausgehend von der abstrakt-expressionistischen Malerei, die das Werk in den Hintergrund stellte, die Aktion fokussierte und sprichwörtlich den ‚Rahmen sprengte‘ erhob Allan Kaprow Ende der 1950er Jahre das Happening zur künstlerischen Form.23 Kaprow, dessen Wurzeln in der abstrakt-expressionistischen Malerei24 lagen, erkannte im kreativen Akt selbst das eigentliche Kunstereignis und begann dieses Tun unter Einbezug alltäglicher Materialien im Sinne einer „Aktions-Collage“ (Damus 2000: 287) zu gestalten. Zusätzlich erweiterte er mit der Einführung räumlich umfassender Installationen, den Environments, das Arrangement des Kunstraumes. Kaprow definierte: „Der Begriff ‚environment‘ bezeichnet eine Kunstform, die einen (geschlossenen oder Freiluft-)Raum gänzlich füllt, die das Publikum umgibt, und die aus beliebigem Material, darunter Licht, Klang und Farbe besteht.“ Indem die Happenings nach und nach ihre kunstspezifischen Räumlichkeiten verließen und sozusagen ‚auf die Straße‘ gelangten, wurde das Vorhaben, die Grenzen zwischen Kunst und Leben fluide zu halten offenkundig. Kaprow verwendete lebensweltliche Dinge und Materialien, Lichtquellen und Alltagsgeräusche für seine 23 Erinnert sei an das Kapitel Abstrakter Expressionismus/Informel. 24 Im Interview mit John Held Jr. hebt Kaprow seinen damaligen Lehrer Hans Hoffmann gesondert hervor und spricht die Vitalität des damaligen New Yorker Umkreises an: „I studied painting then under the greatest teacher in the world of Modernist painting and that was Hans Hoffman, who was of course a distinguished member of the Abstract Expressionist group in New York. And that was the liveliest school you could find anywhere. It was superb. I was very lucky, and when I studied with Meyer Schapiro, who was an eminent historian, it was a parallel study. It was not only art in the practical sense, it was art history and the philosophy of art, which I had been studying in the university before that.“ (Zit. nach Held Jr. 1988: o.S.)
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Happenings und löste sich damit nicht nur von den existenten bürgerlichen Ästhetik-Konzepten, sondern gedeihte letzteren dem Alltag an. Das Happening war für Kaprow „eine Kunstform, die mit Theater ähnlich ist insofern, als sie in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit aufgeführt wird. Ihre Struktur und ihr Gehalt sind eine logische Ausweitung des ‚environments‘.“ (Kaprow 1964: 46) Mehr noch: „A Happening is an assemblage of events performed or perceived in more than one time and place. Its material environments may be constructed, taken over directly from what is available, or altered slightly; just as its activities may be invented or commonplace. A Happening, unlike a stage play, may occur at a supermarket, driving along a highway, under a pile of rags, and in a friend’s kitchen, either at once or sequentially. If sequentially, time may extend to more than a year. The Happening is performed according to plan but without rehearsal, audience, or repetition. It is art but seems closer to life.“ (Kaprow 1964: 5)
Wichtig anhand dieses Zitates bleibt festzuhalten, dass es kein Publikum gebe. Damit sind alle an der Performance Teilnehmenden für Kaprow von vorne herein KoAkteure und eben keine Zuschauer. Das Happening bezeichnete Michael Kirby zudem als „new form of theatre, just as collage is a new form of visual art, and they can be created in various styles just as collages (and plays).“ (Kirby 1966: 11) Happenings waren geprägt von Nonverbalität. Wie beim Fluxus rückten Geräusche, Silben oder einzelne Wörter ohne syntaktische Zusammenhänge in den Vordergrund. Zufall und Spontaneität wurden zudem zu tragenden Säulen der Happenings, auch wenn Kirby betont, dass das nicht bedeutete, dass sie auf jegliche Struktur verzichteten. Schließlich waren „composition and performance […] always prepared.“ (Kirby 1966: 18) Der Verschiebung bekannter Vorgänge in unbekannte Anordnungen war das Interesse der Künstler in den 50er Jahren vorausgegangen, sich unmittelbar mit den direkten Auswirkungen ihrer Kunst zu konfrontieren. Den Institutionen sollte damit eine Kunst entgegengesetzt werden, die sich nicht als Werk festhalten, sondern als kreative Handlung vollziehen ließ und damit nicht nur mit musealen oder theatralen Sehgewohnheiten brach, sondern auch mit den ursprünglichen Erwartungen an die Elemente Raum und Zeit. Kirby spricht in diesem Zusammenhang von einer „alogical function“ (Kirby 1966: 20), die sich innerhalb des „nonmatrixed performing“ (Kirby 1966: 16) offenbarte und deren Bezugspunkt stets die „experiential world of everyday life“ (Kirby 1966: 20) war. Daraus resultierende selbstreferentielle und auf keinen Zweck hin ausgerichteten Aktionen veränderten die Wahrnehmungsmodi aller Teilnehmer, weil sie sich ob der absurd-surrealen Momente Sinn und Bedeutung erst prozessual ergeben konnten – wenn überhaupt. Die aus der Avantgarde bekannten Eigenschaften der Unwägbarkeit, des Wagnisses, der Unvorhersehbarkeit und des möglichen Scheiterns wurden damit aktualisiert.
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Kritisch bemerken Damus und Almhofer, dass durch die künstlerischen Setzungen das Werk gleichwohl keineswegs abgeschafft, sondern das Künstlerindividuum weiter bewusst herausgestellt wurde. Allein dadurch habe das Happening laut Damus trotz der öffentlichkeitswirksamen Beachtung „mit dem realen Leben“ (Damus 2000: 291) nichts zu tun gehabt. Diederichs widerlegt eine solche Kritik mit Rekurs auf Kaprow. Schließlich habe der Künstler die Gegenwart, den Augenblick sowie eine wertfreie Offenheit stets im Blick behalten und jeglicher Historisierung und Vollendung eine Absage erteilt. Gerade weil es ihm um „die gegenwärtige Situation sowie die Lebendigkeit der Person, die diese in ihrem Interesse als Material zu benutzen weiß“ (Diederichs 1975: 2) ging, müsse das Werk im Rückblick wenn schon nicht als aufgelöstes, dann aber doch als hinlänglich verändertes verstanden werden. Die Hinwendung zu performativen Kunstkonzepten zeigt, dass das Werk der Kunst fragwürdig und nur noch schwer bestimmbar wird, aber stets Referenzpunkt bleibt. Im Moment des Vollzugs attackieren die Kunstereignisse einerseits den Werkcharakter, negieren sich also ein Stück weit selbst. Andererseits sind sie als Situationen und Ereignisse im Hier und Jetzt nachvollziehbar, indem sie der Beteiligung oder Initiierung von Künstlern und/oder Zuschauern bedürfen. Für eine entsprechende Dokumentation oder Archivierung ergeben sich Konflikte, die erwünscht sind. Dennoch zeigt sich, dass die implizierte und angestrebte Assimilation von Kunst und Leben nicht automatisch gesteigert wird, nur weil die künstlerische Institutionalisierung abnimmt. Da das künstlerische Positionieren die Grenze zum Alltag bewusst herausstellt, indem es diesen thematisiert und betont, kann die Kunst sich von sich selbst und ihrem Referenzrahmen kaum gänzlich befreien (vgl. Almhofer 1986: 31 ff./Diederichs 1975: 2 ff./Damus 2000: 287 ff./Kaprow 1964: 44 ff./Kirby 1966: 9 ff.). Und doch blieb für die Neo-Avantgardisten die Grenzverschiebung zwischen Alltag und Kunst zentrales Ziel. Als ein Beispiel für den Ablauf eines solchen Happenings, können die Aufzeichnungen von Kaprow in Sohms Band zu seiner frühen Arbeit 18 Happenings in Six Parts (1959) herangezogen werden. In diesen wurden neben dem Ort, der Reuben Galerie in New York, auch die zeitlichen Daten (4., 6., 7., 8., 9., 10. Oktober 1959, jeweils um halb neun Uhr abends) festgelegt. Unter den Cast of Participants fielen neben Kaprow, der sich als Sprecher und Musikinstrumentalist in den Aufzeichnungen ankündigte, auch: Rosalyn Montague, die in Bewegung sein und sprechen sollte; Shirley Prendergast, die musizierte und sich bewegte; Lucas Samaras, der musizierte, sprach und ein Spiel spielte; Janet Weinberger, die musizierte und sich bewegte; Robert Whitman, der sprach, musizierte und sich bewegte; Sam Francis, Red Grooms, Dick Higgins, Lester Johnson, Alfred Leslie, Jay Milder, George Segal und Robert Thompson, die allesamt malten; sowie die Besucher, die auf verschiedenen Stühlen sitzen sollten. An die Besucher richtete
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sich die gesonderte Formulierung, nicht zu rauchen oder das Gebäude während längerer Unterbrechungen zu verlassen. Unter Instructions subsumierte Kaprow, dass die Performance in sechs Abschnitte unterteilt werden sollte. Jeder dieser Abschnitte beinhaltete drei Happenings, die parallel vollzogen wurden und deren Beginn und Ende mit ein Glockenton erkenntlich gemacht werden sollte. Am Ende der gesamten Performance würden zwei Schlaggeräusche zu hören sein. Das Publikum sollte den Sitzordnungen Folge leisten, die ihnen vorgegeben wurden, zudem mussten die Plätze für den dritten und den fünften Abschnitt gewechselt werden. Zwischen dem ersten und dem zweiten Part gab es ein zweiminütiges Intervall, bei dem sitzen zu bleiben war, zwischen Part zwei und drei durfte sich während des 15-minütigen Intervalls frei bewegt werden. Für das zweiminütige Intervall zwischen dem dritten und vierten Abschnitt sollten die Besucher wieder in den Sitzen verharren. Das neuerliche 15minütige Intervall zwischen dem vierten und fünften Part konnte in Bewegung genutzt werden, jedoch ließ Kaprow hier das Wort freely weg. Für das ZweiminutenIntervall zwischen dem fünften und sechsten Part wurde erneutes Sitzenbleiben auferlegt. Die letzte Instruction forderte die Besucher auf, nach den Abschnitten nicht zu klatschen. Dies sollte lediglich nach dem letzten Set möglich sein. Auch der curtain call war zu unterlassen. Der Raum wurde gedrittelt. Dabei gab es keine Einheitlichkeit hinsichtlich Größe, Beleuchtung oder Bestuhlung. Die überordnende Leitlinie für Performer und Zuschauer bildeten Raum und Zeit. Kaprow rückte neben diesen beiden Elementen besonders die Materialien seiner Arbeiten in den Vordergrund. Diese wurden selbst zu Happenings, die laut Diederichs „aus einer Anzahl von Elementen, d.h. aus beliebig gewählten sinnlich-wahrnehmbaren Ereignissen“ (Diederichs 1975: 22) bestanden. Die Kulmination von Material, Raum und Zeit beförderte die Variabilität der Ereignisse im Zusammenspiel mit Künstlern und Besuchern. Da die Konstellationen aller Dinge und Personen sich immerzu veränderten, weil sie mal in Bewegung waren, mal still oder ruhend entstand eine allgegenwärtige Mobilität. Jede Situation war kurz nach Eintritt des Vollzugs schon in Veränderungen begriffen, Wiederholungen von vorne herein ausgeschlossen. Neben der grundsätzlichen Offenheit daraus entstehender Bedeutungszusammenhänge, fasst Diederichs in Rückgriff auf Kaprow einen wichtigen Gedanken zusammen: „Die Aktionen sind nicht durch grammatikalisch-logische Gesetzmäßigkeiten bedingt, sondern folgen mathematisch-abstrakter Logik. Derart unterscheidet sich die Aufführungsform des Happenings grundsätzlich von der des Theaters“ (Diederichs 1975: 27). Durch die formale Materialbehandlung wurden feststehende Determinierungen obsolet. Indem Bedeutungszuschreibungen entsagt wurde, geriet die bloße Materialverwendung in den Blick und transferierte dadaistische Prinzipien in neo-avantgardistische Zusammenhänge. Den 18 Happenings gesteht Diederichs einen „Modellcharakter“ zu, der sich nicht auf die Kunst, sondern das Leben beziehen lässt: „Es geht nicht um die Künste, ihre Verbindung zu einem Ge-
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samtkunstwerk, sondern darum, dem Menschen eine umfassende Wahrnehmung anzueignen“ (Diederichs 1975: 28). Indem Kaprow mittels seiner Aktionen die Wahrnehmung für sich Ereignendes und Vollziehendes, für Handlungen allgemein schärfte, versuchte er gleichzeitig das Bewusstsein dafür mit einer „kritischen Wachsamkeit“ (zit. nach Diederichs 1975: 29) zu verbinden. Innerhalb von Kunst und Leben machte er die zentralen Orte der Befragung aus. Dabei referiert Diederichs, dass Kaprow die ästhetische Wahrnehmung hinter die Wahrnehmung von menschlicher und dinglicher Existenz und Präsenz stellte, weil letztere innerhalb der redundanten Repetition des Alltags kaum Beachtung fanden. Kaprow blieb an der Ästhetik dennoch interessiert, erkannte ihre Relevanz aber vor allem in den Anordnungen von Material, Denken, Natur, Mensch und Leben, deren Zusammenspiel innerhalb des Aufeinandertreffens von Künstlern, Performance und Zuschauern offenbar wurde. Dass es somit erstmal um subjektive Erfahrungen ging, die die Folgen und Konsequenzen des Erlebten in den Hintergrund rückten, ist elementar für Kaprows Kunstverständnis. Obschon seine Happenings geplant waren, oblagen sie keiner Zielgerichtetheit. Dass sich Kaprow, so Diederichs, nach und nach vom Kunstbetrieb ablöste, seine Kunst später ‚Anti-Art‘, hernach ‚Non-Art‘ und ‚UnArt‘ nannte, weist auf seine konsequente Auseinandersetzung mit der Kunst-undLeben-Frage hin.25 Für Kaprow erwiesen sich bilanzierend Kunst und Leben in ihrem jeweiligen Status als labil. Dies nun hatte Folgen für die Menschen, die körperlich in die Environments einbezogen und zum Handeln aufgefordert wurden. Als freiwilliger Teil des Happenings bedurfte es ihres Selbst-Bewusstseins, ihrer Wahrnehmung und ihrer geistigen Wachheit. Der Versuchsanordnung durch den Künstler folgte ein Laborbericht, der einen gemeinsamen Akt der Kreation ermöglichte, welcher wiederum im Kontrast zum ursprünglich Erwarteten stehen sollte und konnte (vgl. Diederichs 1975: 22 ff.; 140 ff./Sohm 1970: o.S.). Einen solchen gemeinsamen Akt der Kreation hatte bereits einige Jahre zuvor John Cage in die Wege geleitet.26 Cage wird mithin als Vordenker des Happenings bezeichnet, der Einfluss auf Kaprow ausübte. Kirby erkennt in den 18 Happenings zentrale Auswirkungen von Kaprows Zusammenarbeit mit Cage, dessen Klasse Kaprow 1958 in der New School for Social Research besuchte. Das Verhältnis zwischen Kaprow und Cage stellt sich als ein ambivalentes und für Diederichs auch überbewertetes dar. Beiden seien durchaus Gemeinsamkeiten zuzuschreiben, zum Beispiel bezüglich der Thematisierung von Zeit oder einem Verständnis von Ästhe25 Vgl. dazu Allan Kaprows Aufsatz The Education of the Un-Artist, Part I (1971) in Kaprow 2003: 97-109. 26 Siehe das Performance und Performativitäts-Kapitel, sowie das Kapitel Zum Verhältnis von Künstler und Kollektiv.
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tik, welches sich am Leben abarbeitet. Kaprow entwickelte im Gegensatz zu Cage jedoch die Überlegung eines „organische[n] Universum[s]“, welches den Individuen und ihren Erfahrungen als „offenstehendes System“ zur Verfügung stehen sollte. Cage plädierte dagegen für ein „kosmische[s] Chaos“, welches mit Hilfe des Zufalls die Denkfreiheit forcieren und „die Verfestigungen habitueller Erfahrungen“ (Diederichs 1975: 164 f.) lösen sollte. Zudem hebt Diederichs hervor, dass Kaprow „sein Denken als Anthropologie“ deklinierte, für welches „das Prinzip der Kommunikation entscheidend“ (Diederichs 1975: 166) gewesen sei. Cage sparte diese Kommunikation entgegen Diederichs Mutmaßung aber keineswegs aus. Die von ihm kreierten Kompositionen widmeten sich alltäglicher Klangkörper und -quellen sowie Augenblicken, in denen Stille, zeitliche Rahmung, Zufall und Geräusche als beeinflussende Faktoren in den Blick gerieten. Immer auch waren diese Kompositionen für ein Publikum gedacht, das die Geräusche selbst hervorbrachte. Erkennbar wird dies an einer von Cages bekanntesten Arbeiten, dem Stück 4'33 (1952), welches aus drei Sätzen ohne Noten bestand und von David Tudor durchgeführt wurde. Dieser saß an einem Klavier auf der Bühne eines New Yorker Konzertsaals, der voll besetzt mit Besuchern war. Tudor spielte nicht, sondern klappte dreimal, vor und nach jedem Satz, den Klavierdeckel auf und zu. Für die Zeit von vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden erlebten die Zuschauer nichts, außer sich selbst und ihrer Geräusche, die zur einzigen Klangfarbe im Raum wurden. Crow beschreibt dahingehend, dass das Stück „eine direkte Reaktion und Hommage auf bzw. an Rauschenbergs monochrome Bilder in Weiß“ (Crow 1996: 123) gewesen sei. Mit dem Theater Piece No. 1 am Black Mountain College in Ashville wurde Cage im selben Jahr dann für viele Künstler unterschiedlichster Disziplinen zum Vordenker einer neuen Gattung. Gemeinsam mit Robert Rauschenberg, Merce Cunningham, David Tudor, Charles Olson, Mary Caroline Richards und Jay Watt veranstaltete er Performance-Abende, die sich aus Dichtung, Malaktionen, Tanz und Musik zusammensetzten. Die Zeitfenster, die jedem Künstler zur Verfügung standen, sollten von diesen autark gefüllt werden und subsumierten sich zu einem intermedialen Happening, das bis auf die zeitlichen Rahmenbedingungen ‚non-matrixed‘ verlief (vgl. Crow 1996: 123 ff./Diederichs 1975: 164 ff./Kirby 1966: 22 ff.). Hannah Higgins, die Tochter des Künstlers Dick Higgins, weist diesbezüglich auf die Zentralität von Cages Kunstklasse für die Happening- und Fluxusbewegung hin. Nicht nur, dass zahlreiche Künstler wie Kaprow, Higgins, George Brecht oder Al Hansen durch seine Schule gingen, die Art und Weise, wie Cage lehrte, galt vielen Künstlern als inspirierender Wegweiser. Dabei ließ er seine Schüler zufallsgeleitete Experimente mittels Musik, Performance und Poesie unmittelbar vor der Klasse improvisieren. Anschließende Diskussionen auf theoretisch-philosophischer Ebene schlossen sich an. Vor allem das von George Brecht entwickelte „Event score“ hat laut Higgins als Technik Einfluss auf die Fluxuskünstler genommen: „In the Event, everyday actions are framed as minimalistic performances or, occasion-
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ally, as imaginary and impossible experiments with everyday situations.“ (Higgins 2002: 2) In Drip Music (1962) beispielsweise stand George Brecht auf einer Leiter und goss von der obersten Sprosse aus mit einer Gießkanne Wasser in einen am Boden stehenden Wasserbottich. Diese alltäglichen Gegenstände (Leiter, Bottich, Wasser, Gießkanne) umzufunktionieren und in einen neuen Kontext zu setzen, mehr noch, auf die musischen Qualitäten dieser Elemente hinzuweisen, wurde vor allem im Fluxus zu einer zentralen Eigenschaft. Cage veränderte mit seinem Wirken aber nicht nur die Aufführungspraxen oder brachte die verschiedenen Kunstgattungen miteinander ins Gespräch. Auch die Etablierung weiblicher Künstlerinnen in den Bewegungen der 50er und 60er Jahre wurde zu seinem Grundanliegen. Über die Auflösung der Gattungsgrenzen rückten insbesondere Tänzerinnen des Modern Dance in den Fokus, die nach und nach vom Tanz aus zu alternativen performativen Kunstpraktiken übergingen. Diese Entwicklung begann Ende der 50er Jahre in San Francisco und setzte sich von dort aus an der Ostküste, hier besonders in New York, fort. Thomas Crow betont dahingehend das mobilisierende Wirken Anna Halprins, die nach der Gründung der Dancer’s Workshop Company 1955 in San Francisco zahlreiche Tänzerinnen wie Yvonne Rainer, Simone Forti oder Trisha Brown mit Künstlern wie Robert Morris oder dem Komponisten La Monte Young zusammenführte. Ihre Choreographien erforderten keine Ausbildung, wie Crow feststellt: „Ihrer Ansicht nach sollten sich die Tänzer an physiologischen Vorgängen und Bewegungsabläufen aus dem Alltagsleben orientieren, ohne durch musikalische Vorgaben oder vorab festgelegte Handlungspläne eingeschränkt zu werden“ (Crow 1996: 124). Alltägliche Bewegungsabläufe wie das Gehen wurden dabei fokussiert und führten zu der Abkehr von Körperdisziplinierungen, wie sie beispielsweise im Ballett der Fall waren. Nachdem bis 1961 der Großteil der jüngeren Mitglieder nach New York gezogen war, ergab sich ebendort ein neuer Zusammenschluss mit der bildenden Kunstszene und den HappeningKünstlern. Gemeinsam mit Yoko Ono, deren Dachboden in Manhattan als Aktionsraum genutzt wurde, entwickelte Forti die Arbeit Halprins weiter. Fortan sollte der Tänzer nicht mehr den Mittelpunkt der Bühne bilden, sondern die Choreographie für die „Absolvierung von Aufgaben und Spielen“ genutzt und die Musik durch Sprechtexte ersetzt werden. Parallel zu diesen Aktionen fanden zudem „[Yves; PG] Kleins theatralische[...] Auftritte“ (Crow 1996: 125) im Rahmen seiner Ausstellungen statt, die eine völlig andere Richtung anschlugen. Und auch George Maciunas verlegte seine eher literarischen Aktionen in die gemeinsam mit dem Galeristen Almus Salcius eröffnete AG Gallery in Manhattan. Immer wieder kam es dort zu Ko-Produktionen mit Tänzern und Musikern wie Young, Robert Dunn, Rainer und Forti. Aus diesen beiden Gruppen bildeten sich hernach die Judson Dance Group und die Fluxusbewegung. „[B]eide“, so Crow, „hatten [sich] die Gleichberechtigung in der Kunst und im politischen Leben auf die Fahnen geschrieben“. Die Judson Dance Group offerierte dabei ein Portal, das in den Hallen der Judson Memori-
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al Church Workshops anbot, in denen beispielsweise Carolee Schneemann ihre Performance Meat Joy (1964) entwickelte oder Yvonne Rainer die Tanzperformance We shall run (1965). Der Umgang mit dem Körper spielte fortan eine immer zentralere Rolle. Thematisierte Rainer häufig bekannte Alltagsbewegungen, zelebrierte Schneemann exzessive Körperorgien, in der sie nicht nur nackte Performer miteinander oder mit toten Hühnern und rohem Fisch in Interaktion treten ließ, sondern auch die Zuschauer zum Mitmachen aufforderte. Die Relationen zwischen Körperpolitiken, Umgang mit Nacktheit und Tabus, Ekel und Zuschauereinbezug gerieten in einen radikalen Zusammenhang, der auf gesellschaftliche Problemstellungen aufmerksam machen sollte. Laut Crow ist in den Workshops ein „anti-hierarchische[s] Konsenmodell[...]“ wirksam geworden, das als „öffentliche[s] Forum, […] Intellektuelle, Künstler und politische Aktivisten“ (Crow 1996: 126) in Kontakt brachte. Etwaige körperpolitische Aktionen gingen nunmehr auf europäischem Boden durch die Gruppe der Wiener Aktionisten weit über Schneemanns Happenings hinaus. Otto Mühl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler und Günter Brus fanden sich zwischen 1962 und 1970 zusammen, um mit ihren Happenings die akademische, parlamentarische und religiöse Szene Wiens auf deren realitätsferne Diskurse aufmerksam zu machen. Blut, Tierkadaver und nackte Körper wurden ins Zentrum der Performances gestellt, in denen sexuelle Praktiken oder das Schlachten von Tieren an öffentlichen Orten vollzogen wurden. Insbesondere die christlich fundierte Statik, die das Weltbild der österreichischen Nachkriegsgesellschaft nach Meinung der Wiener Gruppe prägte, wurde dabei zur Zielscheibe der Aktionen. In Form von Opferritualen machte man sich religiöse Strategien zu Nutze, die man damit in Frage stellen wollte. Juristische Vorwürfe der Blasphemie und Gotteslästerung wurden von den Künstlern durch Provokationen wie der Zerreißung von Lämmern, der Kreuzigung nackter Menschen sowie dem Masturbieren oder Urinieren in den Räumen der Wiener Universität bewusst antizipiert. Neben dieser politischen Implikation strebte beispielsweise Nitsch auch die „polysensorial[e]“ (Popper 1975: 26) Partizipation der Teilnehmer an, um subjektive Sinnzusammenhänge innerhalb der Umwelt und Gesellschaft radikal zu überprüfen. Das Aufeinandertreffen von Künstlern und Zuschauern erreichte durch Arbeiten wie diese einen nicht mehr zu kontrollierenden Anstrich. Wut und Schock, Jubel oder Anfeuerung – die Bandbreite affektiver Reaktionen sollte aufgeworfen und nachhaltig irritiert werden (vgl. Crow 1996: 124 ff./Higgins 2002: 2 ff./Popper 1975: 25 ff./Reißer; Wolf 2003: 175/Zimmer 2002: 325 f.). Wie aber verhielt es sich mit einer solchen nachhaltigen Wirkung der neoavantgardistischen Gruppen? Zeigten sich tatsächlich dauerhaft fundamentale Veränderungen bezüglich des bis dato existenten Künstler-Zuschauer-Verhältnisses? Welche Konsequenzen erwuchsen aus Cages Aufforderungen zum selbstbestimmten Hören von Geräuschen, Schneemanns Körperpraktiken oder den blutigen UniBesetzungen der Wiener Aktionisten? Für Bürger blieb, wie bereits im Kapitel zur
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Avantgarde erörtert, die Wirksamkeit der neo-avantgardistischen Kunst aus. Kritisch bilanziert er: „Selbstverständlich gibt es auch heute Versuche, die Tradition der Avantgardebewegungen fortzusetzen (daß man diesen Begriff niederschreiben kann, ohne daß er als Oxymoron auffiele, zeigt einmal mehr, daß die Avantgarde historisch geworden ist); aber diese Versuche, wie z.B. Happenings – man könnte sie als neoavantgardistisch bezeichnen –, vermögen den Protestwert dadaistischer Veranstaltungen nicht mehr zu erreichen, und das unabhängig davon, daß sie perfekter geplant und durchgeführt sein mögen als diese. Das erklärt sich einmal aus der Tatsache, daß die Wirkungsmittel, die die Avantgardisten einsetzten, inzwischen einen beträchtlichen Teil ihrer Schockwirkung eingebüßt haben. Entscheidender dürfte jedoch sein, daß die von den Avantgardisten intendierte Aufhebung der Kunst, ihre Rückführung in die Lebenspraxis, de facto nicht stattgefunden hat“ (Bürger 1974: 79).
Über die Ambivalenz der Rückführung von Kunst in den Lebensalltag haben wir bereits diskutiert, hier nun möchte ich den Worten Bürgers jene von Hans Richter gegenüberstellen, der als Dadaist einen ganz eigenen Blick auf die Happenings entwickelte. Es war Duchamp, der ihn, Richter, auf ein Happening Kaprows aufmerksam gemacht hatte, welches in New York „in einem enormen Hinterhof eines Wolkenkratzers, des größten ‚Flop‘-Hauses der Welt (Mills Hotel) in der Village statt[fand]“. Richters genaue Beschreibung 27 endet mit der Bilanz: „Ein Ritual! Rhythmisch, räumlich, farblich, bewegungsmäßig komponiert, hatte es durch den ‚Ort‘ des Ereignisses etwas Schauerliches, Ergreifendes, obgleich ja der Sinn dieser ‚Handlung‘ dem Verstand nichts oder wenig bot“. Und doch, so der Dadaist weiter: „Sie verlangte nach der Mitarbeit des Publikums“ (Richter 1964: 217 f.). Richter knüpfte diese eigene Seh-Erfahrung an das grundlegende Dilemma des durch die Pop-Art hervorgerufenen „verzweifelt-begeisterten ‚schönen‘ Augenblicks-Taumel[s]“. In der Anti-Kunst machte er die einzige Möglichkeit aus, um dem Problem effektiv zu begegnen und „unser Menschtum transzendental [zu; PG] bestätigen“ (Richter 1964: 218). Dabei blieb es für das ehemalige Dada-Mitglied unerheblich, dass ihm und seinen Gruppenkollegen die Durchsetzung am Ende nicht gelungen war. Laut Richter produzierte ausschließlich die Anti-Kunst jene elementare Performativität, die das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft in einem volatilen Zustand zu halten imstande sein würde. Auch wenn die Neo-Avantgardisten diese Anti-Kunst weniger radikal fassten, so bezogen sie sich ausdrücklich auf die dadaistischen Wegbereiter und entwickelten deren Vorarbeit, entgegen Bürgers These, weiter. Dass der ‚Protestwert‘ dabei per se grundlegend verlagert wurde, lässt Bürger außen vor, dabei sind die biogra27 Vgl. für den Inhalt der Performance Richters Ausführungen in: Richter 1964: 217-218.
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phischen und soziopolitischen Differenzen zwischen den Künstlern der historischen und der Neo-Avantgarde relevant. Als Kinder des Zweiten Weltkrieges mussten die meisten Künstler der Neo-Avantgarde entgegen ihrer künstlerischen Vorreiter nicht in den Krieg ziehen, obschon auch sie tiefgreifend geprägt wurden von den Schrecken und Nachwehen des Krieges. Schuld und Aufarbeitung blieben damit den Nachfolgern gleichermaßen allgegenwärtig, und doch begann Anfang der 1960er Jahre eine durch das Wirtschaftswunder ausgelöste gesellschaftliche Veränderung, die starken Einfluss auf die künstlerischen Arbeiten nahm. Die kapitalistischen, marktorientierten und konsumistischen Wirkweisen der Wirtschaft veränderten die Mechanismen von Macht, Teilhabe und Partizipation und beeinflussten den Gestaltungsspielraum der Menschen elementar. Sorge bereitete den Situationisten, Happening- und Fluxuskünstlern deshalb zunehmend die Einfalt und Konsumsucht in der Gesellschaft. Gepaart mit Plädoyers gegen den Vietnamkrieg und auch gegen ein Verdrängen der eigenen Geschichte wurde der Durchschnittsbürger zum Adressaten der Künstler, dessen Aufmerksamkeit es zu gewinnen galt. Richtig ist, dass die Neo-Avantgardisten die alten Vorgehensweisen für die akuten Problemstellungen weiterhin als sinnvoll und vorbildlich erachteten. Jürgen Becker greift beispielhaft Kurt Schwitters28 Anordnungsversuch zur Merzbühne aus dem Jahr 1918 als Verbindungspunkt auf, welcher sich gewissermaßen als Happening realisierte. Auch Boccionis Eingliederung eines Fensterrahmenstückes in eine Plastik oder die kubistische Integration realer Materialien in die Malerei deuten Becker und auch Kirby als einen Bruch mit ästhetischen Paradigmen, die zu einer neuen Ausrichtung künstlerischer Praktiken hinführten. Vor allem aber „Dadas antikünstlerischer Elan“, der „Tabula rasa machte im ästhetischen Bereich“ (Becker 1964: 10) und somit der Realität Eintritt gewährte, übertrug sich auf die Künste der 50er und 60er Jahre. Und doch lösten sich die Künstler insoweit von den Ahnen, indem sie die Durchführung konsequent in der realen Öffentlichkeit vollziehen wollten. Durch die Zuhilfenahme von Materialien aus der Realität, die Verortung außerhalb der Galerie, die zeitliche Bezugnahme, den Bruch mit der Linearität, die räumlichen Entgrenzungen und die damit einhergehende künstlerische Prozessualität wurde die neo-avantgarde Kunst zu einer alternativen Ausformulierung, die die ‚Rückführung 28 Auch Wick macht auf die Wurzeln im Dadaismus aufmerksam und verweist auf Schwitters’ Wunsch, mit seinem Merzgesamtkunstwerk die Kunstarten zusammenzufügen und deren Grenzen unsichtbar werden zu lassen. Insbesondere Michael Kirby stellte die Verbindung von Happening zu Dada und hier besonders Schwitters her. Dabei berief er sich auf dessen collagenartiges Arbeiten, das den Environment-Charakter besonders im Rahmen des Merzbaus allererst darstellte. „It is in Dada that we find the origins of the nonmatrixed performing and compartmented structure that are so basic to Happenings.“ (Kirby 1966: 29) (vgl. Kirby 1966: 22 ff./Wick 1975: 32).
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in die Lebenspraxis‘ auf noch einmal anderen Wegen ersuchte und diese eben nicht unreflektiert reproduzierte (vgl. Bürger 1974: 79/Becker 1964: 10 ff./Richter 1964: 216 ff.). Als prägende Figur neben Kaprow und Cage ist für diese Ausformulierung auf Wolf Vostell zurückzukommen, den Wick als „produktivste[n], profilierteste[n] und prominenteste[n] Happeningkünstler außerhalb der Vereinigten Staaten“ (Wick 1975: 112) bezeichnet und der seine Arbeit zutiefst sozialkritisch verstand. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt, besagte Nachwehen des Zweiten Weltkrieges und die Banalität der Alltagsvorgänge in absurdem Kontext vermengten sich in Vostells Arbeiten. Der Künstler suchte den Bruch mit den Erwartungshaltungen der Menschen auf der Straße, indem er einerseits auf partizipative Techniken setzte, andererseits aber auch karikierende Motive nutzte, um auf die Absurdität bestimmter Zustände aufmerksam zu machen. In dem Flyer zur Ausstellung Das Theater ist auf der Strasse – Happenings von Wolf Vostell29 heißt es: „Happenings waren für Wolf Vostell Instrumente der Bewusstmachung von Zeitphänomenen. Als großer Moralist konfrontierte er die Teilnehmer immer wieder mit den alltäglichen Katastrophen, mit dem Grauen von Krieg und Zerstörung, dem Hässlichen in der Welt, die niemals unschuldig sein würde. Die Wirklichkeit sollte zum integralen Bestandteil der Kunst werden. So setzte Vostell dem objet trouvée der Dadaisten sein Konzept des vie trouvée entgegen. Nicht nur den Kunstbegriff mit seinen starren und tradierten Formen, sondern vor allem auch das Leben müsse man erweitern: ‚Duchamp hat das Objekt zur Kunst erklärt, ich habe das Leben selbst zur Kunst erklärt.‘“ (o.A. 2010: o.S.)
Das Anliegen, Leben und Kunst aneinander zu binden, ließ Vostell Zeit seines Lebens nicht mehr los. Ohne das Publikum, die Nicht-Künstler, die Menschen der Straße erschien ihm dies unmöglich. Das Interesse an der Gesellschaft und deren Individuen stellte er deshalb über die Kunst: „Die Erweiterung des Lebens ist mir wichtiger“ (o.A. 2010: o.S.). In den Happenings erkannte Vostell das Potential zu einer solchen Erweiterung, die als „Ereignisse […] Waffen zur Politisierung der Kunst“ (Vostell 1970a): 3) werden konnten. Damit verwies Vostell nicht nur auf den eigenen Anspruch, der Kunst eine bodenständige Haltung anzugedeihen, sondern mittels der künstlerischen Ereignisse diese Politisierung auch im Leben zu verankern. Wenn Bürger also seinen Kritikpunkt formuliert: „Die Neoavantgarde institutionalisiert die Avantgarde als Kunst und negiert damit die genuin avantgardistischen Intentionen“ (Bürger 1974: 80), verkennt er offenbar die Zielrichtung, die gerade Vostell anstrebte. Seine Denkbewegung begann im Leben und sollte 29 Die Ausstellung fand vom 6. Juni bis 15. August 2010 im Museum Morsbroich in Leverkusen, Vostells Geburtsort, statt.
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auch ebendort zirkulieren. Kaprow und Vostell eliminierten „die eingeübte Distanz zwischen dem Kunst-Ereignis und seinem Publikum“, indem sie im Gegensatz zu den Dadaisten, die „Arbeitsteilung [aufhoben], die Kunst in Produzenten und Konsumenten [aufzuteilen].“ (Becker 1964: 13) In den Happenings wurde die „von den verschiedenen Künsten dieses Jahrhunderts betriebene Auflösung der ästhetischen Bereiche endgültig [vollzogen]“. Die Zuschauer rückten dadurch zwangsläufig in den Mittelpunkt: „Indem es [das Happening; PG] die Realität zu seiner Stätte macht, macht es zugleich den Menschen in dieser Realität zu seinem konstituierenden Element.“ (Becker 1964: 14) Diesen realitätsnahen Einbezug aller Anwesenden hat sich die performative Kunst bewahrt. Findet sich der Ursprung dafür bei den Künstlern der historischen Avantgarde, überführen die Künstler der Neo-Avantgarde diesen in eine tatsächliche Praxis der Teilhabe. Dabei wurde die Kunst der 1960er Jahre zum Katalysator für zeitgenössische Gemeinschaftsarbeit und das experimentelle Ausprobieren künstlerischer Arbeitsformen, die ich bereits im Kollektiv-Kapitel beschrieben habe und die Begriffe wie das Labor, Team oder Netzwerk nach sich ziehen. Enden soll dieses Kapitel zum Verhältnis von Künstler und Zuschauer deshalb mit einem weiteren zeitgenössischen Beispiel, das auf die Fundamente der historischen und NeoAvantgarde ebenso wenig verzichten kann, wie auf deren Übersetzung in das 21. Jahrhundert (vgl. Becker 1964: 9 ff./Bürger 1974: 80/o.A. 2010: o.S./Vostell 1970a): 3 f./Wick 1975: 75 ff.; 111 ff./Zimmer 2002: 325 f.).
P ERFORMATIVES T UN II: S HOWCASE B EAT L E M OT – V OTE Z OMBIE A NDY B EUYZ „Da ist er, dein Handlungsraum. Mach’ was draus!“ Die Fülle an Möglichkeiten, die die Performancegruppe Showcase Beat Le Mot30 gemeinsam mit der Performerin Angela Guerreiro den Zuschauern offerieren, scheint so überbordend wie begrenzt, so sortiert wie chaotisch. Da sind Regale zugestopft mit Massen an Toastbrot. Ein weiteres Regal wartet mit Teppichen auf, eines ist mit einer Reihe Einkaufstrolleys versehen, das nächste mit Fritz Kola-Kisten, die volle und leere Flaschen des Trend-Gebräus beinhalten. In einer Etage des als Viereck angelegten Re30 Gegründet wurde das Kollektiv 1997 von vier ehemaligen Studenten der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen: Nikola Duric, Dariusz Kostyra, Thorsten Eibeler und Veit Sprenger. Bis 2004 war auch Florian Feigl Teil der Gruppe. Er arbeitet mittlerweile mit Otmar Wagner in dem Projekt Wagner-Feigl-Forschung (vgl. http://www.showcase beatlemot.de/de/showcasebeatlemot.html, Stand: 02.04.2014). Die Performance fand am 07. November 2008 im Düsseldorfer Forum Freies Theater in der Spielstätte Juta statt.
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gals befinden sich zwei vor sich hinsprudelnde Schokobrunnen nebst Spießen, Obst und Keksen, auf einem weiteren Regalboden liegen frisches Graubrot, Schmalz, Gurken, Salz und weitere schmackhafte Dinge für das Abendbrot. Im Innenraum dieses quadratisch arrangierten, fast deckenhohen Regalreigens arrangiert sich der Zuschauer. Wer sitzen will, zieht sich einen Stuhl aus einem Berg von Stühlen. Ein waghalsiges Unterfangen. Der Raum ist abgedunkelt, der Umraum auf der anderen Seite des Regalquadrats formiert sich als Gang. Betritt der Besucher diesen, ergibt sich dadurch die einzige Möglichkeit, die reale Bühne des Forum Freien Theaters in Augenschein zu nehmen. Der Gang grenzt unmittelbar an die Sitzreihen an, auf denen ebenfalls Platz genommen werden kann. Es entsteht eine irritierende ‚Raumaneinanderreihung‘. Die Basis dafür bildet der Theatersaal des FFT. Dieser real existierende Raum, der zudem durch seine Aufteilung ‚Bühne versus Zuschauerraum‘ als Ort theatraler Aufführungsmöglichkeiten identifizierbar ist, entledigt sich seiner vorgegebenen Frontalstruktur insoweit, als dass er einen weiteren, nämlich den von den Performern gestalteten und konstruierten Raum, eröffnet. Abbildung 15: Showcase Beat Le Mot: Vote Zombie Andy Beuyz
Quelle: Alexej Tchernij/Showcase Beat Le Mot
Dieser Raum kann im Sinne eines „geometrische[n] Raum[es]“ (Fischer-Lichte 2004: 186) verstanden werden. In der Performance ist es der von den Künstlern gestaltete Raum, der der Geometrie des vorgegebenen Theaterraums aufoktroyiert wird und in der sich nun die Zuschauer anzuordnen haben. Hineingefunden hatten die Besucher mit Hilfe einer Mitarbeiterin des FFTs, die ihnen zu Beginn der Performance den Weg zur Eingangstür gewiesen hatte. Durch diese gelangten sie, in-
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dem sie unter einem Armspalier entlangliefen, das von den Künstlern gebildet wurde und die Richtung hinein in das von Regalen begrenzte Raumquadrat vorgab. In diesem Raumquadrat nun zeigt sich: Die Performer haben sich nicht nur den Bühnenraum, sondern sogleich den Zuschauerraum zu eigen gemacht. Die konventionalisierte Anordnung von Künstlern auf der Bühne, die sitzenden und zahlenden Zuschauern etwas präsentieren, ist aufgehoben. Dabei wird der Zuschauer seiner eingeübten Verhaltensweise des ‚Platzeinnehmens‘ beraubt und stattdessen noch abhängiger von der Anleitung der Performer.31 Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie der Zuschauer den Raum im Raum wahrnimmt durch die Performer durchaus beeinflusst und auch gelenkt wird. Plötzlich aber ist damit Schluss. Nachdem die Einlassprozedur vollzogen ist, sind die Zuschauer auf sich gestellt. Abbildung 16: Showcase Beat Le Mot: Vote Zombie Andy Beuyz
Quelle: Alexej Tchernij/Showcase Beat Le Mot
Der Rückgriff auf ‚Bekanntes‘ ist obsolet, die schriftliche oder sprachliche Folgeanweisung oder eine weitere Vorgabe bleiben aus. 31 Eine ausdifferenzierte Analyse des Machtbegriffes bleibt hier aus. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass in dieser Performance die ‚Machtverteilung‘ keineswegs als Gegensatz zu Foucaults „‚Entunterwerfung‘“ (zit. nach Mersch 2002: 275) zu verstehen ist, die „Kunst […] als Kritik der Macht“ (Mersch 2002: 275) laut Mersch praktisch ermöglicht. Vielmehr lässt sich das Spiel mit dieser Verteilung von Macht als Strategie von Showcase Beat Le Mot ausmachen, um der ‚Entunterwerfung‘ eine sprichwörtliche Bühne zur Diskussion zu verschaffen.
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Nur zwei Performer, die auf den gegenüberliegenden Regaletagen Platz genommen haben und als Andy Warhol und Joseph Beuys verkleidet sind, bilden Fixpunkte für die Zuschauer, von denen sich ein Hinweis auf die weitere Vorgehensweise erwarten ließe. Doch eins vorneweg: Sie werden den ganzen Abend kein Wort sagen, sondern nur tun. ‚Andy‘ beginnt plötzlich die Regler eines Mischpults zu bedienen, ‚Beuys‘ wirft derweil Papierkügelchen und andere Gegenstände auf die Zuschauer. Im Innenraum des konstruierten Raums im FFT-Theatersaal befindet sich nun eine Gruppe von Besuchern, die sich in einem Stuhlkreis zusammengefunden hat und miteinander zu reden beginnt. Einige andere bleiben am Rand stehen. Außerhalb der Regale, in jenem schlauchförmigen Gang, beginnen die Performer irgendwann mit einem choreographierten Tanz, dem eine Wiederholung nach der anderen folgt, bis er in einen ritualisierten Akt überzugehen scheint. Dass ‚da draußen‘ was passiert, können die Zuschauer anhand der im Takt gesetzten Fußtritte sowie der schwerer werdenden Atmung hören. Zu sehen sind jedoch nur hier und da Teile der Performerkörper, die durch die vollgestellten Regale hervorblitzen. Die Zuschauer sind auf sich gestellt und gestalten nunmehr ihren eigenen Raum. Sie erweitern den „performativen Raum[...]“ um einen weiteren, den zuschauerspezifischen Handlungsraum.32 Der performative Raum, so beschreibt es Fischer-Lichte, „eröffnet besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, für Bewegung und Wahrnehmung, die er darüber hinaus organisiert und strukturiert.“ (Fischer-Lichte 2004: 187) Fischer-Lichte geht davon aus, dass er die „Art ihrer Nutzung und Realisierung“ (Fischer-Lichte 2004: 189) nicht vorab festlegt. In der Showcase-Performance aber zeigt sich, dass sich jeder einzelne Zuschauer den performativen Raum individuell strukturiert und organisiert, dies jedoch innerhalb eines zuvor angelegten Raum-Gefüges tut, welches nicht von ihm vorbestimmt wurde. Das heißt: Der Ort, an dem der Zuschauer seinen eigenen performativen Raum zu entwickeln beginnt und/oder erschließt ist bereits präfiguriert und damit in gewisser Weise besetzt. Diese ‚Festlegung‘ a priori ist dem performativen Raum in der Showcase-Performance eingeschrieben. Inwieweit der einzelne Zuschauer sich zu diesem Raum verhält, bestimmt er selbst, doch dass diese individuelle Nutzung von den gegebenen Bedingungen abhängt, ist für die Performance maßgeblich. Das Spannungsfeld ergibt sich an genau diesem Punkt, also an der Schnittstelle zwischen Präfiguration und Autonomie. Die Performer ignorieren die Zuschauer und vollziehen das, was gewissermaßen Aufführungscharakter hätte, nämlich die Tanzchoreographie, außerhalb deren Sichtfelder. Die Aufgabenverteilung ist verschoben, keiner der Besucher weiß, was er hier soll und wie es weitergeht. Die Un32 Für Fischer-Lichte sind Theaterräume „immer performative Räume“ (Fischer-Lichte 2004: 188). Siehe auch das Kapitel Künstler, Zuschauer und (kollektive) Wahrnehmung.
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sicherheit währt viele lange Minuten, dann beginnen die ersten, sich am Schokoladenbrunnen zu verköstigen, das ein oder andere Getränk zu trinken oder die Utensilien in den Regalen zu durchforsten. Die Tänze der Performer werden derweil von immer mehr Lauten durchdrungen, die an rituelle Volkstänze erinnern, auch das rhythmische Stampfen verfängt sich alsbald in einer tranceartigen Rezitation, die im Verlauf rituellen Charakter annimmt. Analog dazu verweist der Beuys-darstellende Performer im Inneren des (Zuschauer-)Raums auf vermeintliche Eigenschaften eines Schamanen.33 Das von zahlreichen Künstlern der Performance Art aktualisierte Ritual als tragfähiges Element für künstlerisches Tun wird in Vote Zombie Andy Beuyz in den Fokus gerückt. Die ritualisierte Vorgehensweise von Zuschauern in theatralen Rahmungen gerät dabei als allererstes in den Abfalleimer, den Andy Warhol, der nicht nur den Künstler, sondern auch einen Mitarbeiter der Müllabfuhr darstellt, bereithält. Am Ende der etwa dreistündigen Performance, die die Zuschauer größtenteils mit sich selbst, Gesprächen mit anderen Besuchern oder dem Begutachten der Regale verbringen zeigt sich, dass dem konventionalisierten Verhältnis von Performer und Zuschauer hier der Spiegel vorgehalten wird. Das Ritual kommt im Sinne Merschs als „kontaminierende[s] Ritual“ (Mersch 2002: 37) daher, welches erst als solches widerständig werden kann. Die widerständige Handlung wird dem Zuschauer auferlegt, indem er fortan die Regie des Abends übernehmen soll. Erst im Verlauf eines künstlerischen Ereignisses, so verdeutlicht Dirk Baecker, realisiere der Zuschauer, dass er eine „aktive Rolle“ einnehme. Unklar aber bleibe stets, „worin diese Rolle besteht.“ (Baecker 2011: 26) Bis zum Schluss der Performance bleibt also eigentlich viel zu tun und doch im Grunde nichts. Irgendwann pausieren die Tänzer nicht nur, sie hören auf. Die Besucher blicken sich fragend an. Einige Minuten später beginnt einer von ihnen zu klatschen. Nach und nach fallen 33 Mit Mersch lässt sich die Figur des Schamanen auch auf andere Weise einführen. So sei das „Abenteuer des Sturzes aus den Kategorien“, welches jeden „artistische[n] Grenzgang“ ereilen könne immer verbunden mit einer „Konfrontation mit dem Nichts“. Mersch konstatiert, dass dadurch der Kunst Beuys’ „das Prekäre der Einsamkeit und des kriterienlosen Übergangs – das Paradox, ein Ethos vorbilden und sanktionieren zu müssen, dessen Geltung auf keine Weise verbürgt werden“ (Mersch 2002: 275) könne, anhänge. Somit sei eine „Unverständlichkeit des Neuen […] der Verständnislosigkeit des Grenzgangs konform: Wie diese[s] muß er erst durch den Gang auf den Weg gebracht und aus sich gesetzt werden“. Der daraus resultierende „Grenzgang“ mache den Künstler zu etwas Extraordinärem, zu einem „Schamane[n]“. Durch die sich daraus ergebende „Distanz zum Anderen“ entstehe aber eben auch die „Inszenierung einer Hierarchie: Der Künstler muß seinen Maßstab aus sich schöpfen.“ (Mersch 2002: 276) Diese inszenierte Hierarchie lässt sich auf die Rahmung von Showcase Beat Le Mot übertragen und wird als Motiv augenscheinlich.
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die anderen mit ein. Es gibt keine Verabschiedung und auch keinen richtigen Abgang. So strukturiert der Beginn war, so offen bleibt das Ende. Showcase Beat Le Mot nehmen sich der Partizipation in dieser Performance auf inhaltliche Weise an. Im Gegensatz zu den Happeningkünstlern der 1960er Jahre, verlegen sie Vote Zombie Andy Beuyz in eine Kunstinstitution, um den Konflikt der damit einhergehenden Paradigmen vor Ort aufzuzeigen. Dieser Konflikt ergibt sich zuvorderst durch ein Spiel zwischen hierarchischen und anarchischen Anordnungen, die auf Performer und Zuschauer gleichermaßen einwirken. Aus der Tatsache, dieses schwebende Wechselverhältnis in (Un-)Gleichgewicht zu bringen, ergibt sich die grundlegende Dynamik der Performance. Produktion und Rezeption lassen sich nicht auseinanderdividieren. Auf einen diesem Gedanken vorausgehenden Aspekt hatte bereits Hans Robert Jauss in seiner Kleinen Apologie der ästhetischen Erfahrung hingewiesen: „Ästhetische Erfahrung zeichnet sich ahso [sic!] nicht allein nach der Seite ihrer Produktivität als Hervorbringung durch Freiheit, sondern auch nach der Seite ihrer Rezeptivität als ein ‚Aufnehmen in Freiheit‘ aus.“ Die von Jauss angestrebte „Praxis des Handelns“ (Jauss 1972: 48) entstehe demgemäß dann, wenn eine generelle Offenheit und Unbestimmtheit hinsichtlich des Produzierten bestehen bleibt. Erst dadurch werde ein autarker Rezeptionsvorgang möglich. Indem Künstler und Zuschauer ein nunmehr kommunikatives Verhältnis eingehen, wird das, was historische und Neo-Avantgarde zu revolutionieren versuchten im 21. Jahrhundert einmal mehr Realität: Aktive Teilhabe, durch die gedankliche Umbrüche, Anti-Dogmatismen und vor allem Kritik überhaupt erst artikuliert werden können (vgl. Fischer-Lichte 2004: 186 ff./Holert 2010: 138 ff./Jauss 1972: 47 ff./ Mersch 2002: 37 f.; 251 ff.).
Résumée
Wo also steht die performative Kunst heute, wenn wir sie mit einer neu zu lesenden Avantgarde zusammendenken? Für eine darauf antwortende Abschlussbemerkung möchte ich auf die Vorannahmen für diese Arbeit zurückkommen. Ausgang meiner Überlegungen war der Diskurs der Avantgarde, der diese vielfach als gescheiterte stigmatisiert hat. Tatsächlich bestehen an dem Rückzug der historischen und neo-avantgardistischen Bewegungen keine Zweifel, wie aber verhält es sich mit ihrer nachträglichen Wirksamkeit? Eingedenk der Hypothese, dass es eine solche heute noch gibt, drängt sich im selben Gedankenschritt die Frage auf, wie diese im 21. Jahrhundert zu überprüfen ist. In der Arbeit habe ich dafür einen Modus gewählt, der die permanente Infragestellung der Avantgarden berücksichtigt, jedoch über die Verknüpfung von historischer Rückschau einerseits und dem Blick auf das zeitgenössische Tun andererseits einen Ausweg sucht. Das Performative wurde zum notwendigen Gehilfen für diese Verschränkung, weil es einer Stillstellung, Setzung oder einem Endpunkt per se widerspricht. Die Methode bestand nunmehr darin, diese performative Qualität aufzugreifen und unmittelbar an der Avantgarde selbst zu exemplifizieren. Dies geschah im Zuge der Entscheidung, die Avantgarde anhand von vier Parametern sichtbar zu machen, um so den Blick auf ihre Elemente freilegen zu können. Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation habe ich dabei als wesentliche Charakteristika der Avantgarde ausgemacht, die umgekehrt von den Avantgarden geprägt wurden. Die defragmentierte Betrachtung der historischen und Neo-Avantgarden wurde damit einem chronologischen Modell entgegengesetzt, um auf diese Weise die Relevanz des Performativen darstellbar zu machen. Eine Akzentuierung der in den Avantgarden entwickelten Praktiken, deren Energien den aktuellen performativen Arbeiten inhärent sind, wurde dadurch möglich. Um dies zu verifizieren fanden zeitgenössische Performancebeispiele Eingang in den Text. Das Präsente und den Vollzug als Nachvollzug der historischen Vorbilder zu verstehen und darob mit Hilfe des Performativen zu beschreiben, wurde zur Grundlage. Durch die Verschränkung der künstlerischen Darstellungsweisen von beispielsweise Futuristen, Surrealisten, Da-
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daisten oder Situationisten mit jenen der zeitgenössischen Performancekünstler konnte hernach eine avantgardistische Neuschreibung in Gang gesetzt werden. Dies erfolgte nicht, um diese in einen postmodernen Diskurs zu überführen, sondern, um die reformulierten Avantgarden fernab von epochenhaften Setzungen mit der Performance-Kunst ins Gespräch zu bringen. Einem temporalen Modell der Avantgardeforschung wurde damit ein topologisches entgegengestellt, das einen alternativen Zugriff auf die moderne Avantgarde und ihre vermeintliche Aporie allererst ermöglichte.1 Das Scheitern geriet dadurch erst produktiv. Hinsichtlich dieser methodischen Vorgehensweise sei deshalb neben Walter Benjamin an Aby Warburg erinnert, der sich zwar, anders als Benjamin, nicht dem Geschichtsbegriff als solchem widmete, der aber im Rahmen seiner kunst- und kulturwissenschaftlichen Analysen die Verschränkung von Gegenwärtigem und Vergangenem gleichermaßen in den Fokus rückte. In seinem Vortrag Florentinische Wirklichkeit und antikisierender Idealismus sprach Warburg 1901 von einem „Wiederbelebungsversuch durch die Stimmen der Vergangenheit“, der vorgenommen werden müsste, um die Kunstgeschichte „vor dem pietätlosen Dilettantentum [zu schützen; PG], das eine selbstgefällige Geschwätzigkeit da einschiebt, wo die Vergangenheit selbst durch die eigene Stimme wieder zu uns sprechen könnte“ (Warburg 2010: 230). 28 Jahre später entwickelte er mit dem Mnemosyne-Atlas ein praktisches Verfahren für diese ‚Wiederbelebung‘. Laut Warburg sollte der „Versuch der ‚Mnemosyne‘, […] in ihrer bildmateriellen Grundlage zunächst nichts anderes sein […], als ein Inventar der nachweisbaren Vorprägungen, die vom einzelnen Künstler Abkehr oder Einverseelung dieser zwiefach herandrängenden Eindrucksmasse forderten.“ (Warburg 2010: 634) Warburg versuchte mit dem Atlas „ein Inventar […] der antikisierenden Vorprägungen [zu schaffen; PG], die auf die Darstellung des bewegten Lebens im Zeitalter der Renaissance nachweislich mitstilbildend einwirken.“ (Warburg 2010: 630) Somit arbeitete er sich nicht direkt am Ver1
Ich lehne mich hier an ein Verständnis von Topologie an, wie Vittoria Borsò es unter anderem in ihrem Aufsatz Topologie als literaturwissenschaftliche Methode: die Schrift des Raums und der Raum der Schrift (2007) darlegt. Darin formuliert sie: „Denn Raum ist nicht vorgegeben, sondern wird produziert – dies ist auch die Grundannahme der literarischen oder kulturwissenschaftlichen Topographien, die mehr oder weniger explizit auf topologischem Denken beruhen, insofern ‚Topologie‘ als Lehre des Raums zugleich eine kritische Reflexion über die Bedingungen der Produktion, der Dynamik oder der Emergenz von Raum ist.“ (Borsò 2007: 279) Und ferner: „Die Topologie ist ein Handeln, ein Tun des Menschen mit dem Raum ohne einen eigenen Masterplan.“ (Borsò 2007: 295) Siehe für weitere Erläuterungen, vor allem auch zur „Unschärfe im Gebrauch der Begriffe“ (Borsò 2007: 279 f.) Topologie und Topograhie: Borsò 2007: 279-295; Günzel 2007: 13-29.
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hältnis Vergangenheit – Gegenwart ab, stellte er doch keinen unmittelbaren Transfer zur aktuellen Kunst seiner Zeit her. Nichtsdestotrotz ging es Warburg darum, am Beispiel von Antike und Renaissance den essentiellen Einfluss historischer Kunstformen auf ihre Nachfolger aufzuzeigen. So heißt es in der Mnemosyne-Einleitung (1929): „Der Zwang zur Auseinandersetzung mit der Formenwelt vorgeprägter Ausdruckswerte, – sie mögen nun aus Vergangenheit oder Gegenwart stammen – bedeutet für jeden Künstler, der seine Eigenart durchsetzen will, die entscheidende Krisis.“ Da für Warburg „dieser Prozess der Stilbildung“ in der Renaissance von „ungewöhnlich weittragende[r] und bisher übersehene[r] Bedeutung“ (Warburg 2010: 634) gewesen war, gelangte diese Epoche in das Zentrum seiner Forschung. Warburg und Benjamin berufen sich in ihren theoretischen Ausführungen zur Vergangenheit nun insbesondere auf das Momenthafte, das Mnemische und das Monadische, dem sie nicht im Sinne eines chronologischen Aufarbeitens nachspüren, sondern diskontiniuierlich über etwaige Auffälligkeiten und Interferenzen zu begegnen versuchen. 2 Bei Warburg offenbaren sich diese Auffälligkeiten beispielsweise im bewegten Beiwerk oder in den „Bedingtheiten der typisch gestaltenden (sozialen) Kräfte“ (Warburg 2010: 676), die während der Entstehungszeit des Werkes gewirkt haben. Individuelle und kollektive Erfahrungen, vor allem aber auch gesellschaftliche Rahmungen stellen sich für Warburg als grundlegend dar, um über die Kunstwerke sprechen zu können. Mehr noch: „Das den neuen Eindruck apperzipierende Erinnerungsbild an allgemeine dynamische Zustände wird später beim Kunstwerk unbewußt als idealisierender Umriß projektiert.“ (Warburg 2010: 109) Die Tatsache, dass sich nachfolgende Künstler vor allem über Erinnerungen und Erfahrungen an vorgängigen Kunstwerken abarbeiten, steht für ihn außer Frage, ja, er stellt sie unmittelbar in einen performativen Zusammenhang. In seinem Aufsatz Die Theaterkostüme für die Intermedien von 1589 (1895) schreibt er: „Es giebt nur ein Mittel, die Beschreibungen, die uns heute auf den ersten Blick als trockene oder seltsame Aufzählungen erscheinen, zu wirklich lebendigen Erinnerungsbildern werden zu lassen: indem man nämlich versucht, dieselben in Verbindung mit den gleichzeitigen Kunstwerken, soweit sie Feste darstellen, zu betrachten“ (Warburg 2010: 125).
Um die Kunst der Vergangenheit zu verstehen, ist die Betrachtung der in dieser Zeit entstandenen Arbeiten ebenso relevant wie die Kontexte um diese herum. Für Warburg funktioniert diese Sichtweise also in zweierlei Richtung. Zum einen zeigen sich darüber Verbindungen zwischen vorangegangener und nachfolgender Kunst, zum anderen ist der „menschliche[...] Ausdruck im Bildwerk als Prägestück des 2
Ich danke Vittoria Borsò und Andrea von Hülsen-Esch für ihren so wichtigen Hinweis auf Aby Warburg in diesem methodischen Zusammenhang.
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praktischen bewegten Lebens zu begreifen“ (Warburg 2010: 687), mit dessen Hilfe die Entstehungsbedingungen von Kunst, deren Gründe und Motive, überhaupt erst analysierbar gemacht werden können. Eine daran angelehnte Vorgehensweise, die Vergangenheit auf performative Weise – hier zudem: im Performativen – zu aktualisieren und darüber hinaus mit Hilfe gesellschafts- und kunsttheoretischer Parametern in die Gegenwart zu übersetzen, verfolge ich mit dieser Arbeit. Der Einstieg in diese ergab sich folglich aus einer begrifflichen Fundierung des Performativen einerseits und der Avantgarden andererseits, um die vorangestellten Überlegungen an ein Wissen zu knüpfen, welches als Vorbedingung für die Parameter-Kapitel unerlässlich ist. Der Performance wird im Rahmen dieser Fundierung eine unüberwindbare Nähe zur Performativität zugeschrieben, die sich gemäß Schumacher nicht als „einseitig[e] […] Werte“ (Schumacher 2002: 402) bestimmen lassen, sondern aufeinander beziehen. Eine solche Form der Überlagerung wird ebenso in Bezug auf die Aufführungsmethoden sichtbar, die seit den 1970er Jahren eine intermediale und gattungsübergreifende Darstellungsweise erkennbar werden lassen. Performances verflechten seither mediale Installationen, interaktive Web 2.0-Verfahren, musikalische, filmische, theatrale und tänzerische Elemente sowie jene der bildenden Kunst. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die historischen Avantgarden eine Hinwendung zu performativen Darstellungen und damit eine Erweiterung der Gattungsspezifik vorgenommen, die einen ersten Transfer zwischen avantgardistischen Künsten und der Performance-Kunst herstellte und sogleich von einer Debatte erfasst wurde, die mit der Varianz dieser Pluralisierung von Darstellungsweisen einherging. Die Kritik an der Wiederholung oder Aufzeichnung von performativer Kunst schlug in den 1990er Jahren hohe Wellen, doch die von Phelan geforderte Betonung der Live-Performance ohne Wiederholungs- oder Aufzeichnungsoption ließ sich nicht auf Dauer aufrechterhalten, da performative Handlungsabläufe im Laufe der Jahre ohne mechanisierte Teilprozesse kaum noch auskamen. Obschon an der Wiederholbarkeit von Performances heute nur noch selten Anstoß genommen wird, besteht die Diskussion um den Aspekt der leibhaftigen Teilhabe an Performances weiterhin. Wahr ist, dass die ‚autopoietische‘ Prozessualität die Wahrnehmung von Performern und Zuschauern verändert, wenn sie unter Live-Bedingungen in Gang gesetzt wird. Gleichwohl bietet die medialisierte Zitation im Anschluss an Mersch, Krämer und vor allem Butler, die Aussicht auf eine Infragestellung des Bestehenden im Wiederholungsakt selbst. Dass dieser als leiblich vollzogener oder medialisierter different erfahren wird, steht außer Frage, daran jedoch ein Bewertungskriterium festzumachen, würde der so oder so in Gang gesetzten Interaktion nicht gerecht. Die Folgen dieses Widerstands gegen jedwede Aufzeichnung von Performances, insbesondere in der Anfangszeit der neo-avantgarden und performativen Kunst um 1970, sind durchaus gravierend, denn die Dokumentation und Archivierung der
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performativen Künste stellt auch im 21. Jahrhundert weiterhin ein Desiderat dar. Mit dem Forschungsprojekt archiv performativ. Ein Modellkonzept zur Dokumentation und Aktualisierung von Performancekunst, das an der Zürcher Hochschule der Künste zwischen 2010 und 2012 implementiert wurde, lässt sich exemplarisch zeigen, wie die Archivierung einer ephemeren Kunstform gelingen kann. Mit Nachdruck schließe ich mich dem Vorhaben an, auch die persönlichen Erfahrungsberichte der Zuschauer trotz aller Subjektivität als Dokumente von Zeitzeugen zu verstehen und in den Diskurs miteinzubeziehen. Formen der Musealisierung und Archivierung schließen meines Erachtens die Prozessualität der performativen Künste keineswegs aus, sofern sie diese nicht ihrer ursprünglichen Direktmitteilungskraft berauben, sondern eine solche sorgsam und konstruktiv verlagern. Dass mir die avantgardistischen Bewegungen an diesem Punkt widersprechen würden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Rückblick genau diese Rebellion gegen jede Form der Institutionalisierung gewesen ist, die den Avantgarden zum Verhängnis wurde. Hier lässt sich ein Unterschied zu heutigen Kunstkollektiven festmachen. Um diesen zu beschreiben, möchte ich auf die anfangs formulierte Loslösung von einer linearen Geschichtsschreibung zurückkommen, da sie für die Grundannahme dieser Arbeit unumgänglich ist. Dem Kapitel über die Konstellationen der Avantgarde habe ich vorangestellt, dass die Avantgarde ohne ihre Relation zur Moderne nicht bestimmt werden kann. Gleichzeitig aber zeigt sich in dieser Relation die Fragwürdigkeit zeitlicher Einordnungen, die auf Linearität setzen. Solchen Vorstellungen, die die Vergangenheit als Aufeinanderfolge von Ereignissen und Handlungen verstehen, sind deshalb die Überlegungen Benjamins und Manns für eine alternative Geschichtsschreibung entgegenzusetzen: Hier rückt das Nicht-Artikulierbare und Ungesagte ebenso in den Blick wie das Verdeckte oder Unauffällige. Wenn wir die Avantgarde wie Mann als „a history in resistance to such histories“ (Mann 1991: 9) bezeichnen, können wir das Verhältnis von Moderne und Avantgarde viel eher über ihre Diskrepanzen oder Übereinstimmungen verstehen, statt innerhalb eines chronologischen Versuchs, der sich an fixierten Daten orientiert. Die dadurch entstehende fragmentierte Analyse gleicht dabei der Methode der Parameter-Struktur. Im Zuge der Herauslösung von Begriffen oder Ereignissen wird deren Bearbeitung zu einer Option, um die Zusammenhänge von avantgardistischen und zeitgenössischen Kunstpraktiken topologisch statt temporal zu analysieren. Bezüglich der Avantgarden zeigt sich, dass diese ihre Selbstkonstituierung über das Abstoßen von der Moderne vorgenommen haben und nunmehr Abstand nehmen wollten von der materialistischen und ‚seelenlosen‘ Lebensweise des 19. Jahrhunderts. Um die Realität ins Kunstwerk zu holen und dem Rezipienten einen Platz in diesem zu garantieren, forcierten sie die Aktion und verlegten die performative Ko-Produktion mit Hilfe der Soiréen oder futuristischen Abende in den öffentlichen Raum. Warum aber sollte dann, einige Jahre spä-
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ter, schon wieder Schluss mit dem avantgardistischen Ziel des gesellschaftlichen Umsturzes sein, die Avantgarde also ihrem vermeintlichen Tod ins Auge blicken? Die ambivalenten Diskussionen über das Ende der Avantgarde und/oder den Übergang von historischer zu Neo-Avantgarde haben gezeigt, dass die NeoAvantgarde als modifizierte und dabei subversive Weiterentwicklung der historischen Avantgarde verstanden werden muss, die die Institutionskritik eingedenk der zwangsläufigen Abhängigkeiten mitdachte und sich damit deutlich von den historischen Vorfahren abgrenzte. Es kann rückblickend festgehalten werden, dass die Beziehung zu den Institutionen elementaren Anteil am Fortbestehen oder Scheitern etwaiger Kunstformen hatte. Dem Versuch jeglicher Stillstellung durch eine Anfechtung der Institutionen zu entgehen, brachte die Anliegen der historischen Avantgarden zum Erliegen und musste durch die Neo-Avantgarden entsprechend aktualisiert werden, wollten diese nicht gleichermaßen der Auflösung anheimfallen. Diese Einsicht gründet in der Ambivalenz der Sache an sich. Die historischen Avantgarden versuchten verstärkt über Manifeste ihr Tun zu deklarieren. Bereits in diesen Manifestationen aber produzierten sie die erste Festschreibung, der sie eigentlich entgehen wollten. Diese Diskrepanz setzte die eigentliche Problematik der Avantgarde beispielhaft frei, da sich die einzelnen Ismen an diesen festgeschriebenen Thesen des Manifests messen lassen wollten, deren finale Setzung aber nicht anerkannten. Bewerten wir diese statische Rückbezüglichkeit der historischen Avantgarden auf die Manifeste kritisch, so lässt sich eben hier auch die Lösung beschreiben, indem das Manifest als Gründungsmoment an eine diskursive Praxis gebunden werden muss. Im Zuge der Anerkennung einer zielgerichteten und feststehenden Strategie kann ein Haltepunkt justiert werden, der die performative Auslegung der Manifeste als flexible und bewegliche offenhält. Ohne einen solchen Haltepunkt konnte ein Fortbestehen der Avantgarden zwangsläufig kaum eine auf Dauer gestellte Wirkung erzielen. Zeitgenössische Künstlerkollektive, so meine These, setzen deshalb an diesem Punkt an. Sie bekennen sich zu einem gemeinsam konstituierten strategischen Überbau, gleichwohl versuchen sie, diesen durch eine beizubehaltende Subjektivität der einzelnen Mitglieder nicht schal werden zu lassen. Institutionalisierungen sind offenkundig nicht zu umgehen, da sich daran nicht nur arbeitstechnische und finanzielle, sondern auch gesellschaftlich notwendige Verknüpfungen koppeln. Das heißt nicht, dass man sich der Institutionen gemein machen muss, vielmehr muss das notwendige subversive Unterlaufen in der Rahmung und nicht außerhalb stattfinden, um Wirkung zu erzielen. Den Avantgarden allerdings ihre Relevanz und Wirkmächtigkeit bis ins Heute abzustreiten wäre fatal. Vielmehr müssen wir das avantgardistische Erbe als unabdingbaren Teil zeitgenössischer Kunstpraktiken verstehen. Die Avantgarde ist keineswegs tot, vielmehr ist es, wie Mann beschreibt, gerade der Tod der Avantgarde selbst, der sich als „alive and well“ (Mann 1991: 13) erweist. In der performativen Verschiebung des Scheiterns und der Bekräftigung des Todes als notwendigem
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Umschlagpunkt, kann die Avantgarde wiederbelebt werden. Das Lyotard’sche ‚Durcharbeiten‘ wird dann zu einer notwendigen Voraussetzung für die künstlerische Neuschreibung. Damit möchte ich einer Rekonstruktion oder epochenspezifischen Rekontextualisierung der Avantgarde in jedem Fall widersprechen und stattdessen deren Leitlinien aufgreifen, um sie an diesen für die Gegenwart ausfindig zu machen. Die Parameter Fortschritt, Utopie, Kollektiv und Partizipation, so habe ich in dieser Arbeit gezeigt, liegen dieser zentralen Überlegung zugrunde. Blicken wir zusammenfassend auf die Parameter, so möchte ich bezüglich des Fortschritts auf dessen immanenten Bezug zur Kontinuität hinweisen, die den Fortschritt immerzu bedingt. Die Kreation von Neuem kann sich ausschließlich am Bestehenden herausbilden, weshalb das eine ohne das andere nicht auskommt. Ich habe in diesem Zusammenhang die an Nietzsche anschließende Idee des schöpferischen Fortschritts aufgegriffen, um diese mit Schumpeters Begriff der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter 2005: 134) sowie Böhmes Erweiterung in Form der „‚kreativen Zerstörung‘“ (Böhme 2006: 367) zusammenzubringen, da sie sich meines Erachtens als adäquate Vehikel für die Zusammenhänge von der in den Avantgarden propagierten Neuschreibung gesellschaftlicher Implikationen und den performativen Kunstformen erweisen. Wenn sich der Fortschritt an der Kontinuität abarbeiten muss, um Neues zu schaffen, dann liegt insbesondere dem künstlerischen Akt der Zerstörung ein schöpferischer oder kreativer Kern zu Grunde. In Anlehnung an die Theorien von Benjamin und Adorno konnte ich verdeutlichen, wie eng diese Schöpfung gleichermaßen an die Katastrophe geknüpft ist. Der Fortschritt, und hier hat sich im Verlauf der Geschichte kaum etwas verändert, ist immer auch der Anschuldigung ausgesetzt, Unheil zu bringen und vermeintlich positive Vorhaben in ihr Gegenteil zu verkehren. Das durch Benjamin und Adorno herausgestellte monadische Aufblitzen erscheint in diesem Zusammenhang als Möglichkeit, die Katastrophe insoweit aufzuhalten, als Vergangenheit und Gegenwart in einer Relation begriffen werden können, die einem historistisch begründeten Fortschritt gegenüber Resistenzen bilden kann. Die von Benjamin formulierte dialektische Beziehung zwischen Jetzt und Vergangenem wird zu einer die These dieser Arbeit tragenden Säule, als das blitzhafte Aufeinandertreffen in den Performancebeispielen zum Tragen kommt. Für das Neue in der Kunst bedeutet der monadische Stillstand, dass im Moment der Stillstellung das Prozessuale und Vorwärtsgewandte eine Eigendynamik entfaltet, die einer gesellschaftlich verankerten Kunst Raum verschafft, um Grenzen zu überschreiten. Das Redigieren, das ‚Reécrire‘, von dem Lyotard spricht, ist an diese Überlegungen anzuschließen und lässt sich einmal mehr auf die Konzeption dieser Arbeit übertragen, welche einer temporalen Verfahrensweise widersteht. Ich habe darauf hingewiesen, dass die tendenzielle Redundanz ebenso wenig auszublenden ist wie der mögliche katastrophische Verfall. Und doch versuchen die performativen Künste des 21. Jahrhunderts diesen Fakt permanent herauszufordern.
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Sie gehen dabei der ‚geduldeten‘ Langlebigkeit aus dem Weg, indem sie sich nur im Prozess der Auf- und Ausführung Existenz verschaffen und somit stets den Kontrast zum Bestehenden herstellen. Das Allgemeine wird im Vollzug fragwürdig, da die performativen Künste Zuordnungen oder Kategorisierungen unmittelbar an das Erlebte anschließen und analoge Schematisierungen im Zuge dessen verkomplizieren. Die Problematik der Avantgarden stellte sich dagegen an diesem Umschlagspunkt dar. Ihre revolutionären Vorhaben, vor allem aber die eigens auferlegte Verpflichtung zur dauerhaften Neu-Kreation, erwiesen sich rückblickend als nicht umsetzbar. Einmal mehr kommen wir hier auf die von der historischen Avantgarde angeprangerte Autonomie zurück, der man sich zuvorderst widersetzen wollte. Sofern man Kunst als geniegebunden, institutionell verhaftet oder ausstellbar verstand, entfernte man sich im Sinne der historischen Vertreter von der eigentlichen avantgardistischen Kunstform, in der die Loslösung vom Werk und die Verortung in der Gesellschaft fokussiert wurde. Dieser Radikalität aber trotzten spätestens die Manifeste, die zwar die Aktion in die publizierte Schrift verlegten, der Novellierung in Gestalt von festgeschriebenen Thesen jedoch Einhalt geboten, der so nicht intendiert war. Hier zeigt sich ein deutlicher Kontrast zu den zeitgenössischen Performancekollektiven, die diese Manifestation ganz bewusst anstreben, um darüber vorab genannte Haltepunkte zu statuieren. Nichtsdestotrotz erweisen sich die künstlerischen Methoden, wie sie die Futuristen und Dadaisten im Sinne ihrer Fortschrittsidee vorantrieben, für heutige Künstler als elementar. Hatten die Futuristen die ersten Publikumsbeschimpfungen in die Waagschale geworfen, war der Bann für die Produktion von schockierenden oder verwirrenden Situationen als erste Ansprache der Zuschauer gebrochen. Durch etwaige Provokationen sollte das Publikum jedwede Lethargie oder jedes Verharren im bürgerlichen Status quo ablegen und ein gemeinsames Aufbegehren die Folge sein. Die Soiréen stellten sich in ihrer pluralen Gestaltungsweise als performative Form dar, die stilbildend für folgende avantgardistische Bewegungen und heutige Performancekollektive wurde. Die dadaistische Anti-Kunst tendierte noch viel stärker zu einer endgültigen Abdankung der Kunst. Durch die irrationale Darstellungsweise nahm man sich der Wahrnehmung der Rezipienten an, um darüber mit diesen den Dialog aufzunehmen. Mit Hilfe von Geräuschen, (A-)Tonalitäten und Wortsilben sollten die Zuschauer einen sinnlichen Zugang zu dem dadaistischen Geschehen erhalten und das bestehende Bild von Kunst in Frage stellen. Doch auch hier entwickelte sich das veranschlagte Gegen zum Stolperstein. Dada sollte ‚nichts‘ sein. Wahr aber ist, dass Dada immerzu ‚sein‘ wollte. Die Dadaisten forcierten den produktions- und rezeptionstheoretischen Ebenenwechsel und brachen mit den bis dato existenten Kunst-
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vorstellungen. Jedoch schufen sie über die dadurch entstandene Betonung der Wahrnehmung ein neues ästhetisches Kunstideal, anstatt dieses und alle anderen zu zerstören. Zeitgenössische Kollektive bemühen sich, diesem Konflikt alternativ zu begegnen. Sie entsagen dem „Diktat des Neuen“ (Groys 1992: 9) und versuchen stattdessen das Neue zur Selbstbeobachtung zu zwingen. Vielen Künstlern geht es nicht mehr darum, sich dem Zwang der permanenten Selbstüberholung zu verschreiben, sondern statt der generellen gesellschaftlichen oder künstlerischen Neustrukturierung die eigene Arbeitsweise oder die Geschehnisse des lokalen Umraums zu hinterfragen. Am Beispiel der Performer von Gob Squad hat sich gezeigt, dass gesellschaftliche Veränderungen anregend mit der Novellierung der Arbeitsstrukturen des Kollektivs zusammengebracht werden können. Der Ruf nach der allumfassenden Revolution ist unter den Performancekünstlern derzeit vielleicht leiser geworden, die Fokussierung auf naheliegende Fragestellungen einer globalisierten Welt dadurch aber nicht minder bedeutsam. Der Parameter der Utopie übernimmt diese Linie des ‚Micro-Blicks‘. Das Beispiel des Performancekollektivs SIGNA steht stellvertretend dafür, dass aktuelle Arbeiten vieler Performer einen induktiven Blick auf das Verhältnis von Gesellschaft und Subjekt motivieren. Binden wir diese Tatsache an die Utopie, erkennen wir eine alternative Herangehensweise an den durch die Avantgarden substanziell bearbeiteten Begriff. In einem historischen Überblick konnte festgestellt werden, dass die politische Dimension der Utopie von Platon oder Morus zwar gegenwartsbezogen formuliert, jedoch nicht an diese geknüpft wurde. Räumlich wie auch zeitlich wurde sie anderweitig verortet. Diese Vorgehensweise wurde von den UtopieTheorien des 20. Jahrhunderts abgelöst, in denen die defizitär empfundene Gegenwart ein utopisches Sprechen hervorruft, dass die Verbesserung tatsächlich anvisiert. Die Verschränkung von Utopie und Gegenwärtigkeit bildet ein Paradox, das sich gleichwohl nicht auflösen lässt. So begründet sich die ausformulierte Utopie in der Gegenwart respektive gedenkt sie sich aus dieser herauszuschreiben. Der Relationsbezug aber erhält die Verbindung zum Bestehenden, wie auch bei der AntiKunst, trotz aller Dissidenz aufrecht. Dadurch wird klar, dass die noch von Surrealisten oder Situationisten angestrebte absolute utopische Umkehr gesellschaftstheoretische Utopie bleiben musste. Mit Gustafsson zeigt sich dahingegen, dass konsequenterweise nur der Beginn einer Utopie angedacht werden kann, nicht aber deren sequentielle Auswirkung. Gustafsson weist ebenso wie Schölderle auf die Relation von Fiktion und Utopien hin und wendet diese positiv. So sei die Gesellschaft durch Fiktion ebenso bestimmt wie durch die Realität. Transferiert man diese Überlegung auf die performativen Künste, kann das Utopische in diesen prononciert werden. Schölderle spricht von Utopie als „innerweltliche[n] Gegenentwürfe[n]“ (Schölderle 2011: 479) und eröffnet dadurch die Möglichkeit, das Utopische mit der Gegenwärtigkeit zusammenzubringen. Einmal mehr zeigt sich, dass eine allgemeingültige
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und alles umfassende Utopie per se nicht durchsetzbar sein kann und der Ansatzpunkt deshalb in überschaubareren Rahmungen zu suchen ist. Weil es laut Gustafsson keinen Zustand geben kann, der nicht realisierbar ist, muss utopischen Ideen, die aus diesem Denken hervorgebracht werden, eine Realisierbarkeit zugestanden werden. Diese These lässt sich mit der Annahme Adornos in Einklang bringen, dass sich die utopische Figur der Kunst in der „Konstellation von Seiendem und Nichtseiendem“ (Adorno 1973: 347) darstellt. Der dauerhafte Gegenwartsbezug manifestiert zum einen den Anschluss der Utopie an die Gegenwärtigkeit, zum anderen erweisen sich ästhetische Konfigurationen als plausible Optionen für die Kreation von Utopien. Deutlich zu machen ist, dass die gegenwärtige Bezugnahme der Utopie diese keineswegs so gestaltet, dass sie dem Alltag unmittelbar zur Verfügung stünde. So geschehen, hätte sie sich realisiert und damit als Utopie aufgelöst. Stattdessen ist die fragile Aufrechterhaltung dieser unsichtbaren Verknüpfung zwischen dem Bestehenden und dem bis dato Unmöglichen für die Utopie grundlegend. Damit sie jedoch ihren Sinn als utopischen Ausblick beibehält, der die Möglichkeit auf Realisierung besitzt, komme ich auf den ‚Micro-Blick‘ zurück. Die Fokussierung auf die von Bourriaud aufgeworfenen „micro-utopias“ (Bourriaud 2002: 30) verweisen auf die Chance, über den Versuch soziale Situationen in Kleingruppen zu schaffen den Sozialutopien zu begegnen, die zumeist nicht realisiert wurden. Indem die Kunst Räume bereitstellt, in denen gemeinsame Erfahrungen gemacht werden können, welche sich jeglicher Vorformulierung entziehen, wird das Ausprobieren perspektivischer Wirkweisen möglich, die wiederum eine potentielle Verstetigung in Aussicht stellen. Die Situationisten versuchten das mit ihren Strategien des dérive und des détournement, die Surrealisten mit der écriture automatique oder den Phantasie-, Traum- und Trancezuständen. In diesen Methoden zeigen sich elementare Anschlusspunkte an heutige Performancekollektive, die durch diese Verfahren geprägt werden, sie mitunter ähnlich oder fast deckungsgleich aufgreifen. Auch das von den Avantgarden ausgehende essentielle Bewusstsein dafür, Vergangenes und Zukünftiges im Ereignis zu vereinen und mit diesem Ereignishaften Mögliches anzudeuten bildet eine Verbindungslinie, ebenso der Einbezug des Unterbewussten, die Reformulierung individueller Wahrnehmungsweisen und die Verlagerung topischer Erfahrungsräume. Gleichwohl gestalten die zeitgenössischen Künstler die sich daran anschließende Überführung der utopischen Idee verschiedentlich. So bezogen die Künstler der Avantgarde ihre utopischen Konzeptionen am Ende immer wieder auf ihre Manifeste und lösten sie dadurch von jener notwendigen Interaktion mit den Rezipienten. Erinnert sei hier an die Ausführungen Dolans. Gleichzeitig geriet der besagte Anspruch auf Vollständigkeit wenig hilfreich. Performancekollektive wie SIGNA versuchen sich nunmehr von der Altlast der Allgemeingültigkeit zu befreien und die utopischen Überlegungen in engem Kontakt mit den Rezipienten auszuhandeln. Sie greifen damit gewissermaßen den von
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Abensour deklarierten Gedanken auf, weniger neue Utopien produzieren zu wollen, als viel eher den utopischen Diskurs und das utopische Denken zu erweitern. In den Verdichtungen der jeweiligen Parameter werden im Verlauf der Arbeit ihre Beziehungen untereinander deutlich. Der dritte und vierte Parameter, das Kollektiv und die Partizipation, inkludieren in der Folge jene bereits genannten Zusammenhänge, da sie basisbildend für die Vorgehensweise des Textes sind, sich mit avantgardistischen und zeitgenössischen Kunstkollektiven auseinanderzusetzen, deren originäres Ziel die Hybridisierung von Gesellschaft und Kunst ist. Der Rezipient konnte und kann dabei nicht mehr außen vor gelassen werden. Dieser konsequente Einbezug des Rezipienten, den die Künstler der historischen Avantgarde erstmalig konsequent einforderten, wurde von diesen vornehmlich deklariert, schlussendlich jedoch nur randständig realisiert. Gleiches lässt sich über das demokratische Miteinander in den damaligen Kollektiven sagen. Das Ziel, sich aus dem Diskurs des Künstlergenies heraus- und in einen kollektiven Arbeitsdiskurs einzuschreiben, führte auf Grund der am Ende teilweise autokratisch geführten Bewegungen zum Bruch. Auch hier erweist sich die vorangestellte und vehement verteidigte Zielsetzung der avantgardistischen Kollektive als Ursprung der Komplikationen. Die Drastik, mit der dieser allgemeingültige Ansatz vertreten wurde (oder viel eher: werden musste) führte zu einem Dissens, von dem sich die Gruppen zumeist nicht mehr erholten. Daran nun offenbart sich die Unabwendbarkeit für die den Avantgarden folgenden Künstler, im Sinne des Gelingensprozesses andere Wege zu beschreiten. Hinsichtlich des Kollektivs geschieht das mittlerweile über die Bekräftigung des Subjekts innerhalb der Gruppe. Wie ich an den Gedanken Nancys dargelegt habe, ist das Mit unerlässlicher Bestandteil der Präsenz und die Ko-Präsenz folglich an diese gebunden. Das Mit-Sein impliziert unterschiedlich denkende plurale Singularitäten, deren substantielle und individuelle Voraussetzungen innerhalb eines Kollektivs nicht hintergehbar sind. Damit sich das Singuläre und das Gruppenwohl nicht gegenseitig aushebeln, werden analog zu den Überlegungen Parsons gemeinsame Werte als bindend verstanden, um die differenten Meinungen der einzelnen Subjekte aushalten zu können. Das Austarieren der dadurch entstehenden Vielheit an Ansprüchen ist dabei Gefahr und Movens zugleich. Das Bestreben der Avantgarden, den Gruppencharakter zu stärken, ließ schlussendlich die Rücksichtnahme auf die fragmentierten Identitäten vermissen, deren künstlerische Freiheit dadurch sukzessive eingeschränkt wurde. Breton oder Marinetti verstärkten diese Einschränkungen durch ihren autokratischen Führungsstil. Am Beispiel der Ausschlussverfahren konnte ich zeigen, dass der Auflösung einiger avantgardistischer Gruppierungen damit Vorschub geleistet wurde. Die Annahme, dass eine gemeinsam beschlossene Intention allein etwaige Konfliktanfälligkeiten, Egoismen oder Konkurrenzverhältnisse abwenden könnte, erwies sich als unhaltbar. Die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen, die sich durch die Weltkriege auf-
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drängten, veränderten zudem den Kunstmarkt und die Bedingungen für die Künstler und deren Arbeit. Durch die daraus resultierende Kommerzialisierung des Kunstkreislaufs entstanden Spannungen und Krisen, die eigentlich kommunikativer Maßnahmen und aktiver Veränderungen innerhalb der Strukturen der einzelnen Ismen bedurft hätten. Diese aber blieben weitestgehend aus. Zeitgenössische Performancekollektive konstituieren sich im Gegensatz dazu vielfach gerade auf Grund ihrer wirtschaftlich prekären Situation. Die Bedingungen für Künstler der performativen Künste haben sich verändert. So hat die Genreüberschneidung zu spartenübergreifenden Kooperationen geführt, die es für die Künstler notwendig macht, sich in Kollektiven oder Netzwerken zusammenzuschließen und im Zuge von Workshops, Laboren oder Projekten gemeinschaftlich die vorhandenen finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen zu nutzen. Gerade weil dauerhafte Finanzierungen oder feste Ensembles schwinden, werden diese Zusammenschlüsse erforderlich. Somit gründen sich aktuelle Kunstkollektive neben dem Wunsch nach gemeinsamen Schaffensprozessen auch aus kunstmarktpolitischen Gründen. Durch die dadurch entstehende Bündelung von individuellen Ideen ist eine Akzeptanz dieser von vorne herein entscheidend, ebenso die sich daraus entwickelnde Berücksichtigung der gemeinschaftlichen Produktivität. In der Unbestimmtheit der häufig wechselnden Gruppenkonstellationen liegt jedoch die Perspektive für eine Neuschreibung der avantgardistischen Idee. Dass dabei das Individuum nicht gegen die Gruppe ausgespielt wird, gerät zur Voraussetzung für die konstruktive Zusammenarbeit. Im Gegensatz zu den Avantgarden zielt die Zusammenarbeit auf die Rhythmisierung der verschiedenen Einzelstimmen ab, ohne sie verstummen zu lassen. Einer gruppenkohärenten Norm sollte sich dabei ebenso wenig unterworfen werden wie einer Restriktion des eigenen künstlerischen Sprechens. Im Gegenteil. Nur auf diese Weise, und damit gelangen wir zur Partizipation, kann der tatsächliche Einbezug der Zuschauer allererst verwirklicht werden. Die Vielstimmigkeit, so der Vorwurf an die historische Avantgarde, wurde in dieser vielfach ausgehebelt und die ergänzenden Stimmen aus der Zuschauerschaft gar nicht erst integrierbar. Wie ich im letzten Kapitel herausgearbeitet habe, fanden erst die Künstler der Neo-Avantgarde einen alternativen Zugang zu der Relation zwischen Künstler und Zuschauer, die das Verhältnis maßgeblich prägte. Durch die Offenlegung der Gelingensbedingungen und die bewusste Übertragung der Einflussmöglichkeiten auf alle Teilnehmer, wurde der Traum von einer flacheren Hierarchie tatsächlich Realität. Auch hier muss festgehalten werden, dass die historischen Avantgarden die Grundlage für jenen Erlebnisprozess gelegt haben, der sich durch das avantgardistische Bekenntnis zum performativen Erleben und die Verlagerung der Handlungen von der Bühne auf den Zuschauerraum überhaupt in Gang setzen konnte. Durch die Avantgarden wurde die Produktion zur Rezeption und umgekehrt, das Zuschauen zudem erstmalig Handeln. Gestaltete sich dieses bei den historischen Avantgar-
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den vielfach in Form von wütendem Widerstand gegen die Aktionen, beispielsweise der Futuristen oder Dadaisten, bezogen die Happeningkünstler die Besucher entschieden in die künstlerischen Ereignisse mit ein. Die Introspektion aller Teilnehmer wurde zunehmend zum tragenden Referenzpunkt der performativen Künstler und modifizierte deren handlungsspezifische Anordnungen. Eingedenk dessen haben sich die avantgardistischen Novellierungen keineswegs selbst überholt, vielmehr werden sie durch die gegenwärtigen Kollektive einem Prozess der spannungsvollen Beiläufigkeit unterzogen, der die Überführung von Kunst und Leben sichtbar machen soll, ohne die Kunst dabei aufheben zu wollen. Unbestimmtheit, Zufall und Experiment suchen gestern und heute nach einer Option des blitzhaften Auftretens, gleichzeitig werden partizipative Strategien heute ebenso in Frage gestellt. Mit Miessen und Grassegger konnte dargestellt werden, dass die Gefahr einer „pseudopartizipativen Scheindemokratie“ mit „[r]eale[n] Personen“ (Miessen/Grassegger 2012: 10) begegnet werden muss, weshalb kommunikative Face-to-Face-Verfahren im Zuge der Digitalisierung ein zentrales Anliegen bleiben werden. Die ästhetische Teilhabe, davon ist auszugehen, wird deshalb weiterhin Bestand haben – und das nicht nur im Sinne eines aktionistischen Tuns, sondern, so lässt sich an Rancière anschließen, auch durch das Zuschauen selbst, das über den kommunikativen Akt zwischen Performern und Besuchern waghalsig werden kann und muss. Die Waghalsigkeit bindet sich an das performative Verständnis eines auf keinen Zweck hin ausgerichteten und selbstreferentiellen Akts, der die Wahrnehmungsmodi aller Teilnehmer hinlänglich irritiert. Verwandelt sich diese Vorgehensweise bei den Performern von Showcase Beat Le Mot zum Beispiel der Theaterinstitution selbst an, um in dieser gegen diese zu opponieren, verkehren die Performer ein ursprüngliches Hauptanliegen der Avantgarden, die Institutionskritik, in ihr Gegenteil, um dieses gleichwohl überhaupt zur Diskussion stellen zu können. Für einen abschließenden Gedanken und Ausblick möchte ich auf die Performance 512 hours3 von Marina Abramović zu sprechen kommen, die im Sommer 2014 in der Serpentine Gallery stattfand und in der die Künstlerin, ausgestattet mit einer geringen Auswahl an Gegenständen, wie Kopfhörern und Decken, auf das Publikum traf. „Ich werde eine Art ‚zeitlosen Raum‘ erschaffen, in dem Menschen Stunden an Zeit mit mir verbringen können“, beschrieb Abramović kurz vor Beginn 3
Die Performance fand vom 11. Juni bis zum 28. August 2014 statt. Für weitere Informationen, siehe die vom Museum eigens für die Performance installierte Website: http://www.serpentinegalleries.org/exhibitions-events/marina-abramovic-512-hours (Stand: 11.04.15). Darunter finden sich auch die täglichen Video-Tagebücher von Abramović sowie die Videos von Besuchern der Performance, die ihre Erfahrungen beschreiben: http://www.serpentinegalleries.org/exhibitions-events/marina-midnight-serpen tine-diaries (Stand: 11.04.15).
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ihrer Performance. „Ich werde da sein, acht Stunden am Tag, vier Tage die Woche, denn montags hat die Galerie geschlossen. Ich werde das Museum morgens aufsperren und abends wieder zusperren. Jeder kann kommen. Drei Monate lang.“ Das Performance-Urgestein probte dabei einmal mehr den immateriellen Aufstand und ließ die Allgemeinheit wissen: „Für mich ist [das; PG] die Kunst des 21. Jahrhunderts, befreit von jeder Materialität: ein charismatischer Ort, an dem Künstler und Publikum in einen Dialog eintreten. Nichts steht mehr zwischen uns. Es geht um die Erfahrung schierer Präsenz.“ Jeder der am Ende der Laufzeit 129.916 Besucher musste daraufhin seine persönlichen Gegenstände, beispielsweise Jacken, Uhren, Kameras, Handys oder Taschen vor dem Eintritt in die Ausstellung abgeben. Die meisten Teilnehmer beschrieben die Performance im Nachhinein als meditatives und spirituelles Ereignis, welches durch die Loslösung von jeglichen Materialien, von störenden Nebengeräuschen oder zu erfüllenden Aufgaben, die Verbindung zum Selbst auf für sie ungewohnte Weise hergestellt habe.4 Damit subsumierte Abramović in ihrer Performance gewissermaßen das, was performative Kunst heute ausmacht, nämlich eine unmittelbare (hier im Sinne von ohne Mittel) Hinwendung zum Leben und zum individuellen Dasein eines jeden Selbst(s). Ihre avantgardistischen Vorbilder würden ihr dazu lautstark applaudieren. Etwas deutlicher fiele der Applaus wohl an jener Stelle aus, an der sie noch vor Beginn ihrer Arbeit formulierte: „[I]ch habe Panik, denn es kann gründlich schiefgehen. Ich kann von der Erde fallen. Aber irgendwas wird passieren, davon bin ich überzeugt, etwas Einzigartiges.“ (Zit. nach Bärnthaler 2014: 51) Ohne das Risiko, ohne das Scheitern in Kauf zu nehmen, kann Kunst sich nicht entäußern und fällt der von Adorno prognostizierten Immergleichheit anheim. In der Performativität des Scheiterns, so zeigt sich im Rückgriff auf diese Arbeit, kann der Widerstand überhaupt erst erprobt werden, da die Performativität besagte Setzung nicht zulässt. Gesellschaftliche Transformierungen durch die Kunst lassen sich nur im fragilen Zwischenzustand dieser Gegensätze erzeugen. Die historischen und Neo-Avantgarden haben das im Grunde unwissend forciert, an den zeitgenössischen Künstlern ist es nun, im Bewusstsein darum das Wagnis aufrechtzuerhalten.
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Siehe hierfür neben den Videos auch die schriftlichen Erfahrungsberichte der Besucher auf der Tumblr-Seite: http://512hours.tumblr.com/ (Stand 11.04.15). Etwaige negative Kommentare, so lässt sich kritisch anmerken, finden sich darunter jedoch kaum. Gerade hinsichtlich der Performances von Abramović muss festgehalten werden, dass ihre mitunter ‚kultische‘ Verehrung im Verhältnis zu jenen unbekannter Performance-Künstler differenziert betrachtet werden muss, um die Arbeiten Letzterer nicht unbeachtet zu lassen und die Performances Ersterer nicht zu verklären.
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Edition Kulturwissenschaft Stephanie Wodianka (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens Mai 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
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Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte November 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Richard Weihe (Hg.) Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven März 2016, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2
Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus Februar 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik Januar 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4
Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.) Machthaber der Moderne Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit Dezember 2015, 348 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3037-4
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs Dezember 2015, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert Dezember 2015, 424 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.|eds.) Expanded Senses Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. New Conceptions of the Sensual, Sensorial and the Work of the Senses in Late Modernity Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3362-7
Anke J. Hübel Vom Salon ins Leben Jazz, Populärkultur und die Neuerfindung des Künstlers in der frühen Avantgarde September 2015, 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3168-5
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