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German Pages 317 [318] Year 1980
GERDA HAUFE
Dialektik und Kybernetik in der DDR
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 38
Dialektik und Kybernetik in der DDR Zum Problem von Theoriediskussion und politisch. gesellschaftlicher Entwicklung im Übergang von der sozialistischen zur wissenschaftlich·technischen Realisation
Von
Dr. Gerda Haufe
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Diese Arbeit erhielt im Sommer 1976 den Wilhelm-Hollenberg-Preis für die beste Arbeit aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich der Ruhr-Universität
Alle Rechte vorbehalten
@ 1980 Duncker .,. Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1980 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04577 7
Vorbemerkung Die hier in etwas überarbeiteter Form vorgelegte Arbeit ist 1976 von der Abteilung für Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen worden. Sie behandelt eine der wichtigsten theoretisch-ideologischen Auseinandersetzungen in der DDR. Die Diskussion um Dialektik und Kybernetik als wissenschaftstheoretische, gesellschaftspolitische und ideologische Positionen war von den Problemen geprägt, die mit dem übergang' von der sozialistischen zur wissenschaftlich-technischen Realis'ation verbunden sind. Sie fand in den sechziger Jahren statt und war die letzte große Theoriediskussion in der DDR. Aus heutiger Sicht ist sie eine abgeschlossene These in der ideenpolitischen Entwicklung in der DDR. Allerdings stellen die seinerzeit vorgetragenen Analysen und Argumentationen immer noch Möglichkeiten des theoretischen Denkens dar, die aktualisiert werden können. Steffen Werner prognostiziert in seinem 1977 veröffentlichten Buch ,Kybernetik statt Marx' eine Renaissance des kybernetischen Marxismus in der DDR. Er bezieht sich auf die Tatsache, daß die Kybernetik im Bereich der praktischen Anwendung ständig an Bedeutung gewonnen hat und zahlreiche Kader über ein entsprechend strukturiertes Grundwissen verfügen. Es erscheint durchaus möglich, daß auch die von der Kybernetik provozierten gesellschaftspolitischen Fragen eines Tages wieder öffentlich diskutiert werden. Das zeitliche Verhältnis von theoretischer Diskussion und praktischer Anwendung würde sich dann im Vergleich zu den sechziger Jahren umkehren. Ging damals die theoretische Konzeptionierung der Entwicklung in praktischen Bereichen, vor allem der Wirtschaftspolitik, voraus, so könnte, wie Steffen Werner voraussagt, in Zukunft der Marxismus-Leninismus durch die Entwicklung der Kybernetik im Bereich der praktischen Anwendung erneut herausgefordert werden, so daß es eben zu jener Renaissance des kybernetischen Marxismus käme. Diese aber müßte voraussichtlich bei der theoretischideologischen Diskussion in den sechziger Jahren und nicht zuletzt bei der Igesellschaftspolitisch-kritischen Position der ~l'ausschen Philosophie ansetzen. Die Arbeit ist vor allem im ideenhistorischen Teil vom Denken von Herrn Prof. Hernard Willms beei,nflußt worden. Ihm ist hier an erster Stelle zu danken. Für viele Anregungen und Hinweise danke ich
Vorbemerkung
6
außerdem den Professoren O. Anweiler, G. Kiss, E. Pankoke, J. C. Papalekas. Eine Reihe von Wissenschaftlern aus der DDR haben mir geholfen, die Diskussion um Dialektik und Kybernetik auch aus der Sicht des Selbstverständnisses von Wissenschaftlern und Ideologen in diesem Teil Deutschlands besser zu verstehen. Der Dank an sie verbindet sich mit einem Bedauern über die Vorsicht, sie hier nicht namentlich anzuführen. Bochum, im Herbst 1979
GeTdaHaufe
Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................
11
1.
Dialektik und Kybernetik -
15
1.1.
Die Begründung der Dialektik als System zweckrationaler und zielorientierender Prinzipien .................................. 15
1.1.1.
Das zweckrationale Prinzip in der Hegeischen Dialektik ......
15
1.1.1.1.
Die Prinzipien der Freiheit und Vernunft.......... . . ...... ..
16
1.1.1.2.
Der Wissenschafts- und Wahrheitsbegriff der Dialektik bei Hegel 20
1.1.1.3.
Das Verhältnis von Zweck und Mittel bei Hegel im Kapitel über "Herrschaft und Knechtschaft" .......................... 24
1.1.1.4.
Die erste Konkretion des Prinzips der Freiheit im Privateigentum als ,Zweck für sich' ...................................... 27
1.1.1.5.
Der Staat als Konkretion vernünftiger Freiheit ...............
J.1.2.
Die Frage nach der Realisierung der Hegeischen Zweckproblematik bei Karl Marx ........................................ 33
1.1.2.1.
Der radikalkritische Ansatz bei Marx ........................
1.1.2.2.
Die Hinwendung zur Anthropologie und ökonomie bei Marx 39
1.1.2.3.
Der historische Materialismus, Theorie der historisch notwendigen Praxis ................................................ 42
zwei Arten von Rationalität ....
1.1.2.3.1. Das Problem der verlorengegangenen Identität von Zweck und
Wirklichkeit bei Marx ........................................
1.1.2.3.2. Das Kriterium der historischen Notwendigkeit von Sozialismus
als konkretem Ziel revolutionärer Praxis -
sieben Thesen -
31
35
42 46
1.1.3.
Die Ideologisierung der Dialektik bei Lenin und Stalin ........
57
1.1.3.1.
Der Verlust der Einheit von Theorie und Praxis bei Lenin ....
57
1.1.3.2.
Das Prinzip der ,Parteilichkeit' als neue Legitimationsfigur ....
62
1.2.
Systemrationalität und der Begriff der ,Zielstrebigkeit' in der Kybernetik ...................•................••...•....•... 66
8
Inhaltsverzeichnis
2.
Der geseIIsdlaftspolitisdle und wissensdlaftstheoretisdle Bezugsrahmen der Auseinandersetzung um Dialektik und Kybernetik in der DDR - die drei wesentlidlen Programmperspektiven der sechziger Jahre.................................... 78
2.1.
Der übergang von der ,sozialistischen' zur ,wissenschaftlichtechnischen Revolution' ...................................... 79
2.1.1.
,Sozialistische Revolution' oder sozialistische Realisation ......
2.1.2.
,Wissenschaftlich-technische Revolution' und sozialistische Realisation ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.1.2.1.
Der Begriff der ,wissenschaftlich-technischen Revolution' im engeren Sinn und die marxistische Theorie der Produktivkräfte 87
2.1.2.2.
Die Einheit von ,wissenschaftlich-technischer-', ,sozialer-' und ,Kulturrevolution' ............................................ 110
81
2.1.2.2.1. Die Einheit von ,wissenschaftlich-technischer-' und ,Kulturrevolution' ................................................... 110 2.1.2.2.2. Die Einheit von ,wissenschaftlich-technischer-' und ,sozialer Revolution' ...................... / ........................... 112 2.1.2.2.3. ,Wissenschaftlich-technische Revolution' und sozialistische Produktionsverhältnisse ......................................... 115 2.2.
Das Programm des ,umfassenden Aufbaus des Sozialismus' und die ,wissenschaftlich-technische Revolution' .................... 116
2.3.
Das Verhältnis von Dialektik und Einzelwissenschaften in der Epoche des ,umfassenden Aufbaus des Sozialismus' ........... 123
2.3.1.
Steenbecks drei Fragen an die Wissenschaft .................. 125
2.3.2.
"Zur marxistischen Philosophie als ,ars inveniendi' im System der Wissenschaft" ............................................ 130
2.3.3.
Wissenschaftliche Wahrheit und Parteilichkeit bei Georg Klaus 132
2.3.4.
Philosophie, Weltanschauung und Praxis bei Alfred Kosing .... 141
3.
Das Verhältnis von Zweck- und Systemrationalität am Beispiel der Diskussion um Dialektik und Kybernetik in der DDR .... 148
3.1.
Dialektischer und historischer Materialismus, ein Interpretationsversuch in der kybernetischen Metasprache und Erkenntnisperspektive - Georg Klaus .............................. 150
3.1.1.
Kybernetik und dialektischer Materialismus .................. 150
3.1.2.
Der historische Materialismus in der kybernetischen Metasprache 167
Inhaltsverzeichnis
9
3.1.2.1.
Gesellschaftsordnung und kybernetischer Organisationsbegriff 167
3.1.2.2.
Das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen unter dem Aspekt der kybernetischen Organisationsproblematik - dialektischer Widerspruch - Fortschritt - Entwicklung - der kybernetische Informationsbegriff - Zielstrebigkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178
3.1.2.3.
Basis - überbau, gesellschaftliches Sein und Bewußtsein in kybernetischer Interpretation .................................. 188
3.1.2.4.
Mensch-Maschine-Modell und Subjekt-Objekt-Dialektik; Entfremdung .................................................... 196
3.1.2.5.
Die ,Einheit von Theorie und Praxis' im historischen Materialismus und methodologische Aspekte der Kybernetik ........ 209
3.2.
Neues Systemdenken in der Epoche des ,entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus' ......................... 224
4.
Zur Frage der Anwendung der kybernetischen Organisationsproblematik in der DDR .................................... 240
4.1.
Kybernetik und Demokratischer Zentralismus bei Georg Klaus 240
4.1.1.
Sozialistische Hierarchien und kybernetische Regelung ........ 249
4.1.2.
Zweck-Mittelmodell und ,Plan als kybernetische Kategorie' .... 257
4.2.
Kritische Perspektiven zur Anwendung der kybernetischen Organisationsproblematik und die erneute Bedeutung der Ideologie 263
4.2.1.
Der radikaldemokratische Ansatz von Uwe-Jens Heuer ...... 263
4.2.2.
Der organisationssoziologische Ansatz von Kurt Braunreuther und Hansgünter Meyer ...................................... 268
4.2.3.
Kybernetische Systemrationalität und ideologische Zweckrationalität in der Epoche des ,entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus' ...................................... 277
Schlußbemerkungen ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 291
Literaturverzeichnis ................................................... 300
Namenregister ............................................. '.' ......... 315
Einleitung Auf welche Weise konnte ein Denken, das von marxistisch-revolutionärer Dialektik geprägt war oder sich wenigstens so verstand, zur Rezeption der Kybernetik gelangen? Diese ursprüngliche Fragestellung drängt sich auf, wenn man bedenkt, daß die Kybernetik, in der DDR noch Ende der fünfziger Jahre als ,kapitalistische' und ,bürgerlich-idealistische Wissenschaft' diffamiert, dann aber in den sechziger Jahren eine der intensivsten Theoriediskussionen der DDR auslöste. Im Verlauf dieser Diskussion wurde die Kybernetik nicht nur als Organisations- und Leitungswissenschaft auch parteioffiziell anerkannt, sondern es konnte sogar der Eindruck gewonnen werden, daß sich aufgrund dieser Rezeption eine Art Umwälzung der ideologischen Orientierung ergeben habe. Die Erkenntnis, daß genau diese Entwicklung allerdings wieder zu einer Aufwertung von Ideologie geführt hat, ist nur ein Ergebnis dieser Arbeit. Aus der ursprünglichen Fragestellung resultierte die erste Umschreibung des Aufgabenbereichs der Arbeit, nämlich die möglichst differenzierte Kenntnisnahme und Aufarbeitung der Geschichte jener Rezeption. Daß hierbei die Beschäftigung mit den Arbeiten von Georg Klaus im Mittelpunkt stehen mußte, ist vom überragenden Stellenwert dieses Theoretikers für diesen Bereich her ganz unumgänglich; eine Erkenntnis, der auch in der einschlägigen Literatur entsprochen wird. Es stellte sich aber schon bald heraus, daß sich die Aufarbeitung der Rezeptionsgeschichte von der Bedeutuilig der Arbeiten von Klaus nicht den Blick dafür verstellen lassen durfte, daß die verschiedenen Phasen der Entwicklung der Beschäftigung mit Kybernetik nicht nur verschiedene Autoren an der Diskussion beteiligte, sondern daß diese verschiedenen Phasen von sehr grundlegenden Problemen der Ideologieentwicklung und des gesamten Selbstverständnisses des Systems bedingt waren. Eines dieser grundlegenden Probleme, das auch schon für das Vorverständnis des Arbeitsbereichs als zentral einleuchten mußte, war das Problem der Konfrontation von Kybernetik und Dialektik. Die ,revolutionäre Dialektik', ursprünglich die einzige ideologische Legitimationsfigur eines sozialistischen Landes mit ,importierter Revolution' mußte in eine Krise geraten, wenn das revolutionäre Verständ-
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Einleitung
nis bei fortgesetzter Entwicklung der Gesellschaft durch ein nachrevolutionäres ersetzt oder wenistens ergänzt werden mußte. Die Legitimierung konnte nicht mehr nur fortwährend die Ideologie reproduzieren, sondern mußte sich zunehmend mit einer Rechtfertigung stabilisierter Verhältnisse befassen. Es stellte sich heraus, daß - systemtheoretisch gesprochen - die Komplexität der ,revolutionären Dialektik' als ideologischer Legitimation zu gering war, um die zunehmende Komplexität der entwickelten Gesellschaft reduzieren zu können. Diese theoretische Ergänzung glaubte man von den Entwickeltheiten der technisch-wissenschaftlichen Seite auch dieser sozialistischen Gesellschaft her in der Kybernetik als einer Regelungs- und Organisationstheorie gefunden zu haben. Damit hatte man sich nun allerdings - von dem ursprünglichen Theorietyp der Dialektik her gesehen - auf ein problematisches und gefährliches Gebiet begeben. Kybernetische Denkmuster in die Gesellschaftsideologie aufzunehmen, konnte nur bedeuten, die Legitimität der bestehenden Verhältnisse einem handfesten Erfolgskriterium auszusetzen. Die funktionale Bestimmtheit kybernetischen Denkens, dem ideologische Inhalte relativ gleichgültig sein können, machte die Kybernetik scheinbar für die übernahme in das Selbstverständnis einer Gesellschaft wie der DDR außerordentlich geeignet, da sie aufgrund der relativen Gleichgültigkeit als Ergänzung der ursprünglichen Ideologie der revolutionären Dialektik, diese unberührt lassend, erscheinen konnte. Aber schon, wenn man sich auf die Ebene des historischen Materia'" lismus begibt und die Frage stellt, wieso das Produkt eines kapitalistischen ,überbaus' auf eine sozialistische ,Basis' übertragen werden könne, muß klar werden, daß die, gewissen Bedürfnissen der stabilisiel:ten Gesellschaft scheinbar so sehr entgegenkommende Kybernetik, für I die Dialektik zu einer größeren Herausforderung werden mußte, als der Rezeptionsenthusiasmus in gewissen Phasen einsehen wollte. Die Dialektik mußte in der DDR notwendigerweise in ihrer Etablierung als geschlossene dogmatische Doktrin in Schwierigkeiten geraten. Ihre Festlegungen mochten zur Bestimmung der ,sozialistischen Revolution' auch in der dogmatischen Form ausreichen. In der Anwendung auf das, was in der DDR selbst die ,wissenschaftlich-technische Revolution' genannt wird, mußte sie vor allem in der Dogmatisierung auf zunehmende Schwierigkeiten stoßen. Daß sie diese Schwierigkeiten nicht durch die kybernetische Ergänzung einfach beseitigen konnte, sondern daß sie sich in der Konfrontation oder Zusammenarbeit mit der Kybernetik sogar noch größeren, sehr grundlegenden Schwierig-
Einleitung
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keiten gegenübersah, ist eines der Momente, das die Rezeptionsgeschichte der Kybernetik in der DDR zu einem theoretisch mehrschichtigen Thema macht. Daß sich feststellen läßt, daß durch die Rezeption der Kybernetik gewissen Schwierigkeiten, in die die Dialektik geraten war, anscheinend besser begegnet werden konnte, ist ein Befund, der die Probleme, die in dieser Konfrontation bewältigt werden mußten, nur noch deutlicher hervorhebt. Wenn diese Probleme nicht verkürzt gesehen werden sollen, ist es unumgänglich, sich zunächst darüber klar zu werden, daß und wieso Kybernetik und Dialektik zwei verschiedene Arten von Rationalität bedeuten. Dieser Versuch der Klärung ist hier im ersten Kapitel unternommen worden, und auf dieser Grundlage konnte dann die Rezeptionsgeschichte kritisch verfolgt und von einem übergeordneten Gesichtspunkt her beurteilt werden. Diese Intention auf einen übergeordneten theoretischen Standpunkt hin mußte des weiteren bedeuten, daß man sich die Bestimmung der Art der dialektischen Rationalität nicht allein von den dogmatischen Entwicklungen des Marxismus vorgeben lassen konnte; hier mußte vielmehr auf die klassische Ausprägung der neuzeitlichen Dialektik bei Hegel zurückgegriffen werden. Auch wenn diese theoretische Diskussion hier in ihrer Bedeutung herauszustellen versucht wurde, mußte sich zeigen, daß die Rezeptionsgeschichte der Kybernetik in der DDR nicht von daher allein zu verstehen ist. Die Diskussionen der sozialistischen Intellektuellen mußten auf das sich entwickelnde, sich verändernde und je vorgegebene Selbstverständnis des Systems bezogen werden. Dieser Bezug mußte auch schon für das Vorverständnis der Problemlage aus dem Charakter der DDR heraus als zusätzliche Untersuchungsdimension einleuchten. Das zeigt allein schon die Tatsache, daß die Frage der Kybernetik zunächst ablehnend, später affirmativ und nach den Ereignissen in der CSSR 1968 kritisch-distanziert zum Gegenstand von Parteitagsbeschlüssen geworden ist. Die sich verändernden offiziellen Programmatiken, die sich vor allem auf die verschiedenen Bestimmungen verschiedener, je erreichter Entwkklungsphasen bezogen, mußte die Diskussion der Intellektuellen nicht nur stimulieren, sondern entscheidend beeinflussen. Die vier Kapitel dieser Arbeit konzentrieren sich auf jene beiden parteioffiziell bestimmten Entwicklungsphasen des DDR-Systems, denen die maßgeblichen Phasen der Rezeptionsgeschichte zuzuordnen sind. Innerhalb des auf diese Weise eingegrenzten Untersuchungsgegenstandes wird versucht, den in dieser Einleitung herausgestellten drei
14
Einleitung
Schichten des Problems, nämlich der theoretischen Grundlegung, der intellektuellen Diskussion und deren Bezug auf die Wandlungen des Selbstverständnisses des politischen Systems, zu entsprechen.
1. Dialektik und Kybernetik - zwei Arten von Rationalität 1.1. Die Begründung der Dialektik als System zweckrationaler und zielorientierender Prinzipien 1.1.1. Das zweckrationale Prinzip in der Hegelscben Dialektik
Die Begründung der Dialektik als ein sich an Zwecken orientierendes System ist weder bei Marx noch bei Lenin so eindeutig wie bei Hegel. So verwendet Hegel den Begriff des Zwecks in Verbindung mit den Kategorien "Freiheit", "Vernunft", "Eigentum" und "Staat"1 als den vier zentralen Kategorien seines Denkens. Alle vier Begriffe stehen in einem Verhältnis zueinander, das aus einem Prinzip zu erklären ist, das für Hegel eine für alle vier Begriffe verbindliche Rationalität setzt. Nun sollte die Suche nach dem verbindenden Prinzip, um Hegels eigenem Wissenschaftsverständnis zu folgen, nicht abstrakt gesehen werden, sondern historisch-konkret. Für Hegel war die französische Revolution und die Konstituierung der bürgerlichen Verfassung das historisch-konkrete Ereignis, das sowohl für die gesellschaftspolitische Praxis wie für die Wissenschaft eine Rationalität freisetzte, die durch keine andere Art von Rationalität mehr zu relativieren noch zu überholen sei, für Hegel also Absolutheitsanspruch hat2• Wenn Hegel den Zweckbegriff u. a. in Form von "Selbstzweck", "allgemeinem Zweck", "Endzweck" und "Zweck für sich" in Verbindung mit den Kategorien " Freiheit", "Vernunft", "Eigentum" und "Staat" verwendet3 , so meint er diesen Absolutheitsanspruch. Die sich von daher begründende spezifische Art der HegeIschen Rationalität wird in dieser Arbeit zweckrationales Prinzip genannt. Bemerkungen zu den Zitaten
Zusätzliche Worteinfügungen in die Zitate, Auslassungen und Änderungen einzelner Worte sind durch Klammern ( ) gekennzeichnet. 1 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1970, Bd.7, S. 107, 159, 399, 406 f. l! J. Ritter, Hegel und die französische Revolution, in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt 1969, S. 183 ff.; M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Grundprobleme und Struktur der HegeIschen Rechtsphilosophie, Neuwied u. Berlin 1970. 3 Vgl. Anm. 1.
16
1. Dialektik und Kybernetik
1.1.1.1. Die Prinzipien der Freiheit und Vernunft Weshalb bei Hegel "Freiheit" und "Vernunft" zweckrationale Prinzipien werden, erklärt sich daraus, daß die vom aufsteigenden Bürgertum spätestens seit dem 17. Jahrhundert vertretenen abstrakten Ideen4 erst durch die französische Revolution in der bürgerlichen Verfassung allgemein, d. h. konstitutionell Anerkennung fanden. Für Hegel hieß das, daß sie nunmehr historische Konkretheit erlangten,' daß sie jetzt ,Wirklichkeit' geworden sind5 • So bedeutet bei Hegel Freiheit jetzt konkret, daß der Mensch sich selbst zum letzten und alleinigen Bezugspunkt' setzt. Es ist nicht mehr eine vorgegebene Ordnung, aus der die Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens hergeleitet wurden, sondern der Mensch setzt sich absolut, er versteht sich als Subjekt seiner selbste. Das kann er, indem er sich nicht als "Deutscher", "Protestant" oder "Jude"7 versteht, sondern als ,Bürger', und das heißt als ,Mensch'. Diese Freiheit ist gegen die traditionellen Autoritäten (Kirche, ererbte Privilegien) und die auf sie sich stützende ständische Ordnung, deren Prinzip menschliche Ungleichheit ist, gerichtet. Freiheit bedeutet also zunächst nichts anderes als die sich selbst behauptende Subjektivität. Sie ist in erster Linie Negation und setzt damit Möglichkeiten frei, die in der Annahme einer allgemeinen Bedürfnisstruktur des Menschen und seiner Fähigkeit vernünftigen Denkens liegen8 • Subjektivität als Freisetzen von Möglichkeiten kennt wiederum zwei Aspekte, die sich ergänzen: Es ist einmal die äußere Freiheit, durch die sich die Gesellschaft von ihrer eigenen Geschichte emanzipiert und sich abstrakt als "System der Bedürfnisse" setzt, dessen Zweck einzig das "Wohl" der Menschen ist, und die "Subjektivität nur an ihrem natürlichen subjektiven Dasein, Bedürfnissen, Neigungen, Leidenschaften, Meinungen, Einfällen usf." zu ihrem "bestimmten Inhalt ... hat ... "9. Der Zweck der Freisetzung von Subjektivität liegt also zunächst im "äußeren natürlichen Dasein"10. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten für das abstrakte 4 Vgl. H. Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Neuwied u. Berlin 1970 (3), S. 224 ff.; Ritter, S.195 ff.; B. Willms, Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts, Stuttgart 1969, S. 51 ff. li Vgl. Ritter, S. 202 ff. 8 Vgl. Willms, S. 51 ff. 7 Vgl. Hegel, Werke, Bd.7, S.360; vgl. Ritter, S.201. 8 Vgl. Ritter, S. 223 f. 9 Ebd., S. 229. 10 Ebd.
1.1. Begründung der Dialektik
17
Individuum finden sich daher im Bereich der Arbeit, soweit sie der ungehemmten Bedürfnisbefriedigung dient und den Menschen nicht mehr durch Zunft, Ortsgebundenheit, Privilegien in der Entfaltung seiner Möglichkeiten hemmt l1 • Der zweite Aspekt der Subjektivität liegt (nach Ritter) in einer Chance, die die bürgerliche Gesellschaft dem Individuum gibt, indem sie den Menschen nur abstrakt, als den von seinen allgemeinen Bedürfnissen her definierbaren, im System der Arbeit erfaßt und daher alle "Lebenszusammenhänge", die nicht im "System der Bedürfnisse" und der Arbeit erfaßt sind, freigibt. Dies ist der Bereich der "substanzialen Freiheit". "Weil der Zweck der Gesellschaft ausschließlich das ,Wohl' des Menschen ist, werden durch sie keine Zwecke gesetzt, die das Recht der Besonderheit und damit die substanziale Freiheit des Menschen vernichten müssen. Gerade durch ihre abstrakte Geschichtslosigkeit gibt die Gesellschaft der Subjektivität das Recht der Besonderheit frei I2." Für Kant war das der Grund, die "substanziale Freiheit" (Subjektivität) ins Innere des Menschen zu verlegen. Er setzt deshalb Subjektivität gleich Moralität, die sich im Gegensatz zur Legalität versteht1:f, d. h. Subjektivität hat bei Kant keine gesellschaftliche, aber vor allem keine politische Wirklichkeit, da Kant, wie auch Fichte und der frühe Schelling die "allgemeinen Zwecke" der Subjektivität im "Sollen" als moralischer Instanz und nicht in der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit verankert. So sieht O. Marquard die Problematik in seinem Aufsatz "Hegel und das Sollen": "Gerade weil Kant, Fichte und der frühe Schelling die allgemeinen Zwecke vor der unsicheren Wirklichkeit ins bloße Sollen und in Postulate retten, vermögen sie in der Wirklichkeit das Allgemeine nur fern vom realen Zweck und den Zweck nur fern vom real Allgemeinen zu finden 14 ." Genau diese Abspaltung der Subjektivität und der allgemeinen Sittlichkeit von der politischen Realität, versucht Hegel zu überwinden. Deshalb gelangt für Hegel das Prinzip der Freiheit, Subjektivität, erst da zur vollen Wirklichkeit, wo es durch das politisch-institutionell verstandene Prinzip der Vernunft seine positive Ergänzung findet. Die "freigesetzten Lebenszusammenhänge" müssen, da sie von der Gesellschaft, dem "System der Bedürfnisse" nicht mehr problematisiert werden, Gegenstand politischer Institutionen werden. Vgl. ebd., S. 224. Ebd., S. 229. 13 Vgl. J. Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, in: ders., Metaphysik und Politik, S. 281 ff. 14 O. Marquard, Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch der Dürres-Gesellschaft, Jg.72, 1964, S.116. 11
12
2 Haufe
1. Dialektik und Kybernetik
18
Freiheit, Subjektivität wird im Grunde genommen erst dadurch zum allgemeinen und das heißt hier zum zweckrationalen Prinzip, indem sie die Ergänzung durch die Vernunft als das für Hegel allgemeine politische Prinzip erfährt. Vernunft aber war nicht von Anfang an ein politisches Prinzip, sondern ist erst allmählich mit dem Erstarken des Bürgertums vom Prinzip rationaler Erkennbarkeit der Welt zu einem Prinzip auch politischen HandeIns geworden. Zur Entwicklung des Vernunftprinzips im Zusammenhang mit der sich verändernden Position des Bürgertums soll hier in Anlehnung an Marcuses "Vernunft und Revolution"15 folgendes ausgeführt werden. Das Vernunftprinzip appelliert zunächst an den Menschen als theoretisches Wesen, das sich aufgrund seiner Fähigkeit, denken zu können, einen rationalen Zugang zur Welt verschafft (Descartes: Ich denke, also bin ich). Diese Rationalität gründet sich und geht gleichzeitig ein in ein Handeln, das sich ebenfalls an dem Kriterium der Rationalität ausrichtet. Erkenntnis und Handeln orientieren sich dann nicht mehr an einer dem Menschen vorgegebenen Ordnung, sondern die Vernunft des Menschen wird selbst als letzte Orientierungsinstanz gesetzt. Da Vernunft aber nicht nur ein Welt-erkennendes, sondern auch ein Weltgestaltendes Prinzip, und der Mensch der einzige Träger von Vernunft ist, bekommt er zur Geschichte einen neuen Zugang. Er erfährt sie nicht nur, sondern gestaltet sie nach einem eigenen Vernunftprinzip, d. h. er selbst versteht sich als Subjekt der Geschichte ebenso wie des Rechts Ht• Wirklichkeit wird für den Menschen entwerfbar, gedanklich antizipierbar und nach dem "Gedanken" veränderbar: "Im Gedanken des Rechts ist ... jetzt eine Verfassung errichtet worden, und auf diesem Grunde sollte nunmehr Alles basirt seyn. So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf dem Kopf, d. h. sich auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut I7 ." Wir sehen, daß das Prinzip der Vernunft, wie eben dargestellt, von dem der Freiheit nicht zu trennen ist. Nur der Bürger, der sich aus traditionellen politischen Fremdbestimmungen frei macht, kann politische Wirklichkeit nach den Prinzipien der Vernunft und subjektiven Freiheit entwerfen. Freiheit und Vernunft sind somit genuin kritische, d. h. emanzipative Begriffe. Daß das Prinzip der Vernunft nicht apriori in einer dem Menschen vorgegebenen Ordnung liegt, sondern in ihm selbst verankert ist, in Vgl. H. Marcuse, S. 224 ff. 16 Vgl. dazu vor allem B. WiZlms, Revolution und Protest. 17 Hegel, Werke, Bd.12, S.529.
15
1.1. Begründung der Dialektik
19
ihm, der allein aufgrund der Tatsache, daß er ein denkendes Wesen ist, die Möglichkeit hat, zu wahren Erkenntnissen zu gelangen, nach denen er sein Handeln ausrichten kann, genügt jedoch nicht zur Charakterisierung dieses Prinzips. Es bedarf noch der inhaltlichen Bestimmung, insofern es als politisches Prinzip verstanden werden soll. Die inhaltliche Bestimmung des Vernunftprinzips aber liegt in dem Begriff der Allgemeinheit, ohne die das Prinzip der Subjektivität und Freiheit niemals hätte politische Konkretheit erlangen können. Der Begriff Allgemeinheit hat wiederum zwei Aspekte, den erkenntnistheoretischen und den politischen, die einander ergänzen. Wenn die Allgemeinheit, die in dem den Menschen vorgegebenen Ordnungssystemen lag, für den sich emanzipierenden Bürger bedeutungslos wird, weil er sich selbst zum Subjekt seiner Geschichte macht, dann muß er einen neuen Ort für die Allgemeinheit finden und dieser Ort kann nur in ihm selbst als Denkendem und Erkennendem liegen. Der mit Vernunft begabte Mensch darf kein Einzelner sein, sondern jedem muß diese Eigenschaft grundsätzlich zugesprochen werden; das Vernunftsubjekt muß als allgemeines postuliert werden, nur so kann Vernunft zum allgemeinen, zum zweckrationalen Prinzip werden. Erkenntnistheoretisch heißt das, Wahrheit, die sich nicht von Autoritäten herleitet, sondern Funktion vernünftigen Erkennens bzw. Ergebnis von menschlichen Denkprozessen wird, muß in allgemeinen Begriffen faßbar sein, zu denen jeder vernünftig Denkende in gleicher Weise kommen kann, die deshalb von jedem an der Wirklichkeit kontrollierbar, aber auch für das praktische Handeln verbindlich sein müssen. Hegel setzt deshalb "Geist", "Idee" gleich "Begriff" und Begriff gleich "Wahrheit"18. In der Allgemeinheit als Begriff liegt aber mehr als nur ein erkenntnistheoretisches Potential, in ihm liegt für Hegel gleichzeitig das eigentlich politische Potential des Vernunftprinzips. Die Allgemeinheit des Begriffs schließt für Hegel immer auch ein, daß die in ihm begriffene Wirklichkeit in ihren allgemeinen wesentlichen Zusammenhängen erfaßt ist. Die bürgerliche Gesellschaft, auf dem Prinzip der Abstraktheit und Vereinzelung der Individuen beruhend, kann also für Hegel nicht der allgemeine Begriff sein. Es muß ein Bereich sein mit einer die Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft übergreifenden Allgemeinheit. Das ist für Hegel der Staat, der nicht nur die Subjektivität in ihrem "äußeren Dasein" erfaßt, sondern sie sich zum "Extreme ... vollenden" läßt l9• Subjektivität ist hier nicht nur in der natürlichen Bedürfnis18
VgI. H. Marcuse, S. 225 ff.
19
Hegel,
Werke, Bd.7, S.407.
20
1. Dialektik und Kybernetik
struktur, sondern auch in ihrer sittlichen Potenz erfaßt. Was bei Kant der kategorische Imperativ ist, ist bei Hegel die Idee des Staates. Bei Kant ist die Vernunft in die "Innerlichkeit" des Menschen verlegt, bei Hegel in den Bereich der Politik. Hegel mußte das Prinzip der Vernunft im Staat als politische Institution festmachen, da anders als zur Zeit des bürgerlichen Aufklärers Kant, die bürgerliche Revolution schon stattgefunden hatte. Es ging nun um politische Realisation des in der Revolution prinzipiell Erreichten. Subjektivität als reine Negation (Freiheit von) begriffen, war das eigentliche revolutionäre Prinzip; aufgehoben in dem Prinzip der Vernunft, wird es zum nachrevolutionären. Konkret heißt das: Nachdem die bürgerliche Revolution der subjektiven Freiheit prinzipiell zum Druchbruch verholfen hatte, bedurfte es in der nachrevolutionären Ära der Garantie, daß die Freiheit allgemein wird, d. h. sich prinzipiell für jeden realisiert, und das ist der Begriff des Rechts20 • Der Sinn vernünftiger Rechtsetzung liegt deshalb für Hegel in der gesetzlichen Garantie der Anerkennung eines jeden als Freien, d. h. als "Privatperson". Diese Anerkennung muß eine gegenseitige sein, eines jeden Bürgers durch jeden anderen Bürger. Sie muß von jedem einzelnen Individuum als Norm verinnerlicht werden, soll die politisch institutionelle Verankerung der Rechtsgarantie mehr als nur äußerer Zwang sein. Vernunft als Prinzip umfaßt beide, den Bereich des Rechts und den der individuellen Einsicht in die "Notwendigkeit". Deshalb umfaßt auch der Staat beide Bereiche. Er ist sowohl "Not- und Verstandesstaat" als auch "Wirklichkeit der sittlichen Idee".21. Politik beschränkt sich also bei Hegel nicht nur auf den Bereich der Institutionen. Politische Zwecksetzung hat für Hegel einen ausgesprochen normativen Charakter, wobei die Norm sowohl als vom Individuum verinnerlichte wie allgemein institutionalisierte gedacht ist. Es ist der politisch institutionelle Aspekt, der bei Hegel mit dem aufgeklärten vernünftigen Bewußtsein der Moralität und Sittlichkeit zur Einheit gebracht wird, und wodurch Hegel über die Philosophen der Aufklärung hinausgeht22 •
1.1.1.2. Der Wissenschafts- und Wahrheitsbegriff der Dialektik bei Hegel Warum ist nun die in diesen beiden Prinzipien, dem der Freiheit und dem der Vernunft, freigesetzte Rationalität für Hegel durch keine andere Art von Rationalität mehr zu relativieren noch zu überholen, also absolutes Wahrheitskriterium? 20 21
22
Hegel, Werke, Bd.7, S. 29; vgl. Willms, S.52. Hegel, Werke, Bd.7, S.398. Vgl. H. Marcuse, S. 18 f.
1.1. Begründung der Dialektik
21
Der Grund ist, wie bereits erwähnt, ein historisch konkreter. Für Hegel war die bürgerliche Revolution die allgemeine Menschheitsrevolution, für Hegel "machte der Bürger seine Revolution als Mensch"lla. Die in ihr erkämpften Prinzipien sind als allgemeine, für alle verbindlichen Prinzipien gedacht, deshalb sind sie nicht relativierbar noch überholbar, ihr Allgemeinheitsanspruch ist absolut. Für Hegel ist mit der französischen Revolution nicht das Bürgertum als Klasse Subjekt der Geschichte geworden, sondern die zum Selbstbewußtsein gekommene (erkennende) Menschheit. Eine Revolution, deren Anspruch noch allgemeiner ist, ist nicht vorstellbar. Da nun aber Prinzipien mit diesem Anspruch durch die Revolution und in der Verfassung Wirklichkeit geworden sind, muß nach anderen Prinzipien bzw. Zwecken nicht mehr länger gesucht werden. Wirklichkeit ist nun, da ihr Zweck, ihr allgemeines Prinzip gefunden ist, begreifbar. Für Hegel ist damit nicht nur gegenwärtige und zukünftige, sondern die ganze menschliche Entwicklungsgeschichte retrospektiv anhand der Prinzipien beschreibbar geworden. Erst jetzt, da ihr Ziel, die Emanzipation der Menschheit aus den ihr vorgegebenen Ordnungen und die Entwicklung des Menschen zum Subjekt der Geschichte, erreicht ist, kann dieses Ziel, Freiheit als Recht für alle, als Zweck der Entwicklung erkannt werden. Zweckgerichtetheit bzw. Teleologie ist für Hegel nicht spekulativer Entwurf, sondern nur retrospektiv erkennbar aufgrund konkret historisch entwickelter Verhältnisse. Das historisch erreichte Ziel rechtfertigt die Setzung eines zweckgebundenen Anfangs. Daß das erreichte Ziel aber der Zweck der Entwicklung war, muß wissenschaftlich durch die von diesem Zweck her vernünftig zu erweisende Demonstration der Entwicklung gezeigt werden. Diese Demonstration ist für Hegel Wissenschaft. Sie war vor der Konstituierung der bürgerlichen Verfassung nicht möglich, jetzt aber ist sie für ihn "an der Zeit"24. Philosophie wird für ihn in dem Moment zur ,Wissenschaft', in dem die historischen Verhältnisse soweit entwickelt sind, daß das Wissen in ihnen realisierbar bzw. die Realität durch die Vernunft begreifbar geworden ist. "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig 25 •" Wenn diese Einheit gegeben ist, kann eine Wissenschaft von sich sagen, daß sie die einzig "wahre" ist, wobei noch einmal darauf hin23 24
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Vgl. B. WiZlms, S.9. Regel, Werke, Bd.3, S.14. Ebd., Bd. 7, S. 24.
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zuweisen ist, daß gerade in diesem Wissenschaftsverständnis die "absolute Historizität von Wahrheit" begründet liegt26• Die Revolution hat stattgefunden, durch sie sind Ziele erreicht worden und nun ist Wissenschaft, die das bereits realisierte Ziel zum Zweck ihres Systems macht, möglich. Wissenschaft kann und braucht und darf den Zweck und das Ziel der Geschichte nicht mehr aus sich heraus setzen. Weil Hegel vom gegenwärtigen Endzustand der Geschichte ausgeht und von daher Geschichte retrospektiv begreift, ist sein Wissen als System darstellbar, deshalb Wissenschaft. Das Wissen, das er in ihm entwickelt, ist wahr, da es historisch bereits Wirklichkeit geworden ist. (Daß ,Wirklichkeit' bei Hegel noch nicht Konkretion im späteren Marxschen Sinne heißt, sei hier nur erwähnt.) Dialektik ist nun nicht die Beschreibung dieses Wissens, sondern dieses Wissen selbst, die Entwicklung der Wirklichkeit der menschlichen Geschichte27• Die treibende Kraft dieser Entwicklung liegt in der zur Verwirklichung drängenden Dynamik der der Geschichte immanenten Zwecke, der der Freiheit und Vernunft. Die "Phänomenologie des Geistes" ist nichts anderes als die Darstellung dieser Entwicklung, die Dialektik der Entfaltung von Freiheit und Vernunft in der zum "Selbstbewußtsein" gelangenden Menschheit. Dieser Prozeß der Entfaltung von Freiheit und Vernunft ist nicht geradlinig, sondern ein Prozeß, dessen wesentliches Element das der Negation ist. Was heißt das? Freiheit und Vernunft als Zweck der Entwicklung versteht Hegel nicht nur als Resultat derselben, sondern sie umfassen die Entwicklung in ihrer Totalität, sie selbst sind Prozeß. Wird der Prozeß aber nicht in seiner Totalität als ganzer gesehen, sondern nur in seinen einzelnen Entwicklungsschritten, dann sind die Zwecke dieser Entwicklung, Freiheit und Vernunft nur als Zerrgestalten zu erkennen. Die ,Wahrheit' liegt für Hegel im Ganzen28• Deshalb kann sie sich nur durchsetzen, indem jede ,Teilwahrheit' negiert wird, insofern sie sich als die ,wahre' Wirklichkeit präsentiert, bis das Ganze in der Relativität seiner Mo26 B. WiHms, Entwicklung und Revolution. Grundlagen einer dialektischen Theorie der Internationalen Politik, Frankfurt 1972, S.51. 27 Vgl. E. Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1952, S. 112 ff., insbes. S. 114 f.; A. Kojeve, Hegel. Versuch einer Vergegenwärtigung seines Denkens, Stuttgart 1958, S. 112 ff.; B. WiHms, Entwicklung und Revolution, S. 289 ff. 28 "Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das duch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist." (Aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes) Hegel, Werke, Bd.3, S.24.
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mente sichtbar wird, bzw. sich die Relativität der Momente im Ganzen ,aufhebt'. Dialektisches Geschichts- und Gesellschaftsverständnis ist also für Hegel nicht Zukunftsentwurf, sondern basiert auf einer retrospektiven Geschichtsperspektive. Die Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Menschheit hat Hegel in der "Phänomenologie des Geistes" geleistet. Die Phänomenologie des Geistes ist die Entwicklung des Bewußtseins der Menschheit, die sich in ihren einzelnen Erscheinungsformen, der der "sinnlichen Gewißheit", der "Wahrnehmung", der "Kraft" und des "Verstandes" und des "Selbstbewußtseins" selbst negiert bis sie sich zur letzten der Entwicklungsstufen, der der "Vernunft"29 emporgearbeitet hat. Diese letzte der Entwicklungsstufen ist für Hegel nicht mehr einzelne Erscheinungsform, die ihrerseits wieder negiert werden könnte, sondern beinhaltet alle vorhergehenden Stufen als ,Momente' einer umfassenden Totalität30• Wichtig in unserem Zusammenhang der Begründung der Dialektik als "System zweckrationaler und zielorientierender Prinzipien" ist nun die Feststellung, daß Hegel, wenn er den Zweckbegriff benutzt, nicht einen Endzustand meint, der in Abstraktion von den einzelnen Stufen der Entwicklung fuderbar ist, sondern einen Endzustand, der sich aus ihnen historisch entwickelt hat, um nun, selbst historische Wirklichkeit, den ,Momenten' der Entwicklung ihre, wahre' Bedeutung zugeben. Negation der einzelnen Entwicklungsschritte heißt nicht Vernichten historischer Vergangenheit; dies würde ein positivistisches Verständnis von dem erreichten ,Zweck' als der ,vernünftigen Staats- bzw. Gesellschaftsordnung' zur Folge haben. Dialektik ist dagegen in erster Linie, jedenfalls bei Hegel, auf die Geschichte bezogene Reftexionskategorie. Gegenwart ist nur begreifbar, wenn in ihr die Entwicklung mitreftektiert wird, wenn sie die historische Vergangenheit, die einzelnen Entwicklungsstufen als ihre eigenen Bestandteile weiß, und wenn sie selbst in die Darstellung der Vergangenheit eingebracht wird. Negation ist Entwicklung in "Entzweiung" hin zur Totalität als Reftexionskategorie, nicht hin zu einem in sich ruhenden und deshalb positiv definierbaren Endzustand, bzw. einem abstrakten ,System'. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß das zweckrationale Prinzip bei Hegel auf das engste mit dem Begriff der Totalität verbunden ist, denn der Zweck, losgelöst von dem Begriff der Totalität, würde, wie bereits erwähnt, eher zu einem positivistischen als dialektischen Wissenschaftsverständnis führen, nämlich zu einer Trennung von 29 VgI. Hegel, Phänomenologie des Geistes, die Teile A und B (Hegel, Werke, Bd.3, S. 82 ff.). 30 Vgl. H. MaTcuse, S. 118 ff.; A. Kojeve, S. 189 f.
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Zwecksetzung und der Analyse von Prozessen, an die dann womöglich andere Rationalitätskriterien angelegt werden können. Für Hegel gibt es nur eine Art von Rationalität, die, die im historisch erreichten Zweck der Entwicklung begründet liegt. Dies aber ist wiederum nur möglich, weil der Zweck selbst die Totalität des Prozesses ist, es kann also gar keine Rationalität außerhalb des Zweckes, und das heißt wiederum außerhalb der geschichtlichen Totalität, geben. Die Rationalität der Dialektik ist deshalb für Hegel absolut, d. h. nicht relativierbar noch überholbar durch eine in ihrem Anspruch noch umfassendere Rationalität. 1.1.1.3. Das Verhältnis von Zweck und Mittel bei Hegel im Ka.pitel über "Herrschaft und Knechtschaft"31
Wir hatten weiter oben gesagt, daß die Dialektik Hegels Realdialektik ist, daß sie für Hegel als Wissenschaft keine Berechtigung hat, insofern sie nicht selbst Wirklichkeit ist (Identität von Erkenntnisprozeß und Erkenntnisobjekt). So sollten wir hinsichtlich unserer Problematik, der Begründbarkeit der Dialektik als System zweckrationaler und zielorientierender Prinzipien, nach jenem konkreten Bereich der Wirklichkeit fragen, in dem sich der Zweck der Geschichte entfalten, die Menschheit zu einem freien und vernünftigen Selbstbewußtsein gelangen kann. Für Hegel ist es der Bereich der Arbeit, der Bereich der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Gegenüber der dinglichen Welt32• Diese Auseinandersetzung ist keineswegs nur eine ,in Gedanken', wie Marx in seiner Kritik des Hegelschen ,Idealismus' meint "Die Arbeit, welche Hegel kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige"33 -,
sondern ereignet sich durch die vermittelnde Tat. Indem der Mensch praktisch tätig wird, überwindet er seine Ohnmacht gegenüber der Welt der Dinge, er sieht sich nicht mehr nur im Gegensatz zu ihr, sondern erkennt sie in ihrem Mittelcharakter hin31 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes B IV A. Hegel, Werke, Bd.3, S. 145 ff. - Aus der Fülle der Literatur zu diesem Abschnitt der Philosophie seien nur folgende angeführt: A. Kojeve, S. 11 ff., 46 ff.; G. A. Kelly, Bemerkungen zu Hegels "Herrschaft und Knechtschaft", in: Materialien zu Hegels ,Phänomenologie des Geistes', hrsg. von H. F. Fulda und D. Henrich, Frankfurt 1973; H. H. Holz, Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel, Neuwied u. Berlin 1968; B. Willms, Entwicklung und Revolution, S. 301 ff.; zum weiteren geistes- und sozialgeschichtlichen Kontext des Problems, vgl. H. Kesting, Herrschaft und Knechtschaft, Freiburg 1973. 32 Vgl. E. Bloch, S. 95; A. Kojeve, S. 11 ff. 33 K. MaTX, Frühschriften ed. S. Landshut, Stuttgart 1968, S. 270.
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sichtlich seiner subjektiven Ziele und Interessen. Wichtig in dem Zusammenhang sind aber nicht diejenigen subjektiven Ziele und Interessen, die in ihrer Subjektivität einseitig und deshalb endlich sind (z. B. Begierde, Genuß), sondern das Verhältnis des Menschen zu den Mitteln. Den endlichen, rein subjektiven Zwecken und Zielen entsprechend, ist der Mensch der Welt der Objekte unterworfen, die Mittel dagegen, die sich der Mensch durch Arbeit schafft, geben ihm Macht über sie. "Insofern ist das Mittel ein Höheres als die endlichen Zwecke der äußeren Zweckmäßigkeit, - der Pflug ist ehrenvoller, als unmittelbar die Genüsse sind,. welche durch ihn bereitet werden und die Zwecke sind. Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äußerliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist34 ." Diese Aussage Hegels über das Verhältnis vom subjektiven Zweck und ,Mittel' ist für unsere Problematik insofern aufschlußreich, als sie den Blick auf das berühmte Kapitel "Herrschaft und Knechtschaft" in der "Phänomenologie des Geistes" lenkt. Warum spricht Hegel dem ,Mittel' im Vergleich zu dem nur subjektiven und deshalb endlichen Zweck die höhere Qualität bzw. Rationalität zu? Zunächst weil das ,Mittel' den endlichen Zweck überdauert, zum anderen weil es dem Menschen Macht über die Welt der Objekte verschafft. Nur über die Mittel kann er seine Zwecke erreichen, das ,Mittel' aber ist auf den Zweck (Genuß) nicht angewiesen, insofern hat es die größere Selbständigkeit gegenüber dem rein subjektiven endlichen Zweck. Hegel unterscheidet nun in ,Herrschaft und Knechtschaft' einerseits diejenigen, deren Verhältnis zur Welt der Objekte rein subjektiv istihre Beziehung zur Welt zeigt sich in der Begierde, dem Genuß (Herr = Adel der Feudalgesellschaft) -, andererseits diejenigen, deren Beziehung zur Welt durch die Arbeit bestimmt ist (Knecht = Bürger)3'S. Der ,Herr', der nur über den subjektiven Zweck, Begierde, Genuß, eine Beziehung zur Objektwelt hat, steht zu ihr im Verhältnis der reinen Negation, im Genuß vernichtet er. Dabei übergeht er den Prozeß, in dem er mit der Selbständigkeit der Objekte konfrontiert, mit ihr fertig werden muß. Er kann sich also selbst nicht als derjenige erfahren, der die Selbständigkeit des Objekts durch seine Selbständigkeit bezwingt. Der arbeitende Knecht dagegen muß mit der Selbständigkeit der Objekte fertig werden, und das kann er nur, indem er ihnen etwas von seinem eigenen Wesen aufzwingt, d. h. er erk