Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende 9783495860007, 9783495481004


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German Pages [241] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Zeit für Utopie|Klaus Kufeld
Utopisches Denken im Zeitgeist
Utopie zwischen Rationalismus und Pragmatismus|Julian Nida-Rümelin
Diskussion
Utopie und Apokalypse. Zur Dialektik von Utopie und Utopiekritik in der literarischen Moderne|Wilhelm Voßkamp
Wie ist Konkrete Utopie heute zu denken?|Burghart Schmidt
Diskussion
Utopische Ethik und Politik als Zeitkritik
Ethik als utopische Zeitkritik|Beat Sitter-Liver
Ecce homo faber! Anthropologische Utopien und das Argument von der Natur des Menschen|Elif Özmen
Diskussion
Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik: Europa »von unten« und der utopische Überschuss im Alltagshandeln|Ellen Bareis
Tötet TINA! Utopien als Impulse für zukunftsfähiges Handeln? Annäherungen aus der Zukunftsforschung|Edgar Göll
Diskussion
Utopische Texte heute
Utopie in der Literatur|Christa Karpenstein-Eßbach
Bloch-Lektüre heute|Johann Kreuzer
Abschließende Diskussion
Utopie nach Bloch
Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt|Eric J. Hobsbawm
Lesen, das einen zwingt innezuhalten|Carolin Emcke
Bloch, gegen die Gegenwart gedacht|Navid Kermani
Literatur
Autoren
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Gegenwart der Utopie: Zeitkritik und Denkwende
 9783495860007, 9783495481004

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A

Julian Nida-Rmelin Klaus Kufeld (Hg.)

Die Gegenwart der Utopie Zeitkritik und Denkwende

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860007

.

B

Julian Nida-Rümelin / Klaus Kufeld (Hg.) Die Gegenwart der Utopie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Die Zeit scheint reif, wieder über Utopien nachzudenken. Globalisierte Welt, wirtschaftliche Krisen und Gerechtigkeit sind die Stichworte, die unser Denken und Handeln herausfordern. Viele Theorien und Handlungsweisen sind in Frage gestellt. Demokratie und Sozialstaat haben sich verändert, doch müssen sie zunehmend auf die Problematik einer gerechten Zukunftsgestaltung reagieren. Ähnliches gilt für die Ordnung der Wirtschafts- und Finanzsysteme, die sich längst in globalen Koordinaten bewegen, aber sich im Lokalen auswirken. Die Frage ist, ob und wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Lage sind, der sich dramatisch ausdehnenden, wandelnden und beschleunigenden Welt die richtigen Mittel anzubieten. Gefordert ist ein utopisches Denken, das Zeitkritik zur Sprache bringt und Denkwenden provoziert.

Die Herausgeber: Julian Nida-Rümelin, Dr. phil.; Professor am Seminar für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Schriften zu Philosophie, Ethik und Politik. Klaus Kufeld, Dr. phil.; Gründungsdirektor des Ernst-Bloch-Zentrums; Geschäftsführer der Bloch-Stiftung. Autor und Herausgeber zahlreicher Schriften zu Philosophie, Kultur und Reisen.

https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Julian Nida-Rümelin / Klaus Kufeld (Hg.)

Die Gegenwart der Utopie Zeitkritik und Denkwende

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Redaktion: Klaus Kufeld, unter Mitarbeit von Franziska Schaaf Transskriptorische Arbeiten: Sabrina Krietsch Die Autorinnen und Autoren zeichnen für Ihre Beiträge eigenverantwortlich. Sie verwenden zum Teil unterschiedliche Zitationsweisen. Die von ihnen verwendete Quellenliteratur ist im Literaturverzeichnis am Ende des Bands zusammengefasst. Der Druck des Bands wurde aus Erträgen der Stiftung Ernst-BlochZentrum gefördert.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Umschlagfoto: Lukas Trabert Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48100-4

https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Inhalt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Klaus Kufeld Zeit für Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Utopisches Denken im Zeitgeist . . . . . . . . . . . . . .

25

Julian Nida-Rümelin Utopie zwischen Rationalismus und Pragmatismus . . . . . . . .

26

Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Wilhelm Voßkamp Utopie und Apokalypse. Zur Dialektik von Utopie und Utopiekritik in der literarischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

Burghart Schmidt Wie ist Konkrete Utopie heute zu denken?

. . . . . . . . . . .

66

Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

Utopische Ethik und Politik als Zeitkritik . . . . . . . . .

87

Beat Sitter-Liver Ethik als utopische Zeitkritik

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

Elif Özmen Ecce homo faber! Anthropologische Utopien und das Argument von der Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Ellen Bareis Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik: Europa »von unten« und der utopische Überschuss im Alltagshandeln . .

131

Vorwort

5 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Inhalt

Edgar Göll Tötet TINA! Utopien als Impulse für zukunftsfähiges Handeln? Annäherungen aus der Zukunftsforschung . . . . . . . . . . . .

147

Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

Utopische Texte heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Christa Karpenstein-Eßbach Utopie in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johann Kreuzer Bloch-Lektüre heute

172

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Abschließende Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200

Utopie nach Bloch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Eric J. Hobsbawm Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt . .

210

Carolin Emcke Lesen, das einen zwingt innezuhalten

. . . . . . . . . . . . . . 215

Navid Kermani Bloch, gegen die Gegenwart gedacht

. . . . . . . . . . . . . . 220

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Autoren

225

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

6 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Vorwort

Die Zeit scheint reif, wieder über Utopien nachzudenken. Globalisierte Welt, wirtschaftliche Krisen und Gerechtigkeit sind die Stichworte, die unser Denken und Handeln herausfordern. Viele Theorien und Handlungsweisen sind in Frage gestellt. Demokratie und Sozialstaat sehen sich mit der Agenda einer gerechten Zukunftsgestaltung konfrontiert. Ähnliches gilt für die Ordnung der Wirtschafts- und Finanzsysteme, die sich längst in globalen Koordinaten bewegen, aber sich im Lokalen auswirken. So schnell die Krisen des modernen Kapitalismus zeitweilig abgemildert werden, so sichtbar bleibt das Vakuum von Konzeptionslosigkeit und fehlender Nachhaltigkeit. Die Frage ist, ob und wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Lage sind, der sich dramatisch ausdehnenden, wandelnden und beschleunigenden Welt die richtigen Mittel anzubieten. Wissenschaft, Wirtschaft und auch staatliche Institutionen bringen enorme Mittel für Forschung auf, um unsere Arbeits- und Lebenswelt zu erklären und zu verbessern. Aber sind wir auch für eine humane, global verständige Zukunft gewappnet? Stellen sich neben ökonomischen und politischen Absichten nicht zunehmend auch ethische, anthropologische, interkulturelle Fragen? Sind diese Fragen nicht auch schon gute Gründe für ein utopisches Denken, das Zeitkritik zur Sprache bringt und Denkwenden provoziert? Das vorliegende Buch macht Fragen dieser Art beispielhaft zum Thema. Die hier versammelten Reden und Aufsätze gehen auf das Zukunftssymposium »future:lab 2.0« zurück, das im Jahr 2010 unter dem Thema »NEUE UTOPIEN – Zeitkritik und Denkwende« im ErnstBloch-Zentrum in Ludwigshafen am Rhein abgehalten wurde. Das Buch ist jedoch mehr als die Dokumentation der Tagung, weil die Verschriftlichung der Vorträge schließlich unter dem Eindruck der anschließenden Diskussionen nach dem Dialog-Prinzip verfasst wurden. So konnten sich die Referenten auch als »exemplarisch Lernende« er7 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Vorwort

leben, in der Kenntnisnahme der Sicht der »anderen« Disziplin und auch der kritischen Rückmeldung eines anspruchsvollen Publikums. Das Symposium war also bereits ein guter, womöglich zukunftsweisender Austausch über eine immer mehr ins Bewusstsein kommende Utopiedebatte, die nicht mehr unter der Last eines pejorativen Utopiebegriffs geführt werden muss, sondern verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und gesellschaftliche Themenfelder sogar zusammenrücken lässt in dem Bemühen um Weitsicht, Klarsicht und Umsicht. Vielleicht ist das ein Schritt zu einer Kultur der Kooperation. Dass dies auch gelang, ist der so sachkundigen wie aufgelockerten Art der Gesamtmoderation von Hansjürgen Rosenbauer geschuldet. Dank ihm gerieten die Dialoge und die vielen Fragen und Äußerungen aus dem Publikum zu versierten – und hier teilweise abgedruckten – Beiträgen. Das Ergebnis ist ein, wie wir hoffen, gewinnbringender »Streit der Fakultäten«. Mit den Reden und Essays, mal im Vortrags-, mal im wissenschaftlichen Stil, befinden wir uns in der Jetztzeit des utopischen Diskurses, in der Gegenwart der Utopie. So exemplarisch die Beiträge das Thema »Utopie« nur abdecken können, so öffnen sie den Blick für ein Hereinspielen verschiedener Disziplinen von der Politischen Theorie und Philosophie über Ethik und Zukunftsforschung bis zum utopischen Roman. Das Literaturverzeichnis im Anhang spiegelt die von den Autorinnen und Autoren verwendeten Quellen wider und gibt der Utopiedebatte nützliche Hinweise auf klassische wie aktuelle Texte. Den Band runden ausgewählte Ernst-Bloch-Preisreden von Carolin Emcke, Eric J. Hobsbawm und Navid Kermani ab; deren Sichten auf den Philosophen der Hoffnung zielen in einer erfrischenden Weise auf unsere veraltete Lesart des Utopischen. Die Relevanz von »Utopie nach Bloch« wird zu unserer Eigenleistung im Heute. An dieser Stelle sei gedankt: den Unterstützern von »future:lab 2.0«, der BASF SE, der Metropolregion Rhein-Neckar e. V., dem Nationaltheater Mannheim, der Ernst-Bloch-Gesellschaft, außerdem der Stadt Ludwigshafen am Rhein und der Stiftung Ernst-Bloch-Zentrum. Der besondere Dank gebührt Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber. München und Ludwigshafen am Rhein, 1. Dezember 2010 Die Herausgeber Julian Nida-Rümelin Klaus Kufeld 8 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Zeit für Utopie Klaus Kufeld Nur noch die Utopien sind realistisch. Oskar Negt

So wie Philosophie – nach Hegel – ihre Zeit in Gedanken fasst, steht die Utopie für Kritik an ihr. Ob Klimakonferenzen und Hungergipfel, Stadtentwicklung und Sanierungsprojekte, allen ist die Beschäftigung mit Fragen der Zukunft zueigen, aber geht es dort auch um Utopie? Spielt Utopie eine Rolle, findet sie sich eingekreist von einer diffusen Begriffskultur zwischen Planung, Vision und Phantasie. Es ist nun, zwanzig Jahre nach der Wende, an der Zeit, dem Utopiebegriff sein eigentliches Anliegen zurückzugeben. Ausgehend von der Vorstellung, dass die »gute Zukunft« aus der Kritik am gegenwärtig Unzulänglichen kommt, gibt es einen Zusammenhang zwischen Analyse und Kritik der Vergangenheit bzw. Gegenwart und der Utopie. Aus dieser Spannung heraus wird die Utopie zum Movens für Zeitkritik und Denkwende, ohne dass sie sich im Irrealen verirrt. Mit dieser These verbindet sich der Versuch – und Anspruch! –, der Utopie zu ihrem Anrecht auf Gegenwartsfähigkeit zu verhelfen und sie in die heute wieder aufkeimende Gesellschaftskritik einzuordnen.

I.

Zeitkritik

Der sprichwörtliche schlechte Ruf von »Utopie« hat mehrere Gründe, die zugleich von ihrem Wesen ablenken. Der erste Grund liegt im Begriff selbst. Die (Kunst-)Wortschöpfung »Utopia« von Thomas Morus 1 hat sich semantisch vollständig verselbständigt. Der Begriff, wörtlich mit »Nicht-Ort« und »Nirgends« 2 übersetzt, legt ab ovo die falsche Spur der Nichterreichbarkeit Thomas Morus, Utopia, in: Der utopische Staat, übersetzt und hg. v. Klaus J. Heinisch, Reinbek bei Hamburg 1993 [1517], 7–110. 2 Altgriechisch U-Tópos = oú (nicht) und tpo@ (Ort). 1

9 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Klaus Kufeld

oder macht seinen Inhalt ausgedacht und allbeliebig. In den frühen Staatsromanen und Gesellschaftsentwürfen von Morus, Campanella und Bacon setzte sich nicht die darin enthaltene Kritik durch, sondern die Macht der erzeugten utopischen Bilder überschattete die Motive. Dem Utopischen in »Utopia«, im »Gottesstaat« und in »Nova Atlantis« wurden die ihnen zugrunde gelegten Ideen (z. B. gerechte Verteilung der Güter, Selbstbestimmung über den technischen Fortschritt etc.) geopfert. Auch die neuzeitlichen Utopien wie das »Kommunistische Manifest« und Dystopien wie »1984« und »Schöne neue Welt« erzeugten angreifbare Bilder auf Kosten der Idee (z. B. Abschaffung des entfremdeten Menschen). Die in den utopischen Entwürfen angelegte Sprengkraft löste alles andere aus als den Ideen entsprechende Revolutionen und führte zu Implosionen des Denkens. Die Idealisierung und Perfektionierung von Freiheits- und Gleichheitsgrundsätzen hatte die Pervertierung und nachhaltige Diskreditierung der Utopie zur Folge. Die Macht der utopischen Bilder tilgte Kritik. Der zweite Grund für den schlechten Ruf von »Utopie« liegt in ihrer örtlichen oder zeitlichen Entgrenzung, mit all den Folgen einer uneindeutigen Begriffssemantik. Die Geschichte der Utopie seit der Renaissance zeigt, dass die Menschen ihre utopischen Vorstellungen durchgängig an einen anderen Ort, in eine andere Zeit oder gar in eine andere Welt verlegt haben. 3 Orts- und zeitversetzte Ferne katapultiert die Utopie ins Reich des Irrealen. Neue, in ausgedachten Modellwelten eingerichtete Gesellschaftsbilder führten zur Entfremdung von der Gegenwart. Die frühen Utopien sind dem Genre des Staatsromans zugeordnet und dem Verdacht auf Fiktivität ausgeliefert, bis heute. Solcherart abstrakte Utopie »ist an sich nichts als ein Wunschtraumgebilde […], ohne Bedürfnis [es] zu prüfen auf [seine] reale Gültigkeit, auf [seine] Vermittlung mit der Realität.« 4 Ernst Bloch hat als Erster darauf hingewiesen, dass ein Bogen geschlagen werden muss »zwischen dem wissenschaftlich und philosophisch geläuterten, geprüften Begriff der Utopie (die völlig aufhört, ein Schimpfwort zu sein, vielmehr als Erkenntnisart sachhaft-mögliche Antizipation darstellt) und dem dialektisch-materiellen Substrat alles Werdens und

Vgl. die Synopsen in: Marvin Chlada, Der Wille zur Utopie, Aschaffenburg 2004. Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, GA Bd. 15, Frankfurt/Main 1975, 277. 3 4

10 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Zeit für Utopie

Geschehens«.5 Doch auch an seinem Scharnierbegriff der »konkreten Utopie« haftet eine Ambivalenz, mit der »als positiv empfundene[n] Eigenschaft ›konkret‹ […] die Utopie sterben zu lassen«. 6 Das Dilemma, dass Utopie nicht wirklich konkret und Konkretion nicht wirklich utopisch werden kann, versuchte Bloch in der Beziehung zwischen Hoffen und Scheitern (»Trauerfloroptimismus« 7 ) zu überbrücken. Ähnlich widersprüchliche Immanenz trägt der Foucault’sche Begriff der »Heterotopie« 8 , mit dem Gegenräume, Alternativorte, lokalisierbare Utopien, andere Orte wie Schiffe, Museen, Theater bezeichnet sind, er trägt die utopische Energie der Beunruhigung, wenn auch nicht notwendigerweise die der Veränderung. In der heutigen Utopieforschung wird gerne ein wissenschaftlich fundierter von einem anthropologisch hergeleiteten Utopiebegriff unterschieden 9 , um die (politische) Utopie von dem Makel zu befreien, »Hilfsdisziplin anderer Fächer« 10 zu sein. Seine Verwissenschaftlichung macht ihn dann griffiger (etwa über Typologisierung und Kriterienbildung 11 ), aber womöglich zu dem Preis, das »Wesen der Utopie«, Ebd., 278. Jan Robert Bloch, Das Auftauchen an einem anderen Ort. Zu den Wegen im »Prinzip Hoffnung«, in: Bloch-Almanach, Folge 28/2009, Hg. von Klaus Kufeld, Talheimer Verlag, Mössingen-Talheim 2009, 71. 7 Ernst Bloch, Experimentum Mundi, 1975, 297. 8 Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt/Main 2005. – Schon sehr früh, wenn auch noch sehr beiläufig, hat Foucault zwischen Utopie und Heterotopie unterschieden: »Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum … […] Die Heterotopien beunruhigen […].« (Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen, Frankfurt/ Main 1974, 20). 9 Für die Utopiegeschichte siehe beispielhaft: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bde. I–III, Stuttgart 1982, und Richard Saage, Utopische Profile, Bde. I bis IV, Münster 2001, 2002, 2003; Ders., Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997. Einen aktuellen und interdisziplinär angelegten Überblick bietet: Beat Sitter-Liver (Hg.), Utopie heute I und II. Zur aktuellen Bedeutung, Funktion und Kritik des utopischen Denkens und Vorstellens, 2 Bde., Stuttgart 2007. 10 Andreas Heyer, Brauchen die politischen Wissenschaften einen Begriff der Utopie? Mit Überlegungen zum Stellenwert der politischen Theorie und Ideengeschichte. Nachwort, in: Richard Saage (Hg.), Utopisches Denken im historischen Prozess. Materialien zur Utopieforschung, Berlin 2006, 245. 11 Ebd., 248 ff. 5 6

11 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Klaus Kufeld

die »Sehnsucht nach dem Anderen« (Max Horkheimer) zu verfehlen, wie Marvin Chlada zu Recht anmerkt. 12 Der neuere »Utopiestreit« ist vermutlich am besten in der »Fünften Diskussionseinheit« in der Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik kontrastiert, die der Utopieforscher Richard Saage initiiert hatte. 13 Auch wenn man sich dort mit Norbert Elias auf eine Rehabilitation des klassischen Utopiebegriffs zu verständigen versuchte, wonach »sich alle Utopien als Furcht- oder Wunschgebilde auf akute Konflikte der Ursprungsgesellschaft beziehen« 14 , war der Streit zwischen einem klassischen und einem erweiterten Utopiebegriff zwar entbrannt, aber noch lange nicht ausgefochten. Barbara Holland-Cunz bringt dies in der Unterscheidung zwischen der »Thomas-Morus-Weise« und der »ErnstBloch-Weise« auf den Punkt. 15 Erstere steht für Typologisierung, Letztere für die Anthropologisierung der Utopie, Systemoffenheit, für das »Existential«. 16 Keineswegs ist, wie die Kritiker dieser Auffassung meinen, der erweiterte Utopiebegriff zu einer »analytischen Residualgröße regrediert« (Saage) oder gar zu einem »Allerweltsbegriff« (Heyer) 17 zurückgestuft, sondern mit der Anreicherung um die »Kategorie Möglichkeit« 18 realitätsbezogen und im Übrigen dann erst relevant für alle Fakultäten der Human- und Naturwissenschaften, also keineswegs nur der Geistes- und Sozialwissenschaften. Während sich die klassische Utopieforschung noch hauptsächlich mit fiktiven, »ausgefeilte[n] Elaborat[en]« (Sitter-Liver) in Literatur und Staatsroman beschäftigte, sind es heute – stellvertretend für die Kreativenergie der Zivilgesellschaft – auch und gerade die Künste (Bildende Kunst, Belletristik, Musik, Performancekunst), die utopische Potenziale ansprechen. 19 Die Chlada, Der Wille zur Utopie, 2004, 11. Erwägen Wissen Ethik (vorm. Ethik und Sozialwissenschaften EuS – Streitforum für Erwägungskultur), Jg. 16/2005, Heft 3, 291–355. 14 Ebd., 291. Zuerst: Norbert Elias, Thomas Morus’ Staatskritik. Mit Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung, Bd. II, 1982. 15 Barbara Holland-Cunz, Bloch versus Morus – eine Diskurs-Konstruktion der Utopieforschung, in: EWE 2005. 16 Sitter-Liver 2007, XV (Einleitung). 17 Heyer 2006, 250. 18 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt/Main 1959, 258 ff. 19 (1) Beispiele in der Kunst: Das Prinzip Hoffnung. Aspekte der Utopie in der Kunst des 20. Jahrhunderts, 1983/84 Katalog des Museums Bochum. – Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag, (Ausstellungskatalog des Wilhelm-Hack12 13

12 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Zeit für Utopie

klassische Utopietradition ist jedenfalls seit Blochs Epoche machendem Werk Geist der Utopie aus dem Jahr 1918 20 weit zurückgelassen, weil dort »auch Kunst und Literatur ungleich stärker von den dort umkreisten Möglichkeiten menschlichen Wünschens und Hoffens angeregt und beeinflusst worden sind«. 21 Ein so verfasstes Denken und Handeln begreift Utopie als performative Energie und Sprengkraft 22 , und erst mit ihrer Erdung wird sie zum Potenzial der Veränderung und letztlich zum politischen Faktor. Die Utopie erfährt ihre »kopernikanische Wende« (Bloch, zit. nach Saage) 23 und wird »gesellschaftsfähig« konkret, weil sie den eingreifenden Menschen braucht: »Das Eingreifen ist […] das Vermögen des Veränderns, die Potenz, also der subjektive Faktor; das helfend Entgegenkommende ist die objektiv-reale Möglichkeit des Veränderbaren, die Potentialität, also der objektive Faktor.« 24 Wir überwinden die »extreme pejorative Semantik« (Saage) 25 , die Museums Ludwigshafen a. Rh.), Hg. von Richard W. Gassen und Bernhard Holeczek, Heidelberg 1985. – Utopien heute? Zukunftsszenarien für Künste und Gesellschaft, Hg. von Volker Hörner und Klaus Kufeld, mit Zeichnungen von Alfred Hrdlicka aus dem Zyklus »Die große Französische Revolution«, Heidelberg 2001. Und: Utopien heute? Kunst zwischen Vision und Alltag (Ausstellungskatalog des Wilhelm-Hack-Museums Ludwigshafen a. Rh.), Hg. von Richard W. Gassen, Ludwigshafen a. Rh., 2001. (2) Beispiele in der Literatur: Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten, Frankfurt/Main 2010; Juli Zeh, Corpus delicti. Ein Prozess, Frankfurt/Main 2009, sowie die von Christa Karpenstein-Eßbach in diesem Band aufgeführten Romane von Udo Rabsch und Christian Kracht. (3) Beispiel aus der Performance-Kunst: Reichtagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995. 20 Ernst Bloch: Geist der Utopie. GA Bd. 3 (2. Fassung), Frankfurt/Main, 1964. Siehe besonders das Kap. »Philosophie der Musik«, 49 ff. 21 Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel, Utopie und Apokalypse – Meisterzählungen der Moderne?, in: Dies. (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne, München, 2010, 9. 22 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1985, Gustav Landauer, Revolution, Berlin 1974. 23 Richard Saage, Utopieforschung, 1997, 159. 24 Ernst Bloch, Experimentum Mundi, 1975, 139. 25 Richard Saage, Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff, in: EWE 2005, 291. Saage bleibt konsequent bei seiner Einschätzung der »Ausuferung des Utopiebegriffs auf Kosten seiner analytischen Trennschärfe« (Richard Saage, Zur Differenz und Konvergenz von Utopie und Apokalypse. Von Gustav Landauer zu Franz Werfel und Oskar Maria Graf, in: Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne, München, 2010, 22). Auch Martin d’Idler spricht von einem »ausufernde[n] Utopiebegriff Blochs« (Die Modernisierung der Utopie. Vom Wandel des Neuen Menschen in der politischen Utopie der Neuzeit, Berlin 2007, 37).

13 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Klaus Kufeld

den Utopiebegriff umgibt, nicht, wenn man ihn der »Verallerweltlichung« (Heyer) bezichtigt. Er ist im Alltagsgebrauch nicht deshalb verschliffen und in seinem semantischen Sinn ins Gegenteil verdreht, weil man ihn anthropologisiert auffasst, sondern weil man es versäumt hat, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dafür ist er ins »Arsenal entehrter Begriffe« geraten, wie Max Horkheimer das ausdrücken würde. 26 Enttäuschte, ja gescheiterte Realutopien lassen seine Konjunktur von je her gedämpft erscheinen, für die einen in Desillusionierung, für die anderen im Pyrrhussieg. Für eine lange Weile bleibt der klare Blick auf die Zeitkritik verstellt. Jedoch beweist schon Morus Bodenständigkeit, wenn wir sein »Utopia« – was oft vergessen wird – als eine Gesellschaftssatire lesen (Kritik der Aristokratie Heinrichs VIII.), mit dem Possenreißer Hythlodeus als Hauptperson und eben nicht (zumindest nicht nur) für bare Münze genommene Idealstaatsvision oder gar existentialistisches Endzeitszenario. Vor der Wende 1989/1990 war der Utopiebegriff stark ideologisiert und gerne synonym gesetzt mit Sozialismus, »diese[m] verblassten und verwitterten Wort […]. Allerdings konnte der Sozialismus genau das nie sein: eine Utopie.« 27 Die Wende selbst war vielen willkommener Anlass, um das »Ende der Utopie« 28 schlechthin zu erklären, aufzufassen als finaler Totschlag der Utopie, weil sich das System Sozialismus in ein »Selbstmatt« hineingewirtschaftet hat. Ein Verdacht kommt auf, dass Joachim Fest sein Urteil schon lange in der Schublade aufbewahrte, sein Manuskript eine self-fulfilling prophecy. Die Synonymisierung von Sozialismus und Utopie bedeutete den Utopieverlust schlechthin, unterstützt von polemischer Geißelung. Das Feuilleton sprach von »Utopien, das alte Lieblingsspielzeug der Intellektuellen«, die »sang- und klanglos in der Abstellkammer des Weltgeistes [verrosteten]«. 29 Und als der über den Realsozialismus obsiegt Max Horkheimer, zit. nach Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, 524 und 543. 27 Mercedes Bunz, Die Utopie der Kopie, in: Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts, hg. von Rudolf Maresch und Florian Rötzer, Frankfurt/Main 2004, 156 f. 28 Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991. Und: Jean Baudrillard, Weder Zukunft noch Ende – Die Reversion der Geschichte, in: Rudolf Maresch (Hg.), Zukunft oder Ende. Standpunkte oder Analysen, Entwürfe, München 1993. 29 Thomas Assheuer, Wer hat Angst vor der Utopie?, in: Die Zeit, 50/2002. 26

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Zeit für Utopie

habende selbstregulative Kapitalismus lange Zeit seine Weltregie selbstherrlich (weil ohne Geschäftspartner auf Augenhöhe) führte, musste der Kampf um Gerechtigkeit und Menschlichkeit im »utopischen Vakuum« geführt werden. Erst als es zur dramatischen Weltfinanzkrise 2008/2009 kam, witterte die Kapitalismuskritik Morgenluft (z. B. bei Alain Badiou, Slavoj Zˇizˇek) 30 , was ihr prompt als auferstandene »Propaganda für den Kommunismus«31 umgedeutet wurde. Für die einen »[kann] ein Schuss Kommunismus dem Kapitalismus nicht schaden« (Zˇizˇek), für die anderen sollte man »dem Kapitalismus endlich Manieren beibringen und es mit dem liberalen Altmenschen noch einmal versuchen« (Assheuer). Jedenfalls scheint es nicht zu genügen, auf vorhandene Utopien zu verweisen 32 , wenn das Vakuum, das »utopische Theorie« erzeugt, nicht auch mit »utopischem Inhalt« gefüllt wird. Immerhin entstand zwischen der Wende und heute eine verhalten, das heißt auch seriös geführte Utopiedebatte, denn »Utopie, das [kann] eben auch Befreiung von Ballast sein, die Möglichkeit, in Katastrophen Aufbruchsmöglichkeiten zu sehen.« 33 Und diese Debatte ist abnehmend ideengeschichtlich relevant und zunehmend gegenwarts- und handlungsorientiert. Das Hand-in-Hand von Utopie und Kritik treibt die Gegenwart nach vorn. 34 Martin Seel macht einen bemerkenswerten Vorschlag zur Verechtzeitlichung der Utopie. In seinen »Drei Regeln für Utopisten« bindet er die Utopie auf die Gegenwart zurück in der Vermittlung mit der Kategorie Möglichkeit, philosophisch ganz mit Bloch, faktisch jedoch ohne ihn: »Utopien sind unmögliche Möglichkeiten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen.« 35 Seel erlegt der Utopie »Regeln« auf, spricht von deren »Denkbarkeit«, »Erfüllbarkeit« und sogar »Erreichbarkeit«. 36 Die »realistische«, Slavoj Zˇizˇek, Auf verlorenem Posten, Aus dem Engl. v. Frank Born, Frankfurt/Main 2009. 31 Thomas Assheuer, Vorwärts, Genossen!, in: Die Zeit, 25/2010. 32 Vgl. Thomas Assheuer, 2002. 33 Florian Rötzer, In Parasitopia, in: Renaissance der Utopie. 2004, 173. 34 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Hubert Christian Ehalt / Wilhelm Hopf / Konrad Paul Liessmann (Hg.): Kritik & Utopie. Positionen und Perspektiven, Wien 2009. 35 Martin Seel, Drei Regeln für Utopisten, in: Merkur, Heft 9/10, Sept./Okt. 2001. Die Position ist deshalb so interessant, weil sie von einem »Anti-Utopiker« (Karl-Heinz Bohrer, in: ebd., Vorwort) stammt. 36 Ebd., 748, 749 f. bzw. 752 f. 30

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antidogmatische Komponente des Utopischen besteht darin: »Wir müssen nicht nur wünschen, sondern wollen können, in dem utopischen Zustand zu sein.« 37 Ein derart »verhalten utopische[s] Denken« 38 erlaubt eine Säkularisierung des Utopiebegriffs, um von den via Ideologie heilig gewordenen Idealen endgültig Abschied zu nehmen, die – wir wissen das spätestens seit Stalin – Mentalitäten der Planwirtschaft hervorgebracht haben. Der freiheitliche, aufgeklärte Mensch heute kann sich in den perfektionistisch durchregularisierten Systemen seit Morus nicht mehr wiederfinden. Im Gegenteil: Die digitale und Internetwelt hat praktizierbare Utopien in Echtzeit geschaffen, die diversifizierte »Cyberworld« verspricht neue utopische Räume, die den Menschen in der Zeitmaschine mitnehmen, gesteuert und zugleich selbst am Steuer. Die »Realität« dieser Utopien verführt in Wunschwelten subjektiver Betroffenheiten. Der Utopiebegriff hat es dann wieder schwerer, soziologisch wirksam zu werden. Er wird konkret erst wieder dann, wenn wir ihn an die Wirklichkeit knüpfen, wenn wir uns die Seel’sche »Erreichbarbeit« der Utopie als »verwirklichte Utopie« 39 vorstellen können, womöglich als »utopische Heterotopie« nach Foucault’scher Denkart, wo wir »beunruhigt« sind, aber uns wieder ganz als Menschen fühlen dürfen.

II.

Denkwende

Die sich globalisierende Welt im digitalen Zeitalter zeitigt eine Wende, in der nichts zu bleiben scheint, wie es war. Der Umbruch kommt für die Menschen unvorbereitet: ungebremster Fortschritt hier, »rasender Stillstand« (Paul Virilio) da. Aber: Diese Zeitwenden erzeugen Denkwenden, und Denkwenden zeigen moralische Wenden an. 40 In ihnen steckt das utopische Potenzial der Neuorientierung. Die angewandten Wissenschaften sind wieder gefragt. Die heutigen globalen Probleme können mit dem alten Denken der »zwei Kulturen«, also dem ParallelEbd., 749. Seel bezieht sich auf John Rawls’ The Law of Peoples, ebd., 752. 39 Vgl. María do Mar Castro Varela, Unzeitgemäße Utopien. Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung, Bielefeld 2007, 56 ff. 40 Vgl. Renate Reschke (Hg.): Zeitenwende – Wertewende, Berlin 2001. 37 38

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wirken (oder gar des Gegeneinanders) von Natur- und Geisteswissenschaft, nicht mehr bewältigt werden. Wolf Lepenies zeigt – schon 1985 – am Beispiel von H. G. Wells, dass schon früh »der utopische Roman als Soziologie-Ersatz« 41 galt mit dem Ziel, »ein Genre zu finden, das wissenschaftliche Fachdebatten und phantasievolle Erzählungen miteinander verknüpfte«. 42 War die Sozialwissenschaft lange Zeit – als »dritte Kultur« – »unübersehbar im Hintergrund« 43 , sehen wir sie heute, in der Zeit globaler, unübersichtlich gewordener Krisen, in gleichwertigerer Rolle und – im Zusammenspiel mit der Philosophie (resp. Ethik) – sogar in der Rolle des utopischen Korrektivs. Und genau an dieser Stelle kann die Utopie die Haut, nur »Hilfswissenschaft« zu sein, abstreifen. Der Veränderungsdruck ist auch zu groß geworden. Die klassischen Wissenschaften bedürfen »ordnungspolitischer« Auflagen, denn die ungebremste Spezialisierung der Fachwissenschaften muss zunehmend auch übergeordneten, z. B. verantwortungsethischen oder interkulturell verträglichen Maßgaben Stand halten. Nehmen wir das aktuelle Beispiel Weltklima, wo der geradezu phyloexistentielle Veränderungsbedarf auf der Hand liegt. Viele Wissenschaftsdisziplinen von der Meteorologie über die Ökonomie bis zur Sozialwissenschaft spielen da herein und zusammen. Der Schaden der Ozonlöcher zeigt – von einer Weltkonferenz zur andern – die Folgen der Utopieblindheit – als Planungsvakuum. Was Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten wissen, fügt sich nicht in verantwortliches politisches und ökonomisches Handeln ein. Philosophen sind auf Weltgipfeln nicht willkommen. Statt derer hätschelt die »Politik der langen Bank« die Vertreter von Interessen auf den Logenplätzen vor der Weltbühne, sodass es stets ein Leichtes bleibt, auf der Hand liegende Utopien zu diffamieren. Die Beziehung zwischen Politik und Moral ist tangiert, aber ausgeblendet. Ohne direkt auf Utopie zu sprechen zu kommen, gibt es bei Hannah Arendt einen Hinweis zur »Unabsehbarkeit der Taten« und zur »Macht des Versprechens«, um »das Zukünftige zu sichern«. 44 Der Moralanspruch trifft auch auf das utopische Handeln zu: 41 Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München/Wien 1985, 171 ff. 42 Ebd., 174. 43 Ebd., 188. 44 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2002 [1958], 311.

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»Die Versprechen [werfen] gewisse, genau abgegrenzte Inseln des Voraussehbaren, wie Wegweiser in ein noch unbekanntes und unbegangenes Gebiet.« 45 Dafür müsse man »mit der Zukunft so […] schalten und so über sie […] disponieren, als wäre sie eine Gegenwart«. 46 Wird vor dieser Aussage gerade die konzeptionelle Utopie zu einem Versprechen, das sich bereits in der Gegenwart einzulösen hätte, nämlich mit pragmatischen Schritten? Am Umgang mit der Utopie lässt sich gut ablesen, wie ernst man die Probleme nimmt, die sie aufwirft, wenn man sie als Maßstab für unseren Umgang mit der Welt sieht. 47 Das moralische Versprechen an die Zukunft betrifft unsere Verantwortung im Heute. Hannah Arendts »Vita activa« ist einer Politik des moralischen Handelns verpflichtet und hier kann der Bogen bis in die Antike zurückgespannt werden. Platons Utopie der Polis fußt in der politischen Ethik, wo sich »utopische Kritik« und Gegenwartsanalyse schon ganz nahe kommen. Es ist – auch aus heutiger Sicht – das große Verdienst der Politeia 48 , dass sie diskursiv bzw. dialogisch verfasst war und nicht mit Bildern befangen. Hier wird Utopie erstmals als Ethik der Gerechtigkeit aufgebaut und wird in der Kritik explizit, sie bleibt auf dem empirischen Boden der Tatsachen – und ihr Fallibilitätsrisiko sinkt. »Utopien lassen sich Zeit. Ganz im Gegenteil zu ihrem visionären Ruf sind sie zu fest mit der Gegenwart vertäut, zu tief an ihre Struktur gebunden, als dass sie sich drängen lassen würden. Sie lassen sich nicht entwerfen.« 49 Dieses Statement von Mercedes Bunz ist radikal gedacht, aber dann als konsequenter Gedanke identifizierbar, weil die Utopie notwendigerweise zu einer Angelegenheit der Gegenwart wird, wenn sie den handelnden Menschen einbezieht. Denn Utopien werden nicht gedacht, sondern betrieben. Gleichzeitig erlaubt sich hier die fundierte AbgrenEbd., 312 f. Ebd., 313 f 47 Ich habe an anderer Stelle – am Beispiel der Reise, abgegrenzt vom Tourismus – darauf hingewiesen, dass die pragmatische Utopie ein ethisch aufgeladenes Handlungsparadigma berührt. Vgl. Klaus Kufeld, Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, München 2010. Bezogen etwa auf die Wirtschaftspolitik könnten ein selbstregulatives und ein qualitatives Ökonomieverständnis kontrastiert werden. 48 Platon, Der Staat, Deutsch v. August Horneffer, eingeleitet v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1973. 49 Bunz 2004, 156. 45 46

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zung von den Utopismen, die Idealzustände und Fiktionen elaborieren. Weder der Staatsroman, noch die Science Fiction dürfen beim Wort genommen werden. Dies weiter gedacht ist »[Utopie] nicht auf Zukunft gerichtet. Utopie existiert ausschließlich, um die Gegenwart in Schach zu halten, um sie durcheinander zu bringen.« 50 Utopien erzeugen Denkwenden, die an der (Gesellschafts-)Kritik ansetzen. Sie befreien sich von der Hypothek der Ideologie, müssen reif werden für den wissenschaftlichen Diskurs, verfangen sich nicht mehr nach Belieben in ideologische, politische und interessenbedingte Wertungsfragen. Denkwenden zeigen auch an, dass der Utopiebegriff Konjunktur hat. Gute Zeiten sind schlechte Zeiten für Utopie. Es ist die Chance der Baisse wirtschaftlicher oder politischer Krisen, dass sie zum Handeln zwingen. Ökonomie wird zur reformfähigen Krisenökonomie 51 , Demokratie als Staatsform wird zur Bühne der gemeinsamen Sache 52, auf Eigentum beruhender Profit und Erfolg werden zu sich selbst regierendem öffentlichem Glück. 53 So wie fundierte Hoffnung durch Schaden eben nicht klug werden wird, weil »sie doch das Wesenhafte der Sache [bereits enthält]« 54 , »lernt« auch das utopische Denken, Denkwenden, Umbrüche hin zum Besseren, aus der Zeitkritik im Kontext der Gesamtgesellschaft zu begreifen. Wir lesen die Konjunktur des Utopischen ab, wenn wir die jüngste Geschichte der vergangenen dreißig Jahre im Zeitraffer beleuchten; die Jahre 1980, 1990 und 2010 lassen Zusammenhänge zwischen dem jeweils herrschenden Zeitgeist und dessen Perspektive auf Utopien erkennen. – Im Jahr 1980 spielt der real-existierende Sozialismus noch seine weltpolitische Rolle. – Utopien sind mit dem ideologischen Netzwerk kommunistischer Staatsmodelle verstrickt. Ebd., 157 f. Vgl. z. B. Nouriel Roubini / Stephen Mihm, Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Crisis Economics, Frankfurt/Main/New York 2010, 357. 52 »Stuttgart 21« ist das treffsichere Beispiel für eine uneingelöste Utopie der Zivilgesellschaft. 53 Vgl. z. B. Michael Hardt / Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt/Main/New York 2010, 383 ff. 54 Ernst Bloch, Kann Hoffnung enttäuscht werden? in: Ders., Literarische Aufsätze, GA Bd. 9, Frankfurt/Main 1965, 389. Siehe einschlägig die Beiträge im Bloch-Jahrbuch 1997: Kann Hoffnung enttäuscht werden?, Hg. von Francesca Vidal, Mössingen-Talheim 1997. 50 51

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– Im Jahr 1990 sorgt der Zusammenbruch der Sowjetunion für eine historische Zäsur mit Auswirkungen auf die Weltordnung. – Utopien befinden sich im freien Fall der Entwertung. – Im Jahr 2010 erleben wir das unlegitimierte Inkrafttreten des libertären Kapitalismus, zum Beispiel in Finanzkrisen mit Weltwirkung. – Utopien stehen wieder für Korrektive, erleben eine diskursive Renaissance. Im Zeitraffer widerspiegelt sich die beschleunigte Ära. Im Dekadenabstand hatten sich nationale bzw. lokale Politikweisen auf neue Koordinaten im Weltmaßstab ein- und umzustellen. Die Dominanz des Ökonomischen sorgt für sozialpolitische Hängepartien mit Patt-Risiko. Gleichzeitig akzeleriert der West-Ost-Wettlauf um neue »Pole Positions«, nur dass die Pole dieser Entwicklung nicht mehr bilateral USASowjetunion, sondern global USA-China-Europa heißen, der große schwarze Kontinent mit den allergrößten sozialen Problemen wie eh und je im weltpolitischen Abseits. 55 Der Wandel zeigt, dass es einen inneren Kern im Utopiebegriff geben muss (Bloch nennt das »Invariante der Richtung« 56 ), der ihn vor »Verallerweltlichung« schützt und ihn stabilisiert, vielleicht sogar krisenfester macht. Dieser Kern betrifft die Gegenwart der Utopie, nämlich dass sie gar »nicht auf Zukunft gerichtet« (M. Bunz) ist, sondern zeitkritisch am Zustand einer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft, ihrem Gemeinwesen, ihrer Politik, ansetzt, um den »kritischen« Zustand zu beleuchten und schließlich zu verbessern. Nicht die »BilderUtopie« wird auf Realität rückbezogen und dann – ideologisch aufgeladen – interpretiert, sondern die Realität wird zum Ausgangspunkt für utopisches Denken. Zugleich wird »der Utopieüberschuss von Konzepten [von Summerhill bis zur Odenwaldschule]«, wie Michael Daxner sagt, »die vor der Wirklichkeit nicht standhielten«, bereinigt in der Einsicht, »dass sich ›Natürlichkeit‹ und Freiheit in geschlossenen Gesellschaften, genauer: gesellschaftlichen Gruppen und Lagern, nicht

Vgl. Claus Leggewie, Afrika. Vom Nicht-Ort der Welt zum Kontinent der Zukunft, in: Renaissance der Utopie, 2004, 47 f. 56 Vgl. Klaus Kufeld, Invariante der Richtung. 50 Jahre Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, in: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Band 5: Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Günter, Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner, edition text + kritik, München 2009. 55

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verwirklichen ließen«. 57 Diese Rückbindung aufs Gegenwärtige gibt der Utopie ein Fundament und macht sie zugleich lösungsoffen. Volker Braun exemplifiziert diese Denkhaltung: In einem Notat am 23. August 1979, lange vor der Wende, als der Ausgang einer Staatsutopie auf deutschem Boden noch mit fadenscheinigen Hoffnungen genährt war, schreibt er: »das denken und handeln heute ist die wahre zukunftsvision. unser utopia ist der realismus.« 58 Über dreißig Jahre später sagt er in der »Zukunftsrede 2010«: »Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen. […] Wir sind in dem Raum (Die Werkstatt der Zukunft, K. K.), wo die Interessen am Werk sind, das grobe und feine Zeug, woraus Zukunft gemacht wird. Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt. Die Gegenwart zeichnet dafür: verantwortlich, in Stuttgart und Gorleben und.« 59 Das utopische Denken können wir schon in einer Art Trockenübung schulen. Und wieder lohnt der Rückgriff auf Platons Politeia, in der von »besonnenen«, »wohlberatenen« Menschen die Rede ist, die sich die »Fähigkeit zu leiten« (im Sinne von gerechtem Handeln) erst noch zu erarbeiten haben. 60 Die Ziele im utopischen Denken sollen nicht an bilderhaften Idealen ausgerichtet sein, aber Werte, die die Menschheit insgesamt betreffen, das gesunde Weltklima oder der »Ewige Frieden« (Kant) können, Hans-Georg Gadamer folgend, als dialektische Metaphern des Idealen angesehen werden. Die Werte der Conditio humana brauchen den Willen zur Utopie. 61 Zur Praxis wird die »Trockenübung« allerdings erst im politischen Menschen. Oskar Negt zeigt, wie »der politische Mensch«62 gestaltet werden muss, um die Anforderungen der Utopie (der Demokratie) überhaupt zu erfüllen. Negt mahnt die Konzeptionslosigkeit der Regierungen an, 57 Michael Daxner, Ich erinnere mich an mich, Bloch lernend, in: Bloch-Jahrbuch 2010: Experiment Welt, hg. von Francesca Vidal, Mössingen-Talheim 2010, 25. 58 Volker Braun, Werktage 1. Arbeitsbuch 1977–1989, Frankfurt/Main 2009, 223. 59 Volker Braun, Die Zukunftsrede 2010, gehalten im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen a. Rh., 3. November 2010 (unveröff. MS); in Auszügen veröffentlicht unter dem Titel »Die größere Lust sparen dem Enkel wir auf«, in: Süddeutsche Zeitung, 29. November 2010. Sie erscheint im Bloch-Almanach 30/2011. 60 Platon, Der Staat, 1973, 123 f. 61 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959, 227. 62 Oskar Negt, Der politische Mensch, 2010.

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die »Realitätslosigkeit der Realpolitiker« 63 , das heißt den Mangel an systemisch langfristigem und über die Generationen vorausgedachtem politischen Handeln. Dieser Mangel ist eine der Hypotheken, die auch die notwendigen Utopien aushebeln. »Politische Menschen« sind aber alle. Allen muss daran gelegen sein, an einer besseren Welt mitzuarbeiten, anstatt sie nur einzufordern. Der wahre Wert der Werte sind Betroffenheitswerte, die sich nicht an kalten Faktoren wie Wachstum, Profit, Eigentum, Quote, Erfolg u. Ä. bemessen, die im ideologischen Raum schöngeredet werden, sondern Werte, die sich in der Befindlichkeit der Menschen als utopische erweisen. Ausgerechnet die große Liberale Marion Gräfin Dönhoff zeigt einen Weg der Moral, indem sie der »entehrten« Tradition Sozialismus ihre Würde zurückgibt und schreibt: »Gewiß, als wirtschaftliches System ist der Sozialismus im Wettstreit mit der Marktwirtschaft gescheitert, aber als Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale: soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit für die Unterdrückten, Hilfe für die Schwachen, ist er unvergänglich.« 64 Wenn Oskar Negt in seiner Diagnose des »politischen Menschen« zu der finalen Aussage kommt, »nur noch die Utopien sind realistisch« 65 , dann klingt das wie verzweifelte Hoffnung in der ambivalenten Geschichte, die von Errungenschaften ebenso geprägt ist wie vom Scheitern. Gemeint ist wohl ein in einer dramatischen globalen Zeitwende entstandenes Vakuum, in dem die Technik den Menschen zum Miteilen zwingt. In diesem Sinne betrifft Zeitkritik Gegenwartspolitik, die den Einzelnen in die Verantwortung einschließt und mitnimmt. Deshalb betrifft die realistische Utopie unsere Kultur, unsere Fähigkeit zur Kooperation 66 , unsere Bildung, unsere interkulturelle Kompetenz. Die Utopie fängt vor der eigenen Haustür an. 67

Ebd., 488. Gräfin Dönhoff, Marion, zit. nach ebd., 541. 65 Oskar Negt, Der politische Mensch, 2010, 560. 66 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Demokratie als Kooperation, Frankfurt/Main 1999. 67 Zur Abgrenzung von Verantwortung und »Privatutopien« siehe Claus Offe, Nach dem »Ende der Utopie« – Zivilgesellschaft als Fortschrittsidee? Metamorphosen des utopischen Denkens, in: Jörn Rüsen / Michael Fehr / Annelie Ramsbrock (Hg.), Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004. 63 64

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III. Die Utopie des öffentlichen Glücks Die frühen Utopien waren örtlich oder zeitlich entgrenzt und so weit abseits der Realität angesiedelt, dass es unmöglich war, ohne Phantasie »Kontakt« mit ihnen herzustellen. »Sie haben die Komplexität der sozialen Evolution und die Widersprüche der menschlichen Natur nicht in Rechnung gezogen, sie in ein simples Schwarz-Weiß-Schema getaucht und so zu spektakulären Verfehlungen geführt.« 68 »Um sich nicht in den alten Fallstricken zu verheddern, sollten neue Utopien daher unmittelbar ansprechen. Sie sollten Namen, Orte und Adressen mitliefern«, sie sollten »erreichbar« sein. 69 Ausgerechnet der Forscher Francis Heylighen, der sich mit den Funktionen und Wirkungen des »globalen Gehirns« beschäftigt, bei dem es sich in Form von Computern, Datenbanken und Kommunikationsverbindungen um »ein enorm komplexes, selbstorganisierendes System [handelt], das Informationen verarbeitet, Entscheidungen trifft, neue Zusammenhänge begreift und auf neue Ideen kommt« 70 , gelangt zu der folgenden Einsicht: »Bei einer Utopie kommt es entscheidend darauf an, ob sich die Menschen auch glücklich fühlen.« 71 Glück kann nicht geplant werden, aber eine Planung kann den Glücksfaktor »vergessen«. Das wäre dann mehr als nur der »subjektive Faktor«. Das Bahnprojekt »Stuttgart 21«, wo die Politik von der Unzufriedenheit der Menschen aus allen Schichten überrascht wird, zeigt den entscheidenden Unterschied zwischen einer langfristigen Planung, die – in der Politikersprache – eine Vision sein mag, und der Utopie. Das über zwanzig Jahre geplante Projekt hatte das Glück der Menschen nicht auf der Rechnung. Der Schlichter Heiner Geißler hatte, um Interessen überhaupt ausgleichen zu können, die integrative Energie des Utopischen eingedacht. 72 Kein Legitimationsprozess einer noch so gut

Rudolf Maresch, Zeit für Utopien, in: Renaissance der Utopie, 2004, 17. Ebd., 18. Vgl. auch Martin Seel, Drei Regeln für Utopisten, 2001. 70 Francis Heylighen, Das globale Gehirn als neues Utopia, in: Renaissance der Utopie, 2004, 94. 71 Ebd., 107 (Hervorh. K. K.). 72 Heiner Geißler, Ou Topos. Suche nach dem Ort, den es geben müsste, Reinbek bei Hamburg 2010, bes. 158 ff. und 177 ff. 68 69

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organisierten Demokratie kann von einer erfolgreichen Planung sprechen, wenn dieser Plan keine Utopie darstellt in dem Sinn, dass der Plan die Menschen öffentlich glücklich macht.

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Utopisches Denken im Zeitgeist

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Verehrte Frau Reifenberg, lieber Herr Kufeld, meine sehr geehrten Damen und Herren, gute Philosophie ist in meinen Augen unaufgeregt. Es geht um die Abwägung von Argumenten, eine gewisse Distanz zum Gegenstand ist unverzichtbar, dennoch denke ich, dass am Ende klar wird, vielleicht auch erst im Laufe der Diskussion, dass das, was man hier im Sinne einer philosophischen Analyse vorträgt, durchaus von praktischer, auch politischer Relevanz sein kann. Sie haben im Tagungsprogramm ein Zitat von Oscar Wilde: »Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick […] Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.« Da sind ein paar Pünktchen und ich habe die Pünktchen noch mal nachgeprüft. Was ist da eigentlich ausgelassen? Und will Ihnen das ganze Zitat vortragen: »Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land. Und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.« 2 Oscar Wilde ist sicher einer derjenigen Sympathisanten der Utopie, die sehr sensibel, empfindsam, eben nicht gewalttätig vom utopischen Denken fasziniert sind. Gerade einer der Vorwürfe gegenüber utopistischem Denken, und darauf komme ich auch später noch zu sprechen, ist ja die Gewalttätigkeit, das Programm der Umformung Abschrift des frei gehaltenen Vortrags zur Eröffnung des Zukunftssymposiums »future:lab 2.0« (Neue Utopien – Zeitkritik und Denkwende) am 9. Juli 2010 im ErnstBloch-Zentrum Ludwigshafen am Rhein. 2 Oscar Wilde, Der Sozialismus und die Seele des Menschen, Zürich 1970, 35. 1

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gegen Widerstände, die mit vielen utopischen Projekten auch tatsächlich verbunden sind. Ich will mit vier Vorbemerkungen beginnen. (1) Ende der Geschichte – Ende der Utopie? Erstens, und das knüpft an die Einführung von Herrn Kufeld an: Nach dem Ende der bipolaren Welt gab es eine Stimme, die besonders häufig zitiert wurde, die nicht nur vom Ende aller Utopie, vom Ende des utopischen Zeitalters, sondern vom Ende aller Geschichte sprach. Und das hat eine gewisse Ironie, weil sich die utopischen Entwürfe aus der Vorstellung speisen, dass ein menschlicher Fortschritt möglich und machbar ist und dass die Geschichte eine Entwicklungstendenz hat. Ein, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht-utopischer Denker wie Kant, hat diese Vorstellung in einer eigenen Schrift ausgeführt, eine kosmopolitische Perspektive nämlich, wohin sich die Weltgeschichte entwickeln würde oder sollte. 3 Das heißt: Ende der Utopien ist auch Ende der Geschichte. Paradox zugespitzt könnte man sagen, Ende der Geschichte aus der Sicht dieser liberalen – oder vielleicht eher libertären – Denker heißt Verwirklichung einer Utopie, nämlich der Utopie der über Marktverhältnisse, ökonomischen Austausch, globale Wirtschaft, repräsentative Demokratie befriedeten Weltgesellschaft. Daher »Ende der Geschichte«. Was soll sich da noch groß entwickeln? Das hat sich jetzt durchgesetzt. Und was sollte es da noch große historische Veränderungen geben? Was übrig bleibt, ist ein bisschen Sozialtechnologie, die vielleicht nötig ist, um das zu steuern, und Rahmenbedingungen für effizientes globales Wirtschaften. Im Rückblick, mit der Distanz von nicht sehr vielen Jahren, welthistorisch betrachtet, hat sich das als eine grandiose Täuschung, vielleicht sogar Selbsttäuschung erwiesen. Vom Ende der Geschichte kann überhaupt keine Rede sein. Wir sind gerade Zeitzeugen des Aufkommens einer zweiten großen Supermacht, die ganz anders kulturell, sozial, politisch, institutionell verfasst ist als die USA als Leitmacht des Westens. Da entsteht ein neues Modell, ein nicht unproblematisches Modell von Politik, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir sind mitten in einem historischen Umbruch. Das, was die liberalen BeerdigungsImmanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, (1795) hg. v. Rudolf Malter, Stuttgart 1987.

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unternehmen der Utopie zu Grabe getragen meinten, kommt und drängt wieder hoch. Zum Beispiel das der kulturellen Identität, der Gefährdung des Eigenen durch eine globale Entwicklung, in der man sich nicht wiederfindet und die entsprechenden Widerstände, vor allem im Augenblick in der muslimischen Welt, aber wir übersehen andere Konfliktherde, die von vergleichbarer Tiefe sind, etwa den des hinduistischen Kulturkreises. Diese Widerstände sind massiv, und ich bin ganz sicher, dass die Vorstellung, dass nun alles vorbei ist und sich die liberale Demokratie mit globalem Kapitalismus endgültig durchgesetzt hat, so nicht stimmt. (2) Programmatik – freie Sozialtechnologie? Meine zweite Vorbemerkung klingt vielleicht kritischer und gerade aus meiner Perspektive vielleicht problematischer, als sie gemeint ist: Ich glaube, in der gegenwärtigen politischen Situation inmitten noch einer Weltwirtschaftskrise soll man sich keinen Illusionen hingeben, denn der Einbruch der Weltwirtschaftsleistung ist ungefähr gleich hoch wie 1929/30, der Einbruch prozentual gemessen am Weltsozialprodukt. In dieser Krise haben die Nationalstaaten reagiert, nicht der IWF, nicht einmal die Europäische Union, und zum Teil erstaunlich erfolgreich. Dennoch wird jetzt immer deutlicher, dass wir ein konzeptionelles Problem der Politik haben, vielleicht sogar besonders deutlich in Deutschland. Wir haben ein konzeptionelles Problem, und das hat eine längere Vorgeschichte, man könnte sagen die Vorgeschichte der großen Kanzlerschaften Kohl, Schröder und jetzt Merkel. Das ist eine Folge von Kanzlerschaften, die sich dezidiert jeder theoretischen Fundierung – und ich vermeide hier den Begriff Utopie – und jeder visionären Perspektive konsequent verweigert haben. Dieses Paradigma von »Kanzlerschaften« hat Helmut Kohl etabliert. Und Gerhard Schröder hat dies unter andere Vorzeichen fortgesetzt. Und die Amtierende treibt dieses Modell auf die absolute Spitze, was noch vor wenigen Jahren undenkbar war. Sie versucht zu zeigen, dass es möglich ist, erfolgreich Politik zu machen, ohne jedes langfristige Konzept. Das ist bemerkenswert, und ich sehe das in dem größeren Zusammenhang des Verlustes utopischer Potenziale der Politik. Diese waren in den verschiedenen Strömungen unterschiedlich ausgeprägt. Sie waren immer umstritten, aber sie waren die Folie, vor der sich die konkrete aktuelle Politik zu rechtfertigen hat. 28 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Ich bin ziemlich sicher, dass dieser Modus Politik zu machen, jetzt endgültig an seine Grenzen stößt. Im Grunde waren die Anzeichen, dass sich so Politik auf Dauer nicht erfolgreich machen lässt, schon vor Jahren deutlich, man denke nur an die brillante außenpolitische Durchsetzung der deutsch-deutschen Vereinigung und der desaströsen normativen und innenpolitischen Entwicklung, und dies hängt auch mit dem Fehlen des konzeptionellen Fundaments der Politik zusammen. Ich glaube, wir sind an der Schwelle zu einem Zeitalter der Rückkehr programmatisch fundierter Politik, weil es anders nicht mehr geht. (3) Utopie als politisches Schlachtfeld Utopie markiert, könnte man sagen, ein politisches Schlachtfeld, und das macht die wissenschaftliche Befassung schwieriger. Je nach dem, welche Paradigmen man im Auge hat, entstehen ganz unterschiedliche Beurteilungen utopischen Denkens. Das Spektrum utopischen Denkens ist so breit, dass man gewissermaßen so gut wie alles darin finden kann. Man könnte sagen, vor dem Hintergrund einer geteilten Metaphysik der Geschichte, wonach die Geschichte voranschreitet, es einen Fortschritt gibt, der im historischen Prozess angelegt sei, scheiden sich am Begriff der Utopie Konservative von Progressiven, Konservative, die utopisches Denken ablehnen, Progressive, die utopisches Denken für wichtig halten. Aber wir werden gleich sehen, die Dinge sind weit komplizierter, als es diese Bemerkung nahe legt. (4) Eine persönliche Bemerkung Es gibt eine merkwürdige Fehlperzeption, zumal in Deutschland, die mit dem »Positivismusstreit« zusammenhängt. Um was ging es im Positivismusstreit? 4 Es ging um die Frage, ob die Philosophie und die Soziologie eine kritische Kompetenz haben und, wenn ja, in welcher Form sie dieser kritischen Kompetenz gerecht werden. Oder ob sie sich auf das reine, affirmative Beschreiben von Seiten der Kritiker zurückziehen. An diesem Streit, der ganze Generationen von Studenten beschäftigt und weiß nicht wie viele Tausende von Seminararbeiten und Gemeint ist die Grundsatzdiskussion innerhalb der deutschen Soziologie in den 1970er Jahren, an der Adorno, Habermas, Dahrendorf, Popper und andere beteiligt waren. Siehe: Theodor W. Adorno et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Frankfurt am Main 1972.

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Magisterarbeiten hervorgebracht hat, ist vieles ziemlich »schief« gewesen, und das wirkt bis heute nach. Heute hat man den Eindruck, dass es gar nicht um Positivismus ging, sondern um Popper und Albert versus Habermas und Adorno. Popper war ein dezidierter Antipositivist. Der Streit war auch deswegen so schief, weil beide Seiten im Eifer des Gefechts offenbar keine Zeit fanden, die Texte der anderen Seite gründlich zu studieren. Und entsprechend fielen die Stellungnahmen aus. Ich will nur einen Hinweis geben: Die analytische Philosophie, zu der ich mich im weitesten Sinne rechne, gibt sehr unterschiedliche Varianten und Erklärungsmodelle, und in vieler Hinsicht kritisiere ich die zentralen Thesen der analytischen Philosophie, zum Beispiel den Lingualismus oder Naturalismus. Und wenn ein Kollege wie Ansgar Beckermann vor kurzem in einem Aufsatz recht hat, dass der letzte Überrest der analytischen Philosophie, auf den sich alle einigen können, der Naturalismus sei, dann könnte ich heute gestehen, dass ich kein analytischer Philosoph mehr bin, weil ich den Naturalismus kritisiere. Aber im weitesten Sinne komme ich jedenfalls aus dieser Denkströmung. Diese wurzelt im 19. Jahrhundert, bei Kurt Gödel, im englischen Bereich bei George Edward Moore und Bertrand Russell. Und im deutschsprachigen Bereich ist das nicht Deutschland, sondern eher Wien, die österreichische Philosophie, der Wiener Kreis. Wenn man da nur einen Blick drauf wirft, erübrigen sich im Grund auch alle weiteren »Schubladisierungen«, die da so üblich sind. Bertrand Russell saß wegen Pazifismus im Gefängnis, er hat sich selber als syndikalistischer Anarchist definiert. Er hat sein ganzes Leben utopischen Projekten gewidmet. Als weißhaariger Neunzigjähriger immer noch unglaublich fit im Kopf, hat er die Russell-Komitees gegründet, weltweit, die dem Mainstream der deutschen Friedensbewegungen zu radikal, allzu utopisch und allzu links erschienen, und deswegen sollte man den Russell-Komitees lieber nicht beigetreten sein, sonst wurde man gleich vom Verfassungsschutz beobachtet in der damaligen Zeit. Also Bertrand Russell als der zentrale, neben George Edward Moore, Gründervater der britischen analytischen Philosophie ist zur gleichen Zeit ein Beispiel für utopisches Denken. Das gilt übrigens auch für zeitgenössische analytische Philosophen, Hilary Putnam würde ich zum Beispiel dazuzählen, der sich da auch über Jahre engagiert hat, und viele weitere. Es gibt sozialistische Wirtschaftsmodelle, die aus dem Wiener Kreis hervorgegangen sind etc. 30 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Also vergessen wir diese Schubladen und versuchen wir einen klaren Blick. Ich füge gleich noch eine ganz persönliche Bemerkung hinzu. Mein Leben jongliert ja immer so ein bisschen zwischen politischem Engagement, auch außerhalb von politischen Ämtern, und philosophischer Analyse, und ich kann sagen, dass die Texte, die mich hinsichtlich der politischen Programmatik neben anderen – Kant, Neukantianismus – besonders beeindruckt haben, mich bis heute beeindrucken, nicht so sehr von Ernst Bloch, sondern von Herbert Marcuse waren. Ich glaube, das ist ein großer Humanist und zu Unrecht unterdessen weitgehend vergessen. Ich finde übrigens, es ist eines der großen Qualitätsmerkmale des Ernst-Bloch-Zentrums hier in Ludwigshafen, dass man sich eben nicht auf die Exegese und Auseinandersetzung mit Bloch beschränkt und den Rahmen entsprechend weit für interessante Debatten steckt. Bloch, einer der wichtigen Denker, hat mit William Morris gewissermaßen einen Geistesverwandten, auch er wird jetzt gerade wieder neu entdeckt im Bereich des utopischen Denkens, das gegenwärtig eine Renaissance erlebt. Ich habe mir vorgenommen, in zwei Teilen vorzugehen. Der erste Teil gibt einen ganz groben, doch gewissermaßen vorphilosophischen Abriss, und dann versuche ich im zweiten Teil eine philosophische Analyse in einigen wenigen Schritten. Und mir war es jetzt wichtig, dass Sie mit den Vorbemerkungen die Struktur der Argumentation nachvollziehen können und nicht so sehr die Details der einzelnen Argumente, diese fallen etwas grobschlächtig, etwas holzschnittartig aus.

Erster Teil: Abriss (I) Zur Genese utopischen Denkens Man kommt nicht umhin, mit Platon zu beginnen bei diesem Thema. Das ist systematisch, glaube ich, von großer Bedeutung. Es gibt konservative Platon-Verehrer, die sich viel Mühe geben zu zeigen, mit mehr oder weniger Erfolg, dass Platon kein utopischer Denker sei, dass das eine falsche Lektüre der Politeia sei. 5 Wenn dann hinzugefügt wird, 5 Siehe z. B. Rüdiger Bubner, Polis und Staat. Grundlinien der Politischen Philosophie, Frankfurt am Main 2002, 54 ff.

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dass es deswegen die falsche Lektüre ist, weil das ja nie gedacht war als eine Blaupause für einen konkreten Staat, dann kommen die anderen Einwände, die sich z. B. auf Platons Versuche in Sizilien beziehen. Die großen Utopisten der Renaissance entwickeln ihre Vorstellung in Romanform und distanzieren sich zum Teil selbst von bestimmten Elementen, das heißt die Frage, wie weit das als Blaupause für die konkrete Staatskonstruktion gedacht ist, wird vielleicht noch eine Rolle spielen im Laufe der Tagung, und Herr Voßkamp kann dazu viele Details erzählen. Das kann auf keinen Fall die entscheidende Frage sein, ob etwas als utopisches Denken zählt, oder nicht. Ich bleibe bei Platon, weil ich das später auch systematisch brauche. Platon stützt seine gesamte philosophische Argumentation auf den Übergang von Meinungen, die wir haben, die aber nicht wohlbegründet sind, zur episteme, von doxa zu episteme, zu einem wissenschaftlichen, wohlbegründeten Wissen. Ohne dieses erkenntnistheoretische Element ist das Ganze nicht verständlich. Platon gibt sich viel Mühe deutlich zu machen, dass wir nicht einfach vor dem Hintergrund der Überzeugungen, die wir haben, dann am Ende zur Erkenntnis kommen, sondern dass wir die Überzeugungen, die wir haben, hinter uns lassen müssen, um zur Erkenntnis zu kommen. Das ist der entscheidende Unterschied zu seinem vorübergehenden Schüler, dem vierzig Jahre jüngeren Aristoteles – soweit man ihn als Schüler bezeichnen kann. Die schroffe, geradezu unfaire Absetzung von Aristoteles gegenüber der Ideelehre Platons markiert diesen Konflikt zwischen diesen beiden großen Denkern der griechischen Klassik. Das heißt, das utopische Denken an seinem Ursprung setzt eine erkenntnistheoretische Position voraus, nämlich die, dass es einen besonderen Weg der Erkenntnis gäbe, dieser Weg ist nur einigen wenigen wirklich zugänglich, auch wenn alle den Versuch unternehmen dürfen und sogar sollen, diesen Weg zu gehen. Nicht eine Ständegesellschaft, wie es manchmal in schiefen Übersetzungen erscheint, nicht von Geburt sind diese drei Stände, sondern das ist eine Bildungszuordnung, eine im Bildungssystem vorgenommene Zuordnung zu drei unterschiedlichen Funktionen in der Polis. Das entscheidende Merkmal der Wissenschaftler – so sollte man Philosophen eigentlich besser übersetzen –, die dann eine wissenschaftlich geleitete Politik verantworten sollen, ist, dass sie die besondere Fähigkeit haben, sich von den doxai zu lösen, von den bloßen 32 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Meinungen, um zu einer wahren Erkenntnis vorzustoßen. Und diese wahre Erkenntnis wiederum hat eine intuitionistische Form. Das heißt, sie kommt nicht versehentlich zustande, sie ist keine Fehlübersetzung, wenn es dann im Deutschen heißt, es gehe um die Schau des Guten, um einen unmittelbaren Zugang zu einer tieferen Wahrheit, die allerdings eine lange biografische, bildungsbiografische Vorgeschichte hat. Das zweite Element, das damit eng verbunden ist, ist das der Objektivität. Das heißt, diese Erkenntnis vermittelt dann etwas absolut Objektives, das die große Mehrzahl nicht erfassen kann und das man dieser großen Mehrheit auch nicht als Erkenntnis vermitteln kann, sondern lediglich in der schwächeren Form, der Sophrosyne, das heißt diese große Mehrheit sieht ein, dass sie selber diese Fähigkeit nicht hat und überträgt die Entscheidungskompetenz gerne denjenigen, die diese Fähigkeiten haben. Und auf der Basis dieser erkannten oder geschauten Idee des Guten und der ganzen normativen Ordnung, die damit zusammenhängt, entwickelt sich diese »Utopie«, diese Idealstaatskonzeption, die Popper dann kritisiert hat 6 , die Platon in der Politeia vor allem entwickelt und die Popper als eine geschlossene Gesellschaft der offenen, veränderlichen, dem Argument zugänglichen, der Kritik, der Ablösung der Regierenden zugänglichen offenen Gesellschaft des Liberalismus entgegengestellt hat.

(II) Lob der Utopie Utopie ist zunächst einmal historisch gesehen ein Krisen- und Umbruchsphänomen. Sie tritt auf in Phasen des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs und sie reagiert auf diese Phase des Umbruchs, indem sie mit Gesellschaftsentwürfen antwortet, die Orientierung geben können oder sollen und die, besonders deutlich im RenaissanceHumanismus, ein genuin menschliches Leben ermöglichen sollen, also das Unmenschliche, das man beobachtet, aus dieser gesellschaftlichen Ordnung entfernen will. Von daher gibt es einen engen Zusammenhang zwischen humanistischem Denken und utopischem Denken und in seinem Ausgangspunkt geht es um die Vision einer genuin menschlichen Gesellschaft. Mein Lieblingshumanist der Renaissance, genauer gesagt der ita6

Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Stuttgart 1992.

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lienischen Frührenaissance, ist Petrarca, er äußert seine humanistischen Visionen in schönen Prosa- und Lyriktexten, wo es um Liebe und Ähnliches geht und die Behauptung des Menschlichen gegen eine als inhuman empfundene brutale Welt der Macht- und Kraftmenschen. Da der Renaissance-Humanismus gerade in einer Zeit entsteht, in der auch das Modell des durchsetzungsstarken, nur an seinen eigenen Interessen orientierten, ich sag mal »Übermenschen« aufkommt, kommen beide in Konflikt und in ein interessantes Spannungsverhältnis zueinander. Und die Antwort der Humanisten ist »mitis et amabilis«, lest die Texte, dann beruhigt euch das, das nimmt die Gewaltneigung aus den, vor allem männlichen, Köpfen und ihr könnt dann menschlicher miteinander umgehen. Also in diesem Zusammenhang stehen die Utopien der Renaissance. Ich würde sagen, in der Europäischen Aufklärung kommt ein wesentliches Element hinzu, oder besser gesagt, es tritt in den Mittelpunkt. Und das ist die Idee der konkreten Gestaltbarkeit des eigenen individuellen menschlichen Lebens und des Zusammenlebens. Es ist eine interessante Frage, was eigentlich die Moderne im Kern ausmacht. Ulrich Beck 7 und Stephen Toulmin 8 vertreten da die diametral entgegengesetzten Positionen. Ich bin da eher auf Seiten Toulmins, für den es die Tradition des Humanismus ist, auch des italienischen Humanismus, dann des 16. Jahrhunderts, nicht so sehr die rationalistischen Entwürfe des 17. Jahrhunderts, die charakteristisch sind für die Moderne. Das 17. Jahrhundert gewissermaßen als Aberration von dem großen Projekt einer Humanisierung des Lebens. Ich will eine dritte Phase herausgreifen, auch das eine Phase des gigantischen Umbruchs, der Frühsozialismus im 19. Jahrhundert. Wenn man den Wirtschaftshistorikern glauben darf, ist es ja so, dass es seit der Antike gegen alle verbreitete Vorstellung im Grunde keine Aufwärtsentwicklung des Lebensstandards gegeben hat, eher ein Auf und Ab, und dass es auch nicht zutreffend ist, dass Hochkulturen einen höheren Lebensstandard gehabt hätten als Nichthochkulturen. Das ändert sich Anfang des 19. Jahrhunderts. Ab 1820 kommt eine unglaubliche ökonomische Dynamik in Gang mit großen Verwerfungen, mit Siehe Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt am Main 1996. 8 Siehe Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1991. 7

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Verelendung, Landflucht, Städteagglomerationen, und als eine der Reaktionen kann man den Frühsozialismus und die utopischen Entwürfe des Frühsozialismus sehen, bis hin zu konkreten städtebaulichen Konzeptionen, die dann über viele Umwege in die Stadtplanung hineinwirken. Man könnte sagen, der Frühsozialismus ist gewissermaßen der Antipode zum brutalen Gestaltungsanspruch der »unsichtbaren Hand« kapitalistischer Entwicklung. Kapitalismus, in der Idee marktorientiert, ökonomieorientiert, an individuellen Interessen orientiert, der keine zentrale Steuerung braucht, weil er als Prozess der unsichtbaren Hand sich entwickelt. Und die frühsozialistischen Utopien sind der Gegenentwurf dazu, eigentlich die Behauptung einer Idee der Aufklärung, wir bestimmen unsere Lebensbedingungen selbst gegen den Prozess der unsichtbaren Hand des Kapitalismus des 19. Jahrhunderts. Und charakteristischerweise tritt eine neue Hochphase des utopischen Denkens in einer zweiten Situation des grundlegenden Umbruchs auf, nämlich in den 1960er und 70er Jahren mit der neuen Linken, mit den neuen sozialen Bewegungen.

(III) Tadel der Utopie Ich bringe vier Typen von Tadel. Der erste ist die marxistische Utopiekritik. Da kann man Bloch zitieren. Im zweiten Teil des Prinzips Hoffnung, 19. Kapitel, geht es um die »Elf Thesen von Marx über Feuerbach«, mit denen sich Bloch hier auseinandersetzt. Und Bloch betont die Stärke des politischen Denkens, des ökonomisch-politischen Denkens von Marx, gegenüber dem utopischen Denken, dem allzu wahren, an wahrem Mensch-Sein orientierten utopischen Denken, wie es charakteristisch gewesen sei für die Links-Hegelianer. Ich kann nur einen kleinen Abschnitt aus der sehr interessanten Passage zitieren: »Was eben die jeweils arbeitsteilige, klassenhafte Produktion und Austauschweise zuhöchst die kapitalistische, als den endlich entdeckten Quell der Entfremdung erwies. Spätestens von 1843 ab, war Marx Materialist. Die ›Heilige Familie‹ hat 1844 die materialistische Geschichtsauffassung geboren und mit ihr den wissenschaftlichen Sozialismus. Und die ›Elf Thesen‹, zwischen der ›Heiligen Familie‹ von 1844/45 und der ›Deutschen Ideologie‹ von 1845/46 entstanden [übrigens Ende der 1880er Jahre zum ersten Mal von Engels publiziert, also 35 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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40 Jahre dazwischen, JNR], stellen so den formulierten Abschied von Feuerbach dar, zusammen mit höchst originalem Erbantritt. Politischempirische Erfahrungen aus der rheinischen Zeit plus Feuerbach haben Marx gegen den Geist der linken Hegelschule immun gemacht. Der bezogene Standpunkt des Proletariats hat Marx ursächlich-konkret, also wahrhaft (aus dem Fundament) humanistisch werden lassen.« 9 Ich überspringe jetzt zwei Sätze und dann kommt eine wichtige Passage: »Manche kritische Fassung der Thesen kehrt in ihr wieder, wobei freilich die Kritik an Feuerbach und die mörderische Erledigung schlechter Hegelepigonen sich hier sehr unterscheiden. Feuerbach gehörte noch zur bürgerlichen Ideologie, also musste die Auseinandersetzung mit ihren schein-radikalen Zerfallserscheinungen, wie Bruno Bauer und Stirner, auch ihn in die ›Deutsche Ideologie‹ verwickeln. Doch so, daß der Philosoph stellenweise noch selber den Griff der konsequenten Waffe lieferte, mit der Marx auch gegen ihn, vor allem aber gegen die Links-Hegelianer dreinfuhr.« 10 Die nicht ganz unproblematische Positionierung Blochs in dieser Auseinandersetzung ist eindeutig. Bei Marx selber sind die Dinge komplexer. Wir haben mal ausführlich Gelegenheit gehabt hier im ErnstBloch-Zentrum darüber zu sprechen 11 , nämlich über die Überführung der utopischen Entwürfe und utopischen Ansätze in eine strenge Wissenschaft, einen wissenschaftlichen Sozialismus, der alles Normative, alles Ethische, alles Utopische abstreifen kann, weil er ja objektiv und überprüfbar bestimmte Gesetzmäßigkeiten beschreibt, und in dieser Beschreibung letztlich alle Normativität aufgeht. – Ich glaube nicht, dass es wirklich Marx selber voll gerecht wird, aber es wird jedenfalls einem wichtigen Strang der marxistischen Utopiekritik oder, nennen wir es ruhig so, dem marxistischen Antiutopismus, der bis heute nachwirkt, gerecht. Es gibt zweitens einen Tadel, man könnte ihn den »reformistischen Antiutopismus« nennen. Auch der spielte in der Geschichte der Sozialdemokratie, der Arbeitbewegung generell, eine wichtige Rolle, die kam zunächst vor allem aus der Gewerkschaftsbewegung, nämlich Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt am Main 1959, 291 (kursiv i. Orig.). 10 Ebd., 292. 11 Julian Nida-Rümelin, Karl Marx – Ethischer Humanist und politischer Antihumanist? Vortrag zum 125. Todestag von Karl Marx, 11. März 2008, Ernst-Bloch-Zentrum. (Aufzeichnung des Offenen Kanals Ludwigshafen). 9

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die Vorstellung: Wir verlieren uns, wir verlieren auch politische Gestaltungsmöglichkeiten, wenn wir uns nicht auf das jeweils konkret Machbare beschränken. Dieser utopische Überschwang muss zurück geführt, marginalisiert oder ganz aufgegeben werden, um in der konkreten Politik erfolgreich sein zu können. Das erinnert an einen früheren Bundeskanzler, nämlich Helmut Schmidt, der den berühmten Ausspruch übernommen hat (er stammt gar nicht von ihm): »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.« Die dritte Form des Tadels der Utopie ist der von mir eingangs angesprochene, jetzt von mir als »libertärer Antiutopismus« charakterisierte Gedankengang. Der besagt im Kern: Wir haben eine allen anderen Formen zwischenmenschlicher Interaktion überlegene Gestalt, und das ist die Marktökonomie, die bedarf keiner Gestaltung. Diese Marktökonomie gestaltet sich gewissermaßen selbst, nämlich nach immanenten Gesetzmäßigkeiten, als ein Prozess der unsichtbaren Hand, und alles was mit humanen Kriterien eingreift, schwächt die Effizienz dieses ökonomischen und möglichst globalen Marktes. Das ist die libertäre – nicht »liberale« – Kritik utopischen Denkens. Und schließlich, bewusst an letzte Stelle gestellt, obwohl das historisch die Begleitmusik ist, von Anfang an, der »konservative Antiutopismus«, der sich zum Teil äußert im Entwurf von Dystopien, also von sozusagen abschreckenden Entwürfen, wie eine Gesellschaft sich im schlimmsten Fall entwickeln könnte. 12 Der konservative Antiutopismus ist kritisch gegenüber allen Gestaltungsansprüchen des Politischen und Sozialen und unterstellt typischerweise utopischem Denken die Vergewaltigung der Menschennatur. Er folgt stärker naturrechtlichen Traditionen oder prangert generell den Verlust von Identität durch eine allzu rasche Veränderung an. Und das kann dann am Ende einen hochreligiös theologisch-philosophischen Anspruch annehmen wie etwa bei Eric Voegelin, der das utopische Denken generell als eine Form des Gnostizismus begreift, also in eine Tradition stellt, nach der das versprochene Paradies auf der Erde realisiert werden soll, sozusagen ein Relikt einer christlichen sektiererischen Bewegung aus der Antike, das nachwirkt und dann die großen politischen Religionen prägt. Das ist vor allem in seiner Schrift über die politischen Religionen

12 Vgl. Edmund Burke, Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991.

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im Detail ausgeführt, aber auch in »Order and History« 13 immer wieder das Thema.

Zweiter Teil: Analyse Damit bin ich bei der philosophischen Analyse und nehme noch etwas mehr Distanz vom Gegenstand.

(I)

Der Zusammenhang zwischen Utopie und Normativität

Normativität meint das Sollen. Bei normativen Fragen wägen wir ab, welche Praxis ist richtig, welcher Charakter ist gut, welche Institution ist gerecht. Es gibt typische drei Formen von normativen Fragen. Normativität für sich führt noch nicht zwingend zum utopischen Denken. Normativität kann, um einen etwas problematischen, aber in der Debatte beliebten Terminus aufzugreifen, rein affirmativ sein. Also etwa in der Gestalt von Erwartungen, die wir an Menschen in bestimmten Rollen stellen: wir in unserer Kultur werden beschrieben und Abweichungen davon werden kritisiert. Da gibt es ein interessantes Phänomen: was im Lateinischen »Officium« heißt, hieß im Griechischen »Kathekon«. Vieles spricht dafür, dass diese zwei Termini etwas ziemlich Verschiedenes meinen. Bei Cicero hat das Offizium, etwa in der langen Schrift an seinen missratenen Sohn, die Form der Maßregelung: du verhältst dich nicht anständig, solltest dich anders verhalten, während für die Griechen im Kathekon der objektive Geltungsanspruch sehr viel mehr im Mittelpunkt steht. Cicero bezieht sich auf die Stoiker, auf Panaitios und viele andere, und wir haben zum Teil nur über Cicero den Zugang zu diesem stoizistischen Denken. Es ist anzunehmen, dass in der Übertragung ins lateinische oder römische Denken sehr viel verloren gegangen ist oder eine systematische Entstellung stattgefunden hat. Die Stoiker waren in der Hinsicht weniger kommunitaristisch als universalistisch orientiert, während die römischen Übertragungen stoizistischen Denkens einen kommunitaristischen Zug bekommen. Auf deutsch erschienen: Eric Voegelin, Ordnung und Geschichte. 10 Bde. Hg. v. Dietmar Herz und Peter Opitz, München 2001–2005.

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Etwas grundlegender gesagt: die eine Gestalt von Normativität ist immer bezogen auf eine in der Antike, auch im Mittelalter, auch in der frühen Neuzeit noch (bis vielleicht zu Thomas Hobbes) angenommenen Ordnung der Natur, eine kosmische Ordnung, in die sich das, was der Mensch im Einzelnen zu tun hat, zu was er verpflichtet ist, einbetten muss. Ein kosmologischer Rahmen, in dem Normativität sich entfaltet. Gegenüberstellen möchte ich dem ein anderes Verständnis von Normativität. Dieses Verständnis ist handlungstheoretisch. Ich als Individuum trage für die konkrete Praxis eine Verantwortung und muss nach bestimmten Kriterien begründen, warum diese Handlung richtig ist oder falsch. Die verschiedenen Konzeptionen von Normativität unterscheiden sich fundamental in der Frage, welche Rolle dabei etablierte Institutionen spielen. Umso geringer die Rolle etablierter Institutionen ist, umso stärker der utopische Gehalt. Umso mehr das institutionelle zurücktritt, umso deutlicher wird, dass wir einen Maßstab haben, nach dem wir die gegebenen Verhältnisse beurteilen, und wenn dieser Maßstab zur Kritik führt, dann muss dieser gegebene Zustand verändert werden. Das ist übrigens ein Thema, das jetzt seit Jahrzehnten im Mittelpunkt einer großen Auseinandersetzung steht, vor allem in der angelsächsischen Philosophie, nämlich im Kommunitarismus und Liberalismus/Universalismus. Die Kommunitaristen betonen die konstitutive Rolle der Gemeinschaftszugehörigkeit, der realen Gemeinschaftszugehörigkeit, für Normativität, während die Universalisten dagegen stellen, dass es hier Gemeinsamkeiten gibt, Kriterien, Beurteilungsmaßstäbe, möglicherweise eine gemeinsame Anthropologie, die die Gemeinschaftszugehörigkeit selbst jedenfalls nicht zu dem entscheidenden Merkmal, zum entscheidenden Kriterium angemessener Praxis macht. Das rationalistische Projekt der Normativität gibt es dagegen in zweierlei Gestalt. Die eine sieht so aus: Wenn wir wissen wollen, was ist richtig, was ist falsch, was ist gerecht, was ist ungerecht, welches Leben, welcher Charakter ist gut, dann bedürfen wir eines Prinzips, nach dem wir das beurteilen. Dieses Prinzip muss selbstevident sein, darf nicht selbst wieder begründungsdürftig sein und wir deduzieren die konkreten Normen aus diesem Prinzip. Das ist rationalistisches Denken. Dieses rationalistische Denken ist in ganz unterschiedlichen For39 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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men verfügbar, zum Beispiel in der des modernen Utilitarismus, der auch rationalistisch ist nach dem Prinzip: die Nutzensumme, von wem auch immer, der Menschheit vielleicht oder aller empfindenden Lebenswesen, soll maximiert werden. Und dann wird daraus abgeleitet, was ist richtig und falsch. Und damit entsteht eine fundamentale Kritik der gegebenen Verhältnisse, denn in der Regel erfüllen die tatsächlichen Situationen, die tatsächliche Praxis das nicht, sie maximieren nicht die Nutzensumme im Universum. Entsprechend, um ein Beispiel zu nehmen, Peter Singers fundamentale Kritik der Weltverhältnisse 14, ein Utilitarist, der sagt, so kann es nicht sein, weil wir auf die Weise eben dieses Kriterium verfehlen. Deduktiv hinter allen rationalistischen Konzeptionen von Normativität steht ein kritisches und in der Konsequenz dann utopisches Potenzial. Denn wenn ich kritisiere, muss ich auch sagen, wie geht es anders. Und der nächste Schritt ist, das auszuformulieren, wie es anders geht. Man kann aber versuchen, um diese Prinzipienorientierung herumzukommen, und das scheint mir die Faszination der utopistischen Entwürfe zu sein. Wenn ich nicht mit Prinzipien beginne, sondern damit beginne mir zu überlegen, wie sollte denn eine idealmenschliche Gesellschaft aussehen, dann muss ich nicht deduktiv aus Prinzipien ableiten, sondern ich muss zeigen, was kohärent ist, was in sich stimmig, was zueinander passt. Und möglicherweise sind Bildungsanstrengungen erforderlich, damit es wirklich passt. Das ist die zweite Form, in der rationalistisches Denken seinen Ausdruck findet: an Utopien orientiert.

(II) Drei Formen der Kritik Und in dem Zusammenhang scheint es mir wichtig zu sein, zwischen drei Formen der Kritik zu unterscheiden. Die eine ist »Kritik als Konstruktion«, ich konstruiere, wie es sein sollte, und das ist der Maßstab für das Gegebene, das ich beurteile. Die zweite Form ist »Kritik als Interpretation«, etwa die Form von Kritik, wie es das Bundesverfassungsgericht praktiziert, wenn es Gesetzentwürfe beurteilt. Wir haben einen normativen Rahmen, der ist 14 Siehe Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984; 2. überarb. A. 1993; ders., One World: The Ethics of Globalisation, New Haven 2002.

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durch das Grundgesetz vorgegeben. Die Verfassungsrichter interpretieren diesen normativen Rahmen und haben damit ein Instrument der Kritik, zum Beispiel der Kritik von Gesetzesentwürfen. Oder wir interpretieren die konstitutiven Merkmale einer bestimmten Gemeinschaft, und daraus ergibt sich dann eine Kritik bestimmter Entwicklungen in dieser Gemeinschaft. Das sind zwei Antipoden, Konstruktion und Interpretation. Ich würde sagen, die vernünftige Form von Kritik ist vom Typ der »rationalen Rekonstruktion«, und das wäre die dritte Form der Kritik, das heißt, man nimmt nicht das Gegebene hin, wie es Kommunitaristen zu tun tendieren, man entwirft auch nicht einfach das Neue, sozusagen außerhalb der jeweiligen Ordnung des Zusammenlebens der etablierten Verständigungspraxis, sondern man nimmt eine rekonstruktive Haltung ein, man sagt, was teilen wir denn, was teilst du mit mir? Der Eine, der unkritische Verteidiger der jeweiligen Ordnung, und der Kritiker. Prüfen wir, welches Argument akzeptabel ist, als Kritik. Und dann kommt vielleicht eine Gegenkritik. Das heißt, die reale Verständigungspraxis ist erstmal die Grundlage einer rationalen Kritik. Wir rekonstruieren die Gründe, wir wägen ab, welche Gründe besser und welche schlechter sind. Wir haben natürlich nicht nur vorgegebene, sondern wir haben unsere eigenen Gründe, und da gibt es gelegentlich Grenzen der Verständigung. Manche Menschen werden sagen, ich bewerte zum Beispiel Leben als solches und die Fortdauer menschlichen Lebens als etwas Gutes, und deswegen hat das für mich Vorrang gegenüber der Selbstbestimmung des Menschen am Lebensende – diesen Konflikt hatten wir gerade bei der Frage von Patiententestamenten –, und dann ist gewissermaßen eine Grenze der Verständigung erreicht. Da sind einfach zwei normative Haltungen, zwei Wertungen stehen sich gegenüber und lassen sich nicht mehr abgleichen. Solche Konflikte lassen sich dann nur dezisionistisch auflösen. Es gibt ein zweites Element dieser Form von Kritik, die durchaus pragmatistisch inspiriert ist, ein Ende allen Begründens in der geteilten Praxis und den geteilten Überzeugungen, die wir nicht allesamt und gleichzeitig in Frage stellen können, weil wir dann nämlich uns selber das Fundament jedes Arguments wegziehen. Und das ist ein relativ umfangreicher Bestand an gemeinsamen Erfahrungen, Überzeugungen, Werthaltungen, Regeln, die wir alle befolgen – ohne die können wir alle uns überhaupt nicht austauschen über normative Fragen, was ist richtig und was ist falsch, auch nicht über deskriptive Fragen, was ist 41 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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der Fall, und was ist nicht der Fall. Für mich ist da ein wichtiger Referenzpunkt Wittgenstein, mit den Texten, die er anderthalb Jahre vor seinen Tod diktiert hat, die jetzt unter dem Titel »Über Gewißheit« vorliegen. 15 Das heißt, ich plädiere für eine kritische, aufklärerische Praxis des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens auf der Grundlage der geteilten Verständigung. Wir können nicht aussteigen, sondern wir sind immer Teil dieser Praxis. Das ist durchaus mit einem Charakteristikum verbunden, das ich gerne als »unaufgeregten Realismus« bezeichne, das heißt, wir sind der Meinung, das und das ist richtig, das und das ist falsch, wir sind überzeugt, dass es sich wirklich so verhält, dass es tatsächlich falsch ist oder tatsächlich richtig ist, wir teilen nicht nur unsere subjektiven Haltungen mit und gleichen die dann irgendwie ab, wir können das nie beweisen, es gibt nie vollständige Gewissheit. Das ist ein Grundproblem des Rationalismus, der vollständige Gewissheit wollte und deswegen ein Prinzip, was unbezweifelbar ist und aus dem man alles ableiten kann. Und wir sollten – auch das steht in der Tradition des pragmatistischen Denkens – Optimisten sein, ich nenne das »epistemischer Optimismus«, wir sollten optimistisch sein hinsichtlich der Frage, ob uns der Austausch von Gründen der Wahrheit näher bringt. In der Regel, ja. Das meine ich mit epistemischen Optimismus.

(III) Utopie Und damit spannt sich der Bogen jetzt wieder zurück zum Thema der Utopie. Individuelle und kollektive Selbstbestimmung findet statt in diesem größeren gesteckten Rahmen des Gründe-Gebens und GründeNehmens. Individuelle Selbstbestimmung ist nicht im luftleeren Raum, wir sind sozial eingebettete Wesen. Wir müssen in unserer Praxis halbwegs transparent sein für andere, um überhaupt kooperieren zu können. Vielleicht gibt es das Leben des totalen Einsiedlers irgendwo, aber das ist eher selten. Normale Menschen sind angewiesen auf Interaktion, auf Kooperation, auf Austausch. Meine individuelle Selbstbestimmung ist eingebettet in eine solche Praxis des Verständlichmachens – man muss ja nicht überall Zustimmung finden. Das stößt Siehe auch meinen Vortrag »Eine Wittgenstein’sche Perspektive« in: Philosophie und Lebensform, Frankfurt am Main 2009, 25 ff.

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natürlich manchmal an Grenzen. Dieses Ziel der individuellen Selbstbestimmung hat eine Bildungsdimension. Das Leben zu strukturieren nach eigenen Vorstellungen, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Leben setzt voraus, dass ich urteilsfähig bin und dass ich dem Urteil folgen kann, dass ich Entscheidungskraft entwickle, auch über die Neigungen des Augenblicks hinweg. Das ist vielleicht das Zentrum des humanistischen Bildungsideals. Und mit dieser Idee der individuellen Selbstbestimmung korrespondiert eine Idee der kollektiven Selbstbestimmung. Als Gemeinschaft bestimmen wir die Regeln, nach denen wir nach unseren gemeinsamen humanen Vorstellungen leben wollen, selbst. Die sind nicht von der Natur vorgegeben, als müssten wir sie nur übernehmen. Sie können auch nicht an die Wissenschaft delegiert werden (hier die Kritik an der Politeia Platons), sondern es ist etwas, was in einem Prozess des Austausches, des öffentlichen Begründens sich entwickeln muss. Aber dieses öffentliche Begründen ist normativ. Das ist nicht lediglich der Aufeinanderprall von Interessenstandpunkten, sondern kollektive Selbstbestimmung verlangt, dass wir Gründe austauschen und gründegeleitet die Bedingungen gestalten, unter denen wir leben wollen. Und jetzt hören Sie schon den Übergang zum utopischen Denken, unter dem wir leben wollen, man kann sagen, das ist der Urstrang der Utopie, bei allen Irrwegen, die das utopistische Denken gegangen ist. Es geht im Kern um die Frage: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir in einer Gemeinschaft leben, die wir selbst gestalten, für die wir selbst Verantwortung tragen, kollektiv und individuell? Humanes Zusammenleben ist ohne Utopie gar nicht denkbar. Denn es geht um die Kriterien eines guten gemeinsamen Lebens, und diese Kriterien sind in aller Regel kritisch gegenüber den bestehenden Verhältnissen. Von Rousseau stammt die schöne Formulierung: »Die Republik ist eine sittliche Körperschaft«. Ja, in der Tat. Demokratie, oder kollektive Selbstbestimmung, ist ohne Individuen, die sich von ihrem eigenen Interessenstandpunkt so weit entfernen, dass sie über die Regeln des wünschenswerten Zusammenlebens entscheiden können, undenkbar. Und wer jetzt noch mal die verschiedenen Argumente zusammenschaut, der wird sehen: Das ist ein antimarxistischer Standpunkt. Der Marxist würde sagen, wir können gar nicht unseren Standpunkt, der durch unsere Klassenzugehörigkeit bestimmt ist, verlassen. Außer wir sind Marx. 43 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Das erklärt auch, warum der Marxismus in der Regel oder jenseits der Geschichte, im Kommunismus, antiutopisch ist, eine fundamentale Utopiekritik enthält, und warum diejenigen, die versuchen, die utopischen Potenziale aufrecht zu erhalten, sich vom sogenannten »wissenschaftlichen Sozialismus« mit seinem dogmatischen Marx, der Standard-Interpretation des späten Marx, entfernen müssen.

Schlussbemerkung Noch weitgehend unbemerkt von der Philosophie gibt es unterdessen eine durchaus auch besorgniserregende, utopistische Bewegung. Das ist der sogenannte Transhumanismus. Es lohnt, sich damit auseinanderzusetzen. Der Transhumanismus hat im Kern die These: Uns steht demnächst technologisch, neurowissenschaftlich zumal, aber auch pharmakologisch ein großes Spektrum von fundamentalen Veränderungen der Menschennatur zur Verfügung, diese sollten wir konsequent nutzen. Das können technische Apparaturen sein, die wir in unser Gehirn einpflanzen, um unser Denken zu optimieren, das können zusätzliche Gliedmaßen sein, die wir uns aneignen, warum vielleicht sechsfüßige Menschen gewisse Vorteile gegenüber Zweibeinigen haben usw. 16 Das ist zum Teil eher Folklore, zum Teil aber durchaus ernst zu nehmen, denn der Transhumanismus hat zunächst einmal ein starkes Argument. Er sagt, das bloß Gegebene ist kein Grund daran festzuhalten. Wir wollen zum Beispiel intelligent sein. Wenn wir intelligenter sein können durch bestimmte Mittel, warum sollen wir das nicht nutzen? Das heißt, wir sollten uns frühzeitig mit den utopischen Potenzialen, die natürlich an vieles erinnern, was man vom utopistischen Denken von früher kennt, also mit den utopischen Potenzialen des Transhumanismus auseinandersetzen und dem eine humane Utopie eines menschlichen Zusammenlebens im globalen Maßstab gegenüberstellen. Vielleicht darf man an der Stelle und in Anlehnung an Ernst Bloch den Terminus der »konkreten Utopie« aufgreifen und die konkrete Utopie der unkonkreten transhumanistischen Utopie gegenüberstellen. Wir müssen nicht den »Neuen Menschen« konstruieren, sondern Nick Bostrom / Julian Savulescu, Human Enhancement, Oxford 2009. Siehe auch die Ausführungen von Elif Özmen in diesem Band.

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Utopie zwischen Rationalismus und Pragmatismus

wir müssen die politischen Bedingungen des gegebenen Menschen, der bildungsfähig ist, und der im Augenblick vor dem Problem steht, dass immer größere Teile der Bevölkerung auf Dauer von der Bildungsentwicklung abgekoppelt sind, verbessern. Wir haben ein Phänomen der Bildungsspaltung in Deutschland, die immer tiefer, die nicht geringer wird. Einzelne, die ideale Zugänge zu Bildungsangeboten haben, und einen immer größer werdenden Teil, der sehr frühzeitig aus allen Bildungszusammenhängen herausfällt. Wir haben die große Herausforderung, die sich globalisierende Wirtschaft in eine humane institutionelle kosmopolitische Struktur einzubetten. Der Kosmopolitismus ist vielleicht die faszinierendste Form der Utopie seit der Stoa, die über die Kulturgrenzen hinweg eine Verständigungsbasis voraussetzt, die zum Teil erst geschaffen werden muss. 17 Die conditio humana ist in meinen Augen stabiler, als die Transhumanisten glauben, aber die politischen Gestaltungsspielräume sind größer, als uns die libertären Kritiker utopischen Denkens jetzt seit Jahrzehnten versucht haben klar zu machen.

17 Vgl. Kwame Anthony Appiah, Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums, München 2007 (zuerst: Cosmopolitanism. Ethics in a world of strangers, New York/ London 2006).

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Rosenbauer Ich möchte Sie mit einer konkreten Frage konfrontieren, nämlich: Sie beklagen den Mangel an perspektivischem Denken in der Politik. Wer denkt in der aktuellen Politik, in den Parteien, über utopische Ideen nach? Nida-Rümelin Ein Kanzler wie Willy Brandt, der selber als Visionär bezeichnet wurde, der aber durchaus eine starke pragmatische Ausrichtung seiner politischen Praxis hatte, wusste sehr wohl, dass er angewiesen ist auf Anregungen aus der intellektuellen Szene. Das war vielleicht das Faszinierende dieser Jahre 1969, eigentlich schon früher, weil die ganze Ostpolitik ein intellektuelles Projekt war, das in den frühen 60er Jahren erste Konturen angenommen hatte, und Brandt ließ sich dann in den Jahren 1969 bis 72 weiter intensiv beraten und manches ist davon auch Politik geworden. Ich würde auch hinzufügen, der »Antivisionär« Helmut Schmidt war doch ein intellektueller Politiker, der eine bestimmte Variante des Keynesianismus, eine sehr anspruchsvolle Variante globaler Sicherheitspolitik ausgearbeitet, vertreten, selber sogar mit dazu beigetragen hat. Das waren beides Politiker, die fest davon überzeugt waren, man braucht einen klaren konzeptionellen Rahmen, um dann konkret im Einzelfall richtig entscheiden zu können. Ich glaube, man tritt niemanden zu nahe, wenn man festhält, dass sich das schon mit Helmut Kohl sehr grundlegend ändert, ihn interessiert diese Debatte nicht, und dass sich dieses intellektuelle Desinteresse der Bundespolitik insgesamt und sozusagen personifiziert in den jeweiligen Kanzlern, in den Kanzlerschaften Schröder und Merkel fortsetzt – und bei Merkel gewissermaßen den absoluten Höhepunkt erreicht, mit allen Problemen, die damit verbunden sind.

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Rosenbauer Fühlten Sie sich im Bundeskanzleramt unter Gerhard Schröder sehr einsam? Nida-Rümelin Einsam eigentlich nicht. In der alltäglichen Praxis der Politik war das ein sehr angenehmes Verhältnis, auch deswegen, weil Schröder einen bestimmten Führungsstil praktizierte, der mir sehr sympathisch ist. Jeder darf erstmal machen, was er für richtig hält, und wenn er es dann am Ende in den Sand setzt, ist er natürlich dran. Man hat seine großen Freiheiten. Also in der konkreten Praxis ging das wunderbar, zumal über diesen Transmissionsriemen Steinmeier, den Kollegen im Kanzleramt, mit dem ich mich sehr gut verstanden habe, der übrigens eine konzeptionelle Neigung hat, auch wenn man das nicht so stark erkennt in seinen öffentlichen Stellungnahmen. Trotzdem würde ich schon sagen, an intellektueller Unterfütterung von Politik hat es massiv gefehlt. Auch in diesen Jahren ist die Agendapolitik insgesamt ein Erfolgsprojekt, die niedrige Arbeitslosigkeit jetzt mitten in der Krise, die niedrigste seit 1992, sie wäre ohne Agenda nicht möglich und doch war sie nicht vermittelbar gewesen, weil das theoretische Fundament und vor allem die langfristige Perspektive, wohin soll sich das entwickeln, fehlte. Rosenbauer Sie haben gesagt, Utopien sind ein Krisenphänomen. Die Krise haben wir, und Herr Dr. Kufeld hat seinen Vortrag »Neue Utopien braucht das Land« genannt. Es gab mal eine Zeit, da hat Anne Haigis gesungen »Neue Männer braucht das Land«. Das haben wir offensichtlich geschafft. Aber woher kommen die neuen Utopien und vor allem, wie kommen sie in die gesellschaftspolitische Diskussion? Nida-Rümelin Ich glaube, dass gegenwärtig die machtvolle Utopie diejenige ist, dass wir eine politische Gestaltung der globalen Verhältnisse unbedingt brauchen, jetzt im Augenblick fokussiert auf Weltfinanzmärkte, aber das ist ja nur ein erster Schritt. Dass die eigentlich ja auch unausgesprochene Utopie des sich selbstregulierenden globalen Marktes mit dieser Weltfinanzkrise sich als nicht realisierbar herausgestellt hat. Das ist dieselbe Krisenanfälligkeit, die man aus dem Ende des 19. und ers47 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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ten Drittel des 20. Jahrhunderts kannte, die sich jetzt auf einmal wieder etablierte. Man hätte es in gewissem Maße wissen können. Und damals ist ja darauf reagiert worden durch feste Wechselkurse, durch einen starken Staatsinterventionismus aller westlichen Länder, von den östlichen ganz zu schweigen, und zwar unabhängig von der politischen Ausrichtung, das gilt sogar für faschistische Staaten, das gilt für den New Deal in den USA, das gilt für die Adenauer-Republik der Nachkriegszeit, alle waren stark interventionistisch. Feste Wechselkurse, Bretton-Woods-System, eine politische Steuerung gewissermaßen der Rahmenbedingungen des globalen Marktes. Das ist dann seit den 1980er Jahren und dann so richtig nach 1989 aufgegeben worden, mit massiver Propaganda im Hintergrund, und man kann sagen, dieses große »utopische« Projekt der Regelung über den puren Markt ist jetzt kollabiert. Deshalb glaube ich persönlich, dass wir zurückkehren zu einer politischen Gestaltung der Märkte, oder wir enden wahrscheinlich bald in globalen Wirtschaftskatastrophen, einen ersten Hinweis darauf hatten wir jetzt. Aber das kann man jetzt noch nicht beurteilen, ob das zutrifft, zeigt sich vielleicht erst in 20 Jahren, ob der Einschnitt 1929 vergleichbar sein wird mit dem Einschnitt der Jahre 2008/2009 und folgende. Und wenn das kommt, dann stellt sich natürlich sofort die Frage, nach welchen Kriterien das gestaltet wird, wer gestaltet, wie diese Institutionen aussehen, welche Rolle die Vereinten Nationen spielen. Das ist nicht so utopisch, wie es jetzt klingt, sondern ich glaube, es gibt sehr interessante Ansatzpunkte für eine in einem ersten Schritt auf Verträgen basierende globale Institutionalisierung, da können alle ein Interesse daran haben. Es scheint, dass es sich noch nicht überall rumgesprochen hat, das zeigt zum Beispiel, dass sich wichtige Länder wie Kanada und Brasilien gegenwärtig gegen stärkere Regulierung der Weltfinanzmärkte sperren. Da wundert man sich, wie kann das sein, aber ich hoffe, dass diese Widerstände überwunden werden und dann entsteht zwangsläufig eine Debatte über die Grundprinzipien einer politisch gestalteten internationalen Ordnung. Rosenbauer Die unterschiedlichen Regierungen in Bonn und Berlin haben sich ja immer Beiräte geschaffen. Einen Ethikrat, einen Wissenschaftsrat etc. Halten Sie es für realistisch, nicht nur der Regierung, sondern dem Parlament, einen Utopierat zu empfehlen?

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Nida-Rümelin Also Utopierat würde ich es vorsichtshalber mal nicht nennen, weil sonst ist garantiert, dass er keinen Einfluss hat auf die Politik. Aber vielleicht Gremien schaffen, in denen diese unselige Trennung der Systeme überwunden würde. Es gibt eine eigene politische Systemlogik, wo nur weniges eindringt, noch am ehesten aus den ökonomischen Instituten, dem Sachverständigenbeirat, aus der Juristerei, da ja, aber insgesamt dringt nur sehr wenig in dieses doch relativ geschlossene System Politik. Man braucht es nicht zu personalisieren, weil die Politiker können im Einzelnen nichts dafür, denn gerade die, die Entscheidungen treffen, sind in einer Lebenssituation eingebunden, in der eigentlich nicht vorgesehen ist, sich mehr als fünf Minuten mit einem solchen Thema auseinandersetzen zu können. Und deswegen glaube ich, braucht man in der Tat eine solche Entschleunigung der Deliberation, man braucht Orte, an denen diejenigen, die Entscheidungen treffen, gezwungen sind, mal für ein paar Stunden abzuschalten und sich mit den verschiedenen Szenarien zu beschäftigen. Das ist ja auch sozusagen ein heruntergebrochenes utopisches Element zu sagen, welchen Entwicklungsweg wir gehen könnten. Das ist ein sehr interessanter Ansatz, finde ich, der Ansatz einer pragmatischen Utopie, welche Szenarien möglich sind, was die Kosten wären, was die Vorteile, und sich mit solchen Strategien, langfristigen Entwicklungsstrategien, gründlich auseinandersetzen. Viel mehr bietet der wissenschaftliche Raum, als, glaube ich, bisher heute in der Politik überhaupt bekannt ist. Es gibt zum Beispiel hochinteressante Modelle, wie man den Klimawandel begrenzen kann, auf so zwei Grad Celsius, ohne Wohlstandsverluste in den westlichen Industrieländern und mit dem Ziel der Gleichbehandlung aller Erdenbürger, da gibt es durchgerechnete Modelle, ob sie wirklich funktionieren, sei dahingestellt, aber ich finde es bedauerlich, dass das so wenig in die Politik eindringt. Rosenbauer Ich habe kürzlich den Vortrag eines Neurologen gehört. Der beschrieb folgendes Experiment: Man hat Babys einen Film gezeigt, in dem ein grünes Männchen versucht, einen Berg zu erklimmen. Es fiel immer wieder runter. Dann kam ein blaues Männchen und half ihm auf den Berg zu kommen. Danach kam ein rotes Männchen und hat das grüne Männchen wieder runtergeschoben. Diesen Film hat man den Babys gezeigt und hat Ihnen dann ein rotes und ein blaues Männchen zur 49 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Auswahl gestellt. Alle haben das blaue Männchen genommen und nicht das rote. Zwei Jahre später haben dann fast alle das rote gewählt. Nida-Rümelin Ja, das ist gut. Also es gibt eine Debatte, auch in der Biologie übrigens, jetzt nicht Pro und Contra Darwinismus, sondern welche Rolle zum Beispiel Kooperation in der Evolution spielt. Und Joachim Bauer, ein von mir sehr geschätzter Biologe und Mediziner, hat dazu schöne Sachen geschrieben 1 , auch wissenschaftlich gestützte Argumente vorgebracht, dass es ein Zerrbild der Menschennatur, oder generell der Natur ist, dass es dort lediglich Konkurrenz und Brutalität und Durchsetzen gibt. Kooperation ist ganz entscheidend. Und wir tun so, als müssten wir mühsam erst den langsam Heranwachsenden beibringen, sozusagen als ethisches, kulturelles Projekt, dass Kooperation wichtig ist. Ich glaube schon, dass es Sinn macht, sich diese Offenheit der Menschennatur klar zu machen, und dass viele dieser vermeintlichen »natürlichen« Verhaltensweisen antrainierte Verhaltensweisen sind, die wir mühsam erst etablieren, um sie dann zu beklagen. Publikum Als Sie Staatsminister waren, hat einmal ein Minister in einem Interview gesagt: »Ein Glück, dass der Rümelin nur Staatsminister ist und nicht Umerziehungsminister des Kabinetts.« Denn er hat sich dann beklagt und gesagt: »Der Rümelin will uns philosophisch erziehen, dass wir philosophisch, verantwortungsbewusst, politisch denken.« Wie weit ist das eigentlich mit der Wahrhaftigkeit, dass die Politik, in der Sie ja mitgewirkt haben, tatsächlich die Grundsätze des philosophischen Betrachtens und des philosophischen Handelns miteinbezieht in die Politik? Vor allem damals, als sie mitgewirkt haben. Nida-Rümelin Also kein Mensch sollte den Versuch unternehmen, aus Politikern Philosophen zu machen, dann wären sie vielleicht auch gar keine guten Politiker mehr. Aber ich denke, dass dieser Moment der Deliberation, des Nachdenkens, der langfristigen Strukturierung der politischen Praxis im Hinblick auf das angestrebte Ziel einer humaneren Gesellschaft 1 Z. B. Joachim Bauer, Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus. Hamburg 2008.

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in der Politik eine größere Rolle spielen muss. Dieses Reagieren auf mal gerade auftretende Herausforderungen, im schlimmsten Fall auf bestimmte Artikel, die irgendwo erschienen sind, das macht diese Kurzatmigkeit aus, die viele als störend empfinden. Auch das muss sein, in gewissen Grenzen. Man kann sich keine politische Praxis in der medial verfassten Demokratie vorstellen, die auf diese Schnelligkeit und dieses Punkt-für-Punkt-Handeln ganz verzichtet. Aber es muss einen Einfluss des langfristigen Denkens geben, des konzeptionellen Denkens. Und das muss sich nicht in einer Person festmachen, mein Beispiel von Willy Brandt und der Ostpolitik, es genügt ja schon, wenn ein Intellektueller, damals Egon Bahr, vermittelt zwischen hochtheoretischen Konzepten und praktischer Politik, als Vertrauter von Willy Brandt. Das allein wäre ja schon ausreichend. Brandt muss ja nicht selber derjenige sein, der diese Konzeptionen entwickelt. Und daran hat es, glaube ich, über weite Strecken in den letzten Jahrzehnten, gerade in der Deutschen Politik, gefehlt. Publikum Herr Nida-Rümelin, ich möchte noch mal auf Ihren Anfang zurück gehen. Die Philosophie hatten Sie mit Platon eingeführt, und Sie kennen ja sicher das schöne Bonmot von Whitehead, dass eben die ganze Philosophie eine Ansammlung von Fußnoten zu Platon ist. Nun hatte ich aber bei Ihnen den Eindruck, dass bei Ihnen Platon selber nur eine Fußnote ist, denn ich bin mir nicht ganz klar, wie Platon in ihre Ausführungen hineinpasst, die dann eben doch in die analytische Philosophie hineinmündeten. Gerade wo es über Normativität usw. ging. Können Sie vielleicht noch mal ganz kurz sagen, was die Quintessenz Ihres Platonverständnisses ist? Nida-Rümelin Ich habe das vielleicht nicht deutlich genug gemacht, aber die Idee war die folgende: Der Titel meines Vortrags lautet ja »Utopie zwischen Rationalismus und Pragmatismus«. Und Platon etabliert eine Denkform, die einen Strang des utopischen Denkens an Rationalismus koppelt. Und Rationalismus heißt, wir beziehen uns auf Prinzipien, wir versuchen diese Prinzipien als selbstevident, als Ergebnis darzustellen; die Erkenntnis dieser Prinzipien bzw. Ideen ist bei Platon Ergebnis einer höheren Einsicht, die nur einige wenige haben, nicht alle. Während ich dem eine pragmatische Variante des Begründens gegenüber51 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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stelle, nämlich eine, die im Prinzip an alle adressiert ist, die alle einbezieht, die inklusiv ist, in der wir nicht aussteigen aus den Verständigungspraktiken, sondern in der wir uns als Teil der Verständigungspraktiken sehen. Aber die utopischen Potenziale kommen ins Spiel dadurch, dass diese Gründe, die wir vorbringen, objektive Gründe sind, dass wir überzeugt sind, das ist richtig, das ist falsch, das ist gerecht, das ist ungerecht, und dass die bestehenden Verhältnisse diesen Gründen in der Regel nicht entsprechen. Daraus leitet sich ein Veränderungsbedarf ab, und dieser Veränderungsbedarf muss eine Richtung bekommen, und damit er eine klare Richtung bekommt, sind Konzeptionen, Utopien gefragt. Das war sozusagen der pragmatische Gegenentwurf zu Platon und zum rationalistischen Strang des utopischen Denkens. Publikum Ich wollte auf den Mythos hinaus. Was hat der Mythos eigentlich in dem Konzept der Utopie zu suchen? Nida-Rümelin Das darf man jetzt natürlich nicht in einem Satz beantworten, aber die verschiedenen Gleichnisse gehören da mit hinein, Sonnengleichnis, Liniengleichnis, Höhlengleichnis usw.; auch andere Metaphern und Mythen, die in der Politeia eine Rolle spielen. Man kann sagen, das sind die Grenzen des sozusagen wissenschaftlich, philosophisch Erklärbaren und deswegen ein neuer Modus der Darstellung, eine Geschichte, Mythos, Erzählung, anhand derer dann die Menschen zu einer Einsicht kommen können, die man ihnen aber nicht Schritt für Schritt didaktisch vermitteln kann. Publikum Ganz kurze Anmerkung, Herr Professor Nida-Rümelin, haben wir nicht über alle Administrationen hinweg in Deutschland, Brandt, Kohl, Schröder, Merkel, einen glühenden Utopismus, und zwar einen sozialpolitisch etatistischen Utopismus, der sich von dem permanentem Wachstumsgebot leiten lässt. Hat es nicht damit zu tun, und ist das nicht Ansatzpunkt dazu, um zu einer neuen Utopie zu kommen, indem man parteiübergreifend bitteschön diese Utopie kritisiert und kritisch analysiert?

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Nida-Rümelin Sie werden sich vielleicht wundern, ich stimme Ihnen zu. Das wird nach meiner Einschätzung eine der großen Herausforderungen der Politik der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein. Sowas zu entwickeln wie eine globale Steady State Economy, das heißt eine Ökonomie, die zwar dynamisch ist, die Produktivitätssteigerung kennt, die auch Konkurrenz kennt selbstverständlich, die sich aber von diesem Wachstumszwang, der Koppelung der sozialen Systeme an Wachstum entfernt, die sich Schritt für Schritt davon abkoppelt. Und, Sie haben völlig recht, das ist eine kleine Minderheitenmeinung, das ist in allen Parteien nicht mehrheitsfähig gegenwärtig, ich glaube aber, das ist eine der großen utopischen Aufgaben, konzeptionellen Aufgaben, die für die politische Programmatik sich tatsächlich stellt. Rosenbauer Zum Schluss habe ich noch einen Vorschlag für den deutschen Bundestag. In letzter Zeit ist dort die Rede gewesen von Sachzwängen, von der Alternativlosigkeit von Gesetzesentwürfen. Es gibt einen sehr schönen Satz des Philosophen Martin Seel, und der steht im Bloch-Almanach von 2009. Dieser Satz lautet: »Utopien sind unmögliche Möglichkeiten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen.« Wenn man den so rund um den Bundesadler drapieren würde, so, dass die Abgeordneten immer da drauf schauen müssen. Wenn es dann doch noch diesen »Denkerrat« genannten »Utopierat« gäbe und sie sagen würden: »Hilfe, wir wissen es nicht, aber ihr wisst es auch nicht. Aber zusammen wissen wir es vielleicht.«

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Utopie und Apokalypse. Zur Dialektik von Utopie und Utopiekritik in der literarischen Moderne Wilhelm Voßkamp

I »Und ich sah, daß sich das sechste Siegel auftat, und siehe, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleich wie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Wind bewegt wird. Und der Himmel entwich wie ein zusammengerolltes Buch; und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern […] und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Mann.« 1 »Endzeitstimmung und Zukunftserwartung sind in der jüdischchristlichen Tradition […] in merkwürdiger und vielleicht historisch einzigartiger Weise miteinander verbunden.« 2 Die Konfiguration von Apokalypse und Utopie gehört zu jenen komplementären Denkfiguren, die sowohl die Angst vor radikaler Veränderung als auch die Hoffnung auf Zukunft artikulieren. Mit den berühmten Worten von Ernst Bloch: »In uns allein brennt noch dieses Licht, und der phantastische Zug zu ihm beginnt, der Zug zur Deutung des Wachtraums, zur Hand»Offenbarung des Johannes« nach der Übersetzung von Martin Luther Kap. 6, V. 12– 14; Kap. 21, V. 1–2. 2 Kurt-Victor Selge, Endzeitangst und Kirchenreform im Mittelalter: Joachim von Fiore. In: Kassandra die Ahnungsvolle. Propheten des Endes – Propheten neuer Zeiten. Hg. v. Gebhard Fürst. Stuttgart 2002, 29–48; hier 29. Zur aktuellen Diskussion über den Zusammenhang von Utopie und Apokalypse vgl. Utopie und Apokalypse in der Moderne. Hg. v. Reto Sorg/ Stefan Würffel. München 2010, insbesondere die Beiträge von Klaus Vondung (33–46) und Bernd U. Schipper (47–62). 1

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Utopie und Apokalypse

habung des utopisch prinzipiellen Begriffs. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die metaphysisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen uns ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, und das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova«. 3 Oder – unter Gesichtspunkten künstlerischer Intensität und Kreativität: »Wie könnten die Dinge vollendet werden, ohne dass sie apokalyptisch aufhören«! 4 »Utopie« und »Apokalypse« sind keine definierten Begriffe im Sinne einer inhaltlich festen Definition. Es geht vielmehr um textuelle Formen, und zu fragen ist nach den spezifischen Redeweisen des Zusammenhangs von Utopie und Apokalypse als Text. 5 Auch handelt es sich um keinen temporären Vorgang, der auf einer linearen Zeitachse abzubilden wäre, sondern um ein dauerndes Oszillieren zwischen Apokalyptischem und Utopischem bzw. Utopischem und Apokalyptischem und damit um einen unabschließbaren Diskurs. Es geht, wie Jacques Derrida betont hat, zudem eher um die »Wahrheit des Offenbarens als um die »geoffenbarte Wahrheit«, 6 in der Tradition jüdischchristlichen Verständnisses um »Enthüllung und Entdeckung der Wahrheit«. 7 Stets fällt auf, dass eine variantenreiche Bildersprache gewählt wird – ein Vor-Augen-Stellen mittels einer Sprache des Optischen, die das Visionäre hervorhebt. Nicht selten finden sich Formen rhetorischer Steigerung und Überbietung, um das Neue zu betonen und zu evozieren. Messianische Redeweisen kennzeichnen zudem eine spezifische »Symbolik der Erfahrungsauslegung«. 8 Schließlich offenbart das bibErnst Bloch, Geist der Utopie. Bearbeitete Neuauflage der 2. Fassung von 1923. Frankfurt a. M. 1964, 13. 4 Vgl. Wilhelm Voßkamp, »Wie könnten die Dinge vollendet werden, ohne dass sie apokalyptisch aufhören«. Ernst Blochs Theorie der Apokalypse als Voraussetzung einer utopischen Konzeption der Kunst. In: Aufklärung als Problem und Aufgabe. Fs. SvenAage Jorgensen zum 65. Geburtstag. Hg. v. Klaus Bohnen und Peer Orgaard. München 1994, 295–304. 5 Vgl. Jürgen Brokhoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik. München 2001, 9. 6 Jacques Derrida, Apokalypse. Hg. v. Peter Ingelmann. Wien 1985, 73. 7 Jürgen Brokhoff/ Bernd U. Schipper, Einleitung: Apokalyptik in Antike und Aufklärung. In: Apokalyptik in Antike und Aufklärung. Hg. v. J. Brokhoff/ B. U. Schipper. Paderborn 2004, 9–22; hier 18. 8 Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland. München 1988, 48. 3

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lische Schema von »Verheißung und Erfüllung« durchgehend den Kern apokalyptischer Rede, die in der säkularisierten Variante »einer Verzeitlichung der Existenzspannung zwischen Defizienz und Fülle« wiederkehrt. 9 Die erkennbar eschatologische Dialektik von Katastrophe und Erlösung bleibt in ihrer Verweltlichung auch in der Geschichte der literarischen Utopie wahrnehmbar, selbst dann noch, wenn das Motiv der Erlösung (in Formen einer weißen, positiven Utopie) in der Moderne schwindet und die schwarze, negative Utopie (Dystopie) dominiert. Dies zeigt sich im beobachtbaren, konstitutiven Zusammenhang und in der historisch durchgehend ablesbaren Verbindung von Utopie und Utopiekritik. ›Utopie und Utopiekritik‹ bilden ein Grundmuster der Literaturgeschichte der Utopie, in dem der ursprünglich heilsgeschichtliche Katastrophen- und Verkündigungsgestus wiederkehrt. Poetologisch findet sich stets ein Dreierschema: am Beginn des jeweiligen Utopie-Textes steht eine Figur der Negation gesellschaftlicher Realität, der gegenüber im zweiten Schritt eine utopische Konstruktion entwickelt wird, die in einem dritten Schritt auf ein bestimmtes Ergebnis oder einen neuen erzählten Zustand hinausläuft. 10 Dieser Zustand muss sich – hier durchaus parallel zur nichttemporären Figur des Apokalyptischen – nicht unbedingt auf Zukunft beziehen, er kann bereits als aktuelle (beispielsweise als bedrohliche, dystopische) Gegenwart veranschaulicht werden. Dabei sind bestimmte literarische Vergegenwärtigungstechniken (häufig am Drama orientiert) und rhetorische Überredungs-Strategien beobachtbar, weil nur auf diese Weise die intendierte Wirkungsabsicht erreicht werden kann. 11 Dies möchte ich im Folgenden an Beispielen aus der Geschichte der literarischen Utopie des 20. Jahrhunderts veranschaulichen. Zugespitzt könnte man formulieren: dass dem prinzipiellen Oszillieren zwischen Apokalypse und Utopie / Utopie und Apokalypse eine ›Strategie‹, aber mehrere ausdifferenzierte textuelle ›Verfahren‹ als litera-

Ebd. 55. Vgl. Wilhelm Voßkamp, The Narrative Staging of Image and Counter-Image: On the Poetics of Literary Utopias. In: Literatur und Wissenschaft. Literature and Science. Autorenkolloquium mit Lars Gustafsson. Bielefeld 2007, 59–72. 11 Vgl. Ludwig Stockinger, Ficta Res Publica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981, 15 ff. 9

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risch-ästhetische Phänomene von Utopie und Utopiekritik entsprechen. Erst die Verbindung von Utopie und Utopiekritik und eine radikale Utopiekritik liefern die Bedingung der Möglichkeit für das Entstehen und Ermöglichen neuer Utopien.

II Lassen sich ebenso satirisch-selbstkritische wie dystopische Elemente bereits in der Geschichte literarischer Utopien seit dem 16. Jahrhundert unschwer entdecken (Rabelais’ »Gargantua« konterkariert Morus’ »Utopia«; Swift invertiert Defoes »Robinson Crusoe«; de Sade diagnostiziert den utopischen Ordnungsterror der Libertinage), so offenbaren die kanonisierten Dystopien der Moderne (Huxley/Orwell) nicht nur eine Potenzierung dieser Komponenten, sondern zugleich ihre Steigerung und Perfektionierung im Gesamtentwurf. Dazu gehört vornehmlich die Kritik von Fortschrittsmodellen des 18. und 19. Jahrhunderts in der Formulierung einer Dialektik der utopischen Vernunft (analog zur »Dialektik der Aufklärung«) und die vollständige Verabschiedung eines ›utopischen‹ Vor-Bildes zugunsten bis ins Detail ausgemalter Schreckbilder. 12

Alfred Kubin: Die andere Seite (1909) Schon 1909 hat Alfred Kubin (1877–1959) in seinem »phantastischen Roman« (Untertitel) Die andere Seite 13 eine dystopische Doppelfiktion entworfen. Der Ich-Erzähler, ein Zeichner und Illustrator (vgl. die autobiographischen Züge) folgt dem »Ruf« eines Freundes und reist mit seiner Frau in ein imaginäres Traumreich östlich von Samarkand. Hier

12 Vgl. Wilhelm Voßkamp, Selbstkritik und Selbstreflexion der literarischen Utopie. In: Modernisierung und Literatur. Fs. Hans Ulrich Seeber zum 60. Geburtstag. Hg. v. Walter Göbel, Stephan Kohl und Hubert Zapf. Tübingen 2000, 233–244. 13 Alfred Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Mit Zeichnungen und einem Plan. 1909 (zitierte Ausgabe München 1975). Vgl. dazu Claudia Gerhard, Apokalypse und Moderne. Alfred Kubins Die andere Seite und Ernst Jüngers Frühwerk. Würzburg 1999.

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wird die monströse Wunsch- und »Traumwelt« Pateras dem zerstörerischen Reich von »Ordnung und Glück« des Amerikaners Herkules Bell gegenübergestellt. Deren apokalyptischer Kampf mündet in eine Vision vom Weltuntergang, der »ein weites, weites Trümmerfeld« 14 hinterlässt. »Die wirkliche Hölle«, so der Erzähler in Kubins Text, liege allerdings darin, »daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt. Der Demiurg ist ein Zwitter«. 15 Belässt es Kubin bei dieser Darstellung einer unauflösbaren Dialektik von Utopie und Utopiekritik, suchen die besonders erfolgreichen Dystopien des 20. Jahrhunderts (Aldous Huxleys »Brave New World« [1932] und Orwells »Nineteen eighty four« [1948]) nach Auswegen insofern, als sie den allmächtigen Ordnungssystemen (mittels naturalistischer Gentechnologie bzw. vollständiger medialer Überwachung und Kontrolle) vergebliche Versuche einzelner mutiger Individuen gegenüberstellen, die als eine Art Sisyphos den Kampf mit diesen Systemen aufnehmen. Theodor W. Adorno hat dies als illusionistischen Optimismus am Beispiel Huxleys kritisiert, da er ein auf Ganzheit und Individuation gerichtetes Subjektdenken repräsentiere, von dem heute keine Hoffnung auf einen dritten, ›anderen‹ Zustand ausgehen könne. 16 Deshalb möchte ich zwei Beispiele aus dem 20. Jahrhundert vorstellen, die auf eine Dichotomisierung von Einzelnem und ›utopischem‹ System verzichten und stattdessen nach einem möglichen Dritten als Zustand oder als Prozess fragen.

Jewgenij Samjatin: Wir (1920/21) Der Verfasser (1894 geboren) war Schiffsbauingenieur und seit 1908 Dozent für Schiffsbau am Polytechnikum in Petersburg. 1914 verfasst er eine Erzählung »Am Ende der Welt«, die wegen ihrer Kritik an der russischen Armee konfisziert wird. Zeitweilig verbannt, geht er 1917 nach England, um den Bau von Eisbrechern zu überwachen, die für Russland bestimmt waren. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion Alfred Kubin, Die andere Seite, 277. Ebd. 16 Theodor W. Adorno, Aldous Huxley und die Utopie (1955). In: Th. W. Adorno, Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft. Berlin/ Frankfurt a. M., 112–143. 14 15

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kommt es 1929 zu einem vollständigen Publikationsverbot. Samjatin stirbt 1937 in der Emigration. Das Buch Wir 17 erschien zuerst 1924 in englischer und französischer Sprache; es wurde in der Sowjetunion nicht gedruckt. Samjatin geht prinzipiell von einem binären Schema im Sinne der zuvor skizzierten Gegenüberstellung von Utopie und Utopiekritik aus, in dem er der geschilderten gegenwärtig realen, ordnungsbestimmten und furchterregenden Systemwelt im Zeichen des erzwungenen Glücks (dem »alleinigen Staat«) eine Gegenwelt der »alten Welt«, abgetrennt durch die grüne Mauer, gegenüberstellt. Die gegenwärtige Welt als (›negative‹) ›Dystopie‹ ist durch ein Glücksgebot definiert. Der Titel des Romans Mir (»Wir«) verweist darauf, dass es sich um ein kollektives Glück handelt, das individuelle Selbstverwirklichung ›überflüssig‹ macht. Berichtet wird über diese Welt von einem nummerierten Mathematiker (Nummer D-503) mittels nummerierter Tagebuch-»Eintragungen«. In der Einleitung (»Eintragung Nr. 1«) heißt es: »Ich, Nr. D-503, der Konstrukteur des Integral bin nur einer der vielen Mathematiker des Einzigen Staates. Meine an Zahlen gewöhnte Feder vermag keine Musik aus Assonanzen und Rhythmen zu schaffen. Ich kann nur das wiedergeben, was ich sehe, was ich denke, genauer gesagt, was WIR denken. WIR – das ist das richtige Wort, und deshalb sollen meine Aufzeichnungen den Titel WIR tragen«. 18 Die Erzählung vom »einzigen Staat« erinnert unter mehreren Gesichtspunkten an Traditionen etatistischer Sozialutopien seit Morus und Campanella. Die Realität ist streng reguliert und diszipliniert; der Staat funktioniert wie eine Maschine. Zeit ist vollständig reguliert; alles vollzieht sich in totaler Öffentlichkeit. Der »einzige Staat« hat »Krieg gegen Hunger und gegen ›Liebe‹« geführt und als Ergebnis eine »Lex sexualis« erlassen, die »jeder Nummer […] ein Recht auf eine beliebige Nummer als Geschlechtspartner erlaubt« (35). Das erzwungene Glück ist also ein »Glück des Einmaleins«, eine rationale Mathematik mittels »glücklicher arithmetischer Durchschnittsgrößen« (36). »Schön ist nur das Vernünftige: Maschine, Stiefel, Formeln, Nahrung usw.« (70). Die menschliche Phantasie ist wegoperiert. 17 Jewgenij Samjatin, Wir (1920/21). Zitierte Ausgabe aus dem Russischen übertragen von Gisela Drohla. Nachwort von Ilma Rakusa. Zürich 1977. Vgl. dazu Wilhelm Voßkamp, Selbstkritik und Selbstreflexion (Anm. 12), 239 ff. – auch zum Folgenden. 18 Jewgenij Samjatin, Wir, 8. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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Die Gegenwelt ist durch jene kontingenten Faktoren: Liebe und Witz (»eine unklare Funktion« [94]) definiert, die jenseits der Systemgegenwart auf ein Ideal der Unordnung und Originalität verweist. Die, wie es im Text heißt, »vorsintflutlichen Zeichen der Shakespeares und Dostojewskis« sind dafür charakteristisch (63). Verkörpert wird die alte, phantastische Welt durch die weibliche Nummer I-330, bei der alles »aus dem wilden, längst versunkenen Land der Träume« stammt und die sich jene Freiheiten herausnimmt (z. B. raucht und trinkt), die im gegenwärtigen Staat des »Glücks« verboten sind. Samjatin arbeitet mit einem binären Differenzschema von Gegenwart vs. Erinnerung, oder wie er es selbst formuliert: Das (erzwungene) Glück ohne Freiheit wird der (vergangenheitsbezogenen) Freiheit ohne Glück gegenüber gestellt. Da der Protagonist des Romans, der Mathematiker und Konstrukteur D-503, in eine Liebesgeschichte mit der Frau I-330 verwickelt wird und im Kontext dieser Geschichte zum ersten Mal das Wort »ich« statt des Wortes »wir« gebraucht, scheint es, als ob Samjatin – ähnlich wie später Huxley und Orwell – auf das traditionelle Schema der Gegenüberstellung von individueller Subjektivität und gesellschaftlichem Zwang zurückgreift. Aber Samjatin geht es gerade um die Verabschiedung dieses dichotomischen Modells. Denn innerhalb der Welt des kollektiven Glücks und des »glücklichen Gleichgewichts« entwickelt sich jene »Energie«, die eine »Zerstörung des Gleichgewichts, eine qualvoll unendliche Bewegung« bewirkt (214): »Es gibt zwei Kräfte in der Welt, Entropie und Energie. Die eine schafft selige Ruhe und glückliches Gleichgewicht, die andere führt zur Zerstörung des Gleichgewichts, zu qualvoll-unendlicher Bewegung« (214). Ursache dafür ist einerseits die in der Liebesbeziehung der beiden Protagonisten entwickelte Phantasie des Subjekts und andererseits jene Konzeption einer universellen Revolution, die niemals abgeschlossen werden kann: »Die Revolution ist überall, in allem; sie ist unendlich, es gibt keine letzte Revolution, keine letzte Zahl. Die Revolution der Gesellschaft ist nur eine aus ihrer unendlichen Zahlenreihe: das Gesetz der Revolution ist kein gesellschaftliches, es ist unendlich mehr, es ist ein kosmisches universales Gesetz.« 19 Jewgenij Samjatin, Über die Literatur, Revolution … ; zit. Ilma Rakusa, Nachwort zu der zitierten Samjatin-Ausgabe, 318.

19

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Utopie und Apokalypse

Samjatin entwirft neben den beiden Modellen der gegenwärtigen System- und Zwangswelt und der Erinnerung an eine Welt der Phantasie ein drittes als Möglichkeitsraum für immer neue Veränderungen. Der bestehende Systemzustand des erzwungenen Glücks ist nicht das Ergebnis einer letzten Revolution und damit das Ende einer geschlossenen Utopie (»Entropie«), vielmehr wird der erreichte Systemzustand durch mögliche Veränderungen in einem dritten Zustand ergänzt. Dafür steht der Begriff der »Energie«. Die dadurch bedingten Veränderungen sind allerdings nicht eindeutig; aber prinzipiell wird jene Kategorie »Möglichkeit« virulent, die den indikativischen Zustand des schrecklichen Gleichgewichts nicht nur kritisiert – wie der erinnerte Zustand der alten Welt –, sondern zugleich überschreitet. In einer apokalyptischen Vision wird die Phantasie des Protagonisten am Ende des Romans – als Hindernis auf dem Weg zum ›Glück‹ – wegoperiert. Dem an der Seele Erkrankten bleibt im Zeichen des Zwangsstaats keine Hoffnung; Nummer I-330 wird in eine Gaskammer gesteckt zur ›Gesundung und Wiederherstellung‹. Gleichwohl: der Hinweis auf den dritten Zustand als »Energie« macht den Zustand möglicher Veränderung zum konstitutiven Bestandteil des Romans.

Ursula K. Le Guin: The Dispossessed (1974) Prinzipielle Möglichkeiten des utopischen Erzählens im Horizont von Utopie und Utopiekritik und im Unterschied zu binären Modellen der Gegenüberstellung von sozialem System und einzelnem Individuum lassen sich auch in Ursula K. Le Guins The Dispossessed 20 beobachten. Ursula K. Le Guin, 1929 geboren, eine der angesehensten Schriftstellerinnen der Vereinigten Staaten, macht seit den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Verbindung von feministischen und Science Fiction-Motiven in ihren Büchern produktiv. In ihrem Roman »Planet der Habenichtse« entwirft Le Guin eine durch den russischen Revolutionstheoretiker Kropotkin (1842–1921) 20 Deutsche Übersetzung: Planet der Habenichtse. Science Fiction Roman. München 1976. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert; Seitenangaben im Text. Vgl. insgesamt: Utopie und Dystopie in den neuen englischen Literaturen. Hg. v. Ralph Pordzik und Hans Ulrich Seeber. Heidelberg 2002.

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Wilhelm Voßkamp

angeregte, auf Anarchie basierende utopische Welt (»Anarres«), die einer Welt des Mutterplaneten (»Urras«) gegenübergestellt wird. Beide Planeten (Zwillingsplaneten) werden in ein ebenso komplementäres wie kontradiktorisches Verhältnis gebracht, als Spiegelbilder, in denen sich die Aporien utopischer Projektionen abbilden. Im Unterschied zu den Bewohnern von Anarres, die gemeinschaftlich teilen, sind die Bewohner von Urras Besitzende. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist im Unterschied zu den emanzipierten Verhältnissen auf Anarres traditionell männlich dominiert, patriarchalisch: »Der Staat erkennt nur eine Münze an: die Macht. Und diese Münze prägt er selbst.« (249) Was in dieser Gegenüberstellung zunächst als lediglich oppositionelles Schema erscheint, erweist sich bei genauerer Beobachtung als Rahmen für eine wechselseitige, sich selbst aufhebende Tendenz. Die Anarrres-Utopie trägt nicht ohne Grund den Untertitel einer »ambiguous utopia«. Das anarchistische Modell entwickelt informelle Machtstrukturen und Bürokratisierungsformen, weil das Prinzip der Solidarität untergraben wird. Während die anarchische Utopie hierarchische Strukturen entwickelt, machen die Verhältnisse auf dem patriarchalischen Planeten Urras deutlich, dass das »Reich der absoluten Ungleichheit« gesellschaftliche Spannungen erzeugt, die zu Aufständen führen müssen. Le Guin kann deshalb – wie Samjatin – ein binäres narratives Modell verwenden, ohne dass es als dichotomisches Konzept erstarrt. Die Komplementarität von Urras und Anarres wird erzählerisch dadurch erreicht, dass im ersten Kapitel die Reise des Protagonisten Shevek, eines Physikers und Raumfahrtspezialisten, von Anarres (der Neugründung des anarchischen Modells) nach Urras (der Welt der patriarchalischen Gegenwart) geschildert wird. In den folgenden Kapiteln zwei bis zwölf wechselt die Erzählerin jeweils die Perspektive: Einerseits wird aus der Perspektive von Anarres, andererseits aus der von Urras erzählt. Im letzten, dreizehnten Kapitel schließt sich der Kreis: Diesmal wird von der Reise Sheveks von Urras nach Anarres berichtet. Dem kunstvollen erzählerischen Aufbau entspricht eine konzeptuelle Verzahnung der beiden planetarisch-utopischen Welten. Anarres vertritt die neue Welt eines libertären Anarchismus und der persönlichen Freiheit, die durch ein zentrales Prinzip, das der Teilung, charakterisiert ist. Die Bewohner von Anarres verzichten auf jedes Privateigentum und staatliche Lenkung. Verwaltung ist an die Stelle von 62 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Utopie und Apokalypse

Regierung getreten. Die einzige Ressource ist jene »Solidarität«, die Reformen der staatlichen Macht überflüssig macht. Shevek, der Wanderer zwischen beiden Welten, trägt den Funken der anarchistischen Revolution in die alte Welt: »Wir sind Brüder, Brüder in dem, was wir teilen. Im Schmerz, den jeder von uns allein leiden muß, im Hunger, in der Armut, in der Hoffnung erkennen wir unsere Brüderlichkeit […] Ihr besitzt nichts. Euch gehört nichts. Ihr seid frei. Alles, was ihr habt, ist das, was ihr seid, und das was ihr gebt. Ich bin hier, weil ihr in mir ein Versprechen seht, das Versprechen, das wir vor 200 Jahren in dieser Stadt abgelegt – und gehalten haben. Wir haben es gehalten, auf Anarres. Wir haben nichts als unsere Freiheit. Wir können euch nichts geben als eure eigene Freiheit. Wir haben keine Gesetze als das eine und einzige Prinzip der gegenseitigen Hilfe […]. Wir sind Teiler, nicht Besitzer […]. Wenn es Anarres ist, was ihr wollt, wenn es die Zukunft ist, die ihr sucht, dann sage ich euch, dass ihr mit leeren Händen zu uns kommen müßt. Ihr müßt allein kommen, und nackt, wie das Kind auf die Welt, in seine Zukunft kommt, ohne Vergangenheit, ohne Besitz, ganz und gar abhängig von anderen Menschen. Ihr könnt nicht nehmen, was ihr nicht gegeben habt, und ihr müßt euch selber geben. Ihr könnt die Revolution nicht kaufen, Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt die Revolution sein. Sie ist entweder in euch, oder sie ist es nirgends.« (274) Revolutionäre Rhetorik hat die Funktion, das System des etablierten Staates zu sprengen. Das System der Ungleichheit soll mittels des Prinzips der Gleichheit, der Teilung, der Solidarität aufgebrochen werden. 21 Le Guin kritisiert beide vorgestellten Modelle: Sowohl das anarchistische (das hierarchisch zu werden droht) als auch das hierarchischpatriarchalische (das zum System der vollständigen Ungleichheit pervertiert). Die beiden Modelle werden allerdings nicht in gleicher Weise kritisiert. Deutlich ist, dass auch Le Guin – vergleichbar mit Samjatins »Wir« – auf permanente Revolution, auf ein Prinzip von Bewegung als Konzept der Selbstgenerierung setzt. Utopiekritik mündet in eine Vision vom Überschreiten von (dystopischen) Utopiemodellen.

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Vgl. Wilhelm Voßkamp, Selbstkritik und Selbstreflexion, 241 ff.

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III Utopiekritik, so hat es der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson einmal formuliert, ist die Bedingung der Möglichkeit für ein offenes System mit weniger »utopischer Dichte«. Damit der jeweilige utopische Zustand nicht verkommt, bedarf er einer spezifischen Selbstveränderungsfähigkeit von Utopien. Dieses Konzept der sich selbstgenerierenden Utopie im Horizont des traditionalen Oszillierens von Utopie und Apokalypse zielt auf eine Konzeption von Utopie im Sinne der Ermöglichung anderer Zustände, ohne diese Zustände jeweils genauer auszumalen oder im Einzelnen zu beschreiben. Möglichkeiten sind allerdings nie eindeutig, sie sind aber der Ausdruck jenes Möglichkeitssinns, den Robert Musil im Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« ins Zentrum rückt. 22 Wenn Musil als Gegenbegriff zum »Wirklichkeitssinn« vom »Möglichkeitssinn« spricht, zeigt sich hierin – vergleichbar mit Samjatin und Le Guin – jene Bedeutung des utopischen Konjunktivs, der nun nicht nur im Rahmen der Gattung ›literarische Utopie‹, sondern darüber hinaus zu einem durchgehenden Merkmal avantgardistischer Literatur seit dem 20. Jahrhundert werden kann. Musils in mannigfachen Variationen wiederholte Hauptidee ist die Rolle und Funktion des hypothetischen Schreibens im Horizont des Möglichkeitssinns: »Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei wie es sei, dann denkt er: nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.« 23 Die Nähe zu Ernst Bloch und Karl Mannheim ist offenkundig. Die Entwicklung eines produktiven Möglichkeitssinns im Zeichen von Utopie und Utopiekritik setzt allerdings (wie schon in der apokalyptischen Tradition) eine »Erweiterung des [menschlichen] Wahrneh-

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978. Reinbek bei Hamburg 1987, Kapitel 4 (16–18). 23 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 16; vgl. Jiyoung Shin, Der ›Utopismus‹ im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Würzburg 2008. 22

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Utopie und Apokalypse

mungsvermögens voraus« 24 , so dass man Martin Seel zustimmen möchte, wenn er formuliert: »[…] alle Utopien lassen ferne Möglichkeiten absehbar werden, um hier und jetzt ergreifbare Möglichkeiten sichtbar werden zu lassen.« 25

24 Inge Münz-Koenen, Konstruktion des Nirgendwo. Die Diskursivität des Utopischen bei Bloch, Adorno, Habermas. Berlin 1997, 73 f. 25 Martin Seel, Drei Regeln für Utopisten. In: Zukunft denken. Nach den Utopien. In: Merkur-Sonderheft 2001, 747–755; hier 753. (Abgedruckt auch in: Bloch-Almanach, Folge 28/2009, Hg. von Klaus Kufeld, Mössingen-Talheim 2009.)

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Wie ist Konkrete Utopie heute zu denken? Burghart Schmidt

Was ist denn der Utopie schon wieder passiert? Seit man von ihr als solcher spricht, sucht man entweder ihre kulturelle Randständigkeit hervorzukehren, besonders durch das Verweisen ins Satirische, gar ins Sich-bloß-lustigmachen, oder man beschwört ihr Ende. Und man spricht von ihr als solcher seit Thomas Morus. Das ist schon sehr lang her, 1526 ungefähr. Morus hat das Kunstwort erfunden für einen Sachverhalt, den es unter anderen Namen sehr viel früher gab. Man müsste abendländisch mindestens wieder einmal bis auf Platon zurückgehen, auf den sich schließlich Morus immer einmal wieder beruft. Auch der altgriechische Philosoph schon mit seiner Politeia soll große Satire geschrieben haben wie dann, 1850 Jahre später, Morus mit seiner Insel Utopia. Und nun schon wieder! Seit 1990 wimmelt es von Schriftentiteln des Wortlauts von einem Ende der Utopie, eines Abschieds von der Utopie, eines Untergangs der Utopie, eines Endes vom utopischen Zeitalter, eines Ersetzens der Utopie durch Dystopie, negative Utopie, Warnutopie, Antiutopie. Merkwürdig verhält sich das. 1990 meint doch die Selbstauflösung des Sowjetsystems. Diese Selbstauflösung wird gerade zur Berufungsbasis gemacht dafür, dass man zu Recht der Utopie eine so schlechte Presse gebe. Denn mit der Selbstauflösung der Sowjetunion hätte das letzte utopische Unternehmen seinen Bankrott erklärt. Dabei war das Sowjetsystem das am stärksten antiutopische der Menschheitsgeschichte, auch wenn es gewiss aus utopischen Anstößen und Ursprüngen hervorgegangen war. In welchem menschlichen System hätte es das schon gegeben, dass Menschen utopischer Denkhaltung, utopischer Gesinnung durch den Richterspruch des Verbrechens in Arbeitslager oder psychiatrische Kliniken geschickt wurden. Utopie galt im Sowjetsystem als sträfliche Abweichung. Während man ab 1990 der Utopie unter anderem Namen, dem der Vision und des Visionären, mit größter Lautstärke einen kapitalisti66 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Wie ist Konkrete Utopie heute zu denken?

schen Wesensklang sang mitten unter lauter Schriften zur Feier eines Endes der Utopie. Nichts wurde mit dem gekommenen Hauptmodewort des Unternehmergeistes, der Kreativität, so eng verbunden wie die Vision. Wir haben also Jahrzehnte eines ideologischen Verwirrkanons der Dissonanzenfeier hinter uns, die nach neuem Durchdenken und Bedenken, vor allem Ausdenken rufen. Utopie wie nichts sonst muss unbedingt anders aufgefasst werden als bisher. Dabei hat sie schon stärkste Wandlungen durchgemacht, gerade durch das eben vorangegangene Jahrhundert, das zwanzigste unserer Zeitrechnung. Es waren die beiden Pfälzer Gustav Landauer und Ernst Bloch, die, Landauer zunächst 1908 mit seiner Schrift »Revolution« 1 , Bloch danach, auch mit Kenntnis von dieser Schrift Landauers, 1918 mit dem »Geist der Utopie« 2 , die das Programmwort umdeuteten von einem Begriff für eine bestimmte intentionale Literaturgattung des Entwerfens idealer Gesellschaften durch diffizile Beschreibungskünste zu einer Denkhaltung überhaupt, zu einer Einstellungsweise des Vorstellens überhaupt. Landauer hat sich allerdings auf die allgemeine Geschichtskategorialität eines Gegeneinanderwirkens von utopischer Denkweise und topischer beschränkt, wobei Letztere sich festklammert an das Überkommene, während die Erstere ihr Vorstellen richtet auf und ausfüllen lässt durch zukünftig anders Mögliches. Diese utopische Denkweise geht nach Landauer vom Individuum und seinem Vorstellen aus. Aber das Individuum teilt sich mit, kommuniziert, sucht sein individuelles Vorstellen zu vergesellschaften, wirbt also gleichsam um die Übernahme seines Vorstellens durch Andere. Wenn das gelingt, ergreifen die utopischen Vorstellungen sozusagen die Massen und von denen werden sie realisiert, Utopie schlägt in Topie um als eine verwirklichte, sie hat ihren Ort erreicht und wirft ihr »U« ab. Doch neue Utopie tritt von den Individuen her an. In der allgemeinen Geschichtskategorialität hatte Landauer mit der historischen Funktionsstruktur noch einen anderen Nachfahren in Karl Mannheim, der aber selbst noch 1928 bei der hohen Generalisierung blieb (»Ideologie und Utopie« 3 ). Ernst Bloch aber entwarf zuvor, vor Mannheim, im »Geist der Utopie« 1918 daraus einen konkret-qualitativen kulturhistorischen 1 2 3

Gustav Landauer, Revolution, Berlin 1974. Ernst Bloch, Geist der Utopie, GA Bd. 3 (Zweite Fassung), Frankfurt am Main 1964. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 1985.

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Prozessdurchgang, sozusagen in Fleisch und Blut brachte er das Gerippe zum Galoppieren. Insofern hat Blochs Werk weder mit Landauer noch mit Mannheim zu tun, es steht in seinem literarischen Philosophieren einzigartig da. Allerdings trägt »Geist der Utopie« 1918 nur erst Exempla zusammen von einer sich konkretisierenden utopischen Kulturgeschichte, Exempla, die sogar noch ineinander einbrachen und sich ins Wort fielen. Erst Blochs gesamtes Lebenswerk erfüllt die Anforderung, zu der »Geist der Utopie« den Auftrag gab und probierte, ob es anginge. So wurde Blochs Lebenswerk zur Hauptsache ein Fördern des utopischen Vorkommens in der Kulturgeschichte der Menschheit. Hans Mayer schrieb einmal, Ernst Bloch habe keine Utopie entworfen, vielmehr habe er der Utopie-Produktion in Kulturgeschichte nachgespürt und nachgewittert und sie, wo gefunden, aufgewiesen durch ein großes Freischaufeln von den Schalen der Ideologie wie Topie. Bloch selber nannte das die Arbeit am Hervorbringen der »Zukunft in der Vergangenheit«. Dabei geht er an Kulturgeschichtliches überhaupt heran und findet auch dort Utopie, wo alle Utopie verschwiegen sein soll, mindestens nicht expressis verbis angezeigt ist oder gar angefeindet oder verachtet wird, und doch mag sie darin rege sein, verdrückt, verdrängt. Er arbeitet sich entlang der Leitleine eines nachhaltigen Utopieverdachts durch die Kulturgeschichte. Gut, das ist die eine Leistung seines neuen Utopiebegriffs gewesen, deren Arbeitsrichtung und Arbeitsweise unbedingt fortgesetzt werden muss und fortsetzbar sich erwiesen hat bis zu Jürgen Habermas und darüber hinaus. Und nie wurde in ihr jener Hintergrund vergessen, der sich aus dem Ursprungssinn der Utopie als eines beschreibenden Entwurfs von Idealgesellschaft ergab, die Beziehung zum gesellschaftlichen Veränderungsprozess hin auf ein Menschlichermachen der menschlichen Gesellschaft. Die Aktualität des gerade Skizzierten zeigt sich in der Debatte von 2004/2005 zwischen denen, die Utopie nur noch überdauern lassen wollen als Begriff für eine bestimmte Art von Literatur, und denen, die weiterhin den weiteren Begriff einer utopischen Denk- und Vorstellensweise in der Kulturproduktion verfolgen. Diese Debatte schlug sich nieder in Heften der Zeitschrift »Erwägen Wissen Ethik« der Universität Paderborn. 4 Die andere Leistung im Utopiebegriff, die durch Bloch eintrat, das 4

Erwägen Wissen Ethik (vorm. Ethik und Sozialwissenschaften), Jg. 16/2005 Heft 3.

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war die Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter Utopie. Dieser Unterschied geht bei Bloch in dem dazu entscheidenden Werk, dem »Prinzip Hoffnung«, zunächst auf die Realisationsfrage: Hat eine Utopie Aussicht auf Realisierbarkeit oder nicht? Schon kommt die Differenzierung, die Utopie habe auch dann keine Realisierbarkeit in sich, wenn sie ethisch abzulehnen ist, selbst oder gerade wenn ihre technische Realisierbarkeit außer Zweifel stünde. Also Realisierbarkeit ist zur Konkretheit keineswegs alles. Bloch wollte sich nur schützen bei seiner Feier des utopischen Elans vor dem Missverständnis, er träte für alle irrealen Phantastereien ein, die er mit dem Volksmund »Wolkenkuckucksheim« nannte, nach dem Bild der Redewendung aus deutscher Sprache. Machbarkeit nach technischer und ökonomietechnischer Seite, aber ebenso Wünschbarkeit nach ethischer und ästhetischer Seite auf dem Hintergrund historisch geladener Wertung mit Wertungskritik waren für Bloch die Kriterien des Konkreten gegenüber dem Abstrakten. Und doch wurde er, als er theoretisch zur Wirkung kam, in Sachen der von ihm vertretenen Konkretheit bis weit in die 60er, 70er Jahre vorigen Jahrhunderts missverstanden in Richtung eines Verwechselns von Utopie und Planung. Euroamerikanische Macher der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ließen dabei in ihrer Blochbeschäftigung keineswegs die ethischen und die ästhetischen Werteinschränkungen des Konkreten außer Acht, aber sie vergötzten im Bildbegriff der Konkreten Utopie die Realisierbarkeit. Die anderen Macher haben sich gar nicht erst auf Bloch berufen. Das ist es also nicht. Aber Bloch hat, und das ist entscheidend für die Neubestimmung des Utopiebegriffs, in der »Tübinger Einleitung in die Philosophie« 5 den Utopiebegriff verbunden mit der Qualifizierung der »Auszugsfigur«. Und das macht den Unterschied auch noch zu bester ethischästhetischer Planung. Der Ansatz des Vorgriffs auf Zukunft verändert sich in seinen Realisationsprozessen durch dauerndes, also nachhaltiges Sich-messen an seinen Wertungen, das meint Auszugsfigur als eine, die aus sich selber ausziehen möchte in Richtung auf das Intentionale in ihr. Dagegen Pläne werden durchgezogen auf ihre Destinationen hin. Es gilt für Bloch im Namen der Auszugsfigur im Unterschied zu Planrealisationen laufender Transformation wie Kündbarkeit des ReaErnst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, GA Bd. 13, Neue, erw. Ausg., Frankfurt am Main 1970.

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lisationsvorgangs bereitzustellen, gewiss nicht in einem kleinen Vorhaben, aber in komplexen Unternehmen auf die Zukunft hin. Utopie ist handlungsmotivierend, nicht handlungsanweisend wie die Planung, das war meine Interpretation dessen gegen eine Verwechselung von Utopie und Planung in meinen frühen Arbeiten. 6 Gewiss kann man darum im Weiteren ständig festhalten, dass Bloch gegenüber der Ideologie des Sowjetsystems einerseits mit seiner Theorie der Tendenzengeschichte statt der Gesetzesgeschichte – die Geschichte eröffnet freie, das heißt unausgemachte Möglichkeiten, nicht unumgängliche Notwendigkeiten – doch ebenso auch mit seiner Theorie der Auszugsfigur gegen die Planwirtschaft des Sowjetsystems stand, in einer Zeit, in der er selber in der DDR lebte und arbeitete. Also fragende, untersuchende Experimentalität war Blochs Sache entgegen sich selbst gewisser Ausführung auf Grund von Leitung durch die angeblich Wissenden, die dann doch nur als fraglos gewordene Dogmatiker sich herausstellten. Der Experimentbegriff in seinem weitesten Sinn spielt für Bloch eine ganz große Rolle gegen die Verengung auf den naturwissenschaftlich-technologischen Begriff dessen in rein gemachter, also viele Konditionalitäten ausklammernder Methodologie. Daher gab er seinem späten Hauptwerk, dem kurz gehaltenen Abriss seines gesamten Philosophierens, den Titel: Experimentum Mundi. Bei solchem Experimentalen hat Bloch höchste Grade der Reversibilität, das meint Rückrufbarkeit, fordernd zentral im Auge gehabt, damit der Mensch nicht Knecht seiner Werke würde, Rädchen im Getriebe. Im nun Notierten sind bei Bloch im Vorgriff jene Wandlungen der Auffassung vom Utopischen gestartet worden, wie sie für unsere Aktualität zu Beginn des 21. Jahrhunderts drängend werden, will man Utopie nicht preisgeben an einen literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriff. Diese Wandlungen berühren die spätere Kritik der Geschichtstheorie durch Michel Foucault und die noch spätere Theorie der handlungsleitenden Geschichten von Jean Francois Lyotard. Denn mit Tendenzengeschichte, was hat Bloch dadurch ausgedrückt? Dass die Menschheitsgeschichte nur Tendenzen zu verschiedenen möglichen Folgeprozessen hervorbringt, nicht notwendige Voraussetzungen zu notwendigen Folgen. Bloch hat sich hierzu beim originalen Marx eingerichtet, der Tendenzen verhinderte Gesetze nennt. Verhin6

Siehe die Anmerkung am Schluss des Aufsatzes.

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derbare Gesetze, das sind aber nicht die naturwissenschaftlichen Gesetzlichkeiten, die sind vom Menschen nicht zu verhindern. Vielmehr bietet Modell hier das Rechtsgesetz, das ist von Menschen verhinderbar, weil ja ohnehin von ihm gemacht. Es ist demnach das Modell für historische Zusammenhänge. Damit hat Bloch schon den Punkt erreicht, an dem klar wird, dass keine einzelnen Menschenköpfe von »Meisterdenkern« die Geschichte zu konstruieren vermögen, sondern dass in offenen Tendenzfeldern kollektives Handeln in Auseinandersetzung gefordert ist und nicht ein glattes Vollziehen von Anweisungen aus den Politbüros vorgeblich Wissender, so sehr diese auch vorher diskutiert haben mögen gemäß der Ideologie vom demokratischen Zentralismus. Wenn nun Foucault die Konstruktion der Geschichte durch »Meisterdenker« angreift, dabei durchaus auch die Originale Marx und Engels mitmeinend, aber vor allem die KPF und zuvor und darin das Sowjetsystem, so will er ja damit nicht eine völlig irrationale, nicht zu ordnende Geschichtlichkeit einfordern. Denn dann wäre sein gesamtes Lebenswerk bis in die äußersten Wurzeln absurd. Gerade Foucault hat sich mit der Geschichte der Institution Psychiatrische Klinik befasst und sie mühevoll durchgearbeitet, er hat sich mit der Geschichte der Institution Gefängnis befasst, mit der Geschichte der Institution Humanwissenschaftsbetrieb, mit der Geschichte der Institution Liebe. Und er hat überall Ordnungsentsprechungen gefunden zwischen Wirtschafts-, Rechts-, Wissenschafts-, Kunstorganisation. Nur dass er, als gründlicher Besucher der Archive, in den Interpretationen der Zuordnungen sehr vorsichtig blieb. Die Entsprechungen, die er in Strukturverwandtschaften ermittelt, deutet er weder als Kausalität, noch als ein in zeitlicher Folge Sich-auseinander-entwickelt-haben, noch als Zweckund Sinnbestimmung eines absichtlichen Durchordnens, hier bleibt er in seinem Wissensanspruch so vorsichtig wie Sokrates. Trotzdem liefern ihm, bei all seiner Polemik gegen die Konstruierbarkeit eines revolutionären Subjekts, seine Ordnungs- und Zusammenhangs-, also Entsprechensentdeckungen (correspondences) strukturaler Art Motive für das handelnde Engagement in den sozialen Auseinandersetzungen seiner Gesellschaft, in der er lebt. Er fordert geradezu, die Widerstandsbewegungen in der Gesellschaft dort aufzusuchen, wo sie sich wirklich regen, statt in der Ideologie der KPF ein revolutionäres Proletariat aus den geheiligten Texten abzuleiten und sich von dieser theoretischen Konstruktion alles gesell71 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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schaftliche Heil zu versprechen in allen Widerspruchslagen, wo es doch so real gar nicht mehr aufzufinden ist außer in der Konstruktion der KPF’ler. Schließlich hat sich Foucault engagiert in der Bewegung für die Geisteskranken gegen deren Wegsperrung aus der Gesellschaft, er hat sich engagiert in der Bewegung für die Strafentlassenen zu deren Rückkehr in die Gesellschaft, er hat sich engagiert für den Feminismus, er hat sich engagiert für den Umweltschutz, er hat sich also engagiert in allen realen gesellschaftlichen Widerspruchsfronten. Er sah demnach sich gestellt in ein geschichtlich hervorgebrachtes Tendenzenfeld, worin die Tendenzen darauf angewiesen sind, durch soziales menschliches Handeln in Realisation versetzt zu werden, sie vollziehen sich nicht von selber, das ist ihr Unterschied zum Naturgesetz. Wie man sie einschätzt, als was man sie einschätzt und welche Handlungsmotive und Handlungsweisen man durch sie möglich gemacht sieht, das hat nur Vorschlags-, nicht Planungs- und damit Anweisungscharakter. Es muss kollektiv diskutiert werden, demokratischsozial, nicht in theoretisch konstruierten Kollektiven von Politbüros. Und das entspricht eben Blochs Geschichtstheorie der Tendenzkunde. Und die »Auszugsfigur« darin? Foucault hat stets davor gewarnt, in den gesellschaftlichen Widerspruchskämpfen zu sehr und zu lange auf die eine Karte zu setzen. Solche gesellschaftlichen Auseinandersetzungen an Fronten haben es wegen des Frontalen in sich, zu erstarren. Bewegungen werden institutionalisiert und das Institutionale beginnt, gegen den Sinn, aus dem es geboren wurde, Eigendynamik zu entfalten, ein Wissen, das Foucault von Sartre übernommen hat. So muss man gegen die Institutionalisierung vom Sinn her transformieren oder sogar bei Feststellen von Erstarrungsprozessen aus der Institution ausbrechen. Das hat nichts mit Treulosigkeit zu tun, sondern mit der Blochschen Bestimmung, Tendenzen seien Auszugsfiguren aus sich selber, Experimentieransätze mit Höchstgrad der Reversibilität und Transformierbarkeit. Schließlich soll man mit und an Menschen nicht naturwissenschaftlich experimentieren, auch nicht psychologisch, auch nicht soziologisch, außer in dem Sinn, dass er sich selbst experimentiert in aller Vorsicht des Stopps und der Variierung bis zur Zurücknahme. Der nächste zentrale Gesichtspunkt zu Utopie heute kommt von Jean Francois Lyotard her, bewegt sich aber in den Überlegungsgebieten Foucaults, wie sie hier skizziert wurden und haben auch Blochstudien hinter sich wie das Foucaultsche. Es gab in Paris im Zusammen72 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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hang mit H. Marcuse-, Benjamin- und Lukács- ebenso Blochdebatten um den Pariser Mai 1968 herum. Lyotard sieht in resignativer Erfahrung daraus die Großen Geschichten über die Horizonte gesellschaftlicher Wandlungsmöglichkeiten ausgelaufen, entweder ad absurdum geführt oder in Grauen und Schrecken erstickt oder ermattet oder matt geworden in Abarten verwirklicht. Unter Großen Geschichten dieser Art versteht er etwa den Kommunismus, im Grauen erstickt, oder auch die Humboldtsche Universitätsidee etwa als ein Ermattungsbeispiel mit Partialrealisation. Da gäbe es aber die Kleinen Geschichten, die mit den großen nicht ausgelaufen wären, und die hätten weiter Virulenz. Nicht, dass Lyotard folgende Notierungen so vorgetragen hätte, wie ich das hier jetzt tue, aber er hat so ungefähr Solches gemeint. Zunächst wären dann zu den Kleinen Geschichten die Angaben über die gesellschaftskritischen Engagements des Michel Foucault heranzuziehen. Dann weiter: die Horizonte des Umweltschutzes und des Bewahrens der natürlichen Ressourcen für die Existenz der Menschen, nicht nur bezogen auf das Überleben überhaupt, sondern auf das Lebensglück im Existieren. Dazu haben wir die Gesichtspunkte einer durch die neuen Medientechnologien eröffneten Simulierbarkeit des Weltumgangs der Menschen, die in Sachen des Ressourcenverbrauchs zu enormen Entlastungen führen könnte, ohne dass Erlebensverluste einträten. Es geht in den letzten Jahren in breiten Diskussionen um das arbeitslose Grundeinkommen für alle, das ja noch nicht einmal mehr von Kapitalinhabern und Arbeitgebern so ohne weiteres verteufelt wird. Fast trifft das sogar auf der Diskussionsebene, aber auch nur auf ihr, zu für die Forderungen nach Gerechtigkeit gegenüber der Dritten Welt, Fair Trade, Entwicklungshilfe anders und neu, Kleinstkredite, Suche nach Möglichkeiten des Verhinderns von Kinderarbeit, anstatt dass die Kinder zur Schule gingen. Da liegen offen die Felder des Behauptens von Qualitäten des Regionalen in der Globalisierung und der Gleichmacherei des internationalen Stils (eine Front, an der sich Bloch besonders mit seinem Vortrag, dann Essay »Differenzierungen im Begriff Fortschritt«, 1964 in der »Tübinger Einleitung in die Philosophie« veröffentlicht, engagierte, inspiriert aus der Frühe seiner Werke, »eine Geburtszange muss glatt sein, eine Zuckerzange mitnichten« (»Geist der Utopie« 1918)). Vergessen wir nicht die Horizonte eines Veränderns der mächtig Ressourcen verschleißenden Touristik, was auch oben Angezeigtes einer Simulation von Weltumgang mit Entlastung 73 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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berührt (siehe Publikationen von Klaus Kufeld, insbesondere »Die Reise als Utopie«, 2010 7 ). Und es ist zu neuer Touristik zu verweisen auf den Umstand, dass der Mensch ganz stark die Neigung hat, auch bloße Möglichkeiten freudvoll zu geniessen, ohne dass sie sich für ihn realisieren. Ich habe das festgestellt in Gesprächen mit Besuchern von Nationalparks, in denen noch Bären und Wölfe vorkommen oder wieder vorkommen. Es gab den Besuchern schon etwas, dort zu sein, wo diese Tiere herumliefen. Ohne dass sie, die Besucher, bereit gewesen wären, in Nacht und Nebel zu den Almen hinaufzusteigen, wo sie vielleicht auf diese wilden Tiere wirklich gestoßen wären. Es reichte, dass man bisweilen Spuren sah. Nun haben ja die Einbrüche der großen Ölverschmutzung von Meeren und die der Finanzkrise neue Tendenzsituationen hervorgebracht, die alle möglichen Kleinen Geschichten aufwirbeln und sie anders wirken lassen als vor noch zehn Jahren, gar früher. Sicher meldet sich ein Hohnwort dagegen, gegen die Kleinen Geschichten, von langher Walter Benjamins Spruch, es ginge nicht um die Verbesserung von Gefängnisbetten. Aber seit sich die Großen Geschichten mit Schrecken derart blamiert haben, liegt heute freilich näher zu sagen, es wäre allerdings schon viel, wenn die kleinen Utopien weiterhin virulent blieben und Wirkung zeigten. Doch ein Umstand liegt darin begraben, auf den mich in Diskussionen um und über Lyotard Roger Behrens aufmerksam machte, es war auf einer Südtiroler Alm: dass die Kleinen Geschichten alle einen Hintergrund hätten, auf den sie sich beziehen und dieser Hintergrund mache eine Große Geschichte aus, die sich in den Kleinen Geschichten regt und windet. Damit hatte Roger Behrens Lyotard von Blochs Lehre über das Ineinanderwirken und doch sogleich zueinander Fremdgehen von Nahzielen und Fernzielen her interpretiert. Denn wenn man auch über dauerndes Diskutieren von Konkreter und Abstrakter Utopie bei Bloch andere Themen verpasste, so hatte Bloch auch eine solche Theorie von Nah- und Fernzielen entworfen, die gewöhnlich in den Diskussionen nicht zur Sprache kam. Sie unterscheidet seine Utopieauffassung von der etwas hochmütigen Walter Benjamins. Man lese die »Spuren«, »Erbschaft dieser Zeit« und entsprechende Partien des »Prinzips Hoffnung«, worin auch die kleinen 7 Klaus Kufeld, Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, München 2010.

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Wunschträume des Alltags ihr nachhaltiges Gewicht im utopischen Prozess bekommen. So zeigte Bloch schon früh Sinn für die Kleinen Geschichten, wenn er auch sie immer in der Hingespanntheit auf Fernziele sah. Doch indem er die Fernziele wirklich als Ziele der Ferne sah, denen man sich im Hier und Jetzt nur in kleinsten Schritten annähern könne, ohne sie zu erreichen, wird seine Nahziel-Fernziel-Dialektik kompatibel zur Dialektik, die man aus Großen und Kleinen Geschichten bei Lyotard folgern muss. Nun wird es nötig, über Lyotard und Bloch hinauszugehen, indem man, sive Fernziel, sive Große Geschichten, beide sogar ins Unrealisierbare versetzt sieht. Dann ist man dort angelangt, wohin einen der amerikanische Politologe Dick Howard schon vor der Selbstauflösung des Sowjetsystems 1985 durch eine Buchtitelwahl hatte hinführen wollen in seiner Verzweifelung am Kommunismus in Realisationshorizonten. Der Buchtitel lautete: »From Marx to Kant« 8 . Er appelliert an eine zentrale Kantische Lehre zu praktischer Vernunft, sie könne sich auch leiten lassen, ja müsse sich leiten lassen von Leitbildern, deren Nichtrealisierbarkeit ihr absolut gewiss wäre. Kant bezog das freilich nicht auf den Kommunismus, sondern auf die Gerechtigkeit. Aber eben das lässt sich in unserem historischen Jetzt durchaus übertragen auf den Kommunismus, von dem ja Brecht gesagt hat, er sei das Einfache, das so schwer zu machen sei. Also Kommunismus lässt sich nicht verwirklichen, das wissen wir endgültig genau. Aber wir können alle unsere kleinen Geschichten auf kleinste Schritte zu ihm hin ausrichten. Etwa das arbeitslose Grundeinkommen für jeden, ehrlich gedacht und nicht zwischen Sozialhilfe und Zwangsarbeit, wäre so ein kleiner Schritt aus dem Geist des Kommunismus oder die kleinen utopischen Geschichten, die ich vorhin aufzählte. Es wird dann aber plötzlich nötig, Konkretheit der Utopie vermittelnd auf abstrakte Utopie hin zu verstehen. Abstrakte Utopie war ja von Bloch her bestimmt als die nicht realisierbare eines Wishful Thinkings oder Wolkenkuckucksheim. Das würde logisch auch für die Kantischen Postulate gelten, denen nur eine unendliche Approximation gilt. Und in deren Sinn soll hier die Utopie des Kommunismus etwa verstanden werden. Man wird gezwungen, einen Wirklichkeitsbezug auch der abstrakten Utopie anzunehmen als Wirksamkeitsbezug, selbst oder gerade in ihrer extremsten Weise einer »reinen Utopie«. Dieser Überlegung 8

Dick Howard, From Marx to Kant, Albany 1985.

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hat sich ausführlich mein Buch mit dem Titel »Kritik der reinen Utopie« 9 gewidmet. Zentral ist dem Buch ein Gesprächspassus zwischen Bloch und Theodor W. Adorno, worin Adorno damit beginnt, seinen absoluten Unglauben an eine Überwindung des Tods im Diesseits etwa durch Fortschritte der Medizin darzulegen. Und doch spreche das »Prinzip Hoffnung« von solcher Möglichkeit, die ihm, Adorno, als Unfug erscheine von einer Seite her. Aber von einer anderen Seite her erhebe Bloch damit Einspruch gegen alle Ideologien, die den Tod dem Leben eingemeinden wollen oder gar das Leben wesentlich vom Tod bestimmt sehen oder auf den Tod hin beziehen. Und solche Ideologien würden den Menschen disponieren zur Verheizbarkeit, ja Quälbarkeit. Denn sterben müsse er ja ohnehin, ob früher oder später, ob mit mehr Qual oder weniger, was macht’s. Gegen derartige Einstellung zu revoltieren, sie aus dem Feld zu weisen, das sei die handlungsleitende Motivik in Blochs unrealisierbarer Utopie einer Überwindung des Tods im Diesseits. Unrealisierbarkeit macht also allemal am wenigsten das letzte Wort aus, das hängt vielmehr an und in der Wertkritik der Motivik. Ein anderes zentrales Beispiel unserer Gegenwart: in der Auseinandersetzung um Multikulturalität sind wir mittlerweile an den Punkt gelangt, in dem sich freie Migration für alle zur reinen Utopie zu verwandeln scheint, zur abstrakten. Freie Migration für alle, das heißt ja das Menschenrecht darauf, seine Lebensschwerpunkte zu verlagern, wohin man will. Es geht schließlich bei der Migration nicht um Touristik. Touristik jeder Art meint ein Reisen sehr vorübergehender Weise mit Rückkehr an den Ausgangsort. Migration verlegt wirklich und auf längere Zeit die Lebensschwerpunkte, also die alltägliche Arbeits- und Kommunikationssituation anderswohin. Mag sein, dass man später zurückkehrt an den Herkunftsort mit dem Lebensschwerpunkt, aber das ist nicht unbedingt vorgesehen. Es war Vilem Flusser, der am stärksten die Utopie der freien Migration entwarf 10, und das auf dem Hintergrund einer Lebensgeschichte, in der er vor den Nazis und ihrem 3. Reich fliehen musste, aus der Tschechoslowakei nach Lateinamerika. Später zog es ihn nach Frankreich, in die Schweiz, auch nach Deutschland und er kehrte gar in die Tschechoslowakei oder vielmehr nach Tschechien zurück. Mit seinem 9 Burghart Schmidt, Kritik der reinen Utopie. Eine sozialphilosophische Untersuchung, Stuttgart 1988. 10 Vilem Flusser, Von der Freiheit des Migranten, Berlin 2000.

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Lebensweg liegt also einmal erzwungene Migration vor, die man Vertreibung oder Deportation nennen muss. Dann kam es zu freier Migration, von manchem Visumszwang einmal abgesehen. Flusser erlebte in Endeffekten auch das, was sich aus der erzwungenen Emigration schließlich ergab, als positiv, was ihn zum echten Wandermenschen, nicht Reisevogel machte. Er sah aber solchen Ausgang begründet in einer Reihe von ans Unwahrscheinliche grenzenden Zufällen. Daher blieb er engagiert gegen erzwungene Emigration. Das sich aus der Serie von nahezu unwahrscheinlichen Zufällen ergeben habende positive Erleben einer abwechselungs- wie erfahrungsreichen Lebensbahn aber führte ihn zu der Utopie der freien Migration für alle, die heute fast keinem mehr in den Kopf will. Freie Migration ist zu reiner Utopie geworden. Liegt das aber vielleicht daran, dass zwar geredet wird von einer Minimalintegration, aber in Wirklichkeit überspannt man die Integrationsansprüche in der Ablehnung des Fremden? Schon dass man »Parallelgesellschaft« völlig negativ besetzt hat im Westen, das wäre sehr zu diskutieren, dem sarrazinischen Stammtischgewäsch aus Halbwissen eines Informierungsunwilligen entgegen. Schließlich gilt es, Geschichtsbeispiele additiver Kulturalität zu studieren, die sich offensichtlich erfolgreich durchschaukelten in lauter Parallelgesellschaft. Jahrtausende von Damaskus sind bis in die letzten Jahre noch zu spüren im Zusammenleben der verschiedensten Religionsgemeinschaften, bedroht allerdings jetzt durch radikalisierenden Islamismus, Venedigs Gesellschaft war durch Jahrhunderte hindurch ein irgendwie funktionierendes Beieinander von Parallelgesellschaften, und dann New York mit Italytown, Chinatown, früher auch Germantown bis in die 1960er Jahre vorigen Jahrhunderts und so weiter. Gewiss, Ehrenmorde, Frauenkauf, Zwangsehe und manches andere, besonders der Dschihad als Untergrundterrorismus und überhaupt im Gewaltsinn, dem muss schärfst möglicher Widerstand geboten werden. Das gilt aber nicht nur für den Bereich der EU oder der westlichen Industriegesellschaft, sondern im Namen der Menschenrechte global. Doch freie Migration als reine Utopie muss sie sich des Sinns hier behaupten, indem all unser Handeln sich darauf richtet, ihr in unendlicher Annäherung (Kants Approximation) näher zu kommen. Derartig postulative Funktion der freien Migration darf in den Debatten um Integration nicht untergehen bei allem Beschwören ihrer Unmöglichkeit. Mit seinen Überlegungen zu dieser reinen Utopie hat Flusser noch 77 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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ein anderes Wesentliches im Utopischen berührt, weil es ihm ja in der freien Migration um das Steigern der Lebenslust in der Abwechselung und dem Erfahrungsreichtum geht, das ist also die Verbindung der Utopie zum Glück. Und noch einmal muss man bei Bloch nachschauen, der lehrte, das Naturrecht richte sich auf Gerechtigkeit, die Utopie aber auf Glück. An einer merkwürdig zu bedenkenden Stelle kommt das ineinanderfallend zusammen, nämlich in der ersten Entwurfsformulierung zur USA-Verfassung. Da lautet der erste Satz, dass jeder nach seiner Ansicht und Auffassung sein Lebensglück müsse verfolgen dürfen und können. Und Verfassungen gehören wahrhaftig der Rechtssphäre an. Ich folgerte aus dem Umstand des angegebenen ersten Satzes einen kleinen Primat des Ästhetischen vor dem Ethischen, weil Glück immer etwas mit Ästhetischem zu tun hat. Wir sehen, wie sehr in Menschenrecht und USA-Verfassung durch den Faktor Glück auch das Utopische virulent ist. Es konnte nicht mit dem Untergang eines antiutopischen Systems untergehen. Aber es muss im Wandel der Zeiten sich selber wandeln, doch nicht durch Zurückführung auf den alltagssprachlichen Sinn unrealisierbarer Wunschinhalte und nicht durch die Zurückführung auf die wissenschaftliche Verengung des Begriffs zu einem für eine spezifische Literaturart. Solcher falschen Bescheidenheit muss man sich gerade erwehren, ohne dass die engen Bestimmungen ungültig gemacht würden. Auch sie gelten. Doch bleibt nötig die Weiterung zu »utopischer Funktion« oder »Geist der Utopie« auch heute. Diese gelingt aber nur, wenn man all die Gesichtspunkte, die ich hier in einem äußerst kurzen Abriss miteinander struktural vernetzt vorgeführt habe, in der Diskussion berücksichtigt bis zu dem Umstand, dass reine, also das Extrem der abstrakten Utopie in Vermittlung zur Konkretheit zu treten vermag, statt das ausschließende Gegenteil zu sein, indem sie nämlich in Realisationsprozessen leitmotivisch wirksam wird, ohne sich selber realisieren zu lassen. Was auch an eine Argumentation rührt gegen Polemik ernstzunehmender Art in Sachen Utopie, sie sei autoritär und wolle die Geschichte stillstellen, ausschalten. Diese Polemik hat ja nur Recht, wo aus Realisierbarkeitssinn Utopie mit Planung verwechselt wird. Dagegen ist Utopie durch und durch Vorschlag im Ansatz des Motivierens, das macht ihr Wesen aus. Und in der unendlichen, unvollendbaren Approximation des Motivierens von sozialer Handlung ist ein Ausschalten der Geschichte als Quasi-Selbstmord der Utopie alles andere als angesagt (neudeutsch ausgedrückt, hier passt es aber einmal 78 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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ganz prima). Erst unter allen hier angerissenen Gesichtspunkten also und eben bleibt auch für die Zukunft die von Julian Nida-Rümelin so hervorgehobene Sentenz des Oscar Wilde, fast ist es ein Vers, aufs Äußerste bedeutsam, eine Landkarte, die nicht die Insel Utopia aufzeige, verdiene keinen Blick.

Anmerkung Selbstverständlich gibt es auch Definitionsspiele zum Begriff Planung, in denen Planung derart gedeutet wird, als meine das Wort, was Bloch unter »Auszugsfigur« vorstellt. Demnach würde die Warnung vor einem Verwechseln von Utopie und Planung sich erübrigen. So wurde mir in einer Rezension zu meinem Buch »Kritik der reinen Utopie« erwidert. Das wäre aber eine bloße Wörtelei. Es geht um die Sachverhalte, nicht um die Wörter, und ich müsste in meiner Argumentation eine Bestimmung hinzufügen, das heißt von »technologischer Planung« reden, von der sich Utopie so anders abhebt. Denn in der Tat: Wenn etwa in den letzten Jahre Uwe Altrock, Sandra Huning, Deike Peters und in seiner künstlerischen Praxis Kai Vöckler von »performativer Planung« sprechen wie schreiben (vgl. in Klaus Selle/Lucyna Zalas, Hg., Planung neu denken, Bd. 1, Zur räumlichen Entwicklung beitragen, Edition Stadt/Entwicklung, Verlag Dorothea Rohn, Dortmund, 2006) und dabei in der Praxis Vorschläge in die eine oder andere Krisensituation von Stadtentwicklungen werfen, die erst einmal nur die Bevölkerung motivieren sollen und wollen zum Durchschauen der Krise, ohne dass anders als in Eventdemonstrationen verschwindender Art Realisation mit von der Partie wäre und alle anderen Schritte dann transformierend in die Vorschlagsvorstellung des Beginns eingreifen und so weiter, dann wäre das experimentelle Auszugsfigur. Vielleicht bleibt ja sogar alle Realisation aus. Und so bin ich mit der Übereinstimmung von »performativer Planung« (im Sinn künstlerischer Strategien) mit Auszugsfigur und Utopie meinerseits einverstanden, aber nur unter der Betonung des Zusatzes vom Performativen im Gegenzug zu technologischer Planung.

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Diskussion

Rosenbauer Herr Voßkamp, Sie haben mit der Offenbarung Johannes’ angefangen. Welche Rolle spielt Religion im Zusammenhang mit Utopie? Voßkamp Religion und Utopie stehen in einem langen Diskussionszusammenhang: Einerseits im Rahmen einer säkularisierten Heilsgeschichte, insofern im Schema von Verheißung und Erfüllung etwas vorgebildet ist, das sich in der Dichotomie von Utopie und Utopiekritik wiederfindet. Andererseits sollte daran erinnert werden – worauf Martin Buber hingewiesen hat –, dass Utopien mit dem Hier und Jetzt, dem Diesseits zu tun haben und sich nicht auf ein Jenseits beziehen. Utopien lassen sich deshalb als ein Funktionsäquivalent für Religion in der Moderne bezeichnen. ›Funktionsäquivalent‹ soll heißen, dass Utopien keine Versprechungen machen, die über das Diesseits hinaus gehen, aber in ihren Vorschlägen an die Stelle von religiösen Verheißungen treten können. Schmidt Die Diesseitsbegrenzung ist auch für mich der wesentliche Unterschied zunächst einmal zwischen Utopie und Religion, nur in einer ersten Überlegung. Nicht alle Religionen müssen sonst im Übrigen verwandt sein mit Utopie. Es gibt polytheistische Religionen, die das Jenseits etwa ganz herunter spielen und die Hoffnung der Zukunft besteht nur aus großen Taten, die größtenteils auch Mordtaten sind, wenn man die Edda liest und Ähnliches. Also da geht es nicht sehr utopisch her. Das Christentum ist geladen mit Utopie, das hat ja auch Bloch dazu verleitet, dass er eben die Kernreligion des Christlichen, das ist das Jüdische und die christliche Religion, so stark untersuchte, unter höchstem Rang von Utopieverdacht. Weil in allen diesen Religionen, jetzt der 80 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

jüdischen und der christlichen Religion, so ganz stark auch eine Verdiesseitigbarkeit da war. Man denke an die Propheten im Alten Testament, die ja wirklich auch das Diesseits verändert wollten und nicht nur ein Jenseits. Und man denke an die Revolution im Namen des Christentums von Hus bis zum Bauernkrieg und darüber hinaus. Also nicht alle Religionen müssen utopisch sein, aber einige sind es, und wiederum in einer solchen Religion sind utopische Züge. Aber im Übrigen hat die Religion auch Bestände und Anweisungen, Normativitäten usw., die man utopisch nicht anerkennen könnte. Das ist für mich die Hauptauskunft, wenn nach dem Zusammenhang Religion und Utopie gefragt wird. Auch wenn die Utopie nun in das Mögliche greift, kann das Utopische durch das Wirkliche nicht erschöpft werden. Deswegen hat das Utopische eine »Fähigkeit«, das Religiöse stellzuvertreten im Überschreiten der Tatsächlichkeit. Voßkamp Vielleicht darf ich noch an einen Topos erinnern, der im Zusammenhang der Entstehung frühneuzeitlicher Utopien eine wichtige Rolle spielt: den säkularisierten Mythos vom Paradies. Die Paradiesvorstellung, die nicht nur eine jüdisch-christliche, sondern eine orientalische ist, wird in der Renaissance in einer weltlichen Form wieder aufgenommen, sie heißt »Arkadien«. Arkadien (vgl. Ernst Blochs Aufsatz »Utopien und Arkadien«) bildet das Modell für den ausgegrenzten natürlichen Raum, in dem symmetrische Liebe möglich ist. In der Literatur und Kunst bietet Arkadien auch eine Allegorie der Kunst und ihrer Reflexion. Auch hier spielt ein religiöses Erbteil eine wichtige Rolle. Die Tradition der Paradiesvorstellungen führt von der Arkadienliteratur zur »Ökotopia« von Ernest Callenbach und zu gegenwärtigen Diskussionen über einen angemessenen Umgang mit der Natur. Schmidt Gerade zu Arkadien und Utopien wollte ich noch einen anderen Gesichtspunkt hinzufügen, der dem nicht widersprechen soll, bloß noch vertiefen. Da macht sich die Herkunft der beiden glücksreichen Vorstellungen geltend. Das Paradies kommt aus einer Vorstellungswelt, in der zwar große Ströme viel Wasser herantransportieren, aber es gibt auch viele, viele trockene Wüstengebiete und Ähnliches, und Wasser ist immer ein Problem. »Das Paradies« antwortet auf die materiellen 81 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

Nöte von einbrechenden Katastrophen. Siehe die Überschwemmungen am Nil oder Euphrat. »Arkadien«, ohne sonderliche Wasserprobleme, aber auch nicht wie das Paradies, vielmehr karges Weideland für freischweifende Hirten, antwortet zum Beispiel auf die ungeheuren Disziplinierungszwänge, die sich die Griechen antun mussten, als sie in großen Städten zusammenzogen. Das sind auch noch Züge zwischen Arkadien, Utopien und Paradies. Voßkamp Es finden sich auch Spannungen in Arkadien. Das Glücksgebot symmetrischer Kommunikation und beidseitiger Liebesbeziehungen lässt sich nicht immer realisieren. Dann gibt es Probleme; und bereits im 16. und 17. Jahrhundert wird dies in der Schäferliteratur diskutiert, vor allem bei Cervantes. In allen geschlossenen Gesellschaften, die auf Symmetrie gegründet sind, also auch in Arkadien, entstehen Dichotomien von Ordnung und Freiheit. Insofern ergeben sich ähnliche Probleme wie in den Staatsutopien seit Morus, wenn das individuelle Interesse mit dem Interesse der Allgemeinheit nicht mehr zur Deckung zu bringen ist aufgrund eines radikalen Anspruchs einzelner Individuen. In der Geschichte moderner Utopien hat das im 18. Jahrhundert kein geringerer als Jean-Jacques Rousseau zuerst deutlich gesehen. Rosenbauer Ich habe mir den schönen Satz von Herrn Professor Schmidt über die »Disziplinierungszwänge der Griechen« gemerkt – angesichts der Wirtschaftskrise und des Staatsdefizits in Athen gerade wieder sehr aktuell. Ich muss aber doch daran erinnern, dass wir über Philosophie im Zeitgeist und über konkrete Utopie sprechen sollen. Sie haben gesagt »Utopie leitet unser Handeln«. Wir beklagen zwar, dass das in der politischen Klasse zumindest im Moment, wahrscheinlich schon länger, nicht der Fall ist. Es würde mich interessieren, welche Utopien, welche utopischen Vorstellungen gegenwärtig unser Handeln leiten, erst einmal bezogen auf den europäischen Raum. Schmidt Wir müssen wegen der Bedrohung unserer materiellen Welt, im Hinblick auf unsere Wachstumswirtschaft, die ja wiederum an der Lebenskultur des Wachstums hängt, eine Kulturveränderung ins Auge fassen, 82 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

die nicht zu einer asketischen Eremiten- oder Mönchskultur führt oder zu der Gräue der DDR-Kultur, sondern die eben voller Spannung, Aufregung, voll Abenteuer ist. Ich verwies auf Simulationen, neue Medien und Ähnliches. Und das betrifft gar nicht mal (nur) die Politiker, sondern hier ist eigentlich jeder gefordert. Das andere ist eben das, und ich hoffe ja, dass Herr Nida-Rümelin völlig recht hat, wenn er sagt: Wir haben jetzt eine Phase konzeptloser Politik hinter uns, aber erahnen auch schon, wie das jetzt ins Schwanken und Brechen kommt, weil man nicht mehr weiterkommt. Und da müssen wir jetzt ansetzen und hoffen, dass sich wieder politische Konzepte entfalten. Rosenbauer Ich hab das schon verstanden, aber es klang eher appellativ, also dass wir uns so entwickeln sollen. Aber wie weit sind wir? Schmidt Ja das, wie weit wir kommen könnten, gebe erst das kritische Maß ab für die Beantwortung der Frage, wie weit wir sind. Ich bin da nun auch Optimist und sage: Stellen Sie sich doch nur einmal den Klimawandel in den 1950er Jahren vor. Das Problem, die Diskussion wäre abgetan worden, man hätte ganz auf unseren Technikoptimismus vertraut bis hin zum Umzug auf einen anderen Planeten. Oder schauen Sie mal in all diese science-fiktionalen Architekturentwürfe der 50er Jahre, hier ist also mindestens eine Problemsicht mit Perspektivensicht eingetreten. Oder die Hochschulreform, die in den 1970er Jahren der Politik aufgezwungen wurde durch die Massenunruhen. Heute kann man sagen, dass die Klimawandeldebatte den Politikern durch die Massenunruhen aufgezwungen worden ist. Das war ja nicht ihr Konzept. Sie mussten es aufgreifen, weil sie wussten, damit kann man wieder Schlagzeilen machen. Offensichtlich ist das wohl der Weg, dass sich da eine massenhafte Unterstützung für Perspektiven entwickeln soll. Also: Drei Schritte vor und zwei zurück. Voßkamp Das ist auch meine Hoffnung, Herr Schmidt; ich bin aber skeptischer in doppelter Hinsicht. Einerseits, was die Technik angeht. Wir haben heute im Vortrag von Herrn Nida-Rümelin von einer neuen Richtung, dem »New Humanism«, gehört – nicht zu verwechseln mit dem Neu83 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

humanismus um 1800 in Deutschland. Vor einigen Jahren ist dazu ein Band im Suhrkamp-Verlag erschienen unter dem Titel »Die Renaissance der Utopie«. 1 In diesem Band wird von einer Forschergruppe am MIT (dem Massachusetts Institut of Technology in Boston) von einem Projekt berichtet, in dem es um die Beseitigung der menschlichen Sterblichkeit geht – um das letzte noch zu lösende Problem moderner Utopien. Wie soll das geschehen? Die Utopie besteht darin, dass wir von einem traditionalen humanistischen Menschenbild Abschied nehmen und die menschliche Ressource in ein digitales Programm verwandeln. Dieses digitale Programm wird genutzt, um späteren Generationen Gesundheit und dauerhaftes Leben anzubieten. Es gibt also nicht nur Utopien im Sinne einer Perspektive, sondern die Einrichtung einer Forschergruppe, die daran arbeitet, das überlieferte Menschenbild zu verabschieden zugunsten eines wissenschaftlichen Programmentwurfs, der die digitale Speicherung der menschlichen Existenz vornimmt. Dies halte ich nicht nur für einen radikalen Angriff auf das humanistische Denken, sondern auch für einen Bruch mit Traditionen des utopischen Denkens. Mein Plädoyer besteht deshalb darin, angesichts solcher Entwicklungen prinzipiell zu einer Erweiterung menschlicher Kritik- und Wahrnehmungsfähigkeiten zu kommen. Wie könnte ein neues, avanciertes Menschenbild aussehen, das nicht davon ausgeht, den Tod lediglich als eine unheilvolle und zu beseitigende Angelegenheit zu verstehen? Unsterblichkeit sollte kein Utopieprojekt, Geisteswissenschaften sollten nicht durch Technikwissenschaften ersetzt werden. Und hier sind wir genau auf einem Weg, der eine dringende Renaissance von Vorstellungen erforderlich macht, die sich auf das einzelne Subjekt beziehen. Schmidt Aber lassen Sie sich nicht so Angst machen, ich bin in dauerndem Diskussionskontakt mit Biologen und auch Informationstheoretikern usw., da liegen riesige Schwierigkeiten drin. Wir sind weit entfernt von den Ideen des MIT, die da gebrutzelt werden, das sind nämlich

Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Rudolf Maresch und Florian Rötzer, Frankfurt am Main 2004.

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Diskussion

noch nicht mal Utopien, sondern das ist Science-Fiction-Literatur mit Versatzelementen des Wissenschaftlichen. Rosenbauer Mich würde noch interessieren, wie Sie denn den Möglichkeitssinn schärfen wollen. Voßkamp Hoffnung setze ich auf Prozesse individueller Selbstvervollkommnung als unabgeschlossene Bildungsprozesse, die in the long run zu Gemeinschaftsbildungen führen können; auf den Zusammenhang von individueller Bildung und Perspektiven des Kommunitarismus. Publikum Ernst Bloch war eigentlich immer ein sehr realistischer Mensch. Er sagte einmal zu uns Studenten: »Ihr redet über Freiheit, über Utopie, über all das. Schaut euch doch mal den Kollegen an da, der da so traurig sitzt. Das ist eine Realität. Er ist verliebt und hat Liebeskummer.« Wir haben dann alle erst gegrinst, da sagte er: »Halten wir uns daran, was Utopie ist, Realität, Raum, Alles.« Wie Herr Schmidt gesagt hat: »Das Kleine orientiert sich an dem Großen.« Und Bloch: »Denkt immer daran, was ihr für Ängste, Sorgen, Hoffnungen und alles habt. Ihr seid die Urseele der Utopie, der Hoffnungen, und wenn ihr in die Welt geht und euch mit der Welt auseinandersetzt, dann seit ihr realistische Utopisten. Das soll mein Vermächtnis sein.« Wenn wir an unsere eigene Zeit denken, an unsere Ängste, unsere Freuden und das alles, dann schaffen wir die wirkliche Realität der Utopie, die uns Bloch immer versucht hat zu vermitteln. Und nicht das gelesene Wissen. Publikum Für mich war eigentlich das Entscheidende zu erfahren, dass die Utopie gewissermaßen wieder eine Renaissance erfährt. Und die entscheidende Wendung dabei war, Utopie als Möglichkeit und nicht als Produkt, als Endprodukt zu sehen. Das finde ich wirklich einen radikalen Gedanken. Heißt es, dass wir lernen müssen einer Möglichkeit zuzustreben und zugleich zu wissen, dass sie nicht erfüllbar ist? Also muss ich gewissermaßen mit dieser Offenheit an die Möglichkeiten herangehen, und nicht verzweifeln. Und andererseits ist die Verzweiflung wahr85 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

scheinlich nötig, um sich überhaupt auf den Weg zu machen. Sie haben hier Gustav Landauer genannt und dann auch Bloch. Voßkamp Im berühmten vierten Kapitel von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« heißt es: »Wenn es Möglichkeitssinn gibt, muss es auch Wirklichkeitssinn geben«. Beides ist notwendig: eine genaue Analyse der Verhältnisse und das Andere denken. Möglichkeitsdenken heißt immer zugleich Wirklichkeitsdenken; diese Spannung bildet die Voraussetzung für utopische Entwürfe; ohne Analyse keine Utopie. Schmidt Ich erfahre ja erst durch die Wirklichkeit Möglichkeiten. Je wissender der Mensch ist, umso mehr weiß er um das, was er alles nicht weiß. Die erste Intervention aus dem Publikum ging darauf ein, dass in Debatten über Utopie und Antizipation so oft die finstere Seite ausgeblendet bleibt. Das wurde auch der Blochschen Theorie vorgeworfen, nämlich sträflich optimistisch gewesen zu sein, aber Bloch hat sich sehr mit dem Pessimismus beschäftigt. »Atheismus im Christentum« schließt damit, warum das Böse nicht aus der Welt geht. An anderer Stelle kommt die Passage, warum in der mittelalterlichen Malerei die Höllenbilder der Seitentafeln so schön ausgestattet sind, während die Paradiese alle so langweilig wirken. Bloch hat dann vor allem eines gebracht, was an die Grenzen einer Logelei geht, und ein richtiges Wortbild eingeführt: Melancholie der Erfüllung. Damit meinte er Folgendes: Stellt euch vor, alle eure Wünsche sind erfüllt, dann tritt eine Traurigkeit darüber ein, dass ihr nichts mehr zu wünschen habt. Rosenbauer Das war doch ein aufbauender Schluss. Wir wissen, dass wir nicht alle Wünsche erfüllt sehen wollen, weil wir schon in Goethes »Faust« gelernt haben, was dann passiert.

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Utopische Ethik und Politik als Zeitkritik

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Ethik als utopische Zeitkritik Beat Sitter-Liver

1.

Thema und These

Der Titel meines Vortrags lässt erwarten, dass ich Gedanken zum Verhältnis von Utopie und Ethik vorlegen werde. Das tönt nach einer recht abstrakten Vorgabe, die unausgesprochen lässt, was sie doch wohl trägt, nämlich die Überzeugung, Ethik selber sei – zumindest auch – ein utopischer Prozess. Weiter verweist der Titel auf zwei Aufgaben: einmal zu untersuchen, ob und inwiefern Ethik zu Recht als utopisch angesprochen werden kann; zum andern, anhand von Beispielen, geschöpft aus der geschichtlichen Situation, in der wir leben, zu illustrieren, inwiefern Ethik als Zeitkritik fungiert und uns herausfordert. Diesen beiden Aufgaben will ich mich stellen. Dabei werde ich für die folgende These argumentieren: – Ethik als kritische und konstruktive Reflexion von Moral ist wesentlich utopisch. Sie erscheint als Ausformung dessen, was Ernst Bloch konkrete Utopie genannt hat. Sie bringt zur Sprache, was in der je gegebenen Wirklichkeit menschlichen Daseins erforderlich, zugleich aber auch möglich ist. – Das derart verstandene Mögliche wird nicht von sich aus wirklich. Es bedarf der auf Umsetzung gerichteten Verständigung aller Betroffenen, in besonders wichtigen Fällen der Menschheit als einer moralischen Gemeinschaft. Solche Verständigung setzt übergeordnete, universale Werte und Prinzipien voraus, die als Vereinbarung auf die gemeinsame Zukunft hin ihrerseits utopischen Charakter tragen. Sie gewinnen Geltung und Wirkung nur über die unausgesetzte gegenseitige Bekräftigung durch die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft. Ethik als konkrete Utopie gestaltet sich nie als selbstläufiger mechanischer Prozess.

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Ethik als utopische Zeitkritik

2.

Eine semantische Vorbemerkung

Wenn wir uns auf ergiebige Weise Gedanken zum Verhältnis von Utopie und Ethik machen wollen, müssen wir zuvor klären, wenn auch nur in groben Zügen, wie wir die Ausdrücke »Ethik« und »Utopie« verwenden und wie wir die so skizzierten Begriffe einander zuordnen.

2.1 Zu »Ethik« und »Moral« Im Alltag, also außerhalb der philosophischen Theorie der Ethik, werden die Ausdrücke »Moral« und »Ethik« in der Regel synonym verwendet, »Ethik« sehr oft statt »Moral« eingesetzt. Moral als Anleitung zum sittlich guten Leben tritt in vielerlei Erscheinungen auf. Wo sie sich nicht mit der Behauptung, alle Moral sei relativ, verbindet, geschieht dies jeweils mit dem Anspruch auf universale Geltung. Ethik als Philosophie der Moral strebt ebenfalls Universalität an, nun aber als kritische Analyse, die sich als allgemeine Theorie nicht mit einer konkreten Morallehre verbindet. 1 Machen wir uns im Folgenden Gedanken zu »Ethik als utopische Zeitkritik«, dann weist uns dieser Titel darauf hin, dass hier Ethik als kritische Anleitung zum sittlich richtigen Verhalten thematisiert wird, als Weg zur richtigen Moral 2 , nicht jedoch als Moralphilosophie, d. h. nicht als kritische Untersuchung gelehrter, praktisch gelebter und verteidigter Morallehren. »Ethik« wird mithin in alltäglicher Weise verwendet, und wir setzen uns für einmal über das eigene Stirnrunzeln und das vieler Kommilitonen hinweg. Wo in Abweichung von dieser Regel der Ausdruck »Ethik« doch in seiner strengen Bedeutung auftritt, also für Moralphilosophie steht, wird das aus dem Kontext erkenntlich werden.

Vgl. hierzu Birnbacher 2003, Kap. 1, bes. 1, 2–4. So spricht denn Ernst Bloch dort, wo er das breite Feld der konkreten Utopie skizziert, trefflich nicht von Ethik, sondern von »Moral wie Religion« als utopischen Erscheinungsformen (1972, 382).

1 2

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2.2 Zu »Utopie« und »Utopisches« Um die Begriffe »Utopie« und »Utopisches« zu erläutern, ist es angezeigt, uns auf die Quelle des Utopischen zu besinnen, um so das Ethische, insofern es selber Utopisches ist, in seiner Herkunft und Ausprägung von Grund auf zu erfassen. Quelle utopischer Ausgriffe und Phänomene sind Menschen. Utopien und Utopisches zeichnen Menschen aus als Aspekte dessen, was seit mehr als zwei Jahrtausenden mit dem Ausdruck »Menschenwürde« angesprochen wird. Das Vermögen utopischen Ausgreifens ist Teil jener Transzendenz, in der die Menschen ihre jeweiligen Existenzbedingungen überschreiten, sich, ohne ihre Herkunft zu vergessen, neue Horizonte eröffnen. Während »Utopie« auf ein fertiges Konzept hin deutet, bezieht sich »Utopisches« auf eine Denkweise und eine Grundhaltung, aus denen Konzepte entspringen. »Utopie« und »Utopisches« verweisen so auf eine Seinsweise der Menschen, auf ein Existential (anders als bei Martin Heidegger: auf eine »anthropologische Konstante«), das sich in zahlreichen existenziellen Formen konkretisiert. Sie bringen eine erwünschte, weil erfüllende Zukunft zur Sprache. Der existentiale Begriff der Utopie meint, so Hans Ulrich Seeber, »jede Form eines besseren und vollkommenen Lebens […], die in der Kulturgeschichte anzutreffen ist, in Mythen vom Anfang und Ende der Geschichte ebenso wie in religiösen oder weltlichen Verheissungen, in Märchen und Volksballaden ebenso wie in der bildenden Kunst«, nicht anders in den Moralvorstellungen und in deren kritisch-ethischer Überprüfung. Der Begriff deutet hin »als anthropologische Kategorie auf jene den Menschen schlechthin auszeichnende Sehnsucht, über das unbefriedigende Hier und Jetzt hinauszugelangen«. 3 Das trifft auch auf die Form der Dystopie zu; die sie treibende Intention erschließt sich erst aus jener Sehnsucht. In der Charakterisierung durch Rudolf Maresch sind Utopien – und darin, so erweitere ich, Moral und Ethik als Ausprägungen des existentialen Utopischen – »Wunschbilder, die der Gegenwart weit enteilen, das Mögliche im Wirklichen erkunden. […] In Ihnen verrät die Gesellschaft nicht nur, wie sie ist, in ihnen befindet sie auch darüber, wie sie sein soll.« Utopien bauen zu Gegenwart und Vergangenheit »eine ideale Gegenwelt« auf und setzen »alte Denk-, Handlungs- und 3

Seeber 2005, 336.

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Sehgewohnheiten außer Kraft und unbekannte Wahrnehmungs-, Hörund Sichtweisen ins Werk.« In Moral und Ethik entwerfen die Menschen gleichsam »Blaupausen einer anderen und besseren Zukunft«. 4

3.

Ethik als Form des Utopischen

Was wir uns eben zu Bedeutung und Gebrauch der Ausdrücke »Ethik« und »Utopie« vergegenwärtigt haben, lässt sich für Ethik ganz allgemein wie folgt zusammenfassen: Ethik, die sich in vielfältiger Weise mit dem, was jeweils gut ist und mit dem Guten an sich sowie mit den richtigen, d. h. in der gegenwärtigen Situation jeweils besten Wegen, auf dieses Gute hin zu streben, befasst, kann als praktisch zentrale und grundlegende Ausprägung von Utopie und Utopischem angesprochen werden – als eine Ausprägung, die ihrerseits Teil der existenzialen Transzendenz der Menschen ist. Moralisch richtiges Verhalten und seine ethische Reflexion verfolgen damit immer zwei Ziele: das Richtige und Gute in einer gegebenen Situation, angeleitet von der Idee des Guten schlechthin. Das situativ Gute ist an Wirkliches gebunden; es kann jedoch auch so schon, insofern es auf das noch virtuelle Bessere hin strebt, als utopisch angesprochen werden. Doch es ist nicht autark, sondern wurzelt in übergeordneten Werten und Prinzipien, wie eben schon angetönt, letztlich im höchsten Guten als einem Ideal. Dieses lässt sich zwar nie in seiner Fülle verwirklichen, doch es leitet seine hier und jetzt mögliche Konkretisierung. Es fungiert als utopische Vorstellung, die in einem offenen und unbegrenzten, in einem geschichtlichen Prozess immer neu vorläufige Gestalt annimmt. Moral und Ethik bilden diesen Prozess. Erst als prozesshafte und konkrete – weil auf eine Situation in ihrer Herkunft und gegenwärtigen Geltung bezogene – Utopie gewinnen sie in der Wirklichkeit menschlichen Daseins Kraft und Wert. Ernst Bloch ordnet sie ausdrücklich ein in das weite Feld konkreter Utopie, welches »sämtliche Gegenstandswelten der menschlichen Arbeit für sich« hat, sich »nicht minder in Technik und Architektur, in Malerei, Dichtung und Musik«, in Religion und eben auch in Moral ausdehnt 5 . Spätestens hier müssen wir uns daran erinnern, dass Ethik sich in 4 5

Maresch 2004, 7. Bloch 1972, 382.

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viele Bereiche gliedert. Darum können wir hier nicht länger von der Ethik ganz allgemein sprechen, sondern müssen uns auf jene Bereiche beschränken, die – ihrerseits auf vielfältige Weise – mit dem unmittelbar auf das sittlich Gute ausgerichteten Handeln und Verhalten zu tun haben. Es ist dies das Feld der normativen Ethik, im Unterschied zur deskriptiven Ethik und zur Meta-Ethik. 6 Letztere ist jene Sparte, die sich mit der formalen Korrektheit von Moral und Ethik befasst, gleichsam die Service-Stelle der Ethik insgesamt. Deskriptive und MetaEthik bleiben also außerhalb unserer Überlegungen, sie fallen nicht unter die Begriffe von Moral und Ethik, wie sie hier verwendet werden. Dies gilt unbesehen der Tatsache, dass auch sie selber in ihren Bemühungen – etwa um Rationalität, grammatisch richtigen und inhaltlich adäquaten Sprachgebrauch, um Kohärenz und Konsistenz der Argumentation – den universalen moralischen und ethischen Werten von Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet sind. Dies zu erhellen, ist Sache der normativen und zugleich kritischen Ethik.

4.

Beispiele

4.1 Vorbemerkung Bei der Darstellung und Beurteilung der Beispiele für aktuelle utopische Ethik entwickle ich keine eigene ethische Theorie und auch keine besondere Morallehre. Als Grundlage dient mir vielmehr die Ethik, wie sie sich in anerkannten, darunter rechtlich verbindlichen internationalen Quellen findet. Das sind hier, neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10. Dezember 1948, die beiden UNO-Pakte aus dem Jahre 1966, der eine über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, der andere über die bürgerlichen und politischen Rechte. Weiter die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950. 7 Was die Zivilgesellschaft betrifft, werden die Erklärung zum Weltethos Vgl. hierzu Nida-Rümelin 1996, 3–7, bes. 4. Dazu zählt auch der Bericht der UNO-Kommission für menschliche Sicherheit (Report of the Commission on Human Security, 1 May 2003; Vorsitz Sadako Ogata und Amartya Sen). Siehe z. B. http://www.humansecurity-chs.org/finalreport/Outlines/ outline.html. (Stand 4. 12. 2010)

6 7

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des Parlaments der Weltreligionen aus dem Jahre 1993, dann die Ausarbeitung und schrittweise Verbreitung der Erd-Charta aus dem Jahre 2000 (4. März 2000) herangezogen. Inwiefern die aus diesen Quellen sprudelnde, nach Konzept und Anspruch universale Ethik utopisch, gemessen an faktischen Praktiken immer zugleich zeitkritisch ist, sollen die Beispiele vor Augen führen.

4.2 »Land Grabbing« Das erste Beispiel liefert das sogenannte »Land Grabbing« 8 , die ausschließlich von Eigeninteressen und Gewinnstreben getriebene Aneignung von immer größeren landwirtschaftlichen Nutzflächen durch private wie öffentliche Investoren, Banken und Rentenanstalten etwa, aber auch von ausländischen Regierungen und globalen Unternehmen. Betroffen sind Armutsregionen, zumeist in Ländern der südlichen Welt. Das kann sich, formell betrachtet, durchaus auf legalen Wegen abspielen, selbst wenn sich damit Korruption, Betrug und andere Arten unmoralischer Bereicherung verbinden. Hauptsächliche Gründe für dieses »Land Grabbing« sind: a. Spekulation: Weltweit wächst der Landbedarf, entsprechend steigen die Landpreise, ein zur Zeit viel versprechendes Spekulationsobjekt. b. Der großflächige Anbau von Nahrungsmitteln treibt, bei wachsendem Versorgungsbedarf, in den für Export offenen Herkunftsländern wie in den zahlungsfähigen Empfängerländern die Gewinne für die engagierten Unternehmen in die Höhe. c. Der Bedarf an Treibstoff, vor allem in den so genannt entwickelten Ländern, wächst ständig, während die bisher gängigen Ressourcen für die Produktion von Treibstoff schrumpfen. Es zahlt sich also aus, bislang für Nahrungsbeschaffung genutzte Gebiete für die breite Produktion von Pflanzen, die sich zur Gewinnung von Treibstoffen eignen, zu erwerben, egal auf welchen Wegen. Diese und andere Gründe bringen mit sich, dass die bisherigen Eigentümer oder legitimen Nutzer ihr Land verlieren und damit die Grundlage für ihre ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln. Sie geraten in neue Abhängigkeiten, ihr Erwerb, wenn sie überhaupt noch eine 8 Vgl. hierzu Brot für alle/Fastenopfer. EinBlick 1 / 2010, »Land Grabbing« – die Gier nach Land. Exemplarisch auch Blumer 2010, 27.

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Stelle kriegen 9 , reicht kaum oder nicht zur Ernährung ihrer Familie. Hunger verbreitet sich, und dies unter anderem um nicht lebensnotwendige Bedürfnisse in den Ländern des Nordens zu befriedigen. Dass auch Staaten wie China, Indien und Saudi-Arabien »Land Grabbing« betreiben, sie nun allerdings zur Sicherung der Ernährung in ihrem eigenen Land, sei nicht verschwiegen. 10 – Bei der neuen Produktion werden Mittel eingesetzt, die ökologisch bedenklich und schädlich sind – am Standort, speziell für die Arbeitenden, im Endeffekt für die Menschheit insgesamt: Pestizide, Dünger, massenhafte Rodung von Wäldern, um das sattsam Bekannte nur in Auswahl und in Stichworten anzutönen. Betrachten wir, was so vor sich geht, im Lichte der Ethik der Menschenrechte, fallen sogleich wesentliche Verstöße auf. Verletzt werden die Prinzipien der gleichen Achtung aller einzelnen Menschen, ebenso Prinzipien der Gerechtigkeit, hier insbesondere das Prinzip der Fairness; in der Folge das Prinzip der Solidarität, das uns anhält, für die Abhängigen und die Schwachen zu sorgen. Missachtet werden das individuelle Recht auf Nahrung, auf Gewährung und Erhaltung aller Bedingungen, die ein Dasein in Würde sichern sollen, der eigenen Gemeinschaft gegenüber wie gegenüber allen, die in diese hinein wirken. Vernachlässigt werden aber auch von Regierungen und Behörden jene Pflichten, deren Erfüllung ihnen zu Gunsten der politischen Gemeinschaft, welcher sie ihr Amt verdanken, überbunden ist. Gestört wird das Prinzip des Vertrauens, auch das ethisch-politische Gebot der Teilung und Kontrolle von Macht und Einfluss. Wir müssen uns mit diesen wenigen Hinweisen begnügen. Sie machen auch so schon deutlich, dass die Ethik der Menschenrechte – um dieses Kürzel zu gebrauchen – in der Tat utopisch ist, zugleich jedoch ein hohes zeitkritisches Potential birgt. Auch wenn wir, ohne uns jetzt an Finanzkrise und eklatante Immoralität in Banken zu erinnern, um die Schwierigkeiten wissen, die sich nicht erst, aber besonders in der Gegenwart der Realisierung der moralisch erforderlichen Veränderungen in vielen Bereichen und auf mehreren Ebenen entgegen stellen, ist uns als vernünftigen und sittlichen Wesen gerade das Konzept der Menschenrechte Ansporn, auf die Erfüllung der ihm inhärenChina plant »den Einsatz von 10000 eigenen Bauern auf dem gepachteten Boden in Mosambik«. Ester Wolf, in: EinBlick 1 / 2010, 9. 10 Miges Baumann, in: EinBlick 1 / 2010, 6. 9

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ten ethischen Forderungen hin zu arbeiten. Ethisch legitime Ansprüche und Wege lassen sich der Analyse und der Kritik erfahrener Wirklichkeit entnehmen 11 – das ethische Konzept hier ist ein Musterbeispiel scharfer Zeitkritik in der Form konkreter Utopie.

4.2 »Würde der Kreatur« – absurdes Konzept oder fruchtbare Utopie? Das zweite Beispiel betrifft ein ethisch-politisches Konzept neueren Datums; in der Schweiz und in Ecuador (sic!) wurde es bereits verrechtlicht, auf Verfassungs- wie (in der Schweiz) auf Gesetzesebene. Es hat darob nichts von seiner utopischen Kraft eingebüßt. Doch schon teilt es das Schicksal utopischer Visionen, welche Respekt und Realisierung in der politischen Gemeinschaft beanspruchen: Es ist Gegenstand von Spott, Kritik und heftigem, zumeist aus egozentrischen Interessen genährtem Streit geworden. Dieser Streit geht so weit, dass Schweizer Bundesparlamentarier, an der Forschungsfreiheit und am wirtschaftlichen Aktionsraum einschlägiger Unternehmen interessiert, offen davon reden, es aus der Bundesverfassung und aus zwei nachgeordneten Gesetzen wieder zu kippen. 12 Am utopischen Charakter der Ethik, aus welcher das Konzept entspringt, lässt sich darum nicht zweifeln. Die Rede ist hier vom Konzept der »Würde der Kreatur«. Der Ausdruck »Kreatur« umfasst Tiere, Pflanzen und andere Organismen (Art. 120, Abs. 2 BV), Würde können also auch etwa Pflanzen tragen, und entsprechend sind sie – analog den Tieren – zu achten und zu pflegen. Es gibt Verhaltensweisen des Menschen, die ethisch verpönt sind, und andere, die zum Teil erheblich eingeschränkt werden. Aktuelles Beispiel sind Tierversuche. Jüngst wurden in Zürich (analog zu Vorfällen in Deutschland) zwei Projekte mit Primaten als mit der Tier11 »Dieser EinBlick zeigt die Hintergründe und die Auswirkungen des ungezügelten Landausverkaufs für die Betroffenen und gibt einen Überblick über die wichtigsten Akteure und Lösungsansätze auf nationaler und internationaler Ebene.« (EinBlick 1 / 2010, S. 32). 12 Art. 120, Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, Stand am 29. März 2005 (BV); Art. 8 des Schweizerischen Bundesgesetzes über die Gentechnik im Ausserhumanbereich (Gentechnikgesetzes GTG) vom 21. März 2003; Art. 3 und 4 des Schweizerischen Tierschutzgesetzes vom 16. Dezember 2005 (TSchG).

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würde nicht vereinbar vom Bundesgericht als höchster richterlicher Instanz im Lande verboten. Die Betroffenen, insbesondere zwei international renommierte Hochschulen, protestierten und kommentierten entsprechend. Bei näherem Zusehen hat der Gedanke der Würde auch nichtmenschlicher Lebewesen allerdings eine bereits längere Geschichte. Bekannt ist aus dem hohen Mittelalter die ehrfurchtsvolle Haltung des Franz von Assisi (1182[?]–1226) allen Geschöpfen gegenüber. Im 18. und 19. Jahrhundert wuchs die Tierschutzbewegung heran. Der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) verglich damals Menschen und Tiere und argumentierte, dem Gleichheitsgrundsatz folgend, weil die einen wie die anderen empfindungs-, insbesondere leidensfähig sind, für den Einbezug der Letzteren in die moralische Gemeinschaft. 1943 konzedierte der Basler Theologe Karl Barth Tieren eine eigene Würde. Die große Referenzperson ist allerdings Albert Schweitzer mit seiner Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben. Sie schließt kein Lebewesen aus. Auch wenn die Welt, wie er wiederholt schreibt 13 , zerrissen ist, eben auch darin, dass wir Menschen nicht darum herumkommen, Lebewesen auf verschiedene Art zu schädigen und zu töten, um selber unser Leben fristen zu können, hält er fest am Grundprinzip seiner Ethik, das da lautet: »Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen«. 14 Schweitzer hat sich eingehend mit den Dilemmata beschäftigt, um die wir nicht herumkommen, er als Arzt schon gar nicht. Seine Ethik ist darum in hohem Maße utopisch, zugleich wirklichkeitsbezogen und also konkret. Das gilt auch für jene Ethik, die derzeit, übrigens im Rekurs auf Schweitzer, die schweizerische Verfassungs- und Gesetzgebung trägt, wo sie das Verhalten von Menschen gegenüber einem Großteil aller Lebewesen ordnet. Das Konzept der Würde der Kreatur resultiert aus einer Vertiefung in das Wesen auch der nichtmenschlichen Lebewesen. Diese zeigen sich dem unvoreingenommenen Blick als Wesen mit einem je eigenen Guten, auf dessen Realisierung sie hinstreben. Sie tendieren nach Selbsterhaltung, ernähren sich, andere Lebewesen nutzend, So in seiner Predigt zu St. Nicolai in Straßburg am 23. Februar 1919, siehe Schweitzer 5 1988, 34. 14 Schweitzer 1974, 2, 378. 13

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pflanzen sich fort, verfolgen derart ein Ziel, das unabhängig ist von menschlicher Zwecksetzung und Bewertung. Dieses Ziel gibt einem Eigenwert Ausdruck. Als vernünftige und sprachbegabte Wesen vermögen Menschen diesen Eigenwert zu erfassen, wiewohl sie ihn nicht selber schaffen. Sie können ihn darum achten, ihn in seiner Besonderheit schützen, soweit sie eben andere Wesen nicht zur Sicherung des eigenen Überlebens verbrauchen müssen. Als von anderen Wesen Abhängige können sie alle Träger von Eigenwert als würdevoll, weil als ihrem schöpferischen Zugriff entzogen, ansprechen. Achtung, Zurückhaltung, Schonung, aber auch Fürsorge und Pflege in jeder Hinsicht entsprechen solcher Grundhaltung – eine Herausforderung, die nur vernünftige Wesen trifft und in deren Erfüllung sich das bewährt, was wir als Würde des Menschen hochhalten. Die ethische Reflexion, aus der dieses und andere Konzepte hervorgehen, entfaltet sich entsprechend nicht allein als bereits vertraute Tierethik, sondern ebenso, wenn auch erst neuerdings, als Pflanzenethik 15 (die Problematik der Einzeller und Mikroorganismen klammern wir aus). Beide illustrieren, in unterschiedlich intensiver Weise, was konkrete Ethik ist, in der Gesellschaft noch schwach, aber doch heranwachsend. Es kommt ihnen, um wieder mit Ernst Bloch zu sprechen, »darauf an, die Formen und Inhalte zu entbinden, die sich im Schoß der gegenwärtigen Gesellschaft bereits entwickelt haben. Utopie« und Ethik als eine ihrer Gestalten »in diesem nicht mehr abstrakten Sinn ist derart das gleiche wie realistische Antizipation des Guten«. 16 Der utopische wie der zeitkritische Charakter springen ins Auge, misst man diese ethische Reflexion an Werten, Prinzipien, Überzeugungen und Verhaltensweisen, die vielerorts und in breiten Schichten vertreten werden. Sie wendet sich, in mancher Hinsicht explizit, zeitkritisch gegen ein Denken, dem es an sorfältiger Betrachtung und Analyse nicht bloß der Differenzen, sondern auch der Ähnlichkeiten und Gleichheiten menschlichen und nichtmenschlichen Lebens mangelt; gegen ein Denken, das den Gleichheitsgrundsatz als eines der hervorragenden universellen Prinzipien der allgemeinen Ethik nur im Bereich des zwischenmenschlichen Verhaltens zur Anwendung bringt 15 Vgl. hierzu Jürg Stöcklins Forschungsbericht (2007), aber auch Florianne Koechlins »PflanzenPalaver« (2008). 16 Bloch 1972, 382.

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und sonst übergeht; gegen ein Denken schließlich, das aus anthropozentrischer Verblendung in die Zerstörung der natürlichen Grundlagen auch menschlicher Existenz zu münden droht. Die Utopie einer universalen moralischen Gemeinschaft, der auch Tiere, Pflanzen und andere Organismen angehören (Art. 120, Abs. 2 BV) – eine Gemeinschaft, wie sie Albert Schweitzer entworfen hat und wie sie seine wieder zahlreicheren Nachfolger weiter entwickeln – lässt unter diesem Aspekt an konkret Utopischem nichts zu wünschen übrig.

4.3 Zur Vision universaler ethischer Werte und Prinzipien In seinen »Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie« unterstreicht Norbert Elias, dass die Kenntnis der vielfältigen Bedingungen, vor allem der Probleme der Herkunftsgesellschaft utopischer Produkte unerlässlich ist, soll deren Erforschung zu guten Ergebnissen gelangen. Erst die Kenntnis der »Soziogenese« solcher Produkte lasse diese angemessen verstehen und erklären. 17 Wilhelm Voßkamp hat dies in den prägnanten Satz gefasst, »Utopieforschung findet nicht im Nirgendwo statt«. 18 Diese überzeugenden Aussagen betreffen die Erschließung historischen Materials; sie lassen sich indes auf die Situation anwenden, in der zukunftsgerichtete Utopien in der Gegenwart entworfen werden. Die methodische Anwendung lautet dann, dass Erfassung und Analyse der aktuellen Bedingungen menschlichen Daseins sowie der jeweils vorrangigen Probleme dem Entwurf einer besseren Zukunft voraus gehen müssen. Zugleich erfordert die Gestaltung solcher Zukunft vorgängige normative Orientierung, das heißt Vergewisserung bezüglich Werten und Prinzipien. Angesprochen werden damit eine Moral und eine Ethik, die in der Herkunftsgesellschaft geteilt werden. Fragen wir heute nach den für das Überleben und Wohlleben der Menschen bedeutendsten Problemen, wissen wir nur zu gut, dass sie globaler Natur sind. Wir wissen weiter, dass sie zu einem guten Teil in Verhaltensweisen gründen, die der Problemlösung entgegenstehen. Aufzählung und Charakterisierung erübrigen sich. Hingegen muss erwähnt werden, dass insbesondere ein Umstand globale Lösungen erschwert, nämlich die verbreitete Überzeugung, dass normative Orien17 18

Elias, Norbert 1985, 101 f. Voßkamp, Wilhelm 1985, 1, s. auch 4.

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tierung grundsätzlich relativ sei und dass sie zwischen verschiedenen Kulturen Anlass zu Kontroversen gibt. Existenzerhaltende und -fördernde Gestaltung von Zukunft für die Menschen hängt aber zwingend davon ab, dass diese sich nach gemeinsamen Grundwerten und Prinzipien ausrichten, Moral und Ethik praktizieren, die – verglichen mit der Realität von Wirtschaft und Politik auf nationaler, internationaler und globaler Ebene – nach wie vor utopisch sind, mögen sie auch bereits international verbindliche Form gefunden haben. Die Vorstellung einer wirklich gewordenen globalen Ethik ist nach wie vor utopisch. Ausarbeitung und Umsetzung dieser Utopie sind nicht anders denn als »Denkwende«, als intensive Zeitkritik denkbar. Solche moralische und ethische Arbeit und das sie motivierende globale Ziel sind nicht naiver Traum 19 , sondern basieren auf realitätsbezogener, also konkreter Utopie. Zeugnis davon legen ab die zahlreichen ethisch – teilweise auch rechtlich – relevanten Erlasse aus dem Bereich der UNO, speziell der UNESCO, aber auch der Europäischen Union sowie weiterer internationaler Akteure. Neben ihren Errungenschaften illustrieren sie allerdings auch ihre Grenzen, so das Ausbleiben von sachlich erforderlichen Regelungen dort, wo unterschiedliche Ansichten sich nicht zu einem Konsens schmieden lassen 20 , wohl häufiger aber auch dort, wo (noch) nicht vereinbare Interessen aufeinander prallen. Interessen nota bene zumeist von Gruppen – ich nenne nur Wirtschaft und Wissenschaft –, die sich über gut organisiertes Lobbying Gehör verschaffen und ihre Machtposition zu festigen verstehen. Mit diesen Andeutungen möchte ich schließen. Sie genügen zur Illustration des unverändert utopischen Charakters selbst von ethi19 Vgl. hierzu Sitter-Liver 2010 sowie die von ihm im gleichen Heft der Zeitschrift für Politik versammelten Beiträge von Thomas Cottier (Universität Bern), Wolf Linder (ebd.), Philippe Mastronardi (Universität St. Gallen) und Gertrud Nunner-Winkler (Ludwig-Maximilians-Universität München). Daneben auch die Beiträge in ders. 2009 (Hg.), Universality. From Theory to Practice. 20 Zwei Beispiele nur: die Bioethik-Konvention des Europarats (Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin vom 4. April 1997) sowie die International Guidelines for Biomedical Research involving Human Subjects, überarbeitete Version Genf 2002, aufgelegt vom Council for International Organizations of Medical Sciences (CIOMS) zusammen mit der UNO-Weltgesundheitsorganisation (WHO). Im an zweiter Stelle genannten Dokument wird die hier angeschnittene Problematik einleitend in aller nur wünschbaren Klarheit zur Sprache gebracht.

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schen Konzepten, die sich formell bereits durchgesetzt haben. Auch diese sind ein wesentlicher Teil der Zeitkritik. In ihrem Lichte erweist sich die Arbeit an utopischer Reflexion und Konstruktion als unverzichtbar. 21

Vgl. hierzu Thomas Assheuer, der in einem eindringlichen Aufsatz zur Utopie abschließend beteuert, wir brauchten gar keine neuen Utopien, weil wir, und zwar weltweit, mit solchen lebten: Utopien »sind im Selbstverständnis der Demokratien, im normativen Bewusstsein [darunter in Moral und Ethik] und in den Institutionen der Weltgemeinschaft fest verankert. Einige sind sogar in Marmor gemeißelt, zum Beispiel der Leitspruch der Weltbank: ›Unser Traum ist eine Welt ohne Armut‹.« (Assheuer, Thomas, Wer hat Angst vor der Utopie?, in: Die Zeit, 50/2002).

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Ecce homo faber! Anthropologische Utopien und das Argument von der Natur des Menschen Elif Özmen

Neue oder in naher Zukunft zu erwartende, manchmal auch nur als Bestandteil von utopischen Szenarien ausgemalte Entwicklungen im Bereich der biologischen, medizinischen und technischen Wissenschaften eröffnen bislang ungeahnte Möglichkeiten des Eingriffs in die menschliche Natur: Möglichkeiten der Therapie, Heilung und Krankheitsvorsorge einerseits, Möglichkeiten der Optimierung, Perfektionierung und Manipulation andererseits. Der erste Bereich wird seit Jahrzehnten durch die Medizinethik und die Ethik der Gen- und Biotechnologie in Hinsicht auf seine moralischen Implikationen analysiert und diskutiert. Auch werden politische und rechtliche Entscheidungen zur prädikativen Genetik und Stammzellforschung, zum Klonen von Säugetieren und zu Xenotransplantationen, zu geburtlicher und vorgeburtlicher Selektion sowie zur Sterbehilfe von intensiven gesellschaftlichen, politischen und auch wissenschaftlichen Debatten begleitet. 1 Anders sieht es mit dem zweiten Bereich der nicht-krankheitsoder nicht-therapiebezogenen Praktiken aus. Es gibt zwar aus den vergangenen Jahren einige philosophische Beiträge zum großen Themenfeld des Enhancement, aber die beiden Positionen, die sich etabliert haben, zeigen eine bemerkenswerte Eindimensionalität in ihrer Problemstellung. Während liberalistische Positionen Enhancement unter dem Gesichtspunkt distributiver Gerechtigkeit sowie hinzukommender Risiko- und Schadensabwägungen in den Blick nehmen, argumentieren essentialistische Positionen mit einer normativen Konzeption der Natur des Menschen (Kapitel I). Die liberalistische Skepsis gegenAls ein wichtiger Ort für diese lebendigen, Disziplinen überschreitenden, politikrelevanten Debatten haben sich in den 1990er Jahren die durch staatliche Akteure initiierten Ethikkommissionen etabliert, vor allem die Nationalen Ethikräte, siehe hierzu Michael Fuchs: Nationale Ethikräte. Hintergründe, Funktionen und Arbeitsweisen im Vergleich, Berlin, 2005. 1

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über dem Argumentieren mit der Natur des Menschen lässt sich auf einen normativen Individualismus zurückführen, der den Kern der politischen und ethischen Philosophie des Liberalismus ausmacht und zugleich eine Individualisierung des utopischen Denkens nach sich zieht. Von dieser Perspektive aus kann auch ein posthumanes Zeitalter als Freiheitsgewinn, jedenfalls aber als legitime Möglichkeit der freien Selbstgestaltung und Selbstbestimmung interpretiert werden (Kapitel II). Allerdings bleibt zu diskutieren, ob nicht auch die Theorie und Praxis des politischen und ethischen Liberalismus auf einem Fundament gründet, welches durch bestimmte Eingriffe in die äußere und innere Natur des Menschen gefährdet wäre (Kapitel III). Könnte nicht auch eine liberalistische Position, wenngleich nur indirekt, einem normativ-anthropologischen Argument gegen bestimmte Veränderungen und Optimierungen der menschlichen Natur Sinn abgewinnen?

I

Das Argument von der Natur des Menschen

Die Anthropologie als eigenständige philosophische Disziplin, die eine Lehre vom Menschen in deskriptiver wie auch normativer Absicht zu formulieren sucht, gleicht gegenwärtig einem »Trümmerfeld«. 2 Zwar kann sie auf eine lange Philosophiegeschichte zurückblicken, aber gegenwärtig genießt sie als Disziplin wenig Anerkennung. Zwar beansprucht sie ein eigenes philosophisches Teilgebiet mit spezifischen Grundbegriffen und Grundfragen darzustellen, aber sie kann diesen Anspruch angesichts chronischer Abgrenzungs- und Identitätsprobleme im Verhältnis zu den anderen Teilgebieten der Philosophie und im Verhältnis zu ihren »empirischen Schwestern« – die ethnographische, ethnologische, soziologische und kulturwissenschaftliche Anthropolo2 So Christian Thies: Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt, 2004, 7, zu Beginn seiner Einführung in die philosophische Anthropologie: »Diese Disziplin trägt zwar einen ehrwürdigen Namen, ›Lehre vom Menschen‹, aber trotz einiger Blütezeiten hat sie sich nicht etablieren können; kaum ein philosophisches Teilgebiet kämpft mit solchen Identitätsproblemen.« Ähnlich auch Theda Rehbock: Warum und wozu Anthropologie in der Ethik?, in: Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, hg. von J.-P. Wils, Tübingen/Basel 1997, und Jean-Pierre Wils: Anmerkungen zur Wiederkehr der Anthropologie, in: Ders. (Hg.): Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, Tübingen/Basel, 1997.

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Ecce homo faber!

gie – nicht einholen. Hinzu kommt die problematische Rückbindung von normativen Aussagen über den Menschen an deskriptive Aussagen und neben dem Verdacht des naturalistischen Fehlschlusses Metaphysik- und Konservatismus-Vorwürfe. Der Erkenntniswert der philosophischen Anthropologie scheint daher gering für eine nachmetaphysische Philosophie, ihre Anfälligkeit für weltanschaulich imprägnierte Verengungen auf »Menschenbilder« hingegen groß. 3 Durch das Abhandenkommen von metaphysischen Gewissheiten, insbesondere bezüglich einer wesenhaften Natur des Menschen, ist auch das Bemühen abhanden gekommen, überhaupt noch Argumente zu formulieren, die auf der Natur des Menschen gründen. Selbst wenn es gelänge, in einem formal-definierenden Sinne »von Natur aus gegebene«, für den Menschen charakteristische Eigenschaften, Vermögen und Fähigkeiten zu benennen, so wäre damit nicht schon etwas in einem normierenden Sinne ausgesagt über den Menschen. 4 Die Belassung, Bewahrung oder auch Beförderung dessen, was die Natur des Menschen konstituiert, sind nicht »natürlicherweise« geboten; 5 selbst bei dem vorerst letzten Versuch einer normativ gehaltvollen Philosophi»Menschenbild« ist ein zunehmend verbreiteter Ausdruck, der sich in den humanund sozialwissenschaftlichen, pädagogischen, juristischen und theologischen Diskursen auffinden lässt. Allerdings erscheint er nicht nur deswegen problematisch, weil man nicht recht weiß, was er eigentlich meint – so ist auffällig, dass es in den einschlägigen Lexika praktisch keine Einträge zu diesem Terminus gibt –, sondern er geht häufig mit weltanschaulichen Verengungen einher, siehe hierzu Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München, 2009, Kap. 3. 4 Als Beispiel kann der von Amartya Sen und Martha Nussbaum gemeinsam entwickelte capability approach gelten, der genuin menschliche Existenzbedingungen und Grunderfahrungen mit genuin menschlichen Grundfähigkeiten verbindet und daraus eine Güter- bzw. Tugendliste ableitet. Diese ist normativ, insofern ihr eine konstitutive Rolle zukommt für eine Theorie der Gerechtigkeit, z. B. für eine Konzeption der Fürsorgepflichten des Staates oder eine Neukonzeption von internationaler Entwicklungshilfe. Aber es handelt sich explizit nicht um eine naturalistische Begründung von Gerechtigkeit und gutem Leben, z. B. Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt am Main, 1999, 260: »Es gibt keinen Archimedischen Punkt, keinen reinen Zugang zu einer gleichsam jungfräulichen – auch menschlichen – ›Natur‹ an sich. Es gibt nur ein menschliches Leben in seiner gelebten Form.« 5 Zu den vielfältigen Bedeutungen und möglichen normativen Gehalten von »Natürlichkeit« und »Künstlichkeit« sowie den systematischen und inhaltlichen Problemen der Gleichsetzung oder Entgegensetzung zu »Natur« siehe Neil Roughley: Was heißt »menschliche Natur«? Begriffliche Differenzierungen und normative Ansatzpunkte, in: Kurt Bayertz, (Hg.): Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie? Paderborn, 2005, und Dieter Birnbacher: Natürlichkeit. Berlin / New York, 2006. 3

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schen Anthropologie durch Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmut Plessner wird nicht ein einheitliches Naturwesen des Menschen, sondern seine natürliche Heterogenität herausgestellt: »Der Mensch ist ein so breites, buntes, mannigfaltiges Ding, daß die Definitionen alle ein wenig zu kurz geraten. Er hat zu viele Enden.« 6 Trotz der methodisch und systematisch gut fundierten Kritik an dem Unternehmen einer philosophischen Anthropologie lässt sich gegenwärtig eine Wiederkehr anthropologischer Argumente in der Angewandten Ethik ausmachen. 7 Während für lange Zeit (mit Ausnahme der Theologie) das Argument von der Natur des Menschen keine besondere Relevanz für die Ethik beanspruchen konnte, sehen nunmehr einige Philosophen, im bedrohlichen Lichte eines aufziehenden neuen Zeitalters der Technisierung und Modifizierung der menschlichen Natur, die Notwendigkeit gegeben, (wieder) über den moralischen Status eben dieser Natur nachzudenken. Als beispielhaft für eine essentialistische Position kann das Plädoyer gegen Perfektion von Michael Sandel gelten. 8 Wir sind demzufolge Zeugen einer rasanten wissenschaftlichen Entwicklung, die es uns erstmals ermöglicht, unsere Natur durch genetische Eingriffe nachhaltig zu verändern, zu manipulieren, zu arrangieren. Der »moralische Schwindel« und die »moralische Verlegenheit« 9 , die uns gegenwärtig ergreifen, seien keine üblichen Begleiterscheinungen wissenschaftlichen Fortschritts, sondern echte Krisenphänomene des »prometheischen Strebens«, welches den seit der Neuzeit ersehnten, nunmehr aber möglichen »Sprung zur Beherrschung«10 nicht nur der uns umgebenden, sondern auch unserer eigenen Natur begleite. Der »Charakter des Lebens als Gabe« 11 stünde radikal in Frage und mit diesem für das menschliche Selbstverständnis 6 Max Scheler: Zur Idee des Menschen, in: Ders.: Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 1, Leipzig, 1915, 324. 7 Siehe etwa die Beiträge in Bayertz 2005 und Giovanni Maio, / Jens Clausen, / Oliver Müller (Hgg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik, Freiburg/München, 2008. 8 Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, Berlin, 2008. Weitere bekannte Vertreter eines essentialistischen Konservatismus sind Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, München, 2002, und Leon Kass: Ageless Bodies, Happy Souls. Biotechnology and the Pursuit of Perfection, in: The New Atlantis 1, 2003, 9–28. 9 Sandel 2008, 29 f. 10 Ebd., 48. 11 Ebd.

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konstitutiven Sense of Giftedness auch die moralische Praxis, die dieser Charakterisierung folgt. Absichtlichkeit statt Geschenktsein, Kontrolle statt Akzeptanz des Unerbetenen, menschlich-technischer Entwurf statt natürlich-gewachsenem Sein – das alles zerstöre die »Schlüsselelemente unserer moralischen Landschaft«. 12 Für Sandel hängen insbesondere die Tugenden der Demut und der solidarischen Verantwortung davon ab, dass wir unsere Natur – d. h. die ungleiche Verteilung der körperlichen und geistigen Begabungen sowie die daraus resultierenden Vor- und Nachteile – nicht »verdient« haben, sondern dass sie uns als nicht-intendiertes Ergebnis der natürlichen Lotterie »zustoßen«. Eben weil unsere Talente und Fähigkeiten uns nicht ganz gehören und auch nicht im Ganzen das Ergebnis unserer Anstrengungen sind, könnten wir einen Sinn für die Kontingenzen, die glücklichen und unglücklichen Zufälle des menschlichen Lebens lebendig halten und Trost, Mitleid, Solidarität für die unverdienterweise Benachteiligten aufbringen. Mehr noch als von einem philosophisch tragfähigen Argument von der Natur des Menschen 13 ist Sandels Plädoyer von einer Kritik der »Sprache der Autonomie, der Fairness und der Individualrechte« 14 getragen, also der moralischen Begriffe und Perspektiven, die liberale Gesellschaften auszeichnen. Diese seien insbesondere ungeeignet, das moralische Problem des Optimierens zu erfassen, da jede zwanglose, von staatlicher Neutralität begleitete Selbstoptimierung als individueller Freiheitsvollzug und im Rahmen einer Ethik der Autonomie als legitim erscheinen müsse. Während für den Bereich der krankheitsund therapiebezogenen Praktiken auch von einem liberalistischen Standpunkt eine individualistische Ethik des Heilens formuliert werden könnte, reichten dessen moralische Ressourcen für eine Ethik des Enhancement schlichtweg nicht aus. Zutreffend an dieser Kritik ist jedenfalls, dass es liberalistischen Positionen schwer fällt, einem ArguEbd., 107. Sandel deutet die normativen Grundlagen der Natur des Menschen nur an, so scheinen sowohl der Neo-Aristotelismus, welcher seine Beiträge zur politischen Philosophie prägt, wie auch zum »Teil ein religiöses Gespür« (Sandel 2008, 49) relevant zu sein, hierzu ausführlich Elif Özmen: Michael Sandel, Plädoyer gegen die Perfektion, Rezension in: Philosophisches Jahrbuch II/2010, 411–413. Auch bei anderen Essentialisten, ausgenommen natürlich die Theologen, bleiben die Quellen der Normativität im Intuitiv-Ungefähren stehen. 14 Sandel 2008, 20. 12 13

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ment von der Natur des Menschen als Bestandteil einer normativen Anthropologie philosophische Relevanz zuzusprechen. Daher gelten auch tiefgehende Veränderungen, das Gestalten und Manipulieren der äußeren wie der inneren Natur des Menschen prima facie als moralisch neutral, wenn nicht gar hinsichtlich einer Verbesserung als moralisch geboten. Die Intention der Verbesserung ist der Konzeption von Enhancement, wie sie seit den 1990er Jahren in der praktischen Philosophie diskutiert wird, inhärent – im Unterschied zu den meisten ScienceFiction-Szenarien, Utopien und Dystopien, die außerhalb der akademischen Philosophie hierzu entworfen werden. Als Enhancement wird zusammenfassend die technische, medizinische, biologische oder pharmazeutische Optimierung des Menschen verstanden, also die Verbesserung »normaler« Eigenschaften von »normal gesunden« Menschen. 15 Beispiele für bereits reale oder jedenfalls im Prinzip vorstellbare Enhancement-Praktiken sind Körpertuning und Körpergestaltung sowie Neuro- und Psycho-Enhancement. 16 Die mit diesen Praktiken intendierte Optimierung des Menschen gründet auf der Überzeugung, dass die menschliche Natur – im Sinne dessen, womit wir als Gattungswesen, aber auch als einzelne, zumeist unvollkommene Exemplare der Gattung Mensch geboren werden – nicht nur veränderbar, sondern durch den Einsatz von Technologien verbesserbar ist. Eine solche PerSowohl die Abgrenzung von Enhancement zu therapeutischem Handeln wie auch zu »normalen« Handlungen (wie Erziehung) und Zuständen (wie Gesundheit) ist problematisch, siehe hierzu die ausführliche Darstellung und Kritik in Jan-Christoph Heilinger: Anthropologie und Ethik des Enhancements, Berlin/New York, 2010, Teil II. 16 Mittel des körperlichen Enhancement sind etwa Doping, ästhetische Chirurgie, Transplantationen, Body Modification; für kognitives und psychisches Enhancement stehen Pharmazeutika, Implantate, Mensch-Computer-Interfaces, Kybernetische Organismen; Gentechnik greift in beide Bereiche sowie für den Anfang und das Ende des Lebens. Um alle Praktiken zu erfassen, sollte man eigentlich nicht nur die »Verbesserung« der menschlichen Natur, sondern schon ihre Modifikation als Enhancement betrachten, so in Elif Özmen: Was Ihr wollt. Über Perfektionierung, Modifizierung und Manipulierung der menschlichen Natur, in: Woodstock of Political Thinking. Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wissenschaft, Recherchen 79/2010. Mittlerweile klassische Beiträge zur ethischen Debatte des Enhancement enthält Bettina Schöne-Seifert / Davinia Talbot (Hgg.): Enhancement. Die ethische Debatte, Paderborn, 2009, für die aktuelle Diskussion siehe Johann S. Ach / Arnd Pollmann (Hg.): No Body Is Perfect: Baumaßnahmen am menschlichen Körper, Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld, 2006, und Nick Bostrom: A History of Transhumanist Thought. in: Journal of Evolution and Technology 14, 2005, 1–25. 15

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fektionierung der gegebenen menschlichen Natur scheint zunächst nur eine Fortführung der als legitim geltenden Versuche der Heilung und Verhinderung von Krankheiten, der Milderung von Alterserscheinungen und der Verlängerung der menschlichen Lebenserwartung zu sein. Wenn es legitim ist, Menschen durch Operationen, Medikamente und Impfungen, durch prognostische und vorsorgende Untersuchungen und Therapien zu einem gesünderen und längeren Leben zu verhelfen, ist es dann nicht auch legitim, ihre »normalen«, d. h. dem Menschen als Individuum und als Gattungswesen gegebenen physischen, kognitiven und psychischen Eigenschaften zu korrigieren, zu erweitern und zu verbessern? Wenn wir zudem Erziehung, Bildung und körperliches Training als legitime, ja für die leibliche und geistige Entwicklung gebotene Praktiken akzeptieren, sind dann nicht auch weitergehende, die Fähigkeiten und Lebenschancen nachhaltig verbessernde Praktiken zulässig? Liberalistische Positionen bieten aber auch genuin moralische Argumente gegen die Reglementierung oder gar das Verbot von Enhancement auf. Von einer auf Freiheit und Gleichheit gründenden Moral aus sind die Individuen prima facie gleichermaßen frei, die sie umgebende wie auch die eigene Natur zu verändern. Was immer es mit den »von Natur aus gegebenen« menschlichen Eigenschaften, Vermögen und Fähigkeiten auf sich hat – der körperlichen und geistigen Natur des Menschen kommt jedenfalls keine unmittelbare normierende Kraft zu, da alle Normen und Grenzziehungen Konventionen entsprechen. »Von Natur aus« sind die Menschen keinen substantiellen Normen unterworfen, sondern gleichermaßen frei in ihrem individuellen Lebensvollzug – die klassischen politischen Liberalisten (z. B. Hobbes, Locke, Rousseau) haben für diesen natürlichen Zustand die Vorstellung eines Naturzustandes geprägt. Jede Einschränkung dieser »natürlichen« gleichen Freiheit ist legitimierungsbedürftig (und manche Einschränkungen sind durchaus gegenüber jedem Betroffenen legitimationsfähig). Der liberalistische Ausgangspunkt von Freiheit und Gleichheit befördert eine neutrale bzw. affirmative Bewertung von Enhancement-Praktiken: Wenn sie nur den Betroffenen selbst, seine eigene Natur, sein eigenes Leben betreffen, fallen sie prima facie unter das Freiheitsrecht selbstbestimmter und selbstbestimmender Individuen. Anders gesagt: Formen des freiwilligen, individuellen Enhancements sind privat und nicht politisch. Somit sind zwar kollektive oder gar staatliche Politiken des En107 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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hacement kategorisch ausgeschlossen, weil sie zum einen die Freiheitsrechte des Einzelnen, über sich und sein Leben selbst zu verfügen, verletzen, zum anderen im Widerspruch zum liberalen Gebot der staatlichen Neutralität gegenüber Konzeptionen des guten Lebens stehen. 17 Auch können weitere Einschränkungen der individuellen gleichen Freiheit zum Enhacement von einem liberalistischen Standpunkt aus begründet werden, etwa wenn die Veränderung, Manipulierung und Optimierung der eigenen Natur einen moralischen relevanten Schaden bedeutet. Der Rückgriff auf das Autonomieprinzip, 18 das liberale Nicht-Schädigungssprinzip 19, die Reflexion der Gefahren und Risiken, die für Dritte durch das eigene Handeln entstehen 20 sowie das Argument vom Recht auf eine offene Zukunft 21 sind für zahlreiche liberaDaran wird der Unterschied von »liberaler« und »autoritärer Eugenik« festgemacht, siehe etwa Nicholas Agar: Liberal Eugenics: In Defense of Human Enhancement, Malden, MA, 2004, 5: »We would be rejecting authoritarian eugenics, the idea that the state should have sole responsibility for determining what counts as a good human life, in favor of what I will call liberal eugenics. (…) The freedoms that define liberal eugenics will be defended in the same fashion as other liberal freedoms. (…) Living well in a liberal society involves acknowledging the right of others to make choices that do not appeal to us.« 18 Insbesondere Manipulationen des Erbgutes können wegen des fehlenden Einverständnisses der Nachkommen sowie der Tiefe und der Irreversibilität des Eingriffs Autonomie gefährdend sein, siehe Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main, 2002. 19 Ursprünglich formuliert in John Stuart Mill: Über die Freiheit, in der Übersetzung von Bruno Lemke, Stuttgart 1988 (EA 1859], 16: »Daß der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.« Allen Buchanan / Dan W. Brock / Norman Daniels / Daniel Wikler: From Chance to Choice: Genetics and Justice. Cambridge, 2001 verwenden dieses Kriterium in Kap. 6 zur vorsichtigen Beschränkung der Reproduktionsfreiheit (reproductive freedom), die sie als liberales Freiheitsrecht verstehen. 20 Die Risiken und Chancen verschiedener Gehirn-Enhancement-Praktiken werden abgewogen in Reinhard Merkel / Gerard Boer / Jörg M. Fegert / Thorsten Galert / Dirk Hartmann / Bart Nuttin / Steffen K. Rosahl: Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society, Berlin/New York, 2007. 21 Dieses Recht, zuerst in Feinberg (Joel Feinberg: The child’s right to an open future, in: Whose Child? Parental Rights, Parental Authority and State Power, hg. von W. Aiken und H. LaFollette, Totowa 1980, 124–153) formuliert, dient als Konkretisierung der Neutralität, zu der auch Eltern gentechnisch optimierter Nachkommen verpflichtet sind, etwa bei Buchanan et al. 2000, 175: »The neutrality that parents must practice towards their children is that required by the child’s right to an open future. Parents must foster and leave the child with a range of opportunities for choice of his or her own 17

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listische Autoren gute moralische Argumente für eine eingeschränkte Erlaubnis des Enhancement. Desweiteren können unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit Einschränkungen in Form des Gebots der fairen Verteilung der Vorteile und Lasten des Enhancement sowie der Chancengleichheit beim Zugang zu den selbstverbessernden Praktiken begründet erscheinen. 22 Aber alle diese Einschränkungen – Gerechtigkeitserwägungen, Schadens- und Risikoüberlegungen, Anti-Paternalismus, Neutralitätsgebot, Autonomie bezüglich der individuellen Konzeptionen des guten Lebens – sind erst das Ergebnis der liberalistischen Rechtfertigungsprozedur und nicht schon inhaltlich vorweggenommen. Daher kann eine Argumentationsweise, die auf die menschliche Natur rekurriert, aus systematischen Gründen keine normative Kraft innerhalb der liberalistischen Position entfalten. Dieser ist eben nichts (vor)gegeben, sondern verbindliche Normen, Einschränkungen, Regeln werden erst durch die vernünftige Übereinkunft aller als Freie und Gleiche »gemacht«.

II

Das utopische Potential des Individualismus

Der Prozeduralismus und Formalismus, die der Philosophie des Liberalismus eigen sind, haben ihre Grundlage in einem normativen Individualismus, der historisch betrachtet das »neuzeitliche Projekt Mensch« 23 einläutet: einen Prozeß der zunehmenden rationalen Erfassung, kulturellen Gestaltung und technischen Kontrolle natürlicher Abläufe. In der praktischen Philosophie der Antike und des Mittelalters kann sich ein Individualismus, der den Einzelnen nicht nur zum Souverän seines Lebens, sondern auch zum Ausgangspunkt der Begründung praktischer Normen erklärt, nicht entfalten. Zu dominant ist das kosmologisch-metaphysisch-theologische Überzeugungssystem, dem zufolge die Natur eine gegebene Ordnung darstellt, aus der sich nicht plan of life, with the abilities and skills necessary to pursue a reasonable range of those opportunities and alternatives, and with the capacities for practical reasoning and judgment that enable the individual to engage in reasoned and critical deliberation about those choices.« 22 Exemplarisch hierfür Buchanan et al. 2000, Kap. 3. 23 Gundolf Freyermuth: Designermutanten & Echtzeitmigranten. Mit der Digitalisierung eskaliert der Prozess neuzeitlicher Individuierung zur Utopie des virtuellen Menschen, in: Maresch/Rötzer 2004, 65–91, 66.

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zuletzt Prinzipien für das menschliche Leben und Zusammenleben ableiten lassen. Selbstverständlich hat der Mensch Teil an dieser Natur, er ist gleichsam Natur bzw. er soll in Übereinstimmung mit der überindividuell gegebenen, normativ-natürlichen Ordnung leben und handeln. Im ergon-Argument des Aristoteles kommt diese Verschränkung von Naturphilosophie, Teleologie und der Begründung ethischer und politischer Normen besonders klar zum Ausdruck. »Das dem Menschen Eigentümliche«, seine »besondere Leistung oder Vortrefflichkeit« ist Zweck und Natur des Menschen, das, was ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet und zugleich das, was das höchstmögliche menschliche Gut und Gutsein ausmacht. So ist die »Betätigung des vernunftbegabten Teils« der Seele nicht nur wesenhaft für den Menschen, sondern zugleich der Maßstab für die Tugendhaftigkeit bestimmter Tätigkeits- und Lebensformen. Mit dem Wissen über die menschliche Natur wird hier also ein Wissen über die natürlichen Normen des Menschseins und ein, wenngleich umrisshaftes, ethisches und politisches Wissen über das Gutsein gewonnen. 24 Solche metaphysischen Anthropologien, die auch das Vorbild für die spärlich gesäten gegenwärtigen Versuche darstellen, natürliche Normen des Gutseins oder normative Wesensmerkmale der Natur des Menschen zu formulieren, 25 haben strukturell ein nur geringes Potential für utopische Entwürfe vom Menschen und Menschsein. So beschränken sich die Utopien der Antike weitgehend auf dichterische Verheißungen eines Goldenen Zeitalters, in dem weder Furcht oder Not, noch Gesetz oder Strafe notwendig sind. Im Mittelalter wird dieses paradiesische Motiv einerseits erweitert zur christlichen Werteordnung im Reich Gottes, andererseits sarkastisch verkehrt zum Schlaraffenland, einem Land der Faulen und Närrischen. 26 Von Utopie im Sinne eines Staatsromans 27 kann eigentlich nur bezüglich Platons Politeia Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik, in der Übersetzung von Olof Gigon, Zürich/ München 1967, Buch I. 25 Eine ausgearbeitete philosophische Theorie des »Natürlichen Gutseins« ist z. B. Philippa Foot: Natural Goodness, Oxford, 2001, siehe aber die kritischen Beiträge in Thomas Hoffmann / Michael Reuter (Hgg.): Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot, Frankfurt am Main et al., 2010. 26 Zur Geschichte der Utopien siehe Arno Waschkuhn: Politische Utopien. Ein politiktheoretischer Überblick von der Antike bis heute, München, 2003, für die Neuzeit insbesondere Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit, Bochum, 2. Aufl., 2000. 27 Die Gleichsetzung von Utopie und Staatsroman geht zurück auf Robert von Mohl, 24

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gesprochen werden, einer für alle Lebensbereiche und Lebensumstände ausgearbeiteten Fiktion einer ideal-gerechten Polis. Diese politisch-soziale Utopie scheint zwar eine anthropologische Fiktion zu enthalten, insofern Platon die Philosophenkönige als »Maler von Staatsverfassungen« betrachtet, die auch neue Menschenbilder entwerfen, denn: »Sie nehmen zunächst den Staat und das Menschenleben nach seinen Eigentümlichkeiten wie eine Tafel zur Hand und machen sie rein [um durch] Mengen und Mischen aus den Zielen menschlichen Strebens das Menschenideal herzustellen.« 28 Aber diese Menschenbilder sind einem Menschenideal – dem feststehenden metaphysischen Wesen, der Idee (eidos) des Menschseins – verpflichtet und entstehen weder spontan, noch sind sie kreativ. Sie entsprechen eher irdischen Spiegelungen und Abbildern als utopischen Entwürfen. Der radikale Bruch der Neuzeit mit dem metaphysischen Ordnungs- und Einheitsdenken bedeutet auch eine Zäsur für die praktische Philosophie, die den Menschen nicht länger als vollständig eingebettet in teleologisch-theologische Lebens- und Ordnungsentwürfe betrachten und daher nicht länger rekurrieren kann auf eine natürliche Ordnung oder eine gegebene Natur des Menschen. Wenn man von allen »zufälligen« menschlichen Verhältnissen abstrahiert, wenn man also alle Rechts-, Staats- und Zwangsverhältnisse, aber auch die soziale, historische und lokale Einbettung der Individuen, wie auch ihre moralischen, ethischen und weltanschaulichen Überzeugungen außer Geltung setzt, dann komme man – hypothetisch, gedanklich, argumentativ – zu einem Standpunkt, von dem aus man den Menschen, wie er von Natur aus ist, betrachten könne. Was aber in diesen neuzeitlichen Naturzustandsszenarien von den Menschen bleibt, wenn man sie von allen konventionellen Umständen der Selbst- und Gemeinschaftszuschreibungen befreit, ist kein spezifisches Wesen, keine eigentümliche Leistung, kein inhärentes Ziel, sondern ein, wie es der Begründer des politischen Liberalismus John Locke formuliert, Zustand vollkommener Freiheit und Gleichheit, »ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom

siehe Robert von Mohl: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Erlangen, (EA 1855]. 28 Platon, Politeia, in der Übersetzung von Otto Apelt, Leipzig, 1923, 501.

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Willen eines anderen abhängig zu sein.« 29 Alle sozialen und politischen Phänomene, wie Ordnungsstrukturen, Institutionen, gemeinschaftlichen Ziele und Regeln, gelten als das Ergebnis von Konventionen, die sich letztlich auf das Individuum zurückführen lassen, dessen Willensbildung und Willensäußerung konstitutiv sind für die Legitimität von normativen Ordnungen. Die Vertragstheorie ist Ausdruck dieses Gedankens einer freien Übereinkunft von sich selbst bindenden Individuen, denen nicht lediglich das Befolgen von Gesetzen, sondern ein eigener Rechtsstatus zukommt, der bei Locke in die Sprache subjektiver Rechte gekleidet wird. 30 Dieser Rechtsstatus schützt aber den Einzelnen nicht nur vor illegitimen Einschränkungen seiner Freiheit und Gleichheit, sondern sichert ihm auch weitgehende Autonomie bezüglich der Lebensgestaltung. Hier geht der politische in einen ethischen Liberalismus über, dessen Ausgangspunkt erneut der Individualismus ist, »eine fortschreitende Ersetzung allopoietischer durch autopoietische Erklärungsmodelle (…): Lebewesen bringen sich selbst durch Akte der Selbst-Schaffung hervor und benötigen dafür keine externe Lenkung.« 31 Dieser Individualismus ist insofern normativ – oder »ethisch«, wie es Ronald Dworkin nennt –, als er den gleichen Wert jedes individuellen Lebens und zugleich die individuelle Verantwortung für das eigene Leben hervorhebt. Daher darf sich niemand, vor allem aber nicht der Staat, in die Gestaltung und den Vollzug individueller Lebenspläne einmischen; und es muss jeder, insbesondere aber der Staat, die Freiheit und Gleichheit jedes Individuums achten. 32 Somit ist (in den Grenzen der politischen und rechtlichen Normen, auf die sich Individuen als Freie und Gleiche vernünftigerweise einigen und eventuell weiterer, moralischer Begrenzungen wie Autonomie, Schadensvermeidung, GerechtigkeitsJohn Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, in der Übersetzung von Hans Jörn Hoffmann, Frankfurt am Main 1997 (EA 1690), § 4. 30 Denn auch im »Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet (…): daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll«, Zweite Abhandlung, § 5, Hervorhebung im Original. 31 Jean-Pierre Wils: Anmerkungen zur Wiederkehr der Anthropologie, in: Ders.(Hg.): Anthropologie und Ethik. Biologische, sozialwissenschaftliche und philosophische Überlegungen, Tübingen/Basel 1997, 25 f. 32 Vgl. die Ausführungen zum »ethical individualism« in Ronald Dworkin: Playing God: Genes, Clones, and Luck. in: Ders.: Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality. Cambridge, Mass. / London, 2000, 448 f. 29

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erwägungen) das Individuum frei zu tun, was ihm beliebt und was ihm richtig, angemessen und nützlich erscheint. Radikalere Liberalisten lehnen auf dieser individualistischen Grundlage nicht nur jede Einschränkung des Enhancement ab, sondern befürworten es nachdrücklich als eine Erweiterung individueller Freiheitsspielräume. Why not the best? 33 – solange z. B. gesichert ist, dass sich jedes Individuum als informierter freier Marktteilnehmer im genetischen Supermarkt nach eigenem Gusto – und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten – bedienen kann? 34 Die Vorstellung vom Menschen als Souverän seines Lebens findet ihre konsequente Fortsetzung in der libertaristischen Vorstellung vom Individuum als souveränem Marktteilnehmer und Kunden, der sich nach seinen eigenen Wünschen und Möglichkeiten gestaltet, verändert, optimiert. Diese Prozesse der Individualisierung innerhalb der Philosophie werden von politischen und anthropologischen Utopien begleitet und illustriert, insofern sich mit der Renaissance »eine säkulare Menschheit selbst zum utopischen Versprechen« 35 wird, zum Versprechen nämlich, dass die Gattung wie auch der Einzelne anders und besser sein können, als sie je gegenwärtig sind. Eingelöst wird dieses Versprechen über den Weg der Erkundung, Vermessung und Beherrschung der uns umgebenden und unserer biologischen Natur mithilfe von Wissenschaft, Technik und Kultur. Diese Entzauberung der Natur geht einher mit ihrer moralischen Neutralisierung, die dem Argument von der Natur bzw. von der Natur des Menschen nachhaltig die normative 33 So der Titel eines zentralen Abschnitts von Buchanan et al. 2000, Kap. 5. Für den Utilitaristen Julian Savulescu konstituiert »das Beste« – das Wohlergehen aller Betroffenen – nicht nur die Erlaubnis, sondern die moralische Pflicht für sich selbst und seine Nachkommen durch genetische Optimierung die beste Chance auf das beste Leben zu sichern, siehe Julian Savulescu: Procreative Beneficience: Why We Should Select the Best Children, in: The Bioethic’s Reader, hg. von R. Chadwick et al., Malden 2007, 434–446. 34 Der Ausdruck geht zurück auf Robert Nozick (Anarchy, State and Utopia, New York, 1974, 315), er plädiert für einen »›genetic supermarket‹ meeting the individual specifications (within certain moral limits) of prospective parents. (…) This supermarket system has the great virtue that it involves no centralized decision fixing the future of human type(s).« 35 Freyermuth 2004, 66. Der Aufsatz schildert den Prozess neuzeitlicher Individuierung als eine Abfolge von Menschenbildern, in denen die fortgeschrittenen Technologien der Zeit das utopische Vorbild darstellen: vom L’homme machine (Uhrwerk) zum industriellen (Dampfmaschine) und schließlich virtuellen Menschenbild (Computer).

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Kraft entzieht. Von Natur aus hat der Mensch demzufolge keine feststehende Natur, es ist seine Eigenart, ein »Gebilde ohne besondere Eigenart« zu sein, wie es Pico della Mirandola in einem der berühmtesten Werke der Renaissance formuliert. In De hominis dignitate spricht Gott zum Menschen: »Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, damit du den Platz, das Aussehen und alle Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Du wirst dir von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.« 36 Man könnte paradox anmutend formulieren, dass es zur Natur des Menschen gehört, keine festgelegte Natur zu haben. Etwas nicht einfach so zu belassen, sondern anders oder neu zu »machen«, in die Natur und deren Abläufe einzugreifen und sie aktiv und kreativ zu verändern, als homo rationale auch homo faber zu sein, wird als Teil der conditio humana begriffen. Der Wunsch nach Selbstverbesserung und die Fähigkeit zur Selbstgestaltung – die auch die Fähigkeit zur fortwährenden Veränderung und Verbesserung der eigenen biologischen Natur umfasst – gelten als genuin menschlich und machen mithin die menschliche Natur aus. In diesem Sinne ist die eigene, »erste« (biologisch-physiologisch-physikalische) Natur des Menschen »Material«, welches modifiziert werden kann aufgrund seiner »zweiten« (kreativen, Kultur und Technik schaffenden) Natur. 37 Diese Freiheit im Umgang mit sich selbst wird aber nicht als eine den Menschen zu einem bloßen Objekt, einem materiellen Naturding herabwürdigende und von daher zweifelhafte Freiheit betrachtet, sondern eben als Ausdruck der einzigartigen Würde des Menschen. 38 Wer keinen festen Platz in der Welt, kein naturgegebenes Wesen 36 Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, in der Übersetzung von Gerd von der Gönna, Stuttgart 2009 [EA 1486/87], 9. 37 Die Unterscheidung von erster und zweiter Natur ist überaus hilfreich, um naturalistische Argumente bestimmen, von einander unterscheiden und gegebenenfalls kritisieren zu können, siehe etwa John McDowell: Two Sorts of Naturalism, in: Ders.: Mind, Value, and Reality, Cambridge, Mass. 1998, 167–197. 38 An Pico della Mirandolas Würdebegriff knüpft in der Enhancement-Debatte an David Heyd: Die menschliche Natur. Ein Oxymoron?, in: Bayertz 2005, 52–72, 71: »Der

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und keinen inhärenten Zweck hat, der kann sich seine Zukunft in (Noch-)Nicht-Orten, in Utopien ausmalen, erträumen, aber auch befürchten. Es ist kein Zufall, dass das Kunstwort »Utopie«, das ab dem 18. Jahrhundert einem ganzen Genre den Namen gibt, auf einen Text der Renaissance, nämlich Thomas Morus’ Utopia zurückgeht. 39 In dieser Zeit entstehen die klassischen politischen Utopien im Sinne »konstruktive(r) Fiktionen« idealer Gemeinwesen, rational nachvollziehbarer, eben nicht dem alltagssprachlichen Sinn von »utopisch« folgender »Angebote idealer Formen des menschlichen Zusammenlebens«, die zugleich »Resonanzphänomene auf soziale Krisen« darstellen. 40 Zu diesen konstruktiven Fiktionen gehören auch anthropologische Utopien. So beschreibt Francis Bacon in Nova Atlantis nicht nur eine von weisen Männern und Wissenschaftlern regierte und von überaus friedlichen, sittlichen und würdevollen Bürgern getragene politische und soziale Ordnung, sondern auch Praktiken der Neugestaltung des Menschen. Denn die Wissenschaftler haben »wunderbare Entdeckungen gemacht«, »etwa über die Fortdauer des Lebens«, über seine vielfältigen Formen und Strukturprinzipien in der medizinisch-therapeutischen Absicht, »den menschlichen Körper besser schützen zu können.« Darüberhinaus machen sie aber »die einen künstlich größer und länger, als sie von Natur aus sind, andere wiederum zwergenhaft klein und nehmen ihnen ihre natürliche Gestalt. (…) Auch in Farbe, Gestalt und Gemütsart verändern« 41 sie ihre Versuchsobjekte bis hin zur Schaffung von »künstlichen Menschen«. 42 Das Bild des modifizierten oder gar künstlichen Menschen wird bis in die Gegenwart in utopischen Szenarien ausgemalt: Golem, Homunculus und Frankensteins Kreatur finden ihre Fortsetzung in Automatenmenschen, Androiden oder Cyborgs. Manche dieser Menscheneinzigartige Wert der Menschheit – ihre Würde – liegt in ihrer Macht zur Selbsttranszendenz, die sie befähigt, anders zu sein als das natürlich Gegebene.« 39 Thomas Morus: Utopia, in: Der utopische Staat, übersetzt und hg. v. Klaus J. Heinisch, Reinbek bei Hamburg 1993 [1517], 7–110. 40 An von Mohls Verständnis von Utopie als Staatsutopie schließt hier der wohl prominenteste deutsche Utopie-Forscher Richard Saage an (Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997, 9). Die Frage nach einem angemessenen Utopiebegriff ist allerdings selbst Gegenstand der Utopieforschung, siehe Saage 2000, Vorwort zur 2. Auflage, und die Beiträge in Beat Sitter-Liver (Hg.): Utopie heute I und II. Zur aktuellen Bedeutung, Funktion und Kritik des utopischen Denkens und Vorstellens, 2 Bde., Stuttgart, 2007. 41 Francis Bacon: Neu-Atlantis. in: Der utopische Staat, 1960 [1638], 208. 42 Ebd., 212.

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bilder stellen zugleich Angstbilder dar, die mögliche Gefahren der Veränderung und Manipulierung der menschlichen Natur reflektieren. Zugleich aber weisen diese anthropologischen Utopien über das unbefriedigende Hier und Jetzt unserer körperlichen, geistigen und sinnlichen Beschränkungen – unsere Verletzlichkeit, genetische Verfasstheit, Leiblichkeit, Sterblichkeit – hinaus in eine bessere Zukunft, eine verbesserte Möglichkeit des Menschseins. Prometheus bringt den Menschen das Feuer im Bewusstsein, dass er mit diesem Akt der Emanzipation von den Göttern, ergo: der Natur, auch mit dem Feuer spielt: »Playing God is indeed playing with fire. But that is what we mortals have done since Prometheus, the patron saint of dangerous discovery. We play with fire and take the consequences, because the alternative is cowardice in the face of the unknown.«43 Verlangt aber die unbestritten rasante Entwicklung von Wissenschaften und Technik in den letzten Jahren nicht eine Verlangsamung, ja gar ein Verhinderung dieses prometheischen Strebens, wie es von Michael Sandel angemahnt wird? Sind wir gegenwärtig Zeugen einer historisch einmaligen Bedrohung, die nicht nur Weltbilder und Menschenbilder zum Einsturz bringt, wie ehemals die Kopernikanische, Newtonsche, Freudsche Revolution, sondern die die menschliche Spezies selbst gefährdet? Ist nunmehr das Ende des Menschen erreicht? 44 Und wenn ja: Stellt das wirklich ein Problem dar oder handelt es sich nur um die konsequente Fortführung des neuzeitlichen Prozesses der Emanzipation von der Natur? Der Transhumanismus zeigt sich jedenfalls begeistert von den realen oder prophezeiten Möglichkeiten der Veränderung der menschlichen Erbsubstanz und der Funktions- und Steuerungsweise des Zentralen Nervensystems bis hin zu Verbindungen von human- und nichthuman-biologischem mit anorganischem Material. Die menschliche Natur nicht nur zu überschreiten, sondern sie zu überwinden, sie neu zu erfinden, 45 stellt hier gewissermaßen die Dworkin 2000, 446. Fukuyama 2002 versucht unter diesem Titel eine essentialistische Kritik des Enhancement. 45 Neuerfindung der Natur ist der Titel der sozialistisch-feministischen Utopie von Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main/New York, 1995. Auf die für die klassische Utopie-Forschung relevante Unterscheidung von Utopie und Science-Fiction (z. B. Saage 2007 und Wilhelm Voßkamp [Hg.]: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. I–III, Stuttgart 1982) gehe ich hier nicht ein. 43 44

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letzte anthropologische Utopie dar: »Unsere Tage als biologische Wesen, wie sie auf unserem Planeten und womöglich im ganzen Universum existiert haben, sind gezählt.« 46 Eschatologische Motive sind charakteristisch für transhumanistische Utopien, die das Ende des Menschen als den vorerst letzten Schritt eines politischen und ethischen Liberalismus interpretieren. So heißt es in der Selbstdarstellung der World Transhumanist Association: »Transhumanism is a way of thinking about the future that is based on the premise that the human species in its current form does not represent the end of our development but rather a comparatively early phase. (…) Transhumanism can be viewed as an extension of humanism, from which it is partially derived. Humanists believe that humans matter, that individuals matter. We might not be perfect, but we can make things better by promoting rational thinking, freedom, tolerance, democracy, and concern for our fellow human beings.« 47 Von einer »Erschöpfung der utopischen Energien« 48 kann für den Bereich des Enhancements also gar nicht gesprochen werden, wenngleich diese Zukunftsvisionen vom Menschen individualisiert und somit weniger idealistisch und perfektionistisch und zugleich weniger

46 Charles Lumsden: Das Posthumane Zeitalter: Das Spiel der Werkzeuge und das genomische Vergessen einer utopischen Spezies, in: Rudolf Maresch, Florian Rötzer (Hg), Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 2004, 231. Heilinger 2010 charakterisiert den Transhumanismus folgerichtig als eine über sich selbst hinausweisende Utopie vom Menschen, ebd. 123: »Ein entscheidender Unterschied zwischen der transhumanistischen und vielen anderen Utopien liegt darin, dass es sich hierbei nicht mehr um eine Utopie eines menschlichen Lebens handelt. Per definitionem richtet sich die transhumanistische Utopie an Wesen, die das menschliche Entwicklungsstadium hinter sich lassen wollen. Damit zeigt sich eine wesentliche Umkehrung im Vergleich zu früheren Utopien: Waren Utopien zuvor zumeist darum bemüht, die Lebensumstände von Menschen durch eine Veränderung der Welt zu verbessern, geht es im Transhumanismus darum, mithilfe biotechnologischer Interventionen die Wesen zu verändern, die den gegebenen Umständen besser angepasst sind.« 47 Bostrom 2003. Der Begriff »Transhumanismus« geht zurück auf den Biologen Julian Huxley, der den Ausdruck 1957 in seinem New Bottles for New Wine verwendete, und vereinigt gegenwärtig sehr unterschiedliche Bewegungen und Konzepte, siehe Bostrom 2005, z. B. Posthumanismus, Kryonik, Extropismus, das Body-Modification- und Virtual-Body-Movement, Ray Kurzweils Age of Spiritual Machines bis hin zu Craig Venters kürzlich gelungener Initiierung von synthetischem, wenngleich primitivem Leben. 48 Jürgen Habermas: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Ders.: Die neue Unübersichtlichkeit: Kleine politische Schriften, Frankfurt am Main, 1985, 141.

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politisch und kollektivistisch sind als ihre klassischen Vorgänger aus der philosophischen Ideengeschichte. 49

III

»Was man an der Natur Geheimnisvolles pries …«

Ein individualistischer Standpunkt muss allerdings nicht in die Radikalität und den Optimismus transhumanistischer Utopien münden – wie bereits ausgeführt wurde, gibt es durchaus auch von einer auf die gleiche Freiheit der Individuen verpflichteten Position aus gute Argumente gegen bestimmte Formen oder Tiefen des Eingriffs in die menschliche Natur, die ohne ein essentialistisches oder normatives Verständnis von dieser Natur auskommen. Risiko- und Schadensabwägungen, das Autonomie- und Neutralitätsgebot und Gerechtigkeitsüberlegungen können aus einer liberalistischen Perspektive moralische Grenzen von Enhancement-Praktiken markieren. Allerdings kann man diskutieren, ob diese einschränkenden Gründe nicht in einer elementaren Hinsicht zu kurz greifen. Im Falle der Risiko- und Schadensabwägungen scheint man sich bereits auf den Gedanken der Optimierung und somit auf ein konsequentialistisches Menschen- und Gesellschaftsbild eingelassen zu haben, von dem aus es nurmehr die effektiven Mittel zu den besten Konsequenzen für alle Betroffenen zu reflektieren und abzuwägen gilt. Im Falle der Gerechtigkeitserwägungen geht es um die gerechte Verteilung von Gütern (wie Intelligenz, Schönheit, körperliche Kraft, Konzentrationsfähigkeit, Unversehrtheit, Lebensdauer), ohne dass der anthropologische Wert dieser Güter reflektiert würde. Das Autonomie- und das Neutralitätsargument werden eher im Sinne der negativen Freiheit des Einzelnen, als Abwehrrecht gegenüber den Zumutungen staatlicher oder kollektiver Interventionen, als Verbots-Verbot interpretiert denn als positive Freiheit Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird das Verständnis von Utopien als ideale Gesellschaftsordnungen zunächst vehement kritisiert und dann modifiziert, insbesondere in den Werken Gustav Landauers, Karl Mannheims und Ernst Blochs werden Utopien zu sozialkritischen Denkhaltungen konkretisiert. Dem folgt gegenwärtig Arnhelm Neusüss: Utopie, Begriff und Phänomen des Utopischen. Frankfurt am Main/New York, 1986, 32, hier besteht das utopische Phänomen »in der kritischen Negation der bestehenden Gegenwart im Namen einer glücklicheren Zukunft, die noch so verschieden ausgemalt sein mag. Deshalb kann sich die utopische Intention auch da ausdrücken, wo auf Zukunftsbilder verzichtet wird.«

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zur Selbstvervollkommnung gemäß eines Vorbilds. 50 In keiner dieser moralischen Argumentationsweisen wird über die anthropologischen Bedingungen dieser Argumente reflektiert, was so lange unproblematisch erscheint, solange die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit und Gleichheit, von Gerechtigkeit und Autonomie, kurz: das Rückgrat des ethischen und politischen Liberalismus nicht gefährdet sind. Jürgen Habermas hat unter dem Titel Die Zukunft der menschlichen Natur eine über die individualistische Grundlegung der liberalistischen Moral hinausgehende, gattungsethische Frage formuliert, die den Blick auf die Konstitution dieses moralischen Rückgrats lenkt. Zwar verteidigt er »die Enthaltsamkeit, die sich das postmetaphysische Denken im Hinblick auf verbindliche Stellungsnahmen zu substantiellen Fragen des guten oder nicht-verfehlten Lebens auferlegt«; 51 zugleich dürfe »(a)ber dieser ›Vorrang des Gerechten vor dem Guten‹ (…) nicht den Blick dafür verstellen, dass die abstrakte Vernunftmoral der Menschenrechtssubjekte selber wiederum in einem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten ethischen Selbstverständnis der Gattung ihren Halt findet«. 52 Müsste, so Habermas, dieses Selbstverständnis im Zuge des Einsatzes von Konvergenztechnologien, insbesondere von genetischer Eugenik, revidiert werden, dann könne man das nicht einfach als eine in der historischen Linie stehende Erweiterung individueller Freiheitsspielräume betrachten, sondern müsse eine drastische Vernichtung der Grundlagen des modernen Freiheitsversprechens befürchten. Denn wie wir »die Reichweite der neuen Entscheidungsspielräume nutzen wollen – autonom nach Maßgabe normativer Erwägungen, die in die demokratische Willensbildung eingehen, oder willkürlich gemäß subjektiven Vorlieben, die über den Markt befriedigt werden«, 53 wird sich auf unsere Individualmoral niederschlagen. Nicht nur sei bei der weitgehenden Erlaubnis des Enhancement unter Marktbedingungen eine zunehmende Kommerzialisierung von Lebensprozessen zu befürchten mit allen freiheitsgefährdenden Folgen, wie einem starken Konkurrenz-, Konformitäts- und Komplizitätsdruck und der Tendenz zu sozia50 Zur Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit noch immer aufschlussreich Isaiah Berlin: Zwei Freiheitsbegriffe. in: Ders.: Freiheit: Vier Versuche. Frankfurt am Main, 2006 [1969]: 197–256. 51 Habermas 2002, 9. 52 Ebd., 74, Hervorhebungen im Original. 53 Ebd., 28.

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ler Polarisierung und Homogenisierung. 54 Sondern es drohe die Erosion der ethischen Grundlagen unseres Selbstverständnisses und somit das Ende der Moral. Dem gattungsethischen Menschenbild zufolge sind wir »an Normen und Gründen orientierte Lebewesen«, 55 die einander als Freie und Gleiche, zugleich als Autoren des eigenen Lebens nach je eigenen Ansprüchen anerkennen, sich gegenseitig Verantwortung für ihr Leben und Handeln zuschreiben, aber auch zumuten. Der Clou und die ausgesprochene Raffinesse der Argumentation von Habermas besteht darin, die Grundlagen des liberalistischen Freiheitsund Gleichheitsgedankens in einer spezifischen Form der Unfreiheit und Ungleichheit zu verankern. Die Unverfügbarkeit und Kontingenz unserer genetischen Ausstattung sei die »naturale Voraussetzung für das Bewusstsein der betroffenen Person, autonom und verantwortlich handeln zu können«, 56 denn die »eigene Freiheit wird mit Bezug auf etwas natürlich Unverfügbares erlebt«. 57 Gerade weil wir (bislang) nicht über unsere erste, d. h. biologisch-physiologisch-physikalische Natur verfügen, sondern diese als »Naturschicksal«, als »Gewachsenes« und nicht »Gemachtes« betrachten (müssen), können wir für diese nicht zur Verantwortung gezogen werden. Weil Glück und Pech dieses Naturschicksal bestimmen, können und müssen wir uns mitfühlend, solidarisch und verantwortlich füreinander zeigen, denn schließlich hat niemand die zufälligen ungleichen Ergebnisse der natürlichen Lotterie »verdient«. Die mitleidsfähigen und fürsorglichen Anderen, die solidarischen Bürgerinnen und Bürger und die gerechtigkeitsorientierte Gesellschaft reagieren auf diese unverdienten Ungleichheiten und Unfreiheiten moralisch sensibel mit der »Überzeugung, dass alle Personen den gleichen normativen Status einnehmen und einander reziprok-symmetrische Anerkennung schulden«. 58 Hierzu ausführlicher Birnbacher 2006, 115 ff., und Agar 2004, Kap. 7. Habermas 2002, 74. In diesem Menschenbild geht es »nicht um die Kultur, die überall anders ist, sondern um das Bild, das sich verschiedene Kulturen von ›dem‹ Menschen machen, der überall – in anthropologischer Allgemeinheit – derselbe ist«, ebd. 72. 56 Ebd., 132. 57 Ebd., 101. 58 Ebd., 110. Habermas wendet sich vor allem gegen die liberale Erlaubnis der genetischen Eugenik. Durch genetisches Enhancement können Dritte (wie Eltern, Ärzte) eine genetische Selektion ihrer Nachkommen nach selbstdefinierten oder allgemein anerkannten Kriterien (wie körperliche und geistige Unversehrtheit) vornehmen. Für diese Kinder stellt sich ihre eigene Natur aber nicht mehr als zufällig bzw. schicksalshaft dar, sondern als intendierte Handlung von Dritten, der sie selbst niemals haben zustimmen 54 55

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Auch andere Autoren sind überzeugt, dass gerade die Unverfügbarkeit und natürliche Kontingenz der menschlichen Natur das konstitutive Fundament unserer moralischen Sensibilitäten, Grundprinzipien und Praktiken darstellt. So wird etwa verwiesen auf das »Geschenktsein« des Lebens, 59 das »Recht und die Würde des Leibes«, 60 die normativen Aspekte des menschlichen Körpers, die ein gemeinsames »Natur- und Kulturerbe« darstellen, 61 die menschliche Unvollkommenheit, Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit, die die »Quelle« sind »von Ansprüchen des Einzelnen, mit denen die soziale Ordnung rechnet«, 62 sowie die menschliche »Emotionalität«, insbesondere die »Art und Weise, wie wir auf Leid, Elend und Tod reagieren«. 63 Manchen reicht schon der Verweis auf den »Yuk-Faktor« – die Angst, das Unbehagen, die Abscheu, die viele Menschen angesichts von Enhancement-Praktiken spontan ausdrücken –, um einen Konservatismus bezüglich des Umgangs mit der menschlichen Natur anzuempfehlen. 64 An dieser Auflistung der Merkmale der menschlichen Natur, die verschiedene Autoren als die Bedingung der Möglichkeit unserer moralischen Praxis herausstellen, zeigt sich bereits die alte und bekannte Schwierigkeit, den komplexen Begriffen der »Natürlichkeit« oder »Natur« durch einzelne (genealogische, biologische, genomische, kulturelle können. Von dieser Fremdbestimmung können sie sich nicht, wie es mit Sozialisationsschicksalen grundsätzlich möglich ist, distanzieren – ihre Natur wurde durch Dritte verfügt bzw. »gemacht«. 59 Siehe die Ausführungen zu Michael Sandel in Abschnitt I. 60 Siehe Volker Caysa: Vom Recht des Leibes. in: Renate Reschke (Hg.): Zeitenwende – Wertewende. Berlin, 2001, 217–222. 61 Ludwig Siep: Normative Aspekte des menschlichen Körpers, in: Kurt Bayertz (Hg.): Die menschliche Natur. Welchen und wieviel Wert hat sie? Paderborn, 2005, 167. 62 Ebd., 161. 63 Fukuyama 2002, 241. 64 Vgl. Mary Midgley: Biotechnology and monstrosity. Why we should give attention to the ›Yuk-Factor‹, in: Hastings Center Report 30/5, (2000) 7–15. Hier wird die Unterscheidung zwischen »liberalen« und »konservativen« Positionen, die sich in jüngerer Zeit eingebürgert hat, zwar übernommen, es sei aber kritisch hingewiesen darauf, dass diese Unterscheidung zunächst in der politisch motivierten Absicht vorgenommen wurde, die liberale Position zu schmähen, siehe Ruth Macklin: The New Conservatives in Bioethics: Who Are They and What Do They Seek?, in: Hastings Center Report 36/1, (2006) 34–43. Auch ist die implizite Gleichsetzung dieser Positionen mit der Forderung nach vorbehaltsloser Freigabe oder dem strikten Verbot des Enhancement bei näherer Betrachtung nicht haltbar.

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– oder doch essentialistische?) Eigenschaften gerecht zu werden. 65 Auch bestätigen sich die grundsätzlichen Bedenken gegen eine Begründung der Moral – in diesem Falle einer Einschränkung oder eines Verbots bestimmter Enhancement-Praktiken – mittels einer substantiellen Anthropologie. Der Versuch, das Argument von der Natur des Menschen gewissermaßen durch die gattungsethische Hintertür wieder einzuführen, kann deswegen nicht überzeugen, weil selbst ein Ende der Moral, wie wir sie kennen, von einer liberalistischen Position aus eine bedenkenswerte Möglichkeit darstellt. Systematisch betrachtet – und ohne das Ergebnis einer liberalistischen Reflexion auf das Ende der Moral in irgendeiner Weise vorwegnehmen zu wollen – ist die Zukunft der Moral als ebenso offen zu betrachten wie die Zukunft der menschlichen Natur. Beide sind in ihrer jetzigen Verfassung keineswegs unantastbar oder sakrosankt. Was wir für moralisch relevant halten, an welchen Prinzipien und Regeln wir uns ethisch orientieren, welche Formen des Lebens wir für gelungen und vorbildlich oder misslungen und unsittlich halten, welche Gerechtigkeitsprinzipien wir anerkennen, welche Tugenden wir loben – alles das hängt zwar davon ab, als welche Art von Wesen wir uns verstehen, welche Bedürfnisse und Ängste wir teilen oder für besonders zentral erachten, welche charakteristischen Konflikte wir durch allgemeine Regeln entschärfen und welches Verhalten wir als vorbildlich betrachten können. In diesem Sinne ist die Moral tatsächlich in der Anthropologie fundiert. Die paradigmatischen moralischen, sozialen und rechtlichen Regeln reflektieren die paradigmatische menschliche Lebensform, zu der, wie wir durch individuelle und kollektive Erfahrungen hinlänglich wissen, etwa Schmerzfähigkeit, die Furcht vor Leiden, Sterblichkeit, ein gewöhnliches und allgemein bekanntes Spektrum von menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten gehören. 66 Aber kann es denn moralisch geboten sein, diese erste menschliche Natur (in die aus medizinisch-therapeutischen Gründen einzugreifen als moralisch unbedenklich gilt) vor Enhancement-Eingriffen zu schützen, damit der (herrschenden) Moral der Geltungsboden Vgl. die detaillierte Kritik an biokonservativen Argumenten in Birnbacher 2006, Kap. 5 und 7. 66 Insbesondere im Liberalism of Fear ist die anthropologische Fundierung des politischen Liberalismus offenkundig, siehe Judith Shklar: The Liberalism of Fear, in: Liberalism and the Moral Life, hg. von Nancy Rosenblum, Cambridge, Mass./London, 1989. 65

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nicht entzogen wird? Hieße das nicht, die Moral zu dem Dogma zu erklären, von dem die »Natur des Menschen« seit der Neuzeit kontinuierlich befreit wurde? Der »utopische Standort«, 67 den wir uns selbst und unserer Zukunft gegenüber stets einnehmen, umfasst nicht nur anthropologische Utopien, sondern auch moralische. Wenn wir durch Enhancement-Praktiken unsere erste Natur so sehr verändern, dass die bisherige moralische, soziale und politische Ordnung dieser nicht mehr adäquat erscheint, werden wir eine andere Moral und eine andere politische Ordnung benötigen – wie es historisch schon vielfach im Zuge der Umwälzungen von Menschen- und Weltbildern geschehen ist. Das Ende des Menschen im Sinne der Ablösung eines Menschenbildes durch ein neues, deskriptiv und normativ adäquateres Menschenbild haben wir schon häufig erlebt und überlebt. Für das Ende der mit den Menschenbildern verbundenen moralischen Paradigmen gilt das ebenfalls. Vor jedem dieser anthropologischen, kulturellen und ethischen Paradigmenwechsel stand ein vermeintlich Unverfügbares, das schließlich – mit aller gebotenen Vorsicht – aufgegeben und ersetzt wurde. Und mit jedem dieser Prozesse der Individualisierung, Säkularisierung und Liberalisierung wurde »Die Überzeugung wahrer, wahrer: Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, das wagen wir verständig zu probieren.« 68 Etwas zu wagen stellt natürlich ein Wagnis dar, aber dieses ist »verständig zu probieren«, angemessen zu reflektieren und dann gegebenenfalls auch vernünftig zu praktizieren. Warum sollten wir grundsätzlich fürchten, dass eine andere, etwa eine postliberale Moral, die für Menschen mit anderen paradigmatischen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Erwartungen und Ängsten angemessen erscheint, diesen, unsere zweite menschliche Natur charakterisierenden Anspruch auf Verständigkeit, auf vernünftige Akzeptabilität, aufgeben könnte? Ein Mehr an Gelassenheit und Vernunftoptimismus nimmt eschatologischen Prophezeiungen und Endzeit-Argumenten die irrationale Spitze – aber verpflichtet auch weiterhin zu moralischer Sensibilität gegenüber an67 Helmut Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin, 1975 (EA 1928), 288 ff., 341 ff. 68 Es handelt sich um ein Zitat aus Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 2. Akt, Laboratorium.

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thropologischen Utopien. Denn nichts weniger als die Frage, wie wir uns als Menschen verstehen, wie wir leben und zusammenleben wollen, steht auf dem Spiel – immer wieder.

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Rosenbauer Wir haben hier eine Spannbreite zwischen dem Freiheitsversprechen mit dem, was die Moral, die Ethik nicht zulassen sollte oder in Frage stellt. Und auf der anderen Seite die Frage nach der Würde der Kreatur jenseits des Menschen. Da Sie, Herr Sitter-Liver, in entsprechenden Kommission sind, wie empfinden Sie die Thesen, die Frau Özmen hier vertreten hat? Sitter-Liver In einem Kolloquium zur Frage der »Utopie heute«, für das ich verantwortlich zeichnete, zog der Beitrag eines Vertreters des Transhumanismus hohe Aufmerksamkeit und erheblich Kritik auf sich. Ich selber habe Probleme mit der Position der Transhumanisten, unter anderem weil sie den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit vernachlässigen; für mich steht dieser im Vordergrund. Sie beziehen sich in der Regel nur auf Individuen, auf einzelne Menschen also; doch den einzelnen Menschen ohne Gemeinschaft gibt es nicht. Man muss also die Frage stellen: Ist es, gerade auch bei einem liberalen Verständnis des Staates, richtig, dass wir als Gemeinschaft das, was Transhumanisten in den Vordergrund rücken, ganz oder auch nur teilweise finanzieren? Özmen Also es gilt nicht nur für transhumanistische Praktiken, sondern auch für andere Bereiche, dass der Individualismus hochgehalten wird. Gleichzeitig gibt es aber selbst so etwas wie subjektive Freiheitsrechte nicht, wenn es nicht eine Gesellschaft und eine Verfassung gibt, die diese garantieren. Natürlich benötigt man für die Realisierung von tiefgehenden Eingriffen in die menschliche Natur Geld, vor allem weil man Wissenschaftler und Unternehmen braucht, die das erforschen und entwickeln. Aber zum Transhumanismus zählen ja auch Praktiken, 125 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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die nicht so viel kosten, die sozusagen schon heute bereit stehen, etwa der ganze Bereich der Body-Modifikation, das sind ja Veränderungen, die Sie im Prinzip an sich selbst vornehmen können. Am Posthumanismus und am Transhumanismus ist neben allem Beängstigendem auch etwas Faszinierendes, nämlich das Bestreben, nicht zum status quo dazugehören zu wollen. Körperveränderte Menschen stoßen auch in der liberalen Gesellschaft normalerweise auf wenig Toleranz. Die Exklusion aus der Gemeinschaft, die sie anstreben, ist eine wortwörtlich sehr sichtbare. Sitter-Liver Sie haben gezeigt, was für Möglichkeiten es gibt. Wenn wir in Ethikkommissionen über damit verbundene Probleme reden, vielleicht anhand von konkreten Projekten reden müssen, dann ist eben dies die einzige Möglichkeit, sich in vernünftiger Weise über solche Probleme allgemein Gedanken zu machen: indem wir stets ganz konkret von den einzelnen Fällen ausgehen. Wenn man hingegen von Transhumanismus schlechthin spricht und diesen Begriff weit fasst, dann wird es schwierig, in Einzelfällen zwischen Therapie und Entwicklung zu unterscheiden. Darum liegt für mich die Lösung tatsächlich in der Praxis, von Fall zu Fall und jeweils neu zu bedenken und zu behandeln, was zur Diskussion steht und Reflexion erheischt. – Beim Zuhören stellte sich für mich ein weiteres, und zwar ein logisches Problem ein. Mit Ihrer Aussage, man könne bei Therapien zugleich auf ein Enhancement zielen, springen Sie von einer wissenschaftlich, also empirisch ausgewiesenen Aussage zu einer – ich will nicht sagen Sollens-Aussage, aber doch – ethischen Erlaubnis. Das halte ich im Rahmen einer ethischen Argumentation für unzulässig. Man muss die beiden unterschiedlichen Sprechweisen sorgfältig auseinander halten, damit man sie überhaupt sinnvoll analysieren und reflektieren kann. Andernfalls fände sich weder ein besonderer und also starker Grund für die Zustimmung zu Enhancement noch ein analoger Grund für dessen Ablehnung. Zur Illustration verlasse ich den Bereich der Humanmedizin und betrete das Feld unseres Verhaltens gegenüber Tieren, weil hier Enhancement praktiziert und für selbstverständlich erachtet wird. Therapie und Enhancement werden, so scheint mir, oft nicht klar genug getrennt. Eben deswegen argumentieren wir in der Tierethik immer wieder einmal mit dem Argument der schiefen Ebene, mit dem wir uns gegen bestimmte Praktiken wen126 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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den. Ein problematisches Argument, gewiss, aber es hilft uns doch, uns der Vorstellung zu widersetzen, dass, was im Felde unseres Verhaltens gegenüber Tieren als vertretbar ausgegeben wird, problemlos auf andere Bereiche und hier insbesondere auf die Humansphäre übertragen werden darf. Rosenbauer Ich mache es mal ganz banal. Als ich zur Schule ging und zum Zahnarzt geschickt wurde, hat er nur geguckt, ob ich faule Zähne habe. Meine Kinder wurden zum Zahnarzt geschickt, damit er Ihnen auch Schienen verpasst, damit sie ein schönes und natürlich auch medizinisch gut ausgerichtetes Gebiss haben. Also inzwischen ist aber dieses Enhancement Alltag, Standard. Und deswegen beschäftigt mich die Frage: Wo ziehen Sie die ethische Grenze und wie vermitteln Sie die in einer Gesellschaft, in der »Deutschland sucht das Supermodel, den Superstar« etc. zum Alltag und zur medialen Wirklichkeit gehören? Özmen Wie man und wer überhaupt die Grenzen zieht, scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Der Liberalismus fragt primär danach, wer die Grenzen zieht, weil er das Wie des Grenzenziehens, nämlich den dafür notwendigen Maßstab, nicht kennt. Dieser muss in einem Einigungsverfahren durch zustimmungsfähige, freie und gleiche Individuen gewissermaßen überhaupt erst gesetzt werden. Und wer die Grenzen verschieben darf, ist von einer individualistischen Perspektive aus relativ klar: vorrangig die Individuen selbst, die können sich einigen auf neue, gemeinsame Grenzen, sie können etwa einzelne politische und juristische Akteure benennen und legitimieren, die dann beauftragt sind in ihrem Sinne zu sprechen, sie zu repräsentieren. Aber Ihnen ging es mehr um das Wie. Sie haben ja bemerkt, dass ich zweifach argumentiere. Einerseits scheint es mir wichtig zu sein, den Begriff der menschlichen Natur philosophisch zu refelektieren und zu würdigen, ich weiß andererseits nur nicht so recht, was wir da Substantielles beitragen können, außer darauf hinzuweisen, was auf dem Spiel steht. Natürlich geht es beim Enhancement auch um Gerechtigkeit, Risiko, Nichtschädigung, das sind alles relevante moralische Prinzipien, die aber die Frage nicht berühren, ob etwas Fundamentaleres auf dem Spiel steht, eben die menschliche Natur. Jetzt könnte man ein viel zitiertes Wort von Bockenförde anfüh127 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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ren und sagen: »Das ist das Wagnis, das wir um der Freiheit willen eingegangen sind.« Aber wir sollten eben wissen, dass es ein Wagnis ist. Wenn wir wissen, was auf dem Spiel steht, können wir entscheiden, ob wir dieses Spiel spielen wollen bzw. unter welchen Bedingungen. Wenigstens das Tempo des Spiels sollten wir selbst bestimmen können. Entschleunigung wäre hier eine gute erste Maßnahme, um uns die Zeit und Ruhe zu verschaffen, die die moralische und politische Bewertung neuer Technologien eben benötigt. Aber ich möchte auch darauf hinweisen, wie selbstverständlich uns Neuerungen am Ende erscheinen können, zum Beispiel war die Invitrofertilisation zunächst eine absolute Ausnahmetechnik, wirklich höchst umstritten, und ist jetzt zu einer Standardtechnik geworden. Man kann sich doch aber wirklich fragen, was an künstlicher Befruchtung eigentlich Therapie ist im Sinne von Heilung und was eher Befriedigung von Bedürfnissen, die man der Natur nach eigentlich nicht realisieren kann, weil man zum Beispiel nicht fruchtbar genug ist. Unser Verständnis von dem, was natürlich ist und hingenommen werden muss, und dem, was natürlich, aber zu korrigieren ist, hat sich immer schon verändert. Auch hier könnte uns Entschleunigung allerdings vor Leichtsinn bewahren. Sitter-Liver Das unterschreibe ich gerne. Das Problem liegt dort, dass wir als politische Gemeinschaft etwas mehr machen müssen oder doch zumindest sagen müssen, was Entschleunigung bedeutet, etwa dass gewisse Praktiken oder Prozesse für eine bestimmte Zeit unterbunden werden. Ein Beispiel wäre ein Moratorium, das nicht mehr zulässt, was an vielen Orten tatsächlich gemacht beziehungsweise vorbereitet wird. Das ist eine für mich zunächst ungelöste Situation. Sie lässt sich zum Beispiel dort lösen, wo die Produktion und der Einsatz eines neuen Medikaments abhängig ist von der Beurteilung durch eine Ethikkommission. Hier liegt ein Teil möglicher Entschleunigung; er führt in einigen Fällen, vielleicht in 10 von 100, zu ihrer Verwirklichung. Die Entschleunigung besteht etwa darin, dass die Gesuchsteller zunächst einmal nacharbeiten müssen oder dass das Verdikt der zuständigen Ethikkommission in – wenn auch wenigen – Fällen zum Ausschluss dessen führt, was geplant wird – und dies nun aufgrund ethischer Überlegungen.

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Diskussion

Publikum Weil hier jetzt auch gerade die Frage gestellt wurde, nach welchen Kriterien können wir bestimmte Enhancement-Praktiken sozusagen kritisieren oder auch vielleicht verbieten lassen, fiel mir noch ein ganz entscheidendes ein. Auch in so einem liberalen Bewusstsein, in dem wir nicht viel über den Menschen sagen können, gibt es ja den alten kantischen Grundsatz, dass wir den Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck betrachten müssen. Hier, wo die Ethiker an Ihrer Grenze sind, brauchen wir Soziologen. Es gibt Formen der Körperoptimierung, der Naturoptimierung, der Leistungsoptimierung, etwa durch Drogenkonsum, die instrumentelle Formen sind. Da könnte man doch vielleicht tatsächlich sagen, überall dort, wo der Körper instrumentalisiert wird durch Enhancement-Verfahren, ist ja überhaupt nicht mehr von Freiheit die Rede. Özmen Ich fände es fast ein bisschen banal zu sagen, dass das auch schon eine Form der Instrumentalisierung ist, die die Würde des Menschen, ich verwende jetzt mal diese Formulierung, außer Geltung setzt. Das kantische Gebot hat ja seinen Niederschlag in unserer Verfassung in Artikel 1 Grundgesetz: »Die Würde des Mensch ist unantastbar«, und für alles andere haben wir dann die anderen Grundrechte, die uns weitgehende Freiheiten sichern. Wir dürfen uns nämlich – im Rahmen des Strafrechts – instrumentalisieren und auch instrumentalisieren lassen. Also Ihr Vorschlag wäre, das Problem jetzt unter dem Aspekt der Menschenwürde zu verhandeln. Ich habe vorhin bewusst Pico della Mirandola zitiert, weil er darauf hinweist, dass auch das Sich-SelbstGestalten, wobei er natürlich keine drastischen Formen der Instrumentalisierung vor Augen hat, aber erstmal das Sich-Selbst-Gestalten unter »Würde« fällt. Diese Freiheit zur Selbstgestaltung erklärt doch, was so viele Menschen an Enhancement fasziniert. Und nicht nur an Enhancement, sondern auch an dem Bereich, den ich jetzt rausgelassen habe, weil er in ethischer Hinsicht noch ganz andere Dinge berührt, nämlich den Bereich der Biotechnologie, der Genetik usw. Die sich bietenden Möglichkeiten sind faszinierend, nicht nur für Wissenschaftler. Außerdem hoffe ich, dass mein Vortrag nicht so angekommen ist, dass ich dem radikalen Liberalismus die Lanze breche und alle Enhancement-Techniken positiv bewerte, sondern ich wollte mal versuchen, ein etwas raffinierteres Argument zusätzlich zu bringen zu anderen 129 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

Argumenten, die es in der Debatte bereits gibt. Wenn wir die liberale Moral nämlich so verstehen, dass sie weitgehende Toleranzgebote gegenüber dem, was andere freiwillig mit sich und ihrem Leben so tun, enthält, dann könnte schlussendlich die argumentative Grundlage des Liberalismus selbst erodieren. Dann werden wir durch Enhancement vielleicht zu Menschen, die nicht mehr zu der ursprünglichen normativen Anthropologie, auf die der Liberalismus ja aufruht, passen. Und wenn das anthropologische Fundament wegbricht, dann brechen nicht nur die Theorien, sondern auch die aus diesen Theorien abgeleiteten Praktiken weg. Wenn wir uns zum Beispiel nicht mehr als sowohl Kooperationsfähige und Kooperationsbedürftige, sondern auch einander gefährlich Werdende begegnen, und zwar unmittelbar durch unsere leibliche Verfassung, durch unsere Sterblichkeit, durch unsere Schmerzempfindlichkeit, wenn wir uns nicht länger als solche Individuen verstehend begegnen – dann brauchen wir wohl auch andere normative Regeln für unser Zusammenleben. Die sehen vermutlich anders aus als diejenigen, die wir jetzt haben, weil wir dann ganz andere Menschen sein werden. Wir hätten dann nicht nur einen Posthumanismus, sondern auch einen Postliberalismus. In diese Richtung sollte mein Versuch gehen, den Liberalismus durchaus ernst zu nehmen und dennoch das liberale Argument zu unterhöhlen. Publikum Für die anthropologische Ausrichtung ist mir der Blochsche Grundsatz »Natura naturans« eingefallen. Da macht er sehr schön deutlich, dass noch nicht alles ausgereizt ist, was die Natur mit sich bringt. Auch das schöne Wort Tendenzgestalten hat eine ästhetische Konnotation. Vieles in unserer Gesellschaft, im Bildungssystem, ist doch sehr utopiebedürftig und bedarf der Weiterentwicklung, nicht nur ausgerichtet auf den Bedarf, produktionsmäßig nicht nur geradlinig. Zum Beispiel auch diese wunderbare Darstellung mit dem Instrument von Herrn Raecke 1 ist eine wunderschöne Metapher, dass Technik und Natur sehr wohl zusammen gehen können. Die Töne waren ja nicht nur maschinell, sondern sie waren unwahrscheinlich natürlich.

Gemeint ist der musikalische Einklang von Hans-Karsten Raecke mit dem Stück »Solar« für Blas-Metall-Dosen-Harfe und live-Elektronik.

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Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik: Europa »von unten« und der utopische Überschuss im Alltagshandeln Ellen Bareis

Vor drei Jahren beschloss die EU-Kommission, das Jahr 2010 zum offiziellen »Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung« zu machen. Der Leitgrundsatz, auf den sie sich in ihren Veröffentlichungen beruft, ist jener der Solidarität. Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen und sich dabei auf den Begriff der Solidarität beziehen; das könnte doch einen Raum utopischer Fluchtlinien öffnen, durch den hindurch sich auch die Europäische Union ganz im Sinne des Blochschen »NochNicht« artikulieren und neu konstituieren könnte. Ein zweiter Blick auf die aktuelle Programmatik rechtfertigt den doppelten Konjunktiv in dieser Formulierung. »Vom bloßen Wünschen ist noch keiner satt geworden. Es hilft nichts, ja schwächt, wenn kein scharfes Wollen hinzukommt« (Ernst Bloch). Denn mit dem »Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung« werden vor allem zivilgesellschaftliche Akteure aufgerufen. Sie sollen »den Anliegen von in Armut lebenden Menschen Gehör verschaffen und die europäischen Bürger (…) für die Armutsproblematik sensibilisieren«. 1 Es handelt sich also um eine Öffentlichkeitskampagne, konstatieren wir etwas enttäuscht. Denn die Zivilgesellschaft anzurufen ist etwas anderes als Basisprozesse »von unten« aufzugreifen, Bürgertum zu aktivieren etwas anderes als in ein dialogisches Verhältnis zu treten. Weitere Ressourcen, längerfristige Strategien oder eine grundsätzlichere Diskussion über die gesellschaftlichen Ursachen von Armut und Ausschließungsprozessen, gar eine Neubestimmung der Perspektive, ein scharfes Wollen, sind nicht zu erkennen. Doch auch eine Öffentlichkeitskampagne ist zunächst zu begrüßen. Denn allzu lange wurde die Existenz von Armut in Europa ausEuropäische Kommission (2010): Europa geht vereint gegen Armut und soziale Ausgrenzung vor. http://www.2010againstpoverty.eu/about/?langid=de (zuletzt abgerufen am 23. 10. 2010).

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Ellen Bareis

geblendet und de-thematisiert. In der Phase der fordistischen Prosperität und Vollbeschäftigung galt Armut als »besiegt« und das Thema wurde damit verdrängt. Später wurde das Phänomen Armut bei sogenannten Randgruppen und anderen »benachteiligten Gruppen« lokalisiert, wie die Studie zur dynamischen Armutsforschung »Zeit der Armut« von Stephan Leibfried und anderen zeigen konnte. 2 Mit dem EU-Forschungsprogramm TSER (Targeted Socio-Economic Research) fand in den 1990er Jahren schließlich der Begriff der »social exclusion« Einzug in den, zunächst akademischen, Diskurs in Europa. Denn dieses Programm hatte 1994–1998 einen großzügig mit Fördermitteln ausgestatteten Teilbereich zu »sozialer Integration und sozialer Ausschließung«. Zwar bot auch dieser neue Begriff, wie Heinz Steinert betont, eine Möglichkeit, über Armut zu sprechen, ohne von Armut sprechen zu müssen. 3 Doch nahmen nicht alle Forschungsarbeiten, die EU-gefördert entstanden, diesen »Ausweg«. Mittlerweile wurde doch einiges über Armut und Ausschließung in Europa geforscht, auch wenn dies nach wie vor manchmal die Form der »Randgruppen«- oder »Soziale Probleme«-Forschung annimmt. Vor allem aber gibt es mittlerweile wenigstens ein paar Untersuchungen, die die »umgekehrte Frage« stellen und sich dafür interessieren, welche Aktivitäten Menschen, die in schwierige Lebenssituationen geraten, entwickeln, um der Prekarität ein Leben abzutrotzen, das möglichst nah an ihren eigenen Vorstellungen ist. Dass nun »Armut und soziale Ausgrenzung« zu einem öffentlichen Thema werden, ist also einerseits eine wichtige Entwicklung. Andererseits birgt diese Entwicklung die Gefahr, dass die strukturellen Bedingungen, etwa der Sozialpolitik und der Arbeitsmarktpolitik in einer zunehmend auf »Finanzialisierung« und Privatisierung basierenden Gesellschaftsform ausgeblendet werden. 16 % der europäischen Bevölkerung – also 80 Millionen Menschen – leben zurzeit in Armut. Ca. 14 % der Bevölkerung in Deutschland leben in Armut und rund 20 % der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind hierzulande von Armut betroffen. 4 Dabei sollte Europa mit der Lissabon-Strategie 2 Stephan Leibfried / Lutz Leisering (u. a.): Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt am Main, 1995. 3 Heinz Steinert: Die kurze Geschichte und offene Zukunft eines Begriffs: Soziale Ausschließung. In: Berliner Journal für Soziologie, 13(2)/2003, 275–285. 4 Die Daten variieren leicht je nach Berechnungsgrundlage. Zentrale Quellen finden sich für Europa auf der Internetseite der Europäischen Kommision (s. o.) und für

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Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik

von 2000 die Beseitigung der Armut bis 2010 entscheidend voranbringen. Vor drei Jahren war wohl abzusehen, dass die Lissabon-Strategie nicht greift. Armut und die Prekarisierung der Lebensverhältnisse »reduzieren« sich nicht dadurch, dass Programme eingeführt werden, die an den Ursachen – die gesellschaftliche Ungleichheit und deren ständige Verstärkung durch fehlende Politiken des Ausgleichs, sowie die Schwäche sozialer Bewegungen in Europa, in dieses Feld zu intervenieren – vorbeischrammen und nur die direkten Auswirkungen fokussieren. Es war sicher weniger abzusehen, dass sich genau dieses Jahr, 2010, in doppelter Hinsicht zu einem »Krisenjahr« für die Europäische Union insgesamt entwickeln wird und dass sich die »Armutszahlen« in den kommenden Jahren wohl weiter erhöhen werden. Die europäische Krise, die ich hier meine, ist nicht im direkten Sinn die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise, die auf den globalen Finanzschock von 2008 folgte. Es ist vielmehr eine strukturelle Krise angesprochen, die das »Noch-nicht« in ein »Nie-mehr« umzuformulieren droht. Die Sachlogik und scheinbare Unvermeidlichkeit, die den Maßnahmen der europäischen Krisenbewältigung innewohnt, und die derzeitige Schwäche der sozialen Bewegungen auf europäischer Ebene stellen den Möglichkeitsraum eines progressiven und postnationalen Europas in Frage. Dies betrifft erstens die Solidarität innerhalb Europas. Die europäischen Länder von Litauen und Ungarn über Griechenland, Deutschland, Frankreich, Spanien bis Irland stehen 2010 angesichts der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise erneut in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander, das mit der postulierten Solidarität wenig zu tun hat. Und die aktuelle Europapolitik der deutschen Regierung befördert diese innereuropäische Wettbewerbshaltung erheblich. Zweitens betrifft dies die Vision von einem »sozialen Europa«. Die unter dem Diktum von Währungsstabilität und Finanzkrise inszenierte Austeritätspolitik schlägt sich in allen europäischen Ländern als Kürzung in den Bereichen soziale Infrastruktur und Sozialleistungen nieder. Das Ausmaß des Widerstands gegen diese Kürzungen ist zwar in den Mitgliedsländern der Europäischen Union sehr unterschiedlich und wird sicher auch unterschiedliche Effekte hervorbringen. Die politische Linie ist aber sehr klar. Daher werden in ganz Deutschland im 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2008, sowie bei den Forschungen der Hans-Böckler-Stiftung und im »Armutsatlas« des Paritätischen Gesamtverbandes von 2009.

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Europa gerade im »Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung« neue soziale Spaltungen in einem extremen Ausmaß produziert. In dieser Situation und dennoch möchte ich meinen Input zum Dialog »Utopische Politik als Denkwende« das »Projekt Europa« auf seinen, vielleicht untergründigen, utopischen Gehalt hin befragen. In den Fokus stelle ich nicht die offizielle europäische Politik, sondern vielmehr exemplarisch einige Denk- und Praxismodelle, die die sozialen Bewegungen in Europa im Bereich der Sozialpolitik in den letzten zehn Jahren artikuliert haben, sowie den Alltag der Menschen. Für diese Diskussion, die eine Diskussion »sozialer Rechte« ist, möchte ich drei konkrete utopische Fluchtlinien aufmachen: Die Fluchtlinie »Kostenlosigkeit der Existenz«, den Gedanken einer »Sozialpolitik als soziale Infrastruktur« und die Überlegungen zu »Globalen Sozialen Rechten«. Zuvor ist es jedoch notwendig, sich in groben Zügen die aktuelle Konstitution Europas in Bezug auf sozialpolitische Fragen zu vergegenwärtigen und daran die Notwendigkeit eines Europa »von unten« zu diskutieren.

1.

Die Notwendigkeit der Perspektive auf ein Europa »von unten«

Der französische Philosoph und marxistische Demokratietheoretiker Étienne Balibar ist als kritischer Verfechter einer »Idee Europa«, eines demokratischen und post-nationalen Europas »von unten« bekannt. 5 Ende Mai 2010 veröffentlichte Balibar einen Text auf der Internetseite European Alternatives, dem er den Titel »Europe: Final Crisis?« gab. 6 Er formuliert hier die provokante These, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise erst der Anfang einer Krise war, die Europa in seiner Existenz in Frage stellen wird – sofern keine grundlegende Reformulierung europäischer Politik vom Vertikalen zum Horizontalen durchzusetzen sei. Zunächst fasst Balibar die aktuelle europäische Dynamik entlang der Geschehnisse im April/Mai 2010 zusammen, beginnend damit, dass der griechische Premierminister Papandreou die ZahlungsunfäVgl. die auf Deutsch erschienenen Bände Étienne Balibar: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg, 2003, und Étienne Balibar: Die Grenzen der Demokratie. Hamburg, 1993. 6 Siehe http://www.euroalter.com/2010/finalcrisis/ 5

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Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik

higkeit seines Landes ankündigt. Griechenland wird eine europäische Rettungsbürgschaft angeboten zu Bedingungen, die niederschmetternde Budgetkürzungen in den öffentlichen Haushalten beinhalteten. Es folgt das Abwärts-Rating der portugiesischen und spanischen Schulden. Damit ist der Wert des Euros grundsätzlich gefährdet und die Weiterexistenz der europäischen Währung in Frage gestellt. Die europäischen Regierungen richten einen Sicherheitsfonds in der Höhe von 750 Mrd. Euro ein und beschließen, entgegen der bisherigen Regelung, nationale Schulden im Notfall auszugleichen, um die Währung zu retten. In fast allen europäischen Ländern wurden anschließend »Sparhaushalte« verabschiedet. Bei diesen »Sparhaushalten« der europäischen Länder handelt es sich faktisch um eine Re-Organisation und Minimalisierung von Sozialpolitik in ganz Europa. Diese wird jedoch auf europäischer Ebene nicht als Sozialpolitik thematisiert. Balibar befragt, darauf möchte ich später eingehen, diese Dynamik demokratietheoretisch. Ich möchte zunächst einen anderen Pfad einschlagen. Denn am Beispiel dieser Dynamik eines einzigen Monats wird deutlich, dass die Sozialpolitik der europäischen Länder nicht durch sozialpolitische Instrumente gesteuert wird. Im betreffenden Monat und bis heute ist es vor allem die Politik der Währungsstabilisierung, die das Soziale gestaltet bzw. missstaltet. Es gibt weitere politische Felder, die direkte oder indirekte Auswirkungen auf die Sozialpolitik haben und in Kernbereichen von der europäischen Ebene aus gesteuert werden: die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die EU-Grenzpolitik, in Teilen die Wirtschafts- und Finanzpolitik und die Bildungspolitik (mit dem Bologna-Prozess). Dagegen sind bislang alle Versuche, Sozialpolitik auf EU-Ebene zu »harmonisieren« gescheitert. Ein »soziales Europa« existiert nicht. Es existieren zwar Öffentlichkeitsforen, wie der e-Newsletter »Soziales Europa« der Europäischen Kommission. Doch dieser gibt, um ihn exemplarisch herauszugreifen, seine Marschrichtung schon dadurch vor, dass er der Abteilung »Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit« angehört, anstatt (auch) die Marschrichtung zu befragen oder wenigstens befragbar zu machen. Die Koppelung von Sozialpolitik mit Beschäftigungspolitik und Arbeitszwang, die hier nur beispielhaft aufscheint, wie auch die Kommunalisierung der »sozialen Frage« in Europa, ragen wie Robert Castel zeigt 7 , bis ins 14. Jahrhundert hinein. Beide über7

Vgl. Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage: eine Chronik der Lohn-

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dauerten die bürgerlichen Revolutionen wie die Durchsetzung einer kapitalistischen ökonomisch-gesellschaftlichen Formation und die durch die Arbeiterbewegung errungene Politik eines (teilweisen) sozialen Ausgleichs im nationalstaatlichen Rahmen im Fordismus. Eine utopische Fluchtlinie scheint hierin also kaum auf. Dieser europäischen Tradition entsprechend gilt für die Sozialpolitik in Europa, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach wie vor das Subsidiaritätsprinzip und die »soziale Frage« wird nicht auf das Niveau eines ganzen Europas gehoben, während in anderen Feldern, insbesondere in der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik weitgehende Entscheidungskompetenz auf die europäische Ebene verlagert wurde. Diese spezifische Kombination von Zentralität und Dezentralität hat erhebliche Folgen. Für die Sozialpolitik sind nach wie vor die Institutionen »unterhalb« der Europäischen Ebene ausschlaggebend: von der Sozialgesetzgebung der Nationalstaaten bis zu den kommunalen Arrangements. Diese politisch-räumlichen Ebenen müssen zwangsläufig Entscheidungen, die auf anderen Feldern, insbesondere der Wirtschafts- und Finanzpolitik, getroffen werden, in Sozialpolitik »übersetzen«. Dies gilt beispielsweise für das nationale Gesundheitswesen (in Deutschland die aktuelle, sozial ungerechte »Gesundheitsreform«) und um so mehr für die kommunalen Institutionen. In Deutschland sind gegenwärtig jene Kommunen leidtragend, die unter einem massiven Schuldenberg und einer steigenden Prekarisierung der Bewohnerinnen und Bewohner leiden. Manche dieser Kommunen sind durch den massiven Wegzug der Bevölkerung geprägt (»schrumpfende Städte«), andere durch den Wegzug von Unternehmen. Dritte leiden unter schrumpfenden Gewerbesteuereinnahmen, obwohl die ansässigen Unternehmen prosperieren und hohe Profitraten verzeichnen. Für diese Prozesse gibt es analytische Begriffe wie Standortwettbewerb, Regionalisierung, Kommunalisierung, Refeudalisierung etc., die alle auf Effekte einer neoliberal dominierten Politik hinweisen. Den nationalen und kommunalen Institutionen, die konkrete soziale Dienstleistungen bereitstellen, wird in dieser Gemengelage – das kann als Effekt der neoliberalen und auf einem anderen Level zugleich alteuropäisch-feudalen Prozesse konstatiert werden – die »Last des Sozialen« aufgebürdet, ohne dass sie über Einkommenserhalt oder gar -zuwächse verfügen könnten. Dies gilt poarbeit, Konstanz, 2000 (EA Les métamorphoses de la question sociale, une chronique du salariat, 1995).

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Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik

tenziert für jene »räumliche Reichweite« unterhalb des Kommunalen: das alltägliche Leben und die privaten Haushalte, die natürlich direkt und indirekt von den Entscheidungen in der Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik tangiert sind. Sie sind bereits seit der Durchsetzung von Lohnarbeit als zentralem Modus der Reproduktion, also seit der Industrialisierung, primär auf ein Einkommen durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen. Sekundär sind auch die sozialstaatlichen Instrumente der sozialen Sicherung eng an den Modus der Lohnarbeit geknüpft. Durch den massiven Ausbau des Niedriglohnsektors in den letzten zwanzig Jahren, der aus sozialpolitischer Perspektive als Bewältigungsstrategie der strukturellen Arbeitslosigkeit zu verstehen ist, aus ökonomischer Perspektive einen deregulierten und damit kostengünstigeren Zugriff auf die Ware Arbeitskraft ermöglicht, sank für einen Großteil der Bevölkerung der Wert ihrer Arbeitskraft massiv. Auch diesen Wertverlust müssen die Einzelnen und Haushalte, zum Teil vermittelt über Entscheidungen auf EU-Ebene, in ihre Lebensführung »übersetzen«. Zugleich erreichte die Gesellschaft, zumindest in den kapitalistisch entwickelteren Teilen der Welt, eine Produktivität, die sehr viel weniger lebendige Arbeit benötigt, um die notwendigen Güter und Dienstleistungen zu erzeugen als vor 30 Jahren oder vor 100 oder gar vor 800 Jahren. Nicht nur Europa, sondern der ganze Globus könnte sich in einer solchen Situation neu erfinden. Eine Entwicklung, die eigentlich entlastend für alle sein könnte (auch hier wieder der doppelte Konjuktiv), übersetzten Politik und Soziologie in eine »Krise der Arbeitsgesellschaft«. Diese Entwicklung wäre keine Krise, schlüge sie nicht in eine neue soziale Ungleichheit um. Denn der Effekt dieser Produktionssteigerung schlägt sich aktuell in einer enormen Ungleichverteilung von Arbeit und ihrer Entlohnung nieder, statt Spielräume zu öffnen. An dieser Stelle öffnet sich der Raum für konkrete Utopien im Blochschen Sinn. Dieser Raum ignoriert nicht die bestehenden Hegemonien, bietet aber Gelegenheit zur Reflexion und erweitert so den Horizont des Denkens über die schlichte Gegebenheit hinaus. Das kann alltäglich durch das Nachdenken über ein konkretes Feld gesellschaftlicher Arbeit und die inhärenten Widersprüche geschehen: familiäre, unbezahlte Arbeiten in der persönlichen Pflege, informelle aber bezahlte Arbeit in der persönlichen Pflege, bezahlte über Zeitarbeitsfirmen organisierte Arbeit in der persönlichen Pflege etc. Das kann abs137 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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trakte Formen annehmen, wie das Nachdenken über Alternativen zum lohnarbeitsbezogenen Sozialstaat. Eine solche alternative Sozialpolitik muss und soll nicht erneut paternalistisch als eine »für unten« gedacht werden, also als Versorgungsstruktur für die »Notleidenden« und zugleich funktional zur Prävention von Unruhen oder Aufständen. Der Gedanke des »von unten« bedeutet vielmehr, dass sich die Entscheidungen über die Ausgestaltung einer sozialpolitischen Infrastruktur aus dem Gesellschaftlichen selbst heraus, oder, wie die feministische Sozialphilosophin Nancy Fraser sagt, durch dialogische und partizipatorische Prozesse der Bedürfnisinterpretation artikulieren. 8 Mit der neoliberalen Restrukturierungspolitik der letzten Jahrzehnte sind (nicht nur) in Europa immer deutlichere gesellschaftliche und ökonomische Krisen verbunden. In diesen Krisen steht auch die Form des Sozialstaats, die sich in der fordistischen Phase herausgebildet hat, zur Disposition. Häufig artikuliert sich die Kritik an dieser Entwicklung als Kritik des »Sozialstaatsabbaus«. Doch insbesondere in den sozialen Bewegungen wird diese Position als verkürzt zurückgewiesen. Denn sie blendet aus, dass die bisherigen sozialstaatlichen Instrumente bereits als kontrollierend, disziplinierend, ausschließend und paternalistisch kritisiert worden waren. Ein »Zurück zum Alten« würde zudem auf Europäischer Ebene auf eine Forderung nach mehr Zentralismus und noch mehr Bürokratieförmigkeit bedeuten. Dies ist sicherlich keine Fluchtlinie für eine alternative Sozialpolitik. Stattdessen haben unterschiedliche Zusammenschlüsse im Kontext der sozialen Bewegungen Europas spätestens mit der Einrichtung des Europäischen Sozialforums darauf hingearbeitet, gemeinsame »soziale Rechte« für alle Einwohner in Europa – unabhängig von ihrem staatsbürgerlichen Status – durchzusetzen. Auch Sozialwissenschaftler/innen weisen immer wieder darauf hin, dass der europäische Integrationsprozess nicht ohne die Formulierung gemeinsamer sozialpolitischer Ziele auskommt. Doch diese Diskussion ist in der aktuellen Konjunktur, die sich als Krisenbewältigungskonjunktur darstellt, weitgehend stillgestellt. Wäre das eine grundlegende Reformulierung europäischer Politik vom Vertikalen zum Horizontalen, ein »Europa von unten«? Étienne Balibar setzt in der Fortführung seines Szenarios an diesem Punkt an. Nancy Fraser: Die Frauen, die Wohlfahrt und die Politik der Bedürfnisinterpretation. In: Dies.: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, 222–248.

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Denn es sei nicht einfach die Sozialpolitik, die en passant anderen Politikfeldern untergeordnet und zunehmend geopfert wird, um sich auf dem Weltmarkt zu bewähren und die »Währung zu retten«. Im europäischen Integrationsprozess falle insbesondere die Frage der politischen, demokratischen Partizipation unter den Tisch. Europa legte Griechenland mit dem »Rettungspaket« die Zwangsregeln des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf. Der IWF wurde vielfach kritisiert, da seine Regularien in den vergangenen zwanzig Jahren insbesondere über die Strukturanpassungsprogramme in den Ländern des Südens großen gesellschaftlichen Schaden angerichtet haben. Die IWF-Regeln schränken nicht nur die Möglichkeit der öffentlichen Haushalte ein, überhaupt in eine soziale Infrastruktur zu investieren. Sie verhindern darüber hinaus, und viel genereller, eine demokratische Debatte darüber, für was staatliche Gelder ausgegeben werden sollen. Erscheinen die Regeln des IWF zunächst also nur als haushaltsrestriktiv, haben sie darüber hinaus bedeutsame antidemokratische Auswirkungen. Aus dieser demokratietheoretischen Perspektive sind die Menschen, die in Griechenland leben, so Balibar, in Europa nur das erste Opfer einer Politik der »Rettung der europäischen Währung«. Währungsrettungspolitik und innereuropäische Konkurrenz um die Stellung auf dem Weltmarkt führen zu einer weiteren Aushöhlung des Kerngedankens der Solidarität, den die EU-Kommission in der Begründung ihrer Öffentlichkeitskampagne »zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung« aufruft. Die Folge sei ein erneutes Erstarken von Nationalismus in Europa, die Notwendigkeit bestehe in breiten Protesten und Mobilisierungen gegen die Engführung der europäischen Entwicklung auf ökonomische Prozesse. Die Aufgabe einer solchen Bewegung »von unten« sei nicht klein: es müsse eine gemeinsame öffentliche Autorität entwickelt werden, die weder ein Staat sei noch einfach »Governance« durch Politiker und Experten; es müsse eine grundlegende Gleichheit zwischen den Nationen gesichert und Nationalismus bekämpft werden; es brauche eine Wiederbelebung von Demokratie im europäischen Raum, einen Widerstand gegen die derzeitigen Prozesse der Ent-Demokratisierung und des »Dirigismus ohne Staat«, der durch Neoliberalismus, Bürokratismus und Expertokratismus hervorgebracht werde. Die Europäische Union wäre also, Balibar folgend, durchaus in der Lage, andere Wege zu gehen, als dem Diktum neoliberaler Ideologien streng zu folgen. Dies hätte auch Auswirkungen auf die globale Konstellation und die Weltwirtschaft. 139 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Ein »Europa von unten« ist daher nicht als ausschließendes Projekt gegenüber dem »Rest der Welt« zu verstehen, sondern als Einsatz im Feld der sozialen Kräfteverhältnissen, die ausschlaggebend dafür sind, in welchem Interesse und mit welcher Zielrichtung nicht nur die Geschichte Europas weitergeschrieben wird.

2.

Fluchtlinien einer Sozialpolitik »von unten« »Die Sozialutopie ging auf menschliches Glück, das Naturrecht auf menschliche Würde.« Ernst Bloch

Die drei utopischen Fluchtlinien Kostenlosigkeit der Existenz, Sozialpolitik als soziale Infrastruktur und globale soziale Rechte knüpfen an diese Überlegungen an. Mit dem Begriff Kostenlosigkeit der Existenz, den ich von Thomas Seibert entlehnt habe 9, lassen sich zwei Anliegen artikulieren, die Ernst Bloch wohl als »Glück« formuliert hätte: Die Freiheit vom Zwang zur entfremdeten Erwerbsarbeit und die Anerkennung von Arbeit in allen ihren Formen, also nicht nur in der durch den Kapitalismus in Wert gesetzten Form. Die Konkretisierung dieser Anliegen findet sich derzeit in der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen auf (mindestens) europäischer Ebene, die vor 25 Jahren in der Arbeitslosenbewegung entstand und derzeit eine Renaissance erlebt. Diese Wiederbelebung findet in einem widersprüchlichen diskursiven Feld statt, denn es existieren mittlerweile marktradikale wie libertäre, pragmatische wie radikale, kapitalistische wie kapitalismuskritische Entwürfe für eine Grundsicherung. Die Vervielfältigung der Konzepte von unterschiedlicher politischer Seite macht deutlich, dass die bisherigen, am Lohnarbeitsbezug orientierten Transferleistungen bei steigender gesellschaftlicher Produktivität und sinkender Aussicht auf »Vollbeschäftigung« durch ein anderes Modell der sozialen Sicherung ersetzt werden müssen. Eine grobe Unterscheidung der Konzepte ist entlang der angedachten Höhe des Existenzgelds oder Bürgergelds zu Vgl. den Vortrag von Thomas Seibert zur »Kostenlosigkeit der Existenz« am 30. Oktober 2009 im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen, zusammen mit der Fachhochschule Ludwigshafen.

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machen. Ist diese so angelegt, dass ohne zusätzlich bezahlte Arbeit eine grundlegende gesellschaftliche Partizipation und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben nicht möglich ist, wird der Zwang zur Arbeit sogar noch erhöht (entsprechend etwa der Gesetzgebung der »Grundsicherung für Arbeitsuchende«) und Arbeit zu Dumping-Preisen erzwungen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen BAG-SHI formuliert dagegen andere Standards, nämlich ein existenzsicherndes, gesellschaftliche Teilhabe ermöglichendes, mit einem individuellen Rechtsanspruch verbundenes und ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahltes Grundeinkommen. 10 Im hegemonialen Diskurs der Lohnarbeitsgesellschaft schließen sich Glück und Arbeitslosigkeit aus, schreibt Harald Rein vom Initiativkreis. Doch sei »gerade die Möglichkeit, ohne materiellen Druck und ohne Zwang zur Lohnarbeit zu existieren, (…) unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung von sozialer Phantasie und wirklicher Innovation zur Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse«. 11 Es handelt sich hier also nicht um einen moralischen Appell nach Versorgung, sondern um einen emanzipatorischen nach Teilnahme. Damit wird deutlich, dass sich die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht an »den Staat« richtet. Es ist eine Forderung, die einen gemeinsamen Prozess der Repolitisierung des Sozialen »von unten« befördert und zudem eine Fluchtlinie aufmacht, »Arbeit« anders zu denken. Die Erwerbsloseninitiativen wie auch ATTAC Deutschland und linke Gewerkschaftsgruppen vertreten mittlerweile bündnispolitisch eine »Triadenforderung«, die auch eine gerechte Verteilung der Arbeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung und eine gerechte Entlohnung durch ausreichende Mindestlöhne enthält. Das sozialpolitische Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens steht nicht konträr zu den letztgenannten Forderungen, weist aber bezogen auf das gesellschaftlich Denkbare und Machbare und eine mögliche Neukonzeption des Arbeitsbegriffs über diese hinaus. Denn die Forderungen nach Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung bewegen sich im Bereich der Verteilungsgerechtigkeit, sozialphilosophisch also der Gerechtigkeitstheorie. Das Existenzgeld formuliert 10 Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI) 2008: Existenzgeld Reloaded. Neu-Ulm: AG SPAK. 11 Harald Rein: Existenzgeld für alle! Warum wird das Konzept Existenzgeld überarbeitet. In: BAG SHI (A. s. Fn. 10) 2008, 11.

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die Befreiung vom Zwang und eröffnet die Möglichkeit des Glücks. Mit dem Lessing-Zitat »Kein Mensch muss müssen« eröffnet Bloch Naturrecht und menschliche Würde und fährt fort: »dieser naturrechthafte Satz, im Gewohnten so falsch, wirkte als ungewohnter, als Anlage und Anmeldung, desto richtiger.« Auch das Konzept einer Sozialpolitik als Infrastruktur der AG links-netz 12 denkt die utopische Fluchtlinie Kostenlosigkeit der Existenz aus einer anderen Perspektive, nämlich jener der Form, die eine alternative Sozialpolitik annehmen könnte. Nach wie vor verorten sich die Mitgliedsstaaten Europas äußerst unterschiedlich im Verhältnis von politischen und sozialen Rechten. So dürfen in Deutschland Menschen, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, formell weder auf die Schule gehen noch einen Arzt aufsuchen. Menschen, die mit dem Status der Duldung oder als Asylsuchende in Deutschland leben, dürfen nicht arbeiten. Die sozialen Rechte sind in Deutschland nahezu vollständig an den staatsbürgerlichen Status gebunden. Diese Verkoppelung ist nicht zwangsläufig: in anderen europäischen Ländern sind soziale Rechte und politische Rechte viel stärker entkoppelt. Die Fluchtlinie Sozialpolitik als soziale Infrastruktur fragt nicht nach dem staatsbürgerlichen Status des Einzelnen. Die soziale Infrastruktur wird in diesem Modell steuerfinanziert allen Bewohnern und Bewohnerinnen zur Verfügung gestellt und institutionalisiert auf diese Weise gesellschaftlich ein Recht auf angemessene Unterkunft, auf Bildung, auf Gesundheit, auf Beratung und Reflexion und, als Existenzgeld, ein Recht auf Einkommen. Eine solche alternative Sozialpolitik knüpft nicht an administrative Bedürftigkeitsprüfungen und lohnarbeitsbezogene Anspruchsprüfung sondern an die alltäglichen Handlungsweisen der Einzelnen und ihre Organisierung der Haushalte an. Tatsächlich organisieren sich die Menschen in ihrem Alltag auch unter den gegebenen schwierigen und restriktiven Verhältnissen häufig Zugänge zu Schule, Gesundheit und Erwerbsarbeit, wenn auch auf illegalisierte Weise. Diese Praxis fassen soziale Bewegungen nicht nur in Europa als eine Aneignung von Rechten, als »soziale Rechte von unten«. Derzeit finden sich außerdem in vielen Metropolen weltweit Bündnisse sozialer Bewegungen unter dem von Henri Lefèbvre geprägten Slogan »Recht auf Stadt« zusammen 13 . Zugrunde liegt ein Verständnis dessen, 12 13

http://www.links-netz.de/rubriken/R_infrastruktur.html Vgl. David Harvey: The Right to the City. In: New Left Review 53/2008, 23–40. Peter

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Das Utopische als Fluchtlinie von Sozialpolitik

was jedem Mensch als Teil der Gesellschaft zusteht: ein Recht auf Existenzsicherung, auf Bildung, auf Gesundheit. Edward P. Thompson hat die Haltung, »was einem zusteht« in Bezug auf das 18. und 19. Jahrhundert als »moralische Ökonomie« herausgearbeitet. 14 Es handele sich dabei um ein Ensemble »fest umrissener und leidenschaftlich vertretener Vorstellungen vom Gemeinwohl« 15 . Diese Gemeinwohlvorstellungen schlügen sich nieder in den Alltagspraxen und begründeten unter Umständen Rebellionen und Aufstände, wenn herrschende Praxen ihnen zu stark zuwiderliefen. Die »moralische Ökonomie« ist also keine Politik, aber auch nicht unpolitisch. Das Recht auf Bildung, auf Gesundheit, auf Existenzsicherung, auf Teilhabe am Konsum und seiner Zeichenhaftigkeit und das Recht auf eine nachhaltige Lebensweise könnten als »moralische Ökonomie« im globalen 21. Jahrhundert benannt werden. Der breit diskutierte Vorschlag von links-netz geht aber ins Konkrete: »Es gibt mehrere Ebenen, auf denen Infrastruktur hergestellt und garantiert wird: 1. Gesamtgesellschaftliche Wirtschaftspolitik auf einem Sachgebiet (Wohnung, Ernährung, Medikamente, Pflege usw.); 2. lokale oder kommunale Wirtschaftspolitik und Ressourcen der Selbstorganisation (…); 3. der Betrieb als Einheit von Solidarität; 4. der Haushalt bzw. die Familie als selbstorganisierte / vorgefundene Einheit von Solidarität; 5. das Individuum, wenn es mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet wird.« 16 Mit diesem Vorschlag beginnt gesellschaftliche Teilhabe nicht beim Individuum und seiner existenzsichernden monetären Ausstattung (Wohngeld, Transferleistungen, Erstattung von Rezeptgebühren etc.). Denn sie sind einerseits wichtig, um individuelle Freiräume

Marcuse: From critical urban theory to the right to the city. In: CITY. Special Issue. »Cities for people, not for profit« 13/2–3, July–September 2009, 185–197. Margit Mayer: Das ›Recht auf die Stadt‹ – Slogans und Bewegungen. In: Forum Wissenschaft 26/1, März 2009, 14–18. 14 Siehe Edward P. Thompson, Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Berlin/Wien,1980. 15 ebd. 70. 16 AG links-netz: Gibt es Alternativen zum neoliberalen Staatsabbau? Umrisse eines Konzepts von Sozialpolitik als Infrastruktur. In: Widersprüche. Heft 97, September 2005, 37 und 39.

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schaffen zu können und konkrete schwierige Situationen schnell bearbeiten zu können. Doch sie stabilisieren auch überhöhte Mieten und Gesundheitsprodukte und verstärken politische Fehlentscheidungen. Teilhabe wird vielmehr genossenschaftlich und solidarisch verstanden und auf die Gesamtgesellschaft bezogen. Mit den Überlegungen zum Ausbau der sozialen Infrastruktur werde, so Joachim Hirsch, ein »radikaler Reformismus« anvisiert, der sich durch eine grundsätzliche Veränderung der Vergesellschaftungsverhältnisse auszeichne: der Form der Arbeit und der Arbeitsteilung, der Geschlechterverhältnisse, der Konsumweisen etc. 17 Auch diese utopische Fluchlinie des Sozialen ist nicht als ein staatlich koordinierter oder gar verordneter Prozess vorstellbar, sondern setzt notwendig an der alltäglichen Kooperation und am Recht auf Selbstbestimmung auf den Ebenen des Gesamtgesellschaftlichen, Kommunalen und Individuellen an. Die dritte utopische Fluchtlinie einer alternativen Sozialpolitik, die Globalen Sozialen Rechte, stellt jene schon erwähnten Aneignungspraktiken ins Zentrum, die soziale Rechte »von unten« generieren. Dazu gehören legale wie illegale Praktiken also auch unerlaubte Grenzübertritte (Recht auf Mobilität und Niederlassungsfreiheit), Schwarzarbeit (Recht auf Arbeit), Landbesetzungen (Recht auf Wohnen und Subsistenz) oder ziviler Ungehorsam von Lehrer/innen, die Kinder ohne Papiere nicht der Ausländerbehörde melden (Recht auf Bildung) Es handelt sich hier also nicht um »Rechte«, die ein Staat seinen Staatsbürgern zusichert, sondern eher um Praktiken, die die Verweigerung dieser Rechte unterläuft. Was ist das für ein seltsamer Rechtsbegriff, »soziale Rechte von unten«? Auch Bloch unterschied in seinen rechtsphilosophischen Überlegungen ein subjektives Recht des Wollenkönnens und ein objektives Recht des Könnendürfens. Diese stünden sich im bürgerlichen Staat, insbesondere durch die Form des Privateigentums, gegenüber und seien zugleich ineinander verhakt. Bloch denkt diesen Widerspruch in Begriffen der »Aufhebung« und schreibt: »Das letzte subjektive Recht wäre so die Befugnis, nach seinen Fähigkeiten zu produzieren, nach seinen Bedürfnissen zu konsumie-

Joachim Hirsch: Ein Alternative zum lohnarbeitsbezogenen Sozialstaat: Das Konzept »Soziale Infrastruktur«. 32–48, in: Widersprüche. Heft 97, September 2005.

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ren; garantiert wird diese Befugnis durch die letzte Norm des objektiven Rechts: Solidarität.« 18 Aus heutiger Perspektive kann es eine etatistische Lösung dieses Widerspruchs nicht geben. Nicht nur die sozialtechnokratische Sozialpolitik im Westen führte hier den Nachweis. Sondern auch die sozialistischen Staaten des Ostblocks selektierten stark, wem die Solidarität gilt, brachten Ausschließungsprozesse und punitive Bürokratien hervor. Die aktuellen Ansätze zu »Globalen Sozialen Rechten« stellen sich daher in einen anderen insbesondere post-nationalen Kontext von Sozialutopie, der sich theoretisch im »westlichen Marxismus«, der kein orthodoxes Theoriegebäude erstellt, fundiert. Globale Soziale Rechte meinten, so etwa Werner Rätz, die »Menschenrechte in ihrem utopischen Gehalt als ›Enfaltungsrechte‹ und die Verbindung der Forderung nach Kodifizierung von Rechten mit den Praktiken ihrer direkten praktischen Aneignung«.19 Die Diskussion um einen neuen Begriff von Menschenrechten ist in der Auseinandersetzung um Globale Soziale Rechte zentral. Denn der Menschenrechtsbegriff wurde historisch, wie auch Bloch schon herausgearbeitet hatte, durch das Recht auf Eigentum überformt, das mit der kapitalistischen Gesellschaftsform zum dominanten Recht wurde. Daher fokussiert der Ansatz von Globalen Sozialen Rechten mit der Formulierung der »emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte« vor allem die Praktiken und sozialen Kämpfe und nicht die Frage der Kodifizierung oder staatlichen Umsetzung der Rechte auf Eigentum. Es sei nicht haltbar, so Bloch, »daß der Mensch von Geburt an frei und gleich sei. Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden.« 20 Diese Feststellung betont, dass Rechte auf gesellschaftlicher Übereinkunft beruhen, insofern immer erkämpftes Terrain sind und nie als vorausgesetzt oder als fix angesehen werden können.

18 Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Würde. Frankfurt am Main, 1977/1961, 252. Hervh. i. Org. 19 Werner Rätz: Globale soziale Rechte und Aneignungspraxen. In: Klautke, Roland/ Oehrlein, Brigitte: Globale Soziale Rechte. Zur emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte. Hamburg: VSA-Verlag, 2008, 122–141. 20 Ernst Bloch 1977/1961, 215. Hervh. i. Org.

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3.

Utopischer Überschuss im Alltagshandeln

Insofern scheint auch beim großen Thema Menschenrechte die konkrete Utopie nicht nur aus den globalen sozialen Bewegungen auf, sondern auch als utopischer Überschuss im Alltagshandeln der »Leute« in einer globalisierten Gesellschaft. Das bedeutet nicht, dass Rassismus, nationale Überheblichkeit, persönliche und strukturelle Ausbeutungsund Abhängigkeitsverhältnisse und maskuline Herrschaftsansprüche weniger wiegen als jener utopische Überschuss. Doch wir werden jenen nicht in der Konstruktion von Staatsformen finden können, diese aber schon. Die zugespitzte These Balibars, Europa könnte als politisches Projekt scheitern, da es sich in der Wettbewerbslogik des neoliberalen Kapitalismus verfängt, öffnet also zugleich Denk- und Handlungslinien eines post-nationalen Europas »von unten«, das durch die sozialen Auseinandersetzungen hindurch, also durch die Widersprüche hindurch entsteht. Inwiefern sich ein solches Europa durchsetzt und welche konkrete Form es annimmt, hängt nicht zuletzt daran, wie die sozialen Konflikte weiter geführt werden und ob sich in ihnen – und durch sie hindurch – neue Formen des Sozialen formulieren können. Dies ist ganz im Sinne des »weiten« Utopiebegriffs von Bloch als »in der Welt Noch-Nicht-Gewordenes« interpretiert, doch scheint auch das auf, was Michel Foucault »Heterotopie« nannte, das, was schon da ist, ohne im Diskurs präsent zu sein.

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Tötet TINA! Utopien als Impulse für zukunftsfähiges Handeln? Annäherungen aus der Zukunftsforschung Edgar Göll

Begrenzte Horizonte Im Umgang mit Zukunft fällt immer wieder das recht beschränkte, ja unterentwickelte Vorstellungsvermögen von uns Menschen auf, diese »auszumalen«. Wir scheinen befangen im Alltag und dem damit verbundenen Strudel an unabdingbaren Verrichtungen, Gewohnheiten, Ritualen und Bemühungen – und dabei umstellt, um nicht zu sagen infiltriert oder gar infiziert durch allgegenwärtige Werbung, Hyperkonsum»kultur« und Medienbilder mit deren mehr oder weniger subkutanen Forderungen nach »immer mehr« und »immer neu«: kaufen und verbrauchen. Kein Geringerer als Albert Einstein sagte einmal: »Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen.« Nach 15 Jahren Tätigkeit als Zukunftsforscher leuchtet mir inzwischen ein, dass dies zutrifft, während ich anfangs und zumal als Wissenschaftler meinte, damit habe sich Einstein geirrt. Doch er hat Recht, und zwar mehr, als uns lieb sein kann. Meines Erachtens bezieht sich die Wichtigkeit von Vorstellungskraft auf alle drei Zeiträume: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In Bezug auf Vergangenheit sind wir Menschen für den allergrößten Teil auf Geschichten und Geschichte angewiesen, auf übermittelte und also indirekte Daten, Fakten, Schilderungen, Bilder. Diese wiederum werden je nach Bedarf und vor allem je nach dominanter Kultur und Ideologie »nachgezeichnet« und reproduziert. Die Vorstellungen über geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen sind selektive Produktionen, sie lassen Aspekte aus und betonen andere. Und selbst hinsichtlich der Gegenwart sind wir großteils auf Übermitteltes angewiesen, auf Massenmedien, Erzählungen und Bilder von anderen Menschen und Institutionen. Es gibt also herrschende Vorstellungen und marginalisierte, ignorierte, unterdrückte Vorstellungen über unse-

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re heutige »Wirklichkeit«, die Vorstellungen sind mehr oder weniger umstritten und umkämpft. Um wie viel schwieriger, wenngleich offen als Problem »bekannt«, sind Vorstellungen über künftige Entwicklungen und Wahrscheinlichkeiten. Das beschränkte Vorstellungsvermögen über Zukunft tritt uns in dieser Hinsicht in Medien und Kulturerzeugnissen gegenüber: da werden banale Kostüme ausgetauscht und suggerieren Zukunft, während alles andere beim Alten bleibt und Plots wie die in Western abgerollt werden. Und selbst in Science Fiction werden fast ausschließlich technologische Spielereien und Visionen, aber keine gesellschaftlichen-politischen Alternativen dargestellt und »ausgemalt«, die strukturellen Kontexte sind kaum sichtbar und nachvollziehbar. Häufig werden uns alte Geschichtchen in neumodischem Bühnenbild vorgesetzt, mit phantasievoller Kleidung – das Soziale ist hingegen keineswegs phantasievoll. Das deutet darauf hin, dass die Schwerkraft des Hier und Jetzt allem Anschein nach nur mit Mühe zu überwinden ist. Und dies wiederum stellt für eine zukunftsfähige Umgestaltung unserer Gesellschaft eine immense Herausforderung dar – und für Zukunftsforscher im Besonderen.

Komplexität Die Unübersichtlichkeit derzeitiger Gesellschaften und damit die Komplexität der relevanten sozialen Umfelder für die Individuen nimmt zu und führt tendenziell und immer häufiger zu kognitiver Überlastung. Denn zugleich sind die menschlichen Informationsverarbeitungs- und Bearbeitungskapazitäten begrenzt. Dadurch ergibt sich nach Auffassung des US-Sozialpsychologen Robert Cialdini eine steigende Überforderung unserer Fähigkeit, im Alltag mit Informationen und unserem sozialen Umfeld umzugehen – es entsteht eine Art »Lücke«. 1 So verfügen Menschen in den modernen, hoch industrialisierten Gesellschaften aufgrund der dynamisch expandierenden Eindrücke und Veränderungen kaum noch über angemessene Zeit und Kapazität, um alltägliche Entscheidungssituationen fundiert und wohlüberlegt zu meistern. Cialdini spricht daher von einer »Paralysis of Analysis«, Cialdini, Robert B. (2001): Influence. Science and Practice. Boston et al.: Allyn and Bacon.

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einer Lahmlegung der Analysefähigkeit. Weil aber Tag für Tag zahlreiche (meist kleinere, unscheinbare) Entscheidungen zu treffen sind, fokussieren Menschen immer mehr auf singuläre, im Normalfall meist recht zuverlässige Parameter und Muster zur Entscheidungsfindung. Diese stellen ein »System von Abkürzungen« dar (»system of shortcuts«), im systemtheoretischen Jargon sind dies unterschiedliche Arten und Möglichkeiten der »Reduktion von Komplexität« (Niklas Luhmann). Die Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Menschen und Institutionen sind demnach für das Leben und Überleben von existentieller Bedeutung. Die eben thematisierte Schwerkraft des Gewohnten hat sicherlich mit Bequemlichkeit zu tun, und mit dem Umstand, dass Menschen Triebe, Bedürfnisse, Wünsche, Emotionen und Vorlieben aufweisen, dass sie darauf bezogene Anreize oder Zwänge benötigen, um »sich zu bewegen« – und das ist mit Mühe, Aufwand und Arbeit verbunden. Und so meinte Lenin, der dies unter dem russischen Zarismus und dann im Zuge der beiden russischen Revolutionen unmittelbar erfahren musste: »Die Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen ist die fürchterlichste Macht.« Weitere Ursachen für das geringe bzw. träge Vorstellungsvermögen sind beschränkende Machtstrukturen und hegemoniale Ideologien und ihre spezifischen Tabus. Damit verknüpft existiert und herrscht in jeder Gesellschaft gewissermaßen eine Anreizlandschaft: Menschen sind von Anreizen umgeben, in welchen bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher auftreten und praktiziert werden als andere – u. a. abhängig je nach Aufwand und Fähigkeiten und notwendigen Ressourcen, um den Anreizen zu begegnen (auch: »Opportunitätsstruktur«). Hinzu kommt, dass Menschen erfahrungsbezogen handeln, sie blicken zurück bzw. handeln gewohnheitsmäßig. Neue Phänomene können sie nur schwer in ihr Weltbild einbauen, bzw. dauert dies einige Zeit und bedarf diverser Impulse und Bestätigungen. Während große Ereignisse deutlich wahrgenommen werden können, sind komplexe Trends nur schwer zu entdecken und zu entziffern. Die »schleichenden Katastrophen« (Charles Perrow) entziehen sich ihrer Wahrnehmung bzw. erfordern komplizierte Apparaturen etc.

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Vorstellungen In entsprechend pessimistischem Duktus warnte Walter Benjamin in besonders »dunkel-destruktiver Zeit« vor dem »Business as usual«: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.« 2 Und während Benjamin aus linker marxistischer Position, also einer Position der Ungeduld heraus sich an seinem schrecklichen Heute rieb, bezeichnete noch früher sogar der bürgerliche Soziologe Max Weber die zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse als »Gehäuse der Hörigkeit«. 3 Ein Ausbrechen aus solcher Art von Hörigkeit ist nicht nur real schwer, sondern bereits in Bezug auf die Vorstellbarkeit, auf die Imagination eines Zukünftigen aber heute schon Möglichen schwierig. Dies musste wohl auch Kassandra erleiden, als sie vor der aufkommenden Katastrophe warnte. Und noch stärker bezogen auf unsere heutigen Verhältnisse hat dies Ernst Bloch zum Ausdruck gebracht, und Verantwortung denkbar gemacht und eingefordert, wenn er sich für die Aufklärer und Humanisten stärkere Bilder wünschte, die der Macht der Nazis hätten widerstehen können. Die Frage der Vermittlung und Kommunikation ist also keineswegs trivial, sondern die Antwort entscheidet oft über Tod und Leben. Das rechtzeitige Wahrnehmen von Krisen und das Vorstellen von Katastrophen sind demnach also voraussetzungsvolle Tätigkeiten. Wir haben es heute mit einer Gemengelage zu tun, die Elmar Altvater kürzlich als »Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur« bezeichnet hat. 4 Um diese Herausforderung zu meistern, wurden gerade in den letzten Jahren diverse Konzepte und Instrumente geschaffen, die auf eine bessere, angemessene Visualisierung hinauslaufen. Hierzu gehören Konzepte und Bilder wie die vom Ökologischen Fußabdruck (»Ecological Footprint«) oder auch Ökologischen Rucksack: hiermit wird der gesamte Umwelt- und Naturverbrauch von Menschen oder Institutionen oder Staaten auf Bodenfläche umgerechnet und damit Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I, 2, 683 (Passagen-Werk N 9 a, 1). Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, 835. 4 Elmar Altvater: Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010. 2 3

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anschaulich und vergleichbar gemacht. Es stellt sich mit diesem Konzept heraus, dass sich der Naturverbrauch im Zuge der kapitalistischen Industrialisierung und seiner weltweiten Ausbreitung nun exorbitant gesteigert hat, dass aber auch zugleich zwischen den Menschen, Unternehmen und Staaten teilweise immense Unterschiede im Verbrauch bestehen. Ein zweites Beispiel einer sinnvollen Visualisierung problematischer, ja Existenz bedrohender Tendenzen ist der so genannte »Overshoot Day«: mit ihm definiert ein weltweit agierendes Expertennetzwerk jenen Tag im Laufe eines Jahres, in welchem die Erdbevölkerung sämtliche Ressourcen konsumiert hat, die ihnen anteilsmäßig jährlich zustünden, ohne dass die Tragfähigkeit unseres Planeten und die Reproduktionsfähigkeit der Natursysteme überfordert werden. Optimal wäre, wenn dieser Tag des Überschreitens der Tragfähigkeit des Planeten Erde am Neujahrstag des folgenden Jahres wäre, wenn also Ressourcen und Verbrauch sich in der Balance befinden würden – dies war 1976 letztmalig der Fall. Seither ist die Balance nicht mehr gegeben: mit jedem Jahr verschiebt sich dieser Tag rückwärts, der Verbrauch der zulässigen Portion Erde tritt immer früher ein. In diesem Jahr war dies bereits am 21. August 2010 der Fall! Alles, was die Menschheit danach in diesem Jahr verbraucht, stellt »Übernutzung« dar: wir leben von der Substanz und nicht mehr von den Früchten der Erde, wir verbrauchen das Kapital und nicht nur den Überschuss.

Nachhaltige Entwicklung Angesichts der unterschiedlichen katastrophischen Trends wurde von Seiten der UN im Jahre 1992 die Konferenz für Umwelt und Entwicklung (»Erdgipfel«) in Rio de Janeiro durchgeführt und dort das u. a. von der Brundtland-Kommission formulierte Konzept »Nachhaltige Entwicklung« als zentrales künftiges Leitbild propagiert und von den anwesenden Vertretern aus 174 Staaten unterzeichnet. Inzwischen finden die Prinzipien Nachhaltiger Entwicklung – darunter Balance zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen, Langfristigkeit und Generationengerechtigkeit, globale Gerechtigkeit, Partizipation – immer mehr Anerkennung. Kurz gefasst lautet die Kernaussage: »Die Menschen sollen ihr Handeln so organisieren, dass sie nicht auf Kosten der Natur, nicht auf Kosten anderer Menschen, nicht auf 151 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Kosten anderer Regionen und nicht auf Kosten anderer Generationen leben.« Die Abkehr von bisherigen Denk- und Handlungsweisen ist ein relativ unumstrittenes Postulat, doch steckt schon hier politischer »Sprengstoff«, denn viele lieb gewonnene Gewohnheiten dürften in Zukunft nicht mehr gültig sein, es muss umgedacht werden. Dass dies schon vor etlichen Jahren bei einigen hoch angesiedelten Entscheidungsträgern erkannt worden ist, soll das folgende höchst erstaunliche Zitat des U.S. Senators Robert F. Kennedy aus dem Jahre 1968 zeigen: »Too much and too long, we seem to have surrendered community excellence and community values in the mere accumulation of material things. Our gross national product … if we should judge America by that – counts air pollution and cigarette advertising, and ambulances to clear our highways of carnage. It counts special locks for our doors and the jails for those who break them. It counts the destruction of our redwoods and the loss of our natural wonder in chaotic sprawl. It counts napalm and the cost of a nuclear warhead, and armored cars for police who fight riots in our streets. It counts Whitman’s rifle and Speck’s knife, and the television programs which glorify violence in order to sell toys to our children. Yet the gross national product does not allow for the health of our children, the quality of their education, or the joy of their play. It does not include the beauty of our poetry or the strength of our marriages; the intelligence of our public debate or the integrity of our public officials. It measures neither our wit nor our courage; neither our wisdom nor our learning; neither our compassion nor our devotion to our country; it measures everything, in short, except that which makes life worthwhile. And it tells us everything about America except why we are proud that we are Americans.« 5 Im Mai 2012 wird auf Einladung der UN zwanzig Jahre nach dem Erdgipfel Bilanz gezogen und über Perspektiven diskutiert werden (»Rio plus 20«). In zahlreichen Ländern und von zahlreichen Institutionen wurden entsprechende Aktivitäten auf den Weg gebracht und durchgeführt, es gibt durchaus vereinzelte »Erfolgsbeispiele«, doch nicht zuletzt aufgrund der Größe des Unterfangens, einen »nachhaltigen«, also rücksichtsvollen, ausbalancierten zukunftsfähigen EntwickRobert F. Kennedy: Address, University of Kansas, Lawrence, Kansas, March 18, 1968; Zugriff: http://www.mccombs.utexas.edu/faculty/Michael.Brandl/Main%20Page%20 Items/Kennedy%20on%20GNP.htm

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lungspfad zu leben, sind für zahlreiche Bereiche und Sektoren noch keine hinreichend durchsetzungsfähigen und Erfolg versprechenden Projekte und Strategien gefunden bzw. scheitern sie häufig an den Gewohnheiten, Verharrungskräften und Machtstrukturen. Und so wird das Bemühen um Nachhaltigkeit als ein offener Suchprozess im Rahmen der Tragfähigkeit des einzigen uns zur Verfügung stehenden Planeten und der Lebensbedingungen heutiger und künftiger Generationen verstanden. Und hier ist die Philosophie von Ernst Bloch hochaktuell, denn seine Ansätze von Zukunftsgestaltung und konkreter Utopie waren ebenfalls durch prinzipielle Offenheit gekennzeichnet, nicht festgelegt und vorgegeben, nicht von Einzelnen oder kleinen »Auserwählten« an einem Grünen Tisch voraussagbar und planbar. Mit dieser mutigen Offenheit und Aufgeschlossenheit setzte er sich ab von den damals üblichen schablonenhaften Entwürfen und subjektiven Vermutungen über zukünftige Entwicklungen und historische Determiniertheiten. Bloch hingegen setzte auf die menschliche Phantasie, die Gestaltungsfähigkeiten und kollektive Auseinandersetzungen – die selbst von weisen Philosophen nicht abzusehen sind. Hierbei schließt Bloch an Karl Marx an, der die Gestaltung der Zukunft zwar bezogen auf gesellschaftliche Zusammenhänge und historische Bewegungsmuster begriff, sich aber bewusst davor zurückhielt, irgendwelche Zukünfte vom Schreibtisch aus sich auszumalen und zu propagieren. Zukunft war auch in seiner Einschätzung das Resultat komplexen und dynamischen gesellschaftlichen Handelns und andauernder Kämpfe. Das Wenige, was Marx hierzu geäußert hat, war eine sehr knappe, aber anschauliche Beschreibung einer kommunistischen Zukunfts-Gesellschaft. Sie findet sich in der früh verfassten »Deutschen Ideologie«, wo diese künftige als eine Gesellschaft beschrieben wird, in der »jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. 6 In dieser Kurzbeschreibung wird ein starkes Streben nach einer 6

Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. 1846. In: MEW Bd. 3, 33.

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vielfältig ausbildbaren Persönlichkeit, nach Selbstbestimmung und Entfaltung, nach Emanzipation und lebendiger und freier Entwicklung von Menschen spürbar, und der Wille zur Schaffung entsprechender gesellschaftlicher Verhältnisse und Möglichkeiten – all das, was es im Hier und Heute noch nicht gibt, noch nicht geben kann, woraufhin aber, gemäß Bloch, Marx und vielen Weiteren hingewirkt werden kann oder sollte: Utopie.

Utopie und Zukunftsforschung Der Begriff Utopie, aus dem Griechischen stammend, bezeichnet die »Nicht-Örtlichkeit«; umschreibt eine Wunschvorstellung, die zwar denkbar und in vielen Fällen wünschenswert scheint, vor dem jeweiligen historisch-kulturellen Hintergrund jedoch in vielen Fällen (noch) nicht oder nicht mehr realisierbar ist, also noch keinen Ort hat. Sie ist die Beschreibung einer Welt, eines Ortes, an dem derartige Vorstellungen verwirklicht sind. Im Sprachgebrauch wird Utopie auch als Synonym für einen von der jeweils vorherrschenden Gesellschaft vorwiegend als unausführbar betrachteten Plan, ein Konzept und eine Vision, benutzt. Ein ähnlicher, in diesem Kontext oft verwendeter Begriff ist der Wunschtraum. Es handelt sich um eine Gesellschaftsordnung, die bisher keinen Ort hat und nur als Gedanke und Idee existiert. Der benachbarte Begriff »Vision« hingegen kommt aus dem Lateinischen und ist mit den Bedeutungen »das Sehen«, »Anblick«, »Erscheinung« verbunden. Heute wird Vision für verschiedene Bedeutungen angewendet mit eher abwertendem Status: im Sinne von einer Erscheinung, oder auch von Halluzination als optischer Sinnestäuschung, als einer religiösen Erscheinung oder schließlich auch als das innere Bild einer Vorstellung, die meist auf die Zukunft bezogen ist. Es geht hier um eher subjektive und individuelle »Bilder«, die sehr mit Befindlichkeiten der jeweiligen Menschen zusammenhängen. Aus dem Bereich der wissenschaftlichen Zukunftsforschung lassen sich in diesem Kontext mehrere Erkenntnisse heranziehen, um sich der Zukunft fundierter und systematischer nähern zu können. Historisch lässt sich beobachten, dass es einen geradezu latenten Bedarf an Vorausschau gibt. Der Bedarf und das Bedürfnis hierfür haben sich schon vor langer Zeit herausgebildet und verschiedene Ausprägungen gefunden. Dabei ging es meist um die Herstellung von 154 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Sicherheit gegenüber künftigen Gefahren, um die Sicherung von Handlungsmöglichkeiten und um die Einstellung auf mögliche künftige Entwicklungen. Insofern Menschen geschichtliche Wesen sind, kann geschlussfolgert werden, dass sie auch zukunftsorientierte Wesen sind (»Sich sorgen um Morgen«), dass also Vorausschau und die Befassung mit Zukunft ein anthropologisches Merkmal darstellen. Für Vorausschau und die Beschäftigung mit Zukunft haben sich unzählige Formen und Ansätze herausgebildet, die meisten davon sehr subjektiv und personenbezogen. Erst seit wenigen Jahrzehnten hat sich eine wissenschaftliche Strömung herausgebildet, die sich mittels systematischer und nachvollziehbarer Methoden und Theorien mit der Dimension Zukunft befasst. Dabei zeichnet sich inzwischen aber das Defizit ab, dass vornehmlich rationalistische Kategorien und Phänomene in Betracht gezogen, Emotionen und »nicht-rationale« Verhaltensund Entwicklungslogiken ignoriert werden. In Anlehnung an Bloch hingegen sollte aus dem Vollen und Tiefen geschöpft werden, und möglichst sollten auch marginale und innovative Methoden genutzt werden. Hierzu gehören auch Phantasie anregende Quellen wie z. B. Träume, Prophezeiungen, Simulationen mit dem Ziel, möglichst viel und breites Wissen und tiefes Ahnen zu berücksichtigen – bzw. mit guten Argumenten nicht zu thematisieren und zu interpretieren. Moderne Zukunftsforschung ist per se interkulturell: einmal, weil sie zu einem globalen Denken führt, weil sie mehrere – auch in einzelnen Gesellschaften vorfindbare – Kulturen und Subkulturen (Milieus, Habitus) zu berücksichtigen hat, und vor allem auch, weil ein Vorausdenken über künftige Verhältnisse notabene mit sich bringt, dass künftige Gesellschaften sehr wahrscheinlich eine andere – noch nicht existierende – »Kultur« ausgeprägt haben werden, also »anders ticken« werden als die heutige (diese spezifische Qualität von Zukünften gilt es zu erfassen und denkbar zu machen). Anders ausgedrückt: ernsthafte Beschäftigung mit der Zukunft bzw. mit Zukünften ist schlechterdings das Nachdenken über »das Andere« primär in der zeitlichen Dimension. Es erfordert den kontinuierlichen und bewusst(gemacht)en Umgang mit Kontingenz und Möglichkeitsräumen, und mit dem, was Robert Musil in seinem Jahrhundertroman »Mann ohne Eigenschaften« den »Möglichkeitssinn« nannte. 7 Hierzu ist allem Anschein nach ein »modernes Bewusstsein« erforderlich, was wiederum moderne Ge7

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Neu durchgesehene und verbesserte

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sellschaftsverhältnisse – also entsprechende Praxis- und Lernmöglichkeiten – voraussetzt. Das Andere ist auch »das Morgen«, das »Zukünftige«, wie es vor allem in der Science Fiction zum Ausdruck kommt, wie es aber zunehmend in methodisch ausgeklügelten und professionell moderierten Klärungsprozessen beispielsweise in der Form von Szenarien und Roadmaps zum Ausdruck kommen kann. In solchen modernen Konzeptionen ist die Berücksichtigung der Verwirklichung von größter Bedeutung, das heißt die Reflexion und Integration der zu erwartenden Widerstände, Hemmnisse und möglicher Koalitionsoptionen zur Durchsetzung zukunftsorientierter Programme und Maßnahmen – wie z. B. in Energieszenarien.

Gewohnheiten Das Problem und die Herausforderung der Überwindung schlechter und gefährlicher Gewohnheiten hat Benjamin Barber in unübertroffener Klarheit 2003 in einer Rede auf dem Kongress »Philosophy meets Politics« formuliert: »In Afrika gibt es eine Affenfalle, eine kleine Kiste, die im Boden verankert wird, eine stabile Kiste und sie hat ein kleines Loch. Es wird eine große Nuss hineingelegt und der Affe greift hinein, greift die Nuss und versucht wieder herauszukommen, aber er kommt nicht raus, außer wenn er die Nuss loslässt. Wenn er die Nuss losließe, käme er sofort raus. Aber die Falle funktioniert perfekt. Er wird Tage oder Wochen später gefunden, manchmal ist er sogar tot, weil er die Nuss nicht losgelassen hat. Für mich ist das die perfekte Metapher für den modernen kaufenden Menschen, den Konsumenten. Es gibt keine Handschellen um unsere Handgelenke, die uns an das Einkaufszentrum ketten, heute halten wir unsere Ketten fest und wollen sie nicht loslassen. Der Zwang wird von unten nach oben, nicht von oben nach unten ausgeübt. Es gibt keine Gewehre, keine Gitterstäbe. Aber ist dies weniger oder mehr ›Gefängnis‹ als die alten Gefängnisse der totalitären Staaten? In einem Sinn ist es bestimmt weniger ›Gefängnis‹, aber in einem anderen Sinn ist es viel gefährlicher, weil die alten Gefängnisse nicht die Illusion der Freiheit vermittelten, die neuen Gefängnisse hinAusgabe 1978. Reinbek bei Hamburg 1987. Darauf nimmt auch Wilhelm Voßkamp Bezug. Siehe Seite 64 in diesem Band.

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gegen schon. Und deswegen bekämpft sie niemand, denn sie lassen uns nicht glauben, dass sie uns die Freiheit nehmen, vielmehr geben sie uns den Eindruck, dass sie die Essenz unserer Freiheit sind.« 8 Gleichwohl macht sich in unseren bunten und von allerlei Displays durchfluteten »Affenkäfigen« immer mehr Unbehagen breit und sucht sich Wege und Formen des Ausdrucks – noch nicht unbedingt solche des Aus- und Aufbruchs. Aber das könnte dann der nächste, allerdings schwierige und voraussetzungsvolle Schritt sein. Über die Absicht seines Freundes Thomas Morus für die Abfassung des Buches »Utopia« schrieb Erasmus von Rotterdam in seinem Brief von 1519 an Ulrich von Hutten: »Die ›Utopia‹ gab er in der Absicht heraus, die Ursachen zu zeigen, weshalb es um die Staaten so schlecht bestellt sei; besonders vom englischen gab er dabei ein Konterfei – hatte er doch diesen durch und durch kennen gelernt.« 9 Damals ahnte wohl niemand, dass Morus damit einem ganzen literarischen Genre einen Namen gegeben hatte: der utopischen Literatur und dem damit verbundenen Denken, Vorstellen und Diskutieren. Der gesellschaftskritische Impetus von Morus ist auch heute noch in utopischer und Science Fiction Literatur zu finden. Wenn auch die allgegenwärtige Zukunftsangst nicht wegzuschreiben ist, so scheint doch die Zurückhaltung vor ungeschminkten Blicken in die Zukunft aus linker Perspektive abzuklingen. Immer häufiger widmen sich progressive AutorInnen dem mehr oder weniger fundierten oder phantasievollen Ausmalen möglicher, zu vermeidender oder wünschbarer Zukünfte und der Reflexion dieser Art von Texten. Für Ernst Bloch war die Arbeit des Hoffens essenziell. Sie bedeute nicht Entsagung, denn »sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. (…) Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag.« 10 Und in einem anderen seiner Werke schreibt Bloch: »Zur Hauptsache darum: realer Humanismus insgesamt korrespondiert, sowohl was sein tendenzhaft-Vermitteltes wie sein latenzhaft Benjamin Barber: End of Democracy? How privatisation corrupts res publica, Kongress Philosophy meets Politics am 31. Oktober 2003 im Willy-Brandt-Haus, Berlin; Zugriff: http://www.kulturforen.de/servlet/PB/menu/1489557/index.html 9 Erasmus von Rotterdam grüßt den hochedlen Ritter Ulrich von Hutten, in: Thomas Morus »Utopia«, Verlag Philipp Reclam Jun., Leipzig 1985, 142. 10 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt am Main 1959, 1. 8

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– noch Ideales angeht, jenem erst in den zwanziger Jahren entstandenen, möglich gewordenen Paradox für alle Empiristen, das konkrete Utopie heißt. Eine scheinbare contradictio in adiecto, die bald nur zu leicht vereinnahmt wurde, eine Fundierung des Utopischen im Konkret-Offenen der Geschichtsmaterie, ja Naturmaterie selber. Als das objektiv-real Mögliche, wie es das vorhanden Wirkliche mit riesiger Latenz umgibt und so gerade der menschlichen Hoffnungs-Potenz ihren Anschluss an welthafte Potentialität hinzugibt.« 11 Die heute in unserem Alltag enthaltenen Potenzialitäten sind meist in Paradoxien versteckt. So gibt es einerseits unzählige Impulse hin zu stärkerer Demokratie, zu mehr Partizipation wie z. B. bei Lokale Agenda 21-Prozessen in Kommunen, in der unüberschaubaren Form von Bürgerinitiativen, von Petitionen, von neuen Engagementformen wie Flash Mobs und Online-Abstimmungen etc. Andererseits existieren immense und tendenziell wachsende Handlungsunfähigkeiten/ -schranken der herrschenden technokratischen neoliberalen Politik und ihres Personals, Sachzwänge (Haushaltsdefizite und vieles andere mehr), sachliche Komplexitäten. Dies sind Zeiten des Umbruchs, der noch versteckten/verleugneten Alternativen. Und doch geht es heute angesichts der oben skizzierten existenziellen Bedrohungen um den Bestand unserer Zivilisation und ihrer Lebensgrundlagen. In anderer aber ähnlich schwieriger Zeit, als es um »Sozialismus oder Barbarei« (Rosa Luxemburg, Cornelius Castoriadis) ging, schrieb der von italienischen Faschisten eingekerkerte Antonio Gramsci: »Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.« 12

Überschreitungen Die hier zur Sprache gebrachte Haltung des »aufrechten Gangs«, basierend auf dem »Prinzip Hoffnung«, kommt auch heute langsam wieErnst Bloch: Marx, Aufrechter Gang, konkrete Utopie, in: Ders. Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, GA Bd. 11, Frankfurt am Main 1970, 457. 12 Antonio Gramsci: Gefängnishefte, H. 28, § 11, »Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 9« (Hrsg. von K. Bochmann und W. F. Haug) (Berlin: Argument Verlag 1996), 2232. 11

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der zum Vorschein, wofür es zahlreiche Beispiele aus der Praxis und der Theorie gibt. Hierzu lassen sich die radikalen Reformprozesse in Lateinamerika anführen, die internationalen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten für Grundfragen der menschlichen Existenzbedingungen, der nach dem Scheitern des Kopenhagener Klimagipfels von Staatspräsident Evo Morales nach Cochabamba/Bolivien einberufene alternative »Klimagipfel der Völker«. Hier sei ein jüngstes Beispiel aus der USamerikanischen Welt der Sozialwissenschaften geschildert. Erik Olin Wright, designierter Präsident der American Sociological Association, einer der wenigen linken und marxistisch versierten Hochschullehrer in den USA, startete 1992 das »Real Utopias Project« mit der Intention »to focus on specific proposals for the fundamental redesign of different arenas of social institutions rather than on either general, abstract formulations of grand design, or on small immediately attainable reforms of existing practices.« 13 Nun erschien als jüngstes Buch eine Art Kulmination dieses Projektes: es stellt die Summe der Erfahrungen, Erkenntnisse und Einschätzungen dieses umfassenden, intensiven und facettenreichen Diskurses dar. Wright möchte herrschende Denkgewohnheiten überwinden: Utopien und Realität mögen Gegensätze sein, doch ihm geht es genau darum, die Spannung zwischen Träumen und Praxis wichtig zu nehmen und sie zu wenden: »utopian ideals that are grounded in the real potentials of humanity, utopian destinations that have accessible waystations, utopian designs of institutions that can inform our practical tasks of navigating a world of imperfect conditions for social change.« 14 Darin wird ein ganzes Spektrum konkreter Konzepte alternativer Institutionen beschrieben wie z. B. Bürgerhaushalte, Wikipedia, die baskische Mondragon Kooperative, und das bedingungslose Grundeinkommen – diese sind »Real utopias« im Sinne von Wright und wohl auch im Geiste von Bloch. Was in derartigen Praxisbeispielen auch zum Ausdruck kommt, ist eine Arbeitsstrategie und Haltung, die Fredric Jameson als »Antianti-Utopianism« bezeichnet, also eine Gegenposition gegenüber den gegen Utopien und Alternativen eingestellten Kräften und Akteuren. Und Jameson fragt: wie kann uns zukunftsorientierte Literatur »Energie geben und uns zu politischer Aktion zwingen?« und damit verbunden: »kann Kultur politisch sein, also kritisch und gar subversiv, oder 13 14

Erik Olin Wright: Envisioning Real Utopias, London 2010, Verso, x. Ebd., 6.

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aber ist sie notwendigerweise wiederangeeignet und kooptiert durch das soziale System, dessen Teil sie ist?« 15 Insofern Zukunftsdenken nicht automatisch erfolgt, sondern Möglichkeiten und Unterstützung benötigt wie jede menschliche Regung und Kunst, wurden zu diesem Zweck immer wieder Instrumente und methodische Werkzeuge geschaffen. Die moderne Zukunftsforschung hat im Laufe der letzten Jahrzehnte zahlreiche und sehr unterschiedliche, für viele Anforderungen und Bedarfe nutzbare Methoden und Instrumente entwickelt und angewendet, die Menschen und speziell Zukunftsforscher in die Lage versetzen, sich intensiv und reflektiert und systematisch mit Zukunft zu befassen. Eines der am häufigsten durchgeführten und erfolgreichen Instrumente, die eine Art von freiem, »herrschaftsfreiem« Diskurs ermöglichen, ist die von Robert Jungk und Norbert Müllert konzipierte »Zukunftswerkstatt«. Mit ihr werden Räume und Gelegenheiten geschaffen, gemeinsam mit anderen Menschen zukunftsbezogene Klärungen herbeizuführen – um z. B. die von der Werbeindustrie gestanzten, und raffiniert konfigurierten Wunschträume zu überwinden, unsere amorphen unbewussten (»unverfälschten«) Hoffnungen und Träume Ernst zu nehmen und als Kraftquelle für Engagement und humane Zukunftsgestaltung zu nutzen. Das Instrument Zukunftswerkstatt wurde in den 1970er Jahren als partizipative Problemlösungsmethode entwickelt. Zukunftsinteressierte und Betroffene entwerfen dabei unter Anwendung von Visualisierungs-, Brainstorming- und Kreativmethoden wünschbare Zukünfte und suchen anschließend gemeinsam nach konkreten Realisierungschancen. Zukunftswerkstätten zeichnen sich durch ein moderiertes zielgerichtetes Vorgehen mit idealerweise 12- bis 25-köpfigen Gruppen aus, das von den Teilnehmenden inhaltlich bestimmt und gestaltet wird. Dabei wechseln sich eher rational-analytische und intuitiv-kreative Arbeitsphasen ab. Dadurch werden Spielräume geschaffen, die sich als Projektionsflächen für Phantasie freisetzende »Re-Interpretationen« auswirken. Eine weitere Besonderheit der Methode ist der kreative »Umweg« in der so genannten Utopiephase. Die Teilnehmenden entwickeln Ideen und Lösungsansätze für die Praxis zwar indirekt aus den Problemen und Kritiken,

Fredric Jameson: Archaeologies of the Future. The Desire Called Utopia and Other Science Fictions, London: Verso 2005, xv.

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aber direkter noch aus ihren Wünschen, Phantasien und utopischen Zukunftsentwürfen. Dafür sind drei Phasen zu durchlaufen: 1. Beschwerde und Kritikphase Die erste Phase dient dem Bestimmen des Ist-Zustands. Die Fragestellung der Werkstatt wird durch die kritische Aufarbeitung der verschiedenen Aspekte geklärt. Die Trends und die Kritikpunkte werden gesammelt und systematisiert. (Mögliche Schlüsselfragen: Welche Entwicklungen kommen auf uns zu? Denken Sie an absehbare Veränderungen in Bezug auf das Thema der Zukunftswerkstatt. Wenn Sie an Ihre Möglichkeiten denken, den Themenbereich zu beeinflussen, was stört, was behindert Sie, wo werden Sie unzureichend unterstützt?) 2. Phantasie- und Utopiephase Die zweite Phase dient dem Ausbreiten des »Wunschhorizonts«. Dazu müssen die Hauptkritiken am Ist-Zustand mittels Kreativität und »sozialer Phantasie« überwunden werden. (Hier kann z. B. eine fiktive Reise in eine positive utopische Zukunft vorgenommen werden mit folgenden Aufgaben: Untersuchen Sie bei Ihrer virtuellen Exkursion, wie Ihre Wünsche und Mottos im täglichen Leben von »Utopia« verwirklicht sind. Was zeichnet unseren Themenbereich in »Utopia« aus? Welche Besonderheiten gibt es? Wie machen sich die Besonderheiten im Tagesablauf bemerkbar?) 3. Verwirklichungs- und Praxisphase In der dritten Phase suchen die Teilnehmer nach Wegen, ihre Ideen durch konkrete Handlungen zu realisieren. Der Wunschhorizont wird zu Forderungen bzw. Lösungsansätzen verdichtet. Dazu werden die attraktivsten bzw. interessantesten Ideen aus der Phantasiephase ausgewählt, »gedeutet« und in Arbeitgruppen weiter bearbeitet. Daraus werden üblicherweise konkrete Maßnahmen und Aktionen abgeleitet und zwischen den TeilnehmerInnen vereinbart. »Natürlich interessiert mich die Zukunft. Ich will doch schließlich den Rest meines Lebens in ihr verbringen.« (Mark Twain)

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Auf- und Umbrüche In seinem umfangreichsten Werk mit dem programmatischen Titel »Prinzip Hoffnung« thematisiert Bloch die vielfältigen Repräsentationen utopischen Drängens im alltäglichen Leben einerseits, andererseits aber ein kollektives oder gar politisches Programm von nach vorne gerichteter Wunscherfüllung per utopischen Vorstellens. Zugleich geht es um die Selbstreflexion von Individuen und gesellschaftlichen Akteuren und Staaten. Jameson weist ausdrücklich darauf hin, dass soziale Zerstörungen/Brüche, also Revolutionen, die Form von Utopien annehmen, weil darin sowohl die Vorstellung von »Radikale Differenz ist möglich« als auch »Ein Bruch ist notwendig« zum Ausdruck gebracht werden: »Die Form Utopie selbst ist die Antwort auf die universelle ideologische Überzeugung, dass keine Alternative möglich ist, dass keine Alternative zum System existiert. Aber es konstatiert dies dadurch, dass es uns dazu bringt/zwingt, den Bruch als solchen zu denken, und nicht dadurch, dass sie uns ein eher traditionelles Bild darüber liefert, wie es nach dem Bruch aussehen könnte.« Und weiter: Utopien sind immer umkämpft und werden dies bleiben: »Deren jeweilige zerbrechliche/anfällige Gesellschaft ist bedroht durch all die nicht- oder Anti-utopischen Kräfte der Außenwelt, in diesem nie endenden Kampf/Krieg, der um alle utopischen Enklaven herumtobt, auch in der realen Geschichte und außerhalb dieser.« 16 In Ernst Bloch hätten Politiker und Politikerinnen vom Typus Margaret Thatcher und ihre vielen Nachfolger, die die Ideologie des TINA – »There is no alternative« – auf die Höhe trieben, einen glasklaren Gegenspieler gehabt. Dass Entscheidungen alternativlos seien, haben wohl auch frühere Entscheidungsträger und Führer proklamiert, doch die Häufigkeit, mit der dies heute zum Besten gegeben wird, deutet auf eine Krise hin, die diese Entscheidungsträger offensichtlich nicht mehr zu bewältigen in der Lage sind. Und dies deutet darauf hin, dass sich manche Mitglieder der politischen Klasse bewusst oder unbewusst selbst abschaffen, oder eher noch: dass sie das Politische als solches eliminieren möchten: das Thematisieren und Anbieten von Alter-

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Fredric Jameson: a. a. O., 233.

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nativen. Das liefe darauf hinaus, das Gesellschaftliche und Lebendige zu einem großen Verwaltungsakt zu pervertieren. 17 Jüngste Beispiele zeigen aber auch, dass das »Prinzip Hoffnung« lebendig ist. Und so hätte Ernst Bloch sicherlich seine Freude gehabt an seinen (Wahl-)Landsleuten in Stuttgart und den zahlreichen, vor allem jungen und tatkräftigen Leuten, die sich in Zusammenhängen und Initiativen wie ATTAC und dem Weltsozialforum engagieren, und die Auffassung aktiv und real verbreiten: »eine andere Welt ist möglich!«

17 Julian Nida-Rümelin spricht hier von einem »Verlust utopischer Potenziale der Politik«. Siehe Seite 28 in diesem Band.

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Diskussion

Rosenbauer Das war ein wirklich positiver, mutmachender Schluss. Frau Bareis, wäre das Europa »von unten«, das Sie angesprochen haben, im Sinne von Klaus Kufeld zu verstehen, der heute morgen bei der Eröffnung von »Neue Utopien braucht das Land« gesprochen hat? Bareis Ich denke, es wäre nicht eine Utopie in dem Sinne, dass dann tatsächlich als ein konkreter Plan entwickelt werden kann. Es gibt ganz große Fragen an dieses »Europa von unten«, nämlich welche Art von Institutionen dafür gebraucht werden. Ich finde, das Beispiel mit den Bürgerhaushalten ist sehr erhellend und geht in eine gute Richtung. Die Frage ist eher die, als utopische Fluchtlinie, wie Arten von grundständiger Demokratie, von Teilhabe usw. wieder neu organisiert werden können; und das braucht natürlich Institutionen. Daher geht es nicht um eine Utopie, die einen Plan bietet, sondern tatsächlich eher um etwas Utopisches, das eine Richtung vorgeben oder zumindest artikulieren könnte. Rosenbauer Als Sie, Herr Göll, eben diesen schönen, positiven Schluss fanden, ging mir durch den Kopf, dass es offenbar zwei gegenläufige Modelle gibt. Wir denken gerade über Utopien nach, die Philosophie, die Wissenschaft und die Wirtschaft denken über neue Geschäftsmodelle nach. Das ist für mich ein nahezu unlösbarer Widerspruch. Göll Es scheint als Widerspruch, letzten Endes ist da natürlich auch was dran. Denn die Logik, nach der Profitmaximierung, Kapitalakkumulation usw. läuft, ist natürlich eine sehr beschränkte, deshalb spricht man 164 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

ja in den USA in Bezug auf den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik auch oft von »Special interests«, die es natürlich auch von anderen Seiten gibt. Das heißt, es es geht da um Interessen und auch um eine Logik des Wirtschaftlichen, die natürlich nicht das Gesamtgesellschaftliche ausmachen kann. Es gibt einige, die sagen, das ist wirklich eine Machtfrage, also ein »Ent- oder Weder«, oder man kann durch bestimmte innovative Reformen und Ansätze versuchen, das eine mit dem anderen durchaus zu verbinden. Und es gibt natürlich sehr viele Möglichkeiten, das zu tun, es wird ja auch praktiziert. Also ich will an den Boom der Solarenergie erinnern, wo eine bestimmte Art von Unternehmen es ja durchaus schafft, innerhalb dieses, ich will mal sagen, alten Systems ihren unternehmerischen Hauptzweck, also Gewinn, zu machen, um mehr zu verkaufen usw. realisieren zu können. Nur ist das große Problem einfach, und das ist für uns als Soziologen oder Zukunftsforscher natürlich immer von zentraler Bedeutung, was nun in Einzelfällen sinnvoll ist und durchaus auch erfolgreich sein kann dies zu übertragen auf eine Gesamtgesellschaft. Jetzt könnte man zum Beispiel über den Wachstumsbegriff diskutieren. Es ist wie gesagt nicht weiter dramatisch, wenn ein Unternehmen mit einer bestimmten Produktpalette oder Dienstleistungsangeboten wächst, aber dass eine ganze Wirtschaft wächst, das ist das große Problem. Also einzelne Beispiele, wie gesagt gibt es ja, »Green Economy«, nachhaltiges Wirtschaften, da gibt es so viele Stichworte mittlerweile, wo sich das Gemeininteresse, auch das ökologische, mit dem unternehmerischen Handeln durchaus vereinbaren lässt, zumindest für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Umfang. Aber insgesamt gesehen ist, glaube ich, schon fast die Systemfrage zu stellen. Diese Art des Wirtschaftens, was ja jetzt leider auch immer mehr übertragen wird in andere Länder des so genannten Südens, war in einer bestimmten historischen Phase sogar das Optimale, aber auf absehbare Zeit wird diese Art des Wirtschaftens einfach nicht mehr gehen, wo der Primat der Politik, also nachhaltige Leitbilder, nachhaltige Indikatoren, auch so etwas wie Glück und Lebensstandard eine große Rolle spielen. Es gibt ein Beispiel in Butan, wo es seit über 12 Jahren Staatsziel ist, damals vom jungen König ausgerufen, nicht mehr das Bruttosozialprodukt soll wachsen im kleinen Himalaja-Staat Butan, sondern das Bruttosozialglück. Das heißt, das soll die Orientierung sein für Politik und wirtschaftliche Maßnahmen. Das ist natürlich unglaublich kompliziert, aber es ist ein Signal. Es geht wirklich um mehr Qualitäten, denn 165 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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es geht ja um Menschen. Und Menschen sind gewissermaßen qualitative Wesen und Lebensqualität. Bareis Ich denke, da gibt es einen interessanten Anknüpfungspunkt an das bedingungslose Grundeinkommen. Denn das bedingungslose Grundeinkommen erfordert ja tatsächlich, dass man über das, was Arbeit ist und wie Arbeit entlohnt oder bewertet oder auch wie sie eingeschätzt wird, die Diskussion eröffnet und »Arbeit« damit neu gedacht werden kann. Im Moment gibt es natürlich das Primat der Ökonomie in der Bewertung von Arbeit. Der Markt entscheidet, für welche Arbeit es wie viel Geld gibt, welche Arbeiten lukrativ sind. Aber das sind zu einem großen Teil nicht unbedingt Arbeiten, die für die Gesellschaft sinnvoll sind. Wenn sie z. B. jetzt Panzer bauen, ist das nicht unbedingt gesellschaftlich sinnvoll. Wenn Sie ihre Eltern pflegen, kann das durchaus als sinnvoll erscheinen. Wenn andere ihre Eltern pflegen (etwa eine halbwegs legalisierte osteuropäische oder auch eine komplett illegalisierte Arbeitskraft) kann das immer noch als gesellschaftlich und individuell sinnvoll erscheinen. Wenn ich wiederum Panzer verkaufe, damit ich mir leisten kann, dass ich diese Personen beschäftige, bin ich in einem endlosen Kreislauf gefangen. Und dieser Kreislauf entspricht unserer Realität. Das bedingungslose Grundeinkommen wäre eine Ebene, die den Diskurs über die Bewertung von Arbeit öffnet. Ob man dann wirklich die Systemfrage stellen will oder muss, wie Sie Herrn Göll, eben gefragt haben? Also im Grunde genommen müsste man zumindest eine Neubestimmung von Arbeit vornehmen, die sich nicht alleine über den ökonomischen Prozess festlegt, sondern die tatsächlich Arbeit als etwas Gesellschaftliches, ein gesellschaftliches Tun, begreift und wo die Gesellschaft dann auch mit in den Diskurs über die Bestimmung des Werts der Arbeit involviert ist. Rosenbauer Es war heute in vielen der Beiträge die Rede von Krise, auch begriffen im Sinne von Krise als Chance, weil sie uns veranlasst, anstößt neu nachzudenken. Es gibt ein schönes Lied, das Sie wahrscheinlich alle kennen: »Wenn ich mir was wünschen dürfte, käme ich ihn Verlegenheit, was ich mir denn wünschen sollte, eine gute oder eine neue Zeit«. Und was so sentimental poetisch klingt, hat ja einen geradezu revolutionären Hintersinn. Was wünschen Sie sich? 166 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

Bareis Was wünsche ich mir? Ich finde diesen Moment der Krise als Chance, als Chance für Europa. Dabei ist es wünschenswert, dass es tatsächlich möglich ist, die Prozesse »von unten« zu befördern und dann, so hoffe ich, das Glück zu mehren. Göll Mit Glück als Staatsziel dürfen wir uns natürlich nichts vormachen. Ich war öfters in Kuba und habe dort auch ein bisschen geforscht. Auch dort, in Kuba, hat man von wissenschaftlicher Seite den Zuspruch erhalten, dass sehr nachhaltig agiert wird, im ökologischen, im sozialen Bereich. Und das ist aber damit verbunden, das der materielle Lebensstandard dort natürlich nicht vergleichbar ist mit uns. Es gibt einen schönen Fotoband von einem Fotojournalisten, der mal Familien in Dutzenden von Ländern weltweit besucht und sie gebeten hat, alle ihre Haushaltsutensilien vor ihr Haus oder ihre Wohnung zu platzieren und sich dann davor zu stellen. In den USA, als Extrembeispiel, war der ganze riesige Rasen vor dem entsprechenden Haus der Familie mit Kram voll gestellt, während man in afrikanischen Länder vielleicht drei, vier Töpfe hatte, aus Blech, zum Kochen und ganz wenige Gegenstände. Das heißt also, wenn wir in Richtung Butan gehen würden, wo ich auch sehr stark hintendiere, müssen wir uns aber auch genau im Klaren sein, welche Veränderungen das bei uns voraussetzen würde. Die Zeit, die man dann wieder hätte und endliche Dinge. Also für mich ist dieser US-amerikanische Begriff der »The Convenience«, also was ist gemütlich, was ist angenehm, mittlerweile schwierig geworden, weil ich den Eindruck habe, dass sich die Menschheit mit dem Streben nach mehr Einfachheit usw. natürlich auch gleich gewissermaßen ins Knie geschossen hatte, weil sie sich damit die Vernichtung des Planeten miteingekauft hat. Und ginge es darum, wieder die Kurve zu kriegen durch Einhalten der Nachhaltigkeitsprinzipien beispielsweise, eine Balance zu finden, wo sowohl Convenience und Gemütlichkeit und Einfachheit und Luxus verknüpft werden. Die Welt wäre nur dann wirklich zukunftsfähig, wenn sie nicht nach 5 Jahren wieder abbricht, weil China, Brasilien, Nigeria, Indien denselben Weg verfolgen wie wir und es dann einfach kein Erdöl mehr gibt, keine saubere Luft, kein sauberes Wasser mehr, kein Titan oder kein Tantal mehr für unsere Handys, weil alles aufgebraucht ist. Und das ist genau 167 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

dieses Vabanquespiel, was wir hier bei uns in der Gesellschaft irgendwie irgendwann zur Kenntnis nehmen müssen. Publikum Also wir sind ja an einem Ort, Herr Göll, an dem es schon sehr viele Zukunftswerkstätten gegeben hat. Vielleicht bedarf es ja, mit Klaus Kufeld gedacht, des neuen Blicks auf alte Utopien. Die Vision ist nicht unbedingt ein negativer Begriff, aber es gibt etwas Neues in der Diskussion um die Visionen, seit die Wirtschaft vor 20 Jahren angefangen hat, Visionen zu entwickeln, und jeder junge Manager lernt, dass er Visionen entwickeln muss? Aber diese Visionen sind nicht diskursiv, das ist das Problem der Vision, und das sollte man, glaube ich, diskutieren. Göll Vielen Dank für diese sehr schwierige Frage. Aber ich glaube es ist genau der wichtige Punkt. Die wissenschaftliche Zukunftsforschung hat in den USA, auch im militärischen Bereich, begonnen. Erst nach Jahrzehnten, mit dem Auftauchen von europäischen Zukunftsforschern, ging man diskursiv, auch partizipativ an die Problematik. Das heißt, man ist raus gegangen über den engen Kreis von Expertinnen und Experten, die natürlich auch nur ihre eigene alte Logik reproduziert haben, und erst in der Auseinandersetzung, erst im Diskurs mit anderen Akteuren, mit anderen Logiken, konnte man natürlich dann auch versuchen, zu neuen Lösungen zu kommen und auch die alten Probleme neu zu sehen. Ich habe in meinem Vortrag schon angedeutet, dass der Unterschied zwischen Utopie und Visionen der ist, dass Visionen eher individuell orientiert sind, eher implizit, während Szenarien wirklich explizit zwischen Akteuren skizziert werden und von daher auch die Bezugnahme auf Utopien weiterführen. Visionen haben meistens einen ganz speziellen, unternehmensorientierten Hintergrund, Utopien sind eher auf eine Fundierung, auf auch eine gewisse Erreichbarkeit, auf eine Potenzialität ausgerichtet. Publikum Ich habe eine kurze Bemerkung zu den Ausführungen von Frau Bareis. Welches Unternehmensbild haben Sie? Ich arbeite in einem kleinen Chemieunternehmen in dieser Stadt und ich kann Ihnen nur sagen, 168 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

wir sind eine Brutstätte von Utopien, wir sind gesellschaftlich sensibel, wir engagieren uns in der Gesellschaft, wir betreiben nicht nur CleanWashing. Wovon wollen Sie Ihre Visionen bezahlen, wie arbeiten Sie eigentlich hier zusammen? Wenn wir über Wachstumsbegriff hier diskutieren in Richtung Unternehmen, dann bitteschön auch in Politik und über das Pushing eines Wachstumsbegriffs in den 60er Jahren. Und da übernehmen manche Politiker schon die Verantwortung, indem sie zugestehen, dass wir uns vergaloppiert haben. Mit holzschnittartiger Einseitigkeit kommen wir hier nicht weiter. Bareis Es ging mir in meinem Vortrag um die Frage der gesellschaftlichen Bewertung von Arbeit, nicht auf alle Unternehmen bezogen, aber durchaus aus einer sozialpolitischen Perspektive auf die Logik des 19. Jahrhunderts bezogen und auf die Frage wie die kapitalistische Gesellschaft die Existenzsicherung über Lohnarbeit absichert. Lohnarbeit ist als lohnabhängige unsere aktuelle Form unsere Existenz zu sichern. Und da setzt natürlich die Idee der »Kostenlosigkeit der Existenz« an. Der utopische Gehalt darin ist, dass wir uns neu darüber zu verständigen hätten, was »gesellschaftliche Arbeit« ist, was also Arbeit ist – im Spannungsfeld zwischen »produktiver« (bezahlter) Arbeit und Carework wie auch kreativer Arbeit. Damit meinte ich nicht Soziale Arbeit – falls das das Missverständnis war – sondern jede Arbeit, die innerhalb der Gesellschaft getan wird, und dazu gehört natürlich auch die Arbeit innerhalb von Unternehmen. Die unbezahlte Arbeit taucht zum Beispiel im Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandsprodukt nicht auf. Volkswirtschaftlich wird also gar nicht erfasst, was genderpolitisch seit 10 oder 15 Jahren über zusätzliche Statistiken und zusätzliche Erhebungen mühsam mit reingerechnet wird. Das wäre die Fluchtlinie, die ich aufgemacht habe. Es ging mir nicht um Unternehmensbashing, sondern es ging mir um die gesellschaftliche Diskussion darüber, welche Arbeit wir wollen, welche Arbeit wir wie einstufen wollen. Göll Frau Bareis, mich würde in der ganzen Diskussion um Grundeinkommen und diese Konzepte interessieren, warum ein solches Konzept, was für viele ja eine tolle Sache wäre, nicht mehr Anklang findet, in den Medien, aber dann auch in der Bevölkerung. 169 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Diskussion

Bareis Ich halte das bedingungslose Grundeinkommen gar nicht für die zentrale Forderung, sondern wirklich für eine utopische Linie. Es gibt ja das Bürgergeldkonzept von der FDP, und das wird von unterschiedlichen politischen Richtungen aufgegriffen und auch dementsprechend unterschiedlich gefüllt. Damit behält es aber nicht unbedingt seinen emanzipatorischen Charakter. Das ist ja die wichtige Idee: etwas denken zu können, in eine Richtung denken zu können, die sich nicht direkt umsetzt in die Art und Weise, wie sozialstaatliche Leistungen erbracht werden. Für diese Ebene halte ich die Idee einer Sozialpolitik als soziale Infrastruktur für viel zentraler und für viel naheliegender. Diese wird aber in der Öffentlichkeit bislang fast noch gar nicht diskutiert. Eine Sozialpolitik als soziale Infrastruktur könnte – ganz ähnlich wie in der Zukunftsforschung – an den Nutzungsprozessen ansetzen. Die soziale Infrastruktur könnte basierend auf einer Nutzungsforschung genau die Infrastruktur anbieten, die gebraucht wird. Man hätte dann auch ein ganzes Stück weniger Ressourcenverschwendung.

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Utopische Texte heute

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Utopie in der Literatur Christa Karpenstein-Eßbach

»Eine Weltkarte«, so schreibt Oscar Wilde 1891, »auf der die Utopie nicht erscheinen würde, (sei) keines Blickes würdig, weil sie der Menschheit die Küste, an der sie immer landen wollte, nicht zeigen würde«. 1 Hundert Jahre nach dieser Verteidigung des Utopischen schlechthin weisen Buchtitel von 1990 bzw. 1991 wie »Das Ende der politischen Utopie?« oder »Der zerstörte Traum« darauf hin, dass das Diktum Oscar Wildes zumindest problematisch geworden ist und dass nicht nur die verschiedenen utopischen Entwürfe einen historischen Index mit sich führen, sondern die Möglichkeit der Utopie selbst von geschichtlichen Bedingungen gezeichnet ist, die sie zu eröffnen oder zu verbauen scheinen. 2 Bei aller Evidenz bleibt diese Diagnose dennoch sehr allgemein. Ich möchte deshalb im Folgenden zunächst einen kompakten Begriff von Utopie auflösen und zwischen literarischer und politischer Utopie unterscheiden. Ich beziehe mich also nicht auf das utopische Denken schlechthin, wie es im Rahmen der Philosophie behandelt wird. Nach der Differenzierung von politischer und literarischer Utopie geht es um literarische Utopien unserer Gegenwart. Ihre Auswahl ist an zwei Überlegungen orientiert. Zum einen markiert 1989 ein Datum, mit dem die Diskussionen um die Fraglichkeit des Zit. nach Gérard Raulet, Über die anti-utopische Konjunktur, in: Reinhard Brunner, Franz-Josef Deiters (Hg), Die Geschichtlichkeit des Utopischen. Für Eberhard Braun zum 60. Geburtstag, St. Ingbert (Röhrig) 2001, 211. (Orig.: Oscar Wilde, Der Sozialismus und die Seele des Menschen, Zürich 1970). 2 Richard Saage, Das Ende der politischen Utopie?, Frankfurt 1990; Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin (Siedler) 1991 sowie Richard Saage (Hg), Hat die politische Utopie eine Zukunft?, Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1992. Hierzu die kritische Auseinandersetzung von Gérard Raulet, Über die anti-utopische Konjunktur, a. a. O., sowie Klaus Vondung, »Wunschräume und Wunschzeiten«. Einige wissenschaftsgeschichtliche Erinnerungen, in: Árpád Bernáth, Endre Hárs, Peter Plener (Hg), Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien, Tübingen (Francke) 2006, 183–190. 1

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Utopie in der Literatur

Utopischen besonders virulent geworden sind. Deshalb habe ich Romane ausgewählt, die vor und nach 1989 erschienen sind. Zum anderen handelt es sich um Romane, die als beispielhaft für die Themenfelder und Konturen utopischer literarischer Entwürfe angesehen werden dürfen.

I. Einer der bemerkenswertesten Unterschiede zwischen politischer und literarischer Utopie liegt darin, dass die Erste sich auf die Potentialität von Geschichte bezieht, die Letztere Geschichten erzählt. Politische Utopien sind in der Regel geschichtsphilosophischen Konzepten verpflichtet, die Begründungen bereitstellen, warum die Zeit reif ist für die Veränderungen, die sie ins Auge fassen. Das gilt für die Wiedertäufer der Reformation, für Rousseaus Imagination eines Urzustandes als Medium des Entwurfs einer neuen Gesellschaft ebenso wie für Charles Fouriers Explikation der stufenförmigen Verlaufsform sozialer Bewegungen und die Entwicklungsperioden der ganzen Schöpfung bis hin zur borealen Krone. Politische Utopien explizieren Projekte, die, wenn auch im Moment noch nicht wirklich, so doch möglich sind, weil sie im historischen Prozess eine Stelle haben bzw. mit der Idee des Fortschritts verbunden sind. Insofern ruhen politische Utopien auf Emanzipationsbewegungen auf, die einen jeweiligen historischen Index haben. Das Mögliche ist die reale Potenz der Geschichte. Inhaltlich darf eine politische Utopie im Prinzip keinen Bereich gesellschaftlichen Lebens aus ihren Überlegungen aussparen; ob soziale oder Geschlechterbeziehungen, kulturelle oder religiöse Praktiken, Rechtsfragen, Güterverteilung, Modalitäten der Bedürfnisbefriedigung oder Verhältnisse zur Natur – in ihren Entwürfen geht es buchstäblich um alles, ums Ganze, und ihre Glaubwürdigkeit haftet daran, auch demjenigen Leser, der sich fragt, ob denn auch dieses oder jenes besondere Problem berücksichtigt sei, ein zufriedenstellendes Regelungskonzept im Bereich des Möglichen vor Augen zu führen. Deshalb haben politische Utopien zwei Besonderheiten: ihr Verfasser muss um der Überzeugungskraft seines Entwurfs willen allen möglichen Bedürfnissen, Handlungen und auch Vorstellungen, auch den abwegigsten, einen Platz einräumen und mit ihnen rechnen. Insofern muss eine politische Utopie – erstens – total sein, was vom Terminus »totalitär« 173 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Christa Karpenstein-Eßbach

noch einmal zu unterscheiden ist. Es ist aber auch damit zu rechnen, dass Fragen z. B. nach der Erhältlichkeit von Erdbeeren im Winter oder den Öffnungszeiten der Bibliotheken als noch ungelöste Probleme auftauchen. Das ist die zweite Besonderheit politischer Utopien: jeder Entwurf treibt sofort über sich hinaus, weil der Einfall eines neuen Moments gewärtigt werden muss, das seiner utopischen Antwort noch harren könnte. Die politische Utopie stachelt das utopische Bewusstsein an, weil sie genötigt ist, das historisch Mögliche in toto und in allen Details plausibel zu projektieren. Im Unterschied zu politischen Utopien und ihrer geschichtsphilosophischen Legitimation wird in literarischen Utopien die Frage der Verwirklichung durch das Erzählen von Geschichten beantwortet. Deshalb sind literarische Utopien auf die Form des Romans verwiesen, und es gibt, so weit ich sehe, kein utopisches Drama und keine utopische Lyrik im strengen Sinne. Statt einer Schilderung von Zuständen der Vollkommenheit erfordert nun aber das Erzählen die Dynamik einer Handlung, weshalb literarische Utopien immer Momente von Friktionen oder Abweichungen mit sich führen und immer mehr sind als schwarze oder weiße Idylle, positive oder negative Utopie. 3 Selbst Orwells oder Huxleys viel zitierte sogenannte negative Utopien legen vom Friktionscharakter literarischer Utopien Zeugnis ab. 4 Über die mit dem Erzählen selbst verbundenen allgemeineren Struktureigentümlichkeiten hinaus ist es im Fall der utopischen Romane notwendig, kenntlich zu machen, dass hier innerhalb einer Fiktion von einer Utopie erzählt wird. 5 Das geschieht durch eine Rahmung der Erzählung, die verschiedene Modalitäten aufweisen kann, sei es, dass ein Erzähler einem anderen von seinem Besuch einer utopischen Gesellschaft berichtet und darüber Gespräche geführt werden wie im Fall von Thomas Morus’ Roman »Utopia«, der deshalb auch als erste literarische Utopie zu begreifen ist 6 ; sei es, dass ein Herausgeber gefundeFür das 18. Jahrhundert s. Christa Karpenstein-Eßbach, Musterstaat und menschliche Mechanik in Romanen der Aufklärung, in: Monika Fludernik, Ruth Nestvold (Hg), Das 18. Jahrhundert, Trier (Wissenschaftlicher Verlag) 1998, 181–198. 4 Siehe auch Stephan Meyer, Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung, Frankfurt (Peter Lang) 2001. 5 Siehe Dagmar Barnouw, Die versuchte Realität oder Von der Möglichkeit, glücklichere Welten zu denken, Meitingen (Corian) 1985; dort auch zur Differenzierung zwischen Utopie und Science Fiction in Hinsicht auf Erzählstrategien. 6 Willi Erzgräber, Thomas Morus: Utopia, in: Klaus L. Berghahn, Hans Ulrich Seeber 3

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ner Schriften für die Wahrhaftigkeit des utopischen Berichts bürgt; genauso sorgt die Nennung eines künftigen Datums oder Zeitalters dafür, die Utopie innerhalb der Fiktion als solche kenntlich zu machen. Solche paratextuellen Rahmungen garantieren, dass die Welt des Utopischen nicht als das Produkt einer mehr oder minder abwegigen Phantasie einer Figur, sondern als fiktive wirkliche Welt anzusehen ist. Insofern hat man es bei literarischen Utopien immer mit einer textinternen Doppelweltlichkeit zu tun, in der die erzählte Utopie durch Strategien paratextueller Rahmungen in eine bewusste Distanz gerückt werden kann. Ohne eine solche Kluft – die sich nicht zuletzt in einer gewissen Nähe der Utopie zur Satire zeigt – könnte der Leser die utopische Welt nicht mehr mit seiner bekannten in Beziehung setzen und würde sich in einer vollständig romanesken oder phantastischen Fiktion wiederfinden. Utopische Romane mögen all die Fragen behandeln, die auch für die politische Utopie inhaltlich tragend sind, aber ihre Formgestalt – verwiesen auf die Dynamik des Erzählens und auf die fiktionsinterne Doppelweltlichkeit durch Strategien der Rahmung des utopischen Entwurfs – provoziert immer auch ein Stück weit zur Selbstbefragung des utopischen Bewusstseins. 7 Deshalb können literarische Utopien auch die Programmatiken der politischen Entwürfe zum Gegenstand ihrer Fiktionen machen, kann der Leser das, was eine Zeit für ihre Utopie halten mag, im Spiegel der Literatur, vielleicht auch in allen Verkehrungen und Verzerrungen, erkennen. Die politische Utopie ist älteren Datums als die literarische. Bezogen auf ein Mögliches – »die Zeit ist reif« – hat sich ihr Potential allerdings gravierend verändert, weil sich die Kalkulationen mit dem Möglichen selbst verändert haben und der »Realismus« des Möglichen an Bedeutung gewinnt. 8 Spätestens seit Friedrich Engels den Weg von (Hg), Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein/Ts. (Athenäum) 1986, 25–43. 7 Zum Zusammenhang von Utopie und Utopiekritik siehe Wilhelm Voßkamp, Narrative Inszenierung von Bild und Gegenbild. Zur Poetik literarischer Utopien, in: Árpád Bernáth, Endre Hárs, Peter Plener (Hg), Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien, Tübingen (Francke) 2006, 215–226. 8 »Realistische Utopien«, die »Science und Fiction, Wissenschaft und Vorstellungskraft narrativ aufeinander beziehen«, fassen die Beiträge des von Rudolf Maresch und Florian Rötzer hgg. Bandes: Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts, Frankfurt (Suhrkamp) 2004 ins Auge.

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der Utopie zur Wissenschaft auszeichnete, konnte die politische Utopie in futurologische und prognostische Berechnung transformiert werden. 9 Das 20. Jahrhundert hat denn auch keine politischen Utopien mehr hervorgebracht, sondern zum einen die Kalkulationen des künftig Möglichen, und zum anderen statt politischer Utopien die Ideologien als Rechtfertigungsprogramme, die wirkliche Verhältnisse mit dem Schein einer Verwirklichung des Idealen ausstatten. Alle Diskussionen um den überhaupt noch möglichen Stellenwert der Utopie, wie sie nach 1989 aufflammten, betreffen die politische Utopie und deren schon seit längerem zu diagnostizierendes Auslaufen in wissenschaftliche Prognostik und legitimatorische Ideologie. 10 Am Ende des 20. Jahrhunderts haben wir es, wie Gereon Uerz in seiner von der jüdisch-christlichen Antike bis heute reichenden Untersuchung von Zukunftsvorstellungen gezeigt hat, mit einem »konstruktiv-prozessuralen Zukunftsdispositiv« zu tun, das der »vorneuzeitlichen Bedeutung von Zu-kunft im Sinne von ›adventus‹ diametral entgegen(steht)«, während sich die Vorstellungen machbarer Zukünfte durchaus »noch an den tradierten Vorstellungen kommenden Heils oder des drohenden Untergangs aussteuern«. 11 Wenn »die Zukunft auch nicht mehr das ist was sie einmal war« 12 , bilden die Vorstellungen von ihr auch nach dem Ausfall politischer Utopien ein gemeinschaftsstiftendes Potential, in dem eine Gegenwart ihre Zukunft reflektiert. Literarische Utopien können auf diese Transformationen von Zukunftsvorstellungen, wie sie sich insbesondere im Fall der politischen Utopie zeigen, noch immer eine Antwort finden, weshalb sich die literarische Utopie gerade angesichts der Problematik der politischen um so mehr ausdifferenziert. 13 Georges Minois, Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen, Düsseldorf, Zürich (Artemis und Winkler) 1998. 10 Über die Schwierigkeiten politischer Utopien im 20. Jahrhundert informiert Richard Saage, Utopische Profile, Band IV: Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts, Münster (LIT Verlag) 2003. 11 Gereon Uerz, ÜberMorgen, Zukunftsvorstellungen als Elemente der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit, München (Fink) 2006, 421. 12 Ebd. 13 Zum Spektrum literarischer Utopien im 20. Jahrhundert siehe Hans Esselborn (Hg), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg (Königshausen und Neumann) 2003. Einen materialreichen Streifzug durch die mit der Antike beginnende und bis zur Postmoderne reichende Geschichte der Utopien, hier verstanden im Sinne einer »Sehnsucht nach dem Anderen«, unternimmt Marvin Chlada, Der Wille zur Utopie, Aschaffenburg (Alibri) 2004. 9

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II. Als Beispiel für eine auffallende Kontur literarischer Utopie vor 1989 ist der 1983 erschienene Roman »Julius oder Der schwarze Sommer« von Udo Rabsch heranzuziehen. Der Titel spielt auf Hans Magnus Enzensbergers »Der kurze Sommer der Anarchie« an 14 , genau jenen Roman, der mit seiner Referenz auf den Spanischen Bürgerkrieg die Reflexion auf die politische Gestalt eines möglichen utopischen Denkens und den Konterpart der Ideologie verbunden hatte. Der Roman von Rabsch hingegen erzählt von der apokalyptischen Vision eines Atomschlags auf Stuttgart, mit dessen Ereignis der Text einsetzt. Der erste Satz lautet: »Julius spürte ein leises, gurgelndes Geräusch. Es kam aus seiner Brust.« Dieses innere Gefühl des ersten Moments wird sogleich im Äußeren präzisiert: »Im zweiten Moment lag er schon platt unter verkohlten Ästen, wovon die kleineren noch in der Luft waren und auf ihn zustürzend zerplatzten.« 15 Das strukturelle Problem der Vorstellung eines durch Handlungen nicht mehr zu überschreitenden Endzustandes, mit dem Utopien konfrontiert sind, wird mit der atomaren Katastrophe auf die Spitze getrieben. Der Roman löst es dadurch, dass die Erzählungen von Julius’ Wegen durch diese atomare Anarchie und Todeserfahrung von kursiv gesetzten Einschüben unterbrochen sind, in denen ein Ich-Erzähler von Situationen des Schreibens an diesem Roman berichtet, also seine Vision des Künftigen als wirkliche Fiktion kenntlich macht. Es handele sich, heisst es an einer Stelle des Romans, »um eine ganz normale Kriegsberichterstattung«. 16 Aber im Unterschied zu den Kriegsromanen nach den beiden Weltkriegen wird hier ein Krieg der Zukunft als eine Erfahrung des Akuten im Jetzt imaginiert. 17 Der Protagonist erscheint geradezu als Träger einer Phantasie, der »den Weltuntergang herbeigewünscht (hatte)« und dessen »Privatlektüre über den Weltuntergang (…) ein ganzes Ikearegal (füllte)«. 18 Diese Zu14 Udo Rabsch, Julius oder Der schwarze Sommer, Tübingen (Konkursbuch) 1983. Der Protagonist wird als »der erste Einwohner der Anarchie« bezeichnet (167). 15 Ebd., 9. 16 Ebd., 66. 17 Siehe Christa Karpenstein-Eßbach, Medien – Wörterwelten – Lebenszusammenhang. Prosa der Bundesrepublik Deutschland 1975–1990 in literatursoziologischer, diskursanalytischer und hermeneutischer Sicht, München (Fink) 1995, 141–164. 18 Udo Rabsch, Julius oder Der schwarze Sommer, a. a. O., 180 f.

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kunftsvorstellungen gewinnen ihre volle irdische Realität, Erwartung erfüllt sich in Erfahrung, aber diese bringt nichts Neues mehr hervor. »Die Geschichte eines Helden, daß ich nicht lache, überflüssig wie ein Kropf«, notiert der Erzähler als Kommentar zu seinem Roman. 19 Julius, aus bloßem Zufall ein Überlebender des Atomschlags, der sich dessen schämt, es zu sein, erlebt das verzweifelte Kämpfen und Sterben anderer Überlebender als Helfer eines Arztes, bis ihm am Ende des Sommers die Flucht an den Bodensee gelingt, wo er voller Erstaunen rote Äpfel erblickt. Über 250 Seiten wird der Leser damit konfrontiert, wie die politischen Atomkriegspläne mit ihren kollektiven Zukunftsvorstellungen, die auch dieser Julius, ein künftiger Pfarrer, geteilt hatte, vollständig verwirklicht werden und sich in der literarischen Fiktion des Unmöglichen herausstellen kann, dass »jetzt der Deckmantel weggenommen war, die Fassade des angeblich Normalen, die alltägliche Beschwichtigung, das Funktionieren, die unverletzte äußere Form«. 20 Aber »eine enorme Neuigkeit« bedeutet diese »Kriegsberichterstattung« nicht. 21 Im selben Jahr wie Rabschs Roman erscheinen von Matthias Horx »Glückliche Reise« und von Gerhard Zwerenz »Der Bunker«, weitere Beispiel für literarische Utopien vor 1989, die die atomare Katastrophe zu ihrem Thema machen. Dies gilt auch für Günter Grass’ Roman »Die Rättin« von 1986, der allerdings im Unterschied zu den terrestrischen Perspektiven jener Romane einen extra-terrestrischen Blick einnimmt und damit in die Dimensionen des Phantastischen hineinführt. In den 1980er Jahren dominiert die Erzählung vom atomaren Krieg in den literarischen Utopien, deren Zeitindex die Nachrüstungsdebatten von 1983 und die Ost-West-Konfrontation sind. Hier entfaltet sich ein breiter Diskurs von Katastrophenliteratur, der das Rowohlt-LiteraturMagazin schließlich nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl im Mai Ebd., 18. Ebd., 66. 21 Ebd. Zur Katastrophenliteratur der 80er Jahre siehe auch: Volker Hage, Zur deutschen Literatur 1983, in: ders. (Hg), Deutsche Literatur 1983. Ein Jahresüberblick, Stuttgart (Reclam) 1994, 5–26; Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988; Dietmar Kamper, Die kupierte Apokalypse. Eschatologie und Posthistoire, in: Ästhetik und Kommunikation 60/1985, 83–90. Dass die Katastrophenliteratur der 80er Jahre auch ältere literarische Traditionen belehnt, zeigt Joanna Jablkowska, Die Tradition von Schauerliteratur in den apokalyptischen Visionen der Nachkriegszeit, in: Hans Esselborn (Hg), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, a. a. O., 107–117. 19 20

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1986 22 im Dezember desselben Jahres etwas verspätet zu der Frage an die Schriftsteller veranlasste, ob denn die drohende »Vernichtung der Nachwelt« und der auch schon damals ausgerufene »Verlust der Utopie« Auswirkungen auf deren Schreiben habe. 23 Mit 1989 ist der utopische Roman des drohenden atomaren Todes offensichtlich verschwunden, und dies, obwohl die Anzahl der atomar bewaffneten Länder keineswegs zurückgegangen ist. In einer soziologischen Perspektive wird man daraus den Schluss ziehen dürfen, dass die Zukunftsvorstellungen, die eine Gesellschaft von sich hat, nicht nur mit Projektionen, sondern auch mit spezifischen Vergessensleistungen einhergehen. Die Beispiele für eine signifikante Kontur literarischer Utopie nach 1989 betreffen zwar auch die Ost-West-Konstellation, aber auf vollständig andere Weise. Hier wird eine Alternative zur wirklichen Geschichte erzählt, indem auf ein Datum der Vergangenheit rekurriert wird, von dem aus die Zukunft eine andere Gestalt annimmt, als sie der zeitgenössische Leser kennt, wird eine andere als die historisch realisierte Umwälzung als ein Testfall auf eine mögliche andere Geschichte imaginiert. Zwei Romane – Thorsten Beckers »Schönes Deutschland« von 1996 und Christian v. Ditfurths »Die Mauer steht am Rhein« von 1999 – entwerfen eine deutsche Wiedervereinigung unter der Regie der DDR bzw. der Sowjetunion. 24 In Ditfurths wenig anspruchsvollem Roman ist die Mauer am Rhein das Ergebnis einer den drohenden Atomkrieg verhindernden Übergabe Deutschlands an die Sowjetunion, und zwar ohne die Verwirklichung irgendeiner sich sozialistisch verstehenden utopischen Dimension. In Beckers Roman, dessen Erzähler im Jahre 2048 lebt 25 , stellen sich BRD und DDR als Konstruktionen einer fiktiven Geschichtsschreibung heraus, die das Niemandsland zwischen beiden Welten endgültig kassiert hat. Beide Romane referieren auf die Aktualität eben dieser jüngsten politischen Geschichte, die sich vermutlich auch im Kampf auf dem literarischen Markt durchaus nut22 Christa Wolfs Roman »Störfall« von 1987 gehorcht denn auch ganz der Nachträglichkeit des Erzählens. 23 Rowohlt LiteraturMagazin 19: Warum sie schreiben wie sie schreiben, Reinbek (Rowohlt) 1987, 16 f. 24 Siehe Elisabeth Rothmund, Teilung und Wiedervereinigung im Spektrum der Fiktion. Beckers Schönes Deutschland und von Ditfurths Die Mauer steht am Rhein, in: Hans Esselborn (Hg), Utopie, Antiutopie und Science Fiction, a. a. O., 179–189. 25 Was genau 200 Jahre nach einer anderen Revolution datiert.

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zen lassen kann. Dass die literarische Utopie nach 1989 aber über das Thema der deutschen Vereinigung hinaus eine besondere Kontur angesichts der Frage gewinnt, ob aus der Imagination einer anderen politischen Geschichte utopisches Potential zu gewinnen ist, möchte ich an Christian Krachts Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« von 2008 erläutern. Der Erzähler, ein aus Afrika stammender Parteikommissär, befindet sich im Jahr 2010 in der Schweiz. 1914 hatte Lenin nicht den Zug nach Russland bestiegen, sondern die Schweizer Sowjetrepublik gegründet. In Europa herrscht seit 96 Jahren ein mit Hilfe großer afrikanischer Armeen geführter Krieg zwischen Kommunisten und Faschisten, und die Parole heißt: »Es lebe der Krieg.« 26 Im Jahr 2010 droht das, was keiner mehr kennt: der Frieden. Der Roman beginnt mit dem Satz: »Es war die erste Nacht ohne das ferne Artilleriefeuer, es war die ganze Nacht still.« 27 In dieser Kriegsdämmerung – der Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten – wo, wie es heißt, das »Politische (…) das Militärische erst am Abend (tangiert)« 28 , begibt sich der Ich-Erzähler auf den Weg durch eine unter Eis erstarrte Schweiz in das Innere der zu riesigen unterirdischen Festungsanlagen ausgebauten Berge. Hier, wo Bücher als Speichermedien der Geschichtsschreibung unbekannt sind, die neue Sprache »nur projizieren, nicht empfangen (kann)«, entdeckt der Erzähler anhand malerischer Darstellungen auf Fresken mit amorphen Figuren und konzentrischen Kreisen und »einer sonderbaren Gleichzeitigkeit der Darstellung«, dass die Geschichte als »lineare Abfolge von Ereignissen, Schlachten, Aufmärschen, Paraden« dort oben oder unten im anderen Zauberberg »ins Stocken« gekommen ist. 29 Der Kommissär kehrt nach Afrika zurück, dessen als Gegengabe für die Lieferung von Kriegern erbaute urbane Zentren von den Menschen verlassen werden, um in die Ebenen zu verschwinden. Erzählt wird in einem Duktus der Kälte, der auch jede psychologische Transparenz der wenigen Figuren unmöglich macht. Die hier erzählte Alternative zur wirklichen Geschichte ist keine bessere Geschichte, der Gedanke von der besten aller möglichen WelChristian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Köln (Kiepenheuer und Witsch) 2008. 27 Ebd., 11. 28 Ebd., 33. 29 Ebd., 136, 122 f. 26

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ten so wenig tragend wie der eines neuen Telos der Geschichte. Literarische Utopien, die die Umschreibung der Geschichte imaginieren, legen bloß, dass die Reklamation der Geschichte am Ende des 20. Jahrhunderts nur in der Verbindung mit kriegerischer Konfrontation denkbar gewesen sein wird. Man kann dies als literarisches Pendant zu Eric Hobsbawms Beschreibung des 20. Jahrhunderts als »Zeitalter der Extreme« 30 lesen, in dem die Kriege nicht aufhören. Man kann dies aber auch als literarischen Abweis einer politischen Historiographie begreifen, die nicht anders kann, als vom Krieg zu schreiben. Gekontert wird mit einer Fiktionalisierung politischer Geschichte, deren Antagonismen sich ihrerseits als Phantasmen erweisen. »Es ist alles nur Propaganda (…) ein leeres Ritual«, heißt es in Krachts Roman 31 , und in Beckers Roman geht es um die Korrektur jener »romantischen Geschichtsbücher«, die »aus lauter tollen Erfindungen und Phantastereien zusammengesetzt« sind. 32 Wollte man die Konturen von Utopien in der Literatur noch ein Stück weiter ausziehen, so zeichnet sich ab, dass die Frage nach einer möglichen anderen politischen Geschichte in Vorstellungen von der Machbarkeit der Naturgeschichte ausläuft. In Dietmar Daths Roman »Die Abschaffung der Arten« von 2010 – der zweifellos auch als literarischer Kommentar zum Darwin-Jahr zu lesen ist – handelt es sich um terrestrische und extra-terrestrische Entwürfe für eine »biotische Beschaffenheit der Befreiung«, die »aus der Evolution das schlechthin Willentliche machen«. 33 Das ist ein »experimentum crucis«, bei dem Begriffe wie Emergenz, Selbstorganisation, Synergetik oder Entropie »wichtiger für den weiteren Geschichtsverlauf (waren) als alles im engeren Sinne politische Vokabular«, weil sie erlauben, »Transzendenz in Permanenz« zu überführen. 34 Die Abschaffung der Arten wird dann möglich, wenn deren Attribute akzidentiell geworden sind, weil das Gefüge der Fortpflanzung von der Eigenheit der Arten entkoppelt wird. 35 Was in nicht-literarischen Texten als verlängerte Prognostik bio-technologischer Machbarkeiten von Naturgeschichte anvisiert 30 Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München, Wien (Hanser) 1995. 31 Ebd., 127. 32 Thorsten Becker, Schönes Deutschland, Berlin (Volk und Welt) 1996, 12, 19. 33 Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten, Frankfurt (Suhrkamp) 2010, 205, 117. 34 Ebd., 405, 227 f. 35 Ebd., 444 f.

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wird 36 , nimmt im Falle von Daths Roman allerdings die Form einer Groteske mit tierisch-maschinellen Hybridwesen an. Angesichts der hier vorgestellten Beispiele ist es sinnvoll, einen Begriff von Utopie zu distanzieren, der das utopische Denken als solches ins Zentrum rückt. Insbesondere bei Ernst Bloch handelt es sich dabei um ein persistierendes Prinzip, das überall, sei es in politischen Theorien, Träumen, Märchen, literarischen Werken oder den Lebensgeschichten von Menschen anzutreffen ist. Die Unterschiede der Formen wie thematischen Problemzonen utopischer Diskurse treten demgegenüber zurück. Dies gilt auch für die Insertion des Utopischen in die Kunst und ästhetische Theorie als deren Charakteristikum schlechthin. 37 Mit der Abgrenzung zwischen politischen und literarischen Utopien lassen sich diese Unterschiede hingegen präzisieren. Im Unterschied zu den Programmatiken politischer Utopien eröffnen literarische Utopien qua Form die Möglichkeit, mit dem Fiktionscharakter der erzählten Utopie ebenso spielerisch wie reflexiv umzugehen. Utopische Romane sind deshalb immer auch Spiegel, in denen Lesern die kurrenten Zukunftsvorstellungen ihrer eigenen Gegenwart vorgehalten werden – sei es, dass dieses Reich des Imaginären den Charakter wünschbarer oder perverser Zukunftsvorstellungen hat.

Siehe Charles Lumsden, Das Posthumane Zeitalter: Das Spiel der Werkzeuge und das genomische Vergessen einer utopischen Spezies, in: Rudolf Maresch, Florian Rötzer (Hg), Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts, Frankfurt (Suhrkamp) 2004, 132–155. 37 Siehe beispielhaft Hermann Wiegmann, Utopie als Kategorie der Ästhetik. Zur Begriffsgeschichte der Ästhetik und Poetik, Stuttgart (Metzler) 1980. 36

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Bloch-Lektüre heute Johann Kreuzer

Bloch-Lektüre heute – das hat einen doppelten Sinn. Zum einen scheint eine Mischung aus Konformismus und sich perfektionierender Sozialtechnokratie zum Signum des gegenwärtigen Bewusstseinsstandes geworden zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es nötig, sich mit jenen Denkmotiven auseinanderzusetzen, die Bloch in spezifischer Weise artikuliert hat. Zum anderen lohnt es sich, auf sein Werk zurückzukommen: ohne die Denkmotive, die hier zur Sprache finden, werden sich die Fragen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts anstehen, nicht in angemessener Weise stellen, geschweige denn in hinreichender Weise beantworten lassen. Bloch zu lesen ist in diesem Sinn (wieder) an der Zeit. 1 Das soll im Folgenden in fünf Schritten erläutert werden. Daran schließen sich (in Teil 6) zwei Textbeispiele Blochs sowie eine Schlussbemerkung an.

1 Keine Gegenwart kommt ohne die Reflexion darauf aus, was in ihr jeweils an Würde und Glück – an gelingendem Zusammenleben – noch nicht realisiert ist oder an bereits Realisiertem in ihr wieder verloren wurde. Gesellschaftliche Selbstverständigung bedarf, anders gesagt, der antizipatorischen Fähigkeit findenden Wahrnehmens, in dem sich der Geist der Utopie zeigt. Sie bedarf zugleich des Bewusstseins der Misslingens- wie Verlusterfahrungen, von denen eine jede Gegenwart Dass es an der Zeit ist, Bloch zu lesen, ist sowohl Anlass wie editorischer Sinn der beiden Auswahlbände zu »Grundfragen der Philosophie« und »Zur Gesellschaft und Kultur«, vgl.: Ernst Bloch, Grundfragen der Philosophie, Ausgew. Schriften Bd. 1, hg. v. J. Kreuzer, Berlin 2010; Ernst Bloch, Zur Gesellschaft und Kultur, Ausgew. Schriften Bd. 2, hg. v. J. Kreuzer / U. Ruschig, Berlin 2010.

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zeugt. Bisweilen – gerade angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – besteht der »Geist der Utopie« vielleicht in entscheidender Weise darin, dass man sich das X der Enttäuschung(en) des Erhofften nicht für das U seiner Erfüllung vormachen lässt. »Hoffnung«: die Verbindung von Zeitkritik und Denkwende im Begriff der Utopie besteht – gewiss nicht nur, aber auch nicht zuletzt – in einem Lernen, sich Enttäuschungen bewusst zu machen, bewusst zu halten und als solche zu artikulieren. Hoffnung »(…) ist keine Zuversicht«. Ihr Sinn besteht weder, noch gar erfüllt er sich in kompensatorischem Trost. Zur »Ehre der Hoffnung« gehört »die Enttäuschung«, die »ihren ebenso existentiellen wie essentiellen Anspruch« zeigt. Deshalb verlangt, was »Hoffnung der Zukunft« heißt, »ein Studium, das die Not nicht vergißt und den Exodus erst recht nicht«. 2 Von Blochs Denken und seinem Werk gehen Denkimpulse aus, auf die zurückzugehen oder die zu reaktivieren es gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts an der Zeit ist. Wozu lassen sich diese Denkimpulse heute gebrauchen? Es gibt zur Frage dieses Gebrauchens eine schöne Notiz von Brecht. Zur »Befragung der Werkzeuge und Befragung der Gedanken« notiert er im »Me-ti«: »Wenn man Bronze- oder Eisenstücke im Schutt findet, fragt man: Was waren das in alter Zeit für Werkzeuge? Wozu dienten sie? Aus den Waffen schließt man auf Kämpfe; aus den Verzierungen auf den Handel. Man ersieht Verlegenheiten und Möglichkeiten aller Art. – warum macht man es mit den Gedanken aus alten Zeiten nicht auch so?« 3 Nicht nur in pragmatistischer Hinsicht dürfte die Frage, wozu Gedanken gut sind, legitim sein. Und nicht für »Gedanken aus alter Zeit« ist sie angezeigt, sondern auch für solche aus der nahen Gegenwart. Wozu brauchen wir jene Denkmotive, für die Bloch steht? – brauchen wir sie? Um diese Frage geht es beim Titel »Bloch-Lektüre heute«. »Brauchen« bedeutet ja nicht nur gebrauchen im Sinn von benutzen, sondern auch die Notwendigkeit eines Verwiesenseins. Nach der Brauchbarkeit von Denkmotiven zu fragen hat deshalb nichts mit jener Nützlichkeit zu tun, die schon einer von Blochs wichtigsten philosophischen Gewährsmännern – Hegel – mitten in der sich gegen die vorE. Bloch, Kann Hoffnung enttäuscht werden?, in: Literarische Aufsätze, Gesamtausgabe Bd. 9, Frankfurt/M. 1965, 387/88, 391/92. 3 Vgl. B. Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen, Werke in 20 Bden., Prosa 5, Frankfurt/ M. 1965, 175. 2

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rationalen Ordnungen des Ancien régime durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft kritisiert hat. Die Rationalität, das Kalkül der Interessen ist dabei zum Gradmesser der Ordnungen des Zusammenlebens geworden. Ein Geist, der sich über seine Interessen Aufklärung verschafft, weiß um seine Nützlichkeit: »Wie dem Menschen alles nützlich ist, so ist er es ebenfalls, und seine Bestimmung ebensosehr, sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen. So viel er für sich sorgt, gerade so viel muß er auch hergeben für die Andern, und so viel er sich hergibt, so viel sorgt er für sich selbst, eine Hand wäscht die andere. Wo er aber sich befindet, ist er recht daran, er nützt anderen und wird genützt.« 4 Was Hegel hier als die Verkehrung des kategorischen Imperativs in die faktisch geschehende Gegebenheit eines »Behandle den anderen wie dich selbst nie nur als Zweck, sondern immer und zuallererst als Mittel« beschreibt, ist eine diagnostische Feststellung, keine programmatische Forderung. Ihre Hellsichtigkeit ist zudem durch die folgenden Entwicklungen nicht nur bestätigt, sondern exponentiell überboten worden. Was kann man dieser Reduktion auf wechselseitige Nützlichkeit, in der jeder sich in vorauseilendem Gehorsam zu etwas Nützlichem macht – Unternehme dich selbst! ist zum neoliberalen Leitideologem des herrschenden Zeitgeistes geworden –, was kann man der mentalen Selbsteinverleibung in die Regelkreise von Input und Output – in dem Wissen zur Ware in einer Wissensdienstleistungsgesellschaft gemacht wird und sich dabei zum Dienstleistungswissen, zum funktional ausdifferenzierten Tauschwert seiner selbst »optimiert« – die Liste der Gedankenstriche ließe sich beliebig fortsetzen –: was lässt sich dem entgegensetzen? 5 Die Beantwortung dieser Frage hat mit dem Thema »Bloch-Lektüre heute« zu tun. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, neu hrsg. v. H.-F. Wessels u. H. Clairmont, Hamburg 1988, 371. 5 Es wäre wider den Geist eines Denkens, das sich wie dasjenige Blochs nicht zuletzt auf Einsichten von Marx beruft, wenn man die mit den technischen und insbesondere informationstechnologischen Innovationen der zurückliegenden Dezennien rasant zugenommen habende Instrumentalisierung der Vernunft bloß beklagen würde. Diese Instrumentalisierung in der ersten, zweiten und gerade auch in den Schwellenländern der (bedient man sich der Kartographie imperialistischer Zeiten) Dritten Welt ist ein ökonomisches Faktum. Damit ist freilich auch die Frage nach der Instrumentalisierbarkeit dessen, was Vernunft heißt, zu einer materiellen Produktivkraft geworden. Auf diese (hier passt das Wort) »Dialektik« der (Selbst)Instrumentalisierung von Vernunft haben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung hingewiesen. Danach hat ins4

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2 Seit den beiden letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts sahen sich Selbstverständnis wie Anspruch philosophischer Reflexion dem »Ende der großen Erzählungen« gegenüber. Das hat natürlich mit dem Ende des realen Sozialismus zu tun. Mit ihm schien die Logik des Marktes konkurrenzlos geworden zu sein. Sowohl nach außen – da war kein konkurrierendes Gesellschaftssystem mehr. Aber auch – und vielleicht mehr noch – nach innen: dem Gesetz des Marktes wurden zunehmend alle Bereiche des Zusammenlebens unterworfen. Damit war nicht mehr der denkerische Ausgriff übers real Gegebene hinaus, sondern allein noch das perfektionierte wie sich perfektionierende Funktionieren in ihm und in den Regelkreisen faktischer Herrschaftsformen gefragt. Der Preis des damit verbundenen Verzichts ist die Selbstinstrumentalisierung der Vernunft. Ihr entsprechen die naturalistischen Reduktionsprogramme, die den Weg in den Positivismus, der im 19. Jahrhundert auf die hohe Zeit der Spekulation folgte – und Hegel schnell zu einem »toten Hund« hat werden lassen, wie Marx, wiewohl er an dieser Entwicklung nicht ganz unbeteiligt war, im Nachwort zur 2. Auflage des Kapitals beklagt. Freilich muss man auch zitieren, wie das beim jungen Marx (in der Deutschen Ideologie) geklungen hat: »Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung […] des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen. Die Phrasen von Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten.« 6 Deutlich wird, dass die Wendung zu den »Facts« der positiven Wissenschaften, die den Eingang in selbstverschuldete Unmündigkeit bedeutet, wenn sie zum präskriptiven Methodenparadigma verallgemeinert wird, nicht besondere M. Foucault den mit dieser ihrer ökonomischen Faktizität ins Schwanken geratenen Boden des Glaubens der Vernunft an sich und ihre vermeintliche Eigenmächtigkeit zum Gegenstand gemacht. Das Spiegelbild der auf der Internalisierung von Zwängen beruhenden Selbstfunktionalisierung von Vernunft ist ihre Ausbeutbarkeit für irrationale Setzungen. Bloch hat das als Erbschaft dieser Zeit – nicht nur im gleichnamigen Buch – sehr früh registriert. Die Kritik an der Instrumentalisierbarkeit von Vernunft mit den Perspektiven Blochs zu verbinden, könnte sich als fruchtbar erweisen: die Kritik dessen, was ist, gilt es mit der Erinnerung dessen, was noch nicht ist, zu verbinden. Diese Erinnerung unterscheidet die »Kritik dessen, was ist« von bloßer Sozialtechnologie und vermag sie (vielleicht) zum Tanzen zu bringen. 6 K. Marx/ F. Engels, Deutsche Ideologie, Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 27.

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neu ist, sondern zur Signatur des 19. Jahrhunderts gehört. Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert hat sie eine Ausprägung erhalten, die Marx’ Wort von der »Naturalisierung des Menschen« eine Zielrichtung verliehen hat, die sie bei ihm schwerlich gehabt haben dürfte. Der Eingang in die selbstverschuldete Unmündigkeit positivistischer Reduktionismen, die Wissenschaft zum Dienstleister solcher »Revolutionen« macht, die sich in der Produktion jeweiliger benchmarks und deren rationaler Evaluation bemessen, geht mit dem vermeintlichen Triumph jener Urteilsmaßstäbe einher, die das Gelingen gesellschaftlichen Zusammenlebens wie gesellschaftlicher Selbstverständigung dem Kriterium der Verwertbarkeit als dem einzigen, was »zählt«, unterwerfen. Nicht der Gebrauchswert, allein der Tauschwert von Selbstverständigung mutiert zur gesellschaftlichen Norm – und lässt Selbstverständigung zu jener Nützlichkeit erodieren, der sich alles zu unterwerfen habe und in der Internalisierung des Nützlichkeitszwanges (etwa in Gestalt des Relevanzgebotes) selbst unterwirft. Hat Hegel die Unterwerfung unters Maß der Nützlichkeit bereits seiner Zeit attestiert, so hat diese Internalisierung in den zurückliegenden zweihundert Jahren exorbitante Fortschritte gemacht: Als Status quo des Bewusstseins erscheint jenes »Unternehme dich selbst«, für das auch und gerade die Selbstreflexion faktischer Lebenszusammenhänge Bedeutung allein im Hinblick auf einen zu messenden Output hat. Die ökonomische Rationalität der Effizienz und Geschlossenheit von Regelkreissystemen ist damit zur Logik kultureller Selbstverständigung geworden. Dass heutzutage die Selbstreflexion kultureller Erfahrung und insbesondere auch die Gegenwarts-Philosophie sich den Blick über den Tellerrand des Vorfindlichen versagt, wird nicht dadurch weniger bedenklich, dass in diesem Unvermögen der Positivismus des wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhunderts wiederkehrt.

3 Die Eigensinnigkeit kultureller Erfahrung ist nun aber kein Emergenzphänomen. Dass sie kein Emergenzphänomen ist, stellt eine Einsicht bereits der Epochenschwelle von 1800 und erneut und verschärfter noch der Epochenschwelle dar, die das 20. Jahrhundert einleitet und zu dessen Formationsphase Werk wie Denken Blochs gehören. Dass die Eigensinnigkeit kultureller Erfahrung mehr bedeutet als nur eine akzi187 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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dentelle Zutat des Selbstverhältnisses von Natur, das sich als Geschichte zeigt, dass die Humanisierung der Natur vielmehr jederzeit vom Rückfall bedroht ist, hätte man gerade an und aus den Katastrophen lernen können bzw. lernen sollen, die im 20. Jahrhundert die Probe auf die vorangegangenen Entwicklungen machten. Der Prozess der Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Natur, in dessen Feedbackschleifen kulturelle Erfahrung besteht, bedeutet keinen linearen Automatismus, in dem es – gestützt auf die Dienstleistungen positivierbaren Wissens – »alle Tage besser« wird und in dem es nur Sieger gäbe. Die Tradition des Unterdrückten, Verdrängten, des Unabgegoltenen, der Versagungen gehört hier genauso dazu bzw. hinein wie das nicht positivierbare Gelingen, das man Glück nennt. Erst aus beidem besteht und bildet sich »kulturelle« Tradition. Die Perspektive, zu der sich Bloch bekannt – oder vielleicht besser: die er stärker akzentuiert – hat, eingedenk, dass diese Akzentuierung eine Setzung bedeutet, ist die eines »Ins-Gelingen-Verliebtseins«. Es ist eine Perspektive, die der Maxime, aus Schaden klug zu werden, folgt oder zu beherzigen versucht – eine Perspektive, die in Märchen wie in Träumen in dem Wunsch gegenwärtig ist, es möge gut ausgehen. Dieses Bedürfnis hat nichts mit Verdrängung oder Besänftigung zu tun. Der Wunsch, es möge gut ausgehen, versteht sich vielmehr als ein Trotzdem. Ins Gelingen verliebt: das ist eine Haltung wie eine Wirklichkeitslogik, in die schon ein Satz von Heraklit weist: »Wer Unerhofftes (me¯ elpe¯tai) nicht erhofft, kann es nicht finden: unaufspürbar ist es und unzugänglich (aporon)«, heißt es bei ihm. 7 Es ist ein reduktives Wirklichkeitsverständnis, das eine jeweilige Gegenwart zur bloßen Fortsetzung eines statisch vorgegebenen (abgeschlossenen) Vergangenen macht und damit in ein ontologisches Abhängigkeitsverhältnis zu einem gewesenen Ursprung setzt. Das Bild für diese reduktionistische Ursprungslogik ist das vom geschlossenen Kreis, in dem alles durch das Gewesene determiniert ist – als Urbild dieser Vorstellung erscheint das Phantasma einer »ursprünglichen ersten Natur«, auf die alles zurückzuführen wäre. Schon Heraklit hat diesem wie einem jeden reduktionistischen Naturalismus jene Logik entgegengesetzt, der Wahrnehmen kein »Zurückführen-auf«, sondern ein erklärendes »Auf-etwas-Kommen« bedeutet. Ihr ist die Erfahrungswirklichkeit kein fertiges Datum, kein abgeschlossenes Resultat. Was Wirklichkeit heißt, stellt sich viel7

Vgl. Heraklit, B 18 (Diels-Kranz).

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mehr als ein in die Zukunft hinein offener Prozess dar, in dem und als der sich das Wissen der Immanenz dessen, was ist, mit einem als Erfahrung zu begreifenden Transzendieren als Bestimmung des Handelns jeweils von neuem erweist. Ein Denken hingegen, das zugunsten des bestimmbaren Faktums das erhoffte Datum vergisst, verharrt mit Heraklit gesprochen in der Natur des Aporetischen. Soll Hoffnung hier als auswegfinderische Wirklichkeitskunde fungieren, dann tut sie dies nicht als Gegenstand, sondern als Haltung. Diese Haltung muss, um sich als Hoffnung zu wissen, erkennend realisieren, dass Hoffnung gerade das Wissen einschließt, dass das Erhoffte »noch nicht« ist. In diesem regulativen Sinn wird Heraklits (und nicht nur seine) elpffl@ zur praxisfordernden und praxisförderlichen docta spes. Als Regulativ bedeutet sie ein Festhalten an jenen Versprechen, deren Erfüllung von Kindheit an – mit dem Glück des ersten Geschenks, mit der Erfahrung, was Gelingen heißt, auch wenn dies Gelingen nie auf Dauer gestellt ist, mit dem Wissen, dass die Trauer der Enttäuschung nicht nur Index solcher Enttäuschung, sondern auch Index von deren Gegenteil ist – unsere Erfahrung durchziehen und ihren Ausdruck im Symbolgewebe der Kultur finden. Bloch nennt sie Hoffnungszeichen, in denen sich der Geist der Utopie quer durch die Epochen auskristallisiert hat. Sie stellen Antworten, Lösungen und Ausgänge im Hinblick auf jene Aporien bereit, in denen ein Denken verharrt, dem eine zum Status quo fixierte Gegenwart und das Funktionieren in ihr alles ist. Das stählerne Gehäuse des Kapitalismus, gegen das Bloch (mit Max Weber und von ihm ausgehend) den »Geist der Utopie« setzte, hat sich zum Regelkreis internalisierter Selbstverständigung transformiert – und Kultur wird zur notwendigen Hülle, in der das sozial- wie informationstechnologisch gehandhabt wird. An diesem Befund kann man sich nicht vorbeimogeln. Es bringt aber auch – diese idiomatische Wendung hat hier einen guten Sinn – nichts, die sozialtechnologische Entzauberung von Kultur bloß zu beklagen. Ihr gilt es vielmehr dadurch zu begegnen, dass man die ihr zugrunde liegenden Bewusstseinspraxen begreift. Das eine, was es hier zu begreifen gilt – sofern Philosophie sich nach Hegels Diktum jeweils als »die eigene in Gedanken gefaßte Zeit« begreifen soll –, ist der internalisierende Selbsteinschluss ins Gegebene. Das andere, was man hier mit Bloch lernen kann, ist der antizipierende Ausgriff über die Mechanismen solcher Internalisierung hinaus.

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4 Gerade das Begreifen, dass eine jeweils gegebene Wirklichkeit von der ihr zugrundeliegenden Möglichkeit – und damit das, was als Sein erscheint, vom Noch-nicht-Sein – her zu verstehen ist, leistet philosophische Aufklärungsarbeit. Das hat Bloch – im Anschluss an Aristoteles, im Anschluss insbesondere an die Epoche des Denkens zwischen Augustinus und Nikolaus von Kues – in die Sprache des 20. Jahrhunderts übersetzt und für Entdeckungen genutzt, an die man gerade heute erinnern sollte. Das Utopische ist nicht so zu denken, dass es auf die gegenwärtige Wirklichkeit folgt oder diese ergänzen würde – als etwas, was man zur Erfahrung und der Gegebenheit dieser Wirklichkeit in irgendeiner Form noch hinzuzuerfinden hätte. Eine solche Sicht des Utopischen – sie dürfte trotz der katalogischen Enzyklopädie des Geistes der Utopie, die Bloch mit seinem Werk dem entgegengesetzt hat, die geläufige sein – ist im Übrigen der Vorstellungswelt entlehnt, die sich an das Schema hält, dass der Reihe »Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft« auf der Seite einer Objektivität von Zeit auf der Bewusstseinsseite die Abfolge »Erinnerung-Aufmerksamkeit/Wahrnehmung-Erwartung« entspräche. Besinnt man sich nur ein wenig genauer darauf, wovon hier die Rede ist, dann merkt man schnell, wie irrig bzw. verkürzend diese Vorstellungssystematik ist. Denn die Vergangenheit vergeht nicht: was vergeht, ist Vergangenes (gegenwärtig ist auch nicht die Gegenwart, sondern Gegenwärtiges, usw.) – und wir erinnern, dass das, was eben noch als Zukünftiges erwartet wurde, nun schon durch den Augenblick der Gegenwärtigkeit hindurch zu etwas Vergangenem wurde, ebenso wie wir (zu) erinnern (vermögen), dass das gerade noch Zukünftige als das jetzt schon gegenwärtig Gewesene so erinnert werden wird, wie das jetzt als vergangen Erinnerte einmal als Gegenwärtiges erinnert worden ist. Was in der Zeit »ist« – das, worauf sich unsere Rede über Zeit qualitativ und nicht bloß im Hinblick auf eine messbare Quantifizierung bezieht –, erfahren wir nicht als Abfolge Vergangenes-Gegenwärtiges-Zukünftiges, so dass »das Utopische« sich auf eine vom gegebenen Wirklichen abgelöste Zukunftsdimension bezöge. Was wir zeitlich erfahren, hat vielmehr die Form, dass ein eben noch Zukünftiges ein jetzt schon Vergangenes geworden ist. 8 Dazwischen oder »inzwischen« 8

Zum Hintergrund dieser nur auf den ersten Blick dissoziativen Zeitlogik vgl. in erster

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ist jenes Gegenwärtige wie Gegenwärtigsein, nach dem Bloch mit dem »Dunkel des gelebten Augenblicks« gefragt und zugleich auf die Agenda philosophischer Reflexion gesetzt hat. Dazu sei eine kleine Zwischenüberlegung erlaubt. Was »Utopie« heißt, kommt der Erfahrung von Wirklichkeit nicht noch hinzu. Es gehört ihr vielmehr in integraler Weise an. Dies lässt sich zeitphilosophisch diskutieren – dem diente die kleine zeitphilosophische Exkursion eben: Bloch selbst hat hier Modelle für die Frage einer »elastischen Zeitstruktur vorgelegt bzw. angeregt. 9 Man kann die integrale Bedeutung des Utopischen in der und für die Erfahrung von Wirklichkeit aber auch kategoriallogisch diskutieren. Hier hat Bloch verschiedene Vorgaben formuliert – im »Prinzip Hoffnung« und am durchreflektiertesten vielleicht im »Experimentum mundi«. 10 Eine bündige Zusammenfassung schließlich stellt das Konzept der Ontologie des Noch-Nicht-Seins dar. 11 Mit dem Konzept einer Ontologie des Noch-Nicht-Seins rekurriert Bloch auf – vielleicht sollte man besser sagen: übersetzt er in die Sprache wie die philosophischen Anliegen des 20. Jahrhunderts – Motive und Themen aus der neuplatonischen Tradition, die bis zu Leibniz noch präsent waren und im Umkreis von Hegel und Schelling ab dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder präsent und für das 20. wie das 21. Jahrhundert zum anzueignenden Erbe eines weder reduktionistischen noch instrumentellen Naturverständnisses wurden. Insbesondere in der Epoche des Denkens zwischen Augustinus und Nikolaus v. Linie Buch XI von Augustinus’ Confessiones: nach wie vor der Referenztext für mögliche Antworten auf die Frage nach der (Erfahrung von) Zeit. Vgl. dazu auch J. Kreuzer, Pulchritudo – Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995, 105–222. 9 Vgl. z. B. »Die Frage nach einer ›elastischen‹ Zeitstruktur in der Geschichte« in den »Differenzierungen im Begriff Fortschritt«, in: Tübinger Einleitung in die Philosophie, GA Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, 129 ff., 10 Vgl. das Kapitel »Schichten der Kategorie Möglichkeit« im Prinzip Hoffnung und die Abschnitte 15–35 in Experimentum Mundi. 11 Das Konzept der Ontologie des Noch-Nicht-Seins hat Bloch 1960 im Vortrag »Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins« zusammengefasst. Zunächst erschien dieser Vortrag 1961 in der Broschur Philosophische Grundfragen I – Zur Ontologie des Noch-NichtSeins. Als »Logikum/ Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins« hat Bloch dann diese Separatpublikation in die Tübinger Einleitung in die Philosophie integriert (vgl. a. a. O., 210–300). Es ist geplant, Buch wie Konzept dieser Ontologie des Noch-Nicht-Seins im Rahmen der Studienbibliothek des Suhrkamp Verlags eigenständig in einer kommentierten Edition vorzulegen.

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Kues lässt sich viel für die Tiefengrammatik eines Verständnisses von Natur lernen, in dem diese als prozesshafte Erscheinung der Einheit von Transzendenz und Immanenz begriffen wird: als ein Prozess, dem Transzendenz nicht erst noch nachträglich oder von außen zukommt – dem vielmehr Transzendieren als seine innere Bestimmung eigen ist. So heißt es beispielsweise bei Johannes Scottus Eriugena – Bloch gehörte zu den wenigen, die Eriugena die diesem gemäße Beachtung gezollt haben 12 –, dass Natur als Wirkung zu denken ist von etwas, das gerade deshalb ihrem Werden immanent ist, weil es als der Grund des Werdens, als das »überall Ursächliche«, alles Gewordene transzendiert, weil es »in allem alles wird, während es in sich selber (…) als von allem Abgesondertes besteht«. 13 Es ist ein- und dieselbe Natur, die zum einen als Transzendenz ihres Grundes und zum anderen in der Immanenz erscheinender Wirkungen betrachtet wird. Was Transzendenz heißt, entspricht einem Ursprung, dessen Wirklichkeit aus dem Noch-NichtSein auf uns zukommt und erst vom Wesen zukünftigen Gewordenseins her begriffen werden kann. Eben das hat Bloch in Gestalt der »unkonstruierbaren Frage«, mit dem »Nicht-Mehr-« wie »NochNicht-Bewußten« sowie dem »Dunkel des gelebten Augenblicks« der philosophischen Selbstreflexion kultureller Erfahrung in der Mitte des 20. Jahrhunderts wiedererschlossen. Die These, dass gesellschaftliche Selbstverständigung der antizipatorischen Fähigkeit findenden Wahrnehmens bedarf, ist im Begriff einer als Prozess (als »Schöpfung«) zu verstehenden Natur verankert. Geschichte wie Kultur sind keine abgeleiteten Derivate einer vorgegebenen Natur. Sie sind vielmehr die Formen, in denen erscheint, was wir mit »Natur« meinen, von der wir, wie Kant einmal notiert, noch nicht wissen, was sie ist. 14 Das findet sich bei Bloch in die Sprache des 20. Jahrhunderts übersetzt. Deshalb braucht es eine »Bloch-Lektüre heute«. Vgl. E. Bloch, Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte. Aus Leipziger Vorlesungen, GA Bd. 12, Frankfurt/M. 1977, 63–68. 13 Zum »ubique existentium causale« bei Eriugena vgl. Periphyseon (Über die Einteilung der Natur), Buch III, 682 D, hg. v. E. A. Jeauneau, Turnhout 1999, 91; zur Bestimmung, dass das schöpferische Wort »(…) et fit in omnibus omnia (…) et (…) ab omnibus segregatum subsistit« vgl. Periphys. III, 643 B, ebd., 37. – Zum Ganzen vgl. auch J. Kreuzer, Gestalten mittelalterlicher Philosophie, München 2000, 55–81. 14 »Die Natur bleibt«, heißt es in einer Nachlass-Reflexion: »aber wir wissen noch nicht, was Natur ist (…).« (Refl. 1524. S.I, Kant’s ges. Schriften, Akad. Ausg. XV.2, Berlin ND 1969, 896) 12

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5 Weshalb und wozu es eine solche Lektüre braucht, lässt sich mit einigen Fragen umschreiben: Was unterscheidet die Logik wie vor allem den Anspruch kultureller Selbstreflexion von den sozialtechnokratischen Hilfsmitteln, die in jeweiliger Kurzfristigkeit akuten »Krisen« angedient werden? Hat die Logik kultureller Selbstreflexion mit jenem Humanum zu tun, das den Bereich des geschichtlich Realisierten prinzipieller Kritik unterwirft? – ein Erfahrungsanspruch, der sich etwa in der Rede vom »Aufrechten Gang« tradiert. Wofür steht der Erfahrungsgehalt undomestizierter Transzendenz? Was fordert umgekehrt der Erfahrungsdruck unversöhnlichen Leids? Was hat es mit jenem Humanum auf sich, das noch in keiner Form organisierten Zusammenlebens realisiert war und ohne das keine organisierte Form vergesellschafteten Daseins möglich ist? Das spielt in die Fragen nach dem menschlichen Glück (etwa in Sozialutopien) wie der Menschenwürde (in den Naturrechtstheorien) hinein. Das findet sich bei Bloch ausbuchstabiert – das zu reaktivieren ist ein Gebot der Stunde. Hier verschränken sich im Übrigen »Grundfragen der Philosophie« mit »Fragen der Gesellschaft und Kultur«. 15 Und noch ein Punkt ist im Hinblick auf das Thema »Bloch-Lektüre heute« wichtig. Es ist sein Sensorium für die Implosionen der bürgerlichen Welt, die im 20. Jahrhundert – in Faschismus und Nationalsozialismus – dem Gegenteil »antizipierenden Bewusstseins« faktische Realität und grausame Geltung verschafft haben. Die Implosionen der Normen bürgerlicher Emanzipation und Aufklärung lassen einen »Hohlraum mit Funken« entstehen. Das »Licht«, das sich in und an diesem Vakantwerden entzündet, ist nicht immer vergnüglich. In faschistischen Bewegungen wurde und wird es brandgefährlich, im Nationalsozialismus ist es im buchstäblichen Sinn katastrophisch geworden. Keine Selbstreflexion kultureller Erfahrung kommt daran vorbei. Denn diese Katastrophen sind ein Produkt, kein »Betriebsunfall« kulturell-geschichtlicher Praxis. Bloch war einer der ersten, der nach der Tiefenstruktur wie der Genese jener Irrationalismen fragte, die hier (bis heute) greifen und die Massenwirksamkeit (den temporären »Erfolg«) faschistischer Bewegungen erklären helfen. Was er als Ungleichzeitigkeit und Pflicht zur Dialektik der Schichten der Realität an15

Vgl. die in Anm. 1 genannten Auswahlbände.

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spricht, gehört deshalb ins Stammbuch jeder Sozialphilosophie, die ihren Gegenstand ernstnimmt. 16 Und es betrifft eine der materialsten Schichten sich qualitativ verstehender soziologischer Theorie, will diese mehr sein als die methodisch reflektierte Kartographie der Techniken gesellschaftlicher Herrschaft und Steuerung.

6 »Ins Gelingen verliebt« – der Wunsch wie das Bedürfnis, es möge gut ausgehen: das ist kein Motto, das fordern würde, die Augen vor den Abgründen der Verhinderungs- und Destruktionspotentiale zu schließen, die in Formen alltäglicher Gewalt – und nicht nur da – offenkundig genug sind. Es ist die Erinnerung daran, dass keine Gegenwart ohne die Reflexion darüber auskommt, was in ihr jeweils an Würde und Glück – an gelingendem Zusammenleben – noch nicht realisiert oder an schon Realisiertem bereits wieder verloren wurde. Der Wunsch, es möge gut ausgehen, schärft den Sinn für die und zur Beurteilung des faktisch Gegebenen. Das mag an den beiden Textbeispielen deutlich werden, die am Ende dieser Überlegungen zur Frage der »Bloch-Lektüre heute« das dabei zu Lesende selbst zu Wort kommen lassen. Das eine Textbeispiel ist dem Kapitel »Incipit vita nuva« der Tübinger Einleitung in die Philosophie entnommen, das andere eine Sequenz aus dem Gespräch, das J. Rühle 1964 mit Bloch geführt hat: Phönix, Renovatio, Reformatio »Daß neues Leben möglich ist, dies war nie selbstverständlich. Am wenigsten in ruhenden Zeiten, in gebundenen Gesellschaften, wo alles zu sein und zu bleiben schien, wie eh und je. Doch auch dann floß dem Menschen die Zeit ab, das heißt, sie floß nach abwärts, sobald er die Mitte seines Lebens überschritten hatte. Als wenigstens organische Erneuerung findet sich darum der Effekt eines Jungbrunnens im Märchen. Auch im Bericht aus fernen Ländern: zahlreiche Fabeln dieser Art liefen über Indien, auch über Florida um. Bezeichnend war, im Zusammenhang mit der statischen Gesellschaft, daß die Wiedergeburt insgesamt nur durch Wunder oder Wunderdinge erwartet wurde. Und das eigentliche, das den ganzen Menschen verwandelnde Wasser des 16

Vgl. E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt/M. 1973, 104 ff., 387 ff. u. ä.

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Heils floß nicht aus natürlichen Brunnen, es sollte durch mysterische Taufen und Tinkturen gespendet werden. Hierdurch erschien erst die rechte Abspülung vom Schmutz der Sünde, von den Werken des Tods. Wobei weiterhin auch das Feuer, dies gründlichste Element der ›Läuterung‹, eine nicht erst durch den Parsismus vermittelte Bedeutung gewann. Als Allegorie der Wiedergeburt bot sich hier der morgenländische Phönix an, der sich selbst verbrennende und aus seiner Asche wieder auferstehende. Ein Lehrgedicht des Ovid (Metam. 15) zeigt, wie lebendig die Phönixsage, als eine der Wiedergeburt, später auch Renaissance genannt, im Zeitalter des Augustus geblieben und geworden war. Die Natur selber wird zur ›rerum novatrix‹, so erneuert sich in ihr Rom, so wurde der Phönix nachher, vor allem durch Albertus Magnus, der ihn aus dem Naturleben insgesamt in die mystische Theologie wirft, ein Sinnbild jeder Erneuerung – trotz der Selbstverbrennung und durch sie. Aber die dramatische, nicht nur allegorische Prozedur des Stirb und Werde geschah eben in den Mysterien, als den geglaubten Anstalten des Crescens zum Novum. (…) Bonus intra, melior exi, als guter Mensch tritt ein, als besserer gehe fort, lautet die Inschrift auf dem Mosaikboden eines afrikanischen Äskulaptempels: in den Mysterien regierte die Parole der vollkommenen Wiedergeburt im auferstandenen Gott – ego sum Osiris. Und das Christentum trug das Pathos: renovatio, reformatio weiter durch die Jahrhunderte (wenn auch inhaltlich gewiß nicht als Wiedergeburt = Rezeption der Antike). Ja, in der Bibel beginnt, von den Propheten herab, ein Verjüngungsstrom ganz eigener Art. Er hat sich bei Paulus streckenweise mit den Mysterien vereinigt, doch fast nur zum Schein, um nicht zu sagen, zur Propaganda. Das selber Neue im christlichen Mythos ist dieses, daß keine Auferstehungsgötter aus uralter Zeit nachgeahmt werden, sondern daß die Auferstehung und das Leben, als völliges Novum der Geschichte, jetzt erst entsprungen sein sollen. Erst der gestorben-lebendige Jesus öffnete seinen Gläubigen die Erneuerung des inneren Menschen, von Tag zu Tag (2. Kor. 4, 16), fundierte den Christen die Worte vom neuen Himmel und der neuen Erde (Jes. 26). Erst der vorher nie erschienene Stern, der den Magiern den Weg gezeigt hatte zu einem vordem noch nie gesehenen Ereignis, beleuchtete die Vision des Apokalyptikers vom neuen Jerusalem und das total umwälzende Wort seines Stadthaupts: Siehe, ich mache alles neu (Off. Joh. 21, 5). So kam schließlich nur durch die Bibel eine so öffentlich wie zentral entspringende Vorstellung des Incipit vita nova in die Welt, obzwar noch keineswegs sein 195 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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Begriff. (…) Das Incipit vita nova nahm so selber, fürs christliche Bewußtsein, in der Geschichte seinen datierten Anfang, sub Pontio Pilato. Um am Ende der Geschichte, wenn der Paraklet erschienen ist (Joh. 16, 7), die Renovatio dermaßen ganz zu beginnen, daß kein Stein auf dem anderen bleibt. Auf diese Weise veränderte sich auch der Begriff der Schöpfung zum Sinn einer zweiten Schöpfung, in re, nicht ante rem. Sie rückte, als Genesis des Rechten, bei den Evangelisten mitten in die Geschichte, beim Apokalyptiker an ihr Ende.« 17 Was dieser Passus aus jüdisch-christlichen Vorgaben abliest, schärft den Sinn dafür, dass auch die Natur eine Geschichte hat – eingedenk Paulus’ Satz: »Auch sie soll frei werden, denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet.« 18 Die Natur hat eine Geschichte, die nicht auf physikalische Daten (weder auf Natur als Rohstoff noch auf sie als naturalistisch-determinierende Konditionierung) zu reduzieren ist. Als Schöpfung verstanden meint Natur vielmehr ein Geschehen und eine Geschichte, deren Teil wir sind. Das Incipit vita nova wird hier zur Formel der Erinnerung eines Gelingens, das es noch nicht gab und das gerade deshalb zum Maßstab des Handelns wird – es ist als der »echte Rückgriff (…) auf das noch Zukünftige, also Ungewordene im Vergangenen« zu verstehen. 19 Aus dem Schluss des Gesprächs mit Jürgen Rühle, 1964: »Die Zeit, in der wir leben, ist ein Hohlraum, ein Hohlraum mit Funken zweifellos, aber doch ein Hohlraum, den die meisten auch als solchen empfinden, als ein Vakuum empfinden. Der schlichteste Ausdruck ist Langeweile. Der stärkste oder der gewagteste Ausdruck wäre Verzweiflung, mit Nihilismus am Ende. Das ist so eine Mischung, eine unreinliche Mischung, die wir haben. Sie ist noch nicht ganz ausgebrannt, aber jedenfalls scheint Langeweile hervorzutreten, Öde, Nichtwissen, womit man sich beschäftigen soll. Wissen, was man jetzt und nicht nachher will, aber Nichtwissen, was man überhaupt will, keine Ahnung davon haben. Vgl. E. Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, a. a. O., 357–359. Vgl. Röm. 8.21/22; zit. nach: Rev. Luther-Übersetzung in: Nestle-Alland, Das Neue Testament Gr.-Dt., Stuttgart 1986, 423. 19 Vgl. Tübinger Einleitung in die Philosophie, a. a. O., 366. – Vgl. auch die oben in Abschnitt 3 gegebenen Hinweise zur zeitlichen Semantik des Utopischen. 17 18

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Diese utopische Unterernährung, diese Impotenz im Antizipatorischen ist zweifellos unser gegenwärtiger Zustand und vielleicht unser Geschick. Im Westen als eine, man kann sagen pluralistische Langeweile, wodurch sie nicht besser wird. Und im Osten als eine monolithische Langeweile, aus einem Guß und sozusagen verordnet, wodurch sie auch nicht besser wird und das Ziel, das dort in Worten vorliegt, verbal oder in Festreden immer noch, ja gar nicht zur Geltung kommen kann, erstickt wird. Das ist der Zustand, wenn keine Hoffnung ist oder wenn Hoffnung nicht der Zustand ist, in dem wir uns als Lebewesen, als menschliche Lebewesen selbst befinden. Wir sind vorsehende Wesen, wir sind von Natur aus, wenn man das hier sagen kann, von Natur aus utopische Wesen, zum Unterschied von den Tieren. Die Antizipation ist unsere Kraft und unser Schicksal. – Nun ist dieser Zustand desto merkwürdiger, und was Verhindertes ist darin, wo es doch überall so aussieht, als ob im Hohlraum mit Funken, wenn der Hohlraum auch nicht vertrieben, so zumindest die Funken zu einer Figur gebracht werden könnten, zu einer Leitfigur. Gesellschaftlich schon durch die Reife der Produktivkräfte, die Technologie und anderes, was sich hier zuträgt. (…) Ein weiteres ist das Problem des Lebens jenseits der Arbeit, das Langeweile erzeugt, wenn es nichts zu tun gibt. Die Kirchen hatten einmal der Vorgabe nach dieses Amt einer Besorgung der Freizeit und der Sorgen, die die wesentlichen Sorgen sind, übernommen. Allerdings gemischt mit Verdinglichung, mit Verfestigung, mit Dogmatisierung und vor allen Dingen mit einer Unmenge von Mythologie, an die die Menschen nicht mehr glauben, weil ein vorwissenschaftliches Weltbild vorliegt, und gegen die auch in der Kirche selbst Bewegungen angetreten sind. Aber der Topos besteht, der Ort, wo dies zur Frage stand, und der verschwindet nicht, wenn der Staat abgegolten sein sollte. Dann bleibt Gemeinschaft, und dann bleibt Gemeinde. So daß dieser Ort offengehalten ist. Allerdings, die Posaunen müssen mit einem vermutlich neuen Gesang gefüllt werden. Dieser Gesang nun – das ist das große Anliegen.« 20 Was Bloch hier »Gesang« nennt – die religiöse Evokation geschieht gewiss im Hinblick darauf, dass einer »Gemeinde« als zwangfreier Ge20 Vgl. Hoffnung mit Trauerflor (Ein Gespräch mit Jürgen Rühle 1964), in: E. Bloch, Werkausgabe, Ergänzungsband: Tendenz-Latenz-Utopie, Frankfurt/M. 1978, 347–349.

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meinschaft Gleicher das gelobte Land als promesse du bonheur ein Erinnerungsdatum ist –, verweist unweigerlich auf die Motivationsschichten der Selbstdeutung kultureller Erfahrung. Sie bedürfen philosophischer Rekonstruktion und Klärung. Denn die Frage nach dem Bild, das wir von uns, schließt die nach dem Bild, das wir vor uns haben, ein: die Frage nach jenem Bild, an dem Handeln jeweils gemessen wird. Im Hinblick darauf heißt es dann abschließend: »Ich möchte hier zwei Sätze von zwei Philosophen anführen, der letzte ist ein besonders religiöser Philosoph, der erste weniger. Der erste Satz von Kant: Aufklärung ist Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Dies ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Das ist Conditio sine qua non. Und alles, was hier gesagt wird, religiös gesagt wird, muß sich davor erweisen, daß es nicht ein Ausdruck menschlicher Unmündigkeit ist. Der zweite Satz ist von Augustin, lateinisch im Orginal: Dies septimus nos ipsi erimus, der siebente Tag werden wir selbst sein. Das heißt, der Tag steht ja aus, da hat nach der Genesis der Herr geruht. Der Sonntag sozusagen ist noch nicht geschaffen. Und ich glaube, in der sich begegnenden Mitte oder in der Mitte der Begegnung dieser beiden Aussprüche von Kant und von Augustin, da ist der Ort für Verantwortung und für Nüchternheit und für Augenmaß. Beide Sätze gehören zusammen. Einer ohne den anderen ist blind oder leer. Und am Ende geht daraus hervor, was wir von der Zukunft erwarten, das muß dauernd auch unter dem Aspekt gesehen werden: Was erwartet die Zukunft für uns von uns. Also unsere Arbeit ist aufgerufen, und dieses Hellmachen des Hohlraumes mit Funken vor uns, das eben ist Angelegenheit einer Philosophie der Hoffnung.« 21

7 »Was erwartet die Zukunft für uns von uns?« – sich die Perspektive, die diese Frage benennt, nicht vergessen machen zu lassen, ist nicht der geringste Beweggrund für eine »Bloch-Lektüre heute«. Üben lässt sich dabei die Fähigkeit antizipierenden Wahrnehmens, die den Eingang in selbstverschuldete Unmündigkeiten zu verhindern, ihm zu widerstehen und aus ihm gegebenenfalls zu befreien vermag. Das Gelingen 21

Vgl. ebd., 349.

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Bloch-Lektüre heute

solchen Widerstehens ist durch nichts garantiert. Vielleicht ist genau dies das Motiv dafür, in es verliebt zu sein. Es dürfte zugleich die Frage beantworten, wozu Bloch-Lektüre heute gebraucht wird.

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Abschließende Diskussion

Rosenbauer Herr Kreuzer, ich habe vorhin mit zwei, drei Leuten gesprochen und die sagten, es sei ihnen ähnlich ergangen wie ganzen Generationen von Studenten, die alle das Werk von Bloch gekauft und nie zu Ende gelesen haben. Lässt sich das ändern? Kreuzer Wenn Sie es rein quantitativ nehmen, lässt sich das natürlich ändern, aber ich denke, es zeichnet gute, konstruktive Philosophen aus, dass man mit einer Lektüre nicht fertig ist. Ich kam, wenn ich eine kleine biographische Anmerkung sagen darf, 1973 zum Studium nach Tübingen und hatte das Glück Bloch noch zu hören, habe dann über Hölderlin promoviert, über Augustinus und über das Mittelalter viel gemacht. In den 90er Jahren, da hatte ich mich lange von Bloch wegbewegt, dachte ich, was kann man eigentlich gegen die sich ausbreitende Alternativlosigkeit unternehmen. Eine Philosophie, die sich als Wissenschaft versteht, nur als Wissenschaft, die bestimmte Benchmarks erfüllt, hat quasi schon verloren. Man muss auf Denkmotive zurückgehen, die basal sind für das, was Bloch »Humanum« genannt hat, man muss auf Denkmotive zurückgehen, die dieses Humanum auf irgendeine Weise fassbar machen. Und da fiel mir Bloch wieder ein, Dunkel des gelebten Augenblicks, Ontologie des Noch-nichtSeins, Ernstnehmen der Wünsche, Ängste, die sich in künstlerischen Objektivationen ausdrücken. Oder nehmen Sie drastische Erfahrungen, wie dieses letzte Stück von Bernd Alois Zimmermann »Ich wandte mich und sah an alles Unrecht«, eine Musikkomposition. Das ernst zu nehmen, das scheint mir wichtig zu sein. Und so kam ich auf Bloch zurück. Und ich denke, jeder gute Autor ist sozusagen nie ausgelesen. Ich

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Abschließende Diskussion

habe vor kurzem eine Auswahl von Bloch-Texten 1 vorgelegt und die hat auch den Hintersinn, Bloch irgendwie in der Diskussion zu positionieren. Ich habe mich dann wieder durch das Werk durchgelesen, und ich war zum Beispiel wirklich erstaunt, dass es im »Prinzip Hoffnung« eine Interpretation des Satzes von Anaximander 2 gibt, die ich vor 30 Jahren überlesen hatte. Das war ein Fund und ich stellte fest, dass die Substanz von Blochs Werk in der Tat so robust ist, dass es ein mehrfaches Wiederlesen ermöglicht. Rosenbauer Ich hatte ja spielerisch den »Rat der Philosophen« oder die »Utopiekommission« der Bundesregierung in die Diskussion gebracht. Natürlich hätte ich mir vorstellen können, dass Bloch und Brandt miteinander sprechen, nicht notwendigerweise philosophieren, aber sprachlich miteinander kommunizieren. Halten Sie es für denkbar, dass wir wieder eine ähnliche, weil der Bedarf da ist, eine ähnliche Gesprächssituation herstellen können, ohne dass wir jetzt an bestimmte handelnde Politiker denken? Kreuzer Das halte ich für extrem wünschbar und ich würde den Charakter der Veranstaltung hier und den Sinn dieser Veranstaltung und von Folgeveranstaltungen genau in diesem Punkt sehen. Ein Kollege aus der Philosophie, Odo Marquard, hat vor 20 Jahren mal gesagt, Fachvorträge von Philosophen haben manchmal einen Charakter, dass ein Vertreter einer Firma für Sockenherstellung auf der Hauptversammlung von Vertretern der Firmen von Sockenherstellung über die Herstellung von Socken spricht. Und da muss man raus. Das heißt, ich sehe das als sehr legitime Funktion derer, die in der Philosophie tätig sind an, dass man versucht ins Gespräch zu kommen mit weiteren Kreisen, zum Beispiel mit so einer Veranstaltung wie future:lab 2.0. Ich glaube, im Moment würde es nichts bringen, wenn der Bundestag jetzt noch eine Gemeint ist: Ernst Bloch, Grundfragen der Philosophie: Ausgewählte Schriften Band 1, Hg. von Johann Kreuzer, Suhrkamp, Berlin 2010, – Ernst Bloch, Gesellschaft und Kultur: Ausgewählte Schriften, Band 2, Hg. von Johann Kreuzer und Ulrich Ruschig, Suhrkamp, Berlin 2010. 2 »Aus dem aber, woher den Dingen das Entstehen ist, entsteht (ihnen) auch das Vergehen zu diesem nach dem Notwendigen, sie geben nämlich einander Recht und Buße nach der Ordnung der Zeit.« (Diels-Kranz 12 B 1) 1

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Abschließende Diskussion

Philosophie- oder Utopiekommission oder Ähnliches einsetzen würde. Aber das Gespräch ist wichtig. Rosenbauer Frau Karpenstein-Eßbach, um mal kurz nach der Wirkung zu fragen, falls es dazu irgendwelche Forschungen gibt. Hat Utopie in der Literatur eine andere vergleichbare, oder überhaupt keine Wirkung beim Leser, wenn es darum geht die Zukunft für sich selber weiter zu denken? Karpenstein-Eßbach Bloch gekauft, nicht zu Ende gelesen, das finde ich, ist nicht das Entscheidende. Die Bloch-Lektüre wurde Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre relevant in einem ganz bestimmten politischen Kontext, und das war der Kontext der Studentenbewegung und zwar einfach deshalb, weil es darum ging, gegenüber einer dogmatischen Marxismustradition einen eher libertären Marxismus zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist die Bloch-Lektüre ab ungefähr vielleicht 1969/ 70 zunehmend wichtig geworden. Und es ging natürlich darum, dass dem dogmatischen Ableitungsmarxismus mit seinem Primat der Ökonomie eine andere Dimension entgegen gehalten werden sollte. Und ich denke, das war auch der unglaublich produktive Impuls, der sich mit Blochs Denken in der Folge von »68« verbunden hat. Zweite Anmerkung dazu: Heute scheint mir das etwas anders zu sein. Heute scheint es mir so zu sein, dass die Aktualität des Blochschen Denkens eher darin liegt, dass es um etwas wie eine Art anthropologischer Relevanz geht, also um die Frage der Zukunftsfähigkeit des Menschen auf der Ebene seiner Imagination, Vorstellungskraft und politischen Reflexion. Ich meine den Terminus der anthropologischen Dimension im vollgültig wichtigen und nicht diffamatorischen Sinne. Man kann auch sagen, die exzentrische Positionalität des Menschen, das ist dasjenige, was uns die Imaginationskraft, die Vorstellungskraft überhaupt erst ermöglicht. Also es sind auch zwei sehr verschiedene Zugänge zu Bloch, wenn man auf die 1970er Jahre schaut und jetzt, 40 Jahre später. Davon müssen wir natürlich jetzt die literarischen Utopien, denke ich, sehr deutlich unterscheiden. Und da komme ich mit diesem allgemeinen Utopiebegriff nicht recht weiter. Ich möchte das jetzt vielleicht noch mal präzisieren, in dem Sinne, weil Sie nach der Wirkung 202 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Abschließende Diskussion

fragen. Bekanntlich gibt es sehr viele, die Wirkungsforschung auf empirischer Basis betreiben, das ernährt auch sehr viele Familien und das wird es auch weiterhin tun, weil man die Frage der Wirkung nicht befriedigend beantworten kann. Das ist auch gut so. Gott sei Dank, stellen Sie sich vor, Sie wüssten, wie etwas wirkt. Was das für Instrumentalisierungen von Kunstwerken und Utopien gäbe. Da bleibt wenigstens noch ein Rest unerforschlich. Dennoch, wir können nach den Wirkungen vielleicht in einem Umweg fragen, und zwar indem wir uns fragen, was ist denn eigentlich die divergierende Formgestalt von literarischen und politischen Utopien. In der literarischen Utopie wird uns vorgeführt, im Unterschied zur politischen, die natürlich ein Gesamtkonzept, ein Totalkonzept entwerfen muss, dass es hier Friktionen gibt. Das heißt, wenn Sie eine literarische Utopie lesen, sind Sie immer mit der Tatsache konfrontiert, dass etwas nicht klappt, etwas nicht stimmt, es einen Widerstand gibt, es nicht das Glück gibt, und deshalb haben literarische Utopien vielleicht den Vorteil, dass sie uns auf die Frage, was wir wollen, nicht spontan die Antwort einfallen lassen: »Das Glück«. Das wäre die harmonische Vorstellung, sondern dass literarische Utopien uns zu einer anderen Antwort verleiten könnten, nämlich der Möglichkeit, dass wir angesichts der Friktionen, von denen dort erzählt werden muss und ohne die es nicht geht, auf die Antwort kommen: vielleicht nicht das Glück, was nahe liegt als Antwort, sondern die Freiheit. Rosenbauer Ich weiß nicht, ob Sie den Film »Inglourious Basterds« gesehen haben, der ja in der Fiktion, in der Utopie, dass Hitler erfolgreich ermordet worden wäre, zur Entterrorisierung dieses gesamten Komplexes in einer breiten Öffentlichkeit weiterlebt. Karpenstein-Eßbach Ich muss sagen, ich habe diesen Film nicht gesehen, ich habe von ihm erzählt bekommen. Ich kann Ihnen jetzt eigentlich deshalb auf die Frage, bezogen auf den Film, nicht antworten, sondern ich möchte darauf hinweisen, dass Film im Unterschied zu Literatur eines nicht leisten kann: der Film kennt keine Verneinung, es gibt nur die Positivität der Bilder des Gegebenen; Sie können kein »Nein« im Film darstellen; Sie können keinen Konjunktiv im Film darstellen; Sie können kein »Sowohl-als-auch« darstellen; und man kann im Film nicht darstellen, dass 203 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Abschließende Diskussion

etwas eine bloße Fiktion sein könnte, ohne dass einer von außen dieses sagen müsste. Das heißt, die Doppelschichtigkeit, die Sie in der Literatur immer finden, in der etwas als wirkliche Fiktion kenntlich gemacht wird und nicht einfach nur fantastisch ist, diese Doppeltheit haben Sie im Film nicht. Das heißt aber nicht, dass Filme deswegen trivial seien, im Gegenteil. Rosenbauer Gut, also ob »The Day After« nicht auch genauso wirksam ist wie ein Roman über den Atomschlag in Stuttgart, müssen wir nicht zu Ende diskutieren. Voßkamp Wenn man sich mit der Geschichte literarischer Utopien sozusagen über mehrere Jahrzehnte beschäftigt hat, dann interessiert einen diese Frage, die Herr Rosenbauer gestellt hat, am allermeisten. Haben denn Utopien Funktionen? Und deswegen hab ich damals im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung eine dezidierte Forschergruppe zur Funktionsgeschichte von literarischen Utopien geleitet. Und die Bände, die sie wahrscheinlich zum Teil kennen, die sind dann später auch bei Suhrkamp erschienen unter dem Titel »Utopieforschung«. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, aber wenn man es historisch sieht, dann gibt es keinen so großen Unterschied zwischen literarischen und politischen Utopien. Diese Differenz, von der Sie zu Recht gesprochen haben, diese Differenz ebnet sich ein, wenn Sie nach der Funktion fragen, und das ist eben auffallend, dass auch literarische Utopien durchaus politische Funktionen haben. Das kann man bereits an den Prototypen feststellen von Thomas Morus, es ist eine ganz scharfsinnige Analyse der Verhältnisse im England des 16. Jahrhunderts und diese Analyse, die als Satire, als Gelehrtensatire vorgeführt wird, die kann man dann im 18. Jahrhundert am Beispiel des Verhältnisses von literarischen Utopien und Revolution studieren. Und in dem Augenblick, wo die Revolution ausbricht, endet die Produktion von Utopien bezeichnenderweise, das kann man genau untersuchen. Im 19. Jahrhundert wird die Sache interessant unter dem Gesichtspunkten der technischen Utopien und die Frage des Möglichen und Machbaren ist entscheidend und insofern nimmt auch da die Funktion literarischer Utopien nicht ab, sondern sie bleibt bis zu Stanislaw Lem ein Moment der kritischen Reflexion und gerade in der 204 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Abschließende Diskussion

Diskussion einer unmittelbaren Anwendung oder des Versuchs von Anwendbarkeit liegt sozusagen der eigentliche Witz literarischer Utopien. Also von daher würde ich hier eine etwas andere Meinung vertreten. Ich glaube, dass dieser Unterschied zwischen politischen und literarischen Utopien im Blick auf die Wirkung nicht so groß ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Aber noch viel wichtiger ist diese Frage »Inglourious Bastards«, und zwar hat der Film heute deswegen die große Wirkung in Blick auf Utopien und Dystopien, weil er Bilder produziert. Von Anfang an ist die literarische Utopieproduktion eine Bilderproduktion. Es gibt so etwas wie eine Emblematik der Utopie. Wenn man diese Emblematik der Utopie studiert, das fängt mit Inseldarstellungen an und es hört auf mit Reisen, also ich will jetzt nicht von Jules Verne sprechen, also kurz und gut, literarische Utopien sind zu einem großen Teil Bilder produzierende Utopien. Und diese Bilder produzierenden Utopien haben eine enorme Wirkung im Blick auf Dystopien, also von Schätzings »Schwarm« bis zu »The Day After Tomorrow« und »Inglourious Basterds«. Gerade die Dialektik von Utopie und Dystopie macht die Wirklichkeit auch des Films aus. Und das läuft über Bilder. Also ich glaube, dass die Diskussion über den »Iconographic turn« genau diesen Punkt trifft. Und man darf sich nicht täuschen, die eigentlichen Utopien und die eigentlichen Dystopien die laufen heute über Bilderproduktion. Und Bilderproduktion ist eine lange Tradition in der Geschichte der literarischen Utopie. Also insofern würde ich vorschlagen, dass wenn man diese Reihe fortsetzt, sich unbedingt mit den Bildern der Utopie, also wie ich gesagt habe, mit der Emblematik von Utopien beschäftigt. Hier liegt die Zukunft von Utopien und Dystopien und vielleicht aus diesem sozusagen Widerspiel lässt sich dann etwas Utopisches entwickeln. Karpenstein-Eßbach Es stimmt wahrscheinlich, dass die Differenz von literarischer und politischer Utopie sich dort einebnet, wo man unmittelbar nach der Funktion fragt, also wenn Sie so wollen, nach dem Gebrauchswert. Aber auf der Dimension des ästhetischen Werts sieht das in der Tat noch mal anders aus, weil die Art und Weise, die Modalität des Entwurfs selber auf der Formebene einfach anders ausfallen müsste. Ich denke, das muss man schon unterscheiden voneinander, dass der politische, also der Gebrauchswert, den natürlich alle Texte haben können und nach 205 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Abschließende Diskussion

dem wir sie auch untersuchen können, von dieser ästhetischen Dimension, die ja mit auch die Reflexionsformen des Utopischen als Modus der Vorstellung bestimmt, unterschieden wird. Was die Funktionsgeschichte angeht: Sie haben ja darauf hingewiesen, dass ein enger Zusammenhang zwischen Literatur und Revolution besteht. Also da müsste man doch genauer schauen, inwieweit die literarischen Utopien nicht nur in Emanzipationsbewegungen, sondern in revolutionäre Bewegungen eingebunden sind, und dann kämen wir aber auch zu einem Utopiebegriff, der noch einmal politisiert werden müsste und der sich noch mal absetzen würde von der Dimension der anthropologischen Potenzialität, die uns alle, so wie wir hier sitzen, auf so wunderbare Weise auszeichnet. Dann hätten wir nämlich auch noch eine andere Dimension im Utopiebegriff zu bedenken. Sie wissen, Revolutionen gehen nicht unbedingt, so utopisch getrieben sie sind, gewaltfrei ab. Also gibt es doch eine andere Dimension, die noch mal eine politische Dimension eröffnet. Und was den Film angeht – das würde ich voll und ganz unterstützen – man bräuchte eigentlich ein neues Symposium, um über die Frage des Films und die Macht der Bilder und die Unmittelbarkeit des Dabeiseins, die sie ja erzeugen, zu diskutieren. Kreuzer Ich wollte, Herr Voßkamp, zum »Iconic turn« noch was ergänzen, sozusagen unterfüttern. Im Hinblick darauf, dass ich denke, das, was man das Utopische nennen kann oder mit Bloch auch »Transzendieren ohne Transzendenz«, ist ja nicht etwas, was auf die Wirklichkeit folgt, sondern das ist ja ein Teil der Wirklichkeitslogik selber, das ist ein wichtiger Punkt. Und das jetzt sehr basal zurück führen auf ein Mythologem, mit dem der Mensch in den Schöpfungsbericht in Genesis 1 eingeführt wird. Der Mensch wird eingeführt als Bild Gottes, als Bild. Lasst uns den Menschen machen als unser Bild, das heißt, der Mensch ist der Teil der Schöpfung, der sich als Bild begreift, und – das ist jetzt ein großer Sprung – am Ende des 13., Anfang des 14. Jahrhundert führt es bei Eckhart von Hochheim oder Meister Eckhart dazu, dass das, was der Mensch als Bild Gottes ist, natürlich kein Besitzstand ist, sondern das bedeutet einen Prozess, dass man Bild wird, weil es kein Besitzstand wird, dass es entbildet werden muss und dass man überbildet werden muss. Das ist eine Lebensdynamik, die mit einer bestimmten Paulusstelle zu tun hat, wo es dann heißt, in dieses Bild werden wir wieder 206 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

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verwandelt werden. Das heißt, wir haben einen Anspruch und damit gewinnt es eine lebensdynamische Perspektive, und in diesen Kontexten, dass Eckhart von Bildwerdung spricht, von Überbildung, Entbildung, entsteht ein schönes Wort, das wir alle gebrauchen und dessen Sachverhalt im Moment in der Gefahr steht zu verschwinden. Im 14. Jahrhundert wird deswegen das Wort »Bildung« gebildet. Das gibt es erst seitdem. Schmidt Das mit dem Bild regt mich jetzt auf, die Unmittelbarkeit der Bilder in Filmwelten oder auch in Illustrierten und in allem Fotografischen, das ist uns klar, dass da eine besondere Gewalt darin steht. Man kann aber aus der Unmittelbarkeit nicht ableiten, dass der Film nicht Konjunktive bilden kann und nicht auch »Nein« sagen kann. Die Konjunktive, das ist ja das Übersetzen ins Vermöglichen, entweder im Charakter des Potenzials oder des Irrealen. Dann kann der Film sehr wohl etwas erst als Wirklichkeit auftauchen lassen, durch das der Betrachter aber mächtig verunsichert wird, bis er nur noch lauter Möglichkeiten sieht. Und das »Nein«, das kann der Film auch durchziehen. Er muss natürlich über die Bildwelten dabei Umwege gehen, dass also in der Tat einfach durch die Transformulierungsweise eines Werkes das Konjunktivische herausgestellt wird oder das schöne Wort »Nein« hat. Denn tatsächlich jetzt in einem Untertext »Nein« dahinzusetzen, das wäre Plakatschäbigkeit. Aber ich bezweifle, dass nicht viele Sprachstrukturen auf Umwegen vom Film realisiert werden, ohne dass es zu einem Regelwerk der Filmsprache kam. Darin hat in der Tat Deleuze ganz recht, dass es in dem Sinn keine Filmsprache gibt, nämlich im Sinn des Konventionellen eingerichteter Sprache.

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Utopie nach Bloch

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Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt 1 Eric J. Hobsbawm

Meine Damen und Herren, mit großer und doppelter Freude nehme ich heute den Ernst-BlochPreis an. Erstens bin ich mir, als Leser aller meiner Vorgänger in diesem Preis, nämlich Dolf Sternberger, Hans Mayer, Leszek Kolakowski, Jürgen Moltmann und Pierre Bourdieu, der Ehre des Ernst-Bloch-Preises wohl bewusst. Zweitens aber habe ich nicht nur eine persönliche Beziehung zum Werke Blochs, da ich wohl der erste Rezensent des Prinzips Hoffnung in der englischsprachigen Presse war, sondern ich habe ihn und Frau Karola noch selbst gekannt. Sie besuchten mich 1961 in England – wenn ich mich recht erinnere, führte ich sie nach Cambridge – und in meiner Bibliothek steht noch immer das Rezensionsexemplar des Prinzips Hoffnung, mit den Zeilen, die mir Bloch damals hineinschrieb, und das Exemplar der Neuausgabe der Erbschaft dieser Zeit, das er mir im folgenden Jahr schenkte, mit der Widmung »dem Freund, dem ketzerischen Rechtgläubigen und Mitstreiter«. Als ich ihn zum ersten Mal traf, war er 76 und erschien mir, dem damals 44-Jährigen, wie der Idealtyp des weisen alten Philosophen: mit begeisterten Augen hinter der dicken Brille, mit ernstem, zerfurchten Gesicht unter einem ergrauten Haarschopf – warum eigentlich stellen wir uns den modernen Weisen seit Sokrates so selten mit Glatze vor? –, also wie der Autor des Prinzips Hoffnung eben aussehen sollte. Aus Zusammenkünften zwischen großen alten Denkern und jüngeren Bewunderern kommt meist nicht viel. Ich habe aber doch eine unvergessliche Erinnerung an Bloch aus jener Zeit. Es war ein Abend, wohl um 1962, im Londoner Hotelzimmer Otto Klemperers. Der große Dirigent hatte seinen Jugendfreund zu sich geladen, und ich hatte das Rede anlässlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Preises 2000 am 5. November 2000 im Ernst-Bloch-Zentrum.

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Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt

Glück dabei zu sein. Lotte Klemperer, mein Freund der Maler Georg Eisler und ich saßen still im Hintergrund und hörten wie gebannt dem Gespräch zu. Sie schienen irgendwie überlebensgroß. Worüber sprachen sie? Über ihre Jugend, und über Musik. Übrigens war es klar, dass Klemperer Ernst Bloch als musikalisch ebenbürtigen Gesprächspartner behandelte. Sie sprachen über Beethovens Neunte. Sie sprachen besonders lange über Fidelio, die große Oper der menschlichen Befreiung und wie die politische Bedeutung dieser Oper musikalisch zu erfassen sei. Es ist sogar einem Historiker meines Alters heute kaum mehr möglich, sich in die rheinische Jugend dieser beiden überlebenden Dinosaurier aus einer ausgestorbenen bürgerlichen Kultur, der vor 1914, einzufühlen. Zuviel ist seitdem geschehen. Und doch kam aus dieser bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts der Glaube an die Befreiung der Menschheit, der, durch ein langes, illusionszerstörendes Leben, diese beiden alten Titanen begleitete. Ich habe also zwei Gründe der Stadt Ludwigshafen und der Jury meinen Dank für diesen schönen Preis auszusprechen. Natürlich danke ich Ihnen für die Ehrung, welche dieser Preis bedeutet, aber auch dafür, dass Sie mir die Gelegenheit geben, meinen Namen mit dem Ernst Blochs zu verbinden. In der Begründung der Jury für meinen Preis heißt es, meine Arbeit stehe »in einem spannungsreichen, korrigierenden, aber gleichwohl nicht einfach ablehnenden Verhältnis zu Blochs Hoffnung«. Ich glaube doch Bloch etwas näher zu stehen als es dieser Satz andeutet, und nicht nur weil der Utopismus millenaristischer Bauernbewegungen schon als ein Hauptthema in meinem ersten Buche zu finden ist, den Sozialrebellen. 2 Es stimmt allerdings, dass ich als Historiker das Thema anders angreife. Wer den Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt nicht versteht, oder verstehen will, der kann die moderne Geschichte nicht begreifen, denn die Idee des Fortschritts, welche seit der Aufklärung unser Zukunftsbild beherrscht – ob es sich um bessere Welten oder Lippenstifte handelt –, setzt der Verbesserung keine Grenzen, und kann ihnen auch keine setzen. Es ist nur eigenartig, dass man aus ideologischen Gründen gesellschaftlich nicht wahrhaben will, was wir im materiellen Leben als selbstverständlich annehmen, nämlich dass wir heute erwarten, dass die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen jeden Tag überschritten wird. WaEric J. Hobsbawm: Sozialrebellen: archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied u. a., 1962 [1959].

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Eric J. Hobsbawm

rum sollte das nicht auch im Streben nach dem Glück der Fall sein, jener »neuen Idee in Europa« (wie sie Saint-Just nannte), welche seit Jefferson den Grundstein der amerikanischen Unabhängigkeit bildet? Es sollte uns nicht erstaunen, dass in den Vereinigten Staaten, die übrigens seit dem frühen 19. Jahrhundert par excellence das Land der utopischen Kolonien und Kommunen sind, das Vokabular der Utopie auch heute noch zum politischen Alltagsdiskurs gehört. Es bestürzt eher, dass der ursprünglich sozialutopische »American dream« in der Fernsehsprache heute nicht viel mehr bedeutet, als dass man, wenn man will, dort gut verdienen kann. In diesem Sinn ist die ganze moderne Geschichte seit dem 18. Jahrhundert utopisch, denn sie ist a priori revolutionär, d. h. der grenzenlosen Weltveränderung verschieben. Und zwar nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv: wir alle glauben, wie auf dem wunderbaren Bild Watteaus, dessen utopisches Kolorit Bloch ja erkannte, an eine Abfahrt nach Cythera, dem Ort des schönen Götterfunkens der Freude, getragen von der Macht unserer Sehnsucht. Ja, seit der Insel Utopia ist die Fahrt übersee in eine wunderbare Zukunft auch eine politische Metapher. Ich denke an ein Bild der österreichischen Sozialdemokratie zum ersten Mai 1891. Da zeigt Marx, Das Kapital in seinen Händen, über das Meer auf eine jener malerischen Anselm Feuerbachschen Inseln, hinter der die Maitagsonne aufgeht. Ihre Strahlen tragen die Devisen der französischen Revolution, die auf so vielen der ersten Abzeichen und Blättern zum Maifeiertag zu finden sind: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Marx ist von Arbeitern umgeben, die vermutlich bereit sind, die Flotte von Schiffen zu bemannen, die zur Insel fahren wird, was immer sie dort erwartet. Ihre Segel tragen die Inschriften: »Allgemeines und direktes Wahlrecht, Achtstundentag und Arbeitsschutz«. Was glaubten die Arbeiter von 1891 auf der Insel Sozialismus vorzufinden? Sicherlich mehr als das demokratische Wahlrecht und den Wohlfahrtsstaat, obwohl sie die natürlich auch wollten. Es war wohl nichts andres als das, was während des zweiten Weltkrieges die jugoslawischen Kommunisten ermutigte, nämlich die Hoffnung, nein die Überzeugung, ich zitiere Milovan Djilas, dass »der höchste Gipfel der Freiheit und des menschlichen Wohlstands nach ihrem Sieg erscheinen wird«. Die österreichischen Arbeiter hatten bloß mehr Glück als die Partisanen Titos. Weder die einen noch die anderen hatten ein konkretes Zukunfts212 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt

bild, und ein solches hätte ihnen auch kaum geholfen. Zum Unterschied zu den utopischen Ideen gehören die Versuche, utopische Sozialentwürfe konkret zu verwirklichen, von den Wiedertäufern bis zu den Erben der 1960er Hippies, weniger in die Weltgeschichte als in die Lokalchronik; sogar die der utopischsten, und sichtbarsten aller Berufe des 20. Jahrhunderts, der Architekten. Doch, wie schon Max Weber erkannte, auch wenn die ideale Gesellschaft jenseits der Möglichkeit liegt, ist nichts Ernsthaftes in der Politik zu erreichen, wenn man nicht an sie glaubt. Denn, und das ist ja der Kern des Blochschen Werks, die Menschheit weiß, dass sie in einer schlechten, weil unvollkommenen Welt lebt und will eine bessere. Aber was für eine bessere? Hier, glaube ich, gibt es leider nicht nur ein Prinzip Hoffnung. Das fortschrittliche 19. Jahrhundert, tief in der Aufklärung verwurzelt, konnte sich nur ein weltweites, allgemeinmenschliches Ideal vorstellen. In den vor-feministischen Worten der Neunten Symphonie: »Alle Menschen werden Brüder«. Das verband alle dem Fortschritt verbundene Politik des neunzehnten Jahrhunderts: den Freihandel, die sozialistischen Arbeiterbewegungen, ob friedlich oder aufständisch, und sogar die nationalen Einigungs- und Befreiungsbewegungen. In jedem Fall sollte der Sieg der guten Sache zur Utopie des ewigen Frieden und der Völkerverbrüderung führen. Im schrecklichen 20. Jahrhundert, Erfinder der »ethnischen Säuberung« und des Genozids, ist es anders geworden. Statt den einigenden Utopien stehen wir heute den teilenden, und manchmal mörderischen, den Nationalismen, den Konfessionen, den wirklichen und erfundenen »Gemeinschaften«: allgemein gesagt, den sogenannten »kollektiven Identitäten« gegenüber. Man träumt heute zu oft den weltzerstörenden Traum der Befreiung als Absonderung, als Säuberung von den »Andern«, der im vergangenen Jahrhundert zum Alptraum der Welt wurde. Denn der Nationalsozialismus war für seine Anhänger auch eine Art Utopie. Leider lebt sie noch. Die Befreier Indiens vom britischen Imperium, Erben der Aufklärung und der großen Revolution, werden heute abgelöst von den bewusst »völkischen« Ideologen eines reinen Hindustaates. Israel steht heute nicht im Zeichen der Erben des sozialistisch-utopischen Zionismus, sondern im Zeichen der Erben der dem Faschismus nahen Ideologie Jabotinskys. Tito ist tot, aber die Erben der Tschetniki und der Ustascha leben und töten. Nur im kürzlich befreiten Südafrika gilt noch das bewusst nicht-rassische, d. h. universale Ideal der Befreiung des African National Congress. Aber wer 213 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Eric J. Hobsbawm

weiß, wie lange es den Tod des großen Nelson Mandela überdauern wird. Ernst Bloch zitiert im Prinzip Hoffnung das Wort Oscar Wildes: »eine Weltkarte, auf der das Land Utopia fehlt, taugt nichts«. Das stimmt. Wir wollen alle dorthin reisen. Wir können ohne Utopie nicht leben. Doch es gibt leider gute und böse Utopien, und, besonders in den letzten Jahren, gibt der Zerfall der guten den bösen Spielraum. Nicht alle Hoffnung ist gut. Zur guten Utopie gehört der Glaube an die universalen Werte der Aufklärung: sie muss, wie in den Worten der Neunten für alle Menschen gelten, nicht nur für ein beschränktes »wir«, oder sogar – das ist die Logik der Werbeideologie in der Marktgesellschaft – für ein asoziales »ich«. Bloch selbst erkannte, wenigstens in den Tübinger Jahren, dass das Prinzip Hoffnung, die soziale Utopie, diesen Glauben erfordert. Denn ohne ihn steht es schlecht mit der Menschheit.

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Lesen, das einen zwingt innezuhalten 1 Carolin Emcke

Zunächst war da nur ein Staunen. Ein halb verzweifeltes, halb freudiges Staunen. Das sollte ein Satz sein? Ein Gedanke? Wir saßen um das Buch herum. Fassungslos und ein wenig unmutig. Was nützte all unser ernsthafter Enthusiasmus, unsere angstfreie Maßlosigkeit, mit der wir über die Irrungen und Wirrungen der Pubertät hinausreichen wollten? Was nutzte unsere eingebildete Reife, wenn wir nun so ahnungslos und, ja, wir spürten es: dümmlich! vor diesem Buch saßen. Es war schrecklich. Immer wieder nahmen wir Anlauf. Zerkleinerten den Text in einzelne Satzbausteine. Einzelne Worte. Und rutschten ab. Gerieten in die Untiefen der Begriffe. Verloren uns im historischen Labyrinth der philosophischen Ideen. Oder im weit verzweigten rein akustischen Klangbild der Sätze. Wir nahmen erneut Anlauf. Und erneut prallten wir gegen unser eigenes Unverständnis. Wir saßen da. Verärgert. Aber auch unfähig, uns dem Sog dieser Sprache zu entziehen. Es war still. Sehr still. Nicht mal das Blättern der Seiten war zu hören. Nicht mal das Blättern einer Seite war zu hören. Wie auch? Hielten wir uns doch seit Stunden an der ersten Seite auf. Noch sollten wir nicht ahnen, dass wir uns in Wahrheit Stunden an den ersten drei Sätzen und Wochen an der ersten Seite der »Tübinger Einleitung« aufhalten sollten. Von Blättern konnte lange, sehr lange keine Rede sein in dieser abendlichen Ernst-Bloch-Lesegruppe mit Mitschülern meines Gymnasiums. Sie mögen schmunzeln, aber: in der Tat – wir hatten eine Ernst-Bloch-AG als Schüler. Als Sie Ihre Entscheidung gefällt haben für die Preisträger des heutigen Tages konnten sie dies nicht wissen: dass eine darunter ist, die tatsächlich nicht nur mit den Schriften von Ernst Bloch aufgewachRede anlässlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Förderpreises am 25. November 2006 im Ernst-Bloch-Zentrum.

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sen ist, sondern bei der Bloch wie kein anderer Philosoph (außer Jürgen Habermas) in existentieller Weise ins eigene Leben eingegriffen hat, ja, das ganze nachfolgende Leben bestimmt hat. Wenn ich Ihnen heute also Dank sage, dann muss ich Ihnen erzählen, was ich Ernst Bloch verdanke, und dazu muss ich Ihnen von diesem staunenden Unmut bei der ersten Begegnung erzählen, denn zunächst und vor allem anderen: habe ich lesen gelernt durch Ernst Bloch. Ich meine nicht das Lesen, durch das man hinausgetragen wird in die Welt, auf unbekannte Flüsse und Meere, nicht das Lesen, durch das man emphatisch hineingezogen wird in das Lieben und Leiden der Anderen, nicht das Lesen, durch das man schlingend und rasend hinabtaucht in die Figuren und Lebenswelten anderer Zeiten und Regionen wie bei Tolstoi, Balzac, Feuchtwanger oder Werfel; nicht das Lesen als phantasmatisches Reisen entlang innerer und äußerer Landschaften, nicht das Lesen, das die eigenen Bilder prägt und archiviert, aus denen sich nachher diese unzerteilbare, imaginär-reale Welt zusammensetzt, aus der wir unsere Emotionen und Assoziationen speisen. Ich meine auch nicht das Lesen, durch das man die Ereignisse und Geschehnisse als eher zufällige begreifen lernt, das Lesen, durch das Personen als weniger intentional handelnde verstanden werden, jenes Lesen, durch das der Blick auf die Welt und die Menschen darin sich aufschlüsselt in perspektivische Brechungen und Spaltungen wie bei Marcel Proust, Virginia Woolf oder Wolfgang Koeppen. Nein, ich meine jenes Lesen, das einen zwingt inne zu halten. Das nur stockend sich bewegt. Ich meine ein Lesen, das nicht vorantreibt, nicht die Worte, nicht die Figuren, und zunächst auch das eigene Denken nicht. Ich meine jenes Lesen, das sich abmüht und quält, das nur langsam, nur zaghaft, nur ohne Gewalt auskommt. Meine Großmutter mahnte uns stets zu Geduld beim Zerschneiden eines Brotlaibs: »Sägen – nicht drücken!« pflegte sie zu sagen – und diese Haltung dem Brot gegenüber lehrt Bloch dem Text gegenüber. »Sägen, nicht drücken!« Langsam, behutsam und ohne Gewalt. Dieses Lesen setzt das eigene Scheitern stets voraus. Es unterstellt keineswegs interpretatorische Sicherheit, keineswegs intuitives Wissen oder Verstehen. Dieses Lesen erteilt eine Lektion in Demut.

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Lesen, das einen zwingt innezuhalten

Ich wusste, schon nach den ersten verärgerten Stunden über der ersten Seite jenes Buches von Ernst Bloch, dass ich nichts anderes tun wollte als das: eine solche Demut zu lernen. Ich wusste schon nach der ersten Lektüre, dass ich dieses Gefühl wieder und wieder haben wollte: innehalten zu müssen. Zu entschleunigen. Wenn das Philosophie war, dann wollte ich nichts anderes erlernen als das: lesenden Respekt und denkende Demut. Es war die entscheidende Erfahrung, die den gesamten Lebensweg danach bestimmt hat. Denn das Lesen, das in Bescheidenheit unterweist, dieses Lesen, das eben nicht rauschhaft, sondern zögernd, skeptisch, fragend verläuft, das die Grenzen des Verstehens abschreitet, die Untiefen der Distanz zwischen dem eigenen Ich und dem Anderen und seiner Sprache auslotet – dieser Kunst des Lesens bedarf es nicht nur für Bücher und Texte, sondern auch für die Welt. Wenn ich Ernst Bloch Dank schulde, dann hierin: mich durch seine Sprache vorbereitet zu haben in der Achtung vor der Andersartigkeit der Gedankenwelt anderer, in der Demut der langsamen Annäherung, der Skepsis gegenüber vorschnellem Begreifen, dem Misstrauen gegenüber allzu unbedachtem Eigenen. Diese Sprache hat mich auch, vielleicht mehr unbewusst als bewusst, vielleicht mehr akustisch intuitiv als intellektuell analytisch, auf die Stille im Sprechen anderer vorbereitet. Das Ohr ist geschult worden für Pausen im sprachlichen Fluss, es ist aufmerksam für jene synkopischen Rhythmen, die sich manchmal als kulturelle Signaturen durch die Sprache einer ganzen Bevölkerung ziehen, manchmal als traumatische Spuren einer individuellen Erfahrung auftauchen. Für jemanden, die vornehmlich in Kriegsgebieten und versehrten Gegenden der Welt unterwegs ist, war dies eine unschätzbare Vorbereitung. Und so sage ich Dank auch dafür. Zuletzt aber, und darin unterscheide ich mich vermutlich von keinem anderen Leser von Ernst Bloch, gab es da diesen eklektischen Zugriff auf Topoi dieser Schriften voll barocker Vielfalt. Jeder von uns sucht sich ein Motiv, das sich durch die Bücher hindurch verfolgen lässt, und das uns begleitet, und das sich als basso continuo, als durchgeführtes Motiv, als Sequenz in das eigene Denken und Arbeiten hineingeschlichen hat. Während mich das marxistische Dogma und Instrumentarium niemals angezogen hat, bin ich von dem messianischen Moment im Denken Ernst Blochs von Anfang an vollkommen durchwirkt und durchzogen worden. In musikalischen Begriffen gesprochen, hat mich der messianische Horizont des Noch-Nicht wie eine unend217 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Carolin Emcke

liche Kadenz, deren sehnendes Suchen nach Auflösung nicht aufhört, in den Bann gezogen. Es ist dies nicht einfach eine metaphysische Gestimmtheit, nicht einfach eine religiöse Musikalität, sondern eine philosophische Praxis, die – und das mag Sie jetzt überraschen – für eine schreibende Journalistin im Krieg unverzichtbar ist. 2 Wer schreibt über Tod und Zerstörung an den entlegenen Rändern der Welt, wer schreibt über das Leiden der Eingeschlossenen oder Ausgeschlossenen, der schreibt mit einem dauernden normativen Vorgriff: schreibend unterstellen wir ein Wir, das es im Moment des Schreibens in mehrfacher Hinsicht nicht gibt. Noch-Nicht gibt, würden wir mit Ernst-Bloch sagen. Ich habe es schon einmal geschrieben und ich werde nicht müde, es zu wiederholen: wieder und wieder bitten Menschen in Not darum, dass man von ihrem Leid berichte. Niemals, in keinem einzigen Moment in keiner einzigen Krisenregion, in der ich unterwegs war, baten mich Menschen um konkrete praktische Hilfe, um Geld, um Nahrung, um Transport. Aber immer und immer wieder bitten sie darum, dass ich ihre Geschichte erzählen möge. Nicht etwa, weil sie so naiv wären, an meine schriftstellerische Macht zu glauben, nicht etwa, weil sie umgehend politische Reaktionen auf meine Texte hin erwarteten, sondern weil Menschen, die Opfer dauerhafter, struktureller Gewalt sind, die ausgeschlossen werden von einer Gemeinschaft, nach einer Weile, einer Weile, in der nichts geschieht gegen dieses Unrecht, in der niemand interveniert, gelegentlich daran zweifeln, dass das, was da geschieht, wirklich Unrecht sei. Sie beginnen sich zu fragen, ob es möglicherweise Recht sei, was sie da zu erdulden haben. Denn, was wäre das sonst für eine Welt: in der solch ein Leid, solch ein Unrecht geschehen könnte, ohne dass jemand es stoppt. Was wären das für Mitmenschen? Und so verlieren sie eher den Glauben an sich selbst als die Hoffnung in die Welt. Wenn nun aber jemand daherkommt, der zuhört, der sie sieht, der sie wahrnimmt, als Gleichwertige, als Gegenüber und der ihnen bestätigt: was hier dir widerfährt, ist Unrecht, und der ihnen das bestätigt, im Wort und im Schreiben – der nimmt sie auf einmal wieder auf, in die Gemeinschaft, aus der sie im Alltag, in der Realität ausgeschlossen sind: dem Wir einer Weltgemeinschaft. Das Schreiben operiert deswegen immer mit einer zweifachen Transzendenz: es überschreitet das Jetzt und knüpft an das Nicht-Mehr 2

Carolin Emcke: Von den Kriegen. Briefe an Freunde, Frankfurt am Main, 2004.

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Lesen, das einen zwingt innezuhalten

an, an die Menschen, die die verwahrlosten, verdreckten, verstörten Opfer einmal waren, und an das Noch-Nicht einer Öffentlichkeit, einer Gemeinschaft, in der diese Menschen eine Rolle spielen, in der die globale Gemeinschaft nicht nur eine wohlfeil behauptete Spielfigur in Talkshows abgibt, sondern tatsächlich Adressaten und Betroffene des eigenen Schreibens wirklich Teil derselben Gemeinschaft sind. Ohne Ernst Blochs messianische Gerichtetheit hätte ich nicht die Kraft dazu, dieses Wir, dieses universale Wir, das sich in jedem, wie immer andersgearteten Antlitz spiegelt, schreibend zu behaupten. Ich hätte nicht die Hoffnung, dass es sich so, auf diese Weise, im schreibenden Vorgriff, nach und nach erzeugen lässt.

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Bloch, gegen die Gegenwart gedacht 1 Navid Kermani

Als erstem Islamwissenschaftler wird mir die Ehre zuteil, mit dem Ernst-Bloch-Förderpreis ausgezeichnet zu werden. Naheliegend wäre es, in meiner Rede auf Ernst Blochs Beschäftigung mit dem Islam einzugehen, insbesondere auf sein Traktat über Avicenna und die aristotelische Linke. Nichtsdestotrotz möchte ich mich auf ein Gebiet vorwagen, das das meine nicht ist und mich doch viel mehr angeht als Blochs Auseinandersetzung mit meinem eigenen Fachgebiet. 2 Ich möchte auf die Philosophie Blochs eingehen, auf die eine und wesentliche Idee, von der sie kündet: das Heil, das aus der Geschichte erwachsen muss. Da ich kein Philosoph bin und mir von der Islamwissenschaft nur bedingt Hilfe verspreche, nehme ich mir die Freiheit, mich Bloch ganz unphilosophisch, ja unwissenschaftlich zu nähern: Gedanken eines Wiederlesers. Ich nehme an, dass viele Preisträger der letzten Jahre und damit viele meiner Vorredner die Aktualität Blochs zu begründen versucht haben, die sich offenkundig nicht von selbst versteht. Natürlich stoße auch ich regelmäßig auf jene Äußerungen, wonach Bloch hoffnungslos veraltet sei, und was mich an ihnen am meisten ärgert, ist ihr Gestus des Abfälligen. Und dennoch bin ich nicht in der Lage, den an dieser Stelle möglicherweise erwarteten Beweis für die Gegenwärtigkeit des Blochschen Werks zu liefern, im Gegenteil: die Grundgedanken Blochs erscheinen mir tatsächlich hoffnungslos veraltet zu sein. Die Betonung liegt auf »hoffnungslos«, denn wie wenig Hoffnung ist verblieben, dass sich ein noch recht junger, nicht zynisch gewordener Leser wie ich zu einem solchen Urteil hinreißen lässt, das ihm selbst nicht geheuer ist, zu einem solchen Verdikt über einen Autor, den er bewundert, zu dem Rede anlässlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Förderpreises 2000 am 5. November 2000 im Ernst-Bloch-Zentrum. 2 Z. B. Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München 1999. 1

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Bloch, gegen die Gegenwart gedacht

er sich hingezogen fühlt, in dessen Namen geehrt zu werden ihn mit Stolz erfüllt. Ich will mir nichts vormachen: Bloch ist veraltet. Ich lese die Spuren und staune, dass es nicht Jahrhunderte, sondern nur ein paar Jahrzehnte sind, die mich davon trennen. Ich kehre zum Prinzip Hoffnung zurück und erinnere mich, schon beim ersten Mal, da ich es studierte – es war während meines Studienjahres in Kairo, zumeist nachts im Teehaus, die Wasserpfeife im Mund und die freundlichsten Geräusche Arabiens im Ohr – ich erinnere mich, dass ich schon als Zweiundzwanzigjähriger vor allem dachte, wie fern es mir sei, das Prinzip Hoffnung, das noch von meinen älteren, den Ausläufern Achtundsechzigs noch berührten Brüdern gepriesen worden war. Ich studierte es fasziniert, eben weil ich es nicht mehr verstand, weil ich eine Stimme vernahm, die eindringlich und ernst und wahrhaftig klang, aber eine Sprache sprach, die ausgestorben war und mit meiner Sprache, meiner Welt, meiner Wahrnehmung nichts mehr zu tun hatte. In keinem anderen Buch habe ich so schmerzlich gelernt, dass die Menschen einmal mit der Hoffnung aufwuchsen. Und ich lernte, dass es noch nicht lange her war, zwei, drei Jahrzehnte nur. Sagenhaft jene Zeiten, in denen ein Autor die »Grundrisse einer besseren Welt« skizzieren konnte, ohne zu lügen. Bloch ist veraltet. Aber der Befund spricht nicht gegen ihn, er spricht gegen uns. Und ich glaube, die eigentliche Kraft, die Blochs Philosophie heute entwickeln kann, die Schärfe und die Provokation, liegt nicht in den Versuchen, seine Gegenwärtigkeit mühsam zu behaupten, sondern im Gegenteil: die Distanz, die uns trennt, schmerzhaft zu empfinden. Bloch muss nicht aktualisiert, er muss erinnert und gegen die Gegenwart gelesen werden, damit sie nicht alles bleibt. Wenn ich sage, dass die philosophischen Hauptschriften – von seinen philosophiegeschichtlichen Traktaten und schon gar von seinen herausragenden Hinführungen zu Hegel spreche ich hier nicht –, wenn ich also sage, dass die philosophischen Hauptschriften Blochs veraltet seien, meine ich deshalb nicht, dass sie nicht gelesen werden müssten. Im Gegenteil sagt Bloch mir noch in seiner Fremdheit, seiner Antiquiertheit, seinen hinreißenden und ärgerlichen Anmaßungen mehr als fast alles, was heute philosophisch geschrieben wird. Eben weil wir ihn hinter uns gelassen haben, lesen wir in ihm, was wir verloren haben. Vielleicht ist auch der Begriff des Veralteten ganz falsch: Das Prinzip Hoffnung ist voller Jugend, aber vielleicht sind wir, ist unsere Zeit und meine Generation zu alt geworden, als dass Bloch unmittelbar zu uns spräche. 221 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Navid Kermani

Professor Hobsbawm wird es besser beurteilen können, aber mir scheint, als könne man die unsere auch als eine Epoche charakterisieren, die jedweden Messianismus diskreditiert, die die Hoffnung ausgetrieben hat oder jedenfalls alles daran setzt, sie auszutreiben. Die Utopie, einst wertvollstes Gut und Rettungsring der Menschheit, wird zum Betrug. Der technologische Klimbim verdeckt nur unzureichend die Scharlatanerie, die heute in der kommerziell betriebenen Zukunftsgläubigkeit liegt und inzwischen auch bei uns staatlich gesponsort wird. Wie unendlich banal und billig kommt etwa eine Dreißig-Millionen-Ausstellung wie die Berliner »Sieben Hügel« daher, vergleicht man sie mit den Zukunftsentwürfen, die der damals bettelarme Ernst Bloch im Prinzip Hoffnung aus allen Kulturen und Zeiten zusammengetragen hat. Ich nenne den Aspekt des Geldes mit Bedacht, denn die neuen Utopisten vertreten, bewusst oder unbewusst, das Interesse der absolut gesetzten Marktwirtschaft. Das »bürgerliche« Interesse hätte Bloch es genannt. »Das bürgerliche Interesse«, schrieb er, »möchte gerade jedes andere, ihm entgegensetzte, in das eigene Scheitern hineinziehen; so macht es, um das neue Leben zu ermatten, die eigene Agonie scheinbar grundsätzlich, scheinbar ontologisch.« Das ist, wenn ich mich betrachte und umsehe, ohne Zweifel gelungen: die Agonie erscheint vielen von uns eine ontologische zu sein, was sie, wie Bloch und all die Zivilisationen, die ihn hervorgebracht haben, lehren, was sie nicht ist. Aber Bloch, der zwar Visionär, aber nicht Illusionist war, Bloch, der Hitlers Gewalt früher als die meisten, in den frühen zwanziger Jahren bereits, beim Namen genannt und vorausgesehen hat, Bloch hat auch die Wendung vorausgesehen, die der Gedanke des Utopischen nimmt, wenn alle Utopie erledigt ist: »Die Hoffnungslosigkeit«, schreibt er, »ist selber, im zeitlichen wie sachlichen Sinn, das Unaushaltbarste, das ganz und gar den menschlichen Bedürfnissen Unerträgliche. Weshalb sogar der Betrug, damit er wirkt, mit schmeichelhaft und verdorben erregter Hoffnung arbeiten muss. Weshalb gerade wieder die Hoffnung, doch mit Einsperrung auf bloße Inwendigkeit oder mit Vertröstung aufs Jenseits, von allen Kanzeln gepredigt wird.« Das hat Bloch geschrieben, in den späten dreißiger oder frühen vierziger Jahren, nehme ich an. Das hat Bloch vorausgesehen. Er war also nichts weniger als naiv. Er hat nur nicht mit dem Schlimmsten gerechnet: dass der Betrug recht behält. »Nun: mögen die Toten ihre Toten begraben«, schrieb er; »der beginnende Tag hört noch in der Verzögerung, die ihm die überständige Nacht zuzieht, auf anderes als auf das 222 https://doi.org/10.5771/9783495860007 .

Bloch, gegen die Gegenwart gedacht

verwesend schwüle, wesenlos nihilistische Grabgeläute.« Was macht der Tag, wenn er längst eingesehen hat, dass er nicht mehr beginnt? Er verzieht sich. Und also ist selbst die geläuterte Vision eines Dritten Weges zusammengeschrumpft auf das Wahlprogramm von New Labour und der Sozialismus auf die Neue Mitte. Bloch hat Das Prinzip Hoffnung zwischen 1938 und 1947 im amerikanischen Exil geschrieben; die Jahreszahlen sind zu Beginn des Buches ausdrücklich vermerkt. Man sollte sie sich vor Augen halten: Während des Zweiten Weltkriegs schrieb ein deutscher Marxist, der sich über den real existierenden Sozialismus kaum noch Illusionen machte, ausgerechnet im ungeliebten amerikanischen Exil ein monumentales Buch über die Hoffnung, als wollte er den Benjaminschen Satz »Überall gibt es Hoffnung, nur nicht für uns« mit aller Gewalt und aller Verzweiflung widerlegen, als wollte er sich und seinen Lesern, von denen er nicht einmal wissen konnte, ob er sie je erreichen würde, als wollte er ihnen zurufen: »Wenn es Hoffnung gibt, dann auch für uns.« Die Größe, die in diesem Entwurf liegt, die auf jeder Seite bekämpfte Trauer und auch der biblische Starrsinn – natürlich passt Ernst Bloch nicht in unseren kümmerlich-behaglichen europäischen Frieden. Natürlich lohnt es, ihn zu lesen und zu lehren. Eben weil er uns nicht passt.

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Literatur

Das Literaturverzeichnis fasst die von den Autorinnen und Autoren dieses Buchs verwendeten Quellen weitgehend zusammen. Es enthält klassische ebenso wie zeitgenössische Texte zur Utopie und Utopieforschung und dort hineinwirkender Bereiche. In seiner transdisziplinären Ausrichtung bietet es einen guten, ausgewählten Einblick in verschiedene Wissenschaftsgebiete zwischen Philosophie, Politischer Theorie, Ethik, Zukunftsforschung, Sozialwissenschaft und Literatur. Ach, Johann S. / Pollmann, Arnd (Hgg.): No Body Is Perfect: Baumaßnahmen am menschlichen Körper, Bioethische und ästhetische Aufrisse, Bielefeld, 2006 Adorno, Theodor W.: Aldous Huxley und die Utopie, in: Ders.: Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, Berlin / Frankfurt a. M., 1955 Agar, Nicholas: Liberal Eugenics: In Defense of Human Enhancement, Malden, 2004 Altvater, Elmar: Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster, 2010 Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag, (Ausstellungskatalog des Wilhelm-Hack-Museums Ludwigshafen a. Rh.), hg. v. Richard W. Gassen und Bernhard Holeczek, Heidelberg, 1985 Appiah, Kwame Anthony: Der Kosmopolit: Philosophie des Weltbürgertums, München, 2007 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich, 2002 [1958] Aristoteles: Nikomachische Ethik, übersetzt v. Olof Gigon, Zürich / München, 1967 Assheuer, Thomas: Vorwärts, Genossen!, in: Die Zeit, 25/2010 Assheuer, Thomas: Wer hat Angst vor der Utopie?, in: Die Zeit, 50/2002 Bacon, Francis: Neu-Atlantis, in: Der utopische Staat, übersetzt und hg. v. Klaus J. Heinisch, Hamburg, 1960 [1638] Balibar, Étienne: Die Grenzen der Demokratie, Hamburg, 1993 Balibar, Étienne: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg, 2003 Barber, Benjamin: End of Democracy? How Privatisation Corrupts Res Publica, Rede auf dem Kongress »Philosophy meets Politics«, 31. 10. 2003, WillyBrandt-Haus, Berlin

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Autoren

Ellen Bareis Dr. phil., Gesellschaftswissenschaftlerin, wiss. Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung der Goethe-Universität Frankfurt am Main, seit Herbst 2009 Vertretungsprofessur an der Fachhochschule Ludwigshafen a. Rh. Publikation: Verkaufsschlager. Urbane Shoppingmalls – Orte des Alltags zwischen Nutzung und Kontrolle, Westfälisches Dampfboot, 2007

Carolin Emcke Dr. phil.; von 1998 bis 2006 Redakteurin beim »Spiegel«. Seit 2007 Publizistin und internationale Reporterin (u. a. in Israel, Westbank, Pakistan, Ägypten, Irak, USA). Ernst-Bloch-Förderpreis 2006. Publikation: Von den Kriegen. Briefe an Freunde, Fischer, Frankfurt 2004

Edgar Göll Dr. disc. soc.; Zukunftsforscher am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin. 2007 bis 2009 am Center for Future Studies in Kairo/Ägypten. Publikation: Mobilisierung von Umweltengagement. Peter Lang, Frankfurt/M. 2007

Eric J. Hobsbawm Prof. Dr. phil.; 1971 bis 1982 Professor für Geschichte an der University of London; zahlreiche Gastprofessuren u. a. in New York, Stanford, Mexiko, Paris. Ernst-Bloch-Preis 2000. Publikation: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Hanser, München, Wien 1995

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Autoren

Christa Karpenstein-Eßbach Apl. Prof. Dr. phil.; Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mannheim. Publikation: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Fink, Paderborn 2004

Navid Kermani Dr. phil.; habilitierter Orientalist, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Fellow u. a. am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am KWI Essen. Ernst-Bloch-Förderpreis 2000, Hessischer Kulturpreis 2009, BuberRosenzweig-Medaille 2011. Publikation: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, C. H. Beck, München 2000

Johann Kreuzer Prof. Dr. phil.; Professor für Geschichte der Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Leiter der Adorno-Forschungsstelle in Oldenburg. Mitglied im Vorstand der Hölderlin-Gesellschaft. Publikation als Herausgeber: Ernst Bloch, Grundfragen der Philosophie: Ausgewählte Schriften. 2 Bände. Suhrkamp, Berlin 2010

Klaus Kufeld Dr. phil.; Gründungsdirektor des Ernst-Bloch-Zentrums Ludwigshafen a. Rh.; Geschäftsführer der Bloch-Stiftung. Von 2008 bis 2010 Vorsitzender des Forums Kultur der Deutsch-französisch-schweizerischen Oberrheinkonferenz. Publikation: Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs. Fink, München 2010

Julian Nida-Rümelin Prof. Dr. phil.; Professor am Seminar für Philosophie an der LudwigMaximilians-Universität München. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin (Institut für Philosophie). Kuratoriumsvorsitzender des Deutschen Studienpreises. Als Kulturstaatsminister Mitglied der Bundesregierung im ersten Kabinett Schröder. Publikation: Philosophie und Lebensform. Suhrkamp, Frankfurt 2009

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Autoren

Elif Özmen PD Dr. phil.; Oberassistentin am Lehrstuhl für Philosophie IV am Seminar für Philosophie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Tutorin im Executive-Studiengang Philosophie Politik Wirtschaft an der LMU München. Publikation: Moral, Rationalität und gelungenes Leben. Mentis, Paderborn 2005

Hansjürgen Rosenbauer Prof. Dr. phil.; Journalist und Moderator, 1991 bis 2003 Intendant (ORB), seit 2003 Medienrat Berlin/Brandenburg (St. Vors.), Internationaler Beirat Haus der Kulturen der Welt (Vors.), Aufsichtsrat Kultur des Bundes in Berlin, 1990 bis 2003 Professor an der Kunsthochschule für Medien, Köln. Burghart Schmidt Prof. Dr. phil.; Professor für Sprache und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main. Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien. 1987 bis 2002 Gastdozent am International Centre for Culture and Management (ICCM) Salzburg. Ehrenpräsident der Ernst-Bloch-Gesellschaft. Publikation: Kritik der reinen Utopie. Eine sozialphilosophische Untersuchung. Metzler, Stuttgart 1988

Beat Sitter-Liver Prof. Dr. phil.; Professor für praktische Philosophie an der Universität Freiburg (Schweiz). Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie im außerhumanen Bereich, Senator der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Publikation als Herausgeber und Mitautor: Utopie heute I und II. Zur aktuellen Bedeutung, Funktion und Kritik des utopischen Denkens und Vorstellens, Academic Press / Kohlhammer, Fribourg (Schweiz) 2007

Wilhelm Voßkamp Prof. Dr. phil.; Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin. Publikation als Herausgeber: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bde. I–III, Metzler, Stuttgart 1982

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