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German Pages 144
Soziale Orientierung Band 13
Erwerbsarbeit in der Krise? Zur Entwicklung und Struktur der Beschäftigung im Kontext von Arbeitsmarkt, gesellschaftlicher Partizipation und technischem Fortschritt
Von Jörg Althammer
Duncker & Humblot · Berlin
JÖRG ALTHAMMER
Erwerbsarbeit in der Krise?
Soziale O r i e n t i e r u n g Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach
In Verbindung mit
Karl Forster | · Hans Maier · Rudolf Morsey
herausgegeben von
Anton Rauscher
Band 13
Erwerbsarbeit in der Krise? Zur Entwicklung und Struktur der Beschäftigung im Kontext von Arbeitsmarkt, gesellschaftlicher Partizipation und technischem Fortschritt
Von
Jörg Althammer
Duncker & Humblot · Berlin
Redaktion: Günter Baadte
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Althammer, Jörg: Erwerbsarbeit in der Krise? : zur Entwicklung und Struktur der Beschäftigung im Kontext von Arbeitsmarkt, gesellschaftlicher Partizipation und technischem Fortschritt / von Jörg Althammer. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Soziale Orientierung ; Bd. 13) ISBN 3-428-10830-2
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6917 ISBN 3-428-10830-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ
Vorwort Der nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel, dem alle entwickelten Industriegesellschaften unterworfen sind, löst vielfach Ängste aus. Eine verschärfte Konkurrenz auf den Gütermärkten, stetige Änderungen der betrieblichen Absatzbedingungen und immer kürzere Produktlebenszyklen machen die Beschäftigungsverhältnisse instabiler. Der mit der rasanten Verbreitung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien verbundene technische Fortschritt lässt zwar neue Tätigkeitsfelder entstehen, wertet aber gleichzeitig einmal erworbene Qualifikationen ab und stellt neue Herausforderungen an bestehende Berufsbilder. Der Wunsch nach zunehmender Erwerbspartizipation der Frau und nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfordert Innovationen in der betrieblichen Personalorganisation und ein flexibles Arbeitszeitmanagement. Das durchgängige Beschäftigungsverhältnis, eines der systemtragenden Elemente unserer Arbeits- und Sozialordnung, scheint an praktischer Bedeutung und normativer Verbindlichkeit zu verlieren. Sieht man diese Entwicklungen vor dem Hintergrund persistenter und strukturell verfestigter Arbeitslosigkeit, so wird verständlich, weshalb die vor allem i m soziologischen Schrifttum verbreitete Forderung nach einem grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel weg von der erwerbsorientierten Arbeitsgesellschaft hin zu einer vom Erwerbsleben losgelösten „Tätigkeitsgesellschaft" in Politik und Publizistik auf überwiegend positive Resonanz stößt - unbeschadet ihrer durchaus diskutablen ökonomischen und empirischen Fundierung. Vor diesem Hintergrund regte die Wissenschaftliche Kommission bei der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach eine Studie an, die die Tendenzen am Arbeitsmarkt in einem umfassenden Kontext darstellt und die neuere arbeitsmarktökonomische Literatur in allgemeinverständlicher Form aufbereitet. Der Direktor der KSZ, Professor Dr. Anton Rauscher, hat mich daraufhin eingeladen, diese Untersuchung zu erstellen und in der Reihe „Soziale Orientierung" zu publizieren. Einige Ergebnisse dieser Arbeit wurden bereits auf der Sozialethiker-Tagung 2000 in Mönchengladbach und bei einem von der KSZ und der Hanns-Seidel-Stiftung gemeinsam veranstalteten Expertengespräch zur Zukunft der Erwerbsarbeit in Wildbad Kreuth diskutiert. Bei den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Kommission der KSZ und den Teilnehmern der genannten Tagungen möchte ich mich an dieser Stelle für die zahlreichen Hinweise bedanken, die in die Endfassung der Arbeit eingeflossen sind. Weiterhin gilt ein besonderer Dank Frau Ingrid Grübel und Frau Monika Lennartz für die technische Fertigstellung des Manuskripts sowie dem Wissenschaftlichen Refe-
6
Vorwort
renten Günter Baadte (KSZ) für die äußerst sorgfältige Durchsicht der Druckvorlage. Dem Wissenschaftlichen Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Professor Dr. Gerhard Kleinhenz, möchte ich für die stets gute Zusammenarbeit mit dem Institut und seinem Lehrstuhl danken. Ein ebenfalls herzlicher Dank gilt den wissenschaftlichen Mitarbeitern am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Universität Passau, Dr. Christian Jasperneite, Klaus Forster und Oliver Falck. Passau, im August 2001
Jörg Althammer
htverzeichnis
Α. Einleitung
15
Β. Entwicklung und Struktur des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt —
18
I. Das Arbeitsangebot 1. Die demographische Entwicklung
18 18
a) Die natürliche Bevölkerungsentwicklung
20
b) Migrationsbewegungen
20
2. Die Entwicklung des Arbeitsangebots
23
a) Die Erfassung durch die Bundesanstalt für Arbeit
23
b) Die Erfassung durch das Statistische Bundesamt
24
c) Die Erfassung durch die OECD
27
3. Determinanten des Arbeitsangebots
27
IL Die Arbeitsnachfrage
32
1. Entwicklung des Bedarfs am Arbeitsmarkt
32
2. Die Struktur der Arbeitsnachfrage
36
a) Die Branchenstruktur der Erwerbstätigen
36
b) Die Qualifikationsstruktur
43
III. Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit
45
1. Entwicklung der Arbeitslosigkeit
45
2. Struktur der Arbeitslosigkeit
49
IV. Zur Diskussion um die beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpolitik
52
1. Lohnhöhe, Produktivität und Beschäftigung: Grundlegende Zusammenhänge
52
2. Lohnhöhe und Beschäftigung: Einige Antworten aus der Empirie
54
8
Inhaltsverzeichnis 3. Zur Kritik am ökonomischen Erklärungsansatz
56
4. Ansätze zur Erklärung persistenter Arbeitslosigkeit
58
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland
61
1. Projektionen des Arbeitsangebots
62
2. Projektionen der Arbeitsnachfrage und der Arbeitslosenquote
65
C. Entwicklung der Erwerbsbiografien und Beschäftigungsverhältnisse I. Definition des Normalarbeitsverhältnisses II. Ursachen diskontinuierlicher Erwerbsbiografien und atypischer Beschäftigungsverhältnisse III. Die Entwicklung von Erwerbsverläufen und Erwerbsformen 1. Entwicklung alternativer Erwerbsverläufe
70 70
74 76 76
a) Methodik
76
b) Empirische Ergebnisse
76
2. Die Entwicklung alternativer Erwerbsformen
81
a) Konzeptionelle Erfassung alternativer Erwerbsformen
81
b) Darstellung und Diskussion atypischer Beschäftigungsverhältnisse
83
aa) Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse
83
(1) Die geringfügige Beschäftigung nach altem Recht
83
(2) Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
86
(3) Zur Entwicklung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ..
89
(4) Auswirkungen der Neuregelung
92
(5) Beurteilung der Neuregelung
94
bb) Arbeitnehmerähnliche Selbstständige
95
cc) Befristete Beschäftigungsverhältnisse
98
(1) Der Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses - institutioneller Hintergrund (2) Die Beschäftigungswirkungen des Bestandsschutzes IV. Krise des Normalarbeitsverhältnisses?
99 100 103
1. Zur Entwicklung von Norm- und Nichtnormarbeitsverhältnissen
103
2. Fazit
107
Inhaltsverzeichnis D. Technischer Fortschritt und Beschäftigung I. Arten des technischen Fortschritts II. Definition und Messkonzepte des technischen Fortschritts III. Technischer Fortschritt und Beschäftigung: Theorie und empirische Evidenz ...
9 108 109 113 114
1. Theoretische Wirkungen
114
2. Empirische Evidenz
116
3. Zur Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums
120
a) Das Konzept der Beschäftigungsschwelle
120
b) Diskussion des Konzepts
124
IV. New Economy - Paradigmenwechsel für die Wirtschaftspolitik?
125
E. Zusammenfassung
129
Literaturverzeichnis
132
beenverzeichnis Tabelle 1 :
Das Erwerbsverhalten von Müttern nach soziodemographischen Faktoren
29
Tabelle 2:
Anteile der Wirtschaftsbereiche an der Bruttowertschöpfung
36
Tabelle 3:
Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen
37
Tabelle 4:
Kapitalintensität im Dienstleistungssektor in Westdeutschland 1994
39
Tabelle 5:
Sektorale Arbeitsproduktivität in Westdeutschland
40
Tabelle 6:
Tätigkeitsstruktur im westdeutschen Dienstleistungsbereich 1984-1995..
42
Tabelle 7:
Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen
43
Tabelle 8:
Vollzeitbeschäftigte Arbeiter nach der Stellung im Betrieb und nach Berufsausbildungsabschluss 1976-1993
44
Entwicklung der Erwerbsbeteiligung (in vH)
80
Tabelle 9:
Tabelle 10: Quantitative Bedeutung atypischer Beschäftigungsverhältnisse
82
Tabelle 11 : Entwicklung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse nach unterschiedlichen Erhebungskonzepten
90
Tabelle 12: Verteilung der Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung
91
Tabelle 13: Bestand geringfügig Beschäftigter 1999 (in Tsd.)
92
Tabelle 14: Entwicklung der geringfügig Beschäftigten nach Einkommensgruppen ...
93
Tabelle 15: Anteil der arbeitnehmerähnlich Selbstständigen an den gesamten Selbstständigen
96
Tabelle 16: Die Klassifikation von Innovationen nach alternativen Konzeptionen (Anteile in vH)
111
Tabelle 17: Beschäftigungseffekte neuer Technologien
119
Tabelle 18: Entwicklung der Beschäftigungsschwelle
123
Tabelle 19: Gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den Vereinigten Staaten
127
binverzeichnis Abbildung 1:
Indikatoren zur Bevölkerungsentwicklung
21
Abbildung 2:
Bevölkerungsentwicklung mit und ohne Außenwanderung (alte Bundesländer)
22
Abbildung 3:
Erwerbsquote nach soziodemographisehen Merkmalen
28
Abbildung 4:
Entwicklung des Arbeitsvolumens und seiner Komponenten in Deutschland (1990 = 100)
34
Abbildung 5:
Angebot und Nachfrage am westdeutschen Arbeitsmarkt
45
Abbildung 6:
Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland
48
Abbildung 7:
Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen
50
Abbildung 8:
Langzeitarbeitslosenquote
Abbildung 9:
und aggregierter
Beschäftigungsgrad
in
Deutschland ( 1980 bis 1999)
51
Produktion, Produktivität, Arbeitszeit und Erwerbstätige
53
Abbildung 10: Beschäftigungseffekte einer zurückhaltenden Lohnpolitik
56
Abbildung 11 : Projektionen zur Bevölkerungsentwicklung
63
Abbildung 12: Projektionen des Erwerbspersonenpotenzials
64
Abbildung 13: Arbeitsmarktentwicklung ausgewählter Volkswirtschaften
66
Abbildung 14: Projektionen der Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland
68
Abbildung 15: Erwerbsbiografien männlicher Erwerbspersonen
78
Abbildung 16: Erwerbsbiografien weiblicher Erwerbspersonen
79
Abbildung 17: Die Niedrigeinkommensfalle
85
Abbildung 18: BeschäftigungsWirkungen des Kündigungsschutzes
101
Abbildung 19: Entwicklung alternativer Erwerbsformen in vH (Westdeutschland)
105
Abbildung 20: Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse absolut (Westdeutschland)
106
Abbildung 21: Die Beschäftigungsschwelle des Wachstums
122
Übersichtenverzeichnis Übersicht 1: Der Markt für Arbeitsleistungen
19
Übersicht 2: Das Angebot an Arbeitskräften
31
Übersicht 3: Sozialversicherungspflicht neuem Recht
88
geringfügig Beschäftigter nach altem und
brnverzeichnis ALQ
Arbeitslosenquote
BA
Bundesanstalt für Arbeit
BAG
Bundesarbeitsgericht
BeitrAB
Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
BetrVG
Betriebsverfassungsgesetz
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BMA
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
BMFSFJ
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
DIW
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
e
Erwerbsquote
E
Erwerbstätige
ESVG
Europäische Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
EUROSTAT
Statistisches Amt der EG
EZB
Europäische Zentralbank
F&E
Forschung und Entwicklung
GfK
Gesellschaft für Konsumforschung
h
geleistete Arbeitsstunden je Erwerbstätigen
IAB
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit
ifo
Institut für Wirtschaftsforschung
ILO
International Labour Office
ISG
Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik
IW
Institut der deutschen Wirtschaft
iwd
Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft
KSchG
Kündigungsschutzgesetz
L
Arbeitsnachfrage
MittAB
Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
OECD
Organization for Economic Co-operation and Development
qA SGB
Arbeitsproduktivität Sozialgesetzbuch
SOEP
Sozioökonomisches Panel
TFP
Totale Faktorproduktivität
Tz.
Textziffer
WiSt
Wirtschaftswissenschaftliches Studium
Y
Bruttoinlandsprodukt
Α. Einleitung Die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit ist nach wie vor das zentrale Problem der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Spätestens seit Mitte der 70er Jahre wird das Ziel der Vollbeschäftigung in Deutschland anhaltend verletzt, wobei sich die Zahl der Arbeitslosen von Rezession zu Rezession erhöhte: waren zu Beginn der 70er Jahre 150 000 Erwerbspersonen arbeitslos gemeldet (das entsprach einer Arbeitslosenquote von 0,6%), so erhöhte sich diese Zahl in der Mitte der 80er Jahre auf 2,3 Mio. (8,0%) und Ende der 90er Jahre in den alten Bundesländern auf 3 Mio. (9,9%). M i t dieser Entwicklung steht die Bundesrepublik Deutschland nicht allein: so stieg die Zahl der Arbeitslosen in der Europäischen Union (EU 15) von 3 Mio. (1970) über 15,5 Mio. (1985) auf fast 18 Mio. Ende der 90er Jahre. Arbeitslosigkeit breiter Schichten der Erwerbsbevölkerung ist damit schon längst kein Problem zyklischer Schwankungen mehr, sondern persistenter Natur. Die seit 25 Jahren andauernde Krise am Arbeitsmarkt, die sich in Deutschland in den 90er Jahren nochmals deutlich verschärft hat, wurde bis vor kurzem in der populärwissenschaftlichen Literatur und in Teilen der Politik bzw. Politikberatung als Teil einer säkularen Entwicklung hochindustrialisierter Volkswirtschaften interpretiert. Die Ursache der krisenhaften Entwicklung am Arbeitsmarkt ist danach in technologischen Basisinnovationen zu suchen, die sich nicht inkrementalistisch vollziehen, sondern in Sprüngen, in „technologischen Revolutionen" auftreten und die bisherigen Formen der Arbeitsorganisation und der Erwerbsverhältnisse grundlegend in Frage stellen. Die unmittelbare arbeitsmarktpolitische Folge des Fortschritts in der Mikroelektronik ist ein deutlicher Anstieg der Arbeitsproduktivität, der sich mittlerweile nicht nur i m ersten und zweiten Sektor bemerkbar macht, sondern auch den bislang als eher „produktivitätsresistent" eingeschätzten Dienstleistungssektor erfasst. Indikatoren hierfür sind eine zunehmende Kapitalintensivierung der Produktion und ein parallel verlaufender Rückgang des Arbeitsvolumens. Der technische Fortschritt führt also dazu, dass immer weniger Arbeiter ein immer höheres Sozialprodukt erwirtschaften können das Ergebnis ist ein „jobless growth", also wirtschaftliches Wachstum ohne nennenswerte Beschäftigungseffekte. Vor diesem Hintergrund prophezeite der amerikanische Wirtschaftsjournalist Jeremy Rifkin (1995) bereits Anfang der 90er Jahre eine „arbeitslose Gesellschaft"; eine Vision, die bei uns in der Diskussion um das „Ende der Erwerbsgesellschaft" ihren Niederschlag fand (vgl. Ulrich Beck 1999 und 2000). Für die französische Bestseller-Autorin Vivianne Forrester (1997) ist die Erwerbsarbeit schlicht ein Anachronismus. Selbst die von den Freistaaten Bayern und Sachsen eingesetzte
16
Α. Einleitung
„Zukunftskommission" spricht in ihrem Gutachten zur Entwicklung der Erwerbstätigkeit in hochindustrialisierten Volkswirtschaften davon, der Faktor Arbeit würde zunehmend durch Kapital und Wissen ersetzt (vgl. Kommission für Zukunftsfragen 1998). Dieses Meinungsbild hat sich in den vergangenen ein bis zwei Jahren grundlegend geändert. Denn zum einen gibt es neben Volkswirtschaften mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland zählt, zahlreiche Beispiele beschäftigungspolitisch erfolgreicher Ökonomien. So ist es den Vereinigten Staaten in den letzten zehn Jahren gelungen, ein anhaltendes, inflationsfreies Wachstum mit positiven Arbeitsmarkteffekten durchzusetzen. Mittlerweile liegt die Arbeitslosenquote in den USA deutlich unter dem langfristigen Durchschnittswert, so dass man seit etwa zwei Jahren wieder von Vollbeschäftigung sprechen kann. Aber auch i m europäischen Raum gibt es mit den Niederlanden und Dänemark Beispiele für arbeitsmarktpolitisch erfolgreiche Volkswirtschaften. Auch in Deutschland scheint sich das beschäftigungspolitische B i l d zu ändern: so werden bereits heute Befürchtungen laut, der demographische Ubergang könnte in absehbarer Zukunft zu einem Engpass an Arbeitskräften führen, der die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands gefährdet. Der aktuelle Arbeitskräftemangel an hochqualifizierten IT-Spezialisten sei nur ein Vorbote dessen, was in einigen Jahren dem Arbeitsmarkt als Ganzes bevorstehe. Entsprechend widersprüchlich fallen die politischen Maßnahmen aus. Wahrend man vor einigen Jahren noch versucht hat, das Arbeitsangebot durch Vorruhestandsregelungen, der Rente wegen Arbeitslosigkeit oder einer großzügigen Regelung der Berufsunfähigkeitsrente zu verringern und dadurch den Arbeitsmarkt zu entlasten, geht man mittlerweile mit der Konzeption einer aktiven Zuwanderungspolitik, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit und einer Politik zur Erhöhung der Frauenerwerbsquote den genau entgegengesetzten Weg. Droht also das Ende der Erwerbsgesellschaft, oder steht uns eine neue Ära der Vollbeschäftigung bevor? Die Prognosen zur Entwicklung am Arbeitsmarkt könnten kaum gegensätzlicher ausfallen. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Diskussion zu versachlichen und die konkurrierenden Hypothesen auf ihren empirischen Gehalt zu überprüfen. Sie ist in drei inhaltliche Abschnitte untergliedert: Zunächst wird die Situation am Arbeitsmarkt mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Informationen der amtlichen Statistik dargestellt. Dabei werden auch die ökonomischen und soziodemographisehen Faktoren erörtert, die das Angebot und die Nachfrage nach Arbeitsleistungen bestimmen. Schließlich geht der Abschnitt auf die Annahmen ein, die den alternativen Projektionen des Erwerbspersonenpotenzials und der Zahl der Erwerbstätigen zugrunde liegen. Das anschließende Kapitel beschäftigt sich mit der Entwicklung der Erwerbsbiografien und Beschäftigungsformen. Die These von der „Erosion des Normarbeitsverhältnisses" behauptet einen trendmäßigen Rückgang stabiler, sozial abgesicherter und dauerhafter Beschäftigungsverhältnisse, die von „atypischen" oder „prekä-
Α. Einleitung ren" Erwerbsformen zunehmend ersetzt werden. Weiterhin wird unterstellt, dass die Erwerbsverläufe zunehmend diskontinuierlich ausfallen. Beide Erscheinungen - das Vordringen atypischer Beschäftigungsverhältnisse und die unterbrochenen Erwerbsverläufe - würden den auf abhängige Erwerbsarbeit zentrierten Sozialstaat nachhaltig in Frage stellen. Auch hierzu wird der vorliegende empirische Befund kritisch überprüft. Ein besonderes Gewicht wird auf die Entwicklung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gelegt. Denn zum einen ist deren Neuregelung vom 1. 4. 1999 weiterhin politisch heftig umstritten, und zum anderen lassen sich die arbeitsmarktpolitischen Effekte dieser Regelung mittlerweile einigermaßen zuverlässig abschätzen. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich schließlich mit den Wirkungen des technischen Fortschritts auf die Arbeitsnachfrage. Der technische Fortschritt wird neben der Globalisierung für die hohe und lang anhaltende Arbeitslosigkeit insbesondere wenig qualifizierter Arbeitnehmer verantwortlich gemacht. Deshalb sollen in diesem Kapitel die verschiedenen Ausprägungsformen des technischen Fortschritts referiert und auf ihre theoretischen Wirkungen auf die Lohn- wie Beschäftigungsstruktur hin untersucht werden. Anschließend wird der vorliegende empirische Befund zu den Beschäftigungseffekten des technischen Fortschritts zusammengefasst. Eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse schließt die Arbeit ab.
2 Althammer
Β. Entwicklung und Struktur des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt Die Entwicklung der Zahl der Arbeitslosen, ihre Struktur und ihr Anteil an der Gesamtzahl der Erwerbspersonen ist das Ergebnis eines komplexen und interdependenten Prozesses auf der Angebots- und Nachfrageseite des Arbeitsmarktes. Die wichtigsten Determinanten sind in der Ubersicht 1 zusammengefasst. Wie diese Abbildung zeigt, setzt sich das gesamte einer Volkswirtschaft zur Verfügung stehende Arbeitsangebot einer Periode aus der Anzahl der Arbeitskräfte und der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zusammen (sog. „Arbeitsvolumen"). Umfang und Struktur beider Elemente - Zahl der Arbeitskräfte und angebotene Arbeitsstunden - sind wiederum abhängig von ökonomischen und soziodemographischen Faktoren sowie von rechtlichen Rahmenbedingungen. Zu dieser rein quantitativen Dimension tritt mit der angebotenen Arbeitsproduktivität eine qualitative Komponente. Diese beiden Faktoren - Arbeitsvolumen und angebotene Arbeitsproduktivität - ergeben zusammen das im System angebotene Leistungsvolumen. Die Arbeitskräftenachfrage ergibt sich aus der Nachfrageentscheidung der Unternehmen. Diese wird vor dem Hintergrund der Güternachfrage, der relativen Faktorpreise und der eingesetzten Produktionstechnologie getroffen. Das Zusammentreffen von Umfang und Qualität des Arbeitskräfteangebots mit der Arbeitsnachfrage auf den Arbeitsmärkten bestimmt letztlich Umfang und Struktur der Beschäftigten und der Arbeitslosen in einer Volkswirtschaft.
I. Das Arbeitsangebot 1. Die demographische Entwicklung Kaum ein Thema beherrscht die aktuelle wirtschafts- und sozialpolitische Diskussion so sehr wie die Auswirkungen des demographischen Übergangs auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme. A u f mittlere und längere Frist beeinflusst die Bevölkerungsentwicklung das Arbeitskräfteangebot sowohl i m Niveau als auch in seiner Struktur. Für die Bevölkerungsentwicklung sind zwei Faktoren ausschlaggebend: zum einen die sog. „natürliche Bevölkerungsbewegung", also die Entwicklung der inländischen Bevölkerung, und zum anderen die Migrationsbewegungen, also der Saldo von Zu- und Abwanderungen aus dem Gebiet. Die natürliche Bevölkerungsbewegung ergibt sich durch die Entwicklung der inländischen Geburten einerseits und der Sterblichkeit andererseits.
^ [Std.]
x^x
ài
•
•
ài
1
Angebotenes I ^ Arbeitsvolumen [Std.]
Quelle: Mertens (1979: 32).
Kaufkräftige Nachfragenach Gütern u. Dienstleistungen [DM]
Anlagenausnutzung χ
IM
Technisch mögliche [dimensionslos]
Kapitalproduk* vität
. .
Angestrebte Kapitalproduktivität X [L>M/Std.J
rnM/Tn'13'
Nachgefragte Arbeitsproduktivität |DM/Std.l
àì
Angebotene Arbeitsproduktivität I ** |DM/Std.|
Angebotene Beschäftigungszeit Bereitstehende (Produktionszeit) je X Arbeitsplätze [Plätze bzw. Arbeitsplatz Personen]
Beziehung zu .SystemX • anderen Systemen /J } ' ^ \ B • räuml./sektoral/ f in^f^gl^rabtes 1 — Nachgefragtes I ^ zeitlich (LeistungsV Produktions / " =angebotenes I * Verlagerung, V / Arbeitsvolumen [Std.] I Leistungsaufschub) \volumen^^ ^^^
7——--)
1S
Angebotene Arbeitszeit je Arbeitskraft und Periode X Bereitstellende Arbeitskräfte ^^^^[Pers.]
Beziehung zu ί Im System \ ^ anderen Systemen - Of angebotenes räuml./sektoral/ I Leistungsvolumen I zeitlich \ [DM| /
^^
Natürliche
] Bevölkerungsentwicklung Erwerbsdauer und criode Allgemeine Erwerbsbeteiligung Altersaufbau der Bevölkcninj Bevölkerung Λ (Regeneration) [Pers.] iSAltUerUh Τ0"0 ° [% nach Geschlecht und (Anteil erwerbsfähiger X (Population) (== -jlAitersjanrej Jahrgängen] Altersklassen) [%] [Pers.] ΓΤ ,JI ^ ^^ , \ Wanderungen (Ausgleich —— " ~~~ durch andere Systeme "! I. , räuml./sektoral/berufl.) Angebotene χ Erwerbsbevolkerung ,p , ErwerbsquoteJ%]^^ [Pers.]
Der Markt für Arbeitsleistungen
Übersicht 1
f
1/5
^
Ο
>
^
Co
20
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt a) Die natürliche Bevölkerungsentwicklung
Die Bundesrepublik Deutschland hat sowohl in den alten wie in den neuen Bundesländern eine deutlich rückläufige Geburtenentwicklung zu verzeichnen. So sank die Zahl der Geburten je 1000 Einwohner i m Zeitraum 1960-1998 von 17,4 auf 9,5 ( B M A 2000a); die durchschnittliche Kinderzahl j e Frau (zusammengefasste Geburtenziffer) sank im gleichen Zeitraum von 2,37 auf mittlerweile 1,3 (BMFSFJ 1999, S. 99). Da die Zahl der Sterbefälle je 1 000 Einwohner in diesem Zeitraum mit ca. 11,5 annähernd konstant geblieben ist, verzeichnet Deutschland seit 1972 einen Sterbefallüberschuss, d. h. die Zahl der Todesfälle übersteigt die Zahl der Geburten. Zusätzlich zum Rückgang der Fertilität stieg die Lebenserwartung erkennbar an. Nach der neuesten, Anfang Januar 2000 errechneten sogenannten abgekürzten Sterbetafel 1996/98 des Statistischen Bundesamtes beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines neugeborenen Jungen 74,0 Jahre und diejenige eines gerade zur Welt gekommenen Mädchens 80,3 Jahre. 1 Anfang der 50er Jahre lag die Lebenserwartung für Männer noch bei 64,6 und für Frauen bei 68,5 Jahren. 2 Während die Zunahme der Lebenserwartung bis Anfang der 70er Jahre noch auf einen deutlichen Rückgang der Kindersterblichkeit zurückzuführen ist, ist seitdem der Anstieg der ferneren Lebenserwartung hierfür ausschlaggebend. So stieg die sog. „fernere Lebenserwartung" der 65-jährigen von 12,4 Jahren (1960) auf 14,8 Jahre (1995) bei den Männern bzw. von 14,4 Jahren (1960) auf 18,6 Jahre (1995) bei den Frauen. 3 Beide Faktoren, die nachlassende Fertilität einerseits und die rückläufige Mortalität andererseits führen dazu, dass sich die Altersstruktur zugunsten des Anteils der Alteren verschiebt; man spricht in diesem Zusammenhang von der „doppelten Alterung" der Bevölkerung. Die Abbildung 1 fasst die Entwicklung ausgewählter demographischer Indikatoren zusammen.
b) Migrationsbewegungen Dass die Bevölkerung in Deutschland trotz des Sterbefallüberschusses seit 1970 nicht nur nicht rückläufig war, sondern sogar stetig gewachsen ist, ist auf den positiven Wanderungssaldo zurückzuführen. Historisch hat die Bundesrepublik Deutschland bereits mehrere „Zuwanderungswellen" zu verzeichnen (vgl. auch Klauder 1993): - Unmittelbar nach dem Ende des II. Weltkriegs strömten bis 1950 über 8 Mio. Vertriebene in das Gebiet der alten Bundesrepublik. I m darauffolgenden Jahrzehnt flüchteten nochmals ca. 3 Mio. Deutsche aus der ehem. D D R und Osteuropa nach Westdeutschland. ι Vgl. Statistisches Bundesamt (2000b). 2 IW (1999d: Tab. 12). 3
Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" (1998), S. 76.
I. Das Arbeitsangebot 3 2,5
2 1.5 1 0.5
Zusammengefasste Geburtsziffern
0
< 1950
> 1960
1965
Ρ
1970
1 1975
Alte Bundesländer
1970/72
r 1980
. 1985
! 1990
1 1996
Neue Bundesländer |
1980/82
1990/92
• Männer • Frauen
1950
η 1955
1960
π 1965
1970
.
U
π
1975
1985
ΈΓ 1990
1995
1999
IGeburtenüberschussZ-defizit (•/-) Geborene Gestorbene I Quellen: Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" (1998), Statistisches Bundesamt (1998 und 2000c); eigene Darstellung.
Abbildung 1 : Indikatoren zur Bevölkerungsentwicklung
22
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
- In den 60er und der ersten Hälfte der 70er Jahre führte die Arbeitskräfteknappheit zu einer arbeitsmarktpolitisch bedingten Zuwanderung von etwa 3,5 Mio. Gastarbeitern aus den südeuropäischen Ländern und der Türkei. Diese Entwicklung wurde erst durch den Anwerbestopp ab 1974 unterbrochen. - In der Phase von 1988 bis Mitte der 90er Jahre kam es durch den Fall der Mauer und die politischen Umwälzungen i m ehemaligen Ostblock zu einer zweiten massiven Ost-West-Wanderungsbewegung. Von 1988 bis 1997 kamen 2,4 Mio. Aussiedler in das Gebiet der Bundesrepublik, allein im Jahr 1990 fast 400 000 Personen. Durch die Wiedervereinigung hatte Deutschland zusätzlich einen einmaligen Zuwachs von 15,9 Mio. Personen zu verzeichnen. Insgesamt stieg die Bevölkerung in Deutschland von 55,4 Mio. (1960) auf 82,0 Mio. (1998) an. Welchen Einfluss die Zuwanderung auf die inländische Bevölkerung in der Vergangenheit hatte, wird erkennbar, wenn man die Entwicklung der Bevölkerung ohne Außenwanderung berechnet und der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung gegenüberstellt (vgl. auch Hof 2001). Wie die Abbildung 2 zeigt, wäre die Bevölkerung in Deutschland seit 1970 stetig rückläufig gewesen und läge derzeit um ca. 2 Mio. unter dem Niveau von 1970. Die Außenwanderung hat diesen Trend vollständig umgekehrt: so leben zurzeit etwa 4 Mio. Menschen mehr in Westdeutschland als vor dreißig Jahren. Parallel dazu ist der Ausländeranteil in Deutschland gestiegen. Dieser belief sich 1970 noch auf 4,2 % und liegt derzeit mit fast 9 % mehr als doppelt so hoch ( B M A 2000a).
66000 65000 64000 63000
62000 61000 60000 59000 58000 57000 56000 1970
1975
1980
1985
1990
1995
Quelle: B M A (2000); eigene Berechnungen.
Abbildung 2: Bevölkerungsentwicklung mit und ohne Außenwanderung (alte Bundesländer)
2000
I. Das Arbeitsangebot
23
2. Die Entwicklung des Arbeitsangebots Natürlich kann die Bevölkerungsentwicklung nur einen groben Anhaltspunkt für die Entwicklung des Angebots auf den Arbeitsmärkten liefern, da nicht alle Inländer in der Lage und bereit sind, ihre Arbeitskraft auf Märkten anzubieten. Der quantitative Umfang des Arbeitsangebots kann auch nicht direkt aus der Statistik ermittelt, sondern muss geschätzt werden. Die theoretische Obergrenze des Arbeitskräfteangebots ist die Zahl der Erwerbsfähigen; darunter versteht man die Bevölkerung i m erwerbsfähigen Alter, also unter den derzeitigen rechtlichen Rahmenbedingungen die 15-65-jährigen der Wohnbevölkerung. 4 Die Erwerbsfähigenquote, also der Anteil der Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung, war in der Vergangenheit signifikanten Schwankungen unterworfen: ausgehend von einem relativ hohen Niveau von ca. 68 % in den 60er Jahren sank die Erwerbsfähigenquote auf unter 64 % in 1970 ab; dieser Rückgang der Erwerbsfähigenquote ist auf den Geburtenausfall während des Krieges und die hohe Geburtenziffer in den 50er und Anfang der 60er Jahre zurückzuführen. Durch den Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in das erwerbsfähige Alter stieg die Erwerbsfähigenquote bis Mitte der 80er Jahre auf fast 70 % an und ist aufgrund der demographischen Entwicklung seither stetig rückläufig. U m das für den Arbeitsmarkt relevante Arbeitskräfteangebot zu ermitteln, ist weiter zu berücksichtigen, in welchem Umfang die Erwerbsfähigen dem Arbeitsmarkt zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich zur Verfügung stehen; damit erhält man die Zahl der Erwerbspersonen. Die Erwerbspersonen setzen sich aus den Erwerbstätigen und den Erwerbs- bzw. Arbeitslosen zusammen; sie stellen gleichsam die Untergrenze des Arbeitsangebots dar. Unter der Erwerbsquote versteht man den Anteil der Erwerbspersonen an den Erwerbsfähigen; sie ergibt sich aus der Erwerbsfähigenquote unter Berücksichtigung der Erwerbsbeteiligung. Bei der Quantifizierung der Erwerbspersonen ist zu beachten, dass ihre Größe maßgeblich von ihrer definitorischen Abgrenzung und der Erhebungsmethode abhängt. I m Folgenden sollen die gängigen Erhebungskonzepte kurz dargestellt werden.
a) Die Erfassung durch die Bundesanstalt für Arbeit Als Erwerbsperson nach der Definition der Bundesanstalt für Arbeit (BA) gilt, wer - sich in einem Beschäftigungsverhältnis mit einer Arbeitszeit von mehr als 15 Stunden befindet (Erwerbstätiger) oder - ein solches sucht (Arbeitsloser). 4 Die Eingrenzung auf diese Altersgruppe dient der internationalen Vergleichbarkeit, lässt sich aber in Bezug auf Deutschland mit der neunjährigen Schulpflicht und mit dem gesetzlichen Regel-Renteneintrittsalter erklären. Betrachtet man die gesetzlichen Regelungen von Mindest- und Höchstalter als gegeben, so stellen die Erwerbsfähigen eine obere Schranke für den Umfang des Arbeitsangebots dar, deren Größe ausschließlich durch die demographische Entwicklung bestimmt wird (Brachinger/Carnazzi 2000).
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Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Als arbeitslos gilt nach der amtlichen Arbeitslosenstatistik der B A eine Person ohne Arbeitsverhältnis, die - arbeitsfähig bzw. nicht arbeitsunfähig erkrankt ist, - bereit ist, wöchentlich mindestens 15 5 Stunden zu arbeiten, - eine über drei Monate hinausgehende Beschäftigung sucht, - willens ist, eine zumutbare Beschäftigung anzunehmen und - dem Arbeitsmarkt sofort 6 zur Verfügung steht. Jugendliche beispielsweise, die ausschließlich einen Ausbildungsplatz suchen, sind deshalb in der Arbeitslosenstatistik nicht enthalten. Die Einstufung als Arbeitsloser ist dabei unabhängig davon, ob Anspruch auf Arbeitslosengeld oder -hilfe besteht. 7
b) Die Erfassung durch das Statistische Bundesamt Im Unterschied zur Bundesanstalt für Arbeit erfasst das Statistische Bundesamt im Rahmen des Mikrozensus 8 die Zahl der Erwerbspersonen nach dem „labourforce"-Konzept; das Statistische Bundesamt folgt damit den Empfehlungen der I L O und der OECD. Nach dem Mikrozensuskonzept gilt derjenige als Erwerbsperson, der sich selbst als Erwerbstätiger oder Erwerbsloser bezeichnet. I m Gegensatz zu den von der B A ermittelten Erwerbspersonen beruhen die Ergebnisse des Statistischen Bundesamts somit auf repräsentativen Umfragen. Die Erwerbspersonen umfassen nach dem Inländerkonzept alle Personen 9
5 Brachinger/Carnazzi
(2000), S. 108.
6
In Deutschland erfüllten 1997 13% der Arbeitslosen dieses Kriterium nicht, was insbesondere für die unter 20-jährigen gilt. Vgl. I W (1999a) und Mayer (1990), S. 23. 7
44,9% der Arbeitslosen waren vor ihrer Registrierung zumindest vorübergehend nicht erwerbstätig, sondern hatten ihre Erwerbslaufbahn in irgendeiner Form unterbrochen. Vgl. I W (1999e). 8
Der Mikrozensus ist eine jährliche Haushaltsbefragung des Statistischen Bundesamtes im Umfang von einem Prozent der Gesamtbevölkerung, bei der die Haushaltsmitglieder durch einen Interviewer direkt zu bestimmten Themenkomplexen befragt werden. Die Durchführung des Mikrozensus ist gesetzlich vorgeschrieben und geregelt. Der Mikrozensus unterliegt dem Berichtswochenkonzept, das heißt, dass die Merkmale der befragten Personen für eine festgelegte Berichtswoche ermittelt werden. Für die festgelegte Berichtswoche (für den Mikrozensus die letzte feiertagsfreie Woche im April) werden alle Merkmale der befragten Personen ermittelt. Die Ergebnisse des Mikrozensus erlauben somit nur Querschnittsvergleiche, die Veränderungen nur insoweit berücksichtigen, als sie in der Berichtswoche noch andauerten (vgl. Liiken/Heidenreich [1991], S. 790). Etwa ein Viertel der Auswahlbezirke wird periodisch ausgewechselt und durch neue Auswahlbezirke ersetzt. Das bedeutet, dass der Mikrozensus kein „echtes" Panel ist. Eine Identifizierung der befragten Personen über die Jahre hinweg ist nicht möglich (Pfeiffer [1999], S. 12). 9 Gablers Wirtschafts-Lexikon (1988), S. 1621.
I. Das Arbeitsangebot
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- mit Sitz i m Bundesgebiet, - die eine unmittelbar oder mittelbar auf Erwerb gerichtete Tätigkeit ausüben oder suchen, - unabhängig von der Bedeutung des Ertrags dieser Tätigkeit für ihren Lebensunterhalt und ohne Rücksicht auf die von ihnen tatsächlich geleistete Arbeitszeit. Zur Messung der Erwerbstätigen werden alle zum Erhebungszeitpunkt bestehenden Erwerbstätigkeiten herangezogen, ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung, eine selbstständige Erwerbstätigkeit oder abhängige Beschäftigung handelt. Die Mindestarbeitszeit pro Woche beträgt eine Stunde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bedeutung der sogenannten geringfügigen Beschäftigung (Arbeitszeit unter 15 Stunden) in den letzten Jahren erkennbar zugenommen hat (vgl. dazu Kap. C). Die Grundgesamtheit, auf die sich das Statistische Bundesamt bezieht, ist folglich größer und wuchs in den letzten Jahren schneller als die der Bundesanstalt für Arbeit. I m Jahre 1998 waren demnach in Deutschland durchschnittlich knapp 36 M i l l i o nen Personen 10 erwerbstätig. Auch bei der Messung der Arbeitslosen orientiert sich das Statistische Bundesamt an den Richtlinien 1 1 des International Labour Office (Internationales Arbeitsamt der International Labour Organization I L O ) . 1 2 Als Arbeits- bzw. Erwerbsloser gelten nach diesen Richtlinien 1 3 alle Personen ab einem bestimmten Alter (in Deutschland Personen über 15 Jahre), die während eines bestimmten Berichtszeitraums - „ohne Arbeit" sind, d. h. nicht in entlohnter Beschäftigung stehen oder selbstständig sind; - „gegenwärtig für eine Beschäftigung verfügbar" sind (dazu zählen auch Personen, die eine Beschäftigung nach dem Erhebungszeitpunkt aufnehmen werden); - „auf der Suche nach einer Beschäftigung" sind, d. h. in einem bestimmten Zeitraum (ζ. B. vier Wochen) erkennbare Schritte unternommen haben, um eine Arbeit zu suchen. Dazu zählen die Registrierung bei einer öffentlichen oder privaten Arbeitsvermittlungsstelle ebenso wie Bewerbungen, Aufgabe von Stellenan10 Diese Zahl ergibt sich nach der Umstellung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auf das ESVG 95. Die Erwerbstätigenzahl fällt um gut 2 Millionen oder 6 % höher aus als nach dem ESVG 79, zweite Auflage. Auch für die Vorjahre ergeben sich Änderungen. Durchgängig liegt die Anzahl der Erwerbstätigen nach der neuen Rechnung oberhalb der zuvor angegebenen Werte. Die Differenzen nehmen dabei kontinuierlich von gut 1,2 Millionen für das Jahr 1991 auf mehr als 2 Millionen Personen für das Jahr 1998 zu (Sachverständigenrat 1999, Tz. 153). 11 Diese Richtlinien wurden auf der 13. internationalen Konferenz der Arbeitsstatistiker in der Entschließung vom 29. 10. 1982 festgelegt; vgl. Mayer (1990), S. 16. 12
Die I L O selbst stützt sich bei ihren Veröffentlichungen auf die nationalen Erhebungen.
13 Vgl. OECD (1995), S. 102.
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Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt zeigen, Bemühungen um Unterstützung durch Bekannte oder Verwandte sowie die Beschaffung von finanziellen Mitteln und Anträge für Genehmigungen und Konzessionen (bei der Suche nach einer selbstständigen Tätigkeit).
Der Kreis der Erwerbslosen unterscheidet sich von der Zahl der registrierten Arbeitslosen folglich um die Zahl derjenigen Personen, die, ohne beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet zu sein, nach eigenen Angaben Arbeit suchen sowie um die Zahl der Personen, die zwar beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet sind, aber sich selbst nicht mehr als arbeitssuchend einstufen. 14 Die Erwerbslosen nach der Definition des Statistischen Bundesamtes umfassen schließlich auch diejenigen, die eine auf weniger als drei Monate befristete Beschäftigung oder eine Teilzeitarbeit mit weniger als 15 Stunden pro Woche suchen, noch in schulischer Ausbildung sind, ausschließlich einen Ausbildungsplatz suchen oder über 65 Jahre alt sind. Zudem wird nicht berücksichtigt, ob die betreffende Person dem Arbeitsamt sofort zur Verfügung steht. Entscheidend ist vielmehr die offenbarte Eigeninitiative bei der Suche nach Arbeit. Zusammenfassend lassen sich bei der Erfassung der Erwerbspersonen zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und dem Statistischen Bundesamt folgende Unterschiede feststellen: - Da das Statistische Bundesamt bei seiner Erhebung der Beschäftigtenzahlen keine Untergrenze bezüglich der gewünschten Arbeitszeit kennt, ist die Zahl der vom Statistischen Bundesamt ermittelten Erwerbspersonen insgesamt höher als die der Bundesanstalt für Arbeit. - Demgegenüber prüft das Statistische Bundesamt das Motiv der Arbeitssuche in seiner Umfrage; insofern werden diejenigen nicht als Erwerbslose erfasst, die sich lediglich formal arbeitslos gemeldet haben. Erfasst werden hingegen die nicht registrierten Arbeitssuchenden, die in der amtlichen Arbeitslosenstatistik nicht erfasst sind. Insgesamt ist die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesene Zahl der Erwerbslosen höher als die der Arbeitslosen der Bundesanstalt für Arbeit. 1998 ermittelte das Statistische Bundesamt 4,4 Mio. Erwerbslose (2,764 Mio. in den alten und 1,638 Mio. in den neuen Bundesländern), während die B A für das gleiche Jahr 4,28 Mio. Arbeitslose auswies. Die Erwerbslosenquote ist jedoch geringer (10,9 % 1 5 vs. 11,1 % im Jahr 1998), da der Nenner des Quotienten, die Zahl der Erwerbspersonen, größer ist.
14 D I W (1993), S. 601 f. 15 Die i m Mikrozensus ausgewiesenen 4,4 M i o . Erwerbslosen wurden dabei auf die Zahl der Erwerbspersonen (40,26 Mio.) bezogen.
I. Das Arbeitsangebot
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c) Die Erfassung durch die OECD Da die Definition der Erwerbspersonen der OECD weitgehend deckungsgleich mit der des Statistischen Bundesamtes ist, sollen an dieser Stelle lediglich die Unterschiede herausgearbeitet werden. Wie das Statistische Bundesamt stützt sich auch die OECD bei der Ermittlung der standardisierten und damit international vergleichbaren Arbeitslosenquoten 16 auf Stichprobenerhebungen. Der Unterschied in der Definition von Arbeitslosen besteht lediglich in einer strengeren Abgrenzung des Verfügbarkeitskriteriums. Die Zahl der Erwerbslosen, wie sie in der OECD-Statistik ausgewiesen wird, ist daher geringer als die des Statistischen Bundesamts. Laut I W (1999b) ermittelte das Statistische Bundesamt eine Erwerbslosenquote nach der OECD-Definition von 9,4 % in 1998 (8,7 % in 1999) und somit 570.000 „Arbeitslose" weniger als die B A . Die OECD führt in Europa keine eigenständigen Erhebungen durch, sondern bezieht ihre Daten von EUROSTAT, die die standardisierten Arbeitslosenquoten nach den ILO-Richtlinien erstellt. 1 7
3. Determinanten des Arbeitsangebots Unabhängig von der statistischen Abgrenzung ist die Erwerbsbeteiligung abhängig von folgenden Faktoren: - Alter. Der Trend hin zu höheren Bildungsabschlüssen und der damit verbundenen längeren Verweildauer im Bildungssystem verringerte die Arbeitsmarktbeteiligung Jüngerer merklich. Sie liegt insbesondere bei der Gruppe der 1 5 - 2 4 16
The unemployment rate „simply tells us the proportion of the labour force that does not have a j o b but is available and actively looking for work. It says nothing about the economic resources of the unemployed worker or the worker's family. The scope of unemployment should therefore be limited to its use as a measurement of the utilization of labour, and should not be extended to other spheres of the economy of a country. ( . . . ) In an effort to resolve the comparability issue for its member countries the OECD initiated research on and has published standardized unemployment rates' adjusted to I L O concepts. The I L O extended the process even further, beginning in 1990. The ILO-comparable unemployment rates shows historical on unemployment rates from national labour force surveys that have been reconciled with, and adjusted to make the estimates conceptually consistent with the strictest application of the I L O statistical standards. This implies that participating countries must be able to provide detailed information on the composite elements of their labour forces. These estimates, based on official national data, should provide the best basis currently available for making reasonable international comparisons and assumptions, although they may still contain very minor discrepancies" ( I L O [2000]). 17 Vgl. OECD (2000). Arbeitslose nach der ILO-Richtlinie sind „ A l l persons above a specified age who during the reference period were:
- without work, i. e. were not in paid employment or self-employment, as defined above; - currently available for work, i. e. were available for paid employment or self-employment during the reference period; and - seeking work, i. e. had taken specific steps in a specified recent period to seek paid employment or self-employment"; vgl. O E C D (1995), S. 102.
28
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt jährigen deutlich unter der allgemeinen Erwerbsquote (Liiken/Heidenreich 1991, S. 792 f.). Ebenso sinkt die Erwerbsbeteiligung i m Alter, beispielsweise aufgrund vorzeitigen Ruhestands. Betrachtet man die Entwicklung der Erwerbsquote der über 60-jährigen, so erkennt man einen stetigen Rückgang i m Zeitraum 1960-1997 (vgl. Abbildung 3).
Erwerbsquote der Männer
Altersklassen I
1960
1997 I
Erwerbsquote lediger Frauen
Altersklassen I
1960
1997 I
Erwerbsquote verheirateter Frauen
Altersklassen I
1960
19971
Abbildung 3: Erwerbsquote nach soziodemographisehen Merkmalen
I. Das Arbeitsangebot
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Die Erwerbsquote der Männer ging von 67,4 % auf 32,8 % zurück, die der verheirateten Frauen von 15,5 % auf 10,3 % und die der ledigen Frauen von 39 % auf 20,3 %. - Soziodemographische Faktoren. Die Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen unterscheidet sich nach wie vor signifikant. Allerdings ist das Geschlecht nicht das primäre Stratifikationsmerkmal: Die Unterschiede in den Erwerbs Verläufen zeigen sich erst in Verbindung mit dem familiären Hintergrund. So liegt die Erwerbspartizipation verheirateter Frauen für alle Altersgruppen deutlich unter den Werten bei männlichen Erwerbspersonen, während sich die Erwerbsquote der unverheirateten Frauen dem Erwerbsmuster der Männer weitgehend angeglichen hat. Die Bedeutung des familiären Hintergrunds für das Erwerbsverhalten der Frau wird noch deutlicher, wenn man die Erwerbsquote der Mütter in Abhängigkeit vom Alter des jüngsten i m Haushalt lebenden Kindes betrachtet (vgl. Tabelle 1). Wie diese Tabelle zeigt, steigt die Erwerbsquote der Mütter mit zunehmendem Alter des jüngsten Kindes deutlich an; dieser Effekt ist am nachhaltigsten bei den verheirateten Müttern in den alten Bundesländern erkennbar. - Regionale Unterschiede. Tabelle 1 zeigt auch deutliche Unterschiede i m Arbeitsangebot zwischen ost- und westdeutschen Frauen. In den neuen Bundesländern liegt die Frauenerwerbsquote durchgängig über den Weiten der alten Länder.
Tabelle 1
Das Erwerbsverhalten von Müttern nach soziodemographischen Faktoren Früheres Bundesgebiet
Deutschland Alter des jüngsten Kindes
Erwerbstätigenquote a )
Erwerbsquote b )
unter 3 3 bis 6 6 bis 10 10 bis 15 15 bis 18 Insgesamt
46,5 50,7 60,6 68,8 69,2 58,9
50,0 59,6 68,9 77,0 76,5 66,0
unter 3 3 bis 6 6 bis 10 10 bis 15 15 bis 18 Insgesamt
46,1 55,3 64,7 74,6 75,3 64,0
56,9 76,2 84,9 90,3 89,0 80,5
Erwerbstätigen· quote a )
Neue Länder
Erwerbsquote b )
Erwerbstätigen· quote a )
Erwerbsquote b )
48,2 56,3 62,4 70,2 70,7 60,4
56,8 64,6 73,3 78,9 77,8 73,6
68,9 91,9 94,9 96,5 94,7 92,2
52,7 69,9 79,3 87,1 86,6 76,0
48,3 57,3 62,6 72,3 69,5 63,1
65,8 96,2 96,1 96,6 94,6 90,5
Ehefrauen 45,5 49,3 57,4 65,2 66,5 55,8 Alleinerziehende 45,1 54,7 65,8 75,8 77,7 64,5
a) Anteil der erwerbstätigen Mütter an allen Müttern. b) Anteil der erwerbstätigen oder erwerbslosen Mütter an allen Müttern. Quelle: Statistisches Bundesamt (1999b).
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Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt In diesen Zahlen spiegeln sich die unterschiedlichen historischen Gegebenheiten und die jeweiligen Sozialisationsbedingungen wider. Denn vor der Wiedervereinigung verzeichnete Ostdeutschland die höchste Frauenerwerbsbeteiligung weltweit. Dies hatte folgende Gründe (Klauder [1994a], S. 55 f.): - In der D D R wurde der Erwerbstätigkeit ein hoher ideologischer Stellenwert eingeräumt. Dem in der Verfassung festgeschriebenen Recht auf Arbeit stand ebenso eine nicht kodifizierte Pflicht zur Arbeit gegenüber. - Die Höhe der staatlich festgelegten Einkommen erlaubte es vielfach nicht, den Lebensunterhalt lediglich aus einem Einkommen zu bestreiten. Rentenansprüche konnten zudem nur über die eigene Erwerbstätigkeit erlangt werden. - Die ehem. D D R nutzte Instrumente zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit (ζ. B. Kinderkrippen, Horte, Ganztagsschulen). Schließlich dürfte neben der traditionell höheren Erwerbsbeteiligung ostdeutscher Frauen auch das geringere Haushaltseinkommen in den neuen Bundesländern eine Rolle spielen. Zwar ist die Wirkung des Haushaltseinkommens auf die Erwerbsneigung der Frau theoretisch indeterminiert; empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Erwerbsneigung der Frau mit zunehmendem Einkommen des Mannes i m Durchschnitt sinkt. 1 8
- Konjunkturabhängigkeit. Schließlich ist der Erwerbsgrad auch abhängig von der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt, da bei ungünstiger Arbeitsmarktlage die Zahl derjenigen steigt, die sich aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen (sog. „stille Reserve"). Rechnet man zu den Erwerbspersonen noch jene hinzu, die - zwar Arbeit suchend, aber nicht arbeitslos gemeldet sind („aktive" stille Reserve) und die - zwar nicht erwerbstätig und auch nicht arbeitslos gemeldet sind, aber „bei günstiger Arbeitsmarktlage bereit, geeignet und nach den persönlichen Voraussetzungen in der Lage sind, eine entsprechende Beschäftigung auszuüben" (sogenannte passive stille Reserve ) , 1 9 so erhält man das Arbeitskräftepotenzial. Der Umfang der stillen Reserve kann natürlich nur geschätzt werden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelt die stille Reserve als Residuum zwischen (geschätztem) Erwerbspersonenpotenzial und der Zahl der registrierten Erwerbspersonen. Das Erwerbspersonenpotenzial zu einem bestimmten Zeitpunkt wird ermittelt, indem man die Determinanten der Erwerbsbeteiligung für verschiedene Bevölkerungsgruppen schätzt. Das I A B differenziert die Erwerbsbevölkerung dabei 18 In empirischen Untersuchungen wurden Einkommenselastizitäten des Arbeitsangebots verheirateter Frauen zwischen 0 und -0,73 ermittelt. Vgl. ζ. B. Merz (1990), Wagenhals (1990), Kaiser et al. (1992), Kaiser (1993).
19 Klauder/Kühlewind
(1980), S. 9 f.
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I. Das Arbeitsangebot
nach Nationalität, Geschlecht, Familienstand und Alter und ermittelt die jeweilige Erwerbsquote als Funktion der Zeit und eines Arbeitsmarktindikators, ζ. B. der Arbeitslosenquote. U m die Potenzialerwerbsquote zu errechnen, wird der Arbeitsmarktindikator anschließend auf das Vollbeschäftigungsniveau gesetzt; das Erwerbspersonenpotenzial ist dann das Produkt aus Potenzialerwerbsquote und Anzahl der Personen der jeweiligen Teilpopulation, bzw. 2 0 : EPP
=
Erwerbspersonenpotenzial
êp Potenzialerwerbsquote
Β · Anzahl der Personen
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stützt sich bei der Schätzung der stillen Reserve auf die Personenbefragung des Sozioökonomischen Panels (vgl. Holst 1998 und Holst/Schupp 1994). Durch die Auswertung der Personenfragebögen sind die Autoren in der Lage, die stille Reserve noch weiter zu differenzieren: sie unterscheiden zwischen der Gruppe der „stark arbeitsmarktorientierten" stillen Reserve, der „gemäßigt arbeitsmarktorientierten" stillen Reserve und den Nichterwerbspersonen. Die Ergebnisse unterscheiden sich quantitativ nur geringfügig: so ermittelte das I A B 1996 für Westdeutschland eine stille Reserve von 2,4 Mio., das D I W von 2,2 Mio. Personen. Gravierender sind die Unterschiede in den neuen Bundesländern: hier erhält das I A B einen Wert von 0,88 Mio., das D I W eine Größenordnung von 0,27 Mio. Personen. Ubersicht 2
Das Angebot an Arbeitskräften Erwerbstätige + registrierte Arbeitslose = Erwerbspersonen + aktive stille Reserve (arbeitsuchende, aber nicht beim Arbeitsamt als arbeitslos gemeldete Erwerbslose) = effektives Angebot + passive stille Reserve = entmutigte Personen („discouraged workers") + Personen in kurzfristigen „Warteschleifen" des Bildungs- oder Ausbildungssystems oder in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen der BA - Zusatzkräfte („added workers"), die ζ. Β. nur bei Arbeitslosigkeit eines Angehörigen Arbeit suchen + Personen, die aus Arbeitsmarktgründen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind oder auf einen Eintritt grundsätzlich verzichtet haben = konjunkturelles Erwerbspersonenpotenzial (IAB-Konzept) + Personen, die unter anderen Arbeitsmarkt-Rahmenbedingungen erwerbsbereit wären = latentes Potenzial an Arbeitskräften + sonstige Nichterwerbspersonen =
totales Arbeitskräftepotenzial Quelle: Fuchs (1998).
20 Vgl. ausführlicher Thon (1986) sowie Fuchs (1995 und 1998).
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
32
Die Übersicht 2 soll die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Konzepten zur Erfassung des Arbeitskräfteangebots nochmals verdeutlichen.
II. Die Arbeitsnachfrage 1. Entwicklung des Bedarfs am Arbeitsmarkt In welchem Umfang das vorhandene Arbeitskräftepotenzial ausgeschöpft wird, bestimmt sich durch die Nachfrage nach Arbeitskräften, die durch die privaten Wirtschaftssubjekte und den Staat entfaltet wird. Beschränkt man sich bei der Analyse der Arbeitsnachfrage auf den privaten Unternehmenssektor als dem größten Arbeitgeber, so lassen sich folgende Determinanten für die Arbeitsnachfrage ausmachen 2 1 : -
Größe und Struktur der Güternachfrage. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist wie jede Faktornachfrage - eine aus dem Produktionsergebnis abgeleitete Nachfrageentscheidung. Damit steigt c. p. die Beschäftigung in Branchen mit hohem Outputwachstum bzw. in Volkswirtschaften mit einer hohen Wachstumsrate des Produktionspotenzials und sinkt in stagnierenden Volkswirtschaften resp. in Branchen mit rückläufiger Güternachfrage. Die Outputabhängigkeit der Arbeitsnachfrage wird zwar von der Hypothese der „Entkoppelung" von Wachstum und Beschäftigungs in Frage gestellt; eine positive Beschäftigungselastizität des Outputs kann aber nach wie vor als stilisiertes Faktum des Arbeitsmarktes gelten (vgl. Leschke/Fröhling 2000; zur Diskussion um die „Beschäftigungsschwelle" des Wirtschaftswachstums vgl. auch Kap. D). Weitere beschäftigungsrelevante Faktoren sind:
- Stand und Entwicklung der Technologie. Der Stand der Produktionstechnologie wird durch das Konzept der Substitutionselastizität erfasst. Sie gibt - vereinfacht ausgedrückt - an, wie stark das Faktoreinsatzverhältnis bei einer Änderung der relativen Faktorpreise variiert; die Substitutionselastizität ist damit ein Maß für die Leichtigkeit, mit der die Produktionsfaktoren im Produktionsprozess bei konstant gehaltenem Produktionsniveau ausgetauscht werden können. Der numerische Wert der Substitutionselastizität kann natürlich nur empirisch geschätzt werden; er ist abhängig vom Zeitraum der Untersuchung und von ihrem Aggregationsniveau. Die Substitutionselastizität ist langfristig höher als kurzfristig, da Änderungen im Produktionsprozess einen gewissen, ζ. T. mehrjährigen Zeitraum in Anspruch nehmen. Sie ist außerdem gesamtwirtschaftlich höher als einzelwirtschaftlich. Denn selbst wenn auf einzelwirtschaftlicher Ebene stets mit konstantem Faktoreinsatzverhältnis produziert werden würde 2 2 , würden ar21 Die Arbeitsnachfrage des Staates und der privaten Haushalte unterliegen etwas anderen Bestimmungsgründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 22
Man spricht in diesem Fall von einer limitationalen Produktionsfunktion.
II. Die Arbeitsnachfrage
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beitsintensiv produzierende Unternehmen bei steigenden Arbeitskosten unrentabel und gezwungen, den Markt zu verlassen. Es verbleiben dann nur noch die kapitalintensiveren Unternehmen; die aggregierte Produktionsfunktion ist damit substitutional. Schließlich ist die Entwicklung der Arbeitsnachfrage auch von der Entwicklung der Produktionstechnologie, also vom technischen Fortschritt, abhängig. A u f die unterschiedlichen Entwicklungsformen des technischen Fortschritts wird in Kap. D näher eingegangen. - Die relativen Faktorpreise. Bei gegebenem Output und gegebener Technologie hängt der Umfang der Arbeitsnachfrage von den Kosten des Faktors Arbeit ab. Theoretisch löst ein Anstieg der Lohnkosten einen Skalen- und einen Substitutionseffekt aus, die beide in Richtung einer Einschränkung der Arbeitsnachfrage führen. Der Skaleneffekt besagt, dass aufgrund der gestiegenen Produktionskosten die Produktionsmenge eingeschränkt wird; damit wird von allen Produktionsfaktoren, im Zwei-Faktoren Fall also von Arbeit und Kapital, weniger nachgefragt. Der Substitutionseffekt gibt an, in welchem Umfang der relativ teurer gewordene Faktor Arbeit durch den jetzt relativ billigeren Faktor Kapital ersetzt wird. Zur Messung der Arbeitsnachfrage existieren mehrere Konzepte. Das produktionstheoretisch adäquate Maß für die Nachfrage nach dem Faktor Arbeit wäre die Zahl der Erwerbstätigen zuzüglich der Zahl der (gemeldeten und nicht gemeldeten) offenen Stellen, multipliziert mit der von den Unternehmen gewünschten Arbeitszeit. Eine derart exakte Messung der effektiven Arbeitsnachfrage ist jedoch aus datentechnischen Gründen nicht möglich. Der Indikator, der dieser Definition sehr nahe kommt, ist das Arbeitsvolumen. Das Arbeitsvolumen ist definiert als die Zahl der Erwerbstätigen multipliziert mit den jährlichen geleisteten Arbeitsstunden je beschäftigten Arbeitnehmer. Die Entwicklung des Arbeitsvolumens insgesamt sowie differenziert nach Erwerbstätigen- und Stundenzahl enthält Abbildung 4. U m den Bruch in der Statistik, der sich durch die Integration der neuen Bundesländer ergibt, in der Grafik auszuschalten, wurden die Zeitreihen indiziert und für das Jahr 1990 auf 100 gesetzt. Man erkennt, dass das Arbeitsvolumen deutlich rückläufig ist; lag das Arbeitsvolumen zu Beginn der 60er Jahre noch bei 130 Zählern, so sank es bis Mitte der 70er auf 103 und liegt aktuell bei etwas über 90. Der trendmäßige Rückgang des Arbeitsvolumens wird gelegentlich als Indiz für eine säkulare Krise am Arbeitsmarkt interpretiert; insbesondere die sog. „Zukunftskommission" der Freistaaten Bayern und Sachsen nimmt diese Entwicklung als Beleg für ihre These, wonach die Faktoren Kapital und „Wissen" den Faktor Arbeit zunehmend verdrängen und - zumindest in den Industriegesellschaften das „Ende der Erwerbsarbeit" angebrochen sei (vgl. Kommission für Zukunftsfragen 1998).
3 Althammer
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Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Quellen: Sachverständigenrat (1997, 2000) und DIW Wochenberichte; lfd. Jg.
Abbildung 4: Entwicklung des Arbeitsvolumens und seiner Komponenten in Deutschland (1990 = 100)
Diese Interpretation ist jedoch außerordentlich problematisch. Zwar trifft es zu, dass zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden eine Substitutionsbeziehung bestehen kann. Insofern sollte bei der Interpretation beschäftigungspolitisch „erfolgreicher" Volkswirtschaften nicht nur auf das Mengengerüst „Erwerbstätige" bzw. Arbeitslosenquote, sondern auch auf das geleistete Arbeitsvolumen geachtet werden. Denn es ist ein Unterschied, ob ein neuer Arbeitsplatz geschaffen wird, oder ob ein bestehender Vollzeitarbeitsplatz durch zwei Teilzeitbeschäftigungen substituiert wird. Dennoch ist ein rückläufiges Arbeitsvolumen nicht pauschal als Krisenphänomen interpretierbar. Das wird bereits deutlich, wenn man die in der Abbildung 4 dargestellte Entwicklung nach der Mengen- und Zeitkomponente differenziert. Man erkennt, dass der deutliche Rückgang des Arbeitsvolumens in den 60er und frühen 70er Jahren nicht auf eine Ande-
II. Die Arbeitsnachfrage
35
rung der Erwerbstätigenzahl zurückzuführen ist - der Arbeitsmarkt befand sich ja zu diesem Zeitpunkt noch in der Phase der Uberbeschäftigung - , sondern auf eine Einschränkung der Arbeitszeit. Dies wiederum ist lediglich ein Reflex des gestiegenen Wohlstands, der sich entweder in höheren Arbeitseinkommen oder in geringeren Arbeitszeiten niederschlagen kann. Seit Mitte der 70er Jahre ist das Arbeitsvolumen nochmals gesunken, jedoch bei weitem nicht mehr so stark wie in den vorangegangenen 15 Jahren. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist sogar ein leichter Anstieg des Arbeitsvolumens festzustellen, der durch die kräftige Ausweitung der Erwerbstätigenzahl bei weiter moderat sinkenden Stundenzahlen verursacht wurde. Erst i m Zuge der jüngsten Rezession ist wieder ein Absinken der Erwerbstätigenzahl und auch des Arbeitsvolumens festzustellen. Zur Beurteilung der Beschäftigungssituation ist damit die Zahl der Erwerbstätigen ein besserer Indikator als das Arbeitsvolumen. Wie die Abbildung 4 zeigt, schwankt die Erwerbstätigenzahl zwischen 1960 und 1985 zyklisch und ohne ausgeprägten Trend; in Absolutwerten bewegte sich die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 26 und 27 Mio. Personen. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre zeigt sich eine deutliche Belebung am Arbeitsmarkt, in deren Verlauf die Zahl der Erwerbstätigen um fast 3 Mio. steigt. Die Rezession zu Beginn der 90er Jahre lässt die Erwerbstätigenzahl wieder zurückgehen, wobei dieser Rückgang noch durch die besondere Situation am ostdeutschen Arbeitsmarkt verschärft wird. Die Zahl der Erwerbstätigen gibt allerdings nur den Teil der Arbeitsnachfrage wieder, der am Markt befriedigt werden konnte; damit bleiben die offenen Stellen unberücksichtigt. Zwar weist die Bundesanstalt für Arbeit die Zahl der Vakanzen aus, aber diese Angaben sind aus folgenden Gründen problematisch: - Die Daten der B A beziehen sich lediglich auf die den Arbeitsämtern gemeldeten Vakanzen. Viele Unternehmen melden jedoch ihre offenen Stellen nicht dem Arbeitsamt, da sie offensichtlich davon ausgehen, vom Arbeitsamt keine geeigneten Bewerber vermittelt zu bekommen. Sie werden dann die Stellen unternehmensintern ausschreiben oder die Ausschreibung in anderer Form selbst durchführen. Andererseits ist es denkbar, dass Unternehmen angesichts der unentgeltlichen Vermittlung durch die Bundesanstalt für Arbeit mehr offene Stellen melden als tatsächlich vorhanden, um eine größere Anzahl an Bewerbern zu attrahieren. M i t diesem Verhalten ist insbesondere dann zu rechnen, wenn zum Zeitpunkt der Ausschreibung die angesprochene Personengruppe einer bestimmten Qualifikation und Ausbildung klein ist. - Die Zahl der Vakanzen gibt keine Information darüber, zu welchem Zeitpunkt die Neubesetzung gewünscht ist. Sofern die Unternehmen davon ausgehen, dass die Stellenbesetzung relativ viel Zeit in Anspruch nimmt, werden sie zu besetzende Stellen bereits melden, bevor sie freigeworden sind. - Den Vakanzzahlen lässt sich nicht entnehmen, ob eine als offen gemeldete Stelle einen zusätzlichen Bedarf oder einen Ersatzbedarf für ausscheidende Arbeitskräfte darstellt. Das I A B geht davon aus, dass die Anteile für Ersatz- und Zusatzbedarf an den gemeldeten offenen Stellen in etwa gleich hoch sind. 3*
36
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Einer Hochrechnung des I A B zufolge betrug der Anteil der nicht gemeldeten Vakanzen am gesamten Stellenangebot Mitte der 90er Jahre annähernd 60%; rechnet man die Stellen hinzu, die erst zu einem späteren Zeitpunkt besetzt werden sollen, steigt dieser Anteil leicht auf ca. 65 % an ( I A B 1997, S. 96). Der Einschaltungsgrad der Arbeitsämter ist allerdings nicht konstant; Franz (1999) schätzt ihn für die 70er Jahre auf ca. 40%, für die 80er Jahre um die 30% und für die 90er Jahre auf etwa 35%. Aufgrund der statistischen Ungenauigkeit ist es wenig überraschend, dass in empirischen Untersuchungen die personenbezogene Arbeitsnachfrage mit der Zahl der Erwerbstätigen gleichgesetzt wird.
2. Die Struktur der Arbeitsnachfrage a) Die Branchenstruktur
der Erwerbstätigen
Wie in allen hochentwickelten Volkswirtschaften macht sich auch in Deutschland ein säkularer Trend vom Industrie- zum Dienstleistungssektor bemerkbar, den man als „Tertiarisierung" der Wirtschaft bezeichnen kann (Klodt u. a. 1997). Der Wertschöpfungs- und Beschäftigungsanteil des Dienstleistungssektors ist verstärkt seit den 70er Jahren gestiegen, während primärer und sekundärer Sektor an Bedeutung verloren haben (vgl. Tabelle 2 und 3 ) . 2 3
Tabelle 2
Anteile der Wirtschaftsbereiche an der Bruttowertschöpfung (in %)
1970 1975 1980 1985 1990 1995 1998
Land- und Forstwirtschaft, Fischerei
Produzierendes Gewerbe einschließlich Baugewerbe
Handel, Gastgewerbe und Verkehr
Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleister
Öffentliche und private Dienstleister
3,37 2,88 2,16 1,80 1,57 1,27 1,23
51,67 45,49 44,13 41,72 40,11 32,01 30,86
16,02 15,56 15,44 14,74 14,80 17,68 17,51
17,71 21,75 23,89 27,66 30,22 27,50 29,12
11,23 14,32 14,39 14,09 13,30 21,53 21,27
Quelle: B M A (2000a), eigene Berechnungen.
23 Es ist zu beachten, dass in den Übersichten Beschäftigung und Wertschöpfung nach dem institutionellen Ansatz ausgewiesen werden, d. h. bei der Zuordnung dieser Größen für einen bestimmten Betrieb ist lediglich der Tätigkeitsschwerpunkt des Betriebs ausschlaggebend. Aufgrund des in der amtlichen Statistik üblichen hohen Aggregationsniveaus bei der Sektoreneinteilung können intrasektorale Veränderungen in der Tätigkeitsstruktur nicht berücksichtigt werden, die für die Frage nach den Beschäftigungswirkungen möglicherweise entscheidend sein können.
37
II. Die Arbeitsnachfrage Tabelle 3
Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen (in %) Handel
Verkehr und Nachrichten
8,16
12,66
5,60
1,47
8,73
12,61
5,30
2,25
8,80
13,05
5,81
2,68
9,79
7,91
13,02
5,63
2,80
11,92
7,03
12,95
5,62
2,99
13,58
Land- u. Forstwirtschaft
Energie und Bergbau
Verarbeitendes Gewerbe
1960
13,74
2,76
36,93
1970
8,52
2,07
38,09
6,89
2,00
35,37
7,73
1980
5,20
1,83
33,71
1985
4,52
1,86
31,88
1975
Baugewerbe
Kredit und Versicherung
sonstige Dienstleistungen 7,60
1990
3,48
1,63
31,25
6,69
13,04
5,55
3,12
15,40
1996
2,80
1,44
24,77
8,43
12,30
5,47
2,99
19,88
Quelle: B M A (2000a), eigene Berechnungen.
Vielen scheint damit der Übergang von der Industriegesellschaft zur „postindustriellen" Dienstleistungsgesellschaft bereits vollzogen zu sein. Weiterhin scheint sich auf den ersten Blick auch die „große Hoffnung des 20. Jahrhunderts" (Fourastié 1963) zu erfüllen, wonach der arbeitsintensive tertiäre Sektor den durch Produktivitätsfortschritte induzierten Arbeitsplatzabbau i m primären und sekundären Sektor kompensieren kann, sofern der Arbeitsmarkt hinreichend flexibel ist. Darüber hinaus wurde gerade in jüngster Zeit mit der Expansion des Dienstleistungssektors die Hoffnung verbunden, gerade geringqualifizierte Arbeitnehmer wieder in den Erwerbsprozess zu integrieren. Für die Ursachen dieses Wandels in der Produktions- und Beschäftigtenstruktur werden in der Literatur mehrere Erklärungsansätze angeboten, die sich in angebots- und nachfrageseitige Ursachen des Strukturwandels untergliedern lassen. Angebotsseitig wird vermutet, dass der Anstieg der Arbeitsproduktivität i m Dienstleistungssektor tendenziell geringer ist als i m sekundären Sektor (Hypothese des Produktivitäts-Bias). Dabei wird angenommen, dass die Möglichkeiten zur Mechanisierung bzw. Automatisierung aufgrund der mangelhaften Standardisierbarkeit bzw. Nicht-Lagerfähigkeit von Dienstleistungen 24 geringer seien als i m industriellen Sektor. Weiterhin wird unterstellt, dass i m Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auch die Nachfrage nach Dienstleistungen expandiert. Dafür können mehrere Gründe ausschlaggebend sein (Klodt u. a. 1997, S. 19 f.): - M i t steigendem Einkommen verschiebt sich die Nachfrage von langlebigen Industriewaren (KfZ, Fernsehgeräte, Kühlschränke) hin zu Dienstleistungsgütern wie bspw. Gesundheitsleistungen. Dienstleistungen sind damit superiore Güter.
24 Vgl. Thuy (1994), S. 71.
38
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
- Ein höherer materieller Wohlstand geht einher mit einer höheren Freizeitnachfrage; damit steigt die Inanspruchnahme von Freizeitaktivitäten wie Gastronomie, Tourismus oder auch Bildung. - Die gestiegenen Einkommen führen zu einer höheren Vermögensbildung der privaten Haushalte. Damit steigt aber auch die Nachfrage nach Finanzdienstleistungen und Versicherungen. - Schließlich führt die in Folge des wirtschaftlichen Wandels gestiegene Erwerbstätigkeit der Frau zu einer höheren Nachfrage nach haushaltsexternen Kinderbetreuungs- und Erziehungseinrichtungen. Die empirische Überprüfung dieser Hypothesen ist jedoch außerordentlich schwierig. Das liegt zum einen daran, dass der Dienstleistungssektor ein in sich extrem heterogener Wirtschaftszweig ist, der das Gaststätten- und Beherbergungswesen ebenso wie den Telekommunikationsbereich umfasst. Zum anderen existiert nach wie vor keine eindeutige Definition dessen, was unter einer „Dienstleistung" konkret zu verstehen ist. Traditionell werden als „Dienstleistungen" Tätigkeiten bezeichnet, die folgende Charakteristika aufweisen: - Immaterialität: die Dienstleistung kann sich zwar auf materielle Güter beziehen (bspw. KfZ-Reparatur), die Leistung selbst ist jedoch immateriell; - Gültigkeit des uno actu Prinzips: bei Dienstleistungen erfolgen Produktion und Konsum gleichzeitig, die Produktion erfordert häufig die Mitwirkung des Konsumenten (so ζ. B. i m Bildungsbereich); - Standortgebundenheit: Dienstleistungen sind nicht lagerfähig und in der Regel an bestimmte Standorte gebunden. Von Baumol (1967) stammt einer der ersten Versuche, den heterogenen Bereich der Dienstleistungen zu systematisieren. Er unterscheidet drei Formen von Dienstleistungen: - progressive Dienstleistungen, die keinen direkten Kontakt zwischen Produzent und Konsumenten erfordern - in diesem Bereich sind ebenso wie i m industriellen Sektor hohe Produktivitätsfortschritte erzielbar, - asymptotisch stagnierende Dienstleistungen, die zunächst eine Phase des raschen Produktivitätsanstiegs mit erheblichen Kostensenkungspotenzialen durchlaufen, und anschließend nur noch geringe Rationalisierungsmöglichkeiten bieten, sowie - stagnierende Dienstleistungen, bei denen das uno actu Prinzip gilt. Bhagwati (1984) bezeichnet die erste Form als „ungebundene", die dritte als „gebundene" Dienstleistung. Eine interessante Disaggregation des Dienstleistungssektors findet sich bei Klodt u. a. (1997). Sie differenzieren den Dienstleistungssektor nach Tätigkeitsfeldern anhand der Konzepte der sektoralen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Sie unterscheiden neben Handel und Transport,
39
II. Die Arbeitsnachfrage
Kommunikation, Bildung und sozialen wie staatlichen Diensten insbesondere konsumbezogene und produktionsnahe Dienstleistungen. Die letzte Unterscheidung ist vor allem deshalb relevant, um zu überprüfen, ob sich der tertiäre Sektor zunehmend vom sekundären entkoppelt, wie es die Hypothese vcn der „postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft" unterstellt, oder ob die Dienstleistungsbranche weiterhin auf eine industrielle Basis angewiesen ist. Disaggregiert man den sehr heterogenen tertiären Sektor nach Branchen, so erhält man ein sehr differenziertes Bild, das den gängigen Vorstellungen nur teilweise entspricht. So wird bspw. deutlich, dass bis auf das Beherbergungsgewerbe und den Groß- und Einzelhandel die Kapitalintensität in den Dienstleistungsbereichen höher ist als im Verarbeitenden Gewerbe; dies gilt auch für den tertiären Sektor insgesamt (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4
Kapitalintensiv' im Dienstleistungssektor in Westdeutschland 1994 Kapitalintensität (in Tsd. D M )
Jahresdurchschnittliche Änderungsraten (in % 1 9 7 5 - 9 4 )
Dienstleistungen insgesamt
237,3
2,21
Handel und Verkehr
235,5
2,13
Groß- und Einzelhandel
132,5
2,16
1105,2
4,45
Schiffahrt, Wasserstraßen
830,3
0,97
Sonstiger Verkehr
215,1
1,16
Nachrichtenübermittlung
647,1
4,85
Eisenbahnen
Kreditinstitute
221,7
2,28
Versicherungen
431,5
3,86
Sonstige Dienstleistungen
267,6
3,27
82,2
0,4
Bildung, Wissenschaft
393,9
2,25
Gesundheits- und Veterinärwesen
256,1
1,75
Übrige Dienstleistungen
314,9
4,19
Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe
Staat, private Organisationen ohne Erwerbszweck Zum Vergleich: Verarbeitendes Gewerbe
205,4
1,27
199,2
2,33
a) Bruttoanlagevermögen in Preisen von 1991 je Erwerbstätigem. Quelle: Klodt u. a. (1997), S. 29.
Auch die Annahme, dass die Produktivität des tertiären Sektors geringer wäre als die des sekundären Sektors, lässt sich nicht durchgängig aufrechterhalten. So lag die Wachstumsrate der realen Wertschöpfungsstunde je Erwerbstätigem zumindest im privaten Dienstleistungssektor bereits 1986 leicht über der des sekundären
40
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Sektors, und in den 80er Jahren wuchs sie bezogen auf den gesamten Sektor schneller als die des sekundären. M i t diesem deutlichen Produktivitätszuwachs des Dienstleistungssektors bildet Deutschland i m internationalen Vergleich jedoch eine Ausnahme. Tabelle 5
Sektorale Arbeitsproduktivität* 0 in Westdeutschland (in %) Produzierendes Gewerbe
Dienstleistungen 10
1 9 7 0 - 1980
3,8
3,5
1 9 8 0 - 1990
2,3
1 9 9 0 - 1996
2,3
3,1 2,3
a) Wachstumsraten der realen Wertschöpfung je Erwerbstätigenstunde. b) ohne Staat und Haushalte. Quelle: Grömling / Lichtblau / Weber (1998), S. 269. 2 5
Der tertiäre Sektor ist also offensichtlich auch nicht „resistent" gegen Fortschritte in der Arbeitsproduktivität. Als Ursache für diese Produktivitätsfortschritte werden die raschen technologischen Innovationen im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung und der Telekommunikation und die zügige Verbreitung dieser Technologien gesehen. A u f standardisierten Leistungssystemen konnten Speicher-, Lager- und Übertragungstechniken genutzt werden. Damit wurde die Personengebundenheit von Dienstleistungen aufgehoben, das uno-actu-Prinzip konnte durchbrochen werden. 2 6 Demzufolge entfällt die diskontinuierliche Inanspruchnahme des Faktors Arbeit und die damit verbundene höhere Reservekapazität. Da im Falle des uno-actu-Prinzips die notwendige Reservekapazität umso höher ausfällt, je spezialisierter der Faktor Arbeit ist, konnten nun Vorteile der Arbeitsteilung für erhebliche Produktivitätsfortschritte genutzt werden. Daneben konnten Verbundeffekte (ζ. B. Kombination von Beratung, Schulung und Implementierung) realisiert werden. Immaterielle Güter wie Informationen können weiter nahezu kostenlos vervielfältigt und verteilt werden, die Grenzkosten ihrer Verbreitung sind folglich Null. Zudem erschöpft sich der Input im Gegensatz zu den klassischen Produktionsfaktoren nicht. Aus diesem Grund können durch Einsatz von Informationstechnologien und elektronischer Datenverarbeitung auch die produktionsunabhängigen Kosten (ζ. B. FuE-Kosten) gesenkt werden. Damit vermindert sich u. U. der Vorteil von Großunternehmen, diese Kosten bei Massenproduktion auf einen höheren Out-
25
Grömling/Lichtblau/Weber (1998), S. 2 6 5 - 2 6 9 nehmen bei der Ermittlung der Wachstumsraten für die Arbeitsproduktivität eine Preisbereinigung vor; diese Vorgehensweise ist allerdings nicht unproblematisch. 26 G ruhler (1990), S. 60 f.
II. Die Arbeitsnachfrage
41
put zu verteilen. 2 7 Auch dadurch ergeben sich möglicherweise weitere Spezialisierungsvorteile. 28 Insbesondere dem Faktor Wissen kommt bei der möglichen Spezialisierung eine besondere Bedeutung zu. Nach Klotz (1999) waren seit Anfang der 70er Jahre für die Nutzbarmachung dieser Technologien vor allem drei technische Innovationen maßgeblich, nämlich 1. der Mikroprozessor, durch den die Preise für Computerhardware stark sanken, 2. benutzerfreundliche Software, die die Verbreitung und Nutzung von Computern förderte, sowie 3. die zunehmende Vernetzung. Besonders stark schlägt sich die Produktivitätssteigerung aufgrund der Nutzung der Mikroelektronik bei den sogenannten ungebundenen Dienstleistungen (ζ. B. Nachrichtenübermittlung, Kreditinstitute, Versicherungen) nieder, bei denen der unmittelbare Kontakt zwischen Produzent und Konsument nicht unbedingt erforderlich ist. Diese Dienstleistungen zeichnen sich i m Gegensatz zur klassischen Charakterisierung durch ihre grundsätzliche Lagerfähigkeit aus. In diesem Rahmen wurden einfache Dienstleistungen auch automatisiert und die Nutzer der Dienstleistungen an der Produktion - im Sinne einer Selbstbedienung - beteiligt (man denke nur an die Abwicklung von Kontotransaktionen über Bankautomaten). Die Wachstumsraten der Produktivität, der Kapitalintensität, der Wertschöpfung und der Erwerbstätigen waren bei den ungebundenen Dienst eistungen i m Zeitraum 1975 - 1994 doppelt so hoch wie bei den gebundenen. 29 Durch die Automatisierung bzw. Automatisierbarkeit von Routinetätigkeiten ändern sich die Anforderungen an die Arbeitskräfte. „Gelagerte" Dienstleistungen stellen wieder Informationen dar und müssen verarbeitet werden. Verlangt werden zunehmend kognitive Fähigkeiten, um aus diesen Informationen als Input Werte zu schaffen, wobei der Wertschöpfungsbeitrag des Inputs Wissen stetig steigt. In diesem Zusammenhang wird oft von der These der nachindustriellen Gesellschaft gesprochen: Das materielle Wirtschaftswachstum, das die industrielle Gesellschaft gekennzeichnet hatte, wird von einem vorwiegend nichtmateriellen, nämlich dem wissensbasierten, abgelöst. Diese Entwicklung schlägt sich in der Tätigkeitsstruktur nieder. Zuwächse zu verzeichnen waren bei den Tätigkeiten Beraten, Informieren, FuE und Organisieren, während der Anteil von Tätigkeiten in der unmittelbaren Produktion wie Herstellen und Reparieren und einfacher Dienstleistungen sank (Gruhler 1990, S. 223). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung auch in Zukunft fortsetzen wird (Weidig u. a. 1998, S. 127).
27 Vgl.
tf/orz(1999),S.593
f.
28 Vgl. Thuy (1994), S. 71 f. 29 Klodt u. a. (1997), S. 30 ff.
1984-1995 12,0
-2,2
-3,3
0,9
7,8
7,5
8,0
1,3 -0,5
2,2
2,3
2,1
2,9
3,1
2,8
-0,1
1,5
2,4
-2,1
-0,9
-*4,1
Wachstum in vH
1,3
0,4
1,0
6,9
7,0
6,8
Anteile in vH
3,1
Handel KommuniProduktionsBildung Soziale Staatliche kation nahe DienstDienstDienstDienstleistungen leistungen leistungen leistungen
1,6 -1,7
-11,2
46,3
47,9
44,6
- 2,1
6,3
1,9
1,8
2,0
Transportwesen
-0,8
12,7
11,7
13,7
Quelle: Klodt u. a. (1997), S. 173.
-1,9
0,1 -3,6
1984-1995 -1,3
1989-1995
—
7,2
7,4
1989-1995 11,6
1984-1989 -2,9
7,6
1984-1989 12,3
Konsumbezogene Dienstleistungen
Tabelle 6
Tätigkeitsstruktur im westdeutschen Dienstleistungsbereich 1984-1995 Andere
42 Β . Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
43
II. Die Arbeitsnachfrage
U m zu überprüfen, ob sich tatsächlich ein Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft feststellen lässt, ist die Differenzierung des tertiären Sektors nach produktionsnahen und sonstigen Dienstleistungen durch Klodt u. a. (1997) aufschlussreich. Ihre Auswertung der Daten des Sozioökonomischen Panels zeigt, dass die produktionsnahen Dienstleistungen nach wie vor mit über 45 % mit Abstand den größten Teil des Dienstleistungssektors ausmachen (vgl. Tabelle 6). Dieser Anteil ist im Zeitraum 1985 bis 1995 auch nicht gesunken, sondern hat erkennbar zugenommen. Damit sind die produktionsnahen Dienstleistungen neben den sozialen Diensten der einzige Dienstleistungsbereich, der i m Untersuchungszeitraum nicht nur absolut, sondern auch in Relation zu den anderen Dienstleistungsbereichen (Struktureffekt) durchgängig expandierte. Insofern ist die einfache Hypothese vom säkularen Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft mit einem Fragezeichen zu versehen; der Dienstleistungssektor ist nach wie vor auf eine industrielle Basis angewiesen, und seine Entwicklung kann nicht losgelöst von der des sekundären Sektors betrachtet werden.
b) Die Qualifikationsstruktur Ein Bereich, in dem sich der strukturelle Wandel deutlicher abzeichnet, ist die Qualifikation der Arbeitskräfte. Eine Auswertung der Erwerbstätigen nach der Qualifikationsstruktur zeigt eine deutliche Höherqualifizierung der Erwerbspersonen: So sank die Zahl der Geringqualifizierten absolut und relativ, während die der Hochqualifizierten deutlich expandierte (vgl. Tabelle 7).
Tabelle 7
Qualifikationsstruktur der Erwerbstätigen
Zeitraum
Geringe Qualifikation
Mittlere Qualifikation
Hohe Qualifikation
A n t e i l in v H 1984-1989
21,0
66,1
1989-1995
19,3
66,2
14,5
1984-1995
20,2
66,2
13,7
12,9
Wachstum in v H 1984-1989
-0,9
1989-1995
-3,8
0,2
4,3
1984-1995
-2,5
0,1
3,1
Quelle: Klodt u. a. (1997), S. 181.
-
1,6
44
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Die sektorale Disaggregation der Erwerbstätigenstruktur durch Klodt u. a. (1997) zeigt weiterhin, dass sich das verarbeitende Gewerbe diesbezüglich nicht grundsätzlich vom Dienstleistungssektor unterscheidet. Insofern scheint auch die Hoffnung verfrüht, ein expandierender Dienstleistungssektor könnte als „Auffangbecken" für unqualifizierte Arbeitnehmer dienen. Eher zeichnet sich das Gegenteil ab: Es zeigt sich, dass die Anteile der Hochqualifizierten, die Dienstleistungstätigkeiten ausüben, deutlich höher sind als i m primären und sekundären Sektor und zudem höhere Zuwächse aufweisen. Die oben diskutierten Wirkungen des technischen Fortschritts bei den Informations- und Kommunikationstechnologien scheinen sich bemerkbar zu machen. Insbesondere die Zuwachsraten bei den Hochqualifizierten der expandierenden Tätigkeiten deutet darauf hin. Schließlich beschränkt sich der Trend zur Höherqualifizierung nicht nur auf die „Akademisierung" der Arbeitswelt, sondern macht sich auch innerhalb der Arbeiter bemerkbar (vgl. Tabelle 8). So sank insbesondere der Anteil der Arbeiter ohne Berufsausbildung deutlich ab, während die Tätigkeitsstruktur innerhalb der Arbeiterschaft, also Ungelernte, Facharbeiter und Meister, weitgehend konstant geblieben ist.
Tabelle 8
Vollzeitbeschäftigte Arbeiter nach der Stellung im Betrieb und nach Berufsausbildungsabschluss 1976-1993 (in %)
Facharbeiter
Facharbeiter ohne Berufsausbildung
Facharbeiter mit Berufsausbildung
1976
44,98
9,61
1977
45,53
8,55
Nichtfacharbeiter
Nichtfacharbeiter ohne Berufsausbildung
Nichtfacharbeiter mit Berufsausbildung
35,37
51,10
41,40
9,69
3,92
100,00
36,99
50,52
40,55
9,96
3,95
100,00 100,00
Meister
Insgesamt
1978
45,70
8,26
37,44
50,38
39,88
10,51
3,92
1979
45,67
8,12
37,54
50,45
40,00
10,45
3,89
100,00
1980
45,55
7,93
37,62
50,55
39,84
10,71
3,90
100,00
1981
46,41
7,88
38,53
49,56
38,69
10,88
4,03
100,00
1982
47,69
7,86
39,83
48,19
37,43
10,76
4,12
100,00
1983
48,22
7,89
40,33
47,55
36,62
10,93
4,23
100,00
1984
48,28
7,49
40,78
47,53
36,01
11,52
4,19
100,00
1985
48,34
7,62
40,72
47,58
35,14
12,44
4,08
100,00
1986
47,84
7,01
40,83
48,18
35,02
13,16
3,98
100,00
1987
48,21
6,79
41,42
47,75
34,32
13,43
4,04
100,00
1988
48,28
6,54
41,74
47,69
33,90
13,79
4,03
100,00
1989
48,04
6,37
41,67
47,95
33,61
14,34
4,01
100,00
1990
47,80
6,22
41,48
48,27
33,37
14,90
3,92
100,00
1991
47,37
6,09
41,27
48,74
33,35
15,40
3,89
100,00
1992
45,94
6,22
39,73
50,02
34,04
15,98
4,04
100,00
Quelle: IAB-Zahlenfibel (1997), S. 150 f., eigene Berechnungen.
III. Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit
45
III. Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit 1. Entwicklung der Arbeitslosigkeit Stellt man das Arbeitskräfteangebot der personenbezogenen Nachfrage gegenüber, so erhält man einen Eindruck über die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Die Abbildung 5 zeigt den zeitlichen Verlauf des Arbeitsangebots nach unterschiedlichen Messkonzepten und die Entwicklung der Arbeitsnachfrage, gemessen durch die Zahl der Erwerbstätigen zuzüglich der gemeldeten offenen Stellen. Die Differenz beider Kurven gibt mithin die aggregierte Uber- oder Unterbeschäftigung an, also die Zahl der Arbeitslosen verringert um die Zahl der Vakanzen (Erwerbspersonen) sowie zuzüglich der aktiven stillen Reserve (effektives Angebot).
in Tsd.
Quellen: Sachverständigenrat (2000) und Fuchs (1998); eigene Berechnungen.
Abbildung 5: Angebot und Nachfrage am westdeutschen Arbeitsmarkt
Diese Abbildung macht folgendes deutlich: - In den Jahren 1960 bis Mitte der 70er Jahre herrschte Uberbeschäftigung, d. h. die Nachfrage überstieg das gesamtwirtschaftliche Arbeitskräfteangebot. Der aggregierte Nachfrageüberschuss wurde durch die Rezession Mitte der 60er Jahre nur kurzzeitig unterbrochen. - Seit Beginn der 80er Jahre steigt das Arbeitsangebot deutlich an, und ist erst seit Mitte der 90er Jahre wieder leicht rückläufig. Derzeit liegt das Arbeitsangebot um fast 3,5 Mio. Erwerbspersonen über dem Stand Anfang der 80er Jahre. - Die Arbeitsnachfrage konnte mit dieser Dynamik nicht Schritt halten. Von 1970 bis Mitte der 80er Jahre schwankt die Arbeitsnachfrage ohne erkennbaren Trend
46
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt zyklisch um einen Mittelwert von etwa 27 Mio. Die Zunahme des Arbeitsangebots bei weitgehender Konstanz der Arbeitsnachfrage schlägt sich statistisch in einer zunehmenden Zahl Arbeitsloser nieder, die sich von 140 000 (1970) auf gesamtdeutsch 4,3 Mio. (3 Mio. in den alten und 1,3 Mio. in den neuen Ländern) in 1997 stark erhöhte.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat sich die Arbeitsnachfrage zwar um fast 3 Mio. Personen erhöht; der durch die Rezession zu Beginn der 90er Jahre ausgelöste Beschäftigungseinbruch ließ die Zahl der Arbeitslosen aber wieder stark ansteigen. Dieser Anstieg der registrierten Arbeitslosen wäre noch deutlicher ausgefallen, wenn sich das Arbeitsangebot in den alten Ländern nicht seit Mitte der 90er Jahre um ca. 1 Mio. Personen reduziert hätte. Wenn man die Zahl der registrierten Arbeitslosen auf einen Beschäftigungsindikator bezieht, so erhält man die Arbeitslosenquote. Bis 1996 wies die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitslosenquote als Anteil der registrierten Arbeitslosen an den abhängigen Erwerbspersonen (= registrierte Arbeitslose + abhängig Beschäftigte) aus. Diese Definition hatte nicht nur den Nachteil, dass sich bloße Änderungen in der Erwerbstätigenstruktur in der Arbeitslosenquote niederschlagen; die so ermittelte Arbeitslosenquote war auch inkompatibel mit internationalen Standards, sodass ein internationaler Vergleich der Beschäftigungssituation deutlich erschwert wurde und nicht selten Anlass für Fehlinterpretationen war. Seit 1996 weist die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitslosenquote nach der international gängigen Definition aus: _ ALO =
Arbeitslose Erwerbspersonen
=
Arbeitslose abhängige Erwerbspersonen + Selbstständige
Da der Nenner nun größer ist als nach der alten Definition, fällt die Arbeitslosenquote um ca. 1,5 Prozentpunkte niedriger aus. Ein weiterer statistischer Unterschied zu internationalen Standards ergibt sich aus der unterschiedlichen statistischen Erfassung der Erwerbspersonen (vgl. dazu Abschnitt B.I.3.). Auch diese Unterschiede schlagen sich in der Arbeitslosenquote nieder: So weist die Bundesanstalt für Arbeit für das Jahr 2000 eine Arbeitslosenquote von 9,6 % aus, während das Statistische Bundesamt, das sich enger an die internationalen Vorgaben hält, nur eine Quote von 7,8 % ermittelt. Allerdings ist die Arbeitslosenquote nur ein ungenauer Indikator der Situation auf dem Arbeitsmarkt, da die statistisch ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen sowohl Über- wie Untererfassungen der tatsächlichen Arbeitslosigkeit enthält. Die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen wird zum einen untererfasst, da - Arbeitslose, die sich in Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit befinden, nicht zu den Erwerbslosen gezählt werden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bezeichnet diese Gruppe als „stille Reserve in Maßnahmen" und bezif-
III. Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit
47
fert sie für 1998 auf rund 700 000 Personen. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit wird auch deswegen untererfasst, da - Arbeitslose, die Instrumente der Frühverrentung in Anspruch nehmen, ebenfalls nicht mehr offiziell den Arbeitslosen zugerechnet werden. Neben der Unterzeichnung des Bildes findet aber auch eine Übererfassung bei der Zahl der Arbeitslosen statt. Da die formale Meldung als Arbeitsloser in vielen Fällen mit Unterstützungsleistungen verbunden ist, wird vermutet, dass ein Teil der arbeitslos Gemeldeten dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW 1999) weist in diesem Zusammenhang fünf Kategorien „vermittlungsferner" Arbeitslosigkeit aus: - Übergangs-Arbeitslosigkeit; darunter versteht man insbesondere die Wartezeit bis zum Erwerb des Anspruchs auf vorgezogenen Ruhestand; - Sozialrechts-Arbeitslosigkeit, durch die der Anspruch auf bestimmte sozialpolitische Leistungen wie Kindergeld oder Sozialhilfe gewahrt wird; - Zweckmäßigkeits-Arbeitslosigkeit; darunter verstehen die Autoren bspw. die Arbeitslosmeldung Geschiedener zum Zweck der Vermeidung von Unterhaltszahlungen; - Teilzeit-Arbeitslosigkeit, die sich ergibt, wenn ein Teilzeitbeschäftigter als arbeitsuchend nach einer Vollzeitbeschäftigung gemeldet ist, und - Handikap-Arbeitslosigkeit, die sich durch die Häufung von Vermittlungshemmnissen wie Alter, Gesundheitszustand und Qualifikation ergibt. Zwar sind die einzelnen der hier aufgeführten Positionen durchaus diskussionsbedürftig - so ist bspw. nicht einsichtig, weswegen „Teilzeit-" oder „Handikap-Arbeitslose" nicht in der offiziellen Arbeitslosenstatistik erfasst sein sollten und auch die empirische Überprüfung der tatsächlichen Ursachen einer Arbeitslosmeldung dürfte äußerst problematisch sein. 3 0 Es ist jedoch zu vermuten, dass die Statistik auch Personen umfasst, die der Vermittlung faktisch nicht zur Verfügung stehen. Unabhängig von der statistischen Abgrenzung weist die Arbeitslosenquote in Deutschland erkennbare Trends auf (vgl. Abbildung 6.). Nachdem die hohe Arbeitslosigkeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre (1950 betrug die Arbeitslosenquote ca. 11 %) i m Lauf der 50er Jahre vollständig abgebaut worden war, herrschte in den 60er und Anfang der 70er Jahre mit einer Arbeitslosenquote von durchgängig unter 2 % eine Phase der Voll- bzw. Überbeschäftigung, die auch durch die
30 Das I W ermittelt die vermittlungsfernen Arbeitslosen lediglich für den Arbeitsamtsbezirk Düsseldorf. Von den insgesamt 49 392 gemeldeten Arbeitslosen waren nach diesen Berechnungen 36,5 % vermittlungsfern; allerdings bestand der Pool der vermittlungsfernen Arbeitslosen zu 58,3 % aus „Handikap-" und 8,5 % Teilzeitarbeitslosen. Der Anteil der Übergangs-, Sozialrechts- und Zweckmäßigkeitsarbeitslosen belief sich demnach auf 12 % aller gemeldeten Arbeitslosen.
48
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
erste Rezession 1967 nicht unterbrochen wurde. Dies hat sich seit Mitte der 70er Jahre deutlich geändert: So steigt die Quote seit 1974 in jeder Rezession erkennbar an. Sie flacht zwar in der anschließenden Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs etwas ab; der Rückgang der Arbeitslosenquote in der Aufschwungphase reicht jedoch nicht aus, um die Quote wieder auf das Niveau zu drücken, das sie vor der Rezession hatte. Damit weist die Arbeitslosenquote insgesamt eine steigende Tendenz auf, die in der Literatur unter dem Stichwort der „Hysterese" geläufig ist. Die „Sockelarbeitslosigkeit" stieg von etwas über 3 % in den 70er auf über 6 % in den 80er Jahren; für die 90er Jahre belief sich die durchschnittliche Arbeitslosenquote auf etwas unter 9 % in den alten Bundesländern.
Quelle: Sachverständigenrat (1997) und (2000).
Abbildung 6: Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland Fasst man die aggregierten Trends auf dem Arbeitsmarkt zusammen, so lässt sich festhalten, dass das Beschäftigungsproblem in Deutschland nicht durch eine säkular stagnierende oder gar rückläufige Arbeitsnachfrage verursacht ist. Die Hypothese vom „Ende der Erwerbsgesellschaft" ist mit den empirischen Fakten nicht vereinbar. Ursächlich für die lang anhaltende und bis in die jüngste Zeit tendenziell steigende Arbeitslosigkeit ist vielmehr die Tatsache, dass die Nachfragedynamik auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht ausreichte, um das deutlich gestiegene Arbeitskräfteangebot zu absorbieren. Es wäre aber ebenso verfehlt zu unterstellen, dass ein derartiger Anstieg des Arbeitskräftepotenzials die Absorptionsfähigkeit des Arbeitsmarktes übersteigen würde, wie das vereinzelt in der These der „demographisch bedingten Arbeitslosigkeit" geschieht. Denn zum einen zeigt die Entwicklung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in Deutschland, dass bei entsprechenden Rahmenbedingungen eine deutliche Beschäftigungsexpansion möglich ist. Zum anderen zeigt der internationale Vergleich, dass ein steigendes Arbeitsangebot nicht notwendigerweise Beschäftigungsprobleme induziert. Denn von dem
III. Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit
49
Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Erwerbsleben und der zunehmenden Erwerbspartizipation der Frau sind alle Industriestaaten in gleicher Weise betroffen; dennoch konnten die Volkswirtschaften ganz unterschiedliche beschäftigungspolitische Ergebnisse erzielen (vgl. die Abbildung 13 in diesem Kapitel, S. 66 f.). So zeigt zwar der Euro-Raum eine mit dem deutschen Arbeitsmarkt vergleichbare Entwicklung; aber den Niederlanden ist es trotz steigenden Erwerbspersonenpotenzials und hoher Arbeitslosigkeit zu Beginn der 80er Jahre gelungen, die Erwerbstätigenzahl dynamisch expandieren zu lassen und die Arbeitslosenquote auf zuletzt unter 4 % abzusenken. Eine noch beeindruckendere Dynamik weist der amerikanische Arbeitsmarkt auf: So stieg die Zahl der Erwerbstätigen fast parallel zu der der Erwerbspersonen; auffallend ist insbesondere, dass die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten zwar zyklischen Schwankungen unterworfen ist, aber keine Tendenz zur Hysterese aufweist wie in den Staaten des Euro-Raums. Weder theoretisch noch empirisch muss also ein steigendes Arbeitsangebot mit zunehmender Arbeitslosigkeit einher gehen.
2. Struktur der Arbeitslosigkeit Differenziert man die Arbeitslosen nach ausgewählten Strukturmerkmalen, so erhält man folgendes B i l d (vgl. auch Kleinhenz 2000): - Die Beschäftigungsentwicklung verläuft in den alten und neuen Bundesländern weiterhin stark divergent, so dass teilweise von einem „gespaltenen" Arbeitsmarkt die Rede ist. Zwar relativiert sich das Bild etwas, wenn man die deutlich höhere Erwerbsbeteiligung in den neuen Bundesländern berücksichtigt; die Arbeitsplatzdichte, also das Verhältnis von inländischen Erwerbstätigen zur Wohnbevölkerung, ist dann zwischen alten und neuen Bundesländern in etwa ausgeglichen, dennoch vollzieht sich der Zuwachs der Arbeitsplätze in den letzten Jahren fast ausschließlich in den alten Bundesländern. - Jugendarbeitslosigkeit zählt in Deutschland traditionell nicht zu den Problembereichen des Arbeitsmarktes. Dies wird im Wesentlichen auf die Eingliederungsfunktion des dualen Ausbildungssystems zurückgeführt; allerdings ist der Abstand bei den Jugendarbeitslosenquoten im internationalen Vergleich etwas zurückgegangen. - Als Problemgruppen erweisen sich die älteren Arbeitnehmer und Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung. Altere Arbeitnehmer sind unter den Arbeitslosen deutlich überrepräsentiert, wobei sich eine besondere Betroffenheit bei älteren Frauen bemerkbar macht; so waren 1998 20 % der Männer und 27,7 % der Frauen in der Altersgruppe der 60-65-jährigen arbeitslos gemeldet. In qualifikatorischer Hinsicht waren in den alten Bundesländern 23,3 % der Erwerbspersonen ohne abgeschlossene Berufsausbildung arbeitslos gemeldet (vgl. Abbildung 7); in den neuen Ländern liegt ihr Anteil sogar bei 53,3. 4 Althammer
50
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt in vH
Quelle:
IAB (1997). Abbildung 7: Qualifikationsstruktur der Arbeitslosen
- Schließlich ist ein zunehmender Anteil Langzeitarbeitsloser festzustellen. Der Anteil der Arbeitslosen, die bereits länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet sind, hat sich von 12,9 % 1980 auf fast 36 % 1999 erhöht. In dieser Gruppe sind wiederum Personen mit Vermittlungshemmnissen wie gesundheitliche Einschränkung, Alter oder fehlende Berufsausbildung überrepräsentiert (siehe auch Rolle/van Suntum 1997). Häufig wird von der empirischen Struktur auf die Kausalität der Arbeitslosigkeit geschlossen, d. h. im Vorliegen eines oder mehrerer Vermittlungshemmnisse wird die eigentliche Ursache für die Arbeitslosigkeit gesehen. Das kann jedoch zu erheblichen Fehlinterpretationen und falschen Politikansätzen führen. Denn zum einen wird die Struktur der Arbeitslosen durch wirtschaftspolitische Maßnahmen beeinflusst; so erhöht ζ. B. die Rente wegen Arbeitslosigkeit den Anteil älterer Arbeitsloser, während spezielle Arbeitsmarktprogramme für Jugendliche deren Anteil senken. Zum anderen ist die empirische Struktur der Arbeitslosigkeit zu weiten Teilen lediglich das Ergebnis eines Sortierprozesses am Arbeitsmarkt: sofern ein aggregiertes Beschäftigungsproblem vorliegt, werden die Unternehmen Arbeitnehmer mit der geringsten Produktivität freisetzen. Umgekehrt erhöhen sich bei geräumten Arbeitsmärkten auch die Beschäftigungschancen dieser Problemgruppen. Die Bedeutung der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungssituation für die Vermittlungschancen besonderer Problemgruppen kann man sich am Beispiel der Langzeitarbeitslosigkeit verdeutlichen. Stellt man den Anteil der Langzeitarbeitslosen der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosenquote gegenüber, so erhält man einen erkennbaren positiven Zusammenhang (vgl. Abbildung 8).
III. Entwicklung und Struktur der Arbeitslosigkeit
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Arbeitslosenquote Abbildung 8: Langzeitarbeitslosenquote und aggregierter Beschäftigungsgrad in Deutschland (1980 bis 1999)
Die Abbildung zeigt deutlich, dass jeder Anstieg der Arbeitslosenquote mit einem Anstieg des Anteils der Langzeitarbeitslosen einherging. Während im Jahr 1980 der Anteil der Langzeitarbeitslosen bei einer aggregierten Arbeitslosenquote von 3,8 % noch bei 12,9 % lag, betrug die Langzeitarbeitslosenquote im Jahr 1999 bei einer gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosenquote von 9,9 % schon 35,9 %. Die empirische Schätzung dieses Zusammenhangs liefert für den Beobachtungszeitraum 1980 bis 1999 folgendes Ergebnis (t-Werte in Klammern): L Z Q = 1,48 + 3,11 · A L Q , (0,37)
(6,63)
d. h. rein statistisch erhöht ein Anstieg der Arbeitslosenquote um einen Prozentpunkt die Quote der Langzeitarbeitslosen um etwa drei Prozentpunkte. 31 Der eigentliche Schlüssel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liegt damit nicht primär in Maßnahmen zur Qualifizierung und zur Aus- und Weiterbildung Arbeitsloser, so wichtig diese Instrumente im Einzelfall auch sein mögen. Aber letztlich kann die gesamte aktive Arbeitsmarktpolitik lediglich dazu beitragen, das vorhandene Arbeitskräfteangebot an die gegebene Struktur der Arbeitsnachfrage anzupassen. Grundsätzlich lässt sich das Problem struktureller Arbeitslosigkeit nur durch einen i m Aggregat ausgeglichenen Arbeitsmarkt lösen. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft schreibt dazu: „Das eigentliche Problem (der Langzeitarbeitslosigkeit, Anm. d. Verf.) ist damit das Phänomen einer sich verfestigenden und im Trend steigenden allgemeinen Arbeitslosigkeit".
31
4*
Das (normierte) Bestimmtheitsmaß dieses linearen Zusammenhangs liegt bei 70%.
52
Β . Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
IV. Zur Diskussion um die beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpolitik 1. Lohnhöhe, Produktivität und Beschäftigung: Grundlegende Zusammenhänge Damit stellt sich weiterhin die Frage, wie die insgesamt enttäuschende beschäftigungspolitische Bilanz in Deutschland erklärt werden kann. In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird dazu nicht selten auf eine einfache makroökonomische Tautologie rekurriert; hieraus werden weitreichende wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen gezogen. Tautologisch ergibt sich für das Sozialprodukt:
Y ^
SozialProdukt
=
-Χ. L h StundenProduktivität
L·*
.
L
L
S ' Anzahl Arbeitsstunden Beschäftigte je Beschäftigten
Umgeformt und in Wachstumsraten ausgedrückt heißt das, dass die Zuwachsrate der Beschäftigten - positiv von der Wachstumsrate des Sozialprodukts, - negativ von der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität und - negativ von der Zahl der Arbeitsstunden abhängt (vgl. bspw. Engelen-Kefer 1995 sowie Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" 1998, S. 171 ff.). Bei gegebenem Wirtschaftswachstum fällt also der Beschäftigungszuwachs umso stärker aus, je geringer die Arbeitsproduktivität steigt, und j e stärker die Arbeitszeit verkürzt wird. Ein Zuwachs der Arbeitsproduktivität erscheint dann als „Job-killer", dem man nur durch eine forcierte Verkürzungen der Arbeitszeit begegnen kann. Ein Blick auf die Statistik scheint dies auch zu bestätigen: So ist die Stundenproduktivität in Westdeutschland seit den 70er Jahren stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt; da sich die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden i m gleichen Zeitraum reduziert hat, ergibt sich rein rechnerisch ein leichter Zuwachs der Zahl der Erwerbstätigen (vgl. Abbildung 9). Von dieser Interpretation des empirischen Befundes ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Hypothese vom Ende der Erwerbsgesellschaft und ähnlichen arbeitsmarktpolitischen Katastrofen-Szenarien. Der grundlegende Fehler in dieser Argumentation besteht darin, dass die tautologischen Zusammenhänge, auf denen sie aufbaut, ja nur ex-post Identitäten sind, die natürlich nach Abschluss aller Anpassungsprozesse auf den Güter- und Faktormärkten stets erfüllt sein müssen. Sie sagen aber nichts darüber aus, welche Faktoren für eine bestimmte Entwicklung ausschlaggebend gewesen sind.
IV. Beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpolitik
53
Quelle: Interne Berechnungen des IAB.
Abbildung 9: Produktion, Produktivität, Arbeitszeit und Erwerbstätige Fragt man nach den Ursachen für eine beobachtete Entwicklung auf den Arbeitsmärkten, so wird von ökonomischer Seite auf den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitsproduktivität verwiesen. Ein gewinnmaximierendes Unternehmen wird danach seine Nachfrage nach Arbeitskräften so lange ausdehnen, bis der ökonomische Wert des Faktors Arbeit seinen Beschäftigungskosten entspricht. Der ökonomische Wert der Arbeit entspricht dem zusätzlichen Produktionsergebnis (dem physischen Grenzprodukt) multipliziert mit dem Preis des erstellten Gutes, also Lohn = Produktpreis · zusätzlicher Produktionsertrag bzw. w = ρ · F L . Berücksichtigt man weiterhin, dass die Arbeitsproduktivität bei gegebenen Kapazitäten mit steigender Beschäftigung sinkt, so erhält man die Aussagen der Produktivitätstheorie des Lohnes. Danach ist ein Anstieg der Arbeitsproduktivität wesentlich differenzierter zu beurteilen, als das in der politischen Diskussion in der Regel der Fall ist. Ein Anstieg der Arbeitsproduktivität, der sich aus einem steigenden Sozialprodukt ergibt, erhöht den ökonomischen Wert des Faktors Arbeit und kann entweder in steigende Lohnsätze oder in einen höheren Beschäftigungsgrad
54
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
umgesetzt werden. Völlig anders ist ein Produktivitätszuwachs bei gegebenem Sozialprodukt zu beurteilen. Denn wie die Gleichung zur Produktivitätsregel zeigt, besteht j a immer eine gleichgewichtige Beziehung zwischen Produktlohn und Arbeitsproduktivität auf dem Markt. Bei gegebenem Sozialprodukt muss eine Lohnerhöhung durch einen Anstieg der Produktivität kompensiert werden, der sich in einem Rückgang des Beschäftigungsgrads niederschlägt. U m einen gegebenen Zuwachs der Arbeitsproduktivität beschäftigungspolitisch zu beurteilen, ist also zu prüfen, ob die Lohnentwicklung der Entwicklung der Produktivität folgt, oder ob sich die Produktivität an die Löhne angepasst hat. 3 2
2. Lohnhöhe und Beschäftigung: Einige Antworten aus der Empirie Akzeptiert man die Grundannahmen der Grenzproduktivitätstheorie des Lohns, so ist der Effekt einer Lohnerhöhung auf die Arbeitsnachfrage eindeutig negativ. Ein Maß für die Beschäftigungswirkungen einer Lohnvariation ist die Lohnelastizität der Arbeitsnachfrage; sie gibt die prozentuale Veränderung des Arbeitseinsatzes bei einer einprozentigen Erhöhung des Lohnes wieder. A u f wettbewerblichen Arbeitsmärkten ergibt sich die Lohnelastizität der Arbeitsnachfrage durch folgende Beziehung: Ε
L.w = - s · I η γ,ρ I - (1 - s) I σ k . L | Skalcncffckt
Substitutionsceffckt
Dabei repräsentiert s den Anteil der Lohnkosten am Output, also die Lohnstückkosten resp. die Lohnquote, ηγρ ist die Preiselastizität der Güternachfrage und σ die Substitutionselastizität zwischen Arbeit und Kapital. Diese Beziehung ist in der arbeitsmarktökonomischen Literatur als Marshall-Hicks-Regel geläufig (Franz 1999, S. 123 ff.). Eine expansive Lohnpolitik reduziert den Beschäftigungsgrad auf zweifache Weise: zum einen, da der nun relativ teurere Faktor Arbeit durch den jetzt relativ billigeren Faktor Kapital ersetzt wird (Substitutionseffekt), und zum anderen, da durch die gestiegenen Produktionskosten ein Teil der Produktion unrentabel geworden ist und eingeschränkt wird (Skaleneffekt). Die Gleichung zeigt weiterhin, dass bei gegebener Substitutionselastizität in arbeitsintensiven Branchen, also Branchen mit hohem Lohnkostenanteil s, der Skaleneffekt, in kapitalintensiven Branchen der Substitutionseffekt dominieren wird. Die Lohnelastizität der Beschäftigung ist ebenso wie die Substitutionselastizität nur empirisch zu bestimmen. Auch hier liegen für Deutschland einige empirische Untersuchungen vor; allerdings sind aufgrund des Bruchs in den Erhebungsstatis32
Grafisch gesehen besteht der Unterschied darin, ob sich die Arbeitsnachfragekurve nach außen verschoben hat, oder ob es sich um eine Bewegung entlang einer gegebenen Arbeitsnachfragekurve handelt; in beiden Fällen steigt die gemessene Arbeitsproduktivität.
IV. Beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpolitik
55
tiken 1990 und der noch geringen Zahl der Beobachtungen für die Jahre danach kaum verlässliche Aussagen über die Entwicklung am aktuellen Rand und für die neuen Bundesländer verfügbar. Die aktuelleren Zeitreihenuntersuchungen beziehen sich weiterhin auf die alten Bundesländer und enden im Jahr 1994. König /Buscher/Licht (1995) ermitteln eine Elastizität von - 0 , 7 3 , d. h. steigen die Lohnkosten um 1 %, so sinkt die Beschäftigung um 0,73 %; Blechinger/ Pfeiffer (1999) erhalten für das Verarbeitende Gewerbe Werte zwischen - 0 , 3 und - 0 , 5 . In der gleichen Größenordnung bewegen sich die Ergebnisse von Flaig/Rottmann (1998) und Franz/König (1986); einen Überblick über die Ergebnisse unterschiedlicher Schätzungen der Lohnelastizität findet sich bei Franz (1999). Die empirisch ermittelten Werte der Lohnelastizität der Beschäftigung variieren je nach Aggregationsgrad, Untersuchungszeitraum und Dauer der Untersuchung. Den Ergebnissen gemeinsam ist jedoch, dass - die langfristige Elastizität höher ist als die kurzfristige und - Lohnsatzänderungen zumindest langfristig erhebliche Beschäftigungswirkungen nach sich ziehen. Einen methodisch etwas anderen Weg zur Messung der Beschäftigungswirkungen der Lohnpolitik wählen Lapp/Lehment (1997), Jerger (1996) sowie Klauder (1999). Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen ist wieder die oben beschriebene Produktivitätsregel der Lohnpolitik. Sie berechnen zunächst, in welchem Umfang die Lohnpolitik den Produktivitätsspielraum ausgeschöpft hat; eine zurückhaltende Lohnpolitik ist dadurch definiert, dass das Wachstum der Effektivverdienste hinter der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität zurück bleibt, während ein expansiver lohnpolitischer Impuls dann gegeben ist, wenn die Arbeitsverdienste den Verteilungsspielraum übersteigen. Berechnet man die Lohnzurückhaltung als die Wachstumsrate der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität abzüglich der Wachstumsrate der Bruttoeinkommen aus unselbstständiger Arbeit, so erhält man das auf S. 56 folgende B i l d (vgl. Abbildung 10). Diese Abbildung zeigt einen sehr engen Zusammenhang zwischen Lohnzurückhaltung und Beschäftigung. Das empirische Bild ändert sich auch nicht grundlegend, wenn man zur Berechnung des Verteilungsspielraums nicht die Erwerbstätigen-, sondern die Erwerbsstundenproduktivität verwendet (vgl. Klauder 1999, S. 237). So war in Phasen expansiver Lohnpolitik die Zahl der Beschäftigten mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung stets rückläufig, so ζ. B. Mitte der 70er, Anfang der 80er und Anfang der 90er Jahre. Umgekehrt war ein Beschäftigungszuwachs grundsätzlich mit einer zurückhaltenden Lohnpolitik verbunden, wie man insbesondere am Beschäftigungszuwachs in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erkennen kann. Dieser Zusammenhang lässt sich auch empirisch bestätigen. So kommen Lapp/Lehment (1997) und Landmann/Jerger (1999) übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass mit einer einprozentigen Lohnzurückhaltung in einem Zeit-
56
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
räum von ca. 2 bis 3 Jahren ein einprozentiger Zuwachs der Beschäftigung verbunden ist. Der Schlüssel für mehr Beschäftigung liegt also primär in den Händen der Tarifvertragsparteien.
Lohnzurückhaltung Zuwachsrate der Zahl der abhängig Beschäftigten Quelle: Sachverständigenrat (2000).
Abbildung 10: Beschäftigungseffekte einer zurückhaltenden Lohnpolitik
3. Zur Kritik am ökonomischen Erklärungsansatz Insbesondere im Vorfeld tarifpolitischer Auseinandersetzungen wird die von den Ökonomen so besonders betonte Verantwortung der Lohnpolitik für die Beschäftigungsentwicklung immer wieder in Frage gestellt. Dabei wird entweder der Primat der Lohnpolitik für die Beschäftigungsentwicklung grundsätzlich negiert, oder der prinzipielle Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung wird zwar akzeptiert, der Lohnpolitik aber zugute gehalten, dass sie sich am Verteilungsspielraum orientiert habe; es wird also bestritten, dass in der Bundesrepublik ein Lohnproblem besteht. Die wesentlichen, in der beschäftigungspolitischen Diskussion immer wieder auftauchenden Argumente sollen kurz diskutiert werden: Argument 1 : Der durch die Produktivitätsregel bedingte Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung ist zwar vorhanden, die hohen Löhne in Deutschland sind aber durch die ebenfalls hohe Produktivität gedeckt. Die Lohnsätze können damit nicht ursächlich für die lang anhaltende Arbeitslosigkeit sein. Statistisch gesehen ist dieses Argument richtig, denn die Arbeitsproduktivität gleichgültig, ob sie als Erwerbstätigen- oder Stundenproduktivität gemessen wird ist in den vergangenen Jahrzehnten in etwa im Ausmaß der Lohnsteigerungsraten angestiegen (vgl. Franz, 1999). Dennoch wäre es falsch, aus dieser Beobachtung den Schluss zu ziehen, dass die Lohnpolitik lediglich den Verteilungsspielraum ausgeschöpft hätte. Denn der Ausgleich von Lohnsatz und Grenzproduktivität muss mittelfristig - also nach Anpassung der Beschäftigung - ja immer gelten.
IV. Beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpolitik
57
Sofern sich die Löhne nur an die Produktivitätsentwicklung anpassen, ist das für den Beschäftigungsgrad unproblematisch. Zum Problem wird dies nur, wenn die Produktlöhne über den Produktivitätsfortschritt ansteigen. In diesem Fall werden die Unternehmen die weniger produktive Beschäftigung abbauen, bis die Grenzproduktivität wieder den gestiegenen Lohnsätzen entspricht. Bei einer expansiven Lohnpolitik passt sich also die Produktivität der Lohnentwicklung an - zu Lasten des Beschäftigungsgrads. Anders formuliert: Sofern die Volkswirtschaft unterbeschäftigt ist, liegt die statistisch ausgewiesene Arbeitsproduktivität über der vollbeschäftigungskonformen Produktivität. Die Produktivitätsregel ist insofern nicht mehr anwendbar, da sie auf eine Vollbeschäftigungssituation abzielt und lediglich einen konstanten Beschäftigungsgrad sicherstellt. Wenn die Arbeitslosigkeit abgebaut, d. h. der Beschäftigungsgrad erhöht werden soll, ist ein entsprechender Abschlag von der Produktivitätsregel erforderlich. Schließlich darf in Phasen, in denen ein steigendes Arbeitskräftepotenzial absorbiert werden muss, die Lohnpolitik den Verteilungsspielraum nicht vollständig ausschöpfen; ansonsten schlägt sich das gestiegene Arbeitsangebot nur in höherer Arbeitslosigkeit nieder. Argument 2: Der Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Beschäftigung ist zwar einzelwirtschaftlich richtig, übersieht jedoch gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge. Insbesondere wird nicht berücksichtigt, dass Lohnänderungen zu Variationen der Kaufkraft und damit der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führen, die ebenfalls Auswirkungen auf den Beschäftigungsgrad haben. Dies ist der Kern der sog. „Kaufkrafttheorie" des Lohnes, die den Lohn nicht nur in seiner Funktion als Kostenbestandteil, sondern auch und vor allem als Teilaggregat der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage betrachtet. Hier lassen sich zwei Varianten unterscheiden: eine „gemäßigte" und eine „engagierte". Die eher gemäßigte Variante lautet: Argument 2a: Eine zurückhaltende Nominallohnpolitik ist kein adäquates Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, da die Unternehmen die gesunkenen Nominallöhne in Preissenkungen weitergeben. Der beschäftigungspolitisch letztlich relevante Reallohn bleibt damit ebenso wie der Beschäftigungsgrad konstant. Eine weitergehende Schlussfolgerung lautet: Argument 2b: Eine zurückhaltende Lohnpolitik bekämpft nicht das Problem der Arbeitslosigkeit, sondern verschärft es nur. Ein Rückgang der Löhne verursacht einen Ausfall der aggregierten Nachfrage und damit der Unternehmens gewinne. Als Folge des Gewinnrückgangs werden die Unternehmen ihre Arbeitsnachfrage noch weiter einschränken. Argument 2b liefert die theoretische Basis für die Forderung nach einer expansiven Lohnpolitik; danach läge die adäquate beschäftigungspolitische Strategie nicht in einer Lohnzurückhaltung, sondern der Anstieg der Nominallöhne müsste den
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Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Produktivitätszuwachs sogar übersteigen, um die Ertragsaussichten der Unternehmen zu verbessern und die Nachfrage nach Arbeitskräften zu steigern. Dass die Theorie der expansiven Lohnpolitik auf sehr tönernen Füßen steht, ist offensichtlich. Denn sofern das Argument 2b zuträfe, könnte eine Volkswirtschaft jede Rezession und jede Unterbeschäftigung durch exzessive Lohnerhöhungen bekämpfen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung arbeitet das in seinem Gutachten des Jahres 1993 unter Textziffer 357 folgendermaßen heraus: „Denkt man in einem Gedankenspiel das Kaufkraftargument konsequent zu Ende, so könnte jede Volkswirtschaft durch Lohnerhöhung ihre Beschäftigungssituation verbessern. Es liegt auf der Hand, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann."
Etwas anders liegt der Fall beim Argument 2a. Bezogen auf die Marshall-HicksRegel zur Lohnelastizität der Beschäftigung wird hier unterstellt, dass sowohl die Preiselastizität der Nachfrage wie die Substitutionselastizität gleich Null sind. Produktionstheoretisch ist eine aggregierte limitationale Produktionsfunktion zwar denkbar, aber doch höchst unwahrscheinlich. Dies würde voraussetzen, dass die einzelwirtschaftlichen Produktionsfunktionen nicht substitutional sind und dass darüber hinaus in allen Branchen mit identischer Kapitalintensität produziert wird. Aber auch wenn man sehr kurzfristig argumentiert und den Substitutionseffekt vernachlässigt, wäre eine zurückhaltende Lohnpolitik nur dann beschäftigungspolitisch wirkungslos, wenn die gesamtwirtschaftliche Güternachfrage vollständig preisniveauunelastisch wäre. Auch dieser Fall ist theoretisch denkbar, so ζ. B. bei einer massiven Rezession, in der die Unternehmen auch bei massiv sinkenden Zinsen aufgrund pessimistischer Ertragserwartungen nicht zu Investitionen bereit sind. Aber auch dieser Fall ist eher ein theoretischer Grenzfall und außerdem nur in der Lage, kurzfristige Unterbeschäftigungskrisen zu erklären. Die für uns eigentlich relevante Frage nach den Ursachen lang anhaltender, sich verfestigender Arbeitslosigkeit wird damit nicht beantwortet. Außerdem ist der hier angesprochene theoretische Grenzfall offensichtlich empirisch irrelevant, wie die Schätzungen zur Lohnelastizität der Arbeitsnachfrage gezeigt haben.
4. Ansätze zur Erklärung persistenter Arbeitslosigkeit Damit ist schließlich noch zu erklären, warum sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland seit Mitte der 70er Jahre so verfestigt hat und i m Trend ansteigt, also die oben beschriebene Hysterese-Eigenschaft aufweist. Oder anders formuliert: Warum finden die Löhne nach einer Rezession auch mittelfristig nicht zu jenem Niveau zurück, das die Arbeitslosenquote auf das ursprüngliche Niveau absenkt? Zur Erklärung dieses Problems existieren mehrere theoretische Ansätze (vgl. auch Rolle/van Suntum 1997, S. 34 ff. und Franz 1999). Die Theorie der Kapitalmangelarbeitslosigkeit sieht das Problem der Arbeitslosigkeit weniger auf dem Arbeitsmarkt, sondern vielmehr in einem zu geringen
IV. Beschäftigungspolitische Verantwortung der Tarifpolitik
59
Kapitalstock. Sie besagt, dass durch einen temporären Nachfrageschock ein Teil des Kapitalstocks unterausgelastet ist und daher Reinvestitionen unterbleiben. Dadurch reduziert sich die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote, so dass die Volkswirtschaft in einen Entwicklungspfad mit geringerem Kapitalstock mündet, als dies ohne Rezession der Fall gewesen wäre. Bei konstant unterstellter Kapitalintensität reduziert sich damit auch langfristig der Beschäftigungsgrad. Diese Theorie kann zwar eine verzögerte Beschäftigungsanpassung erklären, greift jedoch zur Erklärung der mehrere Dekaden umfassenden Arbeitslosigkeit zu kurz. Denn bei substitutionalen Produktionsfaktoren lässt sich das Faktoreinsatz Verhältnis durch Variation der relativen Faktorpreise beeinflussen; insofern kann auch Kapitalmangelarbeitslosigkeit prinzipiell durch eine Verringerung des Produktlohns abgebaut werden. Ahnlich wie die Theorie der Kapitalmangelarbeitslosigkeit versucht auch die Humankapitaltheorie der Arbeitslosigkeit, persistente Arbeitslosigkeit durch temporäre makroökonomische Schocks zu erklären. Gemäß dieser Theorie entspricht die Produktivität des Arbeitnehmers und damit sein Lohn dem Humankapital, das sich der Arbeitnehmer durch Bildung und Berufserfahrung („training on the job") erworben hat. Ein Verlust des Arbeitsplatzes durch konjunkturelle Schwankungen führt nun dazu, dass sich der erworbene Humankapital bestand „abschreibt"; unter Umständen wird betriebsspezifisches Wissen sogar vollständig redundant. Sinkt der Anspruchslohn des Arbeitnehmers nicht i m gleichem Umfang wie sein Humankapital, da sich bspw. die Erwartungen des Arbeitnehmers oder die Lohnersatzleistungen am vergangenen Erwerbseinkommen orientieren, so kann es zu lang anhaltender Arbeitslosigkeit kommen. Das Problem tritt verstärkt auf, wenn betriebsspezifisches Humankapital in größerem Umfang verloren geht. Nach dem Humankapitalmodell wäre lang anhaltende Arbeitslosigkeit als „geronnene" keynesianische Arbeitslosigkeit zu interpretieren. Ähnlich wie im Fall der Kapitalmangelarbeitslosigkeit können Lohnsenkungen aber auch diese Form der Arbeitslosigkeit abbauen, da durch eine Absenkung des Anspruchslohns auf die Höhe des (verringerten) Humankapitals der Arbeitnehmer wieder in den Erwerbsprozess eingegliedert werden kann. Der Humankapitalansatz kann damit zwar die Persistenz der Arbeitslosenquote nicht erklären, liefert aber einen Beitrag zu Erklärung der Struktur (insbesondere der Altersstruktur) der Arbeitslosen. Denn bei älteren Arbeitnehmern verkürzt sich die Amortisationsphase betriebsspezifischer Humankapitalinvestitionen für das Unternehmen, so dass die Betriebe verstärkt jüngere Arbeitskräfte einstellen werden. Die Suchtheorie der Arbeitslosigkeit geht davon aus, dass sich der Arbeitnehmer nach einem Verlust des Arbeitsplatzes zunächst Informationen über adäquate Beschäftigungsverhältnisse verschaffen muss. Die Dauer der Suche ist dabei Ergebnis eines Nutzen-Kosten-Kalküls des Arbeitslosen. Der Nutzen einer längeren Suche besteht in der Möglichkeit, einen besser entlohnten Arbeitsplatz zu finden. Die Kosten der Suche bestehen im Wesentlichen aus der Differenz zwischen entgangenem Arbeitseinkommen (Opportunitätskosten der Suche) und den während der
60
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Suchphase erhaltenen Lohnersatzleistungen. Dabei wird unterstellt, dass der Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, die Suche auf einem geringer entlohnten Arbeitsplatz fortzusetzen. Unter dieser Bedingung kann die Suchtheorie schlüssig zeigen, warum es aus Sicht des Arbeitslosen rational sein kann, nicht sofort jedes Angebot zu akzeptieren, das die Lohnersatzleistung übersteigt. Sie kann weiterhin aufzeigen, wie staatliche Unterstützungsleistungen die Dauer der Suche verlängern können. Sie kann jedoch nicht erklären, warum Arbeitslose auch nach längerer Suche ihren Reservationslohn nicht auf ihre wahre Produktivität absenken. Die Suchtheorie ist damit eher zur Erklärung kurzfristiger (friktionaler) Arbeitslosigkeit geeignet. Sie kann insbesondere keinen Beitrag zur Erklärung des Hysterese-Phänomens liefern, da die Lohnersatzleistungen im fraglichen Zeitraum ja nicht erhöht, sondern eher eingeschränkt wurden. Die Schwäche der bisher referierten Ansätze liegt darin, dass sie nicht in der Lage sind, Lohnrigidität nach unten (bzw. einen Anstieg der Löhne unterhalb der Rate des Produktivitätsfortschritts) entscheidungstheoretisch fundiert erklären zu können. Dies versuchen die Insider-Outsider Theorie und die Effizienzlohntheorie. Gemäß der Effizienztheorie der Entlohnung stellt der Lohnsatz nicht nur einen Kostenbestandteil dar, sondern beeinflusst auch die Produktivität der Arbeitskräfte. 3 3 Dabei wird unterstellt, dass ein steigender Lohnsatz die Leistungsintensität der Arbeitnehmer und damit die Arbeitsproduktivität erhöht. Lohnerhöhungen führen unter diesen Bedingungen solange zu einer Reduktion der Lohnstückkosten, solange der Zuwachs an Arbeitseffizienz den Lohnanstieg übersteigt. Sofern alle Unternehmen einer Branche Effizienzlöhne bezahlen, wird sich der Lohnsatz nicht auf markträumendem Niveau einspielen, sondern auf jener Höhe, bei der die Lohnstückkosten minimal sind. 3 4 Die daraus resultierende Arbeitslosigkeit ist zwar lohnniveaubedingt, aber unfreiwilliger Natur. Sie kann insbesondere nicht durch Lohnsenkungen bekämpft werden, da das nichtmarkträumende Lohnniveau ja im Interesse der Unternehmen liegt. Die hier unterstellte positive Beziehung zwischen Arbeitsintensität und Lohnsatz kann auf folgende Faktoren zurückzuführen sein: - höhere Löhne verringern die Arbeitskräftefluktuation und reduzieren die Einstellungs- und Einarbeitungskosten, - höhere Löhne steigern die Motivation der Arbeitnehmer und damit deren Arbeitsproduktivität, da sie sich „fair" behandelt fühlen („fair-wage effort"-Hypothese), bzw.
Damit ist nicht der immer vorhandene Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitsproduktivität auf dem Arbeits markt gemeint, sondern eine noch zu begründende Beziehung zwischen individueller Produktivität und Lohnsatz. 34 Technisch formuliert lautet die Gewinnmaximierungsbedingung, dass die Elastizität der Arbeitseffizienz in Bezug auf den Lohn gleich Eins sein muss (sog. „Solow-Bedingung"); vgl. bspw. Goerke/Holler (1997).
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland
61
- höhere Löhne erhöhen aus Sicht der Arbeitnehmer die Opportunitätskosten des Arbeitsplatzverlustes; sie werden deshalb eine höhere Arbeitsmoral an den Tag legen, um Entlassungen zu vermeiden (,,shirking"-Hypothese). Die Effizienzlohntheorie ist in ihren jeweiligen Spielarten zwar intuitiv eingängig und auch theoretisch reizvoll, da sie anhaltende Arbeitslosigkeit entscheidungstheoretisch fundiert erklären kann. Ein gravierender Mangel besteht in der Tatsache, dass sie in ihrer allgemeinen Form empirisch nicht überprüfbar i s t 3 5 und dass Hysterese-Effekte nicht erklärt werden können. Zur Erklärung des Hysterese-Phänomens ist die Insider-Outsider-Theorie besser geeignet. Dieser Ansatz versucht, persistente Arbeitslosigkeit durch Machtasymmetrien unterschiedlicher Arbeitnehmergruppen am Arbeitsmarkt zu erklären. 3 6 Die beschäftigten Arbeitnehmer (Insider) besitzen gegenüber Arbeitslosen (Outsidern) einen Vorteil, da ein Ersatz eines Insiders durch einen bisher Arbeitslosen für die Unternehmen mit Kosten verbunden ist. Diese sog. „labor-turn over "-Kosten bestehen zum einen aus den überwiegend technologisch bedingten Einarbeitungskosten und den vorwiegend staatlich oder tarifvertraglich geregelten Entlassungskosten wie bspw. Abfindungszahlungen, Sozialplanverpflichtungen u. ä. Ein Austausch der Belegschaft findet nur dann statt, wenn der Lohn der Insider den Anspruchslohn der Outsider zuzüglich der „labor-turnover" - Kosten übersteigt; die Einstellungs- und Entlassungskosten führen damit zu einer Machtkumulation bei den bereits Beschäftigten, die sich in überhöhten Lohnsätzen niederschlägt. Die Insider-Outsider-Theorie liefert auch eine Begründung für den HystereseEffekt am Arbeitsmarkt. Denn durch einen konjunkturellen Nachfragerückgang wird zunächst ein Teil der bisherigen Insider arbeitslos, also zu Outsidern. I m anschließenden Aufschwung orientieren sich die Lohnabschlüsse nun aber an den Einkommensinteressen der noch verbliebenen Insider, so dass die Löhne den Produktivitätszuwachs wieder vollständig ausschöpfen. Die Interessen der Arbeitslosen bleiben bei den Tarifverhandlungen unberücksichtigt. In der Folge kommt es von Rezession zu Rezession zu einer steigenden und sich verfestigenden Arbeitslosenquote, die sich empirisch als „Hysterese-Phänomen" niederschlägt.
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland In den vorangegangenen Kapiteln wurde deutlich, dass bereits der Stand und die Entwicklung der Beschäftigungssituation nur ungenau gemessen werden können und Spielraum für Interpretationen lassen. Noch wesentlich problematischer 35 Ein häufig gewählter Indikator für Effizienzlöhne ist die Lohndrift, also die Differenz zwischen Effektivverdienst und Tariflohn. Dies würde jedoch voraussetzen, dass die Tariflöhne tatsächlich markträumend sind. 36
Die Standardreferenz ist Lindbeck/Snower
( 1988).
62
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
sind Prognosen für die langfristige Beschäftigungsentwicklung, da sowohl Angebot wie Nachfrage am Arbeitsmarkt vom Verhalten der Wirtschaftssubjekte und den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen abhängen, die sich im Zeitablauf signifikant ändern können. Unterschiedliche Annahmen über die Entwicklung der beschäftigungsrelevanten Parameter führen natürlich zu unterschiedlichen Projektionsergebnissen. Da sich diese Abweichungen i m Zeitablauf kumulieren, ist es nicht überraschend, dass sich die Ergebnisse von Langfristprojektionen, die einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren umfassen, ζ. T. erheblich unterscheiden: So prognostiziert die Bundesregierung mit ca. 920 Tsd. registrierten Arbeitslosen zum Jahr 2030 faktisch Vollbeschäftigung, während das ifo-Institut (ifo 1997) für den gleichen Zeitpunkt von über 3 Mio. registrierten Arbeitslosen ausgeht und damit auch langfristig ein massives Beschäftigungsproblem unterstellt. U m die Unterschiede in den projizierten Beschäftigungsverläufen deutlich zu machen, sollen die wesentlichen Annahmen einiger Prognosemodelle kurz referiert werden (vgl. auch Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" 1998, S. 201 ff.). Neben den Arbeitsmarktprojektionen des I A B sind dies die Untersuchungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW 1997), der PROGNOS-AG (PROGNOS 1998), des ifo-Instituts, des D I W u n d des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung.
1. Projektionen des Arbeitsangebots Einigermaßen zuverlässig lässt sich die Entwicklung der inländischen Erwerbsbevölkerung prognostizieren, da die inländischen Erwerbspersonen, die dem Arbeitsmarkt bis 2020 zur Verfügung stehen werden, bereits geboren sind. Da sich Änderungen der Fertilität eher langfristig und in engen Bandbreiten vollziehen, ist hier der Prognosefehler auch über längere Zeiträume eher gering zu veranschlagen. Grundsätzlich gehen alle vorliegenden Studien davon aus, dass das Geburtenverhalten in den alten Bundesländern annähernd konstant bleibt und sich die Fertilität in den neuen Länder jener der alten Länder angleichen wird. Weiterhin wird in allen Untersuchungen davon ausgegangen, dass die Lebenserwartung ansteigt; so unterstellt das Sozialministerium einen Anstieg der ferneren Lebenserwartung der 65-jährigen Männer von derzeit 15,1 Jahren (alte Länder) resp. 14,1 Jahren (neue Länder) auf 17,7 Jahre (alte und neue Länder), jene der Frauen von 18,9 (alte Länder) resp. 17,9 (neue Länder) auf 22,3 Jahre. Wesentlich problematischer ist die Prognose der Wanderungsbewegungen. Hier stellt sich grundsätzlich das Problem, dass Vergangenheitswerte keine zuverlässige Information für die längerfristigen Entwicklungen liefern können. Denn in Deutschland existieren keine Regelungen, die beispielsweise in Form eines Einwanderungsgesetzes Anhaltspunkte für die mögliche Höhe der Zuwanderung geben. Dabei spielt trotz der Niederlassungsfreiheit für EU-Bürger die Migration innerhalb Euro-
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland
63
pas eine eher untergeordnete Rolle. 3 7 Bestimmungen, die die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten betreffen, werden in unregelmäßigen Abständen diskretionär geändert. Die Höhe der Zuwanderung ist somit letztlich politisch bestimmt. Das I A B stellt selbst keine Projektion des Wanderungssaldos an, sondern berechnet unterschiedliche Szenarien, die von einer Variante ohne Migration bis zu einem Szenario mit einem Wanderungssaldo von 500 Tsd. jährlich reichen. Auch das ifo-Institut legt unterschiedliche Varianten vor: neben einer gezielt arbeitsmarktorientierten Zuwanderung von 75 000 unterstellt es alternativ eine Nettozuwanderung von ca. 150 000 bis 2040. Das Sozialministerium geht von einem leicht steigenden Wanderungssaldo von derzeit (2000) 86 000 auf 160 000 in 2005, 180 000 bis 2010 und 154 000 bis 2030 aus, während das Institut der deutschen Wirtschaft einen Wanderungssaldo von jährlich 300 000 unterstellt. Insofern unterscheiden sich bereits die Bevölkerungsprognosen erheblich (vgl. Abbildung 11): 85
80
75
70
65
60 2000
2010
2020
2030
2040
Quelle: Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" (1998).
Abbildung 11 : Projektionen zur Bevölkerungsentwicklung
Auch die zweite für das Arbeitsangebot relevante Komponente, die Erwerbsquote, muss prognostiziert werden. Wiederum ist der Erwerbsquoteneffekt, der sich durch die Bevölkerungszusammensetzung ergibt, relativ genau abzuschätzen. So wird sich der Anteil der unter 15-jährigen von derzeit (2000) 15,4 % auf ca. 12 % in 2040 reduzieren, während sich der Anteil der über 60-jährigen von aktuell 23,2 % auf 33,9 % erhöhen wird. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist daher mit einem Rückgang der Bevölkerung i m erwerbsfähigen Alter zu rechnen. Dem ist jedoch gegenüberzustellen
37 Etwa zwei Drittel der in Deutschland lebenden Ausländer stammen aus Nicht-EU-Staaten. Vgl. B M A (2000b).
64
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
- die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit, - die Entwicklung i m Bildungsverhalten und - die Entwicklung i m Rentenzugangsverhalten. Das Institut der deutschen Wirtschaft geht davon aus, dass sich die Erwerbsquoten älterer Arbeitnehmer aufgrund der geänderten rentenrechtlichen Rahmenbedingungen und einer insgesamt entspannteren Arbeitsmarktsituation leicht erhöhen wird. Bei der Erwerbsquote der Frauen, insbesondere der Frauen mittleren Alters in den alten Bundesländern, wird ein deutlicher Anstieg erwartet. So prognostiziert das I W bis 2020 für die 40-45-jährigen Frauen eine Erwerbsquote von 84 %, was deutlich über den aktuellen Werten von 70 % liegt. PROGNOS unterstellt, dass sich die Erwerbsquoten der Frauen zwischen alten und neuen Bundesländern in etwa in der Mitte der aktuellen Werte angleichen und rechnet für 2030 mit einer Erwerbsquote der 40-45-jährigen Frauen von etwa 87 %. Das I A B legt sich nicht auf eine bestimmte demographische Entwicklung fest, sondern simuliert verschiedene demographische Szenarien. In einer unteren Variante werden konstante Erwerbsquoten des Jahres 1995 angenommen und von Wanderungsbewegungen abstrahiert (dies entspricht dem Modell V I des IAB). In einer oberen Variante wird eine deutliche Zunahme der Erwerbsquote und ein jährlicher Wanderungssaldo von 200 Tsd. Personen unterstellt (dies entspricht dem Modell V 6 des IAB). Die Projektionen des IW, von PROGNOS und des I A B sind in Abbildung 12 wiedergegeben. Die Abbildung zeigt, dass die meisten Projektionen bis 2020 von einem konstanten Erwerbspersonenpotenzial ausgehen. A b 2020 macht sich dann der demographische Wandel am Arbeitsmarkt bemerkbar, wobei der Rückgang des Erwerbs-
44
39
34
—
-
-
X
-
-
—
-
IW 29
- O PROGNOS IAB(V1) IAB(V6)
24 2000
2010
2020
2030
2040
Quellen: Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" (1998) und Fuchs/Thon (1999).
Abbildung 12: Projektionen des Erwerbspersonenpotenzials
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland
65
personenpotenzials auf 4 und 10 Mio. Personen beziffert wird. Lediglich die untere Variante des IAB-Modells (konstante Frauenerwerbsquote, keine Zuwanderung) geht von einem permanenten Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials aus; danach wäre ein Rückgang bis 2040 um ca. 15 Mio. Personen zu erwarten.
2. Projektionen der Arbeitsnachfrage und der Arbeitslosenquote Noch wesentlich problematischer als die Projektion des Arbeitsangebots ist eine einigermaßen zuverlässige Prognose der Arbeitskräftenachfrage. In der Regel handelt es sich nicht um ökonometrische Simulationen, sondern um Projektionen langfristiger Trends, die mittels Plausibilitätsüberlegungen modifiziert werden. So geht das I W davon aus, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2 0 0 0 - 2 0 2 0 durchschnittlich 2,0 % und i m Zeitraum 2 0 2 0 - 2 0 4 0 jahresdurchschnittlich 1,4 % beträgt. Da die Wachstumsrate der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität exogen mit 1,7 % festgesetzt wird, unterstellt das I W für die ersten beiden Dekaden ein Beschäftigungszuwachs von 0,3 % jährlich und in den folgenden zwei Jahrzehnten einen ebenso großen Beschäftigungsabbau. Auch PROGNOS geht von einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums aus: in einer oberen Variante wird bis 2010 eine durchschnittliche Wachstumsrate von 2,1 % unterstellt, von 2 0 1 0 - 2 0 4 0 von 1,4 %; in der unteren Variante lauten die Werte 1,4 % und 0,5 %. Die Zahl der Erwerbstätigen reduziert sich danach von 34,8 Mio. (1995) auf 30,7 Mio. in der oberen resp. 26,9 Mio. in der unteren Variante. Auch das ifo-Institut geht von einem sich abflachenden Wachstumstrend aus, setzt diesen jedoch deutlich niedriger an: so beläuft sich die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts bis 2020 auf 0,8 % jährlich und fällt anschließend auf Werte zwischen 0 % und 0,3 % ab. Dementsprechend gering fällt die Arbeitsnachfrage aus: so reduziert sich die Zahl der Erwerbstätigen von 35 Mio. (1995) auf 23,4 Mio. in 2040. Das Sozialministerium schließlich geht in seiner Projektion von einer bis 2015 leicht steigenden, von 2015 bis 2025 konstanten und anschließend einer parallel zum Arbeitsangebot sinkenden Zahl abhängig Beschäftigter aus. Ebenso unterschiedlich wie die Projektionen zum Arbeitsangebot und der Arbeitsnachfrage fallen die Prognosen des Arbeitsmarktsaldos, also der Zahl der registrierten Arbeitslosen bzw. der Arbeitslosenquote aus. So erwarten das I A B und die obere Variante des PROGNOS-Gutachtens eine Entspannung am Arbeitsmarkt bis 2010, während das I W und ifo von einem weiteren Anstieg der Arbeitslosenquote ausgehen. Erst ab 2010 machen sich die entlastenden Effekte des Arbeitsangebots bemerkbar: zwischen 2010 und 2040 sind die Arbeitslosenquoten in allen Untersuchungen rückläufig. Allerdings bleiben erhebliche Niveauunterschiede bestehen: während das Sozialministerium, das I W und die obere Variante des PROGNOS-Gutachtens davon ausgehen, dass sich spätestens 2030 Vollbeschäftigung einstellen wird, weisen das untere PROGNOS-Szenario und ifo eine bis 2040 sogar noch steigende Arbeitslosenquote aus (vgl. die nachstehenden Abbildungen). 5 Althammer
66
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
Erwerbstätige und Erwerbspersonen (in Tsd.)
Arbeitslosenquote (in vH)
Deutschland (bis 1990 nur alte Bundesländer)
Euro-Raum (EU 11)
Niederlande
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland Erwerbstätige und Erwerbspersonen (in Tsd.)
67
Arbeitslosenquote (in vH)
Vereinigte Staaten
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
Japan
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
1985
1990
1995
2000
Vereinigtes Königreich
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
1970
1975
Quelle: Sachverständigenrat (2000).
Abbildung 13: Arbeitsmarktentwicklung ausgewählter Volkswirtschaften 5:
Β. Entwicklung des Angebots und des Bedarfs am Arbeitsmarkt
68
PROGNOS (obere Variante)
PROGNOS (untere Variante)
— Arbeitslosenquote ---•(ΓηνΗΓ
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Erwerbspersonenpotenzial Erwerbstätige (in Mio.)
Quelle: Vgl. Text.
Abbildung 14: Projektionen der Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland
V. Projektionen der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland
69
Aus dem Vergleich der unterschiedlichen prognostizierten Szenarien zur Beschäftigungsentwicklung wird der Unschärfebereich erkennbar, der mit Projektionen über Zeiträume von mehr als drei Jahrzehnten verbunden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die wirtschaftliche Entwicklung auch bei als gegeben unterstellten demographischen Rahmenbedingungen von einer Vielzahl ökonomischer Faktoren abhängt, die sich im Zeitablauf relativ stark ändern können. Trotz dieser Einschränkungen wird erkennbar, dass die Entwicklung am Arbeitsmarkt wesentlich von der künftigen Entwicklung der Arbeitsnachfrage abhängt; alle Szenarien, die ein anhaltendes Unterbeschäftigungsproblem prognostizieren, unterstellen eine rückläufige Arbeitsnachfrage parallel zum Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials. Damit sind die demographischen Entlastungseffekte des Bevölkerungsrückgangs ungewiss: Ebenso wie der Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht demographisch bedingt ist, wäre es auch verfehlt, aus dem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials quasi „automatisch" auf einen Abbau der Arbeitslosigkeit zu schließen.
C. Entwicklung der Erwerbsbiografien und Beschäftigungsverhältnisse Der wirtschaftliche und sozialstrukturelle Wandel auf dem Arbeitsmarkt betrifft nicht nur Umfang und Struktur der Erwerbspersonen, sondern auch die institutionelle Form der Erwerbsarbeit; die „Topologie der Arbeit" (Hoffmann/Walwei 1998 b, S. 410) wandelt sich. Dieser Wandel der Beschäftigungsverhältnisse manifestiert sich in zweifacher Weise (Rische 1999): Zum einen entwickeln sich neue Formen der Arbeitsvertragsgestaltung außerhalb der tradierten institutionellen Verankerung der Beschäftigungsverhältnisse. Weiterhin ist - unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses - eine zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeiten nach Lage und Dauer festzustellen. In diesem Zusammenhang wird eine Ausdifferenzierung tradierter Erwerbsmuster und Berufsverläufe konstatiert, die - je nach wirtschaftspolitischem Standpunkt - entweder als Flexibilisierung und Modernisierung der Arbeitsverhältnisse begrüßt oder unter dem Stichwort der „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" 38 und der Zunahme „prekärer" bzw. „ungeschützter" Arbeitsverhältnisse problematisiert wird.
I. Definition des Normalarbeitsverhältnisses Bevor der Frage nach der empirischen Evidenz und der Bewertung dieser Entwicklung aus wirtschaftlicher und sozialpolitischer Perspektive nachgegangen wird, ist zunächst der Begriff des „Normarbeitsverhältnisses" definitorisch abzuklären. Denn dieser Begriff wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet und seine Operationalisierung weicht vom analytischen Konzept mehr oder minder stark ab. Fasst man die in der Literatur vorfindbaren Definitionen des Normarbeitsverhältnisses zusammen, so lassen sich die zugrundeliegenden Normalitätsannahmen im Wesentlichen drei Dimensionen zuordnen: zum einen einer zeitlichen Dimension, die danach unterscheidet, ob sich der verwendete Normalitätsbegriff auf einen Zeitpunkt bezieht oder die gesamte Erwerbsbiografie einer soziodemographischen Kohorte umfasst. Mutz u. a. (1995) differenzieren diesbezüglich zwischen Normalarbeitsverhältnissen und Normalerwerbsverläufen bzw. Normalbiografien. Unter einer Normalbiografie ist ein „Gerüst der Lebensführung" (Osterland 1990, 38 I m Folgenden werden die Begriffe „Normarbeitsverhältnis" und „Normalarbeitsverhältnis" synonym verwandt.
I. Definition des Normalarbeitsverhältnisses
71
S. 351) zu verstehen, das einen „verlässlichen, erwartbaren Lebensablauf' ermöglicht (ebenda). Dieser Lebenslauf, der i m Wesentlichen „ u m das Erwerbssystem herum organisiert ist" (Kohli 1985, S. 3), umfasst drei voneinander abgrenzbare Phasen {Pfäff 1999, S. 36): die Vorbereitungsphase (Bildungs- und Ausbildungsphase), die aktive Erwerbsphase und die Ruhestandsphase. Eine empirische Analyse der Entwicklung unterschiedlicher Erwerbsverläufe setzt allerdings hohe Anforderungen an das zugrundeliegende Datenmaterial; insbesondere sind umfangreiche Längsschnittsanalysen auf mikroökonomischer Ebene vorzunehmen, die Aussagen über bestimmte Normalitätsmuster im Erwerbsverlauf und deren Differenzierung nach soziodemographischen Merkmalen ermöglichen. Demgegenüber lässt sich die Entwicklung von Normalarbeitsverhältnissen im Rahmen von Querschnittsuntersuchungen überprüfen, die die relative Häufigkeit bestimmter Erwerbsformen im Zeitablauf wiedergeben. Eine zweite Dimensionierung ist die persönliche (adressatenspezifische) Dimension, die danach unterscheidet, ob das Normalitätsmuster für alle Erwerbspersonen gilt, oder nach soziodemographischen Merkmalen differiert. Schließlich wäre drittens die teleologische Dimension zu nennen. In diesem Zusammenhang ist zu unterscheiden, ob das verwendete Normalitätskonzept lediglich als empirisches Konstrukt zur Beschreibung stilisierter Fakten vorfindbarer Erwerbsverläufe dient, oder ein gewisses Maß an normativer Verbindlichkeit gesellschafts- oder wirtschaftspolitischer Art für sich in Anspruch nimmt. Der Terminus des „Normalarbeitsverhältnisses' 4 geht auf Mückenberger (1985) zurück, der hierunter eine dem Arbeits- und Sozialrecht zugrunde liegende „Normalitätsfiktion" des Arbeitsverhältnisses versteht, die als „Bezugspunkt für juristische Ge- und Verbote sowie Rechtsinterpretationen" fungiert. Konkret ist hierunter ein „Sozialmodell abhängiger Arbeit" zu verstehen, „das die Existenzsicherung der Individuen [ . . . ] aus ihrer Rolle im Erwerbsleben herleitet und speist" CMückenberger 1989, S. 420). Das Normarbeitsverhältnis ist dadurch gekennzeichnet, dass es „dauerhaft und kontinuierlich, im (möglichst groß-) betrieblichen Zusammenhang auf Vollzeitbasis" erfolgt. In dieser Definition dominiert der normative Charakter des Normarbeitsverhältnisses als rechtskonstruktiver Bezugspunkt arbeits- und sozialrechtlicher Eingriffe, wobei sowohl der Längsschnittscharakter als auch die adressatenspezifische Eingrenzung auf die Lohnarbeit auffallen. Stark an institutionellen und formalrechtlichen Regelungen knüpft die Definition des Normalarbeitsverhältnisses bei Zachert (1989), S. 14 f. an. Danach sind für ein Normalarbeitsverhältnis folgende Kriterien maßgeblich: - es handelt sich um ein Vollarbeitszeitverhältnis; - das Arbeitsverhältnis weist einen „Normalarbeitstag" von 7'/ 2 bis 8 Stunden auf; - seine Dauer ist durch § 3 A Z O und Tarifverträge, seine zeitliche Lage häufig durch betriebliche Regelungen näher bestimmt; - die Vergütung wird in monatlichen Teilbeträgen bezahlt;
72
C. Entwicklung der Erwerbsbiografien und Beschäftigungsverhältnisse
- die Tätigkeit vollzieht sich in einem Betrieb oder einer Dienststelle mit einer gewissen Mindestgröße, die das Betriebsverfassungsgesetz oder das Kündigungsschutzgesetz zur Anwendung kommen lassen; - das Arbeitsverhältnis genießt einen bestimmten Bestandsschutz; - die Höhe der Vergütung sowie betriebliche Sozialleistungen hängen von der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab, und schließlich sind - Löhne und Arbeitsbedingungen im Wege kollektiver Interessenvertretung, d. h. durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung, gestaltbar. Durch eine derartige formalrechtliche Definition mit relativ rigidem institutionellen Aufriss lassen sich Normarbeitsverhältnisse zwar exakt abgrenzen; die Definition hat aber den inhärenten Nachteil, dass sich bereits geringfügige Änderungen des institutionellen Gefüges unmittelbar in der Zahl der NormalarbeitsVerhältnisse niederschlagen würden. Eine systematisierende Definition findet sich bei Bonß (1998); er charakterisiert das Normarbeitsverhältnis durch vier Momente: 1. Vollbeschäftigungsprinzip: beim „Normalarbeitsverhältnis" handelt es sich um ein Vollzeit-Arbeitsverhältnis, das auf einem unbefristeten Arbeitsvertrag beruht. 2. Kontinuitätsprinzip: Die Erwerbstätigkeit zeichnet sich durch Kontinuität von der Ausbildung bis zur Rente aus; Unterbrechungen gelten als nur vorübergehend und letztlich unfreiwillig. 3. Prinzip sozialer Einbindung: Über das Lohnarbeitsverhältnis wird zugleich die Absicherung der existenziellen Lebensrisiken, also der Verlust der Arbeitskraft durch Alter, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und Krankheit sowie die Absicherung der Familienangehörigen abgedeckt. 4. Segmentierungsprinzip: M i t zunehmender Dauer der Integration in das Erwerbsleben steigen soziale und finanzielle Sicherheit. Das Normalarbeitsverhältnis impliziert also das Senioritätsprinzip bei Entlohnung und (betrieblicher) sozialer Sicherung. 39 Weiterhin geht auch Bonß davon aus, dass das Normarbeitsverhältnis sowohl positiv wie normativ zu interpretieren i s t 4 0 . Buch/Rühmann (1998), auf deren empirischen Arbeiten die Ausführungen der Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen zur Entwicklung des Normalarbeitsverhältnisses beruhen, rekurrieren vor allem auf institutionell-rechtliche Aspekte. Sie verstehen unter einem Normarbeitsverhältnis eine „dauerhafte, sozial- und arbeitsrechtlich abge-
39
Mückenberger (1985) S. 424 bezeichnet das Normalarbeitsverhältnis auch als „kodifiziertes Senioritätsprinzip". 40 Das Normarbeitsverhältnis wird als „empirisch vorfindbare Regelmäßigkeit und zugleich im normativen Sinne etwas Sein-Sollendes" charakterisiert; Hinrichs (1989), S. 11.
I. Definition des NormalarbeitsVerhältnisses
73
sicherte Vollzeitstelle" und grenzen hiervon Beschäftigungsformen der aktiven Arbeitsmarktpolitik und atypische Beschäftigungsverhältnisse ab. Allen Definitionen des Normalarbeitsverhältnisses ist die Tatsache gemeinsam, dass das Kontinuitätsprinzip konstitutiv für das Konstrukt des Normarbeitsverhältnisses ist, da bei längerfristigen freiwilligen Erwerbsunterbrechungen die „normative Kraft der Idee einer vollständigen Vergesellschaftung über Lohnarbeit in Frage gestellt wäre" (Bonß 1998, S. 55). 4 1 Die Normalbiografie ist damit ein elementarer Bestandteil des Konzepts des Normalarbeitsverhältnisses. Alle genannten Autoren weisen jedoch darauf hin, dass dieses Erwerbsmuster nicht universell gültig, sondern auf männliche Erwerbspersonen beschränkt ist; es setzt somit eine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung voraus (vgl. Matthies 1994 sowie Hinrichs 1996). Im Gegensatz zu den männlichen Erwerbspersonen hat sich für die Frauen kein einheitliches Normmuster der Erwerbsbiografie herausgebildet, da neben der Erwerbsorientierung traditionell das Motiv der Familienorientierung tritt. Bezüglich des Problems der Vereinbarkeit von Familie und Beruf existieren vielmehr mehrere konkurrierende Leitbilder (Lampert 1996, S. 244 f.): 1. Das Modell der traditionellen Hausfrauenehe 42 : Dieses Modell greift als normativ verbindliches Muster weit über den Bereich des Erwerbslebens hinaus. Konstitutive Elemente sind eine auf Dauer angelegte, durch das Institut der Ehe sozial- und unterhaltsrechtlich abgesicherte Partnerbindung sowie eine eindeutige, geschlechtsspezifische Rollenzuweisung. Nach diesem Modell zieht sich die Frau unmittelbar nach der Eheschließung, spätestens jedoch mit der Geburt des ersten Kindes dauerhaft aus dem Erwerbsleben zurück und konzentriert sich auf die Haus- und Erziehungsarbeit; damit übernimmt sie die komplementäre Funktion zur Normalerwerbsbiografie des Mannes. Letztlich läuft dieses Modell auf eine vollständige Spezialisierung der Ehepartner auf Erwerbsarbeit und den Nichterwerbsbereich hinaus. 4 3 2. Die sukzessive (auch sequenzielle oder konsekutive) Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit. Nach diesem Modell unterbricht ein Elternteil (in der Realität ist das für gewöhnlich die Mutter) die Erwerbsphase nach der Geburt des Kindes bis zu einem Zeitpunkt, in dem die Kinder keine volle innerfamiliäre Betreuung mehr benötigen. Der reinen Familienphase - deren Dauer nicht normativ vorgegeben werden kann, sondern nur empirisch bestimmbar ist - schließt sich wiederum eine Phase der Erwerbstätigkeit an, wobei der Wiedereinstieg in das Erwerbsleben bei reduzierter Arbeitszeit, also als partielle In-
41
Mückenberger spricht in diesem Zusammenhang vom „Grundkriterium der Beschäftigungsdauer und -kontinuität" (Mückenberger 1989, S. 429). 42 Vgl. zu diesem Begriff F.X. Kaufmann (1997), S. 59. 43 Bereits an dieser Stelle sei vermerkt, dass dieses Erwerbsmuster weitgehend an normativer Verbindlichkeit eingebüßt hat und faktisch kaum mehr praktiziert wird.
74
C. Entwicklung der Erwerbsbiografien und Beschäftigungsverhältnisse
tegration in den Arbeitsmarkt, erfolgen kann. Die an sich inkompatiblen Ansprüche der Erwerbsarbeit einerseits und Familien- bzw. Haushaltstätigkeit andererseits werden damit durch eine biografische Abfolge der Aktivitäten aufgelöst, die als sog. „Drei-Phasen-Modell" (Bildungs- und Erwerbsphase - Familienphase - erneute Erwerbsphase) geläufig ist (Myrdal / Klein 1956 und Lauterbach 1991). 3. Das Konzept der eingeschränkt simultanen Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familientätigkeit. Dieses Modell sieht eine partnerschaftliche Lösung des Konflikts zwischen Erwerbs- und Familientätigkeit vor: Danach sind beide Elternteile entweder teilzeitbeschäftigt oder praktizieren zeitversetzt - unter Umständen mit mehreren Unterbrechungen - das Modell der konsekutiven Vereinbarung von Familien- und Erwerbstätigkeit. Dieses Modell kann aktuell als normatives Leitbild staatlicher Familienpolitik gelten und hat dementsprechend seinen Niederschlag in der Gesetzgebung, insbesondere im Bundeserziehungsgeldgesetz und dem Erziehungsurlaub gefunden, ist jedoch weiterhin ohne größere praktische Relevanz. 4. Das Konzept der simultanen Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familientätigkeit sieht schließlich eine Vollzeiterwerbstätigkeit beider Elternteile über alle Phasen des Familienzyklus vor. Die Betreuung der Kinder erfolgt entweder über soziale Netzwerke oder durch institutionalisierte außerhäusliche Einrichtungen. Dieses Modell ist damit auch vollständig kompatibel mit der oben referierten Normalerwerbsbiografie und macht deutlich, dass dieses Modell zumindest konzeptionell keine geschlechtsspezifische Differenzierung der Erwerbsmuster impliziert.
II. Ursachen diskontinuierlicher Erwerbsbiografien und atypischer Beschäftigungsverhältnisse Fragt man nach den Ursachen der Abweichung von den o.a. Normalitätsmustern in der Erwerbsbiografie, so lassen sich historische Sondereinflüsse und ökonomische Faktoren unterscheiden (Pfaff 1999, S. 38 f.). Historische Sonderfaktoren, die die Kontinuität des Erwerbsverlaufs nachhaltig beeinflussen, stellen Wirtschaftskrisen und Kriege dar. Einschneidende Zäsuren dieser Art betreffen zwar prinzipiell alle in dieser historischen Ausnahmesituation lebenden Gesellschaftsmitglieder, treffen sie jedoch in unterschiedlichen Phasen ihres Erwerbszyklus. Insofern weisen auch temporäre Zäsuren einen Kohorteneffekt auf, der bestimmte historische Ereignisse fest umrissenen Geburtsjahrgängen zuordnet. Die ökonomischen Faktoren kann man entsprechend ihrer arbeitsmarktpolitischen Auswirkung in angebots- und nachfrageseitige Faktoren untergliedern. Angebotsseitig könnten die Diskontinuitäten i m Erwerbsverlauf durch eine veränderte Einstellung zur Erwerbsarbeit verursacht sein. Dieser Erklärungsansatz wird
II. Ursachen diskontinuierlicher Erwerbsbiografien
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in Teilen der soziologischen Literatur unter den Stichwörtern der „Individualisierung" und „Pluralisierung" der Arbeits- und Lebensformen thematisiert, die mit einer Abnahme der Erwerbszentrierung breiter Bevölkerungsschichten verbunden sei. 4 4 Nach Fürstenberg (1993) führt der gestiegene materielle Wohlstand zu einer Sättigung materieller Grundbedürfnisse (Einkommen, Karrierechancen), so dass zunehmend „Sekundärbedürfnisse" i m Familien- und Freizeitbereich an deren Stelle treten. Die bislang dominierenden materiellen Interessen würden durch post-materielle Wertvorstellungen (Selbstentfaltungswerte) verdrängt (Klages 1993). Voß (1998) spricht von einer „Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft" in zeitlicher, räumlicher, qualifikatorischer, organisatorischer und motivatorischer Hinsicht. Dieser Wertewandel wirkt sich nach diesem Ansatz auch auf die Erwerbsorientierung aus: die Erwerbszentriertheit der Lebensentwürfe nimmt ab, es bilden sich pluralistische Erwerbsbiografien, in denen „Erwerbstätigkeit und andere Tätigkeitsbereiche gleichberechtigt verbunden werden sollen" (Voß 1993, S. 28). Die Individualisierung von Arbeitszeiten, Arbeitsinhalten sowie der organisatorischen Form der Arbeit sind Reflex dieser gewandelten Einstellung zur Erwerbsarbeit. Dieses Erklärungsmuster ist jedoch weder mit dem deskriptiv-empirischen Befund zur Entwicklung des Arbeitskräfteangebots noch mit den Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Studien zur Erwerbsorientierung kompatibel. Bereits i m zweiten Kapitel wurde gezeigt, dass die Erwerbsbeteiligung der Frau bei gleichbleibend hoher Erwerbsquote der Männer deutlich zugenommen hat. Auch der sozialwissenschaftliche Befund zu Änderungen der Erwerbsorientierung und der Beschäftigungserwartungen weist eher auf eine tendenziell gestiegene Erwerbsorientierung der Befragten (vgl. ausführlich Münchner Projektgruppe für Sozialforschung 1997). Damit verbleiben im Wesentlichen die nachfrageseitigen Erklärungsmomente. Aus Unternehmensperspektive stellen atypische Beschäftigungsverhältnisse eine Möglichkeit dar, gesetzliche und tarifvertragliche Normierungen bezüglich der Arbeitszeiten, der Arbeitsorganisation und der Anpassung der Arbeitsnachfrage an den Bedarf im Unternehmen zu umgehen, die sich für die Unternehmen zunehmend als dysfunktional erweisen (vgl. hierzu bereits Gaugier 1988). Im Vordergrund stehen dabei - tarifvertragliche und gesetzliche Arbeitszeitregelungen, insbesondere das generelle Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit, - die Notwendigkeit der Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung, - die Sozialplanregelung sowie - tarifvertragliche oder für allgemeinverbindlich erklärte Mindestentgeltbestimmungen. 44
Eine ausführliche Diskussion und kritische Würdigung dieses Erklärungsansatzes mit weiteren Literaturnachweisen findet sich in Münchner Projektgruppe für Sozialforschung (1997).
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C. Entwicklung der Erwerbsbiografien und Beschäftigungsverhältnisse
Die Expansion atypischer Beschäftigungsformen wäre insofern als Reaktion auf eine Überregulierung der Arbeitsvertragsbeziehungen durch das Arbeits- und Sozialrecht zu interpretieren; die Möglichkeiten eines Abbaus dieser Regulierungen wurden i m Zuge der Deregulierungsdiskussion zu Beginn der 90er Jahre ausführlich thematisiert (vgl. zusammenfassend Deregulierungskommission 1991).
III. Die Entwicklung von Erwerbsverläufen und Erwerbsformen 1. Entwicklung alternativer Erwerbs Verläufe a) Methodik Empirische Längsschnittuntersuchungen über Erwerbsverläufe sind Gegenstand der Lebenslaufforschung, die in Deutschland insbesondere seit Anfang der 90er Jahre durch die Verfügbarkeit der Daten des Sozioökonomischen Panels Verbreitung fand. Diese Erhebungen wurden erstmals 1984 mit 12.000 Personen in ca. 6.000 Haushalten durchgeführt und werden seither jährlich fortgeführt (vgl. Hartefeld 1987). Eine ausführliche Analyse lebenslaufbezogener Daten der ersten Welle des Sozioökonomischen Panels findet sich bei Berger/Sopp (1992). Die Autoren arbeiten mit dem Konzept der „Verlaufstypologien". Ziel dieser Typologisierung von Erwerbsverläufen ist es, aus der Vielzahl empirisch vorfindbarer Erwerbsverläufe dominierende Muster biografischer Sequenzen herauszuarbeiten, die als empirisches Korrelat zu den o. a. Normalitätsfiktionen gelten können.
b) Empirische Ergebnisse Berger/Sopp (1992) ermitteln aus den retrospektiven Angaben der Befragten geschlechtsspezifische Erwerbsbiografien für die demographischen Kohorten der Geburtsjahrgänge 1911 bis 1955. Die empirisch ermittelten Sequenzen der Erwerbsverläufe werden entsprechend den jeweiligen Zielzuständen den bestimmten Verlaufstypologien zugeordnet. Dabei unterscheiden die Autoren für männliche Erwerbspersonen lediglich die Bildungs- und Erwerbsphase, wobei aus Datengründen auch Phasen der Teilzeitbeschäftigung den regulären Erwerbsverläufen zugeordnet werden. Eine Einordnung weiblicher Erwerbsverläufe gestaltet sich deutlich komplexer, da hier neben die Erwerbsorientierung traditionell auch die Familienorientierung tritt. Dem Typus kontinuierlicher Erwerbsbiografien werden deshalb auch jene Frauen zugeordnet, die nach einer Phase der Haushaltstätigkeit wieder in den Erwerbsprozess eintreten, also die biografische Sequenz sukzessiver Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit praktizieren. Als weitere Kategorien werden Teilzeit- und Haushaltstätigkeit als mögliche Endzustände erfasst. Jene Personen, deren Erwerbsbiografie kein durchgängiges Verlaufsmuster im oben beschriebenen Sinn aufweist, werden der Rubrik „diskontinuierliche Verläufe" zuge-
III. Die Entwicklung von Erwerbsverläufen und Erwerbsformen
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ordnet, wobei Personen mit Phasen der Arbeitslosigkeit gesondert ausgewiesen werden. Die empirischen Ergebnisse für die jeweiligen Geburtskohorten finden sich nach Altersgruppen und Geschlecht differenziert in den Abbildung 15 und 16. Betrachtet man zunächst die Erwerbsverläufe männlicher Erwerbspersonen, so wird deutlich, dass Diskontinuitäten im Erwerbsverlauf insbesondere in den Jahren des Berufseintritts (im Alter zwischen 20 und 29 Jahren) in historischer Perspektive keine Seltenheit sind. Besonders betroffen sind die Geburtskohorten der Jahrgänge 1911-1915; die Erwerbsbiografie dieser Gruppe ist zu Beginn ihres Erwerbslebens von den Folgen der Weltwirtschaftskrise und anschließend durch den zweiten Weltkrieg geprägt. Insofern ist es nicht überraschend, dass diese Gruppe in den ersten beiden Dekaden ihrer Erwerbsbiografie mit 69,5% ( 2 0 - 2 9 Jahre) bzw. 84,8% ( 3 0 - 3 9 Jahre) ganz überwiegend diskontinuierliche Erwerbsmuster verzeichnet. Allerdings weist diese Gruppe in der dritten Dekade, also im Alter zwischen 40 und 49 Jahren, überwiegend kontinuierliche Erwerbsverläufe auf. Dieser „Stabilitätsgewinn" {Berger/Sopp 1992, S. 175) der sog. „Kriegsgeneration" in der letzten Dekade ist vor allem auf die Stabilität des ökonomischen Umfelds im Zuge des Wiederaufbaus zurückzuführen. In den folgenden demographischen Kohorten steigt der Anteil durchgängiger Erwerbsbiografien spürbar an. Bei den Kohorten der Geburtsjahrgänge 1931 - 1935 - und somit den letzten, für die Informationen über alle drei Dekaden verfügbar sind - dominiert eindeutig die durchgängige Erwerbsbiografie das Verlaufsschema; diese Jahrgänge werden von den Autoren daher als „Kohorte des Normalarbeitsverhältnisses" {Berger/Sopp 1992, S. 175) bezeichnet. Seither macht sich vor allem bei den jüngeren Altersgruppen wieder ein leicht rückläufiger Trend bei den kontinuierlichen Erwerbsbiografien bemerkbar, wobei über die Hälfte der diskontinuierlichen Erwerbsverläufe auf die angespannte Arbeitsmarktsituation zurückzuführen ist. Schließlich ist ein Alterseffekt deutlich erkennbar; mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit der kontinuierlichen Erwerbsbiografien. Die Verlaufsmuster der Frauen stellen sich wesentlich differenzierter dar. Dies wird in der Untersuchung dadurch berücksichtigt, dass in die Typologie der Normalmuster auch Hausfrauentätigkeiten und Phasen der Teilzeitbeschäftigung mit aufgenommen wurden. Wie die Abbildung 16 zeigt, erweisen sich die Optionen für die Frauen im Erwerbs veri auf zwar vielfältiger; der Anteil diskontinuierlicher Erwerbsbiografien ist jedoch geringer und im Zeitverlauf stabiler als bei den Männern. Weiterhin lässt sich beobachten, dass sich der Anteil stabiler Erwerbsverläufe auch bei den jüngeren Frauen nicht verringert, sondern im Gegenteil noch erhöht; die Autoren sprechen von einer „Bedeutungszunahme von Normalerwerbsverläufen" {Berger/Sopp 1992, S. 179) weiblicher Erwerbspersonen. Allerdings zeigt sich auch hier bei den jüngsten Kohorten eine Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe; diese gegenläufigen Effekte werden jedoch durch einen deutlichen Rückgang des Verlaufsmusters „Hausfrau" kompensiert.
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1931/35 1951/64
1911/15 1951/64
»
1921/25 1931/35 1961/74 1971/84 Geburtskohorten Historische Zeit
Alter 40-49 Jahre
1921/25 1941/54
τ τ
1941/45 1961/74
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1951/55 1971/84
0% J 1901/05 1931/44
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60%
••
I
1931/35 1941/45 1961/74 1971/84 Geburtskohorten Historische Zeit
.
• Ausbildung • Erwerbstätigkeit
• Arbeitslosigkeit
• sonstige diskontinuierliche Erwerbsverläufe
1 1 1 1 1911/15 1921/25 1941/54 1951/64
1
Alter 30-39 Jahre
Abbildung 15: Erwerbsbiografien männlicher Erwerbspersonen
Eigene Darstellung nach Berger/Sopp (1992).
1901/05 1941/54
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100%
1911/15 1931/44
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0% -I 1901/05 1921/34
10% -
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30% -
70%
80%
Alter 20-29 Jahre
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