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German Pages 242 [246] Year 2016
Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis en i
von Jenny Linek MedGG-Beiheft 59
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 59
Gesundheitsvorsorge in der DDR zwischen Propaganda und Praxis von Jenny Linek
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2016
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung GmbH
Coverabbildung: Werftecho Nr. 16 (1962), S. 6.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11281-9 (Print) ISBN 978-3-515-11283-3 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis Vorwort.............................................................................................................
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Einleitung ......................................................................................................... Forschungsstand, eigene Fragestellung und Methoden ......................... Quellen und Aufbau der Arbeit ...............................................................
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen .......... 1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens ................................... 1.1.1 Vorgeschichte und Anknüpfungspunkte............................... 1.1.2 Der organisatorische und ideelle Neuanfang in der SBZ .................................................................................... 1.1.3 Der Stellenwert der Prophylaxe im weiteren Verlauf der DDR-Geschichte .............................................................. 1.1.4 Prophylaxe in der Arbeitswelt ............................................... 1.2 Leitbilder, Ziele und Erwartungen ................................................... 1.2.1 „Wir müssen Sportstadien bauen statt Krankenhäuser!“ – Grundzüge und Besonderheiten der Prophylaxe in der DDR ............................................................................. 1.2.2 „Gesunde Lebensführung ist keine Privatsache […]“ – Der Aspekt der Verantwortung ............................................. 1.2.3 Den „Besonderheiten des weiblichen Organismus Rechnung zu tragen“ – Geschlechterspezifische Gesichtspunkte ........................................................................ 1.3 Wichtige Akteure und Institutionen ................................................. 1.3.1 Gesundheitseinrichtungen auf zentraler Ebene ................... 1.3.2 Regionale und kommunale Gesundheitsorgane .................. 1.3.3 Akteure und Institutionen im Betriebsgesundheitsschutz ...
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen: Maßnahmen und Propaganda in der DDR ........................................................................... 2.1 Themen und Maßnahmen der Gesunderhaltung im Wandel der Zeit ................................................................................................ 2.1.1 Themenschwerpunkte ............................................................ 2.1.2 Maßnahmen und Anbieter .................................................... 2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda ..................... 2.2.1 Von Aufklärern und Erziehern – Gesundheitserzieherische Konzeptionen .......................................................................... 2.2.2 „Sie sind gesund!“ – Methoden und Formen der Gesundheitserziehung .....................................................
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Inhaltsverzeichnis
2.2.3 „Kosmetikbuch für alle“? – Geschlechtersensibilität in der Gesundheitspropaganda .................................................. 74 2.2.3.1 Historische Aspekte der geschlechterspezifischen Gesundheitserziehung ....................................................76 2.2.3.2 Staatliche Auffassungen von Weiblichkeit und Männlichkeit und deren Reproduktion in der Gesundheitspropaganda der DDR ........................78 2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien ............................................... 87 2.3.1 Deine Gesundheit ....................................................................... 88 2.3.1.1 Themen und Entwicklungen .........................................89 2.3.1.2 Rezeption durch die Leser und Leserinnen .................97 2.3.1.3 Propagierte Geschlechterleitbilder..............................100 2.3.2 Werftecho ................................................................................... 107 2.3.3 Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender ............................... 111 2.4 Fazit ..................................................................................................... 116 3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“ – Einblicke in den Gesundheitsalltag der DDR-Bevölkerung ....................................... 119 3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen ....................................................................................... 120 Exkurs: Eingaben ............................................................................... 120 3.1.1 Allgemeine Gesundheitserziehung ....................................... 125 3.1.1.1 Der Alltag der Gesundheitserzieherinnen und -erzieher .................................................................125 3.1.1.2 Die Resonanz in der Bevölkerung ..............................129 3.1.2 Die Einschränkung des Tabakkonsums ................................ 135 3.1.2.1 Die DDR und ihr Verhältnis zum Rauchen .............. 137 3.1.2.2 Eingaben zu „Qualmstängelchen“ und „blauen Büroräumen“ ..........................................144 3.1.3 Die Förderung körperlicher Betätigung und gesunder Ernährung ................................................................................ 155 3.1.4 Zwischenfazit ........................................................................... 163 3.2 Gesundheitsalltag im Betrieb ............................................................ 164 3.2.1 Arbeitsabläufe im Betriebsgesundheitswesen des Bezirks Rostock ................................................................ 164 3.2.2 Der Krankenstand .................................................................. 170 3.2.3 Kurzes Resümee zur prophylaktischen Orientierung des Betriebsgesundheitswesens.............................................. 177
Inhaltsverzeichnis
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3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive ..... 181 3.3.1 Rahmenbedingungen und Erklärungsansätze für das Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen (von 1800 bis heute)................................................................ 182 3.3.2 Befunde zum Gesundheitsverhalten der DDRBürgerinnen und -Bürger ....................................................... 185 3.3.2.1 Von vorsorgenden Frauen und sorglosen Männern ........................................................................187 3.3.2.2 Von gesundheitsbewussten Männern und emanzipierten Frauen ..................................................192 3.3.3 Analyse des geschlechterspezifischen Gesundheitsverhaltens der DDR-Bevölkerung unter Einbeziehung weiterer Einflussfaktoren ....................................................................... 200 4 Gesundheit – ein substanzielles Thema in der DDR? Schlussbetrachtungen ................................................................................ 214 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................... 221 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................. 223 Abbildungsverzeichnis.................................................................................... 242
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Juni 2015 von der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald angenommen wurde. Sehr viele Menschen haben mich während der Promotionszeit begleitet und unterstützt. Ich danke zunächst meinen beiden Betreuern, Prof. Dr. Thomas Stamm Kuhlmann, der schon mein Studium und meine Magisterarbeit wohlwollend begleitet hat und immer ein offenes Ohr für mich hatte, und Prof. Dr. Martin Dinges für die intensive Betreuung und den immer hilfreichen Austausch trotz der räumlichen Distanz zwischen Greifswald und Stuttgart. Prof. Dr. Robert Jütte und der Robert Bosch Stiftung Stuttgart danke ich für die Möglichkeit des komfortablen Stipendiums am Institut für Geschichte der Medizin und für die Aufnahme der Arbeit in die Beihefte-Reihe von „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“. Wissenschaftlichen und freundschaftlichen Kontakt, der mir immer wieder Auftrieb gegeben hat, konnte ich dankenswerterweise zu Prof. Dr. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach, Dr. Hedwig Richter, Dr. Jens Gründler, Dr. Susanne Michl, Dr. Tobias Fischer, Dr. Philipp Eisele, Pierre Pfütsch, Christian Sammer, JProf. Dr. Eva Blome und Dr. Irmgard Zündorf halten. Auch den drei Ärztinnen Renate Krüger, Dr. Dorothea Meyer und Dr. Adelheid Wussow, die sich für ein Interview zur Verfügung gestellt haben, sowie den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den häufig von mir aufgesuchten Archiven und Bibliotheken bin ich sehr zu Dank verpflichtet. Schließlich haben meine Familie und mein Freundeskreis großen Anteil daran, dass ich diese Arbeit bewältigen konnte. Ihnen allen sei an dieser Stelle meine große Verbundenheit bekundet, allen voran meiner Mutter Marion, die mir all Ihre Energie und Kraft, Ihre Zeit und auch hin und wieder Ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat und sich mit großer Leidenschaft der Begleitung dieses Forschungsprojektes gewidmet hat. Meinem Vater Stefan danke ich für seinen grenzenlosen Optimismus und sein Vertrauen in mich, meinem Großvater Werner für Antrieb und Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Alle anderen Verwandten standen mir ebenfalls immer helfend und aufmunternd zur Seite. Auch den Rückhalt meiner Freunde möchte ich an dieser Stelle positiv hervorheben. Gewidmet ist das Buch meinen beiden Lieben Tilda und Thomas. Eure Lebensfreude und die Aussicht auf die gemeinsame Zeit mit Euch waren mir die größte Stütze und Motivation.
Einleitung „Es wird immer so viel von Prophylaxe gesprochen; aber den Menschen, die wirklich die Absicht haben, sich und ihre Nachkommen gesund zu erhalten, wird es z. Teil sehr schwer gemacht.“1
Um die erste Behauptung von Elisabeth F.2 bezüglich der medialen Relevanz der Prophylaxe3 zu überprüfen, die sie in ihrer Eingabe an das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 1966 aufgestellt hat, genügt ein kurzer Blick in die medizinische Publizistik, in Propagandamaterialien zur Gesundheitserziehung und in offizielle Dokumente der DDR-Regierung. Sogar die Verfassung gibt Aufschluss über den hohen Stellenwert des Gesundheitsschutzes – in Artikel 35, Absatz 1 heißt es: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft.“4 Die prophylaktische Orientierung des Gesundheitswesens war eines der sechs grundlegenden Prinzipien des sozialistischen Gesundheitsschutzes, deren Formulierung auf Lenin zurückgeht und die auch für den Aufbau des DDR-Gesundheitswesens Pate standen.5 Bereits nach Kriegsende 1945 wurde rechtlich und institutionell vieles in dieser Richtung auf den Weg gebracht. Mit dem sozialistischen Gesellschaftsmodell schien endlich die Möglichkeit gekommen, das Konzept einer umfassenden Prophylaxe durchzusetzen, das heißt die Verhältnisse, die zur Krankheitsentstehung beitragen, grundlegend zu verändern.6 Bemühungen zur Anwendung dieses ganzheitlichen Ansatzes, der die Schaffung von gesundheitsfördernden Arbeits- und Lebensbedingungen für die Bevölkerung zum Ziel hat, verfolgten bereits die Arbeiterparteien der Weimarer Republik.7 Doch erst unter sozialistischen Verhältnissen gewann „erstmalig in der Geschichte der Menschheit“ diese Form der allgemeinen Prophylaxe Bedeutung und Gestalt – so die Behauptung von Gerhard Karsdorf und Karlheinz Renker in ihrem medizinischen Lehrbuch Prophylaxe von 1981.8 Ein Jahr zuvor kam der Sozialhygieniker Kurt Winter in seiner Bilanz über das Gesundheitswesen der DDR zu dem Schluss, die neuartigen, positiven Grundbedingungen der sozialistischen Gesellschaftsordnung – das Frei1 2 3 4 5
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Elisabeth F. aus Zwickau ans Ministerium für Gesundheitswesen (im Folgenden MfGe), 29.11.1966, in: Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BArch), DQ 1/5175, unfol. Eingabenautorinnen und -autoren werden in der Arbeit zum Schutz der Persönlichkeitsrechte nur mit anonymisiertem Nachnamen genannt. Prophylaxe (griechisch „prophýlaxis“ für Vorsicht) war der in der DDR gebräuchliche Ausdruck für Gesundheitsvorsorge und Krankheitsverhütung. Weitere Begriffsbestimmungen und -präzisierungen werden in Kapitel 1 vorgenommen. Verfassung (1968), S. 29. Die anderen Prinzipien waren: staatliche Verantwortung; Planmäßigkeit; allgemeine Zugänglichkeit zu unentgeltlicher qualifizierter medizinischer Hilfe; Wissenschaftlichkeit bzw. Einheit von Theorie und Praxis sowie Mobilisierung der Öffentlichkeit für den Gesundheitsschutz; vgl. Lämmel (2004). Vgl. Karsdorf/Renker (1981), S. 9. Vgl. Schagen (2002), S. 175. Vgl. Karsdorf/Renker (1981), S. 10.
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Einleitung
sein von Profitwirtschaft, Ausbeutung und Arbeitslosigkeit in einem System der sozialen Sicherheiten – hätten sich „segensreich“9 auf die Gesundheit der DDR-Bürger ausgewirkt. Karsdorf und Renker stellten zudem fest, dass sich die kapitalistische Gesellschaft demgegenüber lediglich am Konzept der partiellen Prophylaxe – dem Schutz und der Stärkung des Organismus durch medikamentöse Prophylaxe oder Immunisierung – sowie an der Frühbehandlung orientierte.10 Von daher konnte der „sehnlichste Wunsch des Menschen, gesund zu sein und zu bleiben“ nur in der sozialistischen Gesellschaft „maximal erfüllt werden“. Diese Ansicht tat der Physiologe Karl Hecht bereits 1969 kund. Ihm zufolge bot der Sozialismus „nicht nur die beste, sondern die alleinige Voraussetzung für eine gesunde Lebensweise […]“.11 Soviel zum theoretischen Anspruch der Prophylaxe, der fortwährend an die Bevölkerung herangetragen wurde und sicher auch die oben zitierte Elisabeth F. zu ihrer Äußerung veranlasste. Wie ist aber die zweite Behauptung der Eingabenschreiberin zu bewerten, dass es den Menschen zum Teil „sehr schwer gemacht“ werde, sich „gesund zu erhalten“? Was war der Hintergrund für derlei Skepsis und Kritik, die in den Zuschriften der Bürgerinnen und Bürger an die Staatsorgane oder die Medien der DDR durchaus häufig Niederschlag fand? Worin lagen die Ursachen für eine scheinbar nicht reibungslose Umsetzung der theoretischen Versprechungen zum Schutz der Gesundheit in die Praxis? Was ist von der Utopie einer umfassenden Prophylaxe tatsächlich in die Arbeit der Gesundheitserzieherinnen und Ärzte eingeflossen? Diese Fragen zur Implementierung des Prophylaxegedankens bilden den thematischen Schwerpunkt der vorliegenden Dissertation. Dabei geht es vor allem darum, den in den Eingaben und anderen Selbstzeugnissen artikulierten Erfahrungen und Erlebnissen der DDR-Bevölkerung Raum zu geben und zu ergründen, wie sie die staatlichen Vorgaben für ein gesundheitsbewusstes Leben umgesetzt hat und ob die Vorstellungen der Menschen von dem, was Gesundheit ausmacht und beinhaltet, mit den Ansichten der Regierung übereinstimmten oder sich eventuell davon unterschieden. Forschungsstand, eigene Fragestellung und Methoden In der gesamten DDR-Forschung lag der Fokus bisher eindeutig auf dem Politikbereich. Die Geschichte der DDR zu erzählen, bedeutete lange Zeit, die Geschichte der SED und des SED-Staates darzustellen. Durch diesen politikgeschichtlich begrenzten Ansatz fehlten die Erfahrungen des „In-der-Gesellschaft-Gelebthabens“12, wie es Thomas Lindenberger formulierte. Arbeiten zur Gesellschafts- und Sozialgeschichte erfahren zwar inzwischen einen kontinuierlichen Aufschwung, liegen aber bisher nur in geringem Umfang vor. Ge9 10 11 12
Winter (1980), S. 7. Vgl. Karsdorf/Renker (1981), S. 9. Hecht (1969), S. 90. Lindenberger (2003), S. 240.
Einleitung
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rade auf dem Feld der Alltagsgeschichte, der Mentalitätsgeschichte und vor allem im Bereich der lebensgeschichtlichen Untersuchungen gibt es noch breiten Raum für weitere Forschung.13 Auch im Bereich des Gesundheitswesens – eines der am spärlichsten beleuchteten Felder der DDR-Sozialgeschichte – galt das Interesse der Forschung bislang vorrangig formellen Fragen nach der Organisation und den Strukturen sowie der Gesundheitspolitik und ihren Repräsentanten.14 Alltagsgeschichtliche Aspekte wie der Umgang der Bürgerinnen und Bürger mit den Themen Gesundheit und Krankheit15 oder geschlechterspezifische Fragestellungen16, finden so gut wie kaum Beachtung.1-1 Umfassende Grundlagenforschung zum DDR-Gesundheitswesen bieten die drei Bände der Reihe Geschichte der Sozialpolitik17, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv sowie die Veröffentlichungen der Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e. V.18. Den Kompendien des Bundesministeriums sowie der Dokumentationsreihe der Interessengemeinschaft19 sind vor allem Informationen zu den Entwicklungslinien und zur Ausgestaltung der verschiedenen Felder der Gesundheitspolitik zu entnehmen. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei Ersteren um Analysen von Historikern und Sozialwissenschaftlern handelt und bei Letzteren vorrangig um Abhandlungen von DDR-Ärzten und anderen Protagonisten des DDR-Gesundheitswesens, deren erklärtes Ziel es war, Bewahrenswertes aus dem Gesundheitssystem der DDR in das der Bundesrepublik zu überführen. Nichtsdestotrotz geben die zahlreichen Einzelpublikationen der Interessengemeinschaft einen guten und fundierten Überblick über die diversen 13
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Eigene Mitschrift des Vortrags von Prof. Dr. Ralph Jessen: „Zeithistorische Forschung zur DDR der letzten 20 Jahre“, gehalten am 23. September 2010 in Berlin auf der Tagung des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin „DDR-Geschichte in Forschung und Lehre. Bilanz und Perspektiven“. Jessen stützt seine Daten auf die Auswertung der Jahresberichte für deutsche Geschichte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ernst (1997) gibt mit ihrer Dissertation einen bisher eher seltenen Einblick in die sozialgeschichtlichen Hintergründe der Ärzteschaft in der DDR. Einen sehr umfassenden Einstieg zum Thema Gesundheitspolitik bietet Winfrid Süß (1998), der zudem Vergleiche zum Gesundheitssystem der Bundesrepublik und dem des Nationalsozialismus zieht. Seltene Ausnahme ist hier Mary Fulbrooks Kapitel „Fragen von Leben und Tod“ in ihrer Monographie Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR (2011), S. 107– 133. Eines der wenigen Forschungsvorhaben, das sich mit geschlechterspezifischer Prävention in der DDR befasst, ist das Drittmittelprojekt „Geschlechtsbilder und Präventionskonzepte kardiovaskulärer Erkrankungen in Deutschland, 1949–2000“ der Uni Mainz. Siehe dazu die Publikation von Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013) und von Madarász-Lebenhagen (2015). Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 11 Bände, Baden-Baden 2001–2008. Die Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e. V. bestand von 1990 bis 2007 und hat in dieser Zeit 63 Bände veröffentlicht. Dokumentation zur Geschichte des Gesundheitswesens der DDR, 6 Bände, Berlin 1996– 2003.
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Einleitung
Institutionen und deren Vertreter sowie über die Ansprüche und Leistungen des Gesundheitswesens. Auch der vom Hamburger Arbeitskreis für Sozialund Gesundheitspolitik herausgegebene Sammelband Das Gesundheitswesen der DDR. Aufbruch oder Einbruch?20 stützt sich bewusst auf Autorinnen und Autoren aus der DDR, deren Ausführungen und Erfahrungsberichte wichtige Detailinformationen zu Abläufen im Alltag des Gesundheitswesens liefern. Die genannten Publikationen enthalten allesamt Ausführungen zum Aspekt der Prophylaxe und des Gesundheitsschutzes. Für einen fundierten Überblick über das Thema ist zudem der Sammelband Prävention und Prophylaxe21 aus dem Jahr 1991 unerlässlich. Daneben sind die zahlreichen Aufsätze des Sozialmediziners Jens-Uwe Niehoff zu nennen, die einen guten Einstieg in das Thema Präventionsgeschichte der DDR bieten. Alles in allem bleibt aber auch die Literatur zu diesem Themenkomplex eher auf die Präventionspolitik und -diskurse beschränkt. Abseits der historischen Entwicklung des Präventionsgedankens sowie der verschiedenen präventiven Maßnahmen, Methoden und Leitbilder ist das Thema sehr schwer zu fassen, weshalb die Geschichte der modernen Gesundheitsprävention insgesamt noch weitgehend ungeschrieben ist.22 Gerade Aussagen zur Wirkungsweise der Gesundheitserziehung oder zur Effizienz von Präventionsmaßnahmen sind schwer zu treffen, da es meist problematisch ist, Aussagekräftiges in den Quellen zu finden oder die Resultate nicht eindeutig abzugrenzen sind von anderen Einflussfaktoren.23 An diese Forschungsproblematik möchte ich mit der Dissertation anknüpfen. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Ralf Ahrens hat in einem Aufsatz zur Wirtschaftsgeschichte des Gesundheitswesens in der SBZ und DDR darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Betrachtung der Makroebene nicht ausreiche und plädiert für die Untersuchung konkreter historischer Fallbeispiele, um die Effekte der Gesundheitspolitik auf die davon betroffenen Menschen zu ergründen. Diese Wirkung hinge letztlich in entscheidendem Maße davon ab, wie sie auf der Mikroebene implementiert werde.24 Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht daher die Wechselbeziehung zwischen staatlichen Ansprüchen und Vorstellungen (Makroebene), institutioneller Umsetzung (Mesoebene) und individuellen Handlungsweisen (Mikroebene). Denn Gesellschaft ereignet sich nicht an der Spitze, sondern eher auf unterer Ebene.25 Mary Fulbrook zufolge blieben bislang 80 Prozent der DDR-Bevölkerung in den Darstellungen außen vor: Fast immer liege der Fokus auf hohen
20 Thiele (1990). 21 Elkeles et al. (1991). 22 Vgl. Lengwiler/Madarász: Präventionsgeschichte (2010), S. 11. Für aktuelle Beiträge zur Präventionsforschung, u. a. zur geschlechterspezifischen Prävention, zu Praktiken der Vorsorge und zur Prävention im Betrieb, siehe Hähner-Rombach (2015). 23 Vgl. Berndt (1991), S. 191. 24 Vgl. Ahrens (2002), S. 52. 25 Vgl. Lindenberger (2003), S. 239.
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Funktionären oder profilierten Intellektuellen – die mittlere Ebene hingegen werde kaum berücksichtigt.26 Ziel der Arbeit ist es, das normative Gerüst der Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung in der DDR in Bezug zur Lebensrealität der (einfachen) Bürgerinnen und Bürger zu setzen und auf seine Alltagsrelevanz hin zu überprüfen. Die Leitfrage lautet: Ist es der DDR gelungen, die Bevölkerung zu gesundheitsbewusstem Handeln zu bewegen? Dafür müssen sowohl soziale (Verhältnis-)Faktoren wie politische und wirtschaftliche Bedingungen oder die Qualität der Versorgungsangebote in der DDR als auch personale Faktoren zusammengenommen betrachtet werden.27 Zum einen ist danach zu fragen, ob überhaupt der entsprechende Rahmen geschaffen wurde, ob also der Staat, der sich in der Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung sah, seiner Fürsorgepflicht nachgekommen ist und die entsprechenden Bedingungen und Strukturen geschaffen hat, um gesundheitsbewusst leben zu können. Zum anderen geht es darum, das Gesundheitsverhalten der Menschen vor ihrem konkreten Lebenshintergrund – sozialer Status, Alter, Bildungsgrad, Geschlechtszugehörigkeit – zu betrachten. Dabei ist die Beantwortung der Frage von besonderem Interesse, inwiefern sich das Geschlecht auf das Gesundheitshandeln und somit den Gesundheitsstatus der DDR-Bürgerinnen und -Bürger ausgewirkt hat. Heutzutage ist in allen postindustriellen Gesellschaften die Lebenserwartung von Frauen um etwa sechs Jahre höher als die von Männern; darüber hinaus leiden Frauen und Männer teilweise an verschiedenen Krankheiten und nehmen unterschiedlich häufig ärztliche Hilfe und Präventionsangebote in Anspruch.28 Die noch junge geschichtswissenschaftliche Forschung zu geschlechterspezifischem Gesundheitsverhalten kommt zu dem Ergebnis, dass das Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen nicht vorrangig durch biologische Faktoren, sondern zum größten Teil durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und in der Gesellschaft vorherrschende Geschlechterleitbilder bestimmt wird.29 Mit Hilfe der Gender-Theorien30 kann auch im Bereich der Medizingeschichte der 26 Vgl. Hesselmann (2007). 27 Siehe das Modell zur „Schlüsselrolle des Gesundheitsverhaltens“ von Hurrelmann, bei dem soziale und personale Faktoren gleichermaßen auf das Gesundheitsverhalten Einfluss nehmen; vgl. Hurrelmann (2006), S. 24. 28 Vgl. Kolip/Hurrelmann (2002). 29 Siehe u. a. die zahlreichen Aufsätze von Martin Dinges im Literaturverzeichnis der Arbeit. 30 Seit Mitte der 1970er Jahre fungiert der ursprünglich grammatikalische Begriff gender in den Kultur- und Sozialwissenschaften – in Gegenüberstellung zum biologischen Geschlecht sex – als Bezeichnung für das ‚soziale‘ oder ‚kulturelle‘ Geschlecht. Die Analysekategorie gender macht deutlich, dass es sich bei Geschlechtsidentität nicht um angeborene Verhaltensweisen, sondern um gesellschaftliche Erwartungs- und Rollenmuster handelt, die Frauen und Männern über Erziehungs- und Sozialisationsprozesse vermittelt werden. Neuere Ansätze gehen davon aus, dass Geschlechteridentitäten und -differenzen Prozesscharakter haben und in sozialen Handlungen hergestellt werden: Die Geschlechterrolle wird im alltäglichen Miteinander, situationsbedingt und immer wieder aufs Neue vollzogen (doing gender). Als gute Einführung zu Begrifflichkeiten und Konzepten der Ge-
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Einleitung
Blick geschärft werden für gesellschaftliche Macht- und Statusverteilungen zwischen Männern und Frauen sowie für Geschlechterstereotype, die sich allesamt auch auf das Gesundheits- und Krankheitsgeschehen auswirken.31 Wie haben sich demnach die strukturellen und institutionellen Bedingungen in der DDR sowie die propagierten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auf das Gesundheitshandeln und Befinden der DDR-Bevölkerung ausgewirkt? Inwiefern hat die (Gesundheits-)Politik geschlechterspezifische Versorgungsstrukturen etabliert oder aber – im Zuge der rechtlichen Gleichstellung zwischen Mann und Frau – Geschlechterungleichheiten abgebaut? Haben sich die Lebensumstände und Belastungen der Geschlechter und demzufolge auch die Gesundheitsverhaltensweisen im DDR-Sozialismus angeglichen? Die Aufgabe wird jedenfalls darin bestehen, Ursachen für geschlechterspezifisches Gesundheitsverhalten zu analysieren und zu zeigen, wie das Geschlecht auch über Gesundheitsvorsorge und den Umgang mit dem Körper ausgedrückt und hergestellt wurde. Beim Thema ‚Geschlecht und Gesundheit‘ besteht für die gesamte Zeitgeschichte Nachholbedarf. Dagmar Ellerbrock konstatiert elementare Defizite hinsichtlich einer geschlechtergeschichtlichen Analyse der Gesundheitsfürsorge.32 Auch für die DDR-Geschichte steht noch eine Untersuchung darüber aus, „wie sich staatliche Maßnahmen und politische Rhetorik auf das Gesundheitserleben und -verhalten von Frauen und Männern auswirkten“.33 Insbesondere das Verhältnis des ostdeutschen Mannes zu Gesundheit und Krankheit stellt ein Forschungsdesiderat dar.34 Ein interessanter Forschungsaspekt wäre hierbei, ob sich auch in der DDR die „kulturell traditionelle Männerrolle“35 negativ auf die Gesundheit ausgewirkt hat. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung des männlichen Geschlechts wird in der Literatur einhellig gefordert und dies nicht nur für den Bereich der Medizingeschichte.36 Durch die Einbeziehung der Arbeitswelt soll versucht werden, diese Forschungslücke zu verkleinern. Obwohl dem Betriebsgesundheitswesen eine exponierte Stellung im Gesundheitssystem der DDR zukam, findet die gesundheitliche Betreuung der DDR-Arbeiter in den Veröffentlichungen zur Sozialgeschichte bisher kaum Erwähnung.37 Auch das Gesundheitsverhalten von
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schlechtergeschichte siehe Opitz-Belakhal (2010); mit dem Fokus auf die Gesundheitsforschung siehe Kuhlmann (1997). Vgl. Franke (2012), S. 207 ff. Vgl. Ellerbrock (2002), S. 134. Ebenda, S. 133. Vgl. ebenda. Dinges (2006), S. 23. Siehe u. a. Kühne (1998) und Martschukat/Stieglitz (2008). Die Arbeiten der Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Sylka Scholz (2004 und 2008) stellen eine der wenigen Ausnahmen auf dem Feld der ostdeutschen Männerforschung dar. Zu den wenigen Ausnahmen zählen Timm (1999) sowie Zimmermann (2002), der in seiner Studie „Die industrielle Arbeitswelt der DDR unter dem Primat der sozialistischen Ideologie“ die Mehrschichtarbeit thematisiert und dabei ausführlich auf die medizinische Betreuung der Schichtarbeiter sowie deren gesundheitliche Belastungen eingeht. Auch
Einleitung
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Arbeitern und Angestellten spielt in alltagsgeschichtlichen Untersuchungen so gut wie keine Rolle.38 Das Betriebsgesundheitswesen der DDR wird daher eingehend untersucht. Der Zugriff erfolgt anhand von Überlieferungen der Betriebe und deren Gesundheitseinrichtungen. Hierdurch lassen sich indirekte, aber wertvolle Informationen zum männlichen Gesundheitsverhalten gewinnen. Die lebensgeschichtliche Perspektive auf das Thema ‚Gesundheit und Gesundheitsvorsorge‘ in der DDR kann auch dazu beitragen, alternative Handlungsoptionen und kritisches Potential, beispielsweise selbstgewählte Wege der Gesunderhaltung abseits der staatlichen Vorgaben oder Verweigerungshaltungen gegenüber gesetzlichen Anordnungen sichtbar zu machen. In der Literatur nimmt der Patient in der DDR bisher eher eine fremdbestimmte und passive Rolle ein. So kommt beispielsweise der Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg zu dem Schluss, dass sich den Anweisungen der Mediziner keiner entziehen konnte und die Ärzte verfassungsrechtlich abgestützte Macht über den Einzelnen ausübten. Jede vorbeugende Belehrung und Behandlung geschah aus normativer Perspektive zum Wohle des „fügsamen Patienten“.39 Ansichten über ‚fügsame‘ Patienten prägten bislang die gesamte Medizingeschichtsschreibung. Bis in die 1980er Jahre dominierten in medizinhistorischen Abhandlungen ärztlich-medizinisches Wissen über Krankheiten sowie der Blick von Ärzten auf den Patienten. Parallel zur kulturhistorischen Wende in der Geschichtswissenschaft vollzog sich auch auf dem Feld der Medizingeschichte ein Perspektivwechsel: Eine wichtige Rolle spielte dabei der programmatische Aufsatz des Medizinhistorikers Roy Porter The Patient’s View40, durch den der Patient, mitsamt seinen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, größere Beachtung erfuhr.41 Dieser Ansatz wird auch in der vorliegenden Studie Anwendung finden. Für die Arbeit sind jedoch nicht nur individuelle Deutungen relevant, sondern im Sinne der kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte auch übergreifende Strukturen wie die bereits angeführten sozialen Verhältnisfaktoren: zum Beispiel die wirtschaftliche Situation, die Arbeits- und Wohnverhältnisse, die Hygienebedingungen sowie die Bildungsoder auch Freizeitangebote. Die Gesundheit und Krankheit betreffenden Wahrnehmungs- und Handlungsweisen der DDR-Bevölkerung sollen in Verbindung zu diesen strukturellen und materiellen Bedingtheiten ihres Lebens gesetzt werden.42
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die besondere gesundheitliche Situation und Fürsorge der Uran-Arbeiter der Wismut AG hat bereits das Interesse der Forschung erregt, so z. Bsp. bei Schütterle (2010). Kurze Kapitel zum ‚Krankfeiern‘ und zum Alkoholmissbrauch im Betrieb finden sich lediglich bei Friedreich (2008). Ansonsten werden derlei Themen nur gestreift, wie z. Bsp. bei Ansorg (2001) oder bei Schüle (2003). Mühlberg (1992), S. 49. Porter (1985). Vgl. Ernst (1999). Zum Forschungsansatz der Alltagsgeschichte, die inzwischen samt Inhalten und Fragestellungen in der Kulturgeschichte aufgegangen ist, siehe Daniel (2002), S. 298–313.
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Quellen und Aufbau der Arbeit „Die Unbewußtheit des Alltags schreibt sich in die Gedächtnisspuren nicht ein.“43
Die Schwierigkeiten, die eine Auseinandersetzung mit dem Thema Prävention mit sich bringt, sind bereits angeklungen. Der Historiker und Ethnologe Thomas Kochan, der die Alkoholkultur in der DDR untersucht hat, sieht diese darin, dass „die gängigsten Verrichtungen des menschlichen Daseins die geringsten Spuren in den Berichten hinterlassen“ und „selten eine Zeile wert“ sind, sofern sie nicht „aus der Reihe fallen“.44 Das gilt auch für die Themen Gesundheit und Gesunderhaltung. In der Einführung zu dem Band Das präventive Selbst schreiben die Herausgeber Lengwiler und Madarász, dass der Geschichte der Gesundheitsprävention „etwas Unwirkliches, Unauffälliges“ anhaftet; unwirklich, weil Prävention etwas antizipiert, was nicht eintreten soll und unauffällig, weil es sich um relativ unspektakuläres Alltagsverhalten handelt wie Essen, Trinken, Rauchen und Bewegung.45 Gesundheitsbezogene Themen sind für Historiker daher sicherlich noch schwieriger zu fassen als einschneidende und häufig lebensverändernde Ereignisse wie Unfälle oder Krankheiten. Um die gesundheitspolitischen Vorgaben und Zielsetzungen, deren Propagierung sowie die Bereitschaft zur Umsetzung der Präventionspolitik zu untersuchen, werden verschiedenste Quellen herangezogen. Als Quellenbasis für die normativen Vorgaben und Konzepte dienen in erster Linie die Überlieferungen des Ministeriums für Gesundheitswesen und der ihm nachgeordneten Organe und Einrichtungen. Besonders berücksichtigt werden beispielsweise das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden und das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR/Nationales Komitee für Gesundheitserziehung der DDR, die beide wichtige Funktionen im Bereich Gesundheitserziehung innehatten. Die umfangreichen Bestände des Ministeriums befinden sich im Bundesarchiv in Berlin Lichterfelde und sind ohne Nutzungsbeschränkungen zugänglich. Nicht zu vernachlässigen ist zudem die umfangreiche Primärliteratur aus der DDR-Zeit zu den Themen Prophylaxe und Gesundheitsschutz.46 Die Frage nach der Vermittlungspraxis gesundheitsrelevanter Themen soll anhand der Auswertung verschiedener Materialien der Gesundheitserziehung beantwortet werden. Dabei steht neben der Analyse der Inhalte sowie der Art und Weise der Propagierung die geschlechterspezifische Ausrichtung der Präventionsthemen im Vordergrund. Welche Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit der DDR-Gesundheitspropaganda zugrunde lagen, wie sich dies auf die Vermittlung von jeweils unterschiedlichen Gesundheitspraktiken und Gesundheitszielen auswirkte und welche gesellschaftlichen Botschaften sich 43 44 45 46
Niethammer (1994), S. 110. Kochan (2011), S. 150. Lengwiler/Madarász: Präventionsgeschichte (2010), S. 11. Siehe u. a.: Neubert/Schrödel (1965); Karsdorf/Renker (1981); Renker/Karsdorf (1983); Uhlmann et al. (1983).
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dahinter verbargen soll in erster Linie anhand der vom Dresdner HygieneMuseum beziehungsweise vom Nationalen Komitee für Gesundheitserziehung herausgegebenen populär-medizinischen Zeitschrift Deine Gesundheit herausgearbeitet werden. Darüber hinaus werden die Betriebszeitung Werftecho sowie die Filmreihen Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender in die Untersuchung mit einbezogen. Die Implementierung der Vorschriften und Maßnahmen zum Gesundheitsschutz in die Praxis wird auf Bezirks- und Kreisebene untersucht. Maßgeblich sind hier die Abteilungen für Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Bezirks beziehungsweise des Kreises, denen alle Gesundheitseinrichtungen ihres Territoriums unterstellt waren. Wie bereits erwähnt, wird das Betriebsgesundheitswesen eine wesentliche Rolle spielen. Von besonderem Interesse sind daher die Unterlagen der Betriebe beziehungsweise der betrieblichen Gesundheitseinrichtungen. Die zahlreichen Analysen und Daten, die für das Betriebsgesundheitswesen angefertigt wurden, können dem Arbeitsmediziner Scheuch zufolge als „wissenschaftliche Fundgrube“47 dienen. Hier finden sich Statistiken über Aufklärungsmaßnahmen, Reihenuntersuchungen, den Krankenstand, prophylaktische Kuren und dergleichen sowie diverse Tätigkeits- und Rechenschaftsberichte und Dokumente über den Erfahrungsaustausch der Betriebsärzte untereinander. In den Beständen der Abteilungen für Gesundheits- und Sozialwesen sind ebenfalls aufschlussreiche Quellen vorhanden. Dazu zählen Begehungsprotokolle über durchgeführte Impfungen oder Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes in den Betrieben und Verwaltungen oder auch Berichte von Arbeitsberatungen und Tagungen, in denen Probleme, Kritik und Verbesserungsvorschläge artikuliert wurden. Der geographische Fokus der Arbeit ist auf den Bezirk Rostock gerichtet.48 Der nördlichste Bezirk der DDR war geprägt durch den Kontrast zwischen Schiffsindustrie auf der einen und Landwirtschaft auf der anderen Seite. Dementsprechend bestimmten sowohl der Ausbau der Betriebspolikliniken für die großen Werften als auch medizinische Unterversorgung und besondere gesundheitliche Probleme auf dem Lande den Alltag der Gesundheitsfürsorge, was die Betrachtung dieser Region besonders reizvoll macht. Daneben werden auch andere Bezirke und Kreise berücksichtigt. Diese dienen als Ergänzungs- oder Vergleichsmöglichkeit. Die Archivsituation für den Bezirk Ros47 Scheuch (1990), S. 130. 48 Der Bezirk Rostock wurde 1952 im Zuge der Neugliederung der Länder (per Gesetz über die „Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe“) aus dem aufgelösten Land Mecklenburg-Vorpommern gebildet. Der sogenannte ‚Ostseebezirk‘ erstreckte sich nahezu über die gesamte Ostseeküste der DDR. Er grenzte im Westen an die Bundesrepublik Deutschland, im Osten an die Volksrepublik Polen und im Süden an die Bezirke Schwerin und Neubrandenburg. Die Gesamtfläche des Bezirks machte 7 Prozent des DDR-Gebiets aus. 1987 lebten hier 913.600 Menschen, also etwa 5,5 Prozent aller Bürger der DDR. Von den 466.300 Berufstätigen waren knapp 25 Prozent in der Industrie und 14,6 Prozent in der Land- und Forstwirtschaft tätig. Sehr viele Beschäftigte waren im nichtproduzierenden Bereich, vorrangig der Touristik, tätig; vgl. Kornow (1989), S. 283 f. Weitere Angaben zum Bezirk Rostock in Kapitel 3.2.
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tock stellt sich folgendermaßen dar: Die Überlieferungen befinden sich in zehn Archiven des Landes Mecklenburg-Vorpommern.49 Vorwiegend stützt sich die Arbeit auf das Quellenmaterial des Landesarchivs Greifswald, der Stadtarchive Greifswald und Rostock sowie der Kreisarchive Anklam, Bad Doberan und Grimmen. Damit ist die Bezirksebene abgedeckt und repräsentativ die Ebene von zwei Stadt- und sieben Landkreisen.50 Die Bestände der Verwaltungen sind in der Regel recht gut erschlossen und einigermaßen umfangreich. Das gilt jedoch überwiegend nur für Überlieferungen aus den 1950er und 1960er Jahren. Für die 1970er und 1980er Jahre ist die Informationslage deutlich lückenhafter. Auch die Quellenlage zu den Betrieben ist schwierig: Zum Teil sind die Bestände noch nicht erschlossen oder nicht zugänglich.51 Für detaillierte Einblicke in den Alltag des Betriebsgesundheitswesens können vorrangig die Überlieferungen der Neptunwerft Rostock sowie des Fischkombinats Saßnitz direkt herangezogen werden; Angaben zu weiteren Betrieben sowie übergreifende Informationen finden sich außerdem in Gesamtübersichten aus den jeweiligen Kreisen oder den Bezirken. Auch auf der Zentralebene stößt man auf Auswertungen über die gesundheitliche Betreuung der Arbeiter in den Bezirken oder Kreisen. Das ausufernde Berichtswesen – eine der „Kernkompetenzen der DDR“52 – bietet somit auch eine gute Grundlage für die Beschäftigung mit dem Thema Gesundheitsschutz. Schließlich geht es noch um die herausfordernde Aufgabe, die Mikroebene möglichst umfassend auszuleuchten und die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger stärker zu berücksichtigen als bisherige Forschungsarbeiten. Da vor 1989 nur wenige Quellen für die Geschichte des DDR-Alltagslebens zur Verfügung standen53, ist es vonnöten, ein Informationsnetz aus unterschiedlichen Dokumenten und Quellengattungen zu weben. Dem Ansatz der Kultur- beziehungsweise Patientengeschichte folgend sollen Selbstzeugnisse54 wie Tagebücher, Briefe und Autobiographien eine wichtige 49 Dies sind das Landesarchiv Greifswald, die Stadtarchive in Greifswald, Rostock, Stralsund und Wismar sowie die Kreisarchive in Anklam, Bad Doberan, Bergen, Grevesmühlen und Grimmen. 50 Insgesamt bestand der Bezirk Rostock aus vier Stadtkreisen (Rostock, Greifswald, Stralsund und Wismar) sowie zehn Landkreisen (Bad Doberan, Greifswald, Grevesmühlen, Grimmen, Ribnitz-Damgarten, Rostock-Land, Rügen, Stralsund, Wismar und Wolgast). Diese Verwaltungseinteilung unterlag jedoch diversen Veränderungen; siehe ausführlicher dazu 40 Jahre (1989). 51 Das gilt vor allem für das Greifswalder Landesarchiv. Zahlreiche Betriebsakten wurden in ein weiter entferntes Magazin ausgelagert und konnten aufgrund von Personalmangel nicht zur Einsicht bereitgestellt werden. Zudem stellte sich erst zu einem späteren Zeitpunkt der Promotion heraus, dass der Umzug in das neue Landesarchiv in Schwerin vorbereitet wird, weshalb viele Akten bereits verpackt waren. 52 Richter (2009), S. 39. 53 Vgl. Fulbrook (1996), S. 275. 54 Selbstzeugnisse sind subjektive Quellen, die immer in direkter Beziehung zu ihren Autoren und Autorinnen stehen, sowohl dem Erfahrungsgehalt nach als auch in zeitlicher Hinsicht. Sie wurden entweder bewusst mit Blick auf die Nachwelt verfasst (wie Autobiographien oder Memoiren) oder sind übriggebliebene „Reste menschlicher Beschäfti-
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Rolle einnehmen. Hürden auf der Suche nach passenden Dokumenten ergeben sich weniger durch das Nichtvorhandensein der Quellen an sich, sondern durch den Fokus dieser Untersuchung auf das gesunde Leben. Unmittelbare Ansichten und Äußerungen über den Stellenwert der Gesundheit, über krankheitsvorbeugende Aktivitäten oder zum Rauch- und Ernährungsverhalten ausfindig zu machen, gestaltet sich als relativ schwierig.55 Von erstrangiger Bedeutung sind in dieser Hinsicht Eingaben56. Gerade für sozial- und kulturgeschichtliche Studien eignen sich diese Beschwerdebriefe oder mündlich vorgebrachten Anliegen in besonderer Weise. Zum einen sind sie meist sehr zeitnah zu dem jeweiligen Ereignis, das Anlass für die Eingabe bot, entstanden und zum anderen ermöglichen sie direkte und unvermittelte Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt der DDR-Bürgerinnen und -Bürger und informieren so die Forscher über verschiedenste Aspekte des Alltags.57 Der Historiker Felix Mühlberg bezeichnet Eingaben daher als exponierte qualitative Quellen, die „ethnographischen Tagebüchern“58 gleichkommen. Er sieht ihren Wert zudem darin, dass sich durch sie Personen äußern, die sich sonst nie zu Wort melden und daher in anderen archivalischen Quellen nicht in Erscheinung treten.59 Ein weiterer Vorteil dieser Quellengattung ist die enorm hohe Zahl: Schätzungen besagen, dass mehr als eine Million Eingabevorgänge in den Partei- und Staatsarchiven überliefert sind und statistisch gesehen etwa jeder zweite volljährige DDR-Bürger mindestens eine Eingabe verfasst haben müsste.60 Auch zu gesundheitlichen Themen lassen sich Eingaben in recht beachtlicher Zahl finden, wenn sie auch bei weitem nicht die quantitativen Dimensionen erreichten wie Eingaben zu Wohnungsfragen, zu Versorgungsproblemen
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gung“ (z. Bsp. Tagebücher oder Briefe). Bei der Quellenkritik geht es vor allem darum, den Wahrheitsgehalt vor dem Hintergrund des zeitlichen Abstands zwischen Erlebnis und Niederschrift sowie der Motivlage der Verfasserinnen und Verfasser zu prüfen. Der besondere Reiz kann in der abwechslungsreichen, schillernden Darstellung liegen. Zudem ergänzen die Selbstzeugnisse ggf. dürftiges Aktenmaterial und geben Hinweise auf Stimmungslagen sowie Beweggründe für bestimmte Entscheidungen, die sonst nirgends aktenkundig werden; vgl. Henning (2003). Zur Quellenproblematik für die Patientengeschichte insgesamt siehe Eckart/Jütte (2007), S. 183 ff. Die Autoren verweisen hier auch darauf, dass sich die Forschung bisher kaum der Nachfrage seitens der Patienten nach gesundheitserhaltenden Maßnahmen oder medizinischer Prophylaxe gewidmet hat; vgl. ebenda, S. 185. Bei Eingaben handelte es sich nach Artikel 103 der DDR-Verfassung von 1968 um „Vorschläge, Hinweise, Anliegen oder Beschwerden“, mit denen sich jeder Bürger in schriftlicher oder mündlicher Form an die Volksvertretungen und ihre Abgeordneten sowie alle staatlichen und wirtschaftlichen Organe wenden konnte. Detaillierte Informationen zur Eingabengesetzgebung und Eingabenkultur in der DDR in Kapitel 3.1. sowie bei Klemm/ Naumann (1977), Staadt (1996), Elsner (1999), Merkel (2000), Mühlberg (2004), Betts (2010), Reuter-Boysen (2010), Fulbrook (2011) und Bruns (2012). Vgl. Mühlberg (2004), S. 7. Ebenda. Vgl. ebenda, S. 8. Vgl. Staadt (1996), S. 2.
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oder zu Reisewünschen ins ‚nichtsozialistische Ausland‘.61 Im Bereich des Gesundheitswesens dominierten Eingaben zu Aspekten der medizinischen Versorgung und Betreuung (technische Ausstattung, dringend benötigte Medikamente, Wartezeiten für Operationen, Arzt-Patient-Verhältnis).62 Aber auch zu Fragen der Hygiene, der Ernährung, zur Organisation des Gesundheitsschutzes, zum Impfen und insbesondere auch zum Rauchen wandten sich die Bürgerinnen und Bürger in beachtenswerter Zahl an die Staatsorgane, an Massenorganisationen oder an die Medien. Das Hauptaugenmerk der Arbeit gilt denjenigen Eingaben, die direkt an das Gesundheitsministerium beziehungsweise den Gesundheitsminister oder andere zentrale Stellen wie das Deutsche Hygiene-Museum gerichtet wurden und die sich mit allgemeinen Fragen des Gesundheitsschutzes und der Gesunderhaltung befassen. Eingaben, die an die lokalen Organe, an den Kreisarzt oder den Betrieb adressiert waren, thematisierten zumeist soziale Problemfelder (Krippenplätze, Sozial- und Altersfürsorge) und sind daher weniger von Interesse. Insgesamt bilden etwa 700 Eingaben die Quellengrundlage für die Analyse des Gesundheitsalltags und die Abbildung der Patientenperspektive. Hierzu folgen im Exkurs in Kapitel 3.1 noch detailliertere Ausführungen. Bei der Auswertung der Eingaben wird neben der generellen Erschließung und Sichtbarmachung der Ansichten, Wahrnehmungen und Deutungen der DDR-Bevölkerung in Bezug auf gesundheitliche Themen vorrangig eine geschlechterspezifische Perspektive eingenommen: Haben sich Frauen mit anderen Gesundheitsfragen in ihren Eingaben beschäftigt als Männer? Lassen sich weibliche oder männliche Argumentationsmuster erkennen? Zudem kann man den Selbstdarstellungen, die in vielen Eingaben dem eigentlichen Anliegen vorangestellt wurden, um den Adressaten für sich einzunehmen, Informationen zur Sozialisation und Ausprägung eines bestimmten Gesundheitsbewusstseins der Autoren und Autorinnen entnehmen. Dabei sind jedoch die rhetorischen Stilmittel und Absichten der Verfasser zu berücksichtigen, um den Stellenwert der Aussagen einordnen zu können. Dieses quellenkritische Vorgehen ist auch bei einer weiteren DDR-spezifischen Gattung vonnöten, die mit dem erweiterten Begriff der Ego-Dokumente63 ebenfalls als (kollektiv-)biographische Quelle fungieren kann: das Brigadetagebuch. Das Anfertigen von Brigadebüchern wurde vom Staat initiiert. Sie 61 Vgl. Bruns (2012), S. 344. 62 Bei den Eingabenschwerpunkten aus dem Jahr 1969 belegten Probleme der Leitungstätigkeit im Gesundheitswesen sowie Kritiken am Verhalten von Mitarbeitern des Gesundheitswesens und an der Qualität der medizinischen Betreuung den ersten Rang, gefolgt von Problemen der Arzneimittelversorgung und der Versorgung mit medizintechnischen Erzeugnissen. An dritter Stelle standen Wünsche nach hochspezialisierter Behandlung sowie Probleme fehlender Behandlungsmöglichkeiten durch Fachärzte; Jahresanalyse 1969 über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger im MfGe, 30.6.1970, in: BArch, DQ 1/2619, unfol. 63 Der Historiker Winfried Schulze definiert Ego-Dokumente als Quellen, in denen Menschen Auskunft über sich selbst geben – egal ob freiwillig oder durch besondere Umstände dazu veranlasst (z. Bsp. in Befragungen oder Verhören); vgl. Schulze (1996), S. 21.
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wurden also im Auftrag verfasst und eher pflichtgemäß geführt. Nichtsdestotrotz kann diese Quellenart zur Erforschung des Arbeitsalltags in der DDR sehr nützlich sein.64 Aufgrund der Annahme, dass die Betriebe sehr zentrale Funktionen im Leben der Menschen einnahmen – sowohl in Bezug auf das Freizeitverhalten als auch hinsichtlich der Gesundheitsvorsorge und medizinischen Betreuung –, wurden die Brigadetagebücher als Quelle für das Thema ausgewählt. Zumindest Randnotizen zu Fragen der Ernährung, der sportlichen Betätigung, des Genussmittelkonsums oder der Gesundheitsvorsorge haben Eingang in die Alltagsaufzeichnungen der Brigaden gefunden. Selbst die Nicht-Thematisierung des Gesundheitsschutzes kann einiges über dessen Stellenwert in den Betrieben aussagen. In den regionalen Archiven sind vereinzelt Brigadebücher zu finden. Auch das Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden besitzt eine größere Sammlung, die bei der Auswertung ebenfalls berücksichtigt wird. Darüber hinaus werden auch Brigadetagebücher aus privatem Besitz ausgewertet. Der zeitliche Fokus der insgesamt 37 durchgesehenen Brigadebücher liegt auf den 1970er und 1980er Jahren. Eine weitere Anlaufstelle für Selbstzeugnisse war das Tagebucharchiv in Emmendingen, aus dessen Beständen unveröffentlichte Briefe und Lebensbeschreibungen von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern – zumeist Ärzten und Arbeitern, die über ihren Alltag und ihre Erfahrungen im oder mit dem Gesundheitswesen berichten – in die Arbeit einfließen. Zudem werden bei der Quellenauswertung auch veröffentlichte Briefbände miteinbezogen.65 Darüber hinaus wurden zwei Interviews mit Betriebsärztinnen durchgeführt, die langjährig in der Stadt Greifswald tätig waren.66 Die Informationen aus diesen Gesprächen werden vorrangig – als Ergänzung zu den archivalischen Dokumenten – für die Darstellung des Arbeitsalltags im Betriebsgesundheitswesen in Kapitel 3.2 genutzt.67 Von besonderer Bedeutung sind schließlich epidemiologische Studien und sozialmedizinische Untersuchungen über die DDR-Bevölkerung. Am Lehr64 Zu berücksichtigen sind allerdings die Funktionen des Brigadebuchs als ‚Erziehungsfibel‘ oder bloßes ‚Bilderbuch‘ sowie die Gefahren der Selektion und Schönfärberei der behandelten Ereignisse. Siehe dazu Roesler (2000) und Wolters (2004). 65 Baumgart (1971). 66 2012 wurden von der Verfasserin zwei Leitfadeninterviews zum Thema „Arbeitsalltag im Betriebsgesundheitswesen der DDR“ mit dem Fokus auf die Stadt Greifswald geführt. Zunächst mit Renate Krüger (Betriebsärztin in der Sanitätsstelle Klein- und Mittelbetriebe in den 1980er Jahren) und dann ein gemeinsames Interview mit Dr. Dorothea Meyer (erste hauptamtliche Betriebsärztin in Greifswald, Betriebsärztin in der Sanitätsstelle der Universität Greifswald seit 1966) und Dr. Adelheid Wussow (Betriebsärztin in der Sanitätsstelle der Betriebsschule des VEB Nachrichtenelektronik Greifswald in den 1970er und 1980er Jahren). Zu beiden Interviews liegen Gedächtnisprotokolle vor. 67 Bei Interviews mit Zeitzeugen muss natürlich berücksichtigt werden, dass Rückblicke auf weiter zurückliegende Geschehnisse Auslassungen und Umdeutungen zur Folge haben können. Auch die Interviewsituation kann das Erinnerte beeinflussen. Dazu merkt Daniel jedoch an, dass letztlich jede Quelle, die Erkenntnisse für historische Arbeiten liefern soll, selektiv und perspektivengebunden ist und bereits gedeutete Wirklichkeit widerspiegelt, auch Protokolle und Gesetzestexte; vgl. Daniel (2002), S. 307.
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stuhl für Sozialhygiene und Hygiene auf dem Lande des Hygiene-Institut der Universität Greifswald entstanden in den 1960er und 1970er Jahren diverse Untersuchungen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen und zum Gesundheitszustand der Bevölkerung. Dabei handelt es sich überwiegend um Erhebungen zu Krankheitsarten und -häufigkeiten, zu den sozialen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit und eben auch zum Gesundheitsverhalten. Zumeist per Fragebogen oder Interview wurden Aspekte der gesunden Lebensführung untersucht wie Rauchverhalten, sportliche Betätigung, Medikamentenverbrauch, Schlafgewohnheiten und gesunde Ernährung. Zudem wird in vielen Arbeiten zwischen männlichem und weiblichem Gesundheitsverhalten unterschieden. Einige Studien widmen sich gezielt nur dem einen oder anderen Geschlecht. Diese Untersuchungen können folglich Erkenntnisse über geschlechterspezifisches Gesundheitsbewusstsein und entsprechende Verhaltensweisen liefern. In die Analyse einbezogen werden überwiegend Studien, deren Untersuchungsgebiet im Bezirk Rostock liegt. Als Ergänzung dienen die Ergebnisse zweier groß angelegter Studien zum Gesundheitsverhalten und Gesundheitszustand der Berliner Stadtbevölkerung und der Landbevölkerung aus dem Bezirk Neubrandenburg aus den Jahren 1971 und 1973. Zusätzlich werden auch Daten und Erkenntnisse aus soziologischen Befragungen der 1970er und 1980er Jahre Berücksichtigung finden, beispielweise aus dem Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ).68 Ausgangspunkt der Arbeit ist der normative Stellenwert der Prophylaxe. Im ersten Kapitel geht es daher zunächst um die Entwicklung des Präventionsgedankens im DDR-Gesundheitswesen, um die Leitbilder und Ziele der Regierung und um die hauptsächlichen im Gesundheitsschutz tätigen Akteure und Institutionen. Daran anschließend werden im zweiten Kapitel die verschiedenen Maßnahmen der Gesunderhaltung sowie Konzepte, Methoden und Materialien der Gesundheitserziehung detailliert betrachtet. Die Auswertung der Zeitschrift Deine Gesundheit bildet den Schwerpunkt dieses Abschnitts. In Kapitel drei wird dann überprüft, in welchem Maße gesundheitsfördernde und prophylaktische Maßnahmen von der Bevölkerung in Anspruch genommen wurden und wie deren generelle Einstellung zu Gesundheit und Krankheit durch die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen der DDR und die Gesundheitspropaganda geprägt wurde. Fokussiert werden die Bereiche allgemeine Gesundheitserziehung, Nichtraucherschutz sowie Förderung der körperlichen Betätigung und der gesunden Ernährung in den Blick genommen. Ein weiteres Teilkapitel widmet sich gezielt der Prophylaxe im Betriebsgesundheitswesen des Bezirkes Rostock, wobei Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes und der Erkältungsprophylaxe im Zentrum stehen. Das geschlechterspezifische Gesundheitsbewusstsein und Gesundheitsverhalten der DDR-Bevölkerung wird im letzten Teilkapitel ausführlich behandelt. Im abschließenden vierten Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengenommen betrachtet und Fragen nach der Wirkungsweise der Gesundheitspro68 Bertram et al. (1988), Autorenkollektiv unter der Leitung von Barbara Bertram (1989), Friedrich/Griese (1991) sowie Hennig/Friedrich (1991).
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paganda und der Bedeutung des Themas Gesundheit für die DDR-Gesellschaft in ihrer Gesamtschau diskutiert.
1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen Das folgende Kapitel widmet sich den Grundlagen, Leitbildern und Protagonisten der Prophylaxe in der DDR. Da diese ideengeschichtlichen und strukturellen Aspekte zu den besser erschlossenen Themen des DDR-Gesundheitswesens gehören, wird vorrangig auf die bisherigen Erkenntnisse der Forschung Bezug genommen. Zunächst ist es aber notwendig, die Begrifflichkeiten rund um das Thema zu klären. Im Schriftgut zum DDR-Gesundheitswesen trifft man vorrangig auf die Begriffe Prophylaxe und vorbeugender Gesundheitsschutz, aber auch der heute geläufige Ausdruck Prävention (abgeleitet vom lateinischen Begriff „praevenire“ für zuvorkommen) wurde häufig verwendet. Die Sozialhygieniker der DDR waren um eine klare Begriffsbestimmung bemüht und verständigten sich 1978 in einem Kolloquium darauf, die Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu übernehmen: Diese verstand Prophylaxe als übergeordnetes staatliches und gesellschaftliches Anliegen und präventive Strategien als deren medizinische Teilmaßnahmen.1 Dabei wurde zwischen primärer Prävention (Krankheitsvorbeugung), sekundärer Prävention (Früherkennung und -behandlung) und tertiärer Prävention (Verhütung von Folgeschäden) unterschieden.2 Terminologische Klarheit bestand jedoch weiterhin nicht.3 Über die Abteilung Gesundheitspolitik im Zentralkomitee (ZK) der SED erfolgte der erneute Versuch eines einheitlichen Sprachgebrauchs: „Vorbeugender Gesundheitsschutz“ sollte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, „medizinische Prophylaxe“ als vom Gesundheitswesen durchzuführende Maßnahmen und „medizinische Prävention“ als Krankheits- und Rezidivverhütung im klinischen Fachbereich.4 Neben der Verhütung und Früherkennung von Krankheiten spielte auch „die Förderung und Erhaltung von Gesundheit“ eine wichtige Rolle und wurde ebenfalls als „Anliegen“ der Prophylaxe definiert.5 Der spezifische Begriff und das Konzept der Gesundheitsförderung tauchten jedoch erst zu Beginn der 1980er Jahre im Rahmen von internationalen Konferenzen und Debatten um die Bedeutung von Lebenswelten und sozialen Bedingungen für die Erhal-
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Vgl. Renker/Karsdorf (1983), S. 10 sowie Ewert (1991), S. 107. Unter primäre Prävention fallen strukturelle Maßnahmen zur Beseitigung oder Abschwächung von Krankheitsursachen (Hygienemaßnahmen wie z. Bsp. Trinkwasserhygiene) sowie gesundheitsfördernde zur Stärkung des Organismus (z. Bsp. Impfungen). Vorsorgeuntersuchungen sind der sekundären Prävention zugeordnet. Zur tertiären Prävention zählen beispielsweise Rehabilitationsmaßnahmen, die nach dem Eintritt einer schweren Erkrankung angewendet werden. Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 577 sowie Walter/ Schwartz (2003), S. 189. Vgl. Ewert (1987), S. 14. Zit. nach: Ewert (1991), S. 107. Zit. nach: Ewert (1987), S. 26.
1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens
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tung der Gesundheit auf.6 Wenngleich beide das Ziel der verbesserten Gesundheit des Einzelnen sowie der Bevölkerung verfolgen, greifen sie doch auf unterschiedliche Ansätze und Methoden zurück: Präventionsmaßnahmen nehmen spezifische Krankheiten und Störungen zu ihrem Ausgangspunkt, während Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsförderung unspezifisch wirken und Ressourcen und Schutzfaktoren stärken wollen.7 Wichtig ist zudem die begriffliche und konzeptionelle Trennung zwischen der Verhältnis- und der Verhaltensprävention. Hierbei unterscheidet man umweltbezogene Präventionsmaßnahmen wie etwa das Rauchverbot in Gaststätten (Verhältnisprävention) von Maßnahmen, die sich auf das individuelle Verhalten beziehen wie den ärztlichen Rat an den Patienten, das Rauchen aufzugeben (Verhaltensprävention).8 All diese Ansätze und Konzeptionen werden im Verlauf der Arbeit noch stärker in Erscheinung treten und es wird sich zeigen, welche Wege und Strategien in der DDR verfolgt wurden beziehungsweise werden konnten, um den Gesundheitszustand der Bevölkerung zu verbessern, und auf welche Resonanz diese gestoßen sind. 1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens Die Bemühungen, Krankheiten nicht nur zu heilen, sondern im Vornherein ihre Entstehung zu verhindern, lassen sich bis in das alte Ägypten zurückverfolgen.9 Im Folgenden geht es zunächst um diese Traditionen des prophylaktischen Gedankenguts und die Vorbilder, an denen sich die Präventionspolitik der DDR orientierte. Daran schließt sich die Darstellung des gesundheitspolitischen Neuanfangs in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) sowie des weiteren Verlaufs der prophylaktischen Orientierung im Gesundheitswesen der DDR-Zeit an. Die gesonderte Betrachtung der Entwicklung des Betriebsgesundheitswesens bildet den Abschluss dieses Teilkapitels. 1.1.1 Vorgeschichte und Anknüpfungspunkte An dieser Stelle muss auf eine ausführliche Darstellung der langen Vorgeschichte der Prävention sowie eine genaue Analyse historischer Gesundheitskonzepte zugunsten schlagwortartiger Ausführungen verzichtet werden.10 In der antiken Medizin wurde Krankheit als Ungleichgewicht der Körpersäfte 6 Vgl. Ruckstuhl (2011), speziell für die DDR das Interview mit Werner Schmidt, dem langjährigen Direktor des Instituts für Gesundheitserziehung des DHMD, S. 165–173. 7 Vgl. Kolip/Koppelin (2002), S. 491. 8 Vgl. Walter/Schwartz (2003), S. 191. 9 Vgl. Mayer (1995), S. 38. 10 Siehe dazu unter anderem: Klotter (1997), Labisch (1998), Stöckel/Walter (2002) und Sarasin (2011).
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen
gedeutet (Humoralpathologie) und Gesundheit als Zustand des Gleichgewichts zwischen den äußeren und inneren Faktoren, die auf den Körper einwirken (neben den Körpersäften beispielsweise Ernährung, körperliche Bewegung sowie Schlaf). Diesen Bedingungen einer natürlichen und gesunden Lebensweise wurde besondere Beachtung geschenkt (Hippokratische Diätetik). In den folgenden Jahrhunderten verschob sich der Fokus eher auf kurative Maßnahmen; Krankheit erfuhr durch die christliche Theologie eine Aufwertung.11 Das Aufklärungszeitalter erhob wiederum die Gesundheit zum obersten Ziel, weil sich das Leben nun auf das Diesseits ausrichtete und Gesunderhaltung und Körperpflege als Voraussetzungen für Genuss, aber auch für Arbeits- und Leistungsfähigkeit von Bedeutung waren. Der Gedanke der „individuelle[n] Selbstsorge“12 war maßgeblich für das moderne Präventionskonzept. Gegenüber dieser individuellen Hygiene etablierte sich Ende des 18. Jahrhunderts – nachdem der Staat die „Ressource Mensch“13 für seine Manufakturen und Fabriken sowie seine Massenheere entdeckt hatte – ein System der administrativen Gesundheitsfürsorge (auch als „medizinische Polizei“14 bezeichnet). Die Sorge um das körperliche Wohl der Menschen wurde zur Angelegenheit der Staatsverwaltung, der medizinischen Wissenschaft und kommunaler Instanzen.15 Der hygienische Zugriff auf die Bevölkerung hatte einerseits disziplinierenden Charakter (speziell von den Arbeitern wurde ‚gesundes‘ Verhalten und damit eine Anpassung an die bürgerlichen moralischhygienischen Konventionen eingefordert), bedeutete andererseits aber erhöhte Lebenschancen für einen Großteil der Menschen.16 Durch umfangreiche Baumaßnahmen (Trinkwasserversorgung, Kanalisation, Wohnanlagen mit luft- und lichtdurchfluteten Wohnungen) und Aufklärungskampagnen zur Implementierung der neuen hygienischen Verhaltensstandards in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte die großstädtische Übersterblichkeit gesenkt werden.17 Als zweiter, naturwissenschaftlicher Zweig der Hygiene erlangte neben der öffentlichen Gesundheitspflege seit den 1880er Jahren die Bakteriologie große Bedeutung.18 Ihr Fokus richtete sich auf die Prävention von Infektionskrankheiten durch die Identifizierung und Beseitigung krankheitserregender Keime. Die immensen sozialen und hygienischen Probleme 11 12 13 14
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Vgl. Klotter (1997), S. 22 f. Sarasin (2011), S. 41. Klotter (1997), S. 32. Der Begriff nimmt Bezug auf das mehrbändige Werk System einer vollständigen medicinischen Polizey (1779–1819) von Johann Peter Frank (1745–1821), der als Pionier der Hygiene und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes gilt; vgl. Lesky (1961). Für eine kritischere Einschätzung siehe Pieper (1998). Vgl. Ellerbrock (2002), S. 122. Vgl. Klotter (1997), S. 23. Vgl. Ellerbrock (2002), S. 127. Diese Präventionsmaßnahmen wurden vor allem unter dem Druck der Cholera-Epidemien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt und durchgesetzt; vgl. Sarasin (2011), S. 43. Zu den Erfolgen und dem Aufstieg der medizinischen Bakteriologie im Wilhelminischen Kaiserreich siehe Berger (2009).
1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens
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der zweiten Phase der Industrialisierung konnten jedoch weder durch die Assanierung der Städte noch durch die bakteriologische Forschung gelöst werden.19 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich in einer sozialreformerischen Aufbruchsphase ein dritter Teilbereich der Hygiene heraus, der die bisher vernachlässigten sozialen Faktoren als Krankheitsursache in den Blick nahm.20 Die Vertreter der Sozialhygiene21 stellten einen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitszustand und den sozialen Existenzbedingungen der Bevölkerung her und setzen sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse, insbesondere der sozial benachteiligten Schichten und Klassen, ein. Die präventiven (gesundheits-)fürsorgerischen Maßnahmen richteten sich daher gezielt an besonders gefährdete Gruppen wie Mütter, Säuglinge und Tuberkulosekranke.22 Ihre Blütezeit erlebte die Sozialhygiene in den 1920er Jahren als „Leitwissenschaft“ der Gesundheits- und Sozialfürsorge der Weimarer Republik.23 Die Krise der Bakteriologie24 nach dem Ersten Weltkrieg hatte dazu geführt, dass umweltbezogenen Erklärungen wieder stärkere Beachtung geschenkt wurde und belebte insgesamt die Debatte um Prävention neu.25 Öffentliche Gesundheitspflege und Präventionsmaßnahmen erlebten einen besonderen Höhepunkt, was sich institutionell an der Gründung von Gesundheitsämtern, Beratungsstellen, Ambulatorien und Polikliniken ablesen lässt.26 Die Nationalsozialisten formten das sozialhygienische Gedankengut27 zur „Rassenhygiene“ um: Das Erbgut galt nun als entscheidender Faktor für die Entstehung von Krankheiten. Prävention zielte nicht mehr auf die Verhinde19 Vgl. Eckart (1998), S. 40. 20 Zu den komplexen Hintergründen der Herausbildung und zur wissenschaftlichen Einordnung der Sozialhygiene siehe Eckart (1998), Moser: Interesse (2002), insbesondere S. 42–57, sowie Schagen (2006). 21 Als Begründer und Hauptvertreter der Sozialhygiene gilt der sozialdemokratische Arzt Alfred Grotjahn (1869–1931), der 1920 den ersten Lehrstuhl für Sozialhygiene an der Berliner Universität erhielt. Für nähere Informationen zu Grotjahns sozialhygienischem Werk und Wirken siehe u. a. Ferdinand (2010). 22 In großer Zahl wurden Fürsorgestellen errichtet, die sich der Säuglingsfürsorge sowie der Bekämpfung der Tuberkulose, des Alkoholismus oder den Geschlechtskrankheiten widmeten. Diese „Keimzentren der Sozialhygiene“ [Neubert/Schrödel (1965), S. 99] waren überwiegend beratend tätig, verteilten aber auch Sachleistungen. Zum „Idealprogramm der sozialhygienischen Gesundheitsfürsorge“ zählt Moser zudem die regelmäßige Überwachung gefährdeter Personen, präventive Untersuchungen, Belehrungen über gesundheitliche Vorgänge und Krankheitsfolgen sowie – falls erforderlich – Behandlung und Überwachung der therapeutischen Erfolge; vgl. Moser: Interesse (2002), S. 54 f. 23 Ellerbrock (2002), S. 127. 24 Die medizinische Bakteriologie stieß u. a. durch die Influenza-Pandemie (Spanische Grippe) von 1918 an ihre Grenzen. Ausführlicher dazu sowie zu weiteren Hintergründen für den Bedeutungsverlust der Bakteriologie siehe Berger (2010). 25 Vgl. Lengwiler/Madarász: Präventionsgeschichte (2010), S. 19. 26 Vgl. Mayer (1995), S. 43 f. 27 Bereits Grotjahn hatte mit dem Ziel der konsequenten Verbesserung der ‚Volksgesundheit‘ sein Konzept der Sozialhygiene um den generativen Aspekt erweitert und den Schulterschluss mit der Eugenik getätigt. Zur Verbindung zwischen Sozialhygiene, Eugenik und Rassenhygiene siehe Eckart (1998) und Ferdinand (2009 und 2010).
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen
rung der Erkrankung, sondern setzte bereits bei den Ungeborenen an (Sterilisation „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“).28 Infolge der Indienstnahme der Prävention für Selektion und Vernichtung waren die bevölkerungsbezogenen und strukturellen Ansätze der Primärprävention in der Nachkriegszeit für lange Zeit diskreditiert.29 Die Bundesrepublik setzte in den ersten Jahrzehnten fast ausschließlich auf Individualmedizin und medizinische Prävention.30 Im östlichen Teil Deutschlands hingegen bildeten weiterhin die sozialhygienischen Ideen das Fundament für die Ausrichtung der Gesundheitspolitik. Dabei knüpfte man wieder an das egalitäre Menschenbild der Weimarer Republik an und grenzte sich bewusst von der NS-Medizin und ihrer Auslesepraxis ab.31 In diesem Sinne verkündete der erste Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen (DZVG) Paul Konitzer 1946: „Volksgesundheit statt Rassenwahn“.32 Zu den Gründen für das Festhalten am Grundsatz des gesellschaftlichen Vorrangs vor dem Einzelnen und an Eingriffen in das persönliche Verhalten und die soziale Umwelt der Menschen zählte auch die dramatische gesundheitliche Entwicklung in der SBZ.33 1.1.2 Der organisatorische und ideelle Neuanfang in der SBZ Die gesundheitliche Situation in der Nachkriegszeit stellte sich als verheerend dar. In der Sowjetischen Besatzungszone hielten die extremen Notzustände noch länger an als in den Westzonen.34 Die gesamte Infrastruktur des Gesundheitswesens war durch die Kriegszerstörungen und sowjetischen Demontagen schwer in Mitleidenschaft gezogen worden: Nur noch die Hälfte der Krankenhausbetten stand zur Verfügung, zudem herrschte großer Mangel an Ärzten, Medikamenten, Textilien und medizinischen Apparaten. Massenerkrankungen wie Tuberkulose, Typhus und Ruhr, dazu ansteckende Haut- und Geschlechtskrankheiten bestimmten in den ersten Nachkriegsjahren das Geschehen und gefährdeten auch die Angehörigen der sowjetischen Besatzungsmacht. Der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) war daher sehr an der Einrichtung lokaler Gesundheitsbehörden sowie einer zentralen Koordinierungsstelle gelegen.35 Bereits im Rahmen der ersten Gruppe deutscher Zentralverwaltungen wurde die DZVG Ende Juli 1945 per SMADBefehl ins Leben gerufen und nahm einen Monat später unter Leitung Konitzers36 ihre Arbeit in Berlin auf. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. Walter/Stöckel (2002), S. 278. Vgl. ebenda, S. 280. Vgl. Madarász (2010), S. 162. Vgl. Süß (1998), S. 57. Zit. nach: Schagen (2006), S. 225. Vgl. Süß (1998), S. 70. Vgl. ebenda. Vgl. Welsh (1990), S. 244. Der studierte Mediziner Paul Konitzer (1894–1947) war bereits in der Weimarer Republik als kommunaler Gesundheitspolitiker in Erscheinung getreten. Während seiner Zeit
1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens
31
wurde somit eine Zentralbehörde für das gesamte Gesundheitswesen geschaffen.37 Auf der Basis der Forderungen der Arbeiterparteien der Weimarer Republik folgte eine schnelle und umfassende Neustrukturierung, deren Leitprinzip das bereits angesprochene Konzept der umfassenden Prophylaxe wurde.38 Die Gesundheitspolitik sollte fortan in einem größeren politischen Zusammenhang gedacht werden: Ziel war die grundlegende Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die somit unweigerlich zur Verhinderung der Entstehung von Krankheiten beitragen würde.39 Die theoretische Grundlage dafür lieferten die sozialhygienischen Erkenntnisse zum Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Krankheit. Diese Abhängigkeit des gesundheitlichen Zustands von den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Einzelnen sollte unter anderem durch eine umfassende Sozialversicherung für alle Arbeiter und Angestellten aufgebrochen werden.40 Der staatliche Charakter des Gesundheitswesens, das Prinzip der unentgeltlichen Behandlung aller Bürger sowie die grundsätzlich veränderte Stellung der Ärzteschaft41 im Gesundheitssystem zählten darüber hinaus zu den wichtigsten Neuerungen.42 Grundlegend für das Selbstverständnis der Gesundheitspolitik war zudem die Forderung nach gesamtgesellschaftlicher Einbettung und Zuständigkeit, von der noch mehrfach die Rede sein wird. In den „Gesundheitspolitischen Richtlinien“ der SED vom März 1947 – auch als „Geburtsurkunde für das Gesundheitswesen der DDR“43 bezeichnet – heißt es: „Die Gesundheitspolitik darf nicht die Domäne der medizinischen und sozialpolitischen Fachleute oder der ärztlichen Wissenschaft sein, sondern strahlt auf alle staatlichen Funktionen aus und muss zu einer Angelegenheit des ganzen Volkes werden.“44 Dass viele Elemente der Weimarer Zeit in das neue Gesundheitswesen einfließen konnten, ist der Tatsache geschuldet, dass sich das Führungspersonal der DZVG überwiegend aus kommunistischen und sozialdemokratischen Emigranten mit Erfahrungen in der Gesundheitsverwaltung zusammen-
37 38 39 40 41
42 43 44
als SPD-Stadtrat und Stadtmedizinalrat in Magdeburg von 1926 bis 1933 beteiligte er sich an Diskussionen zur Reform des öffentlichen Gesundheitswesens. Einige dieser Reformideen zur Kommunalisierung der Gesundheitsverwaltung konnte er als erster Präsident der DZVG in Zusammenarbeit mit der SMAD umsetzen; vgl. Moser: Kommunalisierung (2002), S. 409 f. Vgl. Neubert/Schrödel (1965), S. 22. Vgl. Walter/Stöckel (2002), S. 279. Vgl. Schagen (2002), S. 167. Vgl. Ahrens (2002), S. 41. Ärzte praktizierten überwiegend als Angestellte des staatlichen Gesundheitswesens während sich die Anzahl der niedergelassenen Arztpraxen stark dezimierte. Zudem wurden die ärztlichen Standesorganisationen aufgelöst und in die Gewerkschaft Gesundheitswesen beim FDGB eingegliedert; vgl. Ernst (1997). Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 401. Meyer (1997), S. 366. Aus dem Vorwort von Helmut Lehmann zu den gesundheitspolitischen Richtlinien der SED vom 31.3.1947, zit. nach: Schagen (2002), S. 165.
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen
setzte45, denen bei der Ausgestaltung der Gesundheitspolitik teilweise viel Spielraum gelassen wurde.46 Die neuere Forschung weist daher auch die lange Zeit vertretene These einer ‚Sowjetisierung‘ des Gesundheitswesens der östlichen Besatzungszone zurück.47 Die Neugestaltung basierte vielmehr auf einer Kombination von deutschen Traditionen (Verstaatlichung des Gesundheitswesens, Vereinheitlichung der Sozialversicherung48) mit sowjetischen Leitlinien (zentralstaatliche Organisation des Gesundheitswesens, neuartige Form der gesundheitlichen Betreuung der Bevölkerung in Dispensaires49). 1.1.3 Der Stellenwert der Prophylaxe im weiteren Verlauf der DDR-Geschichte Mit Gründung der DDR im Oktober 1949 ging aus der DZVG zunächst das Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen hervor, in dem das Gesundheitswesen nur eine Hauptabteilung bildete. 1950 wurde diese dann jedoch zu einem eigenen Ministerium aufgewertet. Die Belange der Krankheitsverhütung und Gesundheitsvorsorge verteilten sich quer über die vier neu entstandenen Hauptabteilungen: In der Hauptabteilung Heilwesen waren dies unter anderem die Punkte Betriebsgesundheitsfürsorge, Kur- und Bäderwesen und Bekämpfung der Volkskrankheiten; die Hauptabteilung Mutter und Kind war verantwortlich für Schwangeren- und Kindergesundheitsfürsorge; in der Hauptabteilung Wissenschaft und Aufklärung wurde die Hygienische Volksaufklärung verankert und die Hauptabteilung Hygiene-Inspektion verantwortete unter anderem die Seuchenbekämpfung sowie die Orts- und Lebensmittelhygiene.50 Alle grundsätzlichen Entscheidungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens gingen zwar vom Gesundheitsministerium aus51, beruhten jedoch auf Parteitagsbeschlüssen oder Beschlüssen anderer Parteiorgane.52 Auf den SED-Parteitagen wurde immer wieder die Bedeutsamkeit der Gesundheitsfürsorge und der Gesunderhaltung der Bevölkerung betont (die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die gesundheitliche Betreuung war beispielsweise Bestandteil des vom Politbüro der SED im Zuge der Politik des „Neuen Kurses“ verabschiedeten umfangreichen Programms von 1954).53 Das Thema Gesundheitspolitik hatte jedoch insgesamt gesehen für die SED in den 45 Paul Konitzer ist hierfür ein gutes Beispiel. Für weitere Informationen zu den Emigranten – zu nennen sind hier u. a. Alfred Beyer, Erwin Marcusson und Kurt Winter – und ihren Funktionen im Gesundheitswesen der SBZ/DDR siehe Reinisch (2006) und Schleiermacher (2009). 46 Vgl. Süß (1998), S. 64. 47 Siehe u. a. Ahrens (2002), Moser: Kommunalisierung (2002) sowie Reinisch (2006). 48 In der Weimarer Republik hatten sich Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften bereits dafür eingesetzt; vgl. Ahrens (2002), S. 43. 49 Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 405. 50 Vgl. ebenda, S. 397. 51 Vgl. Ruban (1981), S. 24. 52 Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 393. 53 Vgl. Meyer (1997), S. 368.
1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens
33
Anfangsjahren nur einen marginalen Stellenwert und nahm erst ab Ende der 1950er Jahre breiteren Raum ein.54 Hintergrund für den Bedeutungswandel war die ‚Republikflucht‘ tausender Ärzte, Zahnärzte und Krankenschwestern, die inzwischen bedrohliche Formen für die medizinische Betreuung angenommen hatte.55 Der „Aderlass auf allen Ebenen des Gesundheitswesens“56 hatte schwerwiegende Folgen und führte – vor allem auf dem Lande – zu einer äußerst instabilen Versorgungslage.57 Vor dem Hintergrund verloren gegangener Privilegien und ideologischer Vorstöße gegenüber den Ärzten in der DDR, stellte der ärztliche Arbeitsmarkt der Bundesrepublik für viele eine attraktive Alternative dar.58 In der Zeit von 1946 bis 1961 verließen insgesamt rund 7.500 Mediziner (davon überdurchschnittlich viele junge Ärzte) die DDR, was mehr als der Hälfte des Gesamtbestands im Jahr 1960 entsprach.59 Hinzu kam, dass die vorgesehenen gesundheitspolitischen Aufgaben steigende finanzielle Aufwendungen erforderten, die eine zusätzliche Bürde für den durch die geringe Produktivität der Volkswirtschaft sowie durch Reparationen belasteten Staatshaushalt bedeuteten.60 In dieser „gesundheitspolitisch kritischste[n] Zeit“61 wurde dem Gesundheitswesen auf Regierungsebene größere Beachtung geschenkt: 1959 erfolgte die Einrichtung einer eigenen Abteilung im Zentralkomitee der SED.62 Ein bedeutsames Resultat dieser Schwerpunktverlagerung war die „Weimarer Gesundheitskonferenz“ von 1960, die zum Ausgangspunkt für eine zeitweilig bessere Situation im Gesundheitsbereich wurde. Veranstalter waren das ZK der SED, der Bundesvorstand des FDGB und das Ministerium für Gesundheitswesen. Unter dem Thema „Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Lebensfreude für den Sieg des Sozialismus“ kamen vom 11. bis 13. Februar über 1.000 Teilnehmer aus allen medizinischen Berufsgruppen in Weimar zusammen, um ein gesundheitspolitisches Programm für die DDR zu erarbeiten.63 Als Diskussionsgrundlage diente ein Perspektivplan, der von einer Kommission beim Politbüro ausgearbeitet worden war.64 Darin wurde die Erziehung zur gesunden Lebensweise als eine Hauptaufgabe des Gesundheitsschutzes und die Förderung und Hebung der Volksgesundheit erneut zur Sache aller Bürger erklärt.65 Als Schwerpunkte künftiger Arbeit wurden darüber hinaus festgelegt: die Senkung des Krankenstandes, die Verminderung der Säuglingssterblichkeit sowie übertragbarer Krankheiten, die Stärkung epidemiologischer und mikrobiolo54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 393. Vgl. Meyer (1997), S. 369. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 426. Vgl. Wasem et al. (2006), S. 381. Vgl. Süß (1998), S. 88. Vgl. Ernst (1997), S. 54 ff. Vgl. Meyer (1997), S. 368. Ebenda, S. 369. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 396. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 34. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 429. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 64.
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen
gischer Forschung, die Abfassung eines neuen Impfgesetzes, die Weiterentwicklung der Dispensairemethode66 zur Hauptmethode der medizinischen Betreuung sowie die Verbesserung der Personalsituation.67 Die Konferenz von Weimar führte zu einer enormen Belebung des gesamten Gesundheitsbereichs. Die materiellen und finanziellen Möglichkeiten verbesserten sich für einige Jahre68 und der Fokus verlagerte sich auf die aktive Förderung der Gesundheit und einer gesunden Lebensweise. Ausdruck dessen war die Gründung des „Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR“ 1961, das noch häufiger Erwähnung finden wird. Der Mauerbau im August desselben Jahres brachte die Massenabwanderung der Ärzte fast völlig zum Erliegen und sorgte für eine Entspannung der Personalsituation.69 Trotz dieser Stabilisierung und Erfolgen in einigen Bereichen der medizinischen Betreuung waren auch die 1960er Jahre weiterhin durch die Mangelsituation bestimmt.70 Die Engpässe in der Versorgung bei Arznei-, Hilfs- und Heilmitteln sowie in der Medizintechnik führten zu starken Einschränkungen – auch im gesundheitspolitisch als besonders wichtig erachteten Bereich der Prophylaxe (beispielsweise bei der Impfprophylaxe).71 Das folgende Jahrzehnt kann Beteiligten zufolge als „erfolgreichste Periode“72 oder als „goldenes Jahrzehnt“73 des Gesundheitswesens der DDR angesehen werden. Der Führungswechsel von Ulbricht auf Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 hatte neue Erwartungen geweckt. Im Zuge der propagierten Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte auch die „Qualität beim Erkennen, Vorbeugen und Behandeln von Krankheiten“74 erhöht werden. Der im September 1973 verabschiedete „Gemeinsame Beschluß“ des Politbüros des ZK der SED, des Ministerrats der DDR und des Bundesvorstandes des FDGB über weitere Maßnahmen zur Durchführung des sozialpolitischen Programms des VIII. Parteitags der SED beinhaltete auch ein umfassendes gesundheitspolitisches Programm.75 Unter anderem wurden die Erhöhung des ärztlichen Versorgungsgrads in den Arbeiterzentren und den unterversorgten Territorien, die Erweiterung des Leistungsumfangs bei Arbeits- und Berufsunfähigkeit sowie verlängerter Schwangerschaftsurlaub und höhere Ansprüche auf Sachleistungen beschlossen. 1973 gelang der DDR auch die Aufnahme in die WHO. Nachdem zuvor mehrere Anträge abgelehnt worden waren, erbrachten die guten Ergebnisse der Dialyse- und Diabetikerforschung die gewünschte Anerkennung. In der Folgezeit beteiligte sich die DDR als sehr aktives Mitglied an der Realisierung 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Nähere Ausführungen zur Dispensairemethode in Kapitel 2.1.2. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 430. Vgl. Meyer (1997), S. 371. Vgl. Wasem et al. (2006), S. 388. Vgl. ebenda, S. 380. Vgl. Wasem et al. (2008), S. 367. Lämmel (2002), S. 118. Kreibich (2002), S. 70. Erich Honecker: Bericht an den VIII. Parteitag der SED. In: Protokoll (1971), S. 98. Vgl. Wasem et al. (2008), S. 376.
1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens
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vielfältiger Programme und Vorhaben.76 Diese internationale Einbindung in globale Entwicklungen beschleunigte eine sich seit längerem vollziehende Wende im Bereich der Präventionspolitik: das Zurückdrängen der umfassenden, sozialen Prävention zugunsten einer rein medizinischen Prävention und des Modells der Risikofaktorenmedizin.77 Die Ziele der sozialen Prävention – gesundheitsgerechte Arbeits- und Lebensbedingungen – hatten bis dato die gesundheitspolitischen Programme und Aktivitäten der DDR bestimmt.78 In den 1970er Jahren kam es dann jedoch zu diesem „kulturellen Bruch“79, bei dem sich das politische Leitbild von den gesunden Lebensverhältnissen hin zu einem individuell gesunden Lebensstil wandelte. Diese Anpassung an das Konzept der Individualprävention wurde weiter verstärkt durch die Beteiligung der DDR an internationalen WHO-Programmen zur Bekämpfung des Herzinfarkts und der Hypertonie.80 Indem man nun auf Verhaltensänderung durch verstärkte Gesundheitserziehung setzte, verabschiedete sich die DDR von ihrem sozialhygienischen Leitbild, das die sozialen Bedingungen als Krankheitsursache hervorgehoben hatte. Die neue Stoßrichtung der Argumentation lautete: Krankheiten waren selbst verursacht und somit nicht sozial zu kompensieren.81 Die Verantwortung für körperliche Gesundheit wurde dem Einzelnen und seiner Lebensführung zugeschoben. Mit dieser Einengung des präventionspolitischen Konzepts – die wichtigsten präventiven Aufgaben sollten fortan in der praktischen Medizin und von Ärzten in der Begegnung mit dem Patienten geleistet werden82 – rückte auch die grundlegende Forderung, dass der Gesundheitsschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, in den Hintergrund.83 Zum einen ist die positive Rezeption des Risikofaktorenmodells nur vor dem Hintergrund der Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung zu verstehen84, zum anderen gab es auch wirtschaftliche Gründe für diese Umorientierung. Denn auch die knappen Ressourcen des Gesundheitswesens dürften dazu geführt haben, dass das „individuell präventive[…] Po-
76 Vgl. Meyer (1997), S. 376. Ausführlichere Informationen zu den Aktivitäten der DDR in den internationalen Gesundheitsorganisationen bei Ruckstuhl (2011). 77 Das Risikofaktorenmodell wurde in den 1950er Jahren in den USA entwickelt und hat seinen Ursprung in der epidemiologischen Erforschung chronischer Krankheiten. Als Erklärung für die Entstehung von Herzkreislauferkrankungen wurden sogenannte Risikofaktoren angeführt (Ernährung, Rauchen, Stress, Bewegungsarmut). In den akademischen Medizinerkreisen der DDR wurde der Risikofaktorenansatz bereits Ende der 1950er Jahre diskutiert und gewann im Zuge groß angelegter Bevölkerungsstudien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit Mitte der 1960er Jahre langsam die Oberhand über die verhältnisorientierte Prävention. Siehe ausführlicher dazu: Timmermann (2010). 78 Vgl. Niehoff (1998), S. 185. 79 Ebenda, S. 187. 80 Vgl. Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013), S. 156. 81 Vgl. Niehoff (2002), S. 221. 82 Vgl. Niehoff (1990), S. 274. 83 Vgl. Schagen (2002), S. 175. 84 Vgl. Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013), S. 156.
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen
tential des Bürgers wieder entdeckt“ wurde.85 Das sozialpolitische Programm des Gemeinsamen Beschlusses sowie der Ausbau von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen hatten immer höhere finanzielle Belastungen zur Folge.86 Die Ausgaben des DDR-Staatshaushaltes für das Gesundheits- und Sozialwesen erhöhten sich im Zeitraum von 1950 bis 1989 auf das Neunfache (von 6 Milliarden Mark auf 54,1 Milliarden Mark) und machten am Ende der DDR etwa 20 Prozent des Staatshaushaltes aus.87 Von einigen Verantwortlichen wurde das Aufkommen der Risikofaktorenmedizin deshalb sicher sehr dankbar aufgenommen, da es sie von großer finanzieller und sozialer Verantwortung entlastete.88 In den 1980er Jahren verschärfte sich diese Entwicklung noch weiter.89 Der Innovationsdruck, der auf dem Gesundheitssektor lastete, wurde stärker, der ökonomische Gestaltungsspielraum enger.90 Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten erschwerten der DDR auch die Umsetzung ihrer Präventionsziele91, die sich inzwischen wieder gewandelt hatten. Auf internationaler Ebene setzte sich seit Mitte der 1980er Jahre eine gesundheitspolitische Sichtweise durch, die den lange Zeit in der DDR vorherrschenden Ansätzen entsprach: Gesundheit wurde wieder als soziale Herausforderung begriffen und die Fragen der Gestaltung der Lebensverhältnisse gewannen größere Bedeutung.92 Als diese Schwerpunkte 1986 in der Ottawa Charta der WHO festgeschrieben wurden, blieb den für die DDR-Gesundheitspolitik Zuständigen nur noch ein Zeitfenster von drei Jahren, um diesen Kurswechsel hin zu den ursprünglichen Prinzipien des DDR-Gesundheitswesens umzusetzen und mitzugestalten. 1.1.4 Prophylaxe in der Arbeitswelt Die SED machte bereits in ihren „Gesundheitspolitischen Richtlinien“ vom März 1947 klar, wem ihre besondere Fürsorge galt: Die „Erhaltung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Werktätigen“ wurde als „eine der wichtigsten Lebensaufgaben des Volkes“ sowie als „Voraussetzung für den Neuaufbau“ benannt.93 Diese besondere Aufmerksamkeit für den arbeitenden Menschen entsprach der generellen Programmatik und war wichtig für den Erhalt der politischen Glaubwürdigkeit einer Arbeiterpartei.94 Dementsprechend wurde die Neugestaltung der Gesundheitsversorgung am Arbeitsplatz 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Ewert (1991), S. 123. Vgl. Wasem et al. (2008), S. 377. Vgl. Geisler (1997), S. 351. Vgl. Niehoff (1998), S. 185. Vgl. Niehoff (1990), S. 273 f. Vgl. Süß (1998), S. 81. Vgl. Walter/Stöckel (2002), S. 280. Vgl. Niehoff (2002), S. 222. Beschluß des ZK der SED über gesundheitspolitische Richtlinien vom 31. März 1947, in: Dokumente (1948), S. 161. 94 Vgl. Huyoff (1991), S. 228.
1.1 Zur Entwicklung des Prophylaxegedankens
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noch vor der Reorganisation der allgemeinen Gesundheitsfürsorge eingeleitet.95 Neben der generellen marxistischen Orientierung auf die Arbeit als den für den Menschen wichtigsten Tätigkeitsbereich96, hatte der zügige Neuaufbau des Betriebsgesundheitswesens jedoch auch andere Hintergründe. 1947 lag die Industrieproduktion unter den Vergleichswerten des Vorjahres. Bedingt durch eine dramatische Versorgungskrise und einen überaus hohen Krankenstand in der Industrie, lag das physische Leistungsvermögen der Arbeiter um 20 bis 30 Prozent unter Normalwert. Die sowjetische Besatzungsmacht sah es als dringend erforderlich an, den Gesundheitszustand der arbeitenden Bevölkerung – sowohl im Hinblick auf die Produktivität der SBZ im Systemvergleich mit den westlichen Besatzungszonen als auch angesichts der Reparationsleistungen97 für die Sowjetunion – nachhaltig zu verbessern und erließ eine Reihe von Befehlen wie zum Beispiel das Beschäftigungsverbot für Frauen mit schwerer oder gefährlicher Arbeit vom Februar 1947.98 Zentrale Bedeutung für das Betriebsgesundheitswesen kam dem Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 1947 zu, der sowohl auf die Neuordnung und Verbesserung des medizinischen Versorgungssystems als auch auf die Steigerung der Produktion abzielte. Dass es immer auch um die Erhaltung von Arbeitskraft im volkswirtschaftlichen Maßstab ging, wurde also offen zugegeben.99 Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte die Einrichtung medizinischer Behandlungsstellen in den Betrieben erfolgen: Sanitätsstellen in allen Betrieben mit 200 bis 5.000 Beschäftigten, Betriebspolikliniken in Betrieben mit mehr als 5.000 Beschäftigten. Die Betriebe hatten für die Bereitstellung der Räume und Möbel zu sorgen und die Kosten für den Unterhalt der Sanitätsstellen und Polikliniken zu tragen, während die Organe der Sozialversicherung die Ausgaben für die Beschaffung der medizinischen Einrichtung und der Medikamente zu bestreiten hatten und für die Finanzierung des medizinischen Personals zuständig waren.100 Diese Regelung war sehr bedeutsam, begründete sie doch die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Gesundheitseinrichtungen in den Betrieben. Denn die medizinischen Mitarbeiter waren nicht 95 Vgl. Schagen (2002), S. 172. Zur Vorgeschichte des betriebsärztlichen Systems in Deutschland siehe u. a. Knödler (1991) und Süß (2003). 96 Vgl. Huyoff (1991), S. 228. 97 Reparationen wurden zum einen direkt aus der laufenden Produktion entnommen, zum anderen wurde die Arbeitskraft der deutschen Bevölkerung auch für die Demontagen zahlreicher Industriebetriebe oder direkt in den Unternehmen, die als „Sowjetische AG“ (SAG) für die Reparationszahlungen wirtschafteten, genutzt. Nähere Ausführungen dazu bei Naimark (1999), S. 212–228. 98 Vgl. Hübner (2001), S. 931. 99 Vgl. Ahrens (2002), S. 45. Besonders in puncto Ausrichtung der Gesundheitspolitik auf die Arbeit und die Produktion waren sich das DDR- und das NS-Gesundheitssystem sehr ähnlich. Zu weiteren Gemeinsamkeiten und Unterschieden siehe Süß (1998). 100 Auszüge aus dem Befehl Nr. 234 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland über Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Angestellten der Industrie und des Verkehrswesens vom 9. Oktober 1947, in: Spaar: Dokumentation Teil 1 (1996), S. 87.
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etwa Angestellte des Betriebs, sondern des staatlichen Gesundheitswesens. In beruflicher Hinsicht und in medizinischen Fragen unterstanden sie der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen der örtlichen Verwaltung, die wirtschaftliche Leitung oblag der Sozialversicherung.101 Somit wurde auch die betriebsärztliche Betreuung verstaatlicht und durch die Gesundheitsverwaltung gesteuert. Eine weitere Neuerung des werksärztlichen Systems betraf den Aufgabenbereich des medizinischen Personals. Neben der Verhütung und rechtzeitigen Erkennung von berufsbedingten Erkrankungen – dem klassischen Feld betriebsärztlicher Betreuung – sollte fortan auch die Behandlung von Kranken durchgeführt werden. Das bedeutete die Aufhebung der traditionell üblichen Trennung, bei der die kurativen Aufgaben von Ärzten übernommen wurden, die nicht mit dem Betrieb verbunden waren. Dieser ‚neue Typus‘ des Betriebsarztes sprach Arbeitsbefreiungen aus, führte Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen durch und betreute darüber hinaus auch die Familienmitglieder der Betriebsangehörigen.102 Trotz dieser zusätzlichen neuen Aufgaben sollte der Schwerpunkt der Tätigkeit der medizinischen Einrichtungen auf der Prophylaxe liegen.103 Vorbeugemaßnahmen waren ausdrücklicher Bestandteil der täglichen Arbeit der Betriebsärzte und wurden von der Sozialversicherung selbstverständlich finanziert.104 In den vom Gesundheitsministerium erlassenen „Arbeitsrichtlinien für die Mitarbeiter in den Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens“ vom März 1952 wird das Gewicht der präventiven Maßnahmen bereits auf den ersten Blick deutlich: Die Auflistung der therapeutischen Aufgaben umfasst drei Punkte, die der prophylaktischen Aufgaben ein ganzes Dutzend.105 Des Weiteren wurde festgehalten, dass mindestens 25 Prozent der gesamten ärztlichen Dienstzeit für vorbeugende Tätigkeiten verwendet werden müssen.106 In den Erläuterungen zu den Arbeitsrichtlinien wurden diese auch als „wahre Aufgaben“ des Betriebsgesundheitswesens bezeichnet, deren Ausbau Zug um Zug erreicht werden müsse.107 In einem Rahmendienstplan für Betriebsärzte aus dem Jahr 1956 war dann auch bereits die Rede davon, für die prophylaktischen Aufgaben bis zu 50 Prozent der täglichen Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen und die therapeutischen Aufgaben nach Möglichkeit auf 30 Prozent zu beschränken.108 Ein Großteil der Ärzteschaft sah jedoch die Gefahr, dass wegen der überwiegenden Behandlung von Kranken die Voraussetzungen zur prophy101 102 103 104 105
Vgl. Winter (1947), S. 753. Vgl. Wienhold (2001), S. 245. Vgl. Ahrens (2002), S. 47. Vgl. Schagen (2002), S. 173. Arbeitsrichtlinien für die Mitarbeiter in den Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens vom 19.3.1952, in: Landesarchiv Greifswald (im Folgenden: LAG), Rep. 200, 9.1, Nr. 32, Bl. 2. 106 Ebenda, Bl. 4. 107 Erläuterungen zu den Arbeitsrichtlinien für die Mitarbeiter in den Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens vom 15.5.1952, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 32, Bl. 6. 108 Rahmendienstplan für Betriebsärzte vom 7.8.1956, in: Landesarchiv Berlin (im Folgenden: LAB), C Rep. 118, Nr. 785, unfol.
1.2 Leitbilder, Ziele und Erwartungen
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laktischen Tätigkeit nicht gegeben sein würden und stand der Neuordnung der betriebsärztlichen Betreuung daher ablehnend gegenüber.109 Zur Klärung der Frage, ob diese Befürchtungen gerechtfertigt waren, soll die nähere Betrachtung des Arbeitsalltags der Betriebsärzte in Kapitel 3.2 beitragen. 1.2 Leitbilder, Ziele und Erwartungen 1.2.1 „Wir müssen Sportstadien bauen statt Krankenhäuser!“ – Grundzüge und Besonderheiten der Prophylaxe in der DDR Da die DDR-Gesundheitspolitik sich stark an den Traditionen der Arbeiterbewegung orientierte, bestimmten deren Ideale auch das präventive Leitbild. Aktivierende und zukunftsorientierte Prinzipien wie Jugend, Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit standen dabei im Mittelpunkt. Aber auch die Begriffe „Kampf“ oder „Bekämpfung“ wurden der Prävention häufig an die Seite gestellt. Diese Schlagworte deuten darauf hin, welchen hohen Stellenwert die Verfügbarkeit aller körperlichen Ressourcen für die Arbeiterklasse hatte.110 Gesundheit diente demzufolge nicht als Selbstzweck, sondern als „Mittel zum Zweck“ – für größtmögliche Leistungs- und Arbeitsfähigkeit sowie für „Genußfähigkeit“.111 Ziel des Gesundheitswesens war es, die Voraussetzungen für die volle Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte der Bürger zu schaffen und die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen gesundheitsdienlich zu gestalten. Folglich galt die Maxime, eine breite Infrastruktur für Präventionsmaßnahmen bereitzustellen und gesundheitsfördernde Aktivitäten wie Sport und Erholung in hohem Maße zu unterstützen, anstatt auf nachträgliche Behandlung und Reparationsmedizin zu setzen. Der Ausspruch Walter Ulbrichts „Wir müssen Sportstadien bauen statt Krankenhäuser!“112 unterstreicht diese Haltung und verweist zudem auf die übergreifende politische Funktion, die der Prophylaxe in der DDR zugeschrieben wurde. Neben der gesundheitsgerechten Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen war man zugleich bestrebt, Einfluss auf die Lebensgewohnheiten und das Verhalten der Menschen zu gewinnen. Mittels ständiger Aufklärung und Unterweisung – in der Schule, am Arbeitsplatz, in der ärztlichen Sprechstunde, in kulturellen Veranstaltungen et cetera – sollte gesundheitsbewusstes Verhalten als „ideologische Grundhaltung“113 und „Kernanliegen“114 der allseitig entwickelten sozialisti109 Vgl. Wienhold (2001), S. 247. 110 Vgl. Niehoff (1998), S. 183 f. 111 Inhaltliche Empfehlungen und Vorgaben an Presse, Rundfunk und Fernsehen zur Aufklärung, Erziehung, Mobilisierung sowie Motivierung der Bevölkerung mit dem Ziel einer stärkeren Ausprägung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen – Ministerium für Gesundheitswesen, Februar 1987, in: BArch, DQ 1/14175, unfol. 112 Zit. nach: Schagen (2002), S. 168. 113 Lämmel et al. (1971), S. 5. 114 Karsdorf/Renker (1981), S. 15.
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schen Persönlichkeit verankert werden. Im Sinne von Foucaults Biopolitik-Begriff115 wollte der Staat normierend und regulierend über Anreiz, Verstärkung und Steigerung, aber auch Kontrolle und Überwachung – des Gesundheitszustandes, der Teilnahme an prophylaktischen Untersuchungen – auf die biologischen Prozesse innerhalb der Bevölkerung einwirken. Die Vorstellung, man könne und müsse den Ausbruch von Krankheiten um jeden Preis verhüten, gehörte zu den „Utopien von einer neuen, besseren Gesellschaft“.116 Winfried Süß hat die DDR als „präventionsorientierte[s] Gesundheitsregime[…]“117 beschrieben, das mit Hilfe des Gesundheitswesens versucht hat, für jene ‚neue Gesellschaft‘ auch einen neuen ‚gesünderen‘ Menschentyp zu formen.118 Dadurch trat jedoch die „uralte Erfahrung, dass Krankheit eine notwendige Lebensäußerung“ darstellt und ein Teil der menschlichen Lebenserfahrung ist119, in den Hintergrund. Das ‚Kranksein‘ unterlag in dieser Logik sogar einer Art sozialer Diskriminierung, wenn es ausschließlich als Belastungsfaktor für die Volkswirtschaft und als „Hemmschuh der gesellschaftlichen Entwicklung“120 angesehen wurde. Wie sich die Bevölkerung zu dieser „naiven Erwartung des Nicht-Krankseins“121 positioniert hat, ist eine der Untersuchungsfragen für Kapitel 3.
115 Siehe einführend zum Begriff Biopolitik und dessen Verwendung Lemke (2007), speziell zu Michel Foucault S. 47–70. 116 Schagen (2006), S. 227. 117 Süß (1998), S. 67. 118 Vgl. Süß (1998), S. 59. Die gleiche Kategorisierung nimmt Süß auch für das nationalsozialistische Deutschland vor. Gemeinsamkeiten zwischen dem NS- und dem DDR-Gesundheitswesen sieht er neben der bereits erwähnten hauptsächlichen Orientierung auf die Bereiche Arbeit und Produktion in der Unterordnung des medizinischen unter das politische System, bei der betrieblichen Gesundheitsfürsorge und dem Betriebsarztsystem sowie der Bedeutung des Krankenstandes und auch bei den Instrumenten der vorbeugenden Gesundheitspflege (z. Bsp. Reihenuntersuchungen). Er betont jedoch auch bedeutende Unterschiede: So war die DDR-Gesundheitspolitik am Abbau ungleicher Gesundheitsverhältnisse interessiert, während der Nationalsozialismus eine Medizin der Ungleichheit praktizierte. Der qualitativ orientierten nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik stand die unselektive, pronatalistische Bevölkerungspolitik der DDR gegenüber. Das DDR-System zählte auf Inklusion möglichst aller Bevölkerungsgruppen und differenzierte nicht nach politischen, kriegswirtschaftlichen und rassischen Merkmalen wie der Nationalsozialismus. Auch die wirtschaftliche Stellung der Ärzte unterschied sich in beiden Systemen. 119 Bergdolt (1999), S. 14. 120 Süß (1998), S. 60. 121 Niehoff/Schrader (1991), S. 57.
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1.2.2 „Gesunde Lebensführung ist keine Privatsache […]“122 – Der Aspekt der Verantwortung Obwohl die Gesundheit stets als das „wertvollste Gut des Menschen“123 und das Motto „Im Mittelpunkt steht der Mensch“124 ständig als Grundsatz der sozialistischen Gesellschaft gepriesen wurde, galten Gesundheit und Krankheit nicht als persönliche, sondern als gesellschaftlich bedeutsame Werte. Gemäß der Lenin’schen Forderung, die eigene Gesundheit als „gesellschaftliches Eigentum“ zu bewahren und nicht zu vergeuden125, appellierten die Gesundheitserzieher der DDR an den Bürger und die Bürgerin: „Deine Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensfreude besitzen einen hohen gesellschaftlichen und persönlichen Stellenwert.“126 Schon in Grotjahns Konzept der Sozialhygiene war die Forderung nach der Unterordnung der individuellen Lebensweise unter die gesellschaftlichen Interessen angelegt. Das Konzept der ‚Volksgesundheit‘ etablierte sich in der Zwischenkriegszeit. Im Dritten Reich radikalisierte sich die Sichtweise, der Einzelne sei verpflichtet, sich im Interesse des ‚Volkskörpers‘ leistungsfähig zu erhalten und trat sogar anstelle des althergebrachten Rechts auf medizinische Versorgung. In der DDR hingegen wurden Gesundheitspflicht und Gesundheitsschutz immer zusammen gedacht.127 Der Verantwortung des Staates, der den Schutz auf Gesundheit in der Verfassung garantierte128, wurde die persönliche Verpflichtung des Einzelnen, sich gesund und leistungsfähig zu halten und die Verwirklichung der Gesundheitspolitik aktiv zu unterstützen, an die Seite gestellt. Denn das „Grundrecht des Bürgers auf Schutz seiner Gesundheit enthebt ihn […] nicht der Pflicht, auch selbst für seine Gesundheit zu sorgen“129, mahnte die Kleine Enzyklopädie Gesundheit – das gesundheitliche Standardnachschlagewerk für die DDR-Bevölkerung. 122 123 124 125 126 127 128
Bartusch (1979), S. 4. Hygiene (1952), S. 1. Winter (1980), S. 7. Theorie (1979), S. 324. Bartusch (1979), S. 37. Vgl. Süß (1998) sowie Madarász (2010). Das konkret formulierte Recht auf Schutz der Gesundheit (und Arbeitskraft) wurde erstmalig 1968 in Artikel 35, Absatz 1 der Verfassung verankert. In der Verfassung von 1949 deutete Artikel 16, Absatz 3 die besondere Stellung des Gesundheitsschutzes bereits an, garantiert jedoch noch kein Recht auf Schutz der Gesundheit: „Der Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit […] dient ein einheitliches, umfassendes Sozialversicherungswesen auf der Grundlage der Selbstverwaltung der Versicherten.“ Diese Formulierung ähnelte noch sehr stark Artikel 161 der Weimarer Reichsverfassung von 1919; vgl. Schleiermacher (2004), S. 175. Das Recht auf Gesundheitssicherung wurde bereits im Zuge der Revolution von 1848/49 von Vertretern einer „medizinischen Reform“ gefordert. Ihr wichtigster Vertreter, Rudolf Virchow, verstand Gesundheit als wesentliche Voraussetzung für die Gleichberechtigung in einem demokratischen Staat und stellte daher die Forderung auf, dass der Staat die Gesundheit der Bürger aktiv schützt; vgl. Walter/ Stöckel (2002), S. 276. 129 Uhlmann et al. (1983), S. 148.
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Das Gebot zur Gesunderhaltung galt bereits in der Zeit der Reformation, wo insbesondere protestantische Autoren eine religiös begründete Pflicht zum sorgfältigen Umgang mit dem Körper als vom Schöpfer befohlene „Schuldigkeit“ propagierten.130 Die Gesundheitspropaganda der DDR führte als Begründung den „großen Aufwand der sozialistischen Gesellschaft“ (planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Pflege der Volksgesundheit) an, der zur Erfüllung des Rechts auf Gesundheit betrieben werde und daher verantwortungsbewusstes Handeln der Bürger in puncto Gesunderhaltung „mit vollem Recht“ erwarten ließe.131 Diese individuelle Verantwortungsbereitschaft sollte zudem „ihre Entsprechung im kollektiven und gesamtgesellschaftlichen Rahmen finden“, wie es Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger132 1983 auf der VII. Nationalen Konferenz für Gesundheitserziehung in Dresden formulierte.133 Seinen Appell richtete er an „Eltern, Erzieher in Krippen und Kindergärten, Lehrer aller Ebenen, alle Menschen mit Leitungsverantwortung, staatliche und wirtschaftsleitende Organe, gesellschaftliche Organisationen, die Kollektive der Werktätigen, […]“. Sie alle sollten ihre Verantwortung bezüglich des Gesundheitsschutzes bewusst wahrnehmen und beispielsweise „gesundheitsschädigendes und damit verantwortungsloses Verhalten“ nicht als Privatsache hinnehmen, sondern als Gesellschaft sensibel darauf reagieren.134 Folglich ergab sich auch für das Betriebsgesundheitswesen die besondere Konstellation, dass den Betriebsleitern die Verantwortung für die Gesundheit der Beschäftigten übertragen wurde. Diese wurde erstmals explizit in der Verordnung zum Schutze der Arbeitskraft vom Oktober 1951 formuliert. In Paragraf 11, Absatz 1 heißt es: „[…] Die Betriebsleitungen tragen jedoch für den Gesundheitsschutz der Belegschaft die volle Verantwortung.“135 Zehn Jahre später wurde in den sozialistischen Prinzipien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes neben der politischen und rechtlichen Verantwortung der leitenden Staats- und Wirtschaftsfunktionäre gegenüber Leben und Gesundheit der ihnen anvertrauten Werktätigen (Prinzip 5) auch die politisch-moralische Verantwortung der Werktätigen für den Schutz ihres Lebens, ihrer Gesundheit und damit hinsichtlich ihrer aktiven Mitwirkung bei der Gestaltung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes (Prinzip 6) ausdrücklich benannt.136 Hintergrund dafür war die in den 1960er Jahren einsetzende forcierte und koordinierte Gesundheits-
130 Vgl. Stolberg (1998), S. 306. 131 Uhlmann et al. (1983), S. 148. 132 Ludwig Mecklinger war von 1971 bis 1989 Minister für Gesundheitswesen der DDR. Weitere Informationen zur Person und Tätigkeit Mecklingers in Kapitel 1.3.1. 133 Nationales Komitee (1983), S. 13. 134 Ebenda. 135 Regierung [1952], S. 15. 136 Die sozialistischen Prinzipien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes, hg. vom FDGB-Bundesvorstand, Abteilung Arbeitsschutz, o. O., o. J. [1963], in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (im Folgenden: SAPMO-BArch), DY 34/8515, unfol.
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erziehung, die auch in der Arbeitswelt eine straffe Anleitung zum arbeitsschutzgerechten Verhalten zur Folge hatte.137 Aus der persönlichen Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger, alles Mögliche zu tun, um ihre „Gesundheit zu erhalten und bei Gesundheitsstörungen zu deren Beseitigen oder Mindern beizutragen“138, leitete der Staat gewisse Eingriffsrechte in deren körperliche Integrität ab. Dies war kein DDRspezifisches Phänomen.139 Bereits im Kaiserreich hatte man in bestimmten Fällen auf Zwangsmaßnahmen zurückgegriffen, zum Beispiel auf die Pflicht zur Behandlung (bei Geschlechtskrankheiten) und den Impfzwang (bei Pocken).140 Auch in der DDR bestand die Pflicht, sich gegen bestimmte ansteckende Krankheiten impfen beziehungsweise sich untersuchen und behandeln zu lassen. Darüber hinaus existierte die Verpflichtung, Sport zu treiben, wenn eine bestimmte Ausbildung (Schule oder Studium) absolviert wurde.141 Ob sich die Gesundheitspflicht hinsichtlich des Ausmaßes und der Intensität mit der Schul- oder Militärpflicht vergleichen lässt142, wie dies Hockerts nahelegt, soll im Laufe der Untersuchung geklärt werden. Auch die Frage, wie die DDR-Bürgerinnen und -Bürger die – teilweise sehr unbestimmten – Forderungen nach gesunder Lebensführung und aktiver Unterstützung der Gesundheitspolitik interpretiert haben, wird im Hauptteil der Arbeit eingehend betrachtet. Wie hat die Bevölkerung beispielsweise ihre gesamtgesellschaftliche Rolle für den Gesundheitsschutz wahrgenommen und auf gesundheitsschädigendes Verhalten der Mitmenschen reagiert? 1.2.3 Den „Besonderheiten des weiblichen Organismus Rechnung zu tragen“ – Geschlechterspezifische Gesichtspunkte Wie im gesamten sozialistischen Schriftgut, ist auch in der DDR-Gesundheitsliteratur überwiegend die Rede von der Gesellschaft, der Bevölkerung, den Bürgern, den Werktätigen sowie von der sozialistischen Persönlichkeit und anderen ‚geschlechtsneutralen‘ Begrifflichkeiten. Die aktuelle sozialmedizinische Forschung hat aber festgestellt, dass die Zielgruppenspezifität der Gesundheitserziehung das wesentliche Moment ihres Erfolges ausmacht.143 Die theoretischen Leitlinien zur Gesundheitserziehung der DDR haben diese Spezifizierung teilweise schon berücksichtigt. In den bereits erwähnten sozialistischen Prinzipien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes beschreibt das 4. Prinzip zur Gesundheitserziehung, dass diese „systematisch, planmäßig, sowie differenziert 137 138 139 140
Vgl. Wienhold (2006), S. 224. Uhlmann et al. (1983), S. 148. Vgl. Süß (1998), S. 70. Jütte geht in einem Artikel zum Zwangscharakter der Prävention auch auf eine noch weiter zurückliegende präventive Zwangsmaßnahme ein, nämlich die „Märzenschau“ des 16. und 17. Jahrhunderts; vgl. Jütte (1998), S. 23 f. 141 Vgl. Schuster (1990), S. 286 f. 142 Vgl. Hockerts (1994), S. 526. 143 Vgl. Stroß (1996), S. 106.
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nach Alter, Geschlecht, Beruf und Art der Gefährdungsmöglichkeit“ durchgeführt werden soll.144 Ein oberflächlicher Blick in die Präventionslehrbücher und Gesundheitsratgeber deutet diese Differenzierung jedoch nicht unbedingt an. Unterschieden wird zumeist nach medizinischen Kategorien wie Belastungen und Krankheitsbildern und nicht nach Adressaten. Bei genauerem Hinsehen kristallisieren sich aber einige spezielle Zielgruppen heraus. Neben Kindern und Jugendlichen und Gruppen besonders gefährdeter Bürger galt ein vornehmliches Interesse der Frau in ihrer Rolle als Schwangere und als Berufstätige. Das Leitbild der berufstätigen Frau wurde gleich nach Gründung der DDR zum Aushängeschild des fortschrittlichen sozialistischen Gesellschaftssystems. Die sozialistische Frauenemanzipationstheorie145 sowie der nachkriegsbedingte Arbeitskräftemangel erforderten es, ein günstiges Klima für weibliche Berufstätigkeit in der Öffentlichkeit zu erzeugen.146 Die DDR setzte der nationalsozialistischen Frauen- und Geschlechterpolitik bewusst die Vorstellung von der ‚neuen‘, von der Reduktion auf die Mutterrolle befreiten Frau entgegen.147 Die berufstätige Frau stand sinnbildhaft für die gleichberechtigte Frau.148 Das Bild dieser ‚neuen‘ Frau wurde jedoch mit „alte[n] Farben“ gezeichnet.149 Die traditionellen Muster der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung blieben weitestgehend erhalten. In Bezug auf die häusliche Arbeitsteilung fand kein vergleichbares Umdenken statt; die meisten Männer – auch die Männer im Politbüro, die die politischen Richtlinien festlegten – nahmen an, die Hauptverantwortung für den Haushalt und die Kinderbetreuung läge weiterhin bei der Frau. Die traditionellen männlichen Aufgaben wurden einfach den traditionell weiblichen hinzugefügt.150 Um die Vereinbarkeit der verschiedenen Komponenten weiblichen Lebens zu gewährleisten – Wierling spricht von einer Vierfachbelastung der Frauen durch Beruf, Familie, Bildungs- beziehungsweise Qualifizierungsmaßnahmen und gesellschaftlich-politische Aktivitäten151 –, wurden eine Reihe von Gesetzen und sozialpolitischen Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung der Frauen erlassen.152 Aus diesem Grund wurde die weibliche Bevölkerung auch zum besonderen Adressaten 144 Die sozialistischen Prinzipien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes [1963], in: SAPMO-BArch, DY 34/8515, unfol. 145 Das politische Programm der Arbeiterklasse beinhaltete auch die „Lösung der Frauenfrage“. Als Kernpunkt der Befreiung und Emanzipation der Frau wurde deren Einbeziehung in die Erwerbsarbeit (und dementsprechend die Vergesellschaftung der Bereiche Hausarbeit und Kindererziehung) angesehen; vgl. Dölling (1993), S. 26. 146 Vgl. Merkel (1994), S. 368. 147 Vgl. Budde (2000), S. 607. 148 Vgl. Rades (2009), S. 39. 149 Budde (1999), S. 854. 150 Vgl. Fulbrook (2011), S. 161. 151 Vgl. Wierling (1999), S. 839. 152 Die Frauen- und Familienpolitik der DDR ist sehr gut erforscht und immer wieder Thema in den zahlreichen Sammelbänden zur Sozialpolitik und zur Geschichte der DDR, siehe u. a. Gerhard und Merkel (beide 1994), Schwartz (2005) und Trappe (2007).
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der Gesundheitspropaganda153 sowie ausgewählte Zielgruppe des Gesundheitswesens insgesamt. Die Gesundheitspolitik der DDR war bestrebt, in einer „männlich determinierten Arbeitswelt“, den „Besonderheiten des weiblichen Organismus Rechnung zu tragen“154. Einen wichtigen Beitrag dazu sollte die „umfassende medizinische Betreuung von Mutter und Kind, einschließlich der vollen Gewährleistung der sozialen Sicherheit der Frauen vor und nach der Geburt“155 leisten (unter anderem durch das weit verzweigte Netz der Schwangeren- und Mütterberatungsstellen, den besonderen Kündigungsschutz für Schwangere und stillende Mütter sowie Mütter mit Kindern im Alter bis zu einem Jahr, das Verbot der Nacht- und Überstundenarbeit für Schwangere und stillende Mütter und Schonarbeitsplätze für Schwangere bei voller Sicherung ihres bisherigen Einkommens156). Durch diese Maßnahmen sollte sichergestellt werden, dass die Frauen ihr Recht auf Arbeit wahrnehmen und gleichzeitig ihre „natürliche Aufgabe“ erfüllen können, nämlich Kinder zu bekommen und eine Familie zu haben.157 Auch die sozialmedizinische Forschung befasste sich mit der Frauengesundheit – wiederum schwerpunktmäßig mit gesundheitlichen Themen über die Frau im Arbeitsprozess und im Reproduktionsgeschehen.158 Inwieweit die Maßnahmen und Ratschläge zur Gesunderhaltung speziell auf die Bedürfnisse der Frauen und ihre Lebensrealität zugeschnitten und geeignet waren, deren Belastungen aufzufangen oder abzufedern, sind forschungsleitende Fragen für Kapitel 3. Während sich also die öffentlichen Rollen der Frau radikal veränderten, blieben die Vorstellungen von Männlichkeit über den gesamten Zeitraum der DDR ziemlich konstant und unverändert.159 Zentraler Bezugspunkt für die Konstruktion von Männlichkeit war die Erwerbstätigkeit und die Verankerung im Milieu der Arbeiterklasse.160 Das offizielle Männerleitbild orientierte sich zunächst am Ideal des Industriearbeiters und beinhaltete die Hochachtung vor körperlicher Arbeit, Kraft, Disziplin und das Prinzip der Leistungsfähigkeit ohne Rücksichtnahme auf sich selbst.161 Auch das später hinzugefügte Bild des ‚Planers und Leiters‘, d. h. des technisch und intellektuell weitergebildeten Arbeiters und Ingenieurs, blieb am proletarischen Männlichkeitsmuster orien-
153 Hier spielte allerdings auch die traditionelle Ausrichtung der Gesundheitserziehung auf die Frauen eine Rolle; mehr dazu in Kapitel 2.2.3.1. 154 Renker/Karsdorf (1983), S. 113. 155 Autorenkollektiv: Die Frau (1978), S. 81. 156 Vgl. ebenda, S. 85 f. 157 Ebenda, S. 82. 158 Zu nennen wären hier u. a. arbeitsmedizinische Untersuchungen zum Einfluss verschiedener Belastungs- und Schadfaktoren auf den weiblichen Organismus, Analysen und Ursachenforschung zum Krankenstand und zur Frühberentung weiblicher Erwerbstätiger sowie sozialgynäkologische Themen zu Partnerschaft, Familienplanung und Schwangerschaft; vgl. Hinze (1996), S. 101. 159 Vgl. Fulbrook (2011), S. 160. 160 Vgl. Scholz (2010), S. 211. 161 Vgl. Brandes (2008), S. 69.
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tiert.162 Wie hat sich dieses Männlichkeitskonzept auf die Lebensweise und das Gesundheitsverhalten der Männer ausgewirkt? Haben sich durchweg alle Männer an diesem Leitbild orientiert? In welchem Maße hat die Gesundheitspropaganda das männliche Verhalten beeinflusst? Brandes vertritt die These, dass der DDR-Staat und der Sozialismus insgeheim so selbstverständlich mit Männern identifiziert wurden, dass „deren eigenständige Rolle keiner Hervorhebung bedurfte“.163 Hat sich diese Privilegierung der Männer in puncto Gesundheit eventuell als Nachteil erwiesen – durch den gesundheitspolitischen Fokus auf die Frauen und die Ausblendung der Männer? Andererseits könnte sich die starke Stellung des Betriebsgesundheitswesens wiederum vorteilhaft auf den Gesundheitszustand der männlichen Bevölkerung ausgewirkt haben. Denn wie mehrere Studien belegen eignet sich der Arbeitsplatz ausgesprochen gut, um Männer zu gesundheitsfördernden Maßnahmen zu bewegen (geringere Hemmschwelle, räumliche und zeitliche Konzentration, Kurse direkt im Anschluss an die Arbeitszeit).164 Während auch heute noch strukturelle Barrieren wie die Öffnungszeiten von Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen insbesondere die Männer daran hindern, Präventionsmaßnahmen wahrzunehmen165, hat die DDR gesundheitsfördernde Angebote überwiegend in den Arbeitsalltag der Menschen integriert. Welche Resultate dies erbracht hat, sollen vor allem die Untersuchungen zum Betriebsgesundheitswesen zeigen. Dieser kurze Problemaufriss zu den geschlechterspezifischen Fragestellungen sollte eine erste Anregung geben. Der Konflikt zwischen propagierten Leitbildern und der Realität der Geschlechterverhältnisse wird in den Folgekapiteln eine maßgebliche Rolle spielen und an den entsprechenden Stellen ausführlicher dargestellt. 1.3 Wichtige Akteure und Institutionen 1.3.1 Gesundheitseinrichtungen auf zentraler Ebene Der Staatsaufbau in der DDR war nach dem von Lenin entwickelten Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ streng hierarchisch und zentralistisch geregelt. Nachdem auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 der „Aufbau des Sozialismus“ verkündet wurde, beseitigte man die in der Gründungsverfassung von 1949 noch enthaltenen Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung.166 Bei den Gemeinden, Stadt- und Landkreisen sowie den Bezirken handelte es sich um territoriale Verwaltungsorganisationen, in denen örtliche Staatsorgane wirkten, und nicht um selbständig handelnde Gebietskörper162 163 164 165 166
Vgl. Brandes (2008), S. 71. Ebenda, S. 72. Vgl. Moses (2010), S. 70. Vgl. Dinges (2009), S. 22. Vgl. Richter (2009), S. 18 sowie Brunner (2004), S. 85.
1.3 Wichtige Akteure und Institutionen
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schaften.167 Auch das Gesundheitswesen war nach diesem Prinzip aufgebaut: Auf der Verwaltungsebene der Republik war das Ministerium für Gesundheitswesen die entscheidende Instanz, darunter folgten die Bezirke mit den Abteilungen für Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Bezirks, anschließend die Kreise mit den Abteilungen für Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Kreises beziehungsweise beim Rat der (kreisfreien) Stadt und schließlich die Gemeinden.168 Die jeweils höhere Instanz hatte Weisungsbefugnis, ihre Beschlüsse waren bindend für die unteren Organe. Dementsprechend traf das Ministerium für Gesundheitswesen, das – wie bereits in Kapitel 1.1.3 kurz ausgeführt – 1950 als eigenständiges Ministerium aus dem Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen hervorgegangen war, alle grundsätzlichen Entscheidungen für den Bereich des Gesundheitswesens wie beispielsweise Schwerpunkte und Prioritäten gesetzt sowie Geld- und Sachmittel verteilt wurden oder welche Bestimmungen für Personal- und Ausbildungsfragen galten.169 Im Gegensatz zur Vorgängerinstitution, der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen, die durchgehend von anerkannten medizinischen Fachkräften und zumeist aus der Emigration zurückgekehrten Kommunisten geleitet wurde, standen an der Spitze des Gesundheitsministeriums in den ersten Jahren Nichtmediziner und CDU-Mitglieder.170 Luitpold Steidle171 hatte das Ministeramt von 1950 bis 1958 inne, Max Sefrin172 von 1958 bis 1971. Getreu dem klassischen kommunistischen Stellvertreterprinzip wurden beiden CDU-Ministern politisch zuverlässige SEDMitglieder (zur Kontrolle) an die Seite gestellt wie Jenny Matern173, die seit 167 168 169 170 171
Vgl. Brunner (2004), S. 85. Vgl. Ruban (2004), S. 208. Vgl. Ruban (1981), S. 24. Vgl. Welsh (1990), S. 245. Luitpold Steidle (1898–1984), Landwirt aus Ulm, NSDAP-Mitglied seit 1933, geriet als Oberst und Regiments-Kommandeur 1943 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Als Frontbevollmächtigter des NKFD kehrte er 1945 nach Deutschland zurück, wo er 1946 in die CDU eintrat. 1949/50 war er bereits Minister für Arbeit und Gesundheitswesen. 1949–1971 war Steidle Abgeordneter der (Provisorischen) Volkskammer und 1960–1969 OB der Stadt Weimar [http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-derddr-%2363 %3B-1424.html?ID=3386, zuletzt aufgerufen am 20.11.2014]. 172 Der Pfälzer Max Sefrin (1913–2000) absolvierte nach einer kaufmännischen Lehre eine Ausbildung zum Flugzeugführer und war anschließend in diesem Beruf tätig, auch als Offizier der Luftwaffe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Brandenburg als Betriebsleiter und betätigte sich in der lokalen Verwaltung. 1946 trat er in die CDU ein. Sefrin war 1952–1990 Abgeordneter der Volkskammer [http://www.bundesstiftungaufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424.html?ID=3252, zuletzt aufgerufen am 20.11.2014]. 173 Jenny Matern (1904–1960), geb. Pickerodt, stammte aus Hannover und schloss sich bereits in jungen Jahren zunächst der sozialistischen Arbeiterjugend und SPD und später dem kommunistischen Jugendverband und der KPD an. Sie arbeitete als Stenotypistin und Sekretärin sowie als Funktionärin der Roten Hilfe Deutschlands. 1933 wurde sie inhaftiert und emigrierte über verschiedene Stationen schließlich in die UdSSR. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1945 wirkte Matern in führenden Positionen auf dem Gebiet der Arbeit und Sozialfürsorge in diversen Verwaltungsabteilungen. 1946 wurde sie
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ihrer Jugend in der KPD und der Roten Hilfe Deutschlands aktiv gewesen war und nun als Staatssekretärin und 1. Stellvertreterin von 1950 bis 1959 im Ministerium für Gesundheitswesen wirkte. Auch die beiden Ärzte Walter Axel Friedeberger174, der 1959 als Direktor des Deutschen Hygiene-Museums zum stellvertretenden Minister für Gesundheitswesen berufen wurde und diese Funktion bis zu seinem Tode 1967 ausübte, und Ludwig Mecklinger175, seit 1964 Stellvertreter von Sefrin und dessen Nachfolger im Amt des Gesundheitsministers von 1971 bis 1989, waren SED-Mitglieder der frühen Stunde. Zudem war das Gesundheitsministerium stets an die Weisungen der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED gebunden, die 1959 im Zuge der durch die massenhafte Abwanderung des medizinischen Personals bedingten gesundheitspolitischen Krise ins Leben gerufen wurde. Die Abteilung, die im Geschäftsbereich des Sekretärs für Bildung, Wissenschaft und Kultur Kurt Hager lag176, legte die Richtlinien der Gesundheitspolitik fest und stimmte sie mit denen der Wirtschafts- und Sozialpolitik ab. Diese wurden dann im MinisteSED-Mitglied und 1947 Mitbegründerin und Mitglied des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands. Seit 1949 bis zu ihrem Tod war sie Abgeordnete der (Provisorischen) Volkskammer [http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B1424.html?ID=2235, zuletzt aufgerufen am 20.11.2014]. 174 Walter Axel Friedeberger (1898–1967), geboren in Breslau, wuchs in Berlin auf, wo er auch sein Medizinstudium und die Promotion absolvierte und anschließend bis 1933 für den Verband der Krankenkassen arbeitete. Seit 1921 war er SPD-Mitglied. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war er kurzzeitig in Haft und emigrierte schließlich 1935 über die Schweiz und Frankreich in die USA. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1947 wurde er Mitglied der SED und wirkte in leitender Funktion in der DZVG. 1951–1959 war er Direktor des DHMD, 1964–1967 Rektor der Deutschen Akademie für ärztliche Fortbildung. 1963–1967 war Friedeberger zudem Abgeordneter der Volkskammer [http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-% 2363%3B-1424.html?ID=878, zuletzt aufgerufen am 20.11.2014]. 175 Der gebürtige Bayer Ludwig Mecklinger (1919–1994) schloss 1945 sein Medizinstudium samt Promotion ab und arbeitete kurzzeitig in einer ärztlichen Praxis in Bayern, bevor er für die Gesundheitsverwaltung der Provinz Sachsen(-Anhalt) tätig wurde. In den 1950er und 1960er Jahren wirkte er an der militärmedizinischen Sektion sowie am Hygieneinstitut der Universität Greifswald, wo er sich auch habilitierte. Seit 1976 war Mecklinger Kandidat und in den Jahren 1986 bis 1989 Mitglied des ZK der SED [http://bundesstiftungaufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=2262, zuletzt aufgerufen am 20.11.2014]. 176 Vgl. Geisler (1997), S. 342. Der ‚Chefideologe‘ Hager ließ die fachlichen Gesundheitsexperten angesichts des höheren Stellenwerts der Kultur- und Bildungspolitik weitestgehend gewähren. Im Verlauf der Zeit verringerte sich die konzeptionelle Eigenständigkeit des Ministeriums sowie der Bezirks- und Kreisärzte und der Ärztlichen Direktoren jedoch immer mehr. Insbesondere nach dem Machtantritt Honeckers 1971 wuchs der Einfluss des Parteiapparates auf allen Ebenen des Gesundheitswesens und führte dazu, dass parteilose Fachleute immer weiter zurückgedrängt wurden. In die Position der Kreis- und Bezirksärzte gelangten nun deutlich mehr parteipolitisch gut geschulte Ärzte: 1971 hatten nur 8 Kreisärzte eine Bezirksparteischule besucht, wohingegen es 1984 bereits 123 waren. Vgl. Meyer (1997), S. 365 sowie Wasem et al. (2008), S. 371. Dies entsprach dem generellen Trend zu mehr politischen Schulungen als Antwort auf die Ostpolitik Brandts; vgl. Weber (1984), S. 124.
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rium konkret umgesetzt und an die nachfolgenden Gesundheitsbehörden der Bezirke als Planaufgaben weitergeleitet.177 Zur Beratung standen dem Ministerium zahlreiche Organe und Institutionen zur Verfügung wie der Rat für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaft178, die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften oder die Akademie für ärztliche Fortbildung.179 Unmittelbar im Ministerium verankert war die Staatliche Hygieneinspektion (als Hauptabteilung Hygiene und Staatliche Hygieneinspektion).180 Sie war das federführende Organ auf dem Gebiet der Hygiene und der Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und wirkte anleitend, beratend, unterstützend und kontrollierend, um die Rechtsvorschriften, Grundsätze und Normative auf dem Gebiet der Hygiene durchzusetzen und die hygienischen Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. Zu ihren konkreten Aufgabenfeldern zählten die Kommunalhygiene (Sicherung der Trinkwasserqualität; Gestaltung von Wohngebieten; Lärmschutz; Kontrolle von Deponien), die Lebensmittel- und Ernährungshygiene (Einwirkung auf gesundheitsfördernde Ernährung, insbesondere im Rahmen der Gemeinschaftsverpflegung; Schutz der Menschen vor Fremdstoffen und Giften) sowie der Infektionsschutz (Bereitstellung und Anwendung wirksamer Impfstoffe; Aufgaben im Bereich Desinfektion und Sterilisation).181 Für die umfassende Aufgabe der Gesundheitserziehung, die im Zuständigkeitsbereich des stellvertretenden Gesundheitsministers lag, konnte man sich auf das traditionsträchtige Deutsche Hygiene-Museum182 in Dresden (DHMD) stützen, das bereits 1945 als „Institut für hygienisch-medizinische Propaganda“ seine Arbeit wieder aufgenommen hatte und zunächst der DZVG und ab 1951
177 Vgl. Ruban (1981), S. 24. 178 Dieser Rat wurde 1962 als wissenschaftliches Beratungsgremium beim Ministerium gebildet und sollte Entscheidungsgrundlagen für die Planung und Leitung der medizinischen Forschung sowie für die Umsetzung der Forschungsergebnisse erarbeiten. Dafür sollte der Rat die internationalen Entwicklungstendenzen analysieren und auch mit anderen medizinisch-wissenschaftlichen Institutionen zusammenarbeiten. Fehlende Kompetenzabgrenzungen zu diesen Beratungsorganen führten jedoch zu wenig konkreten Ergebnissen auf oft nur sporadisch abgehaltenen Tagungen. 1980 wurde der Rat dann umgebildet und umbenannt in Rat für medizinische Wissenschaften. Die ehrenamtlich tätigen Ratsmitglieder tagten nun 5 Mal im Jahr im Plenum sowie in ständigen Arbeitsgruppen (z. Bsp. zu ethischen Fragen der medizinischen Forschung, zur technologischen Basis der medizinischen Forschung und zur Prognose) [https://www.archivesportal europe.net/ead-display/-/ead/pl/aicode/DE-1958/type/fa/id/DQ109–29740, zuletzt aufgerufen am 4.12.2014]. 179 Vgl. Ruban (1981), S. 24. 180 In den Bezirken, Kreisen und in Großstädten existierten analog zur Zentrale in Berlin Bezirks-, Kreis- und Stadtbezirkshygieneinspektionen. 181 Vgl. Ewert (1991), S. 112 und Mecklinger (1998), S. 14–21. 182 Das DHMD existierte bereits seit 1912 und wurde auf Initiative des Dresdner Industriellen und Odol-Fabrikanten Karl August Lingner als „Volksbildungsstätte für Gesundheitspflege“ gegründet. Siehe ausführlich zur Geschichte des DHMD Vogel (2003).
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dem Gesundheitsministerium unterstellt wurde.183 1947 hatte das Museum schon wieder 142 Mitarbeiter, die sich zunächst dem Thema Seuchenbekämpfung und der Herstellung neuer Ausstellungs- und Anschauungsmaterialien widmeten. Bis Ende der 1950er Jahre erfüllte das DHMD hauptsächlich den Zweck, die Bevölkerung über den Bau und die Funktion des menschlichen Körpers und über die Gefahren, die seiner Gesundheit drohen, aufzuklären.184 Danach verlagert sich der Schwerpunkt stärker auf die Festigung der Gesundheit und auf die gesunde Lebensführung. Wichtige Aufgaben bei der Gesundheitsaufklärung übernahm auch das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in der DDR seit seiner Neugründung 1952. Es organisierte beispielsweise die Bildung und Anleitung so genannter Hygieneaktive, die die Bevölkerung zu einer hygienischen Lebensweise anhalten und hygienische Mängel beseitigen sollten.185 Im Betriebsgesundheitswesen warben die Gesundheitshelfer des DRK unter anderem für Schutzimpfungen und Vorsorgeuntersuchungen.186 Auch die URANIA, die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, vermittelte in Vortragsabenden, Kursen und Ausstellungen an Volkshochschulen, in Betrieben oder Kulturhäusern Wissen über Gesundheit und Krankheitsverhütung.187 Zur besseren Koordinierung der Gesundheitserziehung und zur stärkeren Verankerung der Gesundheitsförderung in den Bildungs- und Erziehungsprozessen der sozialistischen Gesellschaft insgesamt, konstituierte sich 1961 das Komitee für gesunde Lebensführung (ab 1969 Nationales Komitee für Gesundheitserziehung). Dieses Gremium setzte sich aus einer Vielzahl verschiedener staatlicher und wirtschaftlicher Organisationen, Instituten der Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie Vertretern kultureller und gesellschaftlicher Bereiche zusammen und wurde von einem ehrenamtlich arbeitenden Präsidium geleitet.188 Das Komitee erarbeitete gesundheitserzieherische Empfehlungen, die durch Schulen, Massenorganisationen, Betriebe, Einrichtungen der Erwachsenenbildung sowie Bezirks- und Kreisärzte vermittelt werden sollten, gab die Zeitschrift Deine Gesundheit heraus und organisierte in unregelmäßigen Abständen nationale Konferenzen zu Schwerpunkten der Gesundheitserziehung (zum Beispiel „Gesunde Ernährung“, „Sozialistische Arbeitskultur und Gesundheit“, „Jugend und Gesundheit“ oder „Sozialistische Lebensweise und Gesundheit“).189
183 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 29. 184 Vgl. ebenda, S. 29 f. Weitere Informationen zum DHMD, seinen Funktionen und Ausstellungs- bzw. Aufklärungsmaterialien in Kapitel 2.2. 185 Vgl. Lesematerial (1978), S. 44 sowie BArch, DQ 1/3076. 186 Vgl. Eintrag „Deutsches Rotes Kreuz (DRK)“, in: Stephan et al. (2002), S. 711. 187 Vgl. Eintrag „URANIA“, in: Stephan et al. (2002), S. 817–820. 188 Vgl. Ewert (1991), S. 109. 189 Vgl. ebenda.
1.3 Wichtige Akteure und Institutionen
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1.3.2 Regionale und kommunale Gesundheitsorgane In den 14 beziehungsweise 15 Bezirken190 der DDR waren die Abteilungen Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Bezirkes191 verantwortlich für die Durchführung der Gesundheitspolitik gemäß der staatlichen Direktiven. Geleitet wurden diese Fachabteilungen von einem Bezirksarzt, der zugleich Mitglied des Rates war und somit höchster Medizinalbeamter des Territoriums.192 Den Abteilungen unterstanden alle bezirklichen Einrichtungen wie Bezirkskrankenhäuser, Bezirkshygieneinspektionen und -institute193. Aufgabe des Bezirksarztes war die Analyse der Entwicklung des Gesundheitswesens, der sozialen Betreuung und des Krankenstandes, die Schwerpunktsetzung für das Gesundheits- und Sozialwesen sowie die Verteilung der dem Bezirk zustehenden Mittel. Mit der Organisation bestimmter Bereiche konnte der Bezirksarzt andere Ärzte beauftragen, beispielsweise einen Bezirkshygienearzt, einen Bezirksgutachter, einen Bezirkszahnarzt und einen Bezirksjugendarzt. Zudem standen ihm auch beratende Ärzte aus nahezu allen Fachbereichen zur Seite. Vor der Ständigen Kommission für Gesundheits- und Sozialwesen des Bezirkstages hatte der Bezirksarzt regelmäßig über die Ergebnisse und Probleme bei der Durchsetzung der Gesundheitspolitik Bericht zu erstatten.194 Die Basisarbeit im Gesundheitswesen in den 217 Kreisen der DDR wurde von den Kreisärzten geleistet, die wiederum Leiter der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Kreises waren und die Aufsicht über alle Personen und Einrichtungen des Gesundheitswesens des Kreises hatten (Krankenhäuser, Polikliniken, Ambulatorien, staatliche Praxen, Pflegeheime und 190 Ost-Berlin hatte einen Sonderstatus und war offiziell kein Bezirk. Seit 1961 hatte die Hauptstadt der DDR jedoch die Funktion und Stellung eines Bezirks und wurde daher häufig als 15. Bezirk aufgeführt. 191 Der Rat des Bezirks war das Exekutivorgan der gewählten Legislative, des Bezirkstages. Theoretisch galt die Volksvertretung als oberstes Organ der Staatsmacht und sollte in eigener Verantwortung über alle Angelegenheiten entscheiden; in der politischen Praxis dominierte jedoch der Rat mit seinen Fachabteilungen, die die eigentlichen Träger der Verwaltungsarbeit waren; vgl. Brunner (2004), S. 85 f. 192 Vgl. Ruban (2004), S. 208. Ruban vergleicht die Stellung des Bezirksarztes mit der eines Landesgesundheitsministers in der Bundesrepublik Deutschland. 193 Hygieneinstitute gab es nur auf Bezirksebene, sie waren in die Bezirkshygieneinspektionen eingegliedert. Hier wurden bakteriologische, infektionshygienische, mikrobiologische und chemische Untersuchungen durchgeführt, die Daten über die hygienischen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Bezirken lieferten. 194 Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 579 f. Ständige Kommissionen existierten für verschiedene Arbeitsgebiete: Haushalt, Landwirtschaft, örtliche Industrie, Handel, Volksbildung, Wohnungswesen und Kommunalwirtschaft u. a. Sie sollten die Bezirkstage bei ihrer Arbeit unterstützen, beispielsweise bei der Vorbereitung von Beschlüssen. Sie wurden aus mindestens fünf Abgeordneten des Bezirkstags gebildet und sollten wenigstens einmal im Monat zusammenkommen. Bei der Durchführung ihrer Arbeit konnten sich die Kommissionen wiederum von erfahrenen Bürgern des Bezirks beraten lassen, die in Aktiven zusammenarbeiteten; siehe „Ordnung über den Aufbau und die Arbeitsweise der staatlichen Organe der Bezirke“ vom 24. Juli 1952 [online einzusehen unter: http:// www.verfassungen.de/de/ddr/bezirksordnung52.htm, zuletzt aufgerufen am 7.6.2015].
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Krippen).195 Kreisärzte waren unter anderem verantwortlich für die stationäre und ambulante Betreuung, die Fortbildung der Mitarbeiter und die Gesundheitserziehung der Bevölkerung sowie für die Materialversorgung und Statistik in seinem Kreis. Für die Aufgaben im Seuchenschutz, in der Kommunal-, Lebensmittel- und Ernährungshygiene sowie bei der hygienischen Aufklärung und Gesundheitserziehung konnte sich der Kreisarzt auf die Kreishygieneinspektion stützen: Hier wirkte ein von ihm bestimmter Kreishygienearzt zusammen mit Hygieneinspektoren, Statistikern, Impfschwestern und -sachbearbeitern.196 Beratende Funktion gegenüber dem Kreisarzt hatte zudem das Personal der Betreuungs- und Beratungsstellen (zum Beispiel der Ehe-, Familienund Sexualberatung, der Mütterberatung oder der Schwangerenbetreuung).197 Der Kreisarzt war Vorsitzender zahlreicher Arbeitsgruppen und Kommissionen und hatte diverse nichtärztliche Aufgaben zu bewältigen.198 Er musste dem Rat monatlich, halbjährlich und jährlich Auskunft geben über die Situation in verschiedenen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens (beispielsweise über die Auslastung der Krippen sowie Feierabend- und Pflegeheime, über die bauliche Situation sowie über erreichte Ergebnisse in der ambulanten medizinischen Betreuung und im Betriebsgesundheitswesen).199 Auf der kommunalen Ebene wurde besonders deutlich, dass nicht nur die doppelte Funktion als Amtsarzt und Kommunalpolitiker, sondern auch die Konzentration zweier großer Fachbereiche auf eine Fachabteilung und einen Leiter große Herausforderungen und Schwierigkeiten mit sich bringen konnte.200 Große Bedeutung für die Sicherung der medizinischen und sozialen Betreuung in den Kreisen, vor allem in den Dörfern und schwach besiedelten ländlichen Gebieten, kam den Gemeindeschwestern zu. Waren sie in den Nachkriegsjahren fast ausschließlich kurativ tätig, kamen später arbeitsmedizinische Aufgaben und dann in zunehmendem Maße prophylaktische Tätigkeiten hinzu.201 Unter ärztlicher Anleitung arbeiteten die Gemeindeschwestern relativ selbständig und wurden zu unentbehrlichen Helferinnen des Arztes auf dem Land und in der Landwirtschaft. Sie hatten beispielsweise mehr Zeit, sich im Auftrag des Arztes in den Betrieben umzusehen und gesundheitsschädigende Mängel abstellen zu helfen. Gerade auf gesundheitserzieherischem Gebiet konnten sie Einfluss ausüben, da sie inmitten der Patienten wohnten und somit über umfassende Milieukenntnisse verfügten.202 Außerdem wurden Ende der 1960er Jahre zur erfolgreicheren Durchsetzung der Gesundheitserziehung auf Bezirks- und Kreisebene Komitees für Gesundheitserziehung gebildet – analog zum Komitee für gesunde Lebensfüh195 Vgl. Lesematerial (1978), S. 41. Mehr zu den einzelnen Institutionen und ihren prophylaktischen Tätigkeiten in Kapitel 2.1.2. 196 Vgl. Ringel/Schneider (1990), S. 71 f. 197 Vgl. Steppat (1990), S. 79. 198 Vgl. ebenda, S. 77. 199 Vgl. ebenda, S. 79 f. 200 Vgl. ebenda, S. 80. 201 Vgl. Georges/Bindernagel (1986), S. 71. 202 Vgl. ebenda, S. 72 f.
1.3 Wichtige Akteure und Institutionen
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rung und Gesundheitserziehung auf zentraler Ebene. Diese Gremien sollten die „ständige Zusammenarbeit der staatlichen Bereiche und gesellschaftlichen Organisationen auf dem Gebiet der Gesundheitspropaganda und Gesundheitserziehung“203 organisieren. In den Bezirken verlief die Formierung relativ erfolgreich, während die Bildung auf Kreisebene teilweise nur sehr schleppend erfolgte.204 Die Wirksamkeit der Komitees hing wesentlich von den gesundheitspolitischen Vorstellungen der Bezirks- beziehungsweise Kreisärzte ab.205 1.3.3 Akteure und Institutionen im Betriebsgesundheitsschutz Das Betriebsgesundheitswesen nahm eine herausragende Position in der Gesundheitspolitik der DDR ein; die Hintergründe dafür wurden in Kapitel 1.1.4 dargelegt. Für den Gesundheits- und Arbeitsschutz der werktätigen Bevölkerung waren verschiedene Akteure und Institutionen zuständig: in erster Linie der Betriebsleiter, der die volle Verantwortung trug, dann die Betriebsärzte und -schwestern sowie die Gewerkschaft mit ihren Arbeitsschutzinspektionen und -kommissionen. Über die Stellung und Aufgaben der Betriebsärzte ist ebenfalls in Kapitel 1.1.4 schon Grundlegendes erörtert worden. Bereits 1947 kam es auf Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 234 zur Neuordnung des Betriebsgesundheitswesens und infolge dessen zum Aufbau von Betriebspolikliniken, -ambulatorien und -sanitätsstellen.206 Dass der medizinische Arbeits- und Gesundheitsschutz fortan vollständig der staatlichen Gesundheitsverwaltung unterstellt war, bedeutete einen ebenso fundamentalen Bruch in der historischen Entwicklung der Arbeitsmedizin wie die Integration kurativer Aufgaben in den Arbeitsalltag 203 Ludwig (1978), S. 140. 204 Vgl. Lämmel (2002), S. 113. 1977 existierten in allen Bezirken, jedoch nur in 75 Prozent der Kreise Komitees für Gesundheitserziehung. 205 Vgl. ebenda. 206 Die Belegschaftsstärke und die Produktionstätigkeit des jeweiligen Betriebes bestimmten die Größe und Ausmaße der Gesundheitseinrichtung. Betriebspolikliniken bestanden aus mindestens 5 Fachabteilungen und waren für Betriebe mit über 4.000 Beschäftigten ausgelegt, Betriebsambulatorien hatten zumindest 2 Fachabteilungen für Betriebe mit 2.000 bis 4.000 Mitarbeitern. Betriebssanitätsstellen existierten in Form der Arztsanitätsstelle (in Betrieben mit 500–2.000 Beschäftigten, geleitet durch einen nebenamtlich tätigen Arzt) und der Schwesternsanitätsstelle (für Betriebe mit 200–500 Mitarbeitern; die Leitung hatte eine Krankenschwester). Zu den Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens gehörten darüber hinaus Gesundheitsstuben (Räume mit Liege und Erste-Hilfe-Kasten, vorgesehen für Betriebe mit 50–200 Beschäftigten), Frauen-Ruheräume (für die speziellen hygienischen Bedürfnisse der Frauen), Nachtsanatorien und Erholungsheime. Vgl. Neubert/Schrödel (1965), S. 164, Lesematerial (1978), S. 64 f. sowie Huyoff (1991), S. 230. Auf dem Land existierte kein eigenes Betriebsgesundheitswesen: Die arbeitsmedizinische Betreuung der Werktätigen in der Landwirtschaft erfolgt durch die Bereichsärzte und Gemeindeschwestern in Zusammenarbeit mit der Arbeitshygieneinspektion des Kreises; vgl. Georges/Bindernagel (1986), S. 72.
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1 Prophylaxe in der DDR: Grundlagen, Normen und Strukturen
der Betriebsärzte.207 1952 wurden die Aufgaben der Betriebsärzte mit dem Ziel eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den drei Aufgabengebieten der Arbeitsmedizin, der Arbeitshygiene sowie der medizinischen Betreuung rechtlich neu festgelegt. Von Beginn an wurde sehr stark darauf orientiert, dass die Betriebsärzte die genaue Betrachtung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsvorgänge gewissenhaft betreiben, einen großen Teil ihrer Dienstzeit für prophylaktische Tätigkeiten verwenden und möglichst wenig Untersuchungsmedizin praktizieren.208 Kurt Winter zufolge sollte der Arzt im Betrieb zum „Helfer, Beschützer und Berater des Arbeiters“ werden, d. h. ihm nicht nur bei Krankheit und Unglücksfällen helfen, sondern auch „den weißen Kittel mit dem Monteuranzug des Arbeiters [zu] vertauschen“, um den Arbeitsgang selbst auszuprobieren und die Wirkung auf den Arbeiter beurteilen zu können.209 Neben der Betreuung der Unfallverletzten und akut Erkrankten zählte zu den regelmäßigen Aufgaben der Betriebsärzte, die vorgeschriebenen vorbeugenden Maßnahmen (Reihen-, Eignungs- und Überwachungsuntersuchungen sowie Impfungen) durchzuführen beziehungsweise zu veranlassen, die hygienischen Verhältnisse an den Arbeitsplätzen sowie in den sozialen Einrichtungen (Speiseräume, Frauenruheräume, Wasch- und Duschräume sowie Toiletten) zu kontrollieren, den Gesundheitsschutz der Werktätigen nach medizinischen Gesichtspunkten auszuwerten und bei der Festlegung und Durchführung von Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes mitzuarbeiten, die Betriebsleiter bei der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse zu unterstützen sowie bei der Bekämpfung von Gesundheitsgefahren (insbesondere bei der Verhütung von Berufskrankheiten) anzuleiten und in der Ärzteberatungskommission210 maßgeblich mitzuwirken.211 Um sicherzustellen, dass der Betriebsarzt diese Leistungen erbringen konnte, hatte er das Recht, alle Abteilungen des Betriebes zu betreten, an Beratungen der Betriebsleitung teilzunehmen, Auskünfte einzuholen, technologische Unterlagen einzusehen, Proben zu entnehmen sowie Arbeitsplatzanalysen durchzuführen. Im Falle 207 208 209 210
Vgl. Wienhold (2001), S. 257. Vgl. Wienhold (2004), S. 238. Winter (1947), S. 754. Die Ärzteberatungskommission (ÄBK) war ein Gremium, das 1953 vom Gesundheitsministerium eingesetzt wurde, um den (zumeist beachtlich hohen) Krankenstand in den Betrieben zu beeinflussen. Als dessen Ursache wurden „Mängel in der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Werktätigen und in der Erteilung der Arbeitsbefreiung“ [zit. nach: Schagen/Schleiermacher (2004), S. 413] vermutet. Daher sollten die Mitarbeiter der ÄBK die Arbeitsbefreiungsbescheinigungen auswerten und klären, welche Faktoren die Arbeitsunfähigkeit bedingen und entsprechende Maßnahmen durchführen bzw. veranlassen (Beseitigung von Mängeln im Gesundheits- und Arbeitsschutz, Arbeitsplatzveränderungen, Aussprachen oder Krankenbesuche, Vorladung häufig Arbeitsbefreiter vor die ÄBK). Auch Arbeitsbefreiungen über 10 Tage konnten nur noch von der ÄBK vorgenommen werden und nicht mehr durch die behandelnden Ärzte. Vgl. Reske (1990) sowie Spaar: Dokumentation Teil 2 (1996), S. 50. Hinweise zur Organisation, zum Inhalt und zur Methodik der Tätigkeit der ÄBK (18.12.1967), in: StA Greifswald, Rep. 7.17, Nr. 270, unfol. 211 Vgl. Lesematerial (1978), S. 63.
1.3 Wichtige Akteure und Institutionen
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schwerer Mängel bezüglich der Betriebssicherheit oder der gesundheitlichen Gefährdung der Betriebsangehörigen konnte der Betriebsarzt von der Betriebsleitung umgehende Veränderungen einfordern (bis zur zeitweisen Stilllegung einer Maschine oder eines Produktionsbereichs).212 Da der wachsende Umfang der arbeitshygienischen und gesundheitstechnischen Aufgaben nicht von den Betriebsärzten allein zu bewältigen war, wurden sie fachlich angeleitet und unterstützt von Inspektionen, in denen vorrangig Arbeitshygieneinspektoren213 und Fachärzte für Arbeitshygiene214 tätig waren.215 1956 wurden auf Bezirksebene die Arbeitssanitätsinspektionen bei den Abteilungen Gesundheits- und Sozialwesen gebildet. 1966 wandelten sich diese zu Bezirksinspektionen Gesundheitsschutz in den Betrieben; zugleich entstanden in den Kreisen Arbeitshygienische Untersuchungsstellen. 1978 wurden diese zu Arbeitshygieneinspektionen in den Bezirken und Kreisen weiterentwickelt.216 Diese Institutionen waren unter anderem zuständig für die Beurteilung und Kontrolle der arbeitshygienischen und arbeitsmedizinischen Bedingungen in den Betrieben, für die Analyse des Gesundheitszustandes der Beschäftigten sowie für die Erfassung der Berufskrankheiten.217 Sie hatten das Recht, den Betrieben Auflagen zu erteilen und Sanktionen zu verhängen, sofern die arbeitshygienischen Standards nicht beachtet wurden.218 Auch im Bereich des betriebstechnischen Arbeitsschutzes gab es Inspektoren, die die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen, der Tarifverträge, der Arbeitszeiten, der Regelungen zur Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen sowie den Schutz vor Unfällen und Berufskrankheiten überwachten. Bis 1958 waren die Arbeitsschutzinspektionen den Räten der Bezirke und Kreise zugeordnet, danach wurden sie auf Beschluss des ZK der SED zu Organen der Gewerkschaft.219 Deren verlängerter Arm in den Betrieben waren die ehrenamtlich arbeitenden Arbeitsschutzobleute und Arbeitsschutzkommissionen (in Betrieben mit 20 und mehr Beschäftigten).220 Sie sollten als unterste demokratische Organe die Betriebsleitungen zur Umsetzung 212 Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 596. 213 Der Fachschulberuf des Arbeitshygieneinspektors existierte seit 1960 und konnte nach zweijähriger Ausbildungszeit sowie einem Jahr praktischer Tätigkeit ausgeübt werden; vgl. Vollbrecht (1960), S. 23. 214 Dieser Facharzt existierte seit 1956 und umfasste eine Ausbildungszeit von drei Jahren nach der Pflichtassistenz; vgl. Wienhold (2004), S. 239. 215 Vgl. Vollbrecht (1960), S. 23. 216 Vgl. Wasem et al. (2008), S. 234 f. 217 Vgl. Ewert (1991), S. 112. 218 Vgl. Ringel/Schneider (1990), S. 73. 219 Vgl. Wienhold (2004), S. 206 f. Bereits im November 1945 wurden per SMAD-Befehl Abteilungen für Arbeitsschutz in allen Bezirks-, Kreis-, Provinzial- und Landesämtern für Arbeit und Sozialfürsorge eingerichtet. 220 Arbeitsschutzobleute waren für eine Gewerkschaftsgruppe zuständig und wurden aus dieser Gruppe heraus gewählt. Die Arbeitsschutzkommission war für den gesamten Betrieb zuständig und wurde bei der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) gebildet. Die Mitglieder der Arbeitsschutzkommission wurden daher auch nicht gewählt, sondern von der BGL berufen; vgl. Wienhold (2004), S. 242.
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der Arbeitsschutzmaßnahmen anhalten.221 Die Arbeitsschutzobleute/Arbeitsschutzkommissionen wurden bereits Anfang der 1950er Jahre der Gewerkschaft unterstellt und mit umfassenden Rechten ausgestattet (Untersuchen von Gefahrenquellen, Recht nach Forderung der Beseitigung von Mängeln gegenüber der Betriebsleitung), die jedoch in der Praxis nicht wirklich zur Anwendung kamen.222 Ein weiteres Organ der BGL war der Rat für Sozialversicherung. Aus den Betrieben heraus wurden Bevollmächtigte der Sozialversicherung gewählt, die unter anderem zuständig waren für die Unterstützung und Kontrolle kranker Kollegen (beispielsweise führten sie Krankenbesuche durch) sowie für die Überprüfung der Betriebshygiene.223 Zu den wesentlichen Akteuren im Betriebsgesundheitswesen zählte die DDR-Gesundheitspolitik schließlich auch die Werktätigen selbst, die aktiv bei der Gestaltung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes mitwirken sollten und eine „politisch-moralische Verantwortung […] für den Schutz ihres Lebens [und] ihrer Gesundheit“ trugen.224 Inwiefern die einzelnen Organe und Beteiligten die ihnen auferlegte Verantwortung bezüglich des Gesundheits- und Arbeitsschutzes wahrgenommen haben und ihren Aufgaben im Alltag des Betriebsgesundheitswesens nachgehen konnten, soll in Kapitel 3.2 im Detail untersucht werden. Zunächst richtet sich der Blick aber auf die konkreten Inhalte der Prophylaxe sowie deren Vermittlung.
221 222 223 224
Vgl. Wienhold (2004), S. 259 f. Vgl. ebenda, S. 222 und S. 243 f. Vgl. Hübner (2001), S. 933. 6. Prinzip der sozialistischen Prinzipien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes [1963], in: SAPMO-BArch, DY 34/8515, unfol.
2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen: Maßnahmen und Propaganda in der DDR Im Folgenden wird es darum gehen, die Vermittlung der gesundheitspolitischen Ziele und Leitlinien, die im vorherigen Kapitel dargelegt wurden, genauer zu betrachten. Im ersten Abschnitt wird das Spektrum der Themen und Maßnahmen der Prophylaxe vorgestellt. Daran schließt sich die Analyse der Konzepte und Methoden der Gesundheitserziehung an. Nachdem die verschiedenen Formen und Materialien präsentiert wurden, mit deren Hilfe die Bevölkerung zu einer gesunden Lebensweise angeleitet werden sollte, wird die Zeitschrift Deine Gesundheit nach Samplejahren ausgewertet – sowohl hinsichtlich der Themenschwerpunkte und Stilmittel als auch im Hinblick auf die Geschlechterspezifik. Auch die Betriebszeitung Werftecho sowie die Filmreihen Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender spielen ergänzend eine Rolle. 2.1 Themen und Maßnahmen der Gesunderhaltung im Wandel der Zeit 2.1.1 Themenschwerpunkte Einige der Krankheiten, die das 19. Jahrhundert bestimmt hatten, standen auch unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder im Zentrum der Gesundheitspolitik. Während die Pocken seit dem verpflichtenden Reichsgesetz zur Pockenschutzimpfung von 1874 keine Rolle mehr spielten1, traten andere Infektionskrankheiten wieder in Erscheinung. Typhus, Geschlechtskrankheiten und auch die Tuberkulose bestimmten das Krankheitsspektrum in der SBZ/DDR bis in die 1950er Jahre hinein. Erst nach deren Zurückdrängung verlagerte sich der Fokus allmählich auf die ‚Zivilisationskrankheiten‘, die das 20. Jahrhundert prägen sollten. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei die Krebserkrankungen. Zu den wichtigsten Maßnahmen der DZVG gehörte neben der Aktivierung der Forschung die Aufklärung der Bevölkerung. Bereits 1948 wurde eine Wanderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums zum Thema „Volkskrankheiten“ um die Gruppe „Krebs“ ergänzt.2 Informationen zur Früherkennung und rechtzeitigen Behandlung wurden ebenso präsentiert wie Hinweise auf verbesserte gesellschaftliche Bedingungen, zum Beispiel im Arbeitsschutz (Verminderung krebsauslösender Faktoren wie Hitze, Röntgenstrahlen, Ruß, Paraffin und Teer).3 Das Thema Krebs – insbesondere die Erkrankungen bei Frauen sowie die Primärprävention, vor allem in Bezug auf den Lungenkrebs der Raucher – gewann weiter an Bedeutung, nachdem der Aufbau der vor1 2 3
Vgl. Mayer (1995), S. 40. Vgl. Roeßiger (2001), S. 27. Vgl. ebenda.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
beugenden Gesundheitsfürsorge durch das Ministerium für Gesundheitswesen in den 1950er Jahren intensiviert wurde.4 1952 erfolgte die Einführung eines Krebsregisters, das zur Meldung aller Krebserkrankungen verpflichtete. 1957 gründete sich das Komitee zur Verhütung des Krebses, das dem Gesundheitsministerium unterstellt war. Den Vorsitz hatte der Arzt Fritz Lickint5 inne, der sich seit den 1920er Jahren wissenschaftlich mit der Krebsproblematik befasste und als einer der Ersten den Zusammenhang zwischen dem Rauchen und der Entstehung des Bronchialkrebses hergestellt hatte.6 Auch die Aufklärungskampagnen wurden weiter vorangetrieben. Das Hygiene-Museum konnte 1954 bereits drei Kleinausstellungen zum Thema anbieten, die auf große Nachfrage stießen. In der hauseigenen Schriftenreihe Durch Volksgesundheit zur Leistungssteigerung erschienen mehrere Broschüren, die über Krebserkrankungen informierten. Gleich der erste Band aus dem Jahr 1952 mit dem Titel Die wichtigsten Krebserkrankungen der Frau widmete sich dem Gebärmutterhalskrebs und den Möglichkeiten der Früherkennung durch die kolposkopische Untersuchung.7 Diese Broschüre war eine der erfolgreichsten und wurde bis 1965 immer wieder neu aufgelegt. Krebs blieb auch in den nächsten Jahren Schwerpunktthema – im Mittelpunkt standen jedoch nicht mehr die Früherkennungsmaßnahmen, sondern die Risikofaktoren und die Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger, insbesondere der Tabakkonsum.8 Insgesamt gesehen sorgte die Verwurzelung der DDR in der Arbeiterbewegung im Gesundheitsschutz für eine thematische Einengung.9 Die Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie der Müttersterblichkeit waren in den 1950er Jahren zentrale Bereiche der Prophylaxe; die Themen hygienische Lebensweise, Körperertüchtigung, Erholung und ausreichender 4 5
6 7 8 9
Vgl. Roeßiger (2001), S. 28. Der in Leipzig geborene Fritz Lickint (1898–1960) schloss 1923 sein Medizinstudium mit der Promotion ab und verbrachte seine Assistenzjahre in Dresden und Zwickau. Während dieser Zeit wurde er Mitglied der SPD und des „Vereins sozialistischer Ärzte“ und war zudem im „Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes“ sowie im „Bund Deutscher Tabakgegner“ aktiv. Von 1929 bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1934 war er Oberarzt der Inneren Abteilung eines Städtischen Krankenhauses in Chemnitz. Anschließend eröffnete er als Arzt im Ruhestand eine Praxis in Dresden. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er zunächst wieder in eigener Praxis, bevor er 1953 Leiter der 1. Medizinischen Klinik des Krankenhauses Dresden-Friedrichstadt wurde. Ab 1948 hielt er am Hygiene-Institut der Technischen Hochschule Dresden Vorlesungen, seit 1951 als Prof. mit Lehrauftrag. Er verstarb 1960 in Heidelberg; vgl. Haustein (2004). Vgl. Haustein (2004), S. 250. In Kapitel 3.1.2 zur Raucherproblematik in der DDR werden Lickints wissenschaftliche Untersuchungen der 1920er und 1930er Jahre sowie seine Rolle in der DDR-Gesundheitserziehung näher betrachtet. Vgl. Roeßiger (2001), S. 28. Die Kolposkopie ist eine gynäkologische Untersuchung zur Früherkennung des Gebärmutterhalskrebses, bei der ein spezielles Mikroskop (Kolposkop) zum Einsatz kommt und Gewebedefekte und Geschwülste sichtbar macht. Vgl. Roeßiger (2001), S. 29. Vgl. Niehoff (1998), S. 184.
2.1 Themen und Maßnahmen der Gesunderhaltung im Wandel der Zeit
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Schlaf bestimmten hingegen noch lange Zeit die Präventionsagenda. In den 1960er Jahren rückten dann Fragen der Ernährung und zum Nikotinmissbrauch stärker in das gesundheitspolitische Blickfeld.10 Während im „Programm für die Entwicklung des Gesundheitswesens und der medizinischen Wissenschaft“, das auf dem V. Parteitag der SED 1958 beschlossen wurde, noch die Ursachenforschung und -bekämpfung von Infektionskrankheiten, die Unfallverhütung und Vorsorgeuntersuchungen als wichtigste Aufgaben festgeschrieben wurden11, verlagerte sich der Schwerpunkt in den folgenden beiden Jahrzehnten auf gesundheitsschädigende Faktoren und Verhaltensweisen und die daraus resultierenden Folgeerkrankungen wie zum Beispiel HerzKreislauf-Erkrankungen und Diabetes.12 Auch hier lässt sich wieder der Wandel vom Konzept der Verhältnisprävention zur Verhaltensprävention nachvollziehen, der bereits mehrfach angeklungen ist. Das Ausblenden der sozialen Rahmenbedingungen hatte jedoch auch zur Folge, dass bestimmte Themenbereiche nahezu vollständig tabuisiert wurden wie etwa Suizide, Alkoholund Medikamentenmissbrauch, soziale Probleme von Behinderten, Kindesmisshandlungen und gesundheitliche Probleme, die sich auf vernachlässigten Umweltschutz zurückführen ließen.13 2.1.2 Maßnahmen und Anbieter Zur Prophylaxe zählten laut Lehrbuch-Definition: „Alle theoretischen Erkenntnisse und praktischen Maßnahmen, die der Erhaltung und Förderung der Gesundheit des Menschen sowie der Krankheitsverhütung dienlich sind, […]“.14 Aus dem sozialhygienischen Repertoire wurden als wichtigste Praktiken die Statistik, Reihenuntersuchungen, die Dispensairemethode sowie die Gesundheitserziehung15 übernommen und fortgeführt. Prävention im Sinne der Sozialhygiene war weitgehend betreuungsorientiert und wurde als aktive Leistung an die Betroffenen herangetragen.16 Der Großteil dieser Leistungen wurde von der ambulanten medizinischen Grundbetreuung erbracht: in Polikliniken und Ambulatorien überwiegend von Gynäkologen, Kinderärzten, Jugendärzten und Arbeitsmedizinern, im ländlichen Raum auch von Allgemeinmedizinern und Gemeindeschwestern.17 Die Poliklinik war das Kern- und Grundelement der ambulanten me10 11 12
13 14 15 16 17
Vgl. Roeßiger (2001), S. 29. Vgl. Lesematerial (1978), S. 33 f. Darüber hinaus spielten die Adipositas (in der DDR als „Fettsucht“ bezeichnet), rheumatische Erkrankungen und weiterhin die Krebserkrankungen eine wichtige Rolle in dieser Zeit. Zudem wurde den psychischen Erkrankungen – allerdings erst in den 1980er Jahren – mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. Niehoff (1990), S. 273 und Meyer (1997), S. 375. Karsdorf/Renker (1981), S. 9. Vgl. Neubert (1956), S. 28. Vgl. Niehoff/Schrader (1991), S. 56. Vgl. Friedemann (1990), S. 247.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
dizinischen Betreuung oder, wie es 1950 auf dem III. Parteitag der SED hieß, der „Grundpfeiler einer fortschrittlichen Entwicklung des Gesundheitswesens im neuen Deutschland“18. Sie bot alle Voraussetzungen für eine Ganzheitsbehandlung, da sie mindestens über eine allgemeinärztliche Abteilung sowie Abteilungen für Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, Kinderheilkunde und Zahnheilkunde, eine Röntgeneinrichtung, ein klinisch-diagnostisches Laboratorium sowie eine physiotherapeutische Abteilung verfügte. Polikliniken existierten als selbständige Einrichtungen oder waren einem territorialen Krankenhaus angeschlossen. Bei den Ambulatorien19 handelte es sich um „kleine Polikliniken“, bestehend aus mindestens drei Fachabteilungen. Sie wurden vor allem in ländlichen Regionen (Landambulatorium) oder in Betrieben (Betriebsambulatorium) zur Grundversorgung der Bevölkerung gebildet.20 Die Vorteile dieses Strukturmodells – Möglichkeit der fachlichen Konsultation, gemeinsame Nutzung von diagnostischen und therapeutischen Großgeräten, optimale Organisation des Arbeitsablaufs, keine Doppelwege und Mehrfachuntersuchungen für Patienten21 – sorgten für eine hohe Akzeptanz bei der Bevölkerung.22 Das Netz der ambulanten Einrichtungen erweiterte sich im Laufe der Zeit erheblich. 1950 existierten 184 Polikliniken (davon 36 Betriebspolikliniken), 575 Ambulatorien (davon 109 Betriebsambulatorien) sowie 2.620 Gemeindeschwesternstationen. 1980 waren es dann 561 Polikliniken (davon 124 Betriebspolikliniken), 969 Ambulatorien (davon 324 Betriebsambulatorien) und 5.279 Gemeindeschwesternstationen.23 Das Betriebsgesundheitswesen dehnte sich in den 1950er Jahren sehr stark aus: In der Zeit von 1950 bis 1953 entstanden 989 Betriebsgesundheitseinrichtungen24; bis 1961 verdreifachte sich die Zahl der Betriebspolikliniken gegenüber 195025. Nach dieser Expansionsphase wuchs das Betriebsgesundheitswesen jedoch langsamer als andere Bereiche der ambulanten Versorgung. Dieser Umbau geschah auch zu Lasten der präventivmedizinischen Komponente26 – was sich im Verlauf der Arbeit noch zeigen wird. Darüber hinaus gehörten zum Netz der ambulanten Versorgung Arztpraxen als staatliche Einrichtungen des Gesundheitswesens, die in der Regel von einem Facharzt besetzt waren. Ihre fachliche Anleitung erhielten sie von den Polikliniken beziehungsweise Krankenhäusern des Territoriums.27 Auch pri18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
Zit. nach: Meyer (1997), S. 367. Ambulatorien wurden schon in der Weimarer Republik von den Krankenkassen eingerichtet; vgl. Vogel (1993), S. 46. Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 586. Vgl. ebenda. Vgl. Schagen (2002), S. 174. Vgl. Gesundheitsschutz (1981), S. 28. Vgl. Spaar: Dokumentation Teil 2 (1996), S. 50. Zu den einzelnen Institutionen siehe Kapitel 1.3.3. Vgl. Wienhold (2004), S. 239. Vgl. Süß (1998), S. 77. Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 586.
2.1 Themen und Maßnahmen der Gesunderhaltung im Wandel der Zeit
61
vat niedergelassene Ärzte praktizierten weiterhin, jedoch war ihre Tätigkeit durch verschiedene staatliche Restriktionen stark eingeschränkt. Die Zahl privater Arztpraxen nahm kontinuierlich ab, da Neuzulassungen nicht vorgesehen waren.28 Alle diese Einrichtungen verband die Aufgabe, den Bürgern medizinische Hilfe zuteilwerden zu lassen und den Gesundheitsschutz in ihrem jeweiligen Bereich zu sichern. Neben ärztlichen Sprechstunden, Diagnostik und Behandlung von Krankheiten stand die Durchführung prophylaktischer Maßnahmen im Vordergrund. Dabei handelte es sich um die Dispensairebetreuung, Reihenuntersuchungen, das Führen einer Krankenstatistik, die Einflussnahme auf hygienische Bedingungen im Territorium sowie Gesundheitserziehung und medizinische Aufklärung.29 Im „Beschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik“ des Ministerrats aus dem Jahr 1954, der den planmäßigen Aufbau des Gesundheitsschutzes auf eine „neue, höhere Stufe“ zum Ziel hatte, wurden viele dieser Methoden und Arbeitsweisen als verbindliche Bestandteile der prophylaktischen Medizin festgeschrieben.30 In Anwendung der DispensaireMethode31 sollte mit der „systematischen Untersuchung und Behandlung Kranker und Krankheitsgefährdeter nach bestimmten Krankheitsgruppen“32 in poliklinischen Einrichtungen und Beratungsstellen33 begonnen werden. Insbesondere das Betriebsgesundheitswesen sollte nach diesem Prinzip arbeiten. Der Sozialhygieniker Rudolf Neubert34 bezeichnete es als „große und 28 Vgl. Vogel (1993), S. 44. 29 Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 586 f. 30 Entwurf zum Beschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik, 2.7.1954, in: BArch, DQ 1/22647, unfol. Der Beschluss war Bestandteil des „Neuen Kurses“ des Politbüros von 1954. 31 Das Wort Dispensaire stammt aus dem Französischen (dispensaire = verteilen) und bezeichnete im Mittelalter die kostenlose Medikamentenausgabe an Arme, später in England und Frankreich eine unentgeltliche ärztliche Beratung. Die Sowjetunion übernahm den Begriff aus Frankreich, füllte ihn jedoch mit neuem Inhalt und zwar im Sinne einer aktiven, planmäßigen Kontrolle und Beeinflussung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 594 und Ewert (1991), S. 115. 32 Entwurf zum Beschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik, 2.7.1954, in: BArch, DQ 1/22647, unfol. 33 Die Beratungsstellen waren das eigentliche und historische Kernstück der DispensaireMethode [vgl. Neubert/Schrödel (1965), S. 99]. Ihnen oblag die Früherfassung, bei Befund die Überweisung und nach der Behandlung die Überwachung und Beratung der Patienten. In räumlicher, organisatorischer und materieller Hinsicht waren sie den Polikliniken zugeordnet. Beratungsstellen gab es von Beginn an für Schwangere und Mütter, Tuberkulöse, Geschlechtskranke und Geschwulst- bzw. Krebskranke, später dann auch für Diabetiker und Stoffwechselkranke sowie für Alkohol- und Suchtkranke. Ehe-, Familien- und Sexualberatungsstellen waren ebenfalls weit verbreitet, aber in anderer Funktion tätig. Vgl. Neubert (1956), Ringel/Schneider (1990) sowie Steppat (1990). 34 Der gebürtige Dresdner und promovierte Mediziner Rudolf Neubert (1898–1992) arbeitete in den Jahren 1924–1933 als Abteilungsleiter am DHMD und wurde nach Kriegsende dessen wissenschaftlicher Direktor. Nach seiner Entlassung 1947 (aufgrund seiner
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
dankbare Aufgabe“ der Betriebspolikliniken, „sich zu Dispensaires, zu Behandlungs-, Beratungs- und Fürsorgezentren für die gesamte Belegschaft zu entwickeln“.35 Die drei Hauptkennzeichen der Dispensaire-Methode waren Früherfassung, Frühbehandlung und Nachsorge36 und entsprachen somit der Leitidee des sozialistischen Gesundheitswesens – der Einheit von Prävention, medizinischer Betreuung und Rehabilitation37. Einerseits ging es um die Kontrolle und Behandlung von Patienten, die sich in bestimmten Zeiträumen bei den Dispensaire-Sprechstunden vorstellen sollten, beispielsweise Diabetiker, Rheuma- oder Herzkranke; andererseits um die gezielte medizinische Vorsorge bei gesunden, jedoch gesundheitlich besonders belasteten Personen wie Arbeitern, die Kontakt mit Silikose oder Blei hatten oder die im Schichtsystem beschäftigt waren. Die Blickrichtung der Medizin sollte sich durch die regelmäßige Untersuchung von Menschen, die noch nicht über Beschwerden klagten, verändern.38 Das Mittel der Wahl dazu waren die Reihenuntersuchungen. Seit der ersten Hälfte der 1950er Jahren wurden sie zur gesundheitlichen Beobachtung und Überwachung sowie zur Krankheitsfrüherkennung durchgeführt (vorrangig im Rahmen der Schwangerenbetreuung, der Mütterberatung, des Kinderund Jugendgesundheitsschutzes, der Musterungsuntersuchungen und der arbeitsmedizinischen Betreuung der Werktätigen).39 Ausgangspunkt waren die so genannten Volksröntgenreihenuntersuchungen oder Schirmbilduntersuchungen, die ursprünglich ausschließlich zur Früherkennung der Tuberkulose organisiert wurden. Der Rückgang der Krankheit ermöglichte es dann, das ursprünglich jährliche Untersuchungsintervall zu verändern und andere Erkrankungen in den Blick zu nehmen.40 Die Aufgaben der Tbc-Beratungsstellen wurden neu gefasst und das Netz von Einrichtungen und Mitarbeitern genutzt, um beispielsweise nach Lungenkrebs und Herzkrankheiten zu fahnden.41 Besondere Bedeutung kam darüber hinaus sowohl den zytologischen Untersuchungen auf Gebärmutterhalskrebs zu, bei denen jährlich, zumindest alle zwei Jahre, ein zytologischer Abstrich bei allen Frauen vorgenommen werden sollte, als auch den Einstellungs- und Tauglichkeitsuntersuchungen, die im Rahmen des Betriebsgesundheitswesens durchgeführt wurden (seit
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Mitgliedschaft in der NSDAP) war er zunächst als Anatomie-Dozent tätig, bevor er sich auf dem Gebiet der Sozialhygiene wissenschaftlich und publizistisch breit betätigte. Neubert war Vizepräsident und später Ehrenvorsitzender des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung sowie Mitglied des Präsidiums des DRK [http://bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424.html?ID=2486, zuletzt aufgerufen am 21.10.2014]. Weitere Informationen zur Rolle Neuberts in der DDR-Gesundheitserziehung in Kapitel 3.1.2.1. Neubert (1956), S. 31. Vgl. Neubert/Schrödel (1965), S. 100. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 405. Vgl. Neubert/Schrödel (1965), S. 102 f. Vgl. Ewert (1991), S. 114. Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 592. Vgl. Berndt (1991), S. 198.
2.1 Themen und Maßnahmen der Gesunderhaltung im Wandel der Zeit
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1955 für Jugendliche, Schwangere und Werktätige mit schweren beziehungsweise gesundheitsgefährdenden Arbeiten verpflichtend42).43 Zahlreiche weitere prophylaktische Maßnahmen bestimmten den Gesundheitsalltag der DDR-Bevölkerung wie zum Beispiel die Impfungen. Der oben genannte Beschluss von 1954 forderte auch die Einrichtung von Dauerimpfstellen und sah die Einführung eines einheitlichen Impfausweises für alle Schutzimpfungen im Kindes- und Jugendalter für das Jahr 1955 vor.44 Bereits in den Nachkriegsjahren wurden Pflichtimpfungen gegen Typhus und Paratyphus angeordnet, die dann im Laufe der Zeit auf Schutzimpfungen gegen Pocken, Tuberkulose, Kinderlähmung, Diphtherie, Keuchhusten und Tetanus sowie Masern ausgedehnt wurden. Zwei der gefährlichsten Kinderkrankheiten – übertragbare Kinderlähmung und Diphtherie – konnten mit Hilfe der Impfpflicht 1962 beziehungsweise 1973 aus dem Spektrum der Krankheiten verdrängt werden.45 Es gab auch Impfungen die auf freiwilliger Basis angeboten worden sind, beispielsweise die Grippeschutzimpfung. Besonders der Prophylaxeauftrag der Betriebsärzte umfasste neben der Dispensairebetreuung, den Reihenuntersuchungen und den Schutzimpfungen noch eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen, die in Kapitel 1.3.3 vorgestellt wurden. Weitere Ausführungen zu der umfassenden Aufgabenliste der Betriebsärzte, die unter anderem die hygienische Überwachung der Arbeitsplätze und der sozialen Einrichtungen, Belehrungen und Aufklärungsarbeit, die statistische Auswertung der Unfälle und des Krankenstandes und die Betreuung der Betriebssportgemeinschaften beinhaltete, sowie zu den Chancen, diese zu bewältigen, folgen in Kapitel 3.2. Aus der langen Reihe der gesunderhaltenden und krankheitsverhütenden Maßnahmen (zur Erinnerung: das Lehrbuch Prophylaxe fasste darunter alle theoretischen Erkenntnisse und Maßnahmen, die der Erhaltung und Förderung der Gesundheit des Menschen sowie der Krankheitsverhütung dienen), waren dies nur einige der wichtigsten Aktivitäten, die in der Arbeit auch weiterhin einen prominenten Platz einnehmen werden. Interessanterweise änderten sich die Präventionsstrategien im Laufe der Zeit auch nicht wesentlich, sondern blieben im Kern bis weit in die 1970er Jahre am gesundheitspolitischen Problembestand der ersten Jahrhunderthälfte, das heißt an Infektionskrankheiten und hoher Säuglingssterblichkeit, orientiert.46 Ob diese nicht vorhandene Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an neue Entwicklungen auch auf die Methoden und Konzepte der Gesundheitserziehung zutraf, wird 42 Vgl. Spaar (1998), S. 113. 43 Vgl. Uhlmann et al. (1983), S. 592 f. 44 Entwurf zum Beschluss über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik, 2.7.1954, in: BArch, DQ 1/22647, unfol. 45 Vgl. Süß (1998), S. 68. Derlei Resultate konnte die Bundesrepublik nicht vorweisen und schaute daher in diesem Punkt etwas neiderfüllt auf den östlichen Nachbarn; vgl. ebenda, S. 69. 46 Vgl. Süß (1998), S. 71.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
das nächste Teilkapitel und die anschließende Analyse der Gesundheitsmaterialien zeigen. 2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda Nachdem die relevanten Präventionsthemen und -maßnahmen vorgestellt wurden, geht es im Folgenden um die Frage, wie die Bürger und Bürgerinnen davon überzeugt werden sollten, die in Aussicht gestellten Vorsorgeuntersuchungen und Ratschläge zur gesunden Lebensweise auch wahr- beziehungsweise anzunehmen. Oder mit Neubert etwas pathetischer formuliert: „Wo ist der Schlüssel zum Herzen dieser Menschen? […] Wie lehren sie [die Mitarbeiter der hygienischen Volksaufklärung, J. L.] die Menschen erkennen, daß die gesunde Lebensführung ihnen nicht nur in der Jugend, sondern auch im Alter größere Lebensfreude schenkt als ein leichtfertiges, sogenanntes ‚Genußleben‘?“47 2.2.1 Von Aufklärern und Erziehern – Gesundheitserzieherische Konzeptionen Elfriede Paul, Leiterin des Lehrstuhls für Sozialhygiene an der Medizinischen Akademie Magdeburg, postulierte auf einem Symposium über philosophische Fragen der Medizin 1960: „Zu einer allseitig gebildeten Nation gehört auch eine hohe hygienische Bildung.“48 Auch Neubert war der Ansicht, dass zur allgemeinen Bildung des „modernen Menschen“ gehört, „daß er weiß, was Röntgenstrahlen sind“. Jeder Mann und jede Frau sollte wissen, „wie der menschliche Körper lebt, was zu seiner Gesundheit nötig ist, in groben Zügen auch, wie man Krankheiten verhüten kann“. Wissen über Krankheiten müsse deshalb nur oberflächlich verbreitet werden, da „die Gesundheit, das gesunde Leben“, und nicht die Krankheit Inhalt der Aufklärungs- und Erziehungsarbeit sein soll.49 Als Träger dieser Arbeit wurden vornehmlich Ärzte und Erzieher (Lehrer und Personen in Leitungsverantwortung) auserkoren.50 Besonders die Rolle des Arztes wurde in Bezug auf die Gesundheitsaufklärung neu definiert. Walter Friedeberger, Direktor des Deutschen Hygiene-Museums und späterer Stellvertreter des Ministers für Gesundheitswesen, war der Ansicht, die Ärzte in der DDR können – da sie sich in der Mehrzahl in einem wirtschaftlich gesicherten, festen Anstellungsverhältnis befinden – „ihr ganzes Wissen und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Patienten zuwenden“.51 Paul meinte, dass diese
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Neubert (1956), S. 33. Paul (1961), S. 60. Neubert (1956), S. 32. Vgl. Neubert/Schrödel (1965), S. 105. Friedeberger (1955), S. 276.
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
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neuen Aufgaben und Aspekte dem ärztlichen Berufsethos einen tieferen Sinn in der sozialistischen Welt geben: Will der Arzt im umfassenden Sinne Humanist sein, so wird er die Menschen seiner Umwelt so weit in ihrem Wissen auf seinem Fachgebiet fördern, daß sie ihm als aktive schöpferische und das allgemeine hygienisch-gesundheitliche Niveau hebende Persönlichkeiten zur Seite stehen können.52
Zu Beginn der 1960er Jahre verschob sich der Fokus allerdings stärker von der reinen Wissensvermittlung und Aufklärung hin zu einer ausdrücklichen Überzeugungsarbeit und Bewusstseinsschärfung. Ausgangspunkt war auch hier die Weimarer Gesundheitskonferenz von 1960, die den Anstoß gab zu einer systematischen und koordinierten Gesundheitserziehung. In einem Artikel der Zeitschrift Deine Gesundheit zur Gesundheitskonferenz steht zu lesen, es sei die Aufgabe des Arztes, als „Hüter und Wahrer der Gesundheit“ die Familienund Betriebsangehörigen seines Bereichs zu gesunder Lebensführung zu erziehen, denn: „Arzt sein heißt in der sozialistischen Gesellschaft gleichzeitig Erzieher sein“.53 Zuvor war meist von „hygienischer Volksaufklärung“ oder „medizinischer Aufklärung“ die Rede. Nachdem aber die Bemühungen für den Gesundheitsschutz in den 1950er Jahren nicht die gewünschten Resultate erbracht hatten, wandelte sich die allgemeine Gesundheitsaufklärung zur gezielten und planmäßigen Gesundheitserziehung. Im Zuge dessen setzte sich auch das Begriffspaar „Gesundheitspropaganda und Gesundheitserziehung“ als feststehende Wendung durch. Der Begriff Propaganda hatte in der DDR eine positive Konnotation und knüpfte bewusst an die Verwendung an, wie sie sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der deutschen Arbeiterbewegung durchgesetzt hatte, nämlich im Sinne einer massenwirksamen politischen Öffentlichkeitsarbeit.54 Ziel der Propagandaarbeit war die Angleichung der Ansichten und Überzeugungen, Normen und Wertvorstellungen sowie der Weltbilder jedes einzelnen DDR-Bürgers an das Ideengebäude des Marxismus-Leninismus – auch in Bezug auf die Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit.55 Nicht allein die Kenntnisse über eine gesunde Lebensweise waren demnach entscheidend, sondern die Einsicht und Überzeugung der Menschen, diese auch umzusetzen. Werner Ludwig56, Präsident des Deutschen Roten Kreuzes in der DDR, schilderte 1962 in einem Vortrag die zu jener Zeit vor52 53 54 55 56
Paul (1961), S. 60. Arzt (1960), S. 10. Vgl. Gibas (2000), S. 8. Vgl. ebenda, S. 16. Werner Ludwig (1914–2001), promovierter Arzt aus Mühlheim/Ruhr, schloss sich in sowjetischer Gefangenschaft dem NKFD an und kehrte 1948 nach Deutschland (in die SBZ) zurück. Hier war er zunächst als Kreisarzt und ab 1950 – inzwischen SED-Mitglied – im MfGe als Abteilungsleiter tätig. Von Beginn an wirkte er im Organisationskomitee zur Gründung des DRK mit, dem er von 1957 bis 1981 als Präsident vorstand. Zugleich war er in den Jahren 1971 bis 1976 Präsident des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung sowie Prof. mit Lehrstuhl für Sozialhygiene an der Medizinischen Akademie Dresden und Lehrstuhlinhaber für Gesundheitserziehung an der Akademie für ärztliche Fortbildung in
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
herrschende Diskrepanz zwischen Vermittlung und Anwendung von Gesundheitswissen wie folgt: Das Wissen unserer Bevölkerung um die Gesundheitsprobleme ist durch die intensive Aufklärungstätigkeit des DRK, des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, des FDGB, der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und weiterer Institutionen laufend gestiegen, aber es hat noch nicht genügend sichtbar im Verhalten der Menschen seinen Niederschlag gefunden.57
In späteren Lehrbüchern wurde den gesundheitserzieherisch Tätigen auch eindeutig klar gemacht, dass „Gesundheitserziehung nicht mit ‚medizinischer Aufklärung‘ gleichzusetzen ist“: Gesundheitserziehung ist auf das bewußte Handeln [Hervorhebung im Original, J. L.] der Menschen zum Zwecke der Erhaltung ihrer Gesundheit und Steigerung ihrer psychophysischen Leistungsfähigkeit gerichtet; sie darf nicht ausschließlich Wissensvermittlung sein, denn eine Korrektur, Vermehrung und/oder Vertiefung des Gesundheitswissens bietet noch keine Gewähr dafür, daß sich auch das Gesundheitsverhalten adäquat ändert.58
Um dieser neuen Zielsetzung gerecht zu werden, wurden in den 1960er und 1970er Jahren enorme Anstrengungen in organisatorischer und methodischer Hinsicht unternommen. Die Konstituierung des Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung 1961 war der erste und entscheidende Schritt zu einer neuen Qualität der gesundheitserzieherischen Arbeit.59 Diese sollte auf eine wissenschaftliche Basis gestellt, von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen getragen werden und damit „omnipräsent“ sein.60 Dem Komitee gehörten daher, wie bereits im vorigen Kapitel erwähnt, Vertreter zahlreicher staatlicher, wirtschaftlicher und kultureller Organisationen sowie aus Einrichtungen des Gesundheitswesens, der Erholung und des Sports an.61 Der veränderten gesundheitspolitischen Konzeption Rechnung tragend, erhielt auch das Deutsche Hygiene-Museum 1967 ein neues Statut.62 Es fungierte nicht länger als „Zentralinstitut für medizinische Aufklärung“63, sondern sollte die wissenschaftliche Arbeit für die Gesundheitserziehung in der DDR verstärken (unter anderem durch die Erarbeitung von Aktionsplänen für bestimmte gesundheitserzieherische Schwerpunktaufgaben oder die inhaltliche
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Berlin [http://bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424. html?ID=2168, zuletzt aufgerufen am 22.10.2014]. Ludwig, Werner: Die Gesundheitserziehung in der DDR, o. J. [1962], in: BArch DQ 1/6018, unfol. Renker/Karsdorf (1983), S. 88. Vgl. Lämmel (2000), S. 207. Roeßiger (2001), S. 29. Vgl. Lämmel (2000), S. 207. In diesem Zusammenhang erhielt das Museum auch die neue Bezeichnung „Deutsches Hygiene-Museum in der DDR“, da nach dem Mauerbau der Traditionsname nur noch in Umschreibung fortbestehen durfte; vgl. Vogel (2003), S. 130. Dieses Statuts hatte das DHMD 1954 auf Beschluss des Ministerrates über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der Deutschen Demokratischen Republik erhalten; vgl. Vogel (2003), S. 115.
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
67
und methodische Anleitung und Qualifizierung von im Bereich Gesundheitserziehung tätigen Gremien und Mitarbeitern).64 Zur Unterstützung bei diesen Aufgaben wurden im Museum zwei Institute gebildet: das Institut für anatomisch-biologische Unterrichtsmittel und Anschauungsmaterialien und das Institut für Gesundheitserziehung.65 Letzteres koordinierte vor allem die Ausbildung und Anleitung der Gesundheitserzieher. Der Personenkreis hatte sich deutlich erweitert (beispielsweise wurden die mittleren medizinischen Fachkräfte stärker einbezogen) und auch die Anforderungen an die Qualifizierung waren gestiegen. Neue Anleitungsmaterialien66 mussten erarbeitet und gedruckt sowie Kurse und Lehrgänge zur Weiterbildung von Ärzten, Schwestern, Pflegern, Lehrern und anderen Erziehern organisiert werden. Seit 1970 führte das Institut für Gesundheitserziehung zudem in mehrjährigen Abständen Symposien durch, die dem wissenschaftlichen Gedanken- und Erfahrungsaustausch dienten.67 Das Gesamtkonzept der Gesundheitserziehung und -propaganda wurde seit den 1960er Jahren immer umfassender und integrierte alle gesellschaftlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Bereiche. Die Fragen der gesunden Lebensführung sollten permanent in die gesamtgesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsprozesse einbezogen werden.68 Ob diese Strategie geeignet war, das grundlegende Problem der Gesundheitserziehung – demzufolge es sehr viel leichter ist, medizinische Kenntnisse zu verbreiten, als die Menschen zur Anwendung und Beherzigung dieser Kenntnisse zu bewegen69 – zu überwinden, wird in den nächsten Kapiteln deutlich werden.
64 Vgl. Vogel (2003), S. 130. Allerdings zählte bereits seit dem V. Parteitag der SED 1958 zu den erweiterten Aufgaben des Museums die wissenschaftliche Erforschung einer Methodik für die Gesundheitsaufklärung, das Erbringen wissenschaftlicher Nachweise über die Wirksamkeit der durchgeführten Aufklärungsmaßnahmen sowie die Ausarbeitung methodischer Anleitungen und die Durchführung von Lehrgängen für alle in der medizinischen Aufklärung tätigen Organisationen und Personen; vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 29 ff. 65 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 35. 66 Von 1964 bis 1983 erschien die Schriftenreihe „Methodische Hinweise/Methodik der Gesundheitserziehung“, u. a. zu den Themen Gesundheitserziehung im Industriebetrieb, im Kindergarten, in Klubs und Kulturhäusern, in der Schwangerenberatung u. v. m.; die „Mitteilungen für Gesundheitserzieher“ bzw. „Mitteilungen zur Gesundheitspropaganda und Gesundheitserziehung“ sollten Informationen und Arbeitsmaterialien für leitende Mitarbeiter in der Gesundheitserziehung und für Publikationsorgane liefern und wurden von 1968 bis 1978 gedruckt; 1974 bis 1984 erschien zudem die Reihe „Informations- und Argumentationsmaterial zur Gesundheitserziehung“. 67 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 37. Auf Bezirksund Kreisebene bildeten sich als Ableger Bezirks- und Kreiskabinette für Gesundheitserziehung, die (zusammen mit den Bezirks- und Kreiskomitees für Gesundheitserziehung) den Bezirks- und Kreisärzten bei gesundheitserzieherischen Problemen beratend zur Seite standen; vgl. Appen (1990), S. 266. 68 Vgl. Lämmel (2000), S. 207. 69 Vgl. Ruban (1981), S. 81.
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2.2.2 „Sie sind gesund!“ – Methoden und Formen der Gesundheitserziehung Die DDR-Gesundheitserzieher wollten zur „Schaffung eines kollektiven Verantwortungsgefühls in gesundheitlicher Beziehung“ Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen gewinnen.70 Der Aspekt der Gewöhnung und des Vorlebens war hierbei von besonderer Bedeutung: Alle Personen in Leitungsverantwortung (unter anderem Lehrkörper, Betriebs- und Wirtschaftsfunktionäre) sollten durch „das gute Beispiel“ vorangehen und stets ein Verhalten an den Tag legen, dass mit den Grundsätzen des sozialistischen Gesundheitsschutzes in Einklang zu bringen war.71 Die Einflussnahme auf das Gesundheitsverhalten sollte auf dem Weg der ständigen Belehrung und Anleitung erfolgen – die Menschen sollten erkennen, dass die Sorge um die Gesundheit eine Aufgabe ist, die das ganze Leben hindurch betrieben werden muss.72 Anfangs setzte man dabei vorrangig auf das Mittel der Abschreckung. So wurde bei der Krebsaufklärung neben sachlicher Informationsvermittlung auch drastisch mit den Ängsten der Adressaten gearbeitet.73 Anhand des Vergleichs von zwei Plakaten zur kolposkopischen Vorsorgeuntersuchung lässt sich jedoch der Wandel in der Vorgehensweise der Gesundheitserziehung aufzeigen. Die erste Version (Abb. 1) stammt aus den 1950er Jahren (vermutlich 1954) und vermittelt eine eher düstere Atmosphäre. Der Plakat-hintergrund ist in schwarzen und grauen Tönen sehr dunkel gehalten. Mit großen roten und weißen Buchstaben werden eindringlich die Botschaften verkündet: 1. Der Gebärmuttermundkrebs kann bekämpft werden und 2. die Untersuchung kann die Frauen vor frühzeitigem Tod retten. Das Wort „Der Krebs“ dominiert das Plakat und springt sofort ins Auge. Auf dem Foto sieht man einen Arzt mit dem medizinischen Gerät (Kolposkop), daneben eine Frau, die den Arzt schüchtern und bewundernd anlächelt. Der Bezirksbeauftragte für die vorbeugenden Krebsuntersuchungen im Bezirk Dresden trat 1957 mit der Bitte an das Deutsche Hygiene-Museum heran, ein neues Plakat herauszugeben, da das derzeitige in seiner grafischen Gestaltung nicht den Ansprüchen an ein zeitgemäßes Aufklärungsplakat entspreche und daher unzweckmäßig sei.74 1961 stand ein neues Plakat zur Verfügung, das sowohl in gestalterischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Botschaft völlig neue Ansätze verfolgte (Abb. 2). Verwendet wurden nun sehr helle Pastelltöne und die Illustration ist gezeichnet. Der Fokus liegt auf einer modernen Frau im rosa Mantel, die dem Arzt offen und selbstbewusst gegenüber steht, während dieser sie freundlich und hilfsbereit ansieht. Darunter steht die positive Aufforderung und gar das 70 Friedeberger (1955), S. 280. 71 Ludwig, Werner: Die Gesundheitserziehung in der DDR, o. J. [1962], in: BArch DQ 1/6018, unfol. 72 Vgl. Ruban (1981), S. 80. 73 Vgl. Roeßiger (2001), S. 27. 74 Diese Bitte wurde in einem Brief des DHMD an das MfGe vom 11.12.1957 übermittelt, in: BArch, DQ 1/2648, unfol.
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
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Abb. 1: Gesundheitsplakat kolposkopische Untersuchung (1950er Jahre), BArch, DQ 1/2648.
Versprechen zu lesen: „Sie sind gesund! Holen Sie sich diese Gewissheit einmal im Jahr durch eine kolposkopische Vorsichtsuntersuchung“. Durch den Vergleich der beiden Plakate lässt sich auch die bereits angesprochene Schwerpunktverlagerung von der Krankheitsverhütung zur Gesundheitsförderung gut nachvollziehen. Während in der ersten Ausführung vom „Kampf“ gegen den Krebs die Rede ist und mit dem Tod gedroht wird, benennt das zweite Plakat nicht einmal mehr die Krankheit Krebs. Im Vordergrund stehen die Propagierung der Gesundheit sowie die Versicherung, dass dem Patienten bei einer Vorsichtsuntersuchung diese (zumeist) bestätigt wird. Zudem wird ein verändertes Arzt-Patient-Verhältnis auf den Plakaten deutlich. In der Version von 1961 wird in etwa das versinnbildlicht, was Elfriede Paul in ihrem Referat ein Jahr zuvor gefordert hatte, nämlich dass dem Arzt eine aktive schöpferische Persönlichkeit zur Seite steht und somit eine Wechselwirkung von Geben und Nehmen zwischen Arzt und Bevölkerung erzeugt wird.75 75 Vgl. Paul (1961), S. 60.
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Abb. 2: Gesundheitsplakat kolposkopische Untersuchung (1961), BArch, DQ 1/2648.
Auch Kurt Winter vertrat die Ansicht, dass dieses Verhältnis nicht durch die bedingungslose Unterwerfung des Patienten unter die ärztliche Autorität bestimmt war, sondern sich als Beziehung gleichberechtigter Bürger darstellte.76 Dem entgegen steht die Einschätzung Niehoffs, dass es in der DDR eben doch um Vermittlung von Autorität ging und nicht darum, Kompetenzen bei den Bürgern zu erzeugen; der medizinische Sachverstand wurde seiner Einschätzung nach nur von den ‚Experten‘ vertreten und eindimensional vermittelt77 (also eher wie im ersten Plakat dargestellt). In welchem Verständnis auch immer die Ärzte und die anderen Gesundheitserzieher auf die Bevölkerung einzuwirken versuchten, taten sie dies über verschiedene Formen und auf ganz unterschiedlichen Wegen. Angeleitet, unterstützt und mit Materialien versorgt wurden sie dabei in erster Linie vom 76 Vgl. Winter (1980), S. 23. 77 Vgl. Niehoff (1998), S. 198 f.
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
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Deutschen Hygiene-Museum. Das gesprochene und geschriebene Wort sowie Bilder und Anschauungsmaterialien waren die zentralen Hilfsmittel der Gesundheitserziehung. Die Entwicklung verlief von den Wanderausstellungen der Nachkriegszeit über Broschüren, Merkblätter und Zeitschriften der 1950er und 1960er Jahre hin zu Film- und Fernsehbeiträgen, die zur bevorzugten Form der 1970er und 1980er Jahre avancierten.78 Ausstellungen wurden seit 1946 vom Deutschen Hygiene-Museum produziert und organisiert und zogen als Wanderausstellungen durch die ganze Republik. 1954 wurden neun Ausstellungen zu fünf verschiedenen Themen79 in 227 größeren und kleineren Städten und acht Betrieben gezeigt. Seit 1949 existierte auch ein fester Pavillon am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin, der bis 1961 über das Thema „Der gesunde Mensch“ informierte. Zudem gab es ständige Ausstellungen im Dresdener Museum selbst, unter anderem zur Entwicklung des demokratischen Gesundheitswesens und zum Arbeitsschutz.80 Speziell für Betriebe, Bildungsinstitutionen und medizinische Einrichtungen konzipierte das Hygiene-Museum seit Mitte der 1950er Jahre so genannte Kleinausstellungen, in denen handgemalte Lehrtafeln und Wachsnachbildungen (Moulagen) von Krankheitssymptomen präsentiert wurden.81 In den Werkstätten des Museums wurden darüber hinaus seit 1948 wieder zerlegbare anatomische Modelle, anatomische Spezialpräparate sowie die berühmten Gläsernen Figuren (Gläserner Mann, Gläserne Frau, Gläsernes Pferd und Gläserne Kuh) hergestellt.82 Trotz dieser eindrucksvollen Palette an Anschauungsobjekten, hatten die Ausstellungen in den 1960er Jahren sinkende Besucherzahlen zu verzeichnen und als Auslaufmodell angesichts moderner Medien wie Film, Fernsehen und Rundfunk ausgedient.83 Vor allem der Verleih der Kleinausstellungen wurde immer weiter eingeschränkt.84 Das Hygiene-Museum konzentrierte sich fortan auf die ständigen Ausstellungen, die in den 1970er Jahren sogar wieder mehr Besucher verzeichnen konnten.85 Eine besonders beliebte Form der Gesundheitsaufklärung waren die seit 1952 allsonntäglich im Festsaal des Deutschen Hygiene-Museums veranstalteten Aufklärungsvorträge. Bekannte Ärzte der Republik informierten eine große Zuhörerzahl (1957 waren es durchschnittlich 780 Besucher pro Vor-
78 Zu den Strategien der Wissensvermittlung über den Körper und seine Gesunderhaltung siehe für das 20. Jahrhundert Nikolow (2015). Zahlreiche Beiträge des Bandes befassen sich mit dem DHMD und dessen Materialien und Konzeptionen zur Gesundheitsaufklärung. 79 Die Themen waren: Hygiene in Stadt und Land; Mutter und Kind; Gesundheit durch Körperkultur und Sport; Erkenne Dich selbst; Hygiene der Arbeit, Stahl und Chemie; vgl. Friedeberger (1955), S. 279. 80 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 32. 81 Vgl. Roeßiger (2001), S. 28. 82 Zu den Gläsernen Figuren siehe mit systemvergleichendem Fokus Sammer (2015). 83 Vgl. Roeßiger (2001), S. 29. 84 Vgl. Thaut (2011), S. 191. 85 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 40.
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trag86) über populärmedizinische Themen verschiedenster Art. Die Aufzeichnungen der Vorträge wurden in der Schriftenreihe Vortragsdienst veröffentlicht sowie Auszüge auch über Funk gesendet.87 Aufklärungsvorträge erfüllten auch in anderem Rahmen eine wichtige Funktion. So waren die Betriebsärzte und -schwestern angehalten, monatlich vor den Werktätigen zu Fragen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes zu sprechen und auch in der Lehrlingsausbildung standen regelmäßig Vorträge zum Gesundheitsverhalten auf dem Programm88. Zu speziellen Themen wurden meist Fachärzte von außerhalb eingeladen, beispielsweise um für die kolposkopischen Untersuchungen zu werben. Die Wirkung dieser Vorträge beschrieb der Direktor der Universitätsfrauenklinik der Charité, Prof. Dr. Kraatz, in einem Brief an das Ministerium für Gesundheitswesen folgendermaßen: Ich stimme Ihrer Auffassung vollkommen zu, daß man solche Reihenuntersuchungen nur nach vorhergehenden Aufklärungsvorträgen durchführen soll und ich bin auch immer entsprechend vorgegangen. Auf diese Weise wird jeder Zwang, jeder Befehl zu einer Untersuchung vermieden; die Frauen kommen von selbst aus Überzeugung und Einsicht.89
Bereits seit Ende der 1940er Jahre gehörten diverse Druckerzeugnisse wie Aufklärungsbroschüren, Merkblätter und Plakate zum Repertoire des Hygiene-Museums, die von 1951 an im Eigenverlag produziert wurden. 1956 wurden über zwei Millionen Merkblätter gedruckt – ein Jahr darauf dann bereits mehr als doppelt so viele.90 1952 erschien der erste Band der hauseigenen Schriftenreihe Durch Volksgesundheit zur Leistungssteigerung (seit 1958 als Kleine Gesundheitsbücherei fortgesetzt), die als „Grüne Reihe“ in der Bevölkerung bekannt wurde.91 Dabei handelte es sich um kleine, preiswerte, von Wissenschaftlern allgemein-verständlich verfasste Broschüren für die breite Masse der Bevölkerung. Museumsdirektor Friedeberger zufolge sollte sich die Schriftenreihe zu einer Art „kleiner Gesundheitsbibliothek“ entwickeln, die im Hause eines jeden Werktätigen ihren Platz findet.92 Bis 1969 erschienen 96 Bände zu einer großen Themenbreite gesundheitlicher Aspekte (im Jahr 1964 zum Beispiel in einer Auflage von 420.788).93 Die Broschüren gelangten über die staatlichen Institutionen wie Räte der Kreise, Großbetriebe, Polikliniken und Gemeindeschwesternstationen an die Bevölkerung (beispielsweise wurden sie auf Ausstellungen verteilt oder in Wartezimmern und Einrichtungen
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Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 32. Vgl. Friedeberger (1955), S. 282. Vgl. Appen (1990), S. 267. Prof. Dr. H. Kraatz in einem Brief an Dr. Rautenberg (Abteilung Volkskrankheiten im MfGe) vom 11.5.1960, in: BArch, DQ 1/2648, unfol. 90 Vgl. Thaut (2011), S. 192. 91 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 33. 92 Friedeberger (1955), S. 283. 93 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 36. Die Themen der Bände von 1964 waren u. a.: Blutunterdruck, Hygiene des Schulkindes daheim, Wasser als Heil- und Vorbeugungsmittel sowie Kosmetik der berufstätigen Frau.
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
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des Gesundheitswesens ausgelegt94). Große Popularität erlangte darüber hinaus eine weitere Druckform, nämlich die Gesundheitszeitschrift. In der vom Deutschen Hygiene-Museum herausgegebenen Zeitung Deine Gesundheit95 wurde seit 1955 zweimonatlich, dann monatlich das gesamte Spektrum der Gesundheitserziehung abgehandelt. Auch andere Organe gründeten Zeitschriften, um über Fragen und Probleme des Gesundheitsschutzes zu informieren.96 Wie bereits erwähnt begann das Dresdner Hygiene-Museum in den 1960er Jahren im Zuge der neuen wissenschaftlichen Zielsetzung zudem mit der Herausgabe gedruckter Anleitungsmaterialien für die Mitarbeiter der Gesundheitserziehung (Methodische Hinweise, Mitteilungen zur Gesundheitspropaganda und Gesundheitserziehung und andere). Die Entwicklung und Produktion dieser Lehrmittel wurde in den 1970er Jahren weiter ausgebaut, wobei sich das beschränkte Papierkontingent – wie übrigens bei allen Druckerzeugnissen – dabei stets als limitierender Faktor erwies.97 Zu dieser Zeit vertiefte das Hygiene-Museum auch die Zusammenarbeit mit den Massenmedien, um gezielt möglichst viele Bürger zu erreichen.98 Aufklärungs- und Informationsbeiträge von Ärzten oder Interviews mit dem Gesundheitsminister und anderen Mitarbeitern der Gesundheitsverwaltung zu aktuellen Problemen der Gesundheitserziehung wurden in verschiedenen Zeitschriften – unter anderem in den Frauenzeitschriften Sybille und Frau von heute, in der Wochenzeitschrift Neue Berliner Illustrierte, der Jungen Welt (Organ der FDJ) oder der Tribüne (Organ des FDGB) – und im Radio veröffentlicht. Auch in Betriebszeitschriften oder dem Betriebsfunk wurde durch die Mitarbeiter des Betriebsgesundheitswesens gesundheitserzieherisch auf die Arbeiter und Arbeiterinnen Einfluss genommen. In den 1970er Jahren verschob sich der Fokus dann deutlich auf audiovisuelles Anschauungsmaterial: Diapositivreihen und Diatonserien gewannen an Bedeutung, aber vorrangig wurden Beiträge in Film und Fernsehen zum bevorzugten Mittel der Wahl. Das Deutsche Hygiene-Museum etablierte sich neben anderen Institutionen wie den Bezirkskabinetten für Gesundheitserziehung und dem Fernsehen der DDR, als wichtigster Auftraggeber und Verbrei94 20. Sitzung der Ständigen Kommission Gesundheits- und Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock am 28.12.56, in: LAG Rep. 200, 9.1, Nr. 65, Bl. 83. 95 Ausführliche Informationen zur Zeitschrift, ihrem Themenspektrum und ihren Lesern in Kapitel 2.3.1. Das DHMD brachte von 1956 bis 1962 zudem die Zeitschrift Alles für Deine Gesundheit heraus, die dann in Deine Gesundheit aufgegangen ist. 96 Die DZVG brachte von 1946 bis 1948 die Zeitschrift Informationen über Gesundheitswesen, Gesundheitspolitik und Erziehung zur Volkshygiene heraus, die u. a. über die typischen Erkrankungen der Nachkriegszeit sowie Berufskrankheiten, Unfallschutz und Schutzimpfungen informierte. Probleme der Aufklärungs- und Erziehungsarbeit auf dem Gebiet des Gesundheits- und Arbeitsschutzes behandelte zudem die Zeitschrift des FDGB für Fragen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung Sozialversicherung, Arbeitsschutz, die von 1965 bis 1980 monatlich erschienen ist. 97 Vgl. Lämmel (2002), S. 112. 98 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jochen Neumann (1987), S. 36.
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ter von gesundheitserzieherischen Filmen.99 Die Werbereihen Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender strahlten von 1960 bis 1976 beziehungsweise von 1977 bis 1981 kurze Ratgeberfilme zur Gesundheit zwischen ihren Werbespots im Deutschen Fernsehfunk/Fernsehen der DDR aus, die daher auch wie Werbefilme aufgemacht waren.100 Die Filmreihen Wegweiser Gesundheit (1974–1984) und Du und Deine Gesundheit (1977–1983)101 repräsentierten den gesundheitserzieherischen Film der 1970er Jahre, der sowohl medizinisch-wissenschaftliche Informationen präsentierte als auch konkrete Hinweise und Appelle zum persönlichen Verhalten an den Zuschauer richtete. Auch diese Filme wurden im Fernsehen der DDR ausgestrahlt.102 Besondere Popularität erreichte auch die Fernsehratgebersendung Visite, bei der oftmals über 2 Millionen Zuschauer einschalteten.103 Darüber hinaus hatte über die gesamte Zeitspanne der persönliche Kontakt zwischen dem medizinischen Personal und den Bürgerinnen und Bürgern in der ärztlichen Sprechstunde oder der Beratungsstelle sowie später auch in Kursen und Podiumsgesprächen, die in Zusammenarbeit mit den Volkshochschulen oder bei Filmveranstaltungen stattfanden, besondere Bedeutung für die Gesundheitserziehung.104 Viele der Mitarbeiter, die hier aktiv waren, taten dies ehren- oder nebenamtlich. Auch die Ärzte haben für ihr Engagement in der öffentlichen Gesundheitsberatung sowie für ihre Vortragstätigkeit und ihre schriftlichen Beiträge meist kein oder nur ein minimales Honorar erhalten.105 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Geschlecht der Adressaten bei der Gesundheitserziehung relevant war: ob beispielsweise ein Geschlecht häufiger ins Visier der Gesundheitserziehung geraten ist, ob jeweils spezifische Formen der Ansprache für Männer oder Frauen gewählt wurden oder ob das Geschlechterthema in den gesundheitserzieherischen Überlegungen und Anweisungen eventuell überhaupt keine Rolle gespielt hat. 2.2.3 „Kosmetikbuch für alle“? – Geschlechtersensibilität in der Gesundheitspropaganda Aus den bisherigen Punkten ist deutlich geworden, dass im Bereich der DDRGesundheitserziehung ein enorm hoher organisatorischer Aufwand betrieben worden ist. Zahlreiche Institutionen und Personengruppen sollten die Bürge99 Vgl. Thaut (2011), S. 192. 100 Vgl. ebenda. 101 Bei der Filmreihe Du und Deine Gesundheit handelte es sich um eine deutsch-bulgarische Koproduktion. Die meisten Filme der Reihe wurden von der DEFA produziert; Näheres dazu bei Osten (2011). 102 Siehe Zusatzinformationen zu den Filmen in der Objekt-Datenbank des Deutschen Hygiene-Museums Dresden unter: http://www.dhmd.de/emuseum/eMuseumPlus. 103 Vgl. Lämmel (2002), S. 113. 104 Vgl. Appen (1990), S. 266. 105 Vgl. Berndt (1991), S. 194.
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rinnen und Bürger von der Notwendigkeit einer gesunden Lebensführung überzeugen und konnten dabei auf ein breites Angebot an Lehr- und Arbeitsmaterialien zurückgreifen. Die Präventionsmaßnahmen wiederum wurden aktiv an die Menschen herangetragen und waren zum Großteil in ihren (Arbeits-)Alltag integriert. Zu diesen theoretischen Vorüberlegungen, aus denen sich noch nicht unmittelbar auf die Inanspruchnahme der Maßnahmen durch die Bevölkerung schließen lässt, gehört jedoch noch ein weiterer Aspekt. Eine hohe Akzeptanz von Präventionsangeboten wird – wie bereits angedeutet – vor allem über eine zielgruppengerechte Ausrichtung erreicht. Die Geschlechtersensibilität ist dabei neben weiteren Faktoren wie Alter, sozioökonomischem Status und kulturellen Aspekten, ein wichtiger Punkt: Geschlechterrollen müssen bedient, d. h. die spezifischen Motivationen und Lebenslagen von Frauen und Männern berücksichtigt werden, um Barrieren bei der Inanspruchnahme von Präventionsmaßnahmen zu beseitigen.106 So müssten zum Beispiel Programme zum Nikotinausstieg die bei Frauen weit verbreitete Angst vor einer Gewichtszunahme auffangen, Initiativen zum Gebrauch von Sonnenschutzmitteln die geringe Akzeptanz gleichgeschlechtlichen Körperkontakts bei Männern beachten107 und Ankündigungstexte für Sportkurse auf vornehmlich weibliche Attribute verzichten (bequeme Kleidung, dicke Socken) und eine eher nüchterne, emotionslose Ansprache verwenden, um auch männliche Teilnehmer anzulocken.108 Eine zielgruppenorientierte, gendersensible Prävention steht im 21. Jahrhundert noch am Anfang.109 Insbesondere Präventionskonzepte, die sich an männliche Zielgruppen richten, existieren bislang kaum110, was Altgeld angesichts des risikoreicheren Gesundheitsverhaltens und der höheren Sterblichkeit der Männer als „Gesundheitsförderungsparadox“111 bezeichnet. Allerdings ist das heutige (bundesdeutsche) Gesundheitssystem insgesamt nicht gerade für seine offensive Ausrichtung auf Prävention und Gesundheitsförderung bekannt – im Gegensatz zum DDR-Gesundheitswesen. Hatte die DDR vielleicht in Sachen Zielgruppenspezifität und Gendersensibilisierung schon neue Wege beschritten? Inwieweit berücksichtigte die Gesundheitspropaganda der DDR geschlechtsspezifisch differierende Rahmenbedingungen und Motivlagen für gesundheitliches Handeln? Der Einstieg in das Thema erfolgt über einen kurzen Blick auf die geschlechterspezifische Gesundheitsaufklärung seit dem 18. Jahrhundert. 106 Siehe dazu ausführlicher Walter/Lux (2006). 107 Vgl. ebenda, S. 43 f. 108 Eigene Mitschrift des Vortrags von Thomas Altgeld „Der perfekte Mann. Gesundheitshandeln von Jungen und Männern zwischen Sixpacks und Bierbäuchen“, gehalten am 27.10.2010 in Greifswald im Rahmen der Ringvorlesung „Superwoman? Superman? – Visionen vom optimierten Leben“. 109 Vgl. Walter/Lux (2006), S. 38. 110 Vgl. Altgeld (2007) und (2009). Auch der Männergesundheitsbericht 2013 zum Thema psychische Gesundheit benennt deutliche Lücken im Versorgungsangebot für Männer. Stiehler präsentiert einige wenige gesundheitsfördernde Projekte, die die seelische Gesundheit von Jungen und Männer in den Blick nehmen; vgl. Stiehler (2013). 111 Altgeld (2007), S. 91.
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2.2.3.1 Historische Aspekte der geschlechterspezifischen Gesundheitserziehung Gesundheitsliteratur zielte bislang immer vorrangig auf Frauen.112 Im Zuge der Volksaufklärung des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurden sie als Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende adressiert. Die Kompetenz für die Erziehung der Kinder und die Gesundheitspflege in der Familie wurde quasi zum ‚Beruf‘ der Frauen erhoben. Sie wurden in ärztlichen Ratgebern teilweise streng auf ihre Verantwortung für die eigene Gesundheit und für die des Säuglings hingewiesen.113 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweiterte sich das Aufgabenfeld der Frauen: Im Zuge der Hygienisierungskampagne übernahmen sie als „Hüterin von Heim und Herd“114 die Vermittlerrolle bei der Erziehung zu Reinlichkeit und Gesundheit. Anleitung zur ‚Hygienisierung‘ des Haushalts, das heißt des Wohnens, Schlafens, Kleidens, Pflegens, Kochens et cetera, erhielten heranwachsende Mädchen, Mütter und Hausfrauen in eigens für sie und zu diesem Zweck verfasster Erziehungsliteratur (erarbeitet und beeinflusst durch Hygieniker, Mediziner, Gesundheitspolitiker, Lehrer, Philanthropen und Geistliche).115 Männer waren demgegenüber sehr viel weniger und nur bei bestimmten Themen Adressaten der Gesundheitspropaganda: Lediglich beim Arbeitsschutz (Unfallverhütung) und etwa ab 1900 bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten rückten sie in den Blickpunkt.116 Diese kurzen Ausführungen verdeutlichen, dass sich Gesundheitserziehung bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht ausschließlich an den medizinischen Bedürfnissen der Menschen orientierte, sondern häufig soziale und moralische Wertvorstellungen (des Bürgertums117) vermittelte. Frauen wurden in erster Linie in ihrer Funktion als Gebärende adressiert – die Gesundheit der Frauen selbst blieb dabei weitgehend außen vor118. Männer wurden nur in Arbeitszusammenhängen und beim Sexualverhalten mit Gesundheitspraktiken in Zusammenhang gebracht. Hintergrund dafür war die seit dem 18. Jahrhundert übliche Überbetonung der biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern und deren Umdeutung in soziale Verschiedenartigkeiten.119 Die An112 113 114 115
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Vgl. Dinges (2009), S. 22. Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 310 f. Heller/Imhof (1983), S. 153. Vgl. ebenda, S. 152 ff. Auch Manuel Frey, der sich mit der Etablierung der Tugendnorm der Reinlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert befasst hat, sieht die Frauen als Hauptadressaten der Reinlichkeitserziehung. Er erwähnt jedoch, dass auch die männliche Jugend in Manierenbüchern und Erziehungsanstalten auf den Nutzen der Reinlichkeit als Mittel zur Stärkung der Leistungsfähigkeit und somit als unabdingbare Voraussetzung für das Bestehen im Berufsleben hingewiesen wurde; vgl. Frey (1997), insbesondere S. 172–183. Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 312. Zur bürgerlichen Prägung des Hygiene- und Gesundheitsdiskurses siehe u. a. Frey (1997) und Frevert (1985). Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 312. Vgl. Dölling (1991), S. 245.
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thropologie diente hierbei als Argumentationsquelle und stellte die Geschlechterdifferenz als „natürliche, anatomisch an der Ungleichheit der Körper ablesbare und damit vermeintlich wissenschaftlich fundierte Tatsache“ heraus.120 Aufgrund dieser ‚natürlichen Geschlechtscharaktere‘ waren für Männer und Frauen fortan unterschiedliche Handlungs- und Wirkungssphären vorgesehen: für die „emotionsgeleitete[n], passiv[en] und sanft[en]“ Frauen der private Raum der Familie und für die „vernunftorientiert[en], aktiv[en] und vorwärts drängend[en]“ Männer der öffentliche Raum, dem das berufliche, politische und kulturelle Feld zugeordnet war.121 Die ‚weibliche Sonderanthropologie‘ wurde langfristig verankert und ins Feld geführt, um Frauen an Haus und Herd zu binden und sie an ihre Fürsorgepflichten für die Familie zu erinnern. Das alles spiegelte sich in den Gesundheitsratgebern wider und führte letztendlich dazu, dass Frauen an die Inanspruchnahme des Arztes gewöhnt wurden und ihr Körper einer stärkeren Medikalisierung122 unterlag, während Männern durch diesen herrschenden Diskurs, der sie auf Härte und Risiko festlegte, der Gang zum Arzt erschwert wurde.123 Diese Entwicklung setzte sich trotz eines – bedingt durch neue Rahmenbedingungen und Herausforderungen infolge der Industrialisierung und zweier Weltkriege – gewandelten Geschlechterverhältnisses124 selbst nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland fort125 und auch heute richten sich noch deutlich mehr Kampagnen zur gesundheitlichen Aufklärung an die weibliche als an die männliche Bevölkerung126. Dabei wurde der Bedarf nach geschlechterspezifischer Gesundheitsaufklärung durchaus schon in den 1980er Jahren erkannt, nachdem die deutliche Unterrepräsentation männlicher Teilnehmer bei Früherkennungsmaßnahmen und Präventionskursen wahrgenommen und hinterfragt wurde.127 Interessanterweise erkannte die Werbeindustrie die Notwendigkeit beziehungsweise in diesem Fall den verkaufsstrategischen Vorteil einer genderorientierten Perspektive, die die kulturellen Prägungen und Handlungsweisen von Frauen und Männern einbezieht, deutlich früher als die Gesundheitserzieher. Der Tabakkonzern Lucky Strike bewarb bereits 1928 in Modezeit120 Budde (2008), S. 68. 121 Ebenda, S. 66. 122 Der Begriff Medikalisierung umschreibt den seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Prozess, im Zuge dessen sich die medizinischen Deutungen von Krankheit und Körperlichkeit gegen alternative Interpretationen durchsetzten und die akademische Heilkunde zur beherrschenden Schulmedizin aufstieg. Für eine breitere Definition sowie Ausführungen zu Forschungsthemen und Kritikpunkten siehe Eckart/Jütte (2007), S. 16 f. und S. 312–318. Speziell zur Medikalisierung des Frauenkörpers siehe u. a. Kolip (2000). 123 Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 309. 124 Auf eine genauere Darstellung der Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter zueinander seit dem 19. Jahrhundert wird an dieser Stelle verzichtet; siehe dazu u. a. Frevert (1995) und Budde (2008). 125 Vgl. Dinges (2009), S. 22. 126 Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 312, FN 100. 127 Vgl. Moses (2010), S. 44 ff.
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schriften für Frauen seine Produkte als Süßigkeitsersatz („Reach for a LUCKY instead of a sweet“) und suggerierte damit eine Alternative zu einer möglichen Gewichtszunahme.128 1955 startete die erfolgreiche Werbestrategie des „Marlboro Man“, der seit den 1960er Jahren als rauchender Cowboy das damalige Männlichkeitsideal verkörperte. Philip Morris nutzte 1968 die Assoziation der Zigarette als „vermeintliche[s] Symbol des Emanzipationsprozesses“ in seiner Werbekampagne für die Sorte Virginia Slims: Der Slogan „You’ve come a long way“ brachte die lange Wegstrecke der Frauenemanzipation zum Ausdruck.129 Die Tabakindustrie richtete einige ihrer Kampagnen also sprachlich und inhaltlich gezielt an Frauen oder Männer und berücksichtigte dabei deren (vermeintliche) Bedürfnisse oder versuchte vielmehr, die Bedürfnisse von Männern und Frauen mit dem Verkauf von Tabakwaren in Einklang zu bringen. Geschlechterdifferenzierte Ansätze in der Raucherprävention werden hingegen erst seit wenigen Jahren beschritten (zum Beispiel in den Aufklärungsbroschüren der BZgA Stop Smoking – Girls und Stop Smoking – Boys).130 Hatte sich die DDR-Gesundheitserziehung im Zuge ihrer stärkeren methodischen Orientierung und gesamtgesellschaftlichen Ausrichtung eventuell schon mit diesen Fragen befasst? 2.2.3.2 Staatliche Auffassungen von Weiblichkeit und Männlichkeit und deren Reproduktion in der Gesundheitspropaganda der DDR Im folgenden Abschnitt werden zunächst Vorstellungen von Weiblichkeit(en) und Männlichkeit(en) sowie geschlechterspezifische Sozialisationsmuster in der DDR-Gesellschaft betrachtet. Die Erwartungshaltungen an männliches und weibliches Rollenverhalten werden dann auf die Themen Gesunderhaltung und Umgang mit dem Körper übertragen und anhand einiger Beispiele aus Gesundheitsmaterialien der 1950er und 1960er Jahre überprüft. Folgende Fragen sind dabei relevant: Wurden die Frauen in der DDR auch weiterhin als ‚Hygienebeauftragte‘ und Fürsorgerinnen für die Familie angesprochen oder veränderte sich diese Zuständigkeit durch die neue Aufgabe der Frau als voll Berufstätige und aktives Mitglied der sozialistischen Gesellschaft? Welchen besonderen Anforderungen sollten Männer gerecht werden und welcher Stellenwert kam ihrem Körper und ihrer Gesundheit dabei zu? Es liegen eine Reihe Forschungsarbeiten vor, die sich mit Frauen- und Männerbildern in der DDR beschäftigen. Kulturwissenschaftlerinnen der DDR haben bereits in den 1980er Jahren im Zuge der Beschäftigung mit dem Alltagsleben die Frage nach stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit und
128 Vgl. Walter/Lux (2006), S. 40. 129 Vgl. ebenda, S. 41. 130 Vgl. ebenda, S. 42.
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Männlichkeit aufgeworfen.131 Darüber hinaus wurde das Frauen- und Männerbild in Schul- und Kinderbüchern sowie in der Werbung untersucht und auch soziologische Studien zur Geschlechterspezifik132 wurden angefertigt. Nach 1989 erschienen weitere Arbeiten der (ehemaligen) DDR-Forscherinnen133 sowie aufschlussreiche Untersuchungen der Historikerinnen Gunilla Budde134, Mary Fulbrook135 und anderer136 zum Geschlechterverhältnis und zur Rolle der Frau in der DDR. Äußerst selten sind bis dato explizite Studien zu Männern und Männlichkeit(en) in der DDR.137 In den bisher vorliegenden Forschungsarbeiten findet häufig das Konzept der „hegemonialen Männlichkeit“ der Soziologin Raewyn Connell Anwendung wie zum Beispiel bei Sylka Scholz138 und Holger Brandes139. Auch für die vorliegende Arbeit bietet das Konzept Anknüpfungsmöglichkeiten und wird deshalb kurz näher vorgestellt.140 Connell ist die relationale Betrachtungsweise von Männlichkeitskonzepten wichtig: Es existieren nicht nur verschiedene Formen von Männlichkeit nebeneinander, sondern diese stehen in Beziehung zueinander und beeinflussen sich wechselseitig. Dabei bildet sich in jeder Gesellschaft ein hegemoniales Männlichkeitsmuster aus, dem alle anderen Muster von Männlichkeit – sowie Weiblichkeit – untergeordnet sind. Dieses Muster wirkt als verbindliches Orientierungsmuster, zu dem sich Männer zustimmend oder abgrenzend in Verbindung setzen müssen. Männlichkeit konstituiert sich demnach durch eine doppelte Relation, nämlich einerseits in Abgrenzung zu Weiblichkeit und andererseits durch die Bezugnahme auf andere Männlichkeiten. Die Relation von Männlichkeit zu Weiblichkeit ist dabei durch Dominanz und Überordnung141, die Relation zu den anderen Männlichkeiten durch ein hierarchisch strukturiertes Über- und Unterordnungsverhältnis bestimmt. Connell unter-
131 Von 1984 bis 1988 wurde ein Forschungsprojekt am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema Frauen- und Männerbilder in DDR-Zeitschriften durchgeführt: Irene Dölling und Ina Merkel analysierten Bilder aus der NBI und aus Die Frau von heute/Für Dich; daraus entstand 1991 die Studie Der Mensch und sein Weib von Dölling. 132 Siehe u. a. Bertram et al. (1988) und Autorenkollektiv unter der Leitung von Barbara Bertram (1989). 133 Beispielsweise Nickel (1990), Dölling (1993) oder Merkel (1994). 134 Budde (1999) und (2000). 135 Fulbrook (2011): Kapitel „Geschlechterrollen“, S. 160–194. 136 Zu nennen sind hier beispielsweise Wierling (1999) und Rades (2009). 137 Der Bereich Männerforschung existiert insgesamt erst seit Mitte der 1970er Jahre, in Deutschland erst seit Mitte der 1980er Jahre; vgl. Scholz/Willms (2008), S. 232. 138 Scholz (2004) und (2008). 139 Brandes (2008). 140 Siehe dazu: Connell (1999). 141 Connell geht prinzipiell von der Annahme aus, dass die bestimmende Achse in der derzeitigen westlichen Geschlechterordnung von der Unterordnung der Frauen und der Dominanz der Männer gebildet wird; vgl. Connell (1999), S. 94.
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scheidet hier die „untergeordnete“ Männlichkeit von der „komplizenhaften“ und der „marginalisierten“ Männlichkeit.142 Insgesamt lassen sich folgende Ergebnisse der bisherigen DDR-Geschlechterforschung zusammentragen: Nach Meinung von Scholz lässt sich das Geschlechterverhältnis in der DDR als spezifisches „Spannungsverhältnis zwischen männlicher Hegemonie und weiblicher Emanzipation“143 beschreiben. Hintergrund dafür war die durch den Staat auf den Weg gebrachte Gleichstellung der Frauen durch deren Integration in die Erwerbsarbeit; dadurch geriet die männliche Hegemonie in Staat und Gesellschaft zwar „unter Spannung“, „erodiert[e] jedoch nicht“.144 Die symbolische Geschlechterordnung, d. h. die kulturelle und soziale Dominanz der – männlich konnotierten – Produktionssphäre über die – weiblich konnotierte – Reproduktionssphäre, blieb weiterhin in Kraft.145 Nur die Rollen der Frauen wurden einer Prüfung unterzogen, während sich die Meinungen darüber, was für einen Mann ‚normal‘ sei, über den gesamten Zeitraum der DDR-Geschichte nur minimal veränderten.146 Als Folie für die verschiedenen Frauenbilder fungierte das Leitbild der „berufstätigen Frau und Mutter“147: Egal ob „tüchtige Traktoristin oder Kranführerin“, „schöne sozialistische Frauenpersönlichkeit“ oder „gebildete Karrierefrau“ – die ‚neue‘ Frau war hingebungsvoll in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau und zeigte zugleich berufliches und gesellschaftliches Engagement.148 Stand zu Beginn der DDR noch die weibliche Erwerbstätigkeit im Vordergrund, traten im Laufe der Zeit die optische Erscheinung sowie der ‚traditionelle‘ Platz der Frau als Mutter hinzu.149 So entstand das spannungsgeladene Wunschbild der „Muttis, die ihren Mann stehen, aber trotzdem Frau bleiben“, das aus dem Nebeneinander der weiblichen und beruflichen Identität resultierte.150 Der Druck auf die Frauen ergab sich zudem durch die Haushaltsführung, die weiterhin zum weiblichen Aufgabenbereich gezählt wurde. Das sozialistische Familienleitbild der SED sah zwar die gleichberechtigte Partnerschaft und beiderseitige Verantwortung für die Reproduktionsarbeit vor151, jedoch blieben die Einstellungen zur Arbeitsteilung im Haushalt er142 Zur Kritik am Konzept der hegemonialen Männlichkeit siehe Dinges (2005) und Meuser (2006). 143 Scholz (2008), S. 14. 144 Scholz (2004), S. 81. 145 Vgl. ebenda, S. 261. 146 Vgl. Fulbrook (2011), S. 160 f. 147 Merkel (1994), S. 376. 148 Vgl. Rades (2009), S. 40. 149 Vgl. Merkel (1994), S. 367–373. Seit Ende der 1950er Jahre wurde stärker auf die Natürlichkeit und das ‚Wesen der Frau‘ abgehoben. Damit sollte u. a. dem westdeutschen Propagandabild von der ‚Vermännlichung‘ der ostdeutschen berufstätigen Frauen entgegengewirkt werden; siehe hierzu ausführlicher Budde (2000), S. 617 ff. 150 Budde (1999), S. 852. 151 Zumindest in den 1960er Jahren, denn in den 1970er Jahren wurde dieses Leitbild bereits wieder unterlaufen durch die Betonung der Mütterlichkeit und Zuweisung der Familienarbeit an die Frauen; vgl. Scholz (2004), S. 65.
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staunlich resistent gegenüber den neuen Veränderungen.152 Selbst in den 1980er Jahren übernahmen Frauen immer noch die Hauptverantwortung für den Haushalt und die Kinderbetreuung. Fulbrook zeigt mit einem Zitat aus einer Studie des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR von 1982, dass die Mehrbelastung der Frauen von beiden Geschlechtern als ‚natürlich‘ angenommen und akzeptiert wurde: Die Vorstellung von der ‚natürlichen‘ Eignung der Frau für die häuslichen Arbeiten ist weder bei Männern noch bei Frauen beseitigt. […] Dabei wird auch der in der Regel höhere Einsatz des Mannes im Arbeitsprozess von den Frauen in Rechnung gestellt.153
Hier zeigt sich, dass patriarchalische Muster nicht einfach durch die Veränderung einiger Lebensbedingungen oder die Einführung sozialpolitischer Maßnahmen erschüttert oder in Frage gestellt werden.154 Der Staat konnte zwar die Rahmenbedingungen verändern – die Denkweisen der Individuen jedoch nicht. Scholz und Willms zufolge wurde Letzteres auch gar nicht von der (männlichen) SED-Führung angestrebt, denn damit wäre ein Eingriff in die männliche Machtsphäre verbunden gewesen, die es aus ihrer Sicht zu bewahren galt.155 In der Studie von 1982 zeichnete sich jedoch auch ein Richtungswechsel ab, denn am Ende des Zitats heißt es: „Die Jugendlichen akzeptieren diese Haltung nicht. Sie fordern eine streng gerechte Verteilung der häuslichen Pflichten.“156 Dieser Mentalitätswandel war vor allem bedingt durch die Tatsache, dass die Männer infolge der Berufstätigkeit ihrer Frauen (häufig in Schichtarbeit) nicht umhinkonnten, manche Aufgabe im Haushalt und bei der Kinderbetreuung zu übernehmen.157 Empirische Untersuchungen aus dem Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig bestätigen diese Trendwende für die 1980er Jahre – auch wenn sich Männer weiterhin schwer taten mit der Übernahme von in der Öffentlichkeit häufig noch unterbewerteten Aufgaben sowie dem Verzicht auf Macht und Privilegien und auf einen Teil ihrer Freizeit und Freizügigkeit. Unsicherheiten in Bezug auf das neue Rollenverständnis ergaben sich vor allem dadurch, dass kaum Vorbilder für diesen neuen Typ Mann existierten.158 Die Forscherinnen und Forscher des ZIJ konstatierten Ende der 1980er Jahre, dass noch zu wenige oder vielmehr zu unkonkrete „Leitbilder für den Mann“ in der öffentlichen Meinung existieren würden. Ihrer Beobachtung nach gingen die „persönliche[n] Wandlungen eines zunehmenden Teils junger Männer (so Übernahme des Babyjahres bzw. einer gleichberechtigten Verantwortung im familiären Bereich)“ den Leitbildern voran – obwohl doch Leitbilder im Sinne von Orientierungsangeboten eigentlich der Realität vor-
152 153 154 155 156 157 158
Vgl. Fulbrook (2011), S. 178. Zit. nach: ebenda, S. 179. Vgl. Dölling (1991), S. 245. Vgl. Scholz/Willms (2008), S. 240. Zit. nach: Fulbrook (2011), S. 179. Vgl. ebenda, S. 180. Vgl. Bertram et al. (1988), S. 194.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
aus sein sollten – und würden öffentlich unzureichend gewürdigt.159 Seit den 1970er Jahren tauchten zwar vermehrt Fotos von jungen Vätern in den DDRZeitschriften auf, die sich in entspannter Atmosphäre und mit behutsamen Gesten ihrem Nachwuchs widmeten (ganz im Gegensatz zu den Bildern der 1950er und 1960er Jahre, auf denen Männer mit ernster Miene zu sehen waren, die sich unsicher und ungeschickt bei der Pflege ihrer Kinder verhielten).160 Das hegemoniale Männlichkeitsbild wurde dadurch jedoch nicht in Frage gestellt, sondern blieb weiterhin an Öffentlichkeit und Erwerbsarbeit geknüpft.161 So wie den Frauen das Leitbild der berufstätigen Frau und Mutter von der Regierung auferlegt wurde, waren auch die Konzepte von Männlichkeit – und zwar in erster Linie das des ‚sozialistischen Helden‘ – staatlich verordnet. Staats- und Parteiführung schufen Heldenfiguren, die nicht nur der Legitimation sozialistischer Macht und Ideologie dienten, sondern hegemoniale Männlichkeit verkörperten.162 Dabei rückte nach Ansicht von Scholz das anfänglich dominierende proletarische Männlichkeitsideal des Industriearbeiters im Laufe der Zeit immer mehr in den Hintergrund: Der Arbeits- und Aufbauheld der 1950er Jahre wurde seit den 1960er Jahren vom Sportshelden und dann vom Kosmonauten abgelöst. Ihnen allen gemeinsam waren „die proletarische Herkunft, die Verankerung im Arbeitermilieu und die uneigennützige Heldentat für die Arbeiterklasse und/oder den Staat“.163 Die proletarische Kultur blieb bis zum Ende der DDR-Zeit erhalten – proletarische Männlichkeitskonzeptionen bildeten jedoch nur noch eine Art „Generalbass“ der hegemonialen Männlichkeit.164 Entscheidende Elemente der Konstituierung von Männlichkeit waren Leistungs- und Siegesbereitschaft sowie Erfolg.165 Auch Frevert kommt zu dem vorläufigen Befund, dass sich Männer – im Osten wie im Westen – in erster Linie über ihre Erwerbsarbeit definierten, sich aber in den 1960er Jahren auch die Bereiche Sport und Technik zu „Exerzierfeld[ern]“ für die Herausbildung und Inszenierung von Männlichkeit(en) entwickelten – insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Militär diese Rolle nicht mehr übernahm.166 Militärische Männlichkeitskonstruktionen waren nach dem Zweiten Weltkrieg diskreditiert; im hegemonialen Männlichkeitskonzept der DDR blieben militärische Komponenten dennoch erhalten, beispielsweise in Form der propagierten Frontkämpfertugenden Härte, Kühle und Sachlichkeit, an denen insbesondere die Führungselite aufgrund ihrer Sozialisation festhielt.167 Als zusätzliches Element hegemonialer Männlichkeit macht Scholz zudem eine starke Gefühlskontrolle aus.168 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168
Autorenkollektiv unter der Leitung von Barbara Bertram (1989), S. 175. Vgl. Dölling (1991), S. 218 ff. Vgl. ebenda, S. 222 und Scholz (2004), S. 65. Vgl. Scholz (2008), S. 11. Scholz (2010), S. 213. Vgl. Scholz (2008), S. 12. Vgl. ebenda, S. 23. Vgl. Frevert (2000), S. 656–659. Vgl. Scholz (2010), S. 209 f. Vgl. ebenda, S. 222.
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
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Für die jüngeren DDR-Generationen verloren nicht nur die sozialistischen Heldenfiguren zunehmend an Bedeutung. Ein Männlichkeitskonstrukt, welches die im Alltagsleben so wichtigen familiären Beziehungen konsequent aussparte, konnte ebenso wenig Orientierung bieten.169 In den 1980er Jahren konstituierte sich daher das Männlichkeitsbild des „zärtlichen Vaters“170 oder des „Familienvaters“171. Scholz und Schochow zeigen, dass sich diese (alternative) Männlichkeitskonstruktion einerseits vor dem Hintergrund des demographischen Wandels172, andererseits in bewusster Abgrenzung zum hegemonialen Männlichkeitskonzept herausbildete173. Doch nicht nur das Männlichkeitsbild, sondern auch der Lebensalltag der Männer veränderte sich, wie bereits angedeutet, in den 1980er Jahren – zumindest der der jüngeren Generationen. Insbesondere in der Familienarbeit übernahmen Väter immer mehr Aufgaben: 1988 brachte die Hälfte von ihnen die Kinder in die Krippe oder den Kindergarten, etwa 50 Prozent badeten und fütterten ihre Kinder und sogar 93 Prozent spielten mit ihrem Nachwuchs.174 In der Hausarbeit setzte sich eine gerechtere familiäre Arbeitsteilung dagegen nur zögerlich durch. Männer übernahmen eher kraftintensive, zeitlich nicht fixierte und handwerkliches Geschick erfordernde Arbeiten wie beispielsweise Kohlenholen, Wohnungsrenovierung oder Reparaturen, die eher ‚männlichen‘ Zuschreibungen entsprachen. Frauen blieben hingegen die sich täglich wiederholenden und monotonen Aufgaben der ‚weiblichen‘ Skala vorbehalten wie Putzen, Waschen und Kochen.175 Die Umfragen des ZIJ ergaben, dass in vielen Ehen weiterhin zeitweilige Überforderungssituationen für berufstätige Mütter bestanden.176 Somit bedeutete die Partizipation an der Erwerbsarbeit häufig eine zusätzliche Anstrengung für die Frauen, da die Männer umgekehrt nicht in gleichem 169 170 171 172
173 174 175 176
Vgl. Scholz (2010), S. 223. Dölling (1991), S. 216 f. Schochow (2012), S. 118. Auf die Veränderung der DDR-Bevölkerungsstruktur seit Mitte der 1960er Jahre (hohe Mütterrate, aber wenige Mehr-Kind-Familien), die zur Abnahme der DDR-Bevölkerung insgesamt führte, wurde jahrzehntelang ausschließlich mit sozialpolitischen Unterstützungsmaßnahmen für die werktätige Frau reagiert. Erst 1985 wurde auf dem XI. Parteitag der SED eine Wende in der Sozialpolitik eingeleitet: Mit der Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern vom April 1986 wurde nicht nur das Kindergeld erhöht, sondern auch Vätern der Anspruch auf die Gewährung des Babyjahres oder die bezahlte Freistellung im Falle der Erkrankung des Kindes eingeräumt. Männer sollten sich also nicht mehr nur über die Arbeit definieren, sondern auch über ihre verantwortungsvolle und unersetzbare Rolle in der Familie, die es der berufstätigen Partnerin ermöglicht, Kinder zu bekommen und berufstätig zu sein; vgl. Schochow (2012). In den Lebensentwürfen von Männern nahm die Familie einen wichtigen Stellenwert ein, aus dem hegemonialen Männlichkeitsbild wurde der familiäre Kontext jedoch nahezu vollständig ausgeklammert; vgl. Scholz (2010), S. 220. Vgl. Scholz (2010), S. 220. Vgl. Dölling (1991), S. 212 und Scholz (2004), S. 65. Vgl. Bertram et al. (1988), S. 153.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
Maße häusliche Aufgaben übernahmen.177 Männer lernten erst allmählich, neue Verhaltensweisen anzunehmen und mit ihren neuen Aufgaben umzugehen.178 Zum einen waren sie aus ihrer familiären Prägung heraus eher die gesellschaftlich typische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gewohnt, zum anderen hatte das neue Männlichkeitsbild weder im Beruf noch in der Politik Spuren hinterlassen, sondern blieb auf den privaten Bereich beschränkt. Somit bestand für Männer ein doppeltes Spannungsverhältnis zwischen männlicher Hegemonie und weiblicher Emanzipation einerseits sowie zwischen hegemonialer Männlichkeit und neuer Väterlichkeit andererseits.179 Für Frauen ergab sich die große Schwierigkeit der Vereinbarkeit von beruflicher und weiblicher Identität – sie sollten gleichzeitig die neue Rolle der gleichberechtigten, erfolgreichen, berufstätigen Frau erfüllen, dabei aber trotzdem dem Ideal der Mütterlichkeit und der Weichheit entsprechen und möglichst auch noch Sex-Appeal ausstrahlen.180 Welche Konsequenzen ergaben sich nun aus den staatlich propagierten und in der Gesellschaft reproduzierten Geschlechterbildern für die Gesundheitserziehung? In Kapitel 1.2.3 wurde bereits dargelegt, dass sich die DDR-Gesundheitspolitik sehr stark auf die Frauen fokussierte, um die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft zu gewährleisten beziehungsweise durch präventive Maßnahmen und medizinische Betreuung abzusichern. Diese Schwerpunktsetzung schlug sich auch in der Gesundheitsliteratur nieder. In den 40 Jahren DDR-Zeit richteten sich deutlich mehr Gesundheitsmaterialien an Frauen als an Männer. Der berufstätigen Frau (und Mutter) wurden eigene Kapitel in medizinischen Gesundheitsbüchern oder komplette Ratgeber und Broschüren gewidmet.181 Männer wurden von der Gesundheitspropaganda deutlich seltener angesprochen. So existierte in der Buchreihe „Kleine Enzyklopädie“ nur der Band Die Frau182, in dem unter anderem über den Organismus und die Psyche der Frauen sowie spezielle Frauenkrankheiten und deren Verhütung informiert wurde, jedoch kein Äquivalent für Männer. Die wenigen Gesundheitsratgeber, die sich an Männer wandten, beschäftigten sich mit der Frage „Gibt es auch beim Manne Wechseljahre?“183 oder mit Problemen aus dem Bereich Ehe und Sexualität184. Auch in der Schriftenreihe Durch Volksgesundheit zur Leistungssteigerung/ Kleine Gesundheitsbücherei (1952–1968) dominierten Frauengesundheitsaspekte: Von den 96 Heften richteten sich 5 direkt an das weibliche und nur 1 an das 177 178 179 180 181
Vgl. Scholz/Willms (2008), S. 240. Vgl. Bertram et al. (1988), S. 189. Vgl. Scholz (2008), S. 14 und Scholz (2010), S. Vgl. Bertram et al. (1988), S. 196. Beispielsweise das Taschenbuch Frau – Beruf – Freizeit – Sport. Praktische Hinweise für gesunde Lebensweise und sportliche Übungen für die werktätige Frau von Krethlow (1971). 182 Uhlmann/Hartmann (1982). 183 Nikolowski (1961). 184 Schnabl (1969).
2.2 Gesundheitserziehung und Gesundheitspropaganda
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männliche Geschlecht.185 Neben den expliziten Frauenthemen wurde die weibliche Bevölkerung jedoch auch bei den überwiegend allgemein gehaltenen Gesundheitsfragen (meist implizit) adressiert. So richteten sich die Themen zur Kindergesundheit vorrangig an Frauen, selbst wenn sie als Hinweise für Eltern ausgegeben wurden. Während die Broschüre Dein Kind und seine Zähne den offensichtlichen Zusatz „Mutter, das mußt Du wissen!“186 enthielt, wurden auf den monatlichen Rückseiten der Kinderkalender des Deutschen Hygiene-Museums ärztliche Ratschläge „Für die Eltern!“ abgedruckt, obwohl direkt daneben Formulierungen zu finden waren wie „Maßnahmen der Mutter bis zum Eintreffen des Arztes“ und ausnahmslos Mütter abgebildet wurden, die sich mit den Kindern beschäftigen und diese versorgen187. Die Gesundheit der Frau beinhaltete auch immer die Komponente Schönheit. Die Verknüpfung von Gesundheit und Schönheit war allerdings keine Erfindung der DDR-Gesundheitspropaganda, sondern durchzog schon die an Frauen adressierte Gesundheitsliteratur der Neuzeit (kosmetische Themen fungierten im 18. Jahrhundert unter anderem als Verkaufsargument, da reine Gesundheitsratgeber nicht das Interesse der Verlage und Leserinnen weckten).188 In der Broschüre Wie werde ich 100 Jahre alt? Ein Ratgeber für gesunde Lebensführung von 1961 widmete sich das Kapitel „Kosmetik – Helferin im Kampf gegen das Altwerden“ ausschließlich den Frauen: so wurde die arbeitende Frau angehalten, das „Bestmögliche aus ihrer Erscheinung“ zu machen oder jungen Mädchen „zweierlei Arten des Zurechtmachens“ empfohlen.189 Dass die Gesellschaft in ihr nicht nur die „Berufskollegin, sondern stets auch die Frau“ sah und das Äußere der Frau „im Ehe- und Berufsleben eine nicht zu unterschätzende Rolle“190 spielte, gab der Autor der Broschüre Kosmetik der berufstätigen Frau 1964 der weiblichen Bevölkerung mit auf den Weg. Hier schimmerten neben den sozialistischen Schönheitsaspekten – der Sorge um Frische und Gepflegtheit des Körpers als Voraussetzung für den Erhalt der Arbeitskraft und die Steigerung des Lebensgefühls191 – auch die althergebrachten Weiblichkeitsvorstellungen von der modebewussten Frau vor dem Spiegel durch.192 Diese ersten Beispiele aus der Gesundheitsliteratur der 1950er und 1960er Jahre deuten an, dass die spezifischen Lebenslagen der Bürgerinnen und Bür185 Die wichtigsten Krebserkrankungen der Frau (H. 1); Die Wechseljahre der Frau (H. 5); Ein Weg zur schmerzarmen Geburt (H. 53); Gibt es auch beim Manne Wechseljahre (H. 65); Kosmetik der berufstätigen Frau (H. 79) und nochmals Die Wechseljahre der Frau (H. 95). 186 Buchholz (1954). 187 Kinderkalender von 1961: Rückseite 16.–30. April sowie Vorderseite 16.–31. Mai und Vorderseite 16.–31. Dezember. 188 Vgl. Sander (2005). 189 DHMD (1961), S. 61 ff. 190 Gertler (1964), S. 22. 191 Vgl. Budde (2000), S. 613. 192 Siehe dazu den Artikel von Tippach-Schneider, in dem sie zeigt, dass auch in der sozialistischen Werbung der 1950er und 1960er Jahre die alten Rollenklischees Bestand hatten und die Frau, trotz ausgerufener Gleichberechtigung, im Werbebild immer nur „das Weib“ blieb [Tippach-Schneider (1992)].
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ger in der DDR-Gesundheitspropaganda häufig keine Berücksichtigung fanden. Es dominierten allgemeine Themen zur Gesundheitspflege und Krankheitsverhütung, die sich unspezifisch an „den Leser“ oder „den Kranken“ richteten. Wenn explizit geschlechterspezifische Hinweise gegeben oder Einschränkungen gemacht wurden, dann zumeist für das weibliche Geschlecht. Die neue Rolle der Frau wurde jedoch nicht vordergründig unter dem Aspekt ihrer gesundheitlichen Belastungen und Anforderungen verhandelt, sondern es wurde überwiegend ein stereotypes Bild von Weiblichkeit vermittelt. Dazu gehörte neben der deutlichen Betonung eines gepflegten Äußeren auch der Topos von der weiblichen Schwäche und Gefühlsmäßigkeit, was in folgender Einschätzung der „Frau als Kraftfahrer“ aus dem Jahr 1963 deutlich wird: „Wegen ihres tiefen Verantwortungsbewußtseins allem Lebendigen gegenüber, durch ihre Mütterlichkeit und Einfühlungsgabe, neigt die Frau gemäß ihrer Natur zu umsichtigem Fahren.“ Frauen würden mit mehr Gefühl als Männer fahren, seien aber während der Menstruation „psychisch häufiger labil“ und hätten dadurch eine deutlich veränderte Reaktionszeit.193 Auch beim Thema Genussmittelkonsum wurde die Einschränkung gemacht, das „feine Gefüge des weiblichen Organismus, insbesondere des Nervensystems“194 sei weniger widerstandsfähig gegenüber den Einwirkungen von Giftstoffen wie beispielsweise dem Nikotin.195 Der Autor war der Ansicht, dass Frauen seit Jahrhunderten kein Bedürfnis gehabt hätten, zu rauchen und somit instinktiv vollkommen richtig gehandelt hätten.196 Schönheit, Mütterlichkeit und Verantwortung (für die Familie) galten in den 1950er und 1960er Jahren als Normen für die DDR-Frauen, zumindest nach Ansicht der (überwiegend männlichen) Ärzte und Autoren der vorgestellten Gesundheitsbroschüren. „Für Männer [wurden] keine normativen Vorstellungen formuliert […].“197 Diese Einschätzung Trappes für den Bereich der Familienpolitik der 1950er Jahre galt wohl auch für das Feld der Gesundheitserziehung – jedenfalls legt die nahezu vollständige Abwesenheit der Männer in der Gesundheitsliteratur diese Vermutung nahe. Männer wurden nicht angehalten, ihr Äußeres zu pflegen; ihr Körper beziehungsweise ihre körperliche Leistungsfähigkeit unterlag auch keinen besonderen Einschränkungen. In das vorherrschende Männlichkeitsbild, das durch Leistungsbereitschaft, Härte und Gefühlskontrolle bestimmt wurde, ließen sich Sorgfalt und Fürsorglichkeit nicht einfügen. Der Vergleich mit geschlechterspezifischen Formulierungen und Abbildungen in medizinischen Lehrbüchern der DDRZeit macht zudem deutlich, dass für Männer deshalb keine expliziten Normen 193 Lachmann (1963), S. 35. Äußerungen zur weiblichen Schwäche (und geringeren Intelligenz) wurden von männlichen Medizinern schon jahrzehntelang vorgebracht, beispielsweise in der Diskussion um die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium; siehe dazu den Essay von Paul Julius Möbius Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes von 1900. 194 Lickint (1957), S. 7. 195 Vgl. ebenda, S. 6. 196 Vgl. ebenda, S. 7. 197 Trappe (2007), S. 247.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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aufgestellt wurden, weil ihr Körper als die Norm schlechthin galt; Frauen wurden demgegenüber – wie schon im ausgehenden 18. und insbesondere im 19. Jahrhundert – als „das Andere, Abweichende“ gekennzeichnet.198 Das deckt sich auch mit der bereits vorgebrachten These von Brandes, dass der DDRStaat so selbstverständlich mit Männern identifiziert wurde, dass „deren eigenständige Rolle keiner Hervorhebung bedurfte“.199 Nur im Zusammenhang mit Nikotin- und Alkoholmissbrauch wurden Männer in den Gesundheitsratgebern häufiger explizit benannt – beispielsweise als mehrheitlich vom Lungenkrebs Betroffene200 oder als Alkoholkranke, die „Frau und Kindern das Zusammenleben mit ihnen zu einer Hölle“201 machen. Ob hier lediglich althergebrachte Männlichkeitsstereotype übernommen wurden oder ob sich das proletarische Männlichkeitsbild tatsächlich überwiegend negativ auf das Gesundheitsverhalten der Männer ausgewirkt hat (Rauchen, Trinken, reichhaltiges Essen), wird in Kapitel 3 versucht näher zu ergründen. Die folgende detaillierte Auswertung einer Gesundheitszeitschrift, einer Betriebszeitung sowie zweier Filmreihen soll – neben der Analyse der generellen gesundheitsthematischen Schwerpunkte und gestalterischen Mittel – dazu dienen, die Problematik der Geschlechterleitbilder in der Gesundheitspropaganda weiter zu vertiefen. Dabei wird es zum einen um die Frage gehen, ob sich die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit aus den Gesundheitsbroschüren der 1950er und 1960er Jahre mit den in den anderen Gesundheitsmedien verbreiteten Ansichten vergleichen lassen und zum anderen, ob sich der Diskurs über männliche und weibliche Gesundheitsnormen im Laufe der 1970er und 1980er Jahre gewandelt hat. 2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien Die bisher dargelegten Informationen zur Systematik und Geschlechterspezifik der Gesundheitspropaganda werden nun an konkreten Beispielen verdeutlicht und überprüft. Im Mittelpunkt steht dabei die populär-medizinische Zeitschrift Deine Gesundheit, die aufgrund ihres „gelegentlich provokativen Charakters in
198 Vgl. Dalizda/Edler (1999), S. 109. Auch die Konversationslexika des 19. Jahrhunderts setzten sich unwahrscheinlich intensiv mit dem ‚Phänomen‘ der „Frau“ und des „Weiblichen“ auseinander, wohingegen das Thema „Männlichkeit“ bis in die 1920er Jahre keine Rolle spielte. Die Frau erschien den bürgerlichen Meisterdenkern deutlich erklärungsbedürftiger als der Mann; vgl. Frevert (1995), S. 59. 199 Brandes (2008), S. 72. 200 Vgl. Lickint (1958). 201 Neubert (1962), S. 23. Der Autor der Broschüre, der bereits mehrfach erwähnte Sozialmediziner und Lebensreformer Rudolf Neubert, war bekennender Alkoholgegner und beschäftigte sich bereits in der Weimarer Republik mit der Alkoholfrage. Das Bild des männlichen „Trinkers“ und der weiblichen leidenden Angehörigen bestimmte auch zu jener Zeit schon die Veröffentlichungen der Suchtexperten. Weiblicher Alkoholismus wurde hingegen als außergewöhnliches Randphänomen eingestuft; vgl. Hauschildt (1995), S. 24.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
manchen Funktionärskreisen nicht unumstritten“202 war. Obwohl sie im Großen und Ganzen die vom Deutschen Hygiene-Museum und dem Nationalen Komitee für Gesundheitserziehung propagierten Leitlinien der Gesundheitserziehung vermittelte203, hat sie sich im Laufe der Jahre eine relativ unabhängige Position erarbeitet.204 Schon allein vor diesem Hintergrund stellt die Zeitschrift ein interessantes Untersuchungsobjekt dar. Deine Gesundheit wurde aber auch deshalb für die Analyse ausgewählt, weil sie – im Gegensatz zu anderen Druckerzeugnissen oder Filmreihen – über einen sehr langen Zeitraum erschien, anhand dessen sich die verschiedenen Schwerpunkte und Entwicklungsstufen der Gesundheitserziehung sichtbar machen lassen. Darüber hinaus fand sie sehr großen Absatz. Mittels der Analyse von Leserbriefen205 der Rubrik „Dialog“ kann das Meinungsbild einer beachtlichen Zahl von Bürgern und Bürgerinnen zu gesundheitlichen Themen aufgezeigt werden. Die Betriebszeitung Werftecho der Neptunwerft Rostock wird ebenfalls in die Analyse einbezogen, um zu überprüfen, in welchem Maße gesundheitliche Themen im unmittelbaren Arbeitsalltag der DDR-Bevölkerung in Erscheinung traten und inwieweit Fragen von Gesundheit und Krankheit in einem Betrieb mit überwiegend männlicher Arbeiterschaft relevant waren. Abschließend werden auch die Filmreihen Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender im Rahmen eines kurzen Überblicks ausgewertet. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, ob das Medium Film in den 1970er Jahren eine Veränderung in Bezug auf Themen und Genderaspekte bewirkt hat.206 2.3.1 Deine Gesundheit Die Zeitschrift erschien zwischen 1955 und 1993. Bis 1960 wurden die Ausgaben zweimonatlich, dann monatlich herausgegeben. In den ersten Jahren fungierte das Hygiene-Museum als Herausgeber, ab 1972 dann das Nationale Komitee für Gesundheitserziehung. Sie wurde für den durchgängigen Verkaufspreis von 50 Pfennig ausschließlich im freien Handel vertrieben und umfasste 32 Seiten207. 202 203 204 205
Lämmel (2002), S. 113. Vgl. Niehoff (1998), S. 198. Vgl. Lämmel (2002), S. 113. Beim Umgang mit der Gattung Leserbriefe muss einkalkuliert werden, dass diese auch von den Redakteuren verfasst worden sein können. In der DDR-Presselandschaft war generell eine sehr – für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich – rege Beteiligung von Lesern, Hörern und Zuschauern auszumachen und auch von journalistischer und parteipolitischer Seite wurde großer Wert auf den Kontakt und die Verbundenheit zu den Rezipienten gelegt. Ellen Bos weist in ihrer Untersuchung die These, dass Leserbriefe in der DDR überwiegend gelenkt oder unter Druck zustande gekommen sind, weitestgehend zurück; vgl. Bos (1992). 206 Die Analyse der Filme erfolgt auf Basis der Angaben aus der Datenbank des DHMD, in der diese sehr umfangreich in (Stand-)Bild und Wort aufbereitet sind. Die eigene Sichtung der Filme war aus zeitlichen Gründen nicht zu bewältigen. 207 Nur im ersten Jahrgang belief sich der Umfang auf 24 Seiten.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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Rolf Lämmel, Generalsekretär des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung, beziffert die monatliche Auflage für die 1970er Jahre auf 350.000 Exemplare. Und obwohl die Nachfrage auf 500.000 stieg, gelang es aufgrund des begrenzten Papierkontingents nicht, diese Höhe der Auflage zu überschreiten.208 Daher konnte den zahlreichen Wünschen nach Abonnements nicht entsprochen werden.209 Zudem muss auch die Weitergabe von Hand zu Hand berücksichtigt werden. Der langjährige Chefredakteur Prof. Dr. med. Gerhard Misgeld210 verwies in seiner Neujahrsbotschaft für das Jahr 1988 darauf, dass die Lesergemeinschaft inzwischen auf über eine Million angewachsen sei. Als er 1959 seinen ersten Neujahrsgruß an die Leser richtete, waren es lediglich 90.000.211 Die Zeitschrift war dem Kulturwissenschaftler Mühlberg zufolge deshalb so begehrt, weil sie die sozialen Hintergründe des Gesundheitsverhaltens und der Lebensweisen der Bürgerinnen und Bürger beleuchtete und folglich zu den ganz wenigen Foren gehörte, in denen relativ offen über die Alltagssorgen der Menschen diskutiert werden konnte.212 Im nächsten Abschnitt wird die Veränderung der Themenfelder und Methoden im Laufe der Existenz der Zeitschrift aufgezeigt. Dabei werden insgesamt acht Jahrgänge mit jeweils sechs beziehungsweise zwölf Heften – zwei pro Jahrzehnt – in die Auswertung einfließen: 1955/56213, 1958, 1962, 1968, 1972, 1978, 1982 und 1988. Danach kommen die Leserinnen und Leser mit ihren gesundheitlichen Anliegen und ihren Wünschen an die Redaktion durch die Analyse der Leserbriefe zu Wort. Im Anschluss daran werden die acht Jahrgänge hinsichtlich ihrer geschlechterspezifischen Thematik und Gestaltung untersucht. 2.3.1.1 Themen und Entwicklungen In den Anfangsjahren wurde in Deine Gesundheit ein breites Spektrum an allgemeinen Gesundheitsthemen vermittelt. Dieses wurde ergänzt durch historische Beiträge zu berühmten Ärzten und Erfindungen sowie durch politische Propaganda214.
208 Vgl. Lämmel (1999), S. 124. 209 Vgl. Lämmel (2004), S. 62. 210 Gerhard Misgeld (1913–1991), Pathologe und Medizinhistoriker, leitete von 1958 bis 1987 die Redaktion von Deine Gesundheit. Zudem war er zeitweise als Leiter der Abteilung Wissenschaft im MfGe tätig [http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-warwer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424.html?ID=2335, zuletzt aufgerufen am 16.4.2014]. 211 Deine Gesundheit H. 1 (1988), S. 2. 212 Vgl. Mühlberg (1992), S. 49. 213 Da die erste Ausgabe im Mai 1955 erschienen ist, wurden für diesen Jahrgang die sechs Hefte von Mai/Juni 1955 bis März/April 1956 erfasst. 214 In Form von Positionierungen gegen westlichen Militarismus und Atomkrieg einerseits und einem positiven Blick auf die Sowjetunion andererseits.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
In den beiden Jahrgängen 1955/56 und 1958 dominierten zum einen Infektions- und Kinderkrankheiten wie Tuberkulose, Kinderlähmung und Rachitis. Dementsprechend wurden Impfungen und eine hygienische Lebensweise ebenso propagiert wie eine vitaminreiche Ernährung. Auch die Themen Abhärtung, Gymnastik, Erholung und Urlaub traten häufig in Erscheinung. Bildserien oder Preisrätsel unter der Überschrift „Was machen die Abgebildeten richtig und was falsch?“ sollten dem Leser den richtigen Weg zur Gestaltung seines Lebens weisen. Zum anderen stand das Arbeitsumfeld der Menschen deutlich im Fokus: Wiederholte Themen der Zeitschrift waren Berufskrankheiten und der Gesundheitsschutz im Betrieb. Die staatlichen Errungenschaften und Fortschritte im Gesundheitswesen wurden ebenfalls in zahlreichen Beiträgen thematisiert. Dazu zählten beispielsweise die Einrichtung von Sanatorien, Ambulatorien und Betriebspolikliniken215 oder medizintechnische Entwicklungen (in der Rubrik „Medizin und Technik“). Auffallend häufig wurde darüber hinaus über Kinder- und Jugendgesundheitsthemen berichtet sowie über spezifische Themen für Frauen und Mütter wie Kosmetik („Sind Dauerwellen schädlich?“216) und Mode. Die Titelbilder in diesem Zeitraum zierten demensprechend fast ausschließlich Frauen (Abb. 3) oder Kinder. Die Themen Schönheit und Kosmetik fanden dann Anfang der 1960er Jahre sogar noch stärkere Beachtung. Diese Schwerpunktverlagerung passt zeitlich zu dem bereits angedeuteten Versuch der staatlichen Propaganda, dem in westlichen Medien verbreiteten Schreckbild des ostdeutschen ‚Mannweibes‘ entgegenzuwirken.217 Die Frauen sollten trotz Berufstätigkeit weiterhin attraktiv sein und erhielten auch in Deine Gesundheit entsprechende Empfehlungen und Anleitungen. „Schönheit im Alltag“ wurde als regelmäßige Rubrik eingeführt, in welcher Fragen wie „Ist Kosmetik Luxus?“218 aufgeworfen wurden. Zu Dauerthemen wurden ästhetische Medizin und kosmetische Korrekturen, Make-up, Gymnastik und Diät. Gesundheitliche Belange aus dem Bereich der Arbeitswelt wurden indes kaum thematisiert. Am Ende der 1960er Jahre rückten die Themen Ehe, Sexualität und Geburten in den Fokus. Artikel, die über die Ehe- und Sexualberatungsstellen, Säuglingspflege oder die Entwicklung des Menschen informierten, dominierten den Jahrgang 1968. Darüber hinaus wurde das Rauchen deutlich stärker thematisiert („Rauchen oder nicht?“219, 215 Vorgestellt wurden z. Bsp. die Tuberkulose-Klinik Bad Berka, das Pawlow-Nachtsanatorium des VEB Stahl- und Walzwerk Brandenburg, das Landambulatorium Rerik sowie das Nachtsanatorium der Volkswerft Stralsund. 216 Deine Gesundheit H. 4 (1955). 217 Vgl. Budde (2000), S. 617 f. Nicht unberücksichtigt bleiben darf jedoch, dass zu dieser Zeit in der DDR noch sehr traditionelle Einstellungen vorherrschten und herkömmliche Absichten und Ziele (Ehe und Mutterschaft) tief im Bewusstsein der Frauen verankert waren; dementsprechend interessierten sich viele Frauen für die Themen Mode und Kosmetik sowie Kochen, Backen und Kindererziehung; siehe dazu Fulbrook (2011), S. 174 f., die sich in diesem Punkt auf einen Bericht aus dem Jahr 1955 über junge Textilarbeiterinnen im Kreis Greiz bezieht. 218 Deine Gesundheit H. 1 (1962). 219 Deine Gesundheit H. 2 (1962).
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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Abb. 3: Titelblatt Deine Gesundheit H. 4 (1958).
„Gewohnheit mit Folgen“, „Überzeugen statt verbieten“220). Neben Frauen und Müttern wurden daher auch immer öfter Männer als Zielgruppe adressiert. Dies betraf sowohl die Berichterstattung über das Rauchen und über Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Viele Artikel richteten sich zudem an ältere Menschen, in denen es vorrangig um Ernährung und Aktivität im Alter ging. In den 1970er Jahren setzten sich einerseits die Entwicklungen der vergangenen Jahre fort, andererseits stand dieses Jahrzehnt auch im Zeichen des Umbruchs und der Öffnung für neue Themen und Leserschichten. Den Bereichen Familie, Ehe, Sexualität und Schwangerschaft beziehungsweise Kinderlosigkeit wurde in beiden Jahrgängen weiterhin breiter Raum gegeben.221 Auch die Themen Ernährung (vorrangig Diabetes und die so genannte „Fettsucht“) 220 Deine Gesundheit H. 1 (1968). 221 Hintergrund dafür waren sicherlich die seit Mitte der 1960er Jahre stark rückläufigen Geburtenzahlen sowie die Scheidungsquote, die seit den frühen 1970er Jahren rapide anstieg; vgl. Hockerts (1994), S. 532 ff.
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und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie die sportliche Betätigung (monatliche Gymnastikübungen) standen weiter hoch im Kurs. Der Raucherproblematik widmete sich 1978 ein ganzes Themenheft; gleichzeitig rückte das Thema Alkoholmissbrauch stärker ins Blickfeld der Zeitschrift222. Wieder vermehrt erschienen Artikel zur Krebsfrüherkennung und zu krebserregenden Faktoren. Hierbei lässt sich erneut der Trend zur Akzentuierung der Risikofaktoren und des schädigenden Verhaltens beobachten: Nicht mehr äußere Faktoren und Einflüsse standen im Zentrum der Beiträge, sondern krebsbegünstigende Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkohol, Ernährung, Sexualverhalten und Sonnenbaden. In dem Artikel „Krebs vermeidbar?“ heißt es etwa: „Offensichtlich spielen allgemeine Umwelteinflüsse, denen der einzelne passiv ausgesetzt ist, eine geringere Rolle als sein eigenes Verhalten“.223 Als „Tatsachen für die Verhütung des Krebses“ wurden dementsprechend folgende Strategien angeführt: die Bekämpfung des Missbrauchs von Tabak und Alkohol; eine vernünftige und ausgewogene Ernährung; stabile, nicht zu frühe Sexualbeziehungen und eine Schwangerschaft um das 20. Lebensjahr herum (zum Schutz vor Gebärmutterhals- beziehunsweise Brustdrüsenkrebs) sowie das Vermeiden übermäßigen Sonnenbadens.224 Eine bedeutende Wende erlebte das Blatt durch die Hinwendung zu neuen und durchaus heiklen Themen sowie durch eine provokative Bildgestaltung. In den Heften des Jahrgangs 1978 finden sich deutlich mehr gesamtgesellschaftliche Analysen, in denen Probleme klar angesprochen und deren Hintergründe umfassend beleuchtet wurden (wie zum Beispiel Schichtarbeit, Suizide, „Fettsucht“ und Vorurteile gegenüber Homosexualität). Die Titelblätter sowie die grafische Gestaltung insgesamt wurden mutiger und abwechslungsreicher durch den Einsatz von Kollagen und Fotomontagen. Das bereits angesprochenen Themenheft zum Rauchen bietet ein gutes Beispiel für diese neuartige „feinsinnig[e], aber nicht feinfühlig[e], sondern bewußt schockierend[e]“225 Darstellungsweise: Das Titelblatt zierte eine Zigarettenschachtel mit herausragenden Zigaretten, auf denen die Folgeerkrankungen des Rauchens aufgezählt wurden (unter anderem Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt und Raucherbein). Die Artikel des Heftes wurden durch ganzseitige Fotos und Kollagen unterbrochen. Zu sehen waren unter anderem eine junge Frau mit Blumenstrauß in der Hand und Zigarette im Mund – über ihr die Zeile „Nun bin ich erwachsen“ (Abb. 4) – und ein Junge, der den Pioniergruß mit einer Zigarette in der Hand ausführt (der dazugehörige Spruch lautet „Seid bereit SEMPER bereit“, bei dem das Wort „immer“ durch die Zigarettenmarke „Semper“ ersetzt wurde).226 Darüber hinaus tauchten deutlich mehr Männer auf den Covern auf. Gleich die ersten drei Hefte aus dem Jahr 1978 bildeten Männer zu den The222 Auf dem IX. Parteitag der SED 1976 wurde erstmals zum entschiedenen Kampf gegen Alkoholmissbrauch aufgerufen; vgl. Schwarz (2011), S. 35. 223 Deine Gesundheit H. 1 (1978), S. 24. 224 Ebenda, S. 25. 225 Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 322. 226 Ebenda, S. 326–333.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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Abb. 4: Fotoseite aus dem Themenheft „Rauchen Sie?“, Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 329.
men Bewegungsapparat, Homosexualität und Bluthochdruck ab. 1978 konnte Deine Gesundheit zudem in größerem Format, auf besserem Papier und mit teilweise farbiger Gestaltung erscheinen.227 Auch die Rubrik „Dialog“ wurde neu eingeführt, um noch stärker in direkten Austausch mit der Leserschaft zu treten.228 Die 1980er Jahre waren geprägt durch eine stärkere Politisierung229 und die Hinwendung zu internationalen Themen und fernen Regionen230. Sozial227 Der Übergang zum größeren Format und zur teilweisen Farbgestaltung erfolgte bereits 1977. 228 Leserbriefe sowie die Antworten auf Fragen von Lesern wurden auch in früheren Jahrgängen abgedruckt, z. Bsp. 1958 und 1962; diese Praxis ruhte aber in den 1970er Jahren. 229 Unter anderem wurde – wie in den 1950er Jahren – wieder häufiger gegen die Bundesrepublik (vor allem gegen Atomwaffen und Sozialabbau) polemisiert. 230 Es erschienen mehrere Berichte aus anderen Ländern, wie z. Bsp. Chile oder Angola, und über die Arbeit der UNO.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
politische Aspekte wie Umweltverschmutzung und Wasserknappheit tauchten zunehmend auf. Auch über andere kritische Sachverhalte und Tabuthemen wurde berichtet, wie zum Beispiel über Kindesmisshandlungen oder die Ursachen für Wasserverunreinigung (Themenheft „Wasser. Wenn alle Brünnlein fließen…“231). In wachsendem Maße widmete man sich außerdem den psychischen Erkrankungen sowie ihren Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten („Irrwege Konflikte Auswege“232). Zu diesen neuen Themengebieten gesellte sich aber auch Gewohntes: allgemeine Gesundheitsthemen, Kosmetisches und Kindererkrankungen sowie die Bereiche Ehe und Familie233. Zu den Schwerpunkten der Zeitschrift zählten darüber hinaus weiterhin Krebsund Herzerkrankungen, vor allem aber die Themen Sport und Bewegung (monatliche Rubriken „mehr bewegen“ und „fit sein“ in beiden Jahrgängen) sowie Nahrung und Übergewicht („Wenn Lust zur Sucht wird“234, „Vegetarier – verrückt oder weise?“235, „Zuckerkrank“236 oder „gesalzen – versalzen“237). Ende der 1980er Jahre war auch das Rauchen wieder sehr viel stärker im Fokus als in den Jahren zuvor. Ein Artikel über Raucherbabys thematisierte das Rauchverhalten von Schwangeren238; die Oktoberausgabe des Jahres 1988 widmete sich unter dem Motto „Rauchen ist Asche“ voll und ganz dem Aspekt des Nichtrauchens – angeregt durch zahlreiche Leserzuschriften.239 Der folgenden Tabelle (Tab. 1) lassen sich die Konjunkturen der wesentlichen (und für den weiteren Verlauf der Arbeit zentralen) Themenfelder noch einmal detailliert entnehmen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Zeitschrift Deine Gesundheit im Laufe der Jahre einen beachtlichen Wandel vollzogen hat. In den Anfangsjahren hatte sie den Charakter einer eher durchschnittlichen Gesundheitszeitschrift, deren Ziel die Vermittlung allgemeiner Themen über Krankheitsverhütung und gesunde Lebensführung war (meist in Form von gestellten Bilderserien und Comics). Zur Zielgruppe zählten in dieser Zeit fast ausnahmslos Frauen, Mütter und ältere Mitbürger, denen Kosmetik- und Diättipps sowie Anleitungen zur Säuglingspflege und Kindererziehung an die Hand gegeben wurden. Darüber hinaus wurde in Berichten über Sanatorien und Polikliniken sowie in Artikeln zu medizintechnischen Apparaturen häufig auf die Errungenschaften des DDR-Gesundheitswesens verwiesen. Die fröhlich-lächelnden 231 Deine Gesundheit H. 7 (1988). 232 Deine Gesundheit H. 9 (1988). 233 Viele Beiträge beschäftigten sich mit dem Sexualverhalten Jugendlicher und der Schwangerschaftsverhütung. Auch aus den Zuschriften der Leser lässt sich auf vermehrte Schwangerschaften bei sehr jungen Müttern, die häufig mit der Aufgabe überfordert waren, schließen, beispielsweise aus dem Leserbrief von Sabine T. aus Weimar, in: Deine Gesundheit H. 4 (1982), S. 109. 234 Deine Gesundheit H. 2 (1988). 235 Deine Gesundheit H. 4 (1988). 236 Deine Gesundheit H. 5 (1988). 237 Deine Gesundheit H. 8 (1988). 238 Deine Gesundheit H. 6 (1988), S. 25. 239 Deine Gesundheit H. 10 (1988), S. 2.
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2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
Tab. 1: Anzahl der Artikel in Deine Gesundheit zu ausgewählten Themenbereichen nach Jahrzehnten240241 Themenfelder
1950er
1960er
1970er
1980er
Staatlicher Gesundheitsschutz, Betriebsgesundheitswesen
17
11
7
4
Gesunde Lebensführung, Hygiene241
26
9
17
4
Schönheit, Kosmetik, Mode
10
18
0
4
Kinder, Ehe, Sexualität
20
24
39
22
Krebs
1
3
5
3
Rauchen
0
3
4
7
Alkohol
1
2
3
0
Ernährung
4
15
32
22
Sport
3
11
2
26
Frauen der Titelblätter der 1950er und 1960er Jahre konnten darauf vertrauen, dass ihnen der Staat zur Seite stand, der ihren Alltag durch die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen so einfach wie möglich gestaltete und somit die Voraussetzungen für ein langes und gesundes Leben schuf. Sie mussten nur die klassischen Ratschläge befolgen wie viel Bewegung und Schlaf, aktive Erholung, gesunde Ernährung und Vermeidung von Stress und Genussmitteln. Mit der verstärkten Thematisierung von Ehe und Familie, Liebe und Sexualität am Ende der 1960er Jahre sollte Deine Gesundheit zudem positiv in die Gesellschaft (bezüglich der Zahl der Eheschließungen und Geburten) hineinwirken.242 Bis dato fungierte das Blatt als Vermittlungsinstanz sozialistischer Normen und Werte und lag auf einer Linie mit den offiziellen gesundheitspolitischen Richtlinien. Seit Ende der 1970er Jahre veränderte sich das Wesen der Zeitschrift jedoch immens – weg von Krankheitsbeschreibungen, Preisrätseln und einseitigen Belehrungen hin zu provokanten und feinsinnigen Titelbildern und -geschichten, die weit über die Vermittlung reiner Gesundheitsaspekte hinaus reichten. Die Zeitschrift wurde zum Publikumsjournal einer breiten Zielgruppe, das die allgemeinen Lebensbedingungen der Menschen in den Blick nahm. Auch schreckte man nicht vor heiklen und provokanten Themenfel240 Ausgewertet wurden die oben angegebenen Samplejahre, jedoch zusammengefasst zu Jahrzehnten. Beim Auszählen wurden Themen auch doppelt gezählt, z. Bsp. wurden beim Artikel „Sport und Mode“ beide Kategorien erfasst. Insgesamt ergab sich ein Sample von ca. 760 Artikeln. 241 Zur gesunden Lebensführung zählen Themen wie Erholung, Schlaf und Schutzimpfungen; Hygiene umfasst die klassischen Themenfelder der Lebensmittel-, Wohnungs-, Kleiderhygiene etc. 242 Hier zeigt sich erneut, dass der Biopolitik-Begriff von Foucault im Sinne einer „Verwaltung der Körper“ und „rechnerische[n] Planung des Lebens“ auf die DDR-Gesundheitspolitik Anwendung finden kann; vgl. Foucault (1998), S. 167.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
dern zurück wie Umweltverschmutzung, Homosexualität oder Alkoholismus. Nicht mehr Kinder am Strand, Frauen mit Obstkörben oder am Schminktisch prägten das Erscheinungsbild, sondern Männer mit Bierbäuchen, junge Raucherinnen sowie tote Fische und Kindesmisshandlungen. Über die Hintergründe für diesen Richtungswechsel lässt sich nur spekulieren, jedoch dürfte die Zusammensetzung der Redaktion hierbei ausschlaggebend gewesen sein. Zu dieser Zeit arbeiteten sowohl mehr Frauen als auch eine größere Zahl ‚Fachfremder‘ (beispielsweise Diplom-Lehrer) für die Zeitschrift als in den 1950er und 1960er Jahren, wo die Beiträge überwiegend von männlichen Ärzten verfasst wurden. Nach Aussagen der langjährigen Redakteurin Ursula Hertel243 empfanden viele dieser neuen Mitarbeiter, die eher zufällig den Weg in den Verlag oder die Redaktion gefunden hatten, sich selbst nicht als „Gesundheitsapostel“.244 Die üblichen Themen und Methoden der Gesundheitserziehung lagen ihnen fern – dafür waren sie voller Illusionen und Hoffnungen. Hertel beschreibt die Arbeit der 1970er und 1980er Jahre folgendermaßen: „Diese Holzhammermethoden haben uns selber nicht befriedigt. Wir haben dann versucht, mit etwas mehr Witz und Intelligenz daranzugehen.“245 Redakteure wie Hertel wollten die Partei und die Gesellschaft an ihren eigenen Ansprüchen messen. Mit den Bildern des jungen, rauchenden Pioniers und des heranwachsenden Mädchens246 wollten sie beispielsweise auf den Widerspruch aufmerksam machen, „daß das Einstiegsalter für das Rauchen unter den Heranwachsenden immer weiter sank und nirgendwo in der Gesellschaft erkennbar war, daß versucht wurde, etwas dagegen zu tun“.247 Dieser Mut zum Aufgreifen kritischer Themen handelte der Redaktion häufig großen Ärger mit den übergeordneten Ministerien248 ein, beim Publikum wurde die Zeitschrift jedoch gerade wegen dieser offenen Worte und der kreativen Gestaltungsweise immer beliebter.249 Auch der stärkere Austausch mit der Leserschaft seit Ende der 1970er Jahre könnte die Verantwortlichen der Zeitschrift dazu bewogen haben, sich neuen Themenfeldern zuzuwenden und diese originell aufzubereiten.
243 Ursula Hertel (Dipl.-Lehrerin für Germanistik und Geschichte) arbeitete seit 1974 als freie Mitarbeiterin und seit 1976 als festes Redaktionsmitglied bei Deine Gesundheit. 1983 wurde sie stellvertretende Chefredakteurin und fünf Jahre später löste sie Misgeld als Chefredakteur ab; vgl. Barck (1999), S. 723. 244 Von „Wasser-Heften“ (1999), S. 79. 245 Ebenda, S. 83. 246 Siehe Bildserie im Themenheft zum Rauchen, in: Deine Gesundheit H. 11 (1978). 247 Von „Wasser-Heften“ (1999), S. 81. 248 Deine Gesundheit unterstand dem Ministerium für Kultur, dem MfGe und der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED. 249 Vgl. Von „Wasser-Heften“ (1999), S. 83.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
97
2.3.1.2 Rezeption durch die Leser und Leserinnen In den 1950er Jahren wurde Deine Gesundheit wohl vornehmlich von Frauen gelesen – zumindest richtete sich die Zeitschrift in den Anfangsjahren insbesondere an Frauen.250 Das änderte sich spätestens in den 1970er Jahren. Leserbriefe, die in der Reihe „Dialog“ seit 1978 veröffentlicht wurden, wurden auch von Männern verfasst.251 Durch diese eingeforderte Rückmeldung der Leser wollte sich die Zeitschrift noch stärker an den Interessen der Menschen orientieren. Folgende Fragen richtete Chefredakteur Prof. Misgeld in der ersten Ausgabe des Jahres 1978 an die Leserschaft: Nutzen wir die uns von Partei und Staat der DDR gebotenen qualitativen Möglichkeiten der Informationsgabe und -verarbeitung richtig und bereits zur vollen Befriedigung der Leser? […] Mit welchen Themenkomplexen würden wir die Bedürfnisse unserer Leser nach gesundheitlicher Verhaltenskorrektur besser treffen? […] Wo sind nach Meinung der Leser noch Wissenslücken, die wir gar nicht oder in viel zu geringem Maße mit den Beiträgen unserer Zeitschrift auffüllen?252
Die Reaktionen waren zahlreich und variierten hinsichtlich der Themen und Kritikpunkte sehr stark. Einige Zuschriften ließen in ihrer Deutlichkeit keine Zweifel offen. So äußerte sich ein anonymer Leser (G. Du.) aus Zittau eher negativ über die Kollagen, die er als „Mätzchen“ bezeichnete: „Wem gefällt denn so was? Die Gesundheit ist das Wichtigste im Leben und sollte seriös dargeboten werden!“ Besonders echauffierten ihn daher auch die vielen Nacktdarstellungen: Nichts gegen Nacktheit, aber nicht als Porno-Ersatz. So was bieten auch die sonstigen Illustrierten zur Genüge. Halten Sie unsere Bevölkerung nicht für so unreif, daß sie eine solche Zeitschrift, wie ‚Deine Gesundheit‘ nicht auch ohne solches Anreißertum liest!253
Andere Leser wiederum lobten gerade diese Mischung aus seriöser inhaltlicher Auseinandersetzung mit humorvoller und aufgelockerter Einrahmung und Gestaltung wie zum Beispiel die Leipzigerin Elsa S.: „Ich finde es wunderbar, daß Sie auch in einer immerhin ernsten Zeitschrift den Humor nicht zu kurz kommen lassen.“254 Der gleichen Meinung waren Gisela und Michael N. aus Warnemünde: „Ihr habt bei allem wissenschaftlichen Ernst, den viele Themen verlangen, nicht vergessen, die Leser humorvoll bzw. satirisch auf ihre Schwächen hinzuweisen.“ Und an Leser G. Du. adressiert ergänzten sie: „Wer diese nützlichen Bilder als ‚Mätzchen‘ auffaßt, hat den Sinn absolut nicht be-
250 Dieser Eindruck bestätigt sich durch Buddes Vermerk auf ein nicht realisiertes Vorhaben aus dem Jahr 1962: Mit dem geplanten Erscheinen einer neuen, großen Frauenzeitschrift sollte Deine Gesundheit zu den acht Publikationen gehören, die nach deren Erscheinen eingestellt werden; vgl. Budde (2000), S. 616. 251 Leserbriefe an DDR-Tageszeitungen wurden zum überwiegenden Teil von Männern verfasst; vgl. Bos (1992), S. 218. 252 Deine Gesundheit H. 1 (1978), S. 2. 253 Deine Gesundheit H. 6 (1978), S. 187. 254 Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 338.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
griffen. Uns gefällt ‚so was‘ sehr!“255 Ähnlich positiv bewertete Frau Dörte P. aus Berlin die „aufgelockerte Gestaltung Ihrer Zeitschrift“ und wollte insbesondere „die ‚Fotomontagen‘ nicht missen“. Zudem verwies sie auch noch auf deren Wirkung: „Auf meiner Arbeitsstelle hängen viele dieser Doppelseiten in den Zimmern, jedem zur Warnung oder zum Nachdenken.“256 Auch das Aufgreifen seltener und heikler Themen wurde sehr begrüßt. Zu einem Artikel über psychisch Kranke bemerkte die Rostocker Leserin Kerstin F.: „Es ist gut, daß Sie solche Dinge auch ansprechen.“257 Renate B. aus Dresden bedankte sich für einen Beitrag über Körperbehinderte: „Ich bin dankbar, daß Sie den Mitmenschen nahegelegt und erklärt haben, daß Körperbehinderte genauso denken und fühlen wie Gesunde und die gleichen Wünsche und Träume haben.“258 Interessanterweise machte ein Leser aber auch auf die Dominanz der Expertenbeiträge aufmerksam und regte zur Einbeziehung der Patientensicht an. Oswald P. aus Zschornewitz betonte zwar, dass er viel aus der Zeitschrift gelernt habe und sein Interesse auch in Zukunft nicht erlahmen werde, ihm sei jedoch aufgefallen, daß fast alle Beiträge von Experten (Medizinern) veröffentlicht werden. Könnten nicht einmal Artikel von Patienten erscheinen, welche den gegebenen Hinweisen nachkamen und ihre Erfahrungen dem Leserkreis zugänglich machen?259
Diese Beobachtung weist auf einen problematischen Gesichtspunkt der Gesundheitserziehung in der DDR hin – nämlich die fehlende Einbeziehung der Bevölkerung beziehungsweise die Nichtachtung und teilweise Behinderung der „potentiellen Kräfte individuellen und kollektiven Handelns“260, auf die später in der Arbeit noch ausführlicher eingegangen wird. Mehrere Leserinnen und Leser brachten der Wirksamkeit der gesundheitserzieherischen Maßnahmen – der DDR-Gesundheitspolitik insgesamt, aber auch der angewandten Methoden in Deine Gesundheit – eine gewisse Skepsis entgegen. So warf beispielsweise Günther B. aus Blankenhain in seinem Leserbrief einige provozierende Fragen auf: Denn es kommt mir immer wieder die Frage: ‚Wozu? Hat es denn überhaupt Sinn und Zweck?‘ Ihre Zeitschrift wird – so im Impressum vermerkt – herausgegeben vom ‚Nationalen Komitee für Gesundheitserziehung der DDR‘. Müßte ein solches Komitee nicht sehr viel offensiver an Förderung und Erhaltung der Gesundheit aller Bürger herangehen? Und müßte die Arbeit einer Zeitschrift eines solchen Komitees nicht eben auch offensiver sein oder werden? Vergleichen Sie einmal mit der Arbeit des ‚Nationalen Olympischen Komitees der DDR‘! Was wird an Wirksamkeit entfaltet und durchgesetzt! Und dann vergleichen Sie einmal damit ‚Ihr‘ Komitee und ‚Ihre‘ Zeitschrift!261
255 256 257 258 259 260 261
Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 338. Ebenda. Deine Gesundheit H. 5 (1988), S. 22. Ebenda. Deine Gesundheit H. 6 (1978), S. 187. Berndt (1991), S. 190. Deine Gesundheit H. 6 (1978), S. 186.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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Auf diese Zuschrift reagierten wiederum die Leser Ruth und Heinz P. aus Tharandt, indem sie bemerkten, dass „wir uns beim besten Willen nicht vorstellen können, wie eine Zeitschrift ihre Ziele und Aufgaben noch offensiver gestalten könnte, […]“.262 Auch in vielen anderen Einsendungen zeigt sich ein reger Austausch nicht nur zwischen Leserschaft und Redaktion, sondern auch zwischen den Lesern untereinander. Die Frage Misgelds nach den Themenkomplexen, mit denen die Bedürfnisse der Leser noch besser befriedigt werden könnten, beantworteten viele von ihnen mit dem Schutz der Gesundheit der Nichtraucher. Die energischen Bemerkungen der Leser hatten die Redaktion 1988 dazu veranlasst, erneut über das Thema zu berichten und hierbei vor allem die moralische Aufwertung des Nichtrauchens in den Vordergrund zu stellen.263 Diese Argumentationen der Leser werden in Kapitel 3.1.2 wieder aufgegriffen. Einige Zuschriften thematisierten auch das Verhältnis der Geschlechter in der Zeitschrift – insbesondere unter dem Aspekt der Dominanz der Frauenthemen sowie der Abbildungen von Frauen. Regina M. aus Bernburg wandte sich im Namen ihres Kollektivs (vorwiegend Frauen) an die Redaktion und äußerte sich zu den zahlreichen Bildern nackter Frauenkörper: Wir sind nicht der Meinung, daß der weibliche Körper fast in jeder Zeitschrift in irgendeiner Weise nackend dargestellt werden muß. Es gibt auch Krankheiten und Maßnahmen, die in gleicher Hinsicht auch Männer betreffen (Abhärtungsmaßnahmen oder Hygiene). Sicher ist der weibliche Körper anziehender, aber die ‚Gesundheit‘ soll doch sicher kein ‚Magazin‘264 sein.265
Leser Erwin K. aus Bad Lausick pflichtete Regina M. bei; auch er war der Ansicht, „…daß die häufige Darstellung des weiblichen Körpers nicht aus sachlichen Gründen, d. h. zur Erläuterung wichtiger Beiträge nötig ist.“266 Der bereits erwähnte anonyme Leser G. Du. aus Zittau, der sich ebenfalls kritisch zu den Nacktbildern geäußert hatte, sprach sich in einem weiteren Brief für die stärkere Berücksichtigung der männlichen Bürger aus: Ich bin der Meinung, daß man über das Geschlecht des Menschen nie zu viel weiß und daß Ihre Zeitschrift noch nicht genug darüber informiert hat. Meistens wurde über das weibliche Geschlecht gesprochen. Männer gibt es doch auch! Welche Krankheiten gibt es denn beim männlichen Geschlecht? Wo machen sie sich bemerkbar? Wie kann man sie verhüten? Solches zu zeigen wäre bestimmt kein Fehler […].267
Dass inzwischen auch zahlreiche Männer zu den Lesern von Deine Gesundheit zählten, die dem sicherlich zugestimmt hätten, zeigen viele weitere Zuschriften. Auch Leser J. S. aus Müritz (aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mann) be262 Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 338. 263 Deine Gesundheit H. 10 (1988), S. 2. 264 Hiermit ist das DDR-Unterhaltungsjournal „Das Magazin“ gemeint, das in jedem Heft ein Aktbild abdruckte und sich unter anderem deshalb großer Beliebtheit in der DDRBevölkerung erfreute. 265 Deine Gesundheit H. 2 (1982), S. 61. 266 Deine Gesundheit H. 6 (1982), S. 189. 267 Deine Gesundheit H. 6 (1978), S. 187.
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richtet davon, dass in seinem Montagekollektiv die Beiträge der Zeitschrift von den Kollegen gelesen werden (bei der NVA hingegen kannten viele Genossen die Zeitschrift nicht oder dachten, es wäre eine Fachzeitschrift).268 Die Leserinnen und Leser machten rege von der Aufforderung Gebrauch, ihre Wünsche und Anregungen zu bisher marginal beleuchteten Themen oder zur Informationsgestaltung vorzubringen. Den meisten Briefen kann man entnehmen, dass Deine Gesundheit als informative, allgemein verständliche, seriöse Zeitschrift wahrgenommen wurde und vielen Menschen als Anleitung und Anregung zum Nachdenken diente. Dies wurde aber gerade auch durch die moderne und aufrüttelnde Aufmachung erreicht, was die Aussagen der zuvor zitierten Elsa S. sowie Gisela und Michael N. belegen: Erstere war der Ansicht, dass der Humor der Zeitschrift „kein zu unterschätzender Vorteil in puncto Gesundheit“ sein dürfte und Letztere bestätigten den Fotomontagen, plakativen Darstellungen und sonstigen Fotos eine „ungeheure[…] Aussagekraft“.269 Insofern war sicherlich der Großteil der Leser dankbar oder erachtete es geradezu als Notwendigkeit, dass seit Mitte der 1970er Jahre nicht mehr „Holzhammermethoden“ und der mahnende Zeigefinger den Stil des Blattes bestimmten, sondern „Witz und Intelligenz“, aber auch Satire und Provokation. 2.3.1.3 Propagierte Geschlechterleitbilder Die eben schon angeschnittenen Ausführungen zur Geschlechterthematik werden im Folgenden in einer tiefergehenden Analyse fortgesetzt. Dabei wird untersucht, inwiefern sich die Bilder und Themen der Zeitschrift entweder eindeutig auf jeweils ein Geschlecht bezogen haben beziehungsweise ein Geschlecht gezielt adressiert haben oder diesen Aspekt nur implizit beziehungsweise gar nicht berücksichtigten. Darüber hinaus werden auch die gesellschaftlichen Botschaften, die sich dahinter verbargen, aufgezeigt: Welche Erwartungen und Anforderungen an männliches und weibliches Gesundheitsverhalten transportierte Deine Gesundheit über bestimmte Formulierungen und Illustrationen? Welche Gesundheitspraktiken dachte man Frauen und welche Männern zu und aus welchem Grund? Wie bereits deutlich wurde, zählten Frauen in den Anfangsjahren der Zeitschrift zur bevorzugten Zielgruppe und waren somit auch häufig auf den Titelbildern und sonstigen Fotos abgebildet. Interessant sind sowohl die Themen und Bereiche, die man als spezifisch weiblich erachtete, als auch die Aufgabenverteilung, die den Frauen im Privaten und in der Gesellschaft zugedacht wurde, und wie sich dies in den Artikeln und auf den Abbildungen niederschlug. In den 1950er und 1960er Jahren war das Bild der Frau – trotz gesetzmäßiger Gleichstellung und Bemühungen der Politik, Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren – noch recht konservativ und an traditionellen Vorstel268 Deine Gesundheit H. 4 (1982), S. 109. 269 Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 338.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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lungen orientiert. Die häufige Thematisierung von Kinder- und Jugendthemen in einer vor allem an Frauen adressierten Zeitschrift verweist auf die vorrangige Rolle der Frau als Mutter und Erziehungsverantwortliche. Sie sollte sich um die erkrankten Kinder oder die vorbeugenden Schutzimpfungen kümmern. Ansonsten standen modische und kosmetische Themen im Vordergrund („Mode, Schuh und Frau“270, „Kosmetik im Sommer“271, „Sonnenbaden ohne Schaden“272). Frauen wurden auch bei der Arbeit dargestellt – aber selbst hier lag der Fokus eher auf dem äußeren Erscheinungsbild (hübsch zurechtgemacht an der Schreibmaschine oder mit gepflegten Händen beim Betätigen einer Werksmaschine273). Erst im Vergleich mit abgebildeten Männern fällt auf, dass diese stets bei harter, körperlicher Arbeit oder in verantwortlichen Positionen gezeigt wurden – Frauen hingegen überwiegend im häuslichen Bereich oder in assistierender Funktion. Demensprechend tauchten auf den Fotos zu den Themen Stress, Kopfschmerzen oder Schlafstörungen fast ausnahmslos Männer auf. Die häuslichen Pflichten wie Kochen und Putzen wurden dagegen eher implizit, aber doch ziemlich selbstverständlich dem weiblichen Aufgabenfeld zugeschrieben. In dem Leitartikel „Mehr Hilfe für die berufstätige Frau“274 wurde dann auch auf die Problematik der „noch nicht vermeidbare[n] Doppelbelastung der Frau“275 hingewiesen und von den männlichen Lesern gefordert, „der berufstätigen Frau die Sorgen und Nöte des Alltags abzunehmen“276. Die Anleitung dazu wurde den Männern in einer Bilderserie an die Hand gegeben: Abgebildet waren beispielsweise ein Vater, der sein Kind in die Krippe bringt, oder ein Mann, der Kartoffeln schält (während die Frau am Herd kocht) und ihr später in den Mantel hilft (Unterzeile: „Dieser Ehemann ist vorbildlich. Erst hilft er ‚ihr‘ in der Küche und später in den Mantel, um gemeinsam auszugehen“). Auch ein negatives Beispiel wurde den Lesern präsentiert, nämlich der „Hauspascha“, der mit der FeierabendZigarre zuschaut, „wie Mutti schafft“. Der Autor bemerkte, dass die häusliche, familiäre und berufliche Belastung, die sich negativ auf die Gesundheit der Frauen auswirkte, weil sie deren körperliche und seelische Kräfte aufzehrte, bisher wenig beachtete Zusammenhänge seien.277
270 271 272 273 274 275
Deine Gesundheit H. 1 (1955). Deine Gesundheit H. 2 (1955). Deine Gesundheit H. 4 (1958). Zu sehen auf einem Bild zum Artikel „Raue Hände“, in: Deine Gesundheit H. 2 (1956). Deine Gesundheit H. 2 (1958), S. 3–5. Ebenda, S. 3. Erst die Entwicklung des Staates „zum Sozialismus wird auch die Frau immer mehr von ihrem jahrhundertealten Stammplatz in der Waschküche oder am Putzeimer loslösen und ihr die ihr zustehende unabhängige Stellung verschaffen.“ 276 Ebenda, S. 5. 277 Ebenda, S. 4 f. Der Verfasser thematisierte aber nur deshalb diese Zusammenhänge, um auf die Hauptproblematik der Gesunderhaltung der werktätigen Frau aufmerksam zu machen, nämlich „die Erhaltung der Fähigkeit, Kinder zur Welt zu bringen“ (S. 5).
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Wenig beachtet blieben sie auch, denn in den 1960er Jahren verschwanden derlei Hinweise auf Beschwerden und Alltagssorgen der Frauen fast völlig hinter der Fassade gepflegter und unbeschwerter Bikinischönheiten oder beseelt lächelnder Mütter. Die Themen Gymnastik, Ernährung, Kosmetik sowie ästhetische Medizin standen zu Beginn der 1960er Jahre sehr hoch im Kurs; am Ende des Jahrzehnts dann die Bereiche Ehe und Sexualität, Schwangerschaft und Kindererziehung (1968 hatte das Stichwort „Säugling“ die meisten Eintragungen im Register). Die dazugehörigen Abbildungen zeigen überwiegend Frauen: Frauen, die sich schminken oder die ihren Körper bräunen, Frauen bei der Küchenarbeit, angelehnt an den Partner oder vor einem Kinderwagen sowie turnende Frauen. Das Thema Gymnastik wurde zu dieser Zeit nicht mehr vorrangig unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Ertüchtigung betrachtet – in den vorherigen Jahrgängen stand noch die aktive Erholung während der Arbeitszeit im Vordergrund, zudem waren auch Männer bei der Pausengymnastik zu sehen –, sondern eher in Hinblick auf Körperformung und eine schlanke Linie. Männer wurden weiterhin selten und wenn, dann bei der Arbeit sowie beim Rauchen und in Beiträgen über Herzerkrankungen (Abb. 5) abgebildet. Frauen spielten in der Berufswelt erneut eine Nebenrolle. In der Hauptsache ging es darum, dass sie gut gekleidet und nett anzusehen waren. In den 1970er Jahren begannen die stereotypen und dichotomen Geschlechterdarstellungen in den Hintergrund zu treten, zumindest innerhalb der häuslichen und beruflichen Sphäre. Bei den Gesundheitsthemen hingegen zeigte sich weiterhin eine eher ‚klassische‘ Geschlechterverteilung, aber auch diese wurde langsam durchbrochen. Frauen, die 1972 immer noch der stärkere, aber nicht mehr der ausschließliche Bezugspunkt waren, wurden hauptsächlich bei den Themen Kinder und Kindererziehung, Krebs (Genital- und Brustkrebs) und im Kontext von Tablettenmissbrauch adressiert. Die Illustration zu dem Artikel „Mißbrauch wird bestraft“278 zeigt einen nackten Frauenkörper von hinten, bei dem sich an Stelle der Nieren zwei Tablettenhälften befinden. Nach einer Reihe allgemeiner Ansprachen wie „zu viele Menschen“ oder „dem einen oder anderen“, wird das weibliche Geschlecht dann explizit hervorgehoben: „Während sich Frau X nach Einnahme zweier Tabletten nun endlich vom Zahnschmerz befreit in einen Roman vertieft […]“.279 Ein historisches Beispiel aus der Schweizer Uhrenindustrie der Nachkriegszeit, das auf die Hintergründe und Kontinuitätslinien des erhöhten Tablettenkonsums von Frauen verweisen soll, enthält altbekannte Untertöne zur weiblichen Labilität und Nervenschwäche: „Meist handelte es sich um Frauen, die durch höchste Konzentration beanspruchende feinmechanische Arbeiten besonders nervlich belastet waren.“280 Artikel zu den Themenbereichen Alkohol und Herzerkrankungen281 wurden 278 279 280 281
Deine Gesundheit H. 11 (1972), S. 332 ff. Ebenda, S. 333. Ebenda. Auch in epidemiologischen Studien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen lag der Fokus auf männlichen Probanden. Frauen hingegen wurden aus diesem Diskurs nahezu vollständig
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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Abb. 5: Fotoseite zum Artikel „Nach dem Herzinfarkt“, Deine Gesundheit H. 10 (1972), S. 308.
hingegen ausschließlich mit Fotos von Männern gestaltet. Eindeutiger Bezug zum männlichen Geschlecht wurde auch in Beiträgen über Gefahren (Artikel „Mut oder Leichtsinn?“282) sowie in Hinblick auf Gedächtnisleistungen (das Titelbild zum Thema „Gedächtnistraining“ zeigt einen Männerkopf von oben) hergestellt. Ansonsten richteten sich Ausführungen zur Bewegung oder zur Ernährung häufig an beide Geschlechter oder wurden geschlechtsneutral formuliert und meist durch Zeichnungen oder Sachgegenstände illustriert. Selbst Familienthemen und Beiträge zu Ehe und Sexualität waren zunehmend an Männer und Frauen adressiert, ebenso die Bereiche Vorsorge und Früherkennung. Ende der 1970er Jahre verschob sich der Fokus dann noch stärker von einseitigen Geschlechterdarstellungen hin zu größerer Vielfalt und wirklichkeitsnäheren Zwischentönen. Männer wurden deutlich häufiger auf die Titelblätter gebracht – wie bereits erwähnt gleich zu Beginn des Jahres dreimal in ausgeblendet, obwohl Kardiologen immer wieder eine differenzierte Geschlechteranalyse im Bereich der koronaren Herzkrankheiten gefordert hatten. Siehe dazu ausführlich Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013). 282 Deine Gesundheit H. 7 (1972), S. 202.
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Folge (zu den Themen Bewegungsapparat, Homosexualität und Bluthochdruck). Auch Beiträge zu Krebserkrankungen wurden inzwischen mit Männern illustriert283 – demgegenüber wurden Frauen auch als Raucherinnen wahrgenommen284. Besonders aufschlussreich ist ferner die Darstellung eines jungen Vaters im bunten Blumenhemd, der liebevoll sein Kleinkind füttert (Abb. 6). Bisher tauchten Männer so gut wie gar nicht in der Rolle des Vaters auf; wenn, dann distanziert und eher unbeholfen in der Funktion des berufstätigen Ernährers285 und nicht hingebungsvoll bei der alltäglichen und mühevollen Pflege des Nachwuchses. Diese Entwicklung entsprach dem in den 1970er Jahren einsetzenden Väterdiskurs, der das hegemoniale Männlichkeitsbild herausforderte und in den 1980er Jahren ein neues Leitbild prägte, das von Emotionalität und Verantwortung für die Familie bestimmt war.286 Der Kurs der 1970er Jahre setzte sich auch im darauffolgenden Jahrzehnt weiter fort. Frauen wurden jetzt häufiger bei der Arbeit und beim Rauchen abgebildet, Männer auch beim Thema Konflikte („Irrwege Konflikte Auswege“287). Sogar das Themenheft „Möglichkeiten der Kosmetik“288 wollte bewusst auch „das starke Geschlecht ansprechen“, da „regelmäßige Gesichtsund Körperpflege auch jeden Mann angeht“289. Den Wünschen einiger Leser, das männliche Geschlecht stärker zu berücksichtigen, wurde hier anscheinend entsprochen. In dem Artikel „Pflegefall Mann?“ wurde darauf verwiesen, dass „auch Männer altern, wenn sie nicht Kosmetik – das heißt regelmäßig Körperpflege – betreiben“ und auch ein Männergesicht „nach einem anstrengenden Arbeitstag, einer langen Reise oder einer strapaziösen Nacht fahl, müde, abgespannt und schlaff“ wirkt. Beim Thema Kosmetik wären nach Meinung der Verfasserin Barbara Molitor noch Vorstellungen aus einer patriarchalischen Zeit vorherrschend, nämlich dass der Mann diese nicht nötig habe. Molitor vertrat demgegenüber die Ansicht, dass Natürlichkeit und Gepflegtheit als Teil einer gesunden Lebensweise „Mann und Frau gleichermaßen“ beträfen.290 Spezielle Rubriken existierten weiterhin eher für Frauen („Die weibliche Brust“291) – insgesamt wurde den Männern als Zielgruppe aber deutlich mehr 283 So z. Bsp. das Titelblatt der Maiausgabe von 1978 „Krebs – Wachstum, das den Rahmen sprengt“. 284 In dem Artikel „Imponierstengel“ im Novemberheft 1978 ist die Rede vom „14jährige[n] Sohn“ oder der „15jährige[n] Tochter“, die das Rauchverbot der Eltern heimlich umgehen (S. 325); im gleichen Heft wird auf einem ganzseitigen Foto eine junge Frau mit Blumenstrauß gezeigt, die eine Zigarette raucht (S. 329). 285 Zu sehen auf einem Bild in einem Artikel über die Senkung der Müttersterblichkeit: Die Säuglingsschwester hält das Neugeborene hinter einer Glasscheibe dem Vater entgegen; der Vater – in weißem Hemd und schwarzem Anzug – betrachtet es „noch etwas skeptisch“, wie es in der Bildunterzeile heißt, in: Deine Gesundheit H. 2 (1968), S. 36. 286 Näheres dazu in Kapitel 2.2.3.2 sowie bei Scholz (2010) und Schochow (2012). 287 Deine Gesundheit H. 9 (1988). 288 Deine Gesundheit H. 9 (1982). 289 Ebenda, S. 322. 290 Ebenda, S. 331. 291 Deine Gesundheit (1988).
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
105
Abb. 6: Fotoseite zum Artikel „Das erste Jahr“, Deine Gesundheit H. 4 (1978), S. 103.
Platz eingeräumt als in den Anfangsjahren der Zeitschrift. Dies betraf allerdings nicht die Abbildungen nackter Körper, die seit den 1970er Jahren vermehrt zum Einsatz kamen.292 In diesem Bereich wurde sehr viel offensiver und aufreizender das weibliche Modell in Szene gesetzt. Hin und wieder tauchten auch nackte Männer auf (neben oder hinter einer Frau beim Thema Liebe und Sexualität oder auch einzeln wie zum Beispiel auf dem Titelbild zum Bewegungsapparat293). Nackte Frauenkörper waren jedoch sehr viel häufiger und zumeist in reizvoller Pose zu sehen (beispielsweise auf dem Titelblatt zum Thema „Totaloperation“294 oder in der Rubrik „Die weibliche Brust“295), was die folgende Tabelle (Tab. 2) eindeutig belegt. 292 Diese Entwicklung deckt sich mit den Befunden Ina Merkels zur allmählichen Sexualisierung des Frauenkörpers in der DDR in den 1970er Jahren. Auch die Aktfotos im Unterhaltungsjournal Das Magazin unterlagen beispielsweise einer zunehmenden Erotisierung. Merkel macht hier eine Abwendung vom sozialistischen Gegenentwurf der Nacktdarstellung als unerotischer Kunstform und eine Hinwendung zu westlichen Lebensmustern und Sittlichkeitsvorstellungen aus; vgl. Merkel (1995). 293 Deine Gesundheit H. 1 (1978). 294 Deine Gesundheit H. 4 (1982). 295 Deine Gesundheit H. 7 (1988), S. 20.
106
2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
Tab. 2: Anzahl weiblicher und männlicher Abbildungen in Deine Gesundheit zu ausgewählten Themenbereichen nach Jahrzehnten296297 Themenfelder
weiblich
männlich
50er
60er
70er
80er
50er
60er
70er
80er
Schönheit, Kosmetik
9
16
0
4
1
0
0
2
Kinder, Ehe, Sexualität
6
8
15
6
1
4
9
3
Krebs
1
0
3
0
1
1
1
0
Rauchen
0
0
1
3
0
1
1
3
Alkohol
0
0
0
0
1
3
1
0
Ernährung
1
0
1
0
0
0
2
1
Sport
2
9
0
0
1
0
0
0
1
3
10
11
2
1
4
1
nackte
Körper297
Insgesamt gesehen bediente Deine Gesundheit die offizielle geschlechterneutrale Ausrichtung der Gesundheitspolitik und vermittelte populärmedizinisches Wissen an die sozialistische Persönlichkeit. Die meisten Beiträge wurden mit Comics, Fotos von Kindern oder Gegenständen illustriert und richteten sich nicht gezielt an das weibliche oder männliche Geschlecht. Geschlechterspezifische Normen und Botschaften waren dennoch über den gesamten Erscheinungszeitraum der Zeitschrift deutlich wahrnehmbar. In vielen Artikeln und Illustrationen wurden – zumeist implizit – gesellschaftspolitische Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter zueinander sowie Anforderungen an den weiblichen oder männlichen Körper transportiert. Die Darstellungen von Männern und Frauen der 1950er und 1960er Jahre waren überwiegend geprägt durch Einseitigkeit und starre Zuordnungen. Frauen waren in die private Sphäre, Männer in die berufliche eingebettet. Dementsprechend wurden Frauen weiterhin als Erziehungsverantwortliche und ‚Hygienebeauftragte‘ adressiert – wie schon in den Gesundheitsratgebern des 18. und 19. Jahrhunderts – und als fürsorglich und gesundheitsbewusst präsentiert. Die DDR-Frauen sollten aber nicht nur gesund, sondern auch schön und schlank sein, worauf die überwiegend weiblichen Abbildungen zu den Themen Schönheit, Kosmetik, gesunde Ernährung und Gymnastik einen Hinweis geben. Die DDR-Männer wurden hingegen immer mit Arbeit und Leistung, aber auch Risiko und Mut in Verbindung gebracht. Wurden sie anfangs noch in positivaktivierenden Bildmotiven in Szene gesetzt, die Abhärtung und die Steige296 Ausgewertet wurden auch hier die zu Jahrzehnten zusammengefassten Samplejahre, gezählt nur Abbildungen, die eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuzuordnen waren. Das gesamte Bildsample setzte sich aus ca. 1.050 Abbildungen zusammen. 297 In den 1950er und 1960er Jahren waren die Personen auf den Fotos immer nur halbnackt zu sehen (in Badebekleidung am Strand, mit freiem Oberkörper beim Sport). Seit den 1970er Jahren wurden fast ausschließlich vollständig nackte Körper auf den Fotos abgebildet.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
107
rung der Arbeitsfähigkeit symbolisierten (beispielsweise bei der Pausengymnastik), ging es später nur noch um die Gefahren und Risikofaktoren, denen sie ausgesetzt waren oder sich aussetzten wie berufsbedingte Belastungen beziehungsweise reichhaltiges Essen, Alkohol und Zigaretten. Den obstessenden, sich pflegenden Frauen wurden daher häufig trinkende oder dickbäuchige Männer gegenübergestellt. Mit der Etablierung des Risikofaktorenmodells traten Männer stärker als Adressaten der Gesundheitserziehung in Erscheinung. Seit Ende der 1970er Jahre löste sich diese Geschlechterdichotomie langsam auf; es wurde nicht mehr kategorisch zwischen ‚typisch weiblichen‘ und ‚typisch männlichen‘ Gesundheitsthemen und -gefahren unterschieden. Männer wurden auch in ihrer Rolle als Väter wahrgenommen und beim Yoga oder mit Gurkenmaske abgebildet, Frauen auch als Raucherinnen und ungeschminkt dargestellt. Dieser Wandel lässt sich vermutlich ebenfalls mit den bereits beschriebenen Veränderungen in der Redaktion der Zeitschrift erklären. Die neue Generation von Mitarbeitern und vor allem Mitarbeiterinnen brachte scheinbar auch andere Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit mit und in die redaktionelle Arbeit ein. Im Folgenden soll überprüft werden, ob sich ähnliche Entwicklungen auch in anderen (Gesundheits-)Medien abzeichneten. 2.3.2 Werftecho Betriebszeitungen fungierten in der DDR als Führungsinstrument der Betriebsparteiorganisationen der SED für die politisch-ideologische Arbeit und sollten unter anderem auf die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der werktätigen Bevölkerung einwirken.298 Den obersten Gesundheitserziehern der DDR zufolge waren sie zudem […] besonders geeignet, um auf die Werktätigen im Zusammenhang mit den konkreten Arbeitsbedingungen gesundheitserzieherischen Einfluß zu nehmen und ihre Aktivität für wirksame Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes zielgerichtet zu entwickeln.299
Angesichts des regionalen Schwerpunkts der Arbeit – sowie der guten Überlieferungssituation des Untersuchungsmediums – soll im Folgenden die Betriebszeitschrift Werftecho des Rostocker VEB Schiffswerft Neptun stellvertretend für die beträchtliche Zahl an DDR-Betriebszeitungen300 untersucht werden. Dabei geht es vor allem um die Frage, welchen Anteil Themen der Ge298 Diskussionsbeitrag „Gesundheitserziehung durch Betriebszeitungen“ von F. Erler für die V. Nationale Konferenz für Gesundheitserziehung „Sozialistische Arbeitskultur und Gesundheit“ 1973 in Magdeburg, in: BArch, DQ 113/14, unfol. 299 Mecklinger et al (1974), S. 19. 300 1973 existierten in der DDR ca. 600 Betriebszeitungen in Betrieben mit mindestens 1.000 Beschäftigten; Diskussionsbeitrag „Gesundheitserziehung durch Betriebszeitungen“, in: BArch, DQ 113/14, unfol.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
sundheitserziehung ausmachten und mit welcher geschlechterspezifischen Ausrichtung sie präsentiert wurden. Das Werftecho (zwischenzeitlich auch Werft-Echo) existierte von 1949 bis 1991 und wurde von der SED-Betriebsgruppe der Neptunwerft herausgegeben. Die Zeitung erschien zunächst zweimal im Monat, dann wöchentlich auf vier bis acht Seiten zu einem Preis von fünf bis zehn Pfennigen. Äquivalent zur Untersuchung von Deine Gesundheit werden (nahezu) die gleichen acht Jahrgänge ausgewertet: 1951/52, 1958, 1962, 1968, 1972, 1978, 1982 und 1988. Die Neptunwerft wurde bereits 1850 als Schiffswerft und Maschinenbauanstalt gegründet.301 Im Mai 1945 hatte das Unternehmen eine Belegschaftsstärke von 4.423 Personen, davon – kriegsbedingt – etwa ein Viertel Frauen. Von 1946 bis Mitte der 1950er Jahre stieg die Zahl der Arbeiter enorm an, darunter waren jedoch kaum Frauen.302 Werftarbeit galt weiterhin als harte und daher für Frauen ungeeignete Arbeit. Langsam kletterte der Anteil der Frauen zwar von etwa sieben Prozent im Jahr 1949 auf gut 17 Prozent im Jahr 1956. Die meisten von ihnen waren jedoch Angestellte auf der unteren Ebene; höhere Hierarchieposten wurden nur ganz selten mit weiblichen Kräften besetzt.303 Im April 1948 wurde die Betriebspoliklinik der Werft eröffnet, in der zunächst vier Ärzte, zwei Zahnärzte, ein Pfleger, eine zahnärztliche Helferin, eine Schwester, zwei medizinisch-technische Assistenten und eine Krankengymnastin tätig waren.304 Die Mitarbeiter der Poliklinik veröffentlichten immer wieder Beiträge im Werftecho, vorrangig in den Rubriken „Ratschläge unseres Chefarztes“ oder „Dein Betriebsarzt rät“. 1958 wurde eine Sonderausgabe zum zehnjährigen Bestehen der Betriebspoliklinik publiziert. Im Ganzen betrachtet nahmen gesundheitliche Themen dennoch einen eher geringen Umfang in der Zeitschrift ein. Etwa einmal pro Monat stößt man auf einen Artikel mit Gesundheitsbezug, zumeist auf den hinteren Seiten und in sehr kleinem Format. Im Laufe der Jahre veränderten sich Umfang, Inhalt und Sprachstil der Beiträge. In den 1950er und 1960er Jahren wurde der Gesundheitserziehung noch deutlich mehr Raum gegeben als in den 1970er und 1980er Jahren. Das Hauptaugenmerk richtete sich in den Anfangsjahren auf den Arbeitsschutz und die Arbeitsbedingungen im Betrieb, wobei die Verantwortung der Betriebsleitung und der Gewerkschaft für den Gesundheits- und Arbeitsschutz hervorgehoben wurde. Auf die Teilnahme an den Röntgenreihenuntersuchungen und den Krebsvorsorgeuntersuchungen für Frauen wurde ebenso energisch hingewiesen wie auf die Einhaltung von Hygiene-, Ordnungs- und Sauberkeitsstandards im Betrieb. Der Tonfall war zu dieser Zeit 301 Vgl. Alheit/Haack (2004), S. 37. 302 Im Zuge der Ableistung der Reparationsverpflichtungen für die Sowjetunion (von 1946 bis 1952 war die Neptunwerft ein SAG-Betrieb) erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten von knapp 3.000 zu Beginn des Jahres 1947 auf ca. 8.600 Ende des Jahres 1954; vgl. Haack (1999), S. 573 f. 303 Vgl. Haack/Meyer-Braun (1998), S. 254 f. 304 Vgl. 20 Jahre (1968), S. 5.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
109
sehr disziplinierend und belehrend: Die Werktätigen wurden „ermahnt“, Vorschriften und Termine einzuhalten und an ihre „Pflicht“ zur Gesunderhaltung erinnert. Besonders mit Rücksicht auf die Familie und die Kollegen sollte man „keine Schuld“ auf sich laden, indem man Untersuchungen versäumt und die Umgebung mit ansteckenden Bazillen gefährdet.305 Auch fürs richtige Essen gab es klare Anweisungen, zum Beispiel „Kaue sorgfältig!“ oder „Esse nicht zu spät am Abend!“.306 Seit den 1970er Jahren war dann zunehmend von Wahlmöglichkeiten und Eigenverantwortung die Rede. Zudem wechselte man in die höflichere und respektvollere Sie-Form als Ansprache in den Artikeln. Es ging nun vorrangig um die eigene Gesundheit, die die Beschäftigten schützen sollten, und dies möglichst durch Aktivitäten, die selbständig zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit durchgeführt werden können. Auch hier machte sich wieder der Trend zur stärkeren Thematisierung des Gesundheitsverhaltens anstatt der Gesundheitsverhältnisse bemerkbar. Die Themenvielfalt war im Laufe der Zeit breiter und allgemeiner geworden: Neben Erkältungskrankheiten und allgemeinen Gesundheitsaspekten (Frühjahrsmüdigkeit, Fußpflege, Darmerkrankungen) sowie sportlichen Übungen307 und Kuren fanden auch die Themen Rauchen (seit Mitte der 1960er) und Alkohol (seit den 1970er Jahren) mehr Beachtung. Inhalt und Umfang der Artikel nahmen in den 1980er Jahren jedoch noch weiter ab – am Ende ging es nur noch um routinemäßige Hinweise zum Blutspenden sowie zu den jährlich anstehenden Grippeschutzimpfungen und Sportfesten. Die Möglichkeit, durch die thematische Ausrichtung der Beiträge auf die spezifischen Arbeitsbedingungen und gesundheitliche Situation des Betriebes gesundheitserzieherisch tätig zu werden und zielgerichtete Gesundheitspropaganda in der Betriebszeitung zu verbreiten, wurde auch in anderen Betriebszeitschriften kaum genutzt. Die Analyse von Betriebszeitungen aus Dresden und Thüringen aus dem Jahr 1973 ergab, dass Beiträge aus dem Betriebsgesundheitswesen, der DRK-Arbeit, zu Problemen des Krankenstandes und zu Fragen des Gesundheitsverhaltens „nur sehr vereinzelt“ abgedruckt wurden.308 Unter dem Blickwinkel der Geschlechterspezifik lassen sich ebenfalls verschiedene Etappen im Werftecho ausmachen. Im gesamten Untersuchungszeitraum waren die Gesundheitsartikel überwiegend an die Werftangehörigen oder das Kollektiv und die Brigade adressiert. Auch die Themen waren so allgemein gehalten, dass sich sowohl die weiblichen als auch die männlichen Beschäftigten angesprochen fühlen konnten. Lediglich die Artikel zur Krebsprophylaxe richteten sich in den analysierten Jahrgängen ausschließlich an die Frauen der Werft, zumal die Untersuchungen vor Ort nur für Frauen angebo305 „Warum Scheu vor der Untersuchung?“, in: Werftecho Nr. 2 (1952), S. 7. 306 „Wie esse ich richtig?“, in: Werftecho Nr. 1 (1962), S. 4. 307 Siehe dazu die Abbildung auf dem Cover der Arbeit, die der Werftecho- Ausgabe Nr. 16 aus dem Jahr 1962 entstammt und zur „Ausgleichsgymnastik in jedem Betrieb“ aufruft. 308 Diskussionsbeitrag „Gesundheitserziehung durch Betriebszeitungen“ von F. Erler für die V. Nationale Konferenz für Gesundheitserziehung „Sozialistische Arbeitskultur und Gesundheit“ 1973 in Magdeburg, in: BArch, DQ 113/14, unfol.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
ten wurden309. Ganz explizit kommen in den 1950er Jahren aber auch die bekannten Bilder von der fürsorglichen Frau als ‚Hygienebeauftragte‘ und Verantwortliche für die Familie zum Tragen: In dem Artikel „Die Frau ‚seift‘ den Mann ein“ von 1952 wird Sauberkeit zur „unbestrittene[n] Domäne der Frau“ erklärt. Der Autor – ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin der Betriebspoliklinik – war der Ansicht, durch ihre Reinlichkeit würden die Frauen einen wichtigen Beitrag gegen Seuchen leisten und könnten somit auch auf ihre Kollegen einwirken, nicht ungewaschen in die Betriebspoliklinik zu kommen.310 Ein Artikel von 1958, der zur Teilnahme an den Krebsvorsorgeuntersuchungen aufruft, wurde mit der Überschrift versehen: „Sich der Familie zu erhalten, ist höchste Pflicht einer jeden Frau und Mutter“.311 Auch für die Frauen der Werft galt, dass sie als Berufstätige weiterhin auf die Rolle als Mutter und als Gesundheitsverantwortliche festgelegt waren. Männer wurden hingegen in keinem Gesundheitsbeitrag gezielt angesprochen. Jedoch fanden sie in den Berichten zu Verstößen gegen die Arbeitsschutzbestimmungen („Unser Sorgenkind – Der Mann mit (ohne) Brille“312) oder gegen die Krankenordnung313 deutlich häufiger Erwähnung als ihre weiblichen Kolleginnen. Auch im Zusammenhang mit Unfällen unter Alkoholeinfluss wurden fast ausnahmslos Männer angeführt. Ansonsten bestimmte die Vorstellung vom breitschultrigen, harten Werftarbeiter mit hochgekrempeltem Hemd, Mütze und Zigarette das Erscheinungsbild der Zeitschrift und blieb über den gesamten Untersuchungszeitraum bestehen. Demgegenüber haben sich die Motive und Zuschreibungen für Weiblichkeit stark verändert. In den 1960er Jahren wurde verstärkt die Gleichstellung der Frau thematisiert: Entsprechend der Qualifizierungsoffensive der SED und den Gesetzesinitiativen zur besonderen beruflichen Förderung der Frauen seit Beginn der 1960er Jahre314, befassten sich zahlreiche Artikel mit Vorurteilen gegenüber Frauenarbeit und kritisierten diejenigen Männer, die ihre Frauen nur in der Küche sehen wollten. Neben Sätzen wie „Alle Fähigkeiten und Talente der Frauen entwickeln“, „Die Frauen unserer Werft sind reich an guten Ideen“ oder „Auch die Hausarbeit ist unsere gemeinsame Sache“315 wurden allerdings weiterhin Tipps für den Haushalt gedruckt, die mit Bildern und Zeichnungen von Frauen illustriert waren. In den 1970ern und 1980ern wiederum verschwand die Frau als Arbeiterin gänzlich aus dem Blickfeld und wurde nur noch in knappen Kleidern und im Bikini zu Mode- und Schönheitsthemen abgebildet, später dann regelmäßig als nacktes ‚Pin-up‘ auf der letzten Seite der Zeitschrift. 309 Seit 1950 wurden in der Neptunwerft jährliche Reihenuntersuchungen auf Gebärmutterhalskrebs für alle Frauen ab 35 Jahren durchgeführt; vgl. „Warum Scheu vor der Untersuchung?“, in: Werftecho Nr. 2 (1952), S. 7. 310 Werftecho Nr. 9 (1952), S. 7. 311 Werftecho Nr. 51 (1958), S. 4. 312 Werftecho Nr. 13 (1951), S. 5. 313 „150 Heilkuren für die Werktätigen der Werft. Noch gibt es Verstöße gegen Krankenordnung“, in: Werftecho Nr. 13 (1972), S. 6. 314 Vgl. Trappe (2007), S. 245. 315 Werftecho Nr. 4 (1962), S. 1.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
111
Im Vergleich zu Deine Gesundheit fallen viele ähnliche Entwicklungen ins Auge, die mit gesellschaftlich propagierten Geschlechterkonzepten in Zusammenhang stehen. Die Einbindung der Frauen in die Erwerbssphäre und die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen wurde Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre auffallend oft thematisiert; dennoch oblag den weiblichen Arbeiterinnen weiterhin die Verantwortung für alle Bereiche der Hygiene. Danach wurden Frauen nur noch mit Schönheit, Mode und Kosmetik sowie Mutterschaft assoziiert. Seit Mitte der 1970er Jahre wurde der weibliche Körper zudem häufig nackt in Szene gesetzt. Werftarbeit korrespondierte zu dieser Zeit wieder deutlich stärker mit Männlichkeit. Damit in Zusammenhang stehen vermutlich auch die nahezu vollkommene Abwesenheit von Gesundheitsthemen im Werftecho in den 1980er Jahren einerseits sowie die zunehmende Geschlechterstereotypisierung andererseits. Hier ist ein auffallender Unterschied zwischen beiden Zeitschriften auszumachen, denn im Gegensatz dazu wurden Geschlechterdichotomien und -stereotype in Deine Gesundheit seit Mitte der 1970er Jahre deutlich aufgebrochen und auch Männergesundheitsaspekte berücksichtigt. In der Männerdomäne Werft blieben die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit hingegen sehr starr und wurden in einem von der SED-Betriebsgruppe herausgegebenen Organ (dessen Redakteure überwiegend männlich waren) nicht in Frage gestellt. Als weitere Erklärung für diese ‚Remaskulinisierung‘ seit den 1970er Jahren könnte die durch die zunehmende weibliche Erwerbstätigkeit und ökonomische Unabhängigkeit der Frauen ins Wanken geratene Ernährerrolle der Männer316 angeführt werden, die hier in Bild und Wort kompensatorisch aufrecht erhalten werden sollte. 2.3.3 Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender Gesundheitsfilme erlangten, wie bereits in Kapitel 2.2.2 angedeutet, in den 1970er Jahren große Relevanz für die Gesundheitserziehung. Das Deutsche Hygiene-Museum und andere Institutionen mit Aufklärungsfunktion gaben kurze Ratgeberfilme in Auftrag, die in verschiedenen Reihen im Fernsehen der DDR ausgestrahlt oder im Kinobeiprogramm und bei Veranstaltungen im DHMD gezeigt wurden.317 Bei der Bevölkerung war dieses Aufklärungsformat sehr beliebt, was der Brief eines Hygieneinspektors aus dem Kreis Wittenberg an den Staatsrat der DDR von 1967 belegt. Zunächst schilderte dieser, dass er mit dem Gesamtablauf der Gesundheitserziehung sehr unzufrieden und mit der Aufgabe der Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung in seinem Kreis fast alleine befasst sei. Dann äußerte er die Bitte, es möchten mehr Hygienefilme produziert werden, da diese Art bei der Bevölkerung gut ankäme, jedoch immer weniger Filme zur Verfügung stünden.318 316 Vgl. Trappe (2007), S. 251. 317 Vgl. Knopfe (2000), S. 328. 318 Schreiben vom 30.7.1967, in: BArch, DQ 1/2433. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden bereits gesundheitspropagandistische Filme wie „Fleckfieber droht“
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
Im Folgenden werden kursorisch die Filme aus den Sendereihen Tausend Tele-Tips und Werbung auf Sender analysiert. Im Vordergrund steht die Fragestellung, inwiefern sich die Gesundheitserziehung durch den stärkeren Fokus auf das Medium Film seit den 1970er Jahren veränderte. Die insgesamt 51 Filme entstanden im Zeitraum von 1963 bis 1981 und haben eine Länge von 30 Sekunden bis zu einer Minute (Tausend Tele-Tips) beziehungsweise von vier bis sechs Minuten (Werbung auf Sender). Im Rahmen der Arbeit war es nicht möglich, die Filme einzeln im Archiv des Deutschen Hygiene-Museums anzusehen. Allerdings wurden die Filme in einer Online-Datenbank des DHMD319 hervorragend textlich und bildlich aufbereitet. Ihre Auswertung erlaubt, einen ersten Überblick über die hauptsächlichen Inhalte und Ausrichtungen der Filme zu geben. Eine fundiertere Analyse muss späteren Forschungsarbeiten vorbehalten bleiben.320 In der Werbereihe Tausend Tele-Tips, die von 1960 bis 1976 im Deutschen Fernsehfunk beziehungsweise im Fernsehen der DDR gezeigt wurde, liefen zwischen den Produktwerbespots auch kurze, wie Werbefilme aufgemachte Beiträge zu Gesundheitsthemen, die meist mit dem Titel „Hygiene“ überschrieben waren. Den Auftakt bildeten drei schwarz-weiße Zeichentrickfilme (1963 bis 1965) zu Erkältungskrankheiten und zur „Fettsucht“. 1972 trat die Figur des klugen „Kundi“ – einem schwarz-weißen Äquivalent zum bunten Maskottchen des Deutschen Hygiene-Museums, das insbesondere Kindern hygiene- und gesundheitsgerechtes Verhalten vermitteln sollte321 – in vier Filmen mit dem Titel „Schach und Matt“ in Erscheinung und animierte die Zuschauer zu gesunder Ernährung, aktiver Freizeiterholung und Sport sowie zum Verzicht auf Alkohol und Tabak. Die insgesamt sieben Trickfilme sind überwiegend geschlechterneutral gehalten. Nur im Film „Hygiene III – Fettsucht“ wird der dicke Paul präsentiert, der durch den Verzehr von Unmengen an Fleisch und Bier 30 Kilo zugenommen hat und dessen einziger „Hoffnungsfunke“ Karin ist, die fortan seine Mahlzeiten zusammenstellt und ihn durch gesunde Ernährung und Bewegung zum Abnehmen bringt. Im Zeitraum von 1973 bis 1976 wurden 21 kurze Farbfilme gesendet, die Alltagssituationen präund „Seuchengefahr“ produziert und entwickelten sich zu einer eigenen Abteilung der DEFA-Kurzfilme (Abteilung Medizin- und Hygienefilm unter der Leitung des ehemaligen Sanitätssoldaten Fritz Dick, der von 1947 bis 1981 fast 300 medizinische Lehrfilme drehte); vgl. Knopfe (2000), S. 297 ff. 319 http://www.dhmd.de/emuseum/eMuseumPlus. 320 Bislang zu Gesundheitsfilmen in der DDR: Schwarz (1998) mit einem vergleichenden Blick auf die Bundesrepublik sowie der Sammelband „Kamera! Licht! Aktion! Filme über Körper und Gesundheit 1915 bis 1990“ von Roeßiger/Schwarz (2011) mit umfangreichem Verzeichnis des Filmbestands des DHMD. Die Filmreihe „Du und Deine Gesundheit“ wird hier von Osten eingehend analysiert, die anderen Sendeformate tauchen nur am Rande auf. Die Geschlechterspezifik der Filme wird nicht explizit untersucht, lediglich Mönch thematisiert in ihrem Beitrag „Kontrollverlust. Filme und das wirkliche Leben“ kurz die in den Filmen dargestellten Geschlechterverhältnisse und Rollenklischees. 321 Mehr zu Kundi und seinen auffallend überwachenden Tätigkeiten bei Schwarz (1998).
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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sentierten und dem Fernsehpublikum Anreiz zur Selbstreflexion boten – versinnbildlicht durch den abschließenden Blick der Protagonisten in die Kamera und den Slogan: „Denk dran – Gesundheit liegt auch in Deiner Hand“. Der überwiegende Teil der Beiträge befasst sich mit den zu dieser Zeit üblichen Einflussfaktoren auf den Gesundheitszustand (Ernährung, Konsum von Alkohol und Tabakwaren, Bewegung und Erholung, psychischen Belastungen und Stress). Von diesen 21 Filmen ist interessanterweise über die Hälfte (elf Filme) mit vorwiegend männlichen Figuren besetzt, in nur sechs Filmen sind Frauen die Protagonistinnen und vier Beiträge richten sich an beide Geschlechter oder sind geschlechterunspezifisch angelegt. Man trifft unter anderem auf den Familienvater Rainer K., der seine Abendgestaltung mit viel Bier und Zigaretten vor dem Fernseher verbringt, anstatt sich aktiv beim Waldspaziergang oder beim Volleyball am Strand zu erholen322, dann auf den starkrauchenden Architekten Steffen K. („Blitzschnell ist eine Packung leer.“)323 und auf den 16-jährigen Textilfacharbeiter Pit, der keinen Kollektivgeist und keine Verantwortung zeigt, sondern jeden Abend in der Kneipe sitzt und reichlich Bier trinkt („Bei einem Bier sagt man nicht nein, doch gleich ein Fass, das muss nicht sein.“)324. Auch der Pausengymnastikverweigerer Jürgen325 sowie die Rentner Hermann Deich, der zu kalorienreich isst326, und Opa Schwicht, der aufgrund seines Übergewichts schnell aus der Puste kommt327, dienen als ‚Anschauungsobjekte‘. Dem Zuschauer wird also vermittelt, ausschließlich Männer hätten eine starke Disposition für die Risikofaktoren Alkohol und Zigaretten sowie (etwas weniger eindeutig) für Übergewicht und fehlende Bewegung. Am Beispiel des Schülers Michael K., dem versichert wird: „Was ist am Rauchen denn schon dran, Du bist auch so ein ganzer Mann“328, wird die männliche Konnotation des Rauchens unmittelbar deutlich. Positive Gesundheitsbeispiele sind demgegenüber selten mit Männlichkeit verknüpft. Lediglich der Freund von Michael K. („der Peter, der macht’s richtig, für ihn sind andere Dinge wichtig“) raucht nicht und bringt weiterhin gute Leistungen im Sport – im Gegensatz zum rauchenden Michael. Das Konzept der Filmreihe bestand nun darin, ‚falsche‘ Gewohnheiten und Handlungsweisen im Alltag zu präsentieren und den Zuschauer damit zum Nachdenken anzuregen. Dennoch fällt auf, dass zur Veranschaulichung negativer Gesundheitsverhaltensweisen dreimal häufiger Männer ausgewählt wurden als Frauen. Im Film „Hygiene – Pausengymnastik“ wird der Akademiker Jürgen, der abseits auf einer Bank sitzt und sich nicht an der Pausengymnastik beteiligen will, gerade in Gegenüberstellung zu den turnenden Laborantinnen als 322 323 324 325 326 327 328
„Hygiene – Erholung“ (1973). „Hygiene – Schädlichkeit des Rauchens für Herz und Kreislauf“ (1976). „Alkoholmißbrauch“ (1974). „Hygiene – Pausengymnastik“ (1974). „Ernährung in höherem Lebensalter“ (1975). „Hygiene – Übergewicht“ (1973). „Hygiene – Tabak“ (1974).
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
‚Gesundheitsmuffel‘ präsentiert: „Ihn überzeugen, das ist schwer. Der Platz von Jürgen, der bleibt leer.“ Ein Beitrag zur Dreifachbelastung der Frau benennt den Mann sogar als Belastungsfaktor für die weibliche Gesundheit: Der Film zeigt die Lagerleiterin Ulrike P. während ihrer „zweiten Schicht“, in der sie einkauft, Brote schmiert und die Kinder badet – „ihr Mann dagegen ruht sich aus“. Ihr daraus resultierender Ärger und ihre Unzufriedenheit werden als gesundheitsrelevante Emotionen benannt, die sich negativ auf Herz und Kreislauf auswirken: „Ulrike schätz Dich richtig ein, denn schuldig bist Du nicht allein.“ Am Ende blickt der Ehemann in die Kamera und gesteht somit seine Mitschuld ein.329 In drei weiteren Filmen, in denen die Hauptfigur weiblich ist, geht es ebenfalls um Stress, um Arzneimittelmissbrauch sowie um eine zu fetthaltige Ernährung. So gönnt sich etwa die gehetzte Abteilungsleiterin Dagmar E. keine Arbeitspausen, um in Ruhe zu essen.330 Die korpulente Fließbandarbeiterin Maria B. wiederum konsumiert nach Feierabend häufig Torte und Eis.331 Kritisch wird auch die Medikamenteneinnahme als Stressbekämpfung bei Direktorin Helga S. kommentiert: „Arznei, Tabletten groß und klein nimmt sie ganz wahllos immer ein.“332 Die Ratgeberfilme zu körperlichen Übungen, zur Zahnpflege und zu den Erkältungskrankheiten richten sich an beide Geschlechter beziehungsweise an keines explizit. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit diesen Filmen auf der einen Seite neue Wege in der Gesundheitserziehung beschritten, auf der anderen Seite jedoch weiterhin stereotype Muster gefestigt und reproduziert wurden – gerade was die Darstellung von Weiblichkeit und Männlichkeit betraf. Das Aufgreifen von Alltagssituationen und das Anregen zur Selbsterkenntnis stellten einen neuen methodischen Ansatz im Sinne einer stärkeren Verhaltensprävention dar. Dennoch blieb das Format sehr pädagogisch-belehrend („Denke daran“, „Halt Dich an diese Dinge“, „Gib acht“, „Hände weg“). Besonders ins Auge fällt das Verhältnis der filmisch in Szene gesetzten Darsteller und Darstellerinnen: In den Filmbeiträgen treten deutlich weniger Frauen in Erscheinung als sonst in der Gesundheitserziehung üblich, beispielsweise auch im Vergleich zu den abgebildeten Frauen in Deine Gesundheit in den 1970er Jahren. Möglicherweise versuchte man auf dem Weg der Fernsehwerbung mehr Männer zu erreichen – vielleicht erhöhte sich ihr Anteil auch nur durch den Fokus der Beiträge auf die Risikofaktoren Tabak, Alkohol, ungesunde Ernährung und fehlende Bewegung333. Diese wurden nämlich stark mit Männlichkeit assoziiert. Insofern schließen sich die Fragen an, ob sich die 329 330 331 332 333
„Hygiene – Bedeutung negativer Emotionen für Herz-Kreislauf“ (1975). „Hygiene – Tagesrhythmus“ (1973). „Hygiene – Ernährung“ (1973). „Hygiene – Arzneimittelmißbrauch“ (1974). Dieser Risikofaktorenansatz wurde von der WHO 1968 verabschiedet und setzte sich in der Folgezeit auch in der DDR-Gesundheitspolitik durch. Dass Ende der 1970er Jahre mehrere Filme zum Thema Alkoholkonsum entstanden sind, lässt sich Schwarz zufolge mit dem IX. Parteitag der SED 1976 in Verbindung bringen, auf dem Alkoholmissbrauch als reales Problem anerkannt wurde; vgl. Schwarz (2011), S. 35.
2.3 Analyse der Gesundheitsmaterialien
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männliche DDR-Bevölkerung von diesem gesundheitlichen Defizitdiskurs angesprochen fühlen konnte und ob Tipps zum Wandern und zum Waldspaziergang eine wirkliche Alternative zu vermeintlich gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen darstellten. Frauen wurden immerhin nicht mehr (nur) mit den altbekannten Themen Kindererziehung, Kosmetik und Sonnenbaden in Verbindung gebracht. Oftmals ging es um ihre Gesundheit, die beeinflusst wurde durch die aus der Doppelrolle als Mutter und Berufstätige resultierenden Belastungen. Die Filme, die für die Sendereihe Werbung auf Sender produziert wurden, unterschieden sich in vielen Punkten von denen aus der Vorgängerreihe: Die 23 Filmbeiträge, die in der Zeit von 1977 bis 1981 im Fernsehen der DDR gezeigt wurden, waren deutlich umfassender und dynamischer aufbereitet. Es wurde ein weniger belehrender, dafür sachlicherer Ton angeschlagen und es kamen Bürgerinnen und Bürger sowie Experten gleichermaßen zu Wort. Auch im Hinblick auf die Geschlechterspezifik wurde stärker differenziert und seltener pauschalisiert. 16 der 23 Filme sind bezüglich ihrer Zielgruppe geschlechterneutral gehalten oder an Frauen und Männer gleichermaßen adressiert. Dieses Verhältnis gilt auch für die Themen Rauchen und Alkohol. In dem Beitrag „Genuß und Risiko“ wird auch der Anstieg des Zigarettenrauchens unter Frauen thematisiert und der Film „Restalkohol“ zeigt eine große Runde Männer und Frauen beim abendlichen Feiern mit Alkohol. Unter dem Titel „Emotionen“ wird der Streit zwischen zwei männlichen Kollegen verhandelt, der als Demonstration für die Risiken und Nebenwirkungen von negativen Gefühlen und Spannungen für Herz und Kreislauf dient. Die ersten Filmbeiträge entsprachen hingegen noch sehr viel stärker den alten Mustern: „Müssen Männer rauchen?“, „Medikamentenmißbrauch“ („Eine Frau nimmt einen Tablettenstreifen aus der Packung …“) oder „Alkoholmißbrauch“ („Ein junger alkoholabhängiger Mann berichtet …“). Im Gegensatz zu den sehr formalisierten und pädagogisch-belehrenden Gesundheitsfilmen für die Reihe Tausend Tele-Tips, waren die für das Format Werbung auf Sender produzierten Gesundheitsfilme gestalterisch deutlich moderner und attraktiver. Auch die Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit war erkennbar weniger stereotyp. Dies kann man mit dem unterschiedlichen Entstehungszeitraum und einer damit zusammenhängenden generellen filmisch-künstlerischen und gesellschaftlichen Fortentwicklung begründen. Ein weiterer und vermutlich bedeutsamerer Unterschied ist jedoch bei den Produzenten der Filme auszumachen: Für die Reihe Werbung auf Sender betätigten sich der private Filmemacher Gottfried Stejskal334 und seine Produktionsfirma „Film-Kollektiv Dresden“ als Regisseur und Produzent, während die 334 Gottfried Stejskal (1924–1991) begann seine Filmkarriere als Frontkameramann im Zweiten Weltkrieg und arbeitete nach 1945 zunächst als Techniker bei Zeiss Ikon und nebenher als Dokumentarfilmer. 1961 machte er sich als freier Filmproduzent mit seiner eigenen Firma selbständig. Für das „Film-Kollektiv Dresden“ entstanden zahlreiche Filme über seine sächsische Heimat und eben auch die über 20 Gesundheitsfilme für das Deutsche Hygiene-Museum; vgl. Petzold (2011), S. 8.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
Tausend Tele-Tips-Beiträge vom staatlichen Fernsehen der DDR produziert wurden. Durch den Blick eines außerhalb des staatlichen Bildungs- und Erziehungssystems Stehenden ergab sich – ähnlich wie durch die fachfremden Mitarbeiter im Redaktionskollegium von Deine Gesundheit – eine weniger pädagogisierende und stereotype Darstellung von Gesundheitsthemen mit deutlich mehr Bezug zur Realität und zum Alltag der DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Ebenso wie sich die Redaktion von Deine Gesundheit durch ihre abweichende Linie und durch provozierende Themen und Bilder Ärger mit den übergeordneten Ministerien einhandelte335, gab es auch zwischen dem Deutschen Hygiene-Museum als Auftraggeber für die Filme, dem Fernsehen der DDR und dem Filmstudio „Film-Kollektiv Dresden“ Differenzen, die schließlich zum Ende der Zusammenarbeit führten. Auch wenn es hierbei lediglich um die Platzierung des Logos des Hygiene-Museums ging336, zeigt eine Aktennotiz, die die Inhalte eines Gesprächs zwischen Stejskal und dem Programmdirektor des DDR-Fernsehens festgehalten hat, dass es auch anderweitige Probleme aufgrund unterschiedlicher Herangehensweisen an die Thematik der Gesundheitserziehung gab: Dort hieß es, der Programmdirektor hätte Stejskal mitgeteilt, […] daß man ihm keine Parameter f. fernsehgerechte Filme geben könne. Technisch sei nichts an den Filmen auszusetzen. Ernährungsfilme könnten nicht gesendet werden, da es in der Versorgung Lücken gäbe u. die Sportfilme würden nicht realisierbare Wünsche wecken (keine Hallen f. Volkssport bis auf wenige).337
Weitere Akten im Hauptstaatsarchiv Dresden zu den Gesundheitsfilmen (unter anderem Filmkonzeptionen und Drehbücher) auszuwerten und zusätzlich die Filmreihe Wegweiser Gesundheit (1974–1984) zu analysieren sind lohnenswerte Forschungsvorhaben, die für diese Arbeit jedoch nicht weiter verfolgt werden konnten. 2.4 Fazit Im Sinne der sozialhygienischen Traditionslinie etablierte sich in der DDR ein dichtes Netz krankheitsvorbeugender Maßnahmen, das vor allem Säuglinge, Kinder, Jugendliche und die arbeitende Bevölkerung erfasste. Periodisch durchgeführte Reihenuntersuchungen und ein straff organisiertes Impfprogramm waren zentrale Eckpunkte der DDR-Präventionspolitik, die sich als betreuungsorientiert verstand, lenkend und gestaltend in die Umwelt der Bürgerinnen und Bürger eingriff und deren Verhalten zu steuern versuchte. Die Stärken dieses Systems lagen in der Infrastruktur der kollektiven Erfassung der Menschen und der daraus resultierenden erfolgreichen Bekämpfung der 335 Siehe Kapitel 2.3.1.1 sowie Von Wasserheften (1999), S. 79 und S. 82. 336 Vgl. Schwarz (2011), S. 31. 337 Aktennotiz des DHMD vom 20.11.1980, in: Hauptstaatsarchiv Dresden (im Folgenden HStAD), 13658 DHMD, F VIII/Nr. 24 (Filme Hygienemuseum – Austausch mit dem Fernsehen der DDR).
2.4 Fazit
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Infektionskrankheiten und der Säuglingssterblichkeit.338 Für die verhaltensbedingten chronischen Erkrankungen wurden jedoch keine wirksamen Präventionsstrategien entwickelt. Die dafür notwendige Verhaltensänderung der Bevölkerung hätte nur durch deren aktive Einbeziehung bewirkt werden können, an der jedoch von Seiten der Politik kein Interesse bestand.339 In den 1970er Jahren wurde konzeptionell zwar der Wandel von der Verhältnis- zur Verhaltensprävention vollzogen, methodisch erfolgte hingegen keine Weiterentwicklung in Richtung Motivation, Befähigung und Unterstützung der Bürger und Bürgerinnen. Die Gesundheitserziehung blieb überwiegend auf Kenntnisvermittlung orientiert, die jedoch nur bedingt dafür geeignet ist, eine intendierte Verhaltensänderung zu bewirken.340 Innovationen auf diesem Feld wurden durch traditionelle und konservative Haltungen blockiert – international etablierte Methoden aus der Verhaltensforschung wurden nicht rezipiert und gelehrt.341 Anspruchsvolle Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung, angeregt und begleitet von einer kritischen Öffentlichkeit, konnten nicht ins Leben gerufen werden342 – Gesundheitserziehung erfolgte vorrangig über Einzelaktionen und entlang der Planvorgaben aus dem ZK der SED. Von daher war sie auch nicht adäquat auf die Lebenswirklichkeit ihrer Rezipienten ausgerichtet oder darauf, differenzierte Angebote zu unterbreiten. Die sozialistische Persönlichkeit stand im Fokus und wurde auf Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit eingeschworen. Das galt oberflächlich gesehen für Frauen und Männer – implizit transportierte die Gesundheitspropaganda jedoch sehr stereotype Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit: Da hatten Frauen – trotz Emanzipationsschub durch die Einbindung in die Erwerbsarbeit – vor allem schön, verantwortungsbewusst und mütterlich zu sein; Männer waren lange Zeit deutlich unterrepräsentiert und sollten eher durch Tatkraft und Robustheit glänzen. Das propagandistische Männer- und Frauenbild in den Gesundheitsmedien war schwer auf einen Nenner zu bringen und bisweilen widersprüchlich. Das lag zum einen daran, dass die neuen Inhalte in alten Gewändern präsentiert werden mussten, um Zustimmung beim Publikum zu erzeugen.343 Zudem brachten viele Ärzte, die in der Gesundheitserziehung wirkten, ihre Prägungen aus vergangenen Zeiten und Systemen mit (beispielsweise Ansichten über die psychische Labilität von Frauen oder darüber, dass es sich für Frauen nicht ziemt, zu rauchen). Zum anderen prallten auch beim Thema gesunde Lebensweise divergierende und in Konflikt miteinander stehende Normen und Ansprüche aufeinander wie etwa die Vorstellung von den tatkräftigen Frauen, die voll erwerbstätig sind, sich beruflich weiterbilden, Kinder kriegen, sich um die Familie und den Haushalt kümmern und dabei noch auf ein gepflegtes äuße338 339 340 341 342 343
Vgl. Süß (1998), S. 68. Vgl. ebenda, S. 71. Vgl. Voß (1990), S. 282. Vgl. ebenda, S. 281. Vgl. Roeßiger (2001), S. 30. Vgl. Merkel (1994), S. 377.
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2 Gesundheit in die Gesellschaft hineintragen
res Erscheinungsbild achten und einer aktiven Freizeiterholung nachgehen. Auch das Bild des männlichen Arbeiters, der einerseits im Sinne der alten KPD-Frontkämpfertugenden Leistungsbereitschaft, Kühle und Härte an den Tag legt, andererseits Maß hält und auf sich Acht gibt, war spannungsgeladen. Seit Mitte der 1970er Jahre kam dann etwas frischer Wind in die Themen und Methoden der Gesundheitspropaganda, zumindest was die Zeitschrift Deine Gesundheit und die Filmbeiträge für die Sendereihe Werbung auf Sender anbelangte. Dass die Gesundheitserziehung nun auch von Leuten mitgestaltet wurde, die der üblichen Themen und Methoden überdrüssig waren oder die außerhalb des staatlichen Erziehungssystems standen (zum Beispiel private Filmemacher), ermöglichte eine andere Sichtweise auf die Themen Prophylaxe und Gesundheitsförderung, die sich viel stärker an der Alltagswirklichkeit der Menschen orientierte und dabei auch geschlechtersensibler vorging.
3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“1 – Einblicke in den Gesundheitsalltag der DDR-Bevölkerung Eine Reihe von (medizin-)soziologischen Untersuchungen bescheinigte den DDR-Bürgern zu Beginn der 1990er Jahre ein hohes Niveau ihres Gesundheitsbewusstseins.2 Demnach maßen alle gesellschaftlichen Schichten der Gesundheit hohe Bedeutung bei und setzten sie in der Regel mit an die Spitze aller Wertorientierungen. Allerdings ließ sich auch eine deutliche Diskrepanz zwischen dieser Wertschätzung und den für den Erhalt der Gesundheit tatsächlich relevanten Aktivitäten feststellen.3 Der Verbrauch von Fett, Fleisch, Nikotin und Alkohol war enorm hoch4 und ging mit stark verminderter körperlicher Betätigung einher.5 Lediglich ein Drittel der Bevölkerung fühlte sich auch gesund und leistungsfähig – Männer mit einem deutlich höheren Wert als Frauen.6 Im Folgenden soll versucht werden, die Ursachen für das Missverhältnis zwischen dem stark ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein einerseits und dem dennoch problematischen Gesundheitsverhalten andererseits – welches besonders angesichts des hohen Stellenwerts der Gesundheit für das sozialistische Selbstverständnis auffällt – zu ergründen. Gab es dafür systemimmanente Gründe? Wie schätzten die DDR-Bürgerinnen und -Bürger diese Situation ein und was wurde von der Gesundheitserziehung unternommen, um die gesundheitsfördernden Aktivitäten der Bevölkerung zu steigern? Zentraler Bestandteil des Kapitels sind zum einen die Hintergründe und Rahmenbedingungen, die das staatliche System der Prophylaxe begünstigt oder behindert haben, und wie diese von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wurden. Zum anderen sollen die Motivationen für gesundheitsbewusstes Handeln der Menschen herausgearbeitet werden. Im ersten Abschnitt werden vier allgemeine Bereiche der Prophylaxe auf ihre Umsetzungschancen hin überprüft. Daran schließt sich im zweiten Kapitel die Darstellung des Gesundheitsalltags sowie der Besonderheiten der Gesundheitsförderung in den Betrieben des Bezirks Rostock an. Das Gesundheitsverhalten der DDRBevölkerung in geschlechterspezifischer Perspektive wird im dritten Hauptteil des Kapitels analysiert. Durch eine breite Varianz an Quellen soll ein differentielles Bild gesundheits- und geschlechterbezogener Ansichten und Verhaltensweisen präsentiert werden: In erster Linie werden Eingaben zu verschiedenen Gesundheitsthemen sowie weitere Ego-Dokumente wie Tagebücher, Briefe und Autobiogra1 2 3 4 5 6
Dieses Zitat entstammt der Eingabe eines Arztes (Dr. J. M. aus Ludwigslust an Gesundheitsminister Mecklinger, 14.7.1988, in: BArch, DQ 1/12332, unfol.) und wurde bereits als Titel für einen eigenen Aufsatz verwendet: Linek (2013). Vgl. u. a. Bormann/Hoeltz (1996), S. 80 und Engels (1990), S. 208. Vgl. Engels (1990), S. 213. Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 155. Vgl. Engels (1990), S. 208. Vgl. ebenda, S. 213.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
phien herangezogen. Als zusätzliche Quellengrundlage dienen sozialmedizinische Untersuchungen zum Gesundheitsbewusstsein und zur Morbidität der DDR-Bevölkerung sowie verschiedene Dokumente der Gesundheitsverwaltung wie Gutachten zur Gesundheitserziehung oder Protokolle von Kommissionssitzungen und Tagungen. Für den Bereich des Betriebsgesundheitswesens werden zudem Berichte über Inspektionen in den Betrieben und Auswertungen des Krankenstandes sowie die Ergebnisse der Zeitzeugeninterviews berücksichtigt. 3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen Einige der im zweiten Kapitel vorgestellten Initiativen zur Gesunderhaltung in der DDR sollen nun zum einen unter dem Gesichtspunkt der Realisierbarkeit und zum anderen in Hinblick auf die Resonanz in der Bevölkerung betrachtet werden. Als Einstieg werden im ersten Teilkapitel allgemeine Fragen der Gesundheitserziehung erörtert. Im Anschluss daran geht es um ein Thema, bei dem nach Meinung vieler Bürger nicht genügend Initiative ergriffen wurde, nämlich die Förderung des Nichtrauchens. Gegenstand des dritten Teilkapitels sind die Bereiche körperliche Betätigung und gesunde Ernährung. Da die Äußerungen der DDR-Bevölkerung in Eingaben einen prominenten Platz in diesem Abschnitt einnehmen, wird in einem einleitenden Exkurs die „Eingabenkultur“7 der DDR skizziert. Exkurs: Eingaben Wie bereits in der Einleitung dargelegt, waren die DDR-Bürgerinnen und -Bürger außergewöhnlich aktive Eingabenschreiber. Diese Beschwerdepraxis kann als „DDR-spezifisches Phänomen“8 angesehen werden, denn kein anderer Staat in der Geschichte erhielt so viele Eingaben9. Das Eingabewesen, das sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus dem Bemühen heraus, eine bürgerfreundliche Verwaltung aufzubauen, spontan entwickelt hatte10, wurde mit den Jahren immer stärker ausgeweitet, durchstrukturiert und normativ fundiert.11 7 Merkel/Mühlberg (2000), S. 15. Die Autoren verwenden den Begriff „Eingabenkultur“ um zu unterstreichen, dass es sich beim Eingabenschreiben in der DDR um eine massenhafte kulturelle Praxis gehandelt hat, der bestimmte rhetorische Strategien zugrunde lagen. 8 Mühlberg (2000), S. 233. 9 Vgl. Betts (2010), S. 288. 10 Vgl. Mühlberg (2004), S. 275. Zu den Vorläufern der Eingaben – den Petitionen und der Verwaltungsgerichtsbarkeit – siehe Mühlberg (2004), S. 30–50. 11 Vgl. Elsner (1999), S. 78. Die wichtigsten Etappen und Entwicklungen im Eingabewesen: „Verordnung über die Prüfung von Vorschlägen und Beschwerden der Werktätigen“ von 1953, „Erlaß des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Eingaben der Bürger und ihre Bearbeitung durch die Staatsorgane“ von 1961 sowie „Gesetz über
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 121
Den Eingaben wurde durchweg ein sehr hoher Stellenwert beigemessen, was sich unter anderem anhand der umfassenden Eingabenstatistiken und -analysen zu den Zahlen, Problemen, Verfahren und Ergebnissen ablesen lässt.12 Die Verwaltungen mussten einen enorm hohen Aufwand betreiben, um alle Eingaben zu registrieren, statistisch auszuwerten und ausführlich innerhalb der festgelegten Frist zu beantworten.13 Die Menschen in der DDR nutzten dieses Medium sicher auch deswegen so ausgiebig, weil sie kostenfrei und ohne Formen, Fristen und Verwaltungswege einhalten zu müssen, mit dem Staat – von der untersten Verwaltungsinstanz bis zum Staatsrat – über individuelle und gesellschaftliche Probleme kommunizieren konnten.14 Voraussetzung war jedoch, dass man stillschweigend die Grenzen und Tabus akzeptierte und das System an sich nicht in Frage stellte.15 Ansonsten formulierten die Bürgerinnen und Bürger alle erdenklichen Alltagssorgen in ihren Briefen, in der Hoffnung, beim Adressaten eine Veränderung ihrer Lebenssituation zu erreichen oder einfach nur, um sich über ihre Enttäuschungen Luft zu machen. Sie nutzten die Eingabe als Möglichkeit, „denen da oben“ die allgemeinen Schwierigkeiten und Nöte an der Basis zu schildern oder als Mittel, besondere Bitten zu artikulieren.16 Es wurde auch positive Kritik geäußert, um zur Verbesserung des Systems beizutragen. Insofern waren Eingaben bis zu einem gewissen Grad „systemerhaltend“, denn einige Eingabenschreiber konnten tatsächlich eine Verbesserung ihres persönlichen Problems erreichen, andere waren zufrieden damit, dass sie ihre Kritik vorbringen und „Dampf ablassen“ konnten.17 Der Staat ermunterte die Bürger aktiv dazu, in Form der Eingabe das gesellschaftliche Leben aktiv mitzugestalten und persönliche Anliegen zu klären.18 Die SED-Regierung sah darin die Chance, die Distanz zwischen den
12 13 14 15 16 17 18
die Bearbeitung der Eingaben der Bürger“ von 1975. In der Verfassung von 1949 war das Eingabenrecht im allgemeinen Grundrechtskatalog integriert; in den Verfassungen von 1968/1974 stand es im Abschnitt über die „Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege“. Seit 1961 wurde das Recht zur Eingabe durch den Passus ergänzt, dass keinem Bürger aus der Wahrnehmung dessen ein Nachteil entstehen dürfe. Leserbriefe an DDRZeitungen, die auf Probleme hinwiesen, Personen oder Institutionen kritisierten oder Verbesserungsvorschläge machten, waren seit 1961 offiziell als Eingabe zu behandeln, auch wenn sie nicht als solche beabsichtigt waren. Einige Jahre später wurde diese Bestimmung auf alle Beschwerden und Vorschläge ausgedehnt, die Wirtschaftsorganen, sozialistischen Betrieben, Kombinaten und staatlichen Einrichtungen bekannt wurden. Bereits seit 1953 galt eine Frist für die Bearbeitung der Eingaben (je nach Institution von 21, 15 oder 10 Tagen). Vgl. Elsner (1999), S. 77 f.; Mühlberg (2004), S. 129 und S. 276 sowie Fulbrook (2011), S. 291 f. Vgl. Fulbrook (2011), S. 293. Vgl. Mühlberg (2000), S. 241. Vgl. ebenda, S. 238. Vgl. Fulbrook (2011), S. 302. Vgl. ebenda, S. 291. Ebenda, S. 301. Vgl. Klemm/Naumann (1977), S. 7.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
Bürgern und dem Staat zu überwinden19 und deutete ein hohes Eingabenaufkommen als Zeichen des Vertrauens20. An Wilhelm Pieck in seiner väterlichen Figur des Präsidenten der Republik wurden besonders viele Eingaben adressiert: nach Angaben der Präsidialkanzlei hat er 1952 über 75.000 Eingaben erhalten.21 Aber auch nach Piecks Tod wurden noch zahlreiche Eingaben an die Staatsführung – an Ulbricht und Honecker als Staatsratsvorsitzende – gerichtet: 1962 waren es mehr als 100.000 und 1988 134.000.22 Die ersten 1960er und das Ende der 1980er Jahre markierten insgesamt gesehen die Hochphase der Eingaben.23 Der Anstieg seit 1961 lässt sich mit der Resonanz auf die neue Funktion Ulbrichts als Staatsratsvorsitzender, mit vermehrten Eingaben zum „Reiseverkehr“ sowie mit der beginnenden Versorgungskrise (Butter, Milch, Fleisch) erklären.24 Ein konstantes Anliegen war die Wohnraumproblematik (verfügbarer Wohnraum sowie Wohnsituation), die bis zum Ende der DDR die Eingaben dominierte. Ansonsten deuten die rückläufigen Eingabenzahlen in den 1960er Jahren an, dass man sich seit dem Mauerbau mit dem Leben in der DDR eingerichtet hatte.25 Ab Mitte der 1970er Jahre stiegen die Eingaben mit sozialpolitischen Fragestellungen (vor allem Probleme Alleinerziehender, schwangerer Frauen und arbeitender Mütter) deutlich an und auch Beschwerden über Umweltprobleme häuften sich. Seit Mitte der 1980er Jahre nahm die Zahl der Eingaben zu fast allen Themenfeldern zu.26 Einen frappierenden Anstieg seit 1986 bedingten die Beschwerden über nicht genehmigte Reiseanträge. Die Eingaben zu Reisefragen in den ‚Westen‘ überholten 1988 erstmals in der Geschichte der DDR sogar die Wohnungseingaben.27 Die DDR-Bürger und -Bürgerinnen lernten im Laufe der Zeit bestimmte Formeln und Phrasen anzuwenden, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Die bewährtesten Strategien und Stilmittel beim Verfassen von Eingaben waren: die Selbstdarstellung (als besonders engagiertes oder besonders bedürftiges Mitglied der sozialistischen Gesellschaft), das Zitieren bestimmter politischer Losungen oder die Berufung auf Parteitagsbeschlüsse sowie die Drohung (sich an eine höhere Instanz oder die Öffentlichkeit zu wenden, nicht zur Wahl zu gehen oder ein Ausreisevisum zu beantragen).28 In den Eingaben wurde zum Teil erstaunlich offen Kritik geübt und der Versuch unternommen, den Staat unter Bezugnahme auf seine Versprechen moralisch unter Druck zu setzen. Besonders seit Mitte der 1970er Jahre ist ein wachsendes Rechtsbewusstsein in den Eingaben zu vernehmen und eine stär19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Betts (2010), S. 290. Vgl. Klemm/Naumann (1977), S. 7. Vgl. Mühlberg (2000), S. 234. Vgl. Betts (2010), S. 288. Vgl. Fulbrook (2011), S. 304. Vgl. Mühlberg (2004), S. 179. Vgl. ebenda. Vgl. Fulbrook (2011), S. 297. Vgl. Mühlberg (2004), S. 179. Vgl. Mühlberg (2000), S. 246–266; Fulbrook (2011), S. 300 sowie Bruns (2012), S. 362.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 123
kere Berufung auf die Verfassung und das Zivilgesetzbuch der DDR.29 Den Menschen in der DDR stand also durchaus ein gewisser Freiraum zur Verfügung: Frustration und Wünsche konnten geäußert, Diskussionen angestoßen werden. Die Bürgerinnen und Bürger waren keine machtlosen, passiven Objekte, sondern konnten sich aktiv an der Gestaltung ihrer Lebenswelt beteiligen – auch wenn die Möglichkeiten der Einflussnahme begrenzt waren.30 Immerhin wurde die Eingabe durch die statistische Erfassung nach Schwerpunktthemen ein „Instrument der Mitbestimmung“ und konnte bei massenhafter Häufung sogar zu einer Gesetzesänderung führen.31 Auf der anderen Seite bemühten sich auch die Behörden oftmals aufrichtig darum, auf Beschwerden einzugehen.32 In den folgenden Kapiteln soll es darum gehen, die spezifischen Anliegen und Argumentationen in den Eingaben zu Themen der Gesundheitsvorsorge herauszuarbeiten. Was berichteten DDR-Bürgerinnen und -Bürger aus ihrem Alltag – welche Erfahrungen machten sie mit dem Bemühen der Regierung um die Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeits- und Lebensbedingungen? Welche Berührungspunkte ergaben sich mit der Gesundheitserziehung in der Praxis? Welche Themen wurden von der Gesundheitspolitik nicht abgedeckt und beschäftigten die Menschen? Auf welche Art und Weise brachten die Eingabenschreiber und -schreiberinnen ihre Bitten oder Forderungen vor und welche rhetorischen Mittel verwandten sie zur Untermauerung ihres Ansinnens? Wie bereits in der Einleitung dargelegt, werden vorrangig Eingaben untersucht, die sich im Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen befinden. Dabei handelt es sich sowohl um Eingaben, die direkt dorthin adressiert wurden, als auch um Eingaben, die von anderen Stellen zur Bearbeitung weitergeleitet wurden, beispielsweise von der Staatskanzlei, der Volkskammer, dem FDGB oder von den Redaktionen diverser Zeitschriften sowie der Fernsehsendung Prisma33. Das Online-Findbuch zum Bestand des Gesundheitsministeriums34 liefert unter dem Stichwort „Eingaben“ 777 Treffer in 67 Gliederungspunkten. Noch nicht mitgerechnet sind dabei die Aktentitel mit der Bezeichnung „Beschwerden“ oder „Anfragen“ sowie „Beantwortung von Leserbriefen“. 29 Vgl. Betts (2010), S. 304. Betts konstatiert in den von ihm untersuchten Eingaben einen veränderten Tonfall weg vom privaten Opfertum und Unglück hin zu Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und rechtsförmigen Verfahren. Als Grund dafür macht er den Einfluss der Schlussakte von Helsinki 1975 geltend (S. 305). 30 Vgl. Fulbrook (2011), S. 287. 31 Mühlberg (2000), S. 241. 32 Vgl. Fulbrook (2011), S. 287. 33 Das innenpolitische Magazin Prisma lief seit 1963 im Deutschen Fernsehfunk und zählte zu einem der beliebtesten Formate mit hohen Einschaltquoten. Als Vorlage für die Themen, die in der Sendung kritisch aufbereitet wurden und für die Lösungsvorschläge formuliert wurden (Missstände in der Wirtschaft, bei der Versorgung oder in der Kommunalpolitik), dienten der Redaktion häufig die Einsendungen der Zuschauer (ca. 300 bis 600 Briefe monatlich); siehe hierzu ausführlicher: Merkel (2000), S. 30 ff. 34 http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DQ-1-29937-2014-p/index.htm.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
Da Eingaben nur einen von mehreren Quellenbeständen in der vorliegenden Dissertation ausmachen, konnten bei weitem nicht alle verzeichneten Akten durchgesehen werden, zumal sich der Großteil auf nicht für die Fragestellung relevante Aspekte bezieht oder nur mit sehr allgemein formulierten Titeln erfasst wurde. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Die meisten Einträge hat der Gliederungspunkt 3.4 „Bearbeitung und Auswertung von Eingaben und Beschwerden“. Aus den 127 Titeln lassen sich kaum Akten mit explizit prophylaktischer Fragestellung herausfiltern. Fragen der medizinischen Betreuung, Fehlbehandlungen und Entschädigungen, Probleme der medizinischen Intelligenz, finanzielle Angelegenheiten, soziale und arbeitsrechtliche Probleme, Medikamentenbeschaffung, Angelegenheiten der Facharztausbildung oder Beschwerden freipraktizierender Ärzte und sogar Wohnungsangelegenheiten finden sich als häufigste Eingabeanliegen. Um eine zeitlich zu umfangreiche Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen zu umgehen, werden schwerpunktmäßig die Eingaben aus Gliederungspunkt 6 „Gesundheitserziehung und Öffentlichkeitsarbeit“ analysiert, die zwar im Umfang deutlich geringer sind, dafür aber inhaltlich die größte Übereinstimmung mit den ausgewählten Bereichen der Prophylaxe aufweisen (allgemeine Fragen der Gesundheitserziehung, Rauchen und Ernährung). Auffallend ist, dass die Eingaben der 1950er und 1960er Jahren dominieren; die 1970er Jahre hingegen sind deutlich unterrepräsentiert und auch die 1980er Jahren fallen gegenüber den 1950er und 1960er Jahren ab. Von den 24 Titeln in Gliederungspunkt 6, die Eingaben und Beschwerden beinhalten, beziehen sich 23 auf die 1950er und 1960er Jahre und nur einer auf die 1970er Jahre (1961–1972) und ebenfalls einer auf die 1980er Jahre. Auch in Gliederungspunkt 3.4 ergibt sich ein ähnliches Bild: Hier lassen sich 23 der 127 Titel den 1970er Jahren zuordnen (von denen der überwiegende Teil sogar nur die Bezeichnung „bis 1970“ oder „bis 1971“ enthält) und nur 18 den 1980er Jahren. Dies deckt sich in etwa mit den Analysen von Mühlberg und anderen, die ein Abflauen der Eingaben seit Mitte der 1960er Jahre und einen deutlichen Wiederanstieg erst Mitte der 1980er Jahre feststellten.35 Im Einzelnen wurden 595 Eingaben aus dem Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen der Jahre 1958 bis 1990 analytisch erfasst (aus Gliederungspunkt 6 „Gesundheitserziehung und Öffentlichkeitsarbeit“ und Gliederungspunkt 3 „Rechtssetzung und Bearbeitung von Eingaben“).36 Zudem wurden weitere Eingaben aus den Bereichen Arbeitshygiene und Infektionsschutz im Bestand des Gesundheitsministeriums durchgesehen. Darüber hinaus wurden auch Leserbriefe an Zeitungsredaktionen in den Überlieferungen der Verlage37 sowie einzelne Eingabevorgänge in den Landes-, Stadt- und Kreisarchiven gesichtet. Insgesamt ergibt sich somit eine Summe von circa 35 Vgl. Mühlberg (2004), S. 179 und Fulbrook (2011), S. 297. 36 BArch, DQ 1/6017, 22239, 22240, 3614, 5174, 5175, 2433, 23333, 23346, 11520, 14224. 37 In der Hauptsache waren dies Leserbriefe an die Redaktion der Zeitschrift „Sozialversicherung/Arbeitsschutz“, die im Bestand des Tribüne-Verlags zu finden waren; SAPMOBArch, DY 78.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 125
700 Eingaben, die als eine der Quellengrundlagen für die folgenden Kapitel dient. Die ausgewählten Eingaben können einen detaillierten Einblick in den Gesundheitsalltag der 1950er und 1960er Jahre liefern und Entwicklungen in den 1970er und 1980er Jahren andeuten. Auch wenn diese Quellenlage keine umfassende Eingaben-Längsschnittstudie ermöglicht, so ergibt sich daraus doch wenigstens der Vorteil – beruft man sich auf die Erfahrungen von Fulbrook –, dass man aus Berichten der frühen DDR-Jahre deutlich aufschlussreichere Informationen erhält, da diese weit weniger schematisch und formelhaft verfasst wurden.38 3.1.1 Allgemeine Gesundheitserziehung Die alltäglichen Herausforderungen der Gesundheitserziehung wie Kapazitäten und Organisationsfragen, sowie die Resonanz der Bevölkerung auf die Propaganda für eine gesunde Lebensweise bilden den Schwerpunkt des folgenden Kapitels. Darüber hinaus werden anhand verschiedener Äußerungen aus der Bevölkerung Erklärungsmöglichkeiten für die Frage nach der Diskrepanz zwischen Gesundheitsbewusstsein und Gesundheitshandeln aufgezeigt. 3.1.1.1 Der Alltag der Gesundheitserzieherinnen und -erzieher „Die beste Organisation und die beste Einrichtung des Gesundheitswesens ist ohne Wert, wenn nicht qualifizierte Menschen sie mit Leben erfüllen.“39 Dieser Satz von Herbert Knabe40, einem anerkannten Sozialmediziner und Sozialhygieniker, der sich insbesondere mit den Lebensverhältnissen und dem Gesundheitszustand der Landbevölkerung befasste, verweist auf eines der Grundprobleme des Gesundheitsschutzes in den Anfangsjahren des DDRGesundheitswesens, nämlich die Personalsituation. Die besondere Rolle des Arztes als „Volkserzieher“ sowie „Hüter und Wahrer der Gesundheit“ wurde 38 Vgl. Fulbrook (1996), S. 276. 39 Neue Wege zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung (Dr. med. Knabe) [1955], in: LAG, Rep. 200, 2.2.2.4, Nr. 34, Bl. 73. 40 Herbert Knabe (1918–2009), geboren in Gotha, studierte von 1940–1945 Medizin und arbeitete nach Kriegsende zunächst in einer Infektionsabteilung in Mecklenburg. Seine Tätigkeit als Kreisarzt von 1947 bis 1958 in Mecklenburg-Vorpommern bzw. im Bezirk Rostock bestärkte sein Interesse für die Allgemeinmedizin und die gesundheitliche Betreuung der Landbevölkerung. 1959 begann seine wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Sozialhygiene: 1959 habilitierte er sich am Hygiene-Institut der Charité in Berlin mit einer sozialhygienischen Untersuchung der Bevölkerung in mecklenburgischen Dörfern. 1961 wurde er auf den Lehrstuhl für Sozialhygiene und Hygiene auf dem Lande in Greifswald berufen, den er bis zu seiner Emeritierung 1983 innehatte. Knabe war u. a. Gründungsmitglied der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR und Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Landmedizin. Vgl. Moser (2002), S. 372 und Krethlow/Maronde (2009), S. 270.
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bereits hervorgehoben: Ärzte sollten „in der einen Tasche die Therapie und in der anderen Tasche die Prophylaxe haben“41 und mindestens die Hälfte ihrer Arbeitszeit auf die Gesundheitsvorsorge verwenden. Demzufolge wirkte sich der Mangel an Ärzten und mittlerem medizinischen Personal, der sich gerade in den ländlichen Regionen stark bemerkbar machte, nicht nur auf die medizinische Versorgung aus, sondern auch auf die Gesundheitserziehung. Knabe nannte als Voraussetzung für die Gewinnung von Ärzten und Gemeindeschwestern auf dem Lande mehrere Bedingungen, von denen er die Verbesserung der Wohnraum- und Lebensverhältnisse der Angehörigen des Gesundheitswesens als wichtigste erachtete.42 Der Aspekt der Wohnraumknappheit43 taucht in den Akten sehr häufig auf. In einem Bericht zur Überprüfung der Lage des ländlichen Gesundheitswesens im Kreis Grimmen von 1957 wurde darauf hingewiesen, dass der Grund für die nicht ausreichende ärztliche Besetzung des Kreiskrankenhauses und die lediglich kommissarische Besetzung des Kreisarztpostens der fehlende Wohnraum sei. Die wenigen Ärzte vor Ort wären „überlastet und sehr alt“. Die unzulängliche ärztliche Versorgung im ganzen Kreis war das herausragende Thema aller Einwohnerversammlungen, wo unter anderem die Meinung geäußert wurde: „Wenn hier einer krank wird, kann er elendiglich zu Grunde gehen.“44 Auch für die Behandlung selbst standen oftmals keine oder nur sehr ungeeignete Räumlichkeiten zur Verfügung. Die Patienten der Schwesternstation der Gemeinde Elmenhorst wurden Mitte der 1950er Jahre im kleinen Wohnzimmer der Schwester, das durch die Küche des Hausbesitzers betreten werden musste, untersucht und behandelt.45 Bestehende Behandlungsräume wiederum wurden nicht selten fremdgenutzt wie die Gemeindeschwesternstation der Gemeinde Faesekow, die vom Bürgermeister kurzerhand zum Wahllokal bestimmt wurde – ohne der Gemeindeschwester oder der Poliklinik (immerhin Kosten- und Rechtsträger der Einrichtung) davon Mitteilung zu machen.46 Die Gesundheitseinrichtungen der Betriebe waren ebenfalls von derlei Raumschwierigkeiten betroffen. Im Überseehafen Rostock-Petersdorf beispielsweise mangelte es 1960 nicht nur an 41 42 43
44 45 46
Diesen Ausspruch des sowjetischen Sozialhygienikers Semaschko (1874–1949), Leiter des Lehrstuhls für Sozialhygiene am 1. Moskauer Medizinischen Institut, zitiert Knabe in: Neue Wege [1955], Bl. 73. Ebenda. Das Land Mecklenburg-Vorpommern war in der Nachkriegszeit stark vom Wohnraummangel betroffen, u. a. durch die enorm hohe Anzahl an Flüchtlingen. Von allen deutschen Ländern hatte Mecklenburg-Vorpommern prozentual den höchsten Anteil an Flüchtlingen (November 1945: ca. 1 Million registrierter Flüchtlinge gegenüber 1,4 Millionen ansässigen Einwohnern); vgl. Widmann (1999), S. 403. Bericht über die Überprüfung im Kreis Grimmen vom 28.3.1957, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 65, Bl. 72 f. Eingabe des Kreisarztes und Leiter der Abteilung Gesundheitswesen Dr. Gehlhaar an den Rat der Gemeinde Elmenhorst, Kreis Grimmen, 10.6.1955, in: Kreisarchiv Nordvorpommern (im Folgenden: KrA NVP), 07/247, unfol. Eingabe der Poliklinik Grimmen an den Rat des Kreises Grimmen, o. D. [1955–1961], in: Ebenda.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 127
Wohnraum für das mittlere medizinische Personal, sondern auch an Räumen für das vorhandene Röntgenschirmbildgerät, sodass „die dringend notwendigen Röntgenreihenuntersuchungen für die Arbeiter der Baubetriebe und für die Schiffsbesatzungen“ nicht durchgeführt werden konnten. Auch hier wurden zwei fremdgenutzte Zimmer nicht frei gemacht, was die Überprüfungskommission zu der Bemerkung veranlasste, dass „für die Fragen des Gesundheitswesens nicht immer das notwendige Interesse“ vorhanden sei.47 Diese personellen und räumlichen Engpässe beeinträchtigten hauptsächlich in den 1950er und 1960er Jahren die medizinische Versorgung und somit auch die prophylaktischen Aufgaben; vereinzelt finden sich aber auch in späteren Dokumenten noch Hinweise auf die gleichen Probleme.48 Bedingt durch den Mangel an medizinischem Personal fehlte häufig einfach die Zeit für gesundheitserzieherische Tätigkeiten. In seiner Jahresanalyse aus dem Jahr 1958 musste das Deutsche Hygiene-Museum feststellen, dass es seiner Aufgabe der methodischen Anleitung zur gesundheitlichen Aufklärung nicht nachkommen konnte, da „alle Mitarbeiter des Gesundheitswesens in den Bezirken und Kreisen mit ihren hauptamtlichen Aufgaben so belastet [waren], daß ihnen kein Raum mehr für die medizinische Aufklärung blieb“.49 1961 äußerte ein Arzt in einem Schreiben ans Ministerium für Gesundheitswesen den Wunsch, man möge den Ärzten Vordrucke für gymnastische Übungen für ihre Sprechstunde zur Verfügung stellen, denn: „Bei der Überfülle der Sprechstunden ist es uns kaum noch möglich, den vielen Patienten, die im Landgebiet mit statischen Beschwerden kommen, sich ständig wiederholende längere Unterweisungen in gymnastischen Übungen zu geben.“50 Auch die umfassende bürokratische Arbeit machte den in der Gesundheitserziehung Tätigen zu schaffen, wie der Brief des Direktors des Bezirkshygieneinstituts Halle vom 27. Januar 1961 belegt. Darin bittet er das Ministerium „um die Prüfung der Frage, ob es nicht zweckmäßig wäre, auch diesen SchwerpunktHalbjahresbericht in dieser umfassenden Form wieder aufzuheben und die Angaben vielleicht ebenfalls aus dem Jahrestätigkeitsbericht zu entnehmen, um im Sinne einer Vereinfachung der Verwaltungsarbeit, Entlastung der Ärzte und Hygieniker von Schreibarbeit, Zusammenstellung von Berichten usw. zu erreichen, zumal mit Berichten die hygienischen Verhältnisse nicht geändert werden können […]“.51 Dass der Arzt als Gesundheitserzieher meist nur auf dem Papier an erster Stelle stand und ihm in der Praxis kaum Zeit für ein beratendes Gespräch im 47 Protokoll über die Abschlussbesprechung am 4.10.1960 anlässlich der Überprüfung des Überseehafens Rostock-Petersdorf, in: LAG, Rep. 200, 2.2.2.4, Nr. 44, Bl. 3. 48 So war z. Bsp. die betriebsärztliche Betreuung des VEB Jugendmoden der Stadt Rostock selbst 1979 vorübergehend aufgrund von Wohnraummangel nicht möglich; Brief der Ltd. Betriebsärztin I. M. Berndt an den Direktor des VEB Jugendmode vom 23.3.1979, in: Stadtarchiv (im Folgenden StA) Rostock, Rep. 2.1.1., Nr. 11122, unfol. 49 Jahresanalyse des DHMD 1958 ans MfGe, in: BArch, DQ 1/6646, unfol. 50 Brief von Dr. Schröder (Kreiskrankenhaus Crivitz) ans MfGe vom 15.6.1961, in: BArch, DQ 1/5255, unfol. 51 BArch, DQ 1/5837, unfol.
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Sinne der Gesundheitsförderung blieb, bilanzierte 1990 eine in der Gesundheitserziehung tätige Lehrerin. Ihrer Einschätzung nach maßen viele Ärzte der Gesundheitserziehung zudem nicht die Bedeutung bei, die ihr von offizieller Seite zugeschrieben wurde.52 Mit dazu beigetragen hat sicherlich der Aspekt der Vernachlässigung einer qualifizierten Ausbildung, die Knabe im Eingangszitat als maßgeblich ausgemacht hat. Die prophylaktischen Aspekte sind im Unterricht an den Hochschulen nämlich zu kurz gekommen, weshalb es den Studenten und späteren Ärzten vielfach an Kenntnissen, Motivation sowie methodischem Rüstzeug fehlte.53 Eine Studienreise der führenden DDR-Gesundheitserzieher in die UdSSR Ende der 1950er Jahre ergab unter anderem, dass die DDR bislang nur sporadisch und unkoordiniert auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung tätig geworden war.54 Die Planstelle eines hauptamtlichen Instrukteurs für Gesundheitserziehung (zunächst für den Bezirk Rostock) sollte zum Ausgangspunkt für ein ausgedehntes Netz der medizinischen Aufklärung werden und somit zur Änderung dieser Situation beitragen. Die „organisatorische Basis für eine breite Bewegung für die Gesundheit zu schaffen“ gelang jedoch nicht, „da dort keine geeignete Persönlichkeit zu finden war“.55 Ein weiterer Versuch in diese Richtung war 1961 die Gründung des Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung, dessen Empfehlungen und Richtlinien durch die verschiedenen Bildungsträger, Medien, Massenorganisationen, Betriebe und Staatsorgane vermittelt werden und somit alle Schichten der Gesellschaft erreichen sollten.56 Nach Einschätzung des Generalsekretärs Rolf Lämmel wurden die Erkenntnisse des Komitees der Bevölkerung jedoch nicht mit dem nötigen Nachdruck nahegebracht, sondern spielten lediglich in den internen Leitungsprozessen eine gewisse Rolle.57 Die fehlende Mitarbeit der Medien beispielsweise wurde in einem Bericht des Präsidiums des Komitees von 1962 kritisiert: Dort heißt es, dass die „Ratgeber für Hygiene“, die alle zwei Wochen an Presse, Funk und Fernsehen verschickt und „zur Grundlage der Erziehungsarbeit gemacht werden sollten, trotz des Vorliegens eines entsprechenden Ministerratsbeschlusses bis auf ganz wenige Ausnahmen von unserer Presse nicht beachtet“ werden.58 Auch das Dresdner Hygiene-Museum kritisierte in einem Schreiben ans ZK der SED das ungenügende Engagement der Medien: „Die Veröffentlichungen bzw. Sendungen waren zahlenmäßig nur relativ gering, nicht systematisch genug und nur in verhältnismäßig wenigen Fällen auf die Schwerpunktaufgaben un52 Vgl. Schuster (1990), S. 286. 53 Vgl. Berndt (1991), S. 193. 54 Ziel der Reise war das Studium der Arbeit des Zentralinstituts für Gesundheitserziehung in Moskau sowie der Organisation und Methodik der Aufklärungsarbeit in der UdSSR; Bericht über Studienreise in die UdSSR, Sept.-Okt. 1959, in: BArch, DQ 1/20542. 55 Jahresbericht des DHM 1959 ans MfGe, in: BArch, DQ 1/6646. 56 Vgl. Lämmel (2000), S. 207. 57 Vgl. Lämmel (1999), S. 122. 58 Bericht des Präsidiums, o. J. [1962], in: BArch, DQ 1/6018, unfol.
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serer sozialistischen Gesundheitspolitik abgestellt.“59 Daran änderte sich scheinbar in den nächsten Jahrzehnten kaum etwas, denn Presse, Rundfunk und Fernsehen wurden – neben örtlichen Volksvertretern, Kombinats- und Betriebsdirektoren, Gewerkschaften und der FDJ – auch 1989 noch ermahnt, ihren „gesundheitserzieherischen Wirkungsgrad“ zu erhöhen.60 Lämmel machte zudem die Erfahrung, dass selbst die leitenden Mitarbeiter der Abteilung Gesundheitspolitik beim ZK der SED sich zum Teil ignorant gegenüber der Gesundheitserziehung verhielten, zum Beispiel nahm keiner der wissenschaftlichen Mitarbeiter der Abteilung je an einer Konferenz des Komitees teil. In der Arbeit der SED spielten seiner Einschätzung nach gesundheitserzieherische Problemstellungen selten eine Rolle und wurden eher belächelt (vor allem das Rauchen und den Alkohol betreffend).61 Umso wichtiger war das Engagement der überwiegend ehrenamtlich oder nebenamtlich tätigen Gesundheitserzieher beim DRK, im Bildungswesen, bei der URANIA oder in den Bezirks- und Kreiskomitees für Gesundheitserziehung. Die Vorsitzende des Kreiskomitees und Leiterin des Kreiskabinetts für Gesundheitserziehung in Schwerin bezeichnete die Tätigkeit in diesen Gremien als äußerst mühevollen, aber wichtigen Bestandteil der „prophylaktischen Basisarbeit“, der von der Bevölkerung in vielerlei Hinsicht genutzt wurde (pädagogische Beratung, Vorträge, Materialausgabe usw.).62 Insgesamt kommt aber auch sie zu dem Schluss, dass die Gesundheitserziehung in der DDR nicht den Stellenwert hatte, der erforderlich gewesen wäre, um das umfassende theoretische Konzept wirksam werden zu lassen.63 Niehoff, der die institutionelle Struktur der Gesundheitserziehung als „organisatorische[…] Aufblähung“ bezeichnet, sieht ebenfalls eine tiefe Kluft zwischen den wissenschaftlichen Anstrengungen, die im Bereich der Gesundheitserziehung unternommen wurden, und deren tatsächlicher Bedeutung.64 Ganz ähnliche Standpunkte zur Organisation und zu den Effekten der Gesundheitserziehung enthielten die Eingaben der Bürgerinnen und Bürger, die sich sehr konkret und klar zu ihren Vorstellungen von einer gesunden Lebensweise und den dafür notwendigen Rahmenbedingungen äußerten. 3.1.1.2 Die Resonanz in der Bevölkerung In den 1960er Jahren verschickte das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung die bereits erwähnten und gemeinsam mit dem Deutschen Hygiene-Museum erarbeiteten Hygieneratgeber: „Kleine ärztliche 59 60 61 62
DHMD an das ZK der SED, 18.12.1962, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Zit. nach: Ewert (1991), S. 110. Vgl. Lämmel (2000), S. 216. Für Schwerin beziffert sie die Begegnungen mit Gruppen und Einzelpersonen für das Jahr 1989 auf ca. 500; vgl. Appen (1990), S. 267. 63 Vgl. Appen (1990), S. 267. 64 Niehoff (1998), S. 197.
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Ratgeber“ an „alle Haushaltungen und jeden, der gesund bleiben will zum Lesen, Lernen und Handeln“. Die im Ratgeber Nr. 2 von 1963 erteilten Ratschläge zum Schutz vor ansteckenden Durchfallerkrankungen (sich um größte Sauberkeit bemühen, unter anderem durch tägliches Händewaschen) sorgten für zum Teil wütende Rücksendungen. So schrieb Herr S. aus einer Gemeinde im Kreis Strausberg, dass die dortige Bevölkerung (circa 6.000 Einwohner) aus Wassermangel nicht in der Lage sei, diese Hinweise zu verwirklichen. Er fragte sich bei der Durchsicht des Merkblattes, „ob ich das ernst nehmen soll, oder ob Sie sich gar keinen Überblick über unsere Wohnverhältnisse“ machen, und bat das Komitee, „uns mit diesen z. Zt. unpassenden Merkblättern zu verschonen“.65 Ein Einwohner aus Müllrose – auch hier musste das Wasser noch gepumpt werden, der Bautermin für die Kanalisation war für das Jahr 1967 vorgesehen – unterbreitete den Vorschlag, den „ärztliche[n] Ratgeber an die betreffenden Organe des Staates zu senden, damit solche unmöglichen Zustände der Vergangenheit angehören, und der Begriff ‚die Sorge um den Menschen‘ nicht zum Schlagwort wird“. Dem Institut wurde „ein fröhliches u. heiteres Spiel, das man da nennt ‚An alle Haushaltungen‘“ gewünscht.66 Für einen weiteren „Betroffenen“ war mit dem Merkblatt „erneut der durchschlagende Beweis erbracht, dass man wohl Anordnungen erteilen und Aktionen ins Leben rufen kann, ohne dabei die geringste Ahnung von der tatsächlichen Wirklichkeit […] zu haben!“.67 Diese Ansicht teilten auch Mitarbeiter des Gesundheitswesens wie der Arzt Dr. Wolf aus dem Bezirk Schwerin, der mit der Art und Weise der Gesundheitserziehung nicht einverstanden war, da sie „häufig nicht den Kern der Sache“ treffe.68 In der Nachbetrachtung der V. Nationalen Konferenz für Gesundheitserziehung 1973 stellte ein Abteilungsleiter des Gesundheitsministeriums fest, in den Hauptreferaten, Diskussionsbeiträgen sowie im Schlusswort seien zu häufig die Ausdrücke „noch wirkungsvoller“, „noch besser“ usw. verwendet, aber keine konkreten kritischen Aussagen getätigt worden. Die Ursache dafür lag seiner Ansicht nach darin, dass „wir nicht über die notwendige genaue Kenntnis der Praxis verfügen und daher nicht sagen können, was anders gemacht werden soll, was konkret verbessert werden mus [sic].“.69 Konkrete Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge kamen dafür aus der Bevölkerung. In seinem Schreiben vom November 1963 warf der Berliner Stadtbezirksverordnete und stellvertretende Vorsitzende der Ständigen Kommission Gesundheits- und Sozialwesen Horst v. G. dem Ministerium für Gesundheitswesen „starke Vernachlässigung“ auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung vor. 65 66 67 68 69
Schreiben von Herrn Fr. S., 24.7.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Anonymes Schreiben aus Müllrose, 15.7.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Brief eines Betroffenen, 12.8.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Schreiben von Dr. Wolf ans MfGe, Januar 1962, in: BArch, DQ 1/20968, unfol. Einige kritische Gedanken zur V. Nationalen Konferenz – zur Anregung für nächste Konferenzen, 2.11.1973, in: BArch, DQ 113/14, unfol.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 131
Er forderte unter anderem eine bessere Durchorganisation und exaktere Durchführungsbestimmungen zum Fragenkomplex der Gesundheitserziehung und ein Ende der „Werkelei“. FDGB, Sozialversicherung, DRK und die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse „arbeiten viel zu isoliert von einander [sic]“, das Deutsche Hygiene-Museum verrichte „völlig ungenügende Arbeit“. Anstelle einer wirklich ernst gemeinten staatlichen Leitungstätigkeit konstatierte er eine Art „Wildgraspolitik“ beim Thema Gesundheitserziehung.70 Die organisatorische Zersplitterung veranlasste auch Ernst P. aus Halle zu einer Eingabe, die den Vorschlag enthielt, alle Vorträge nur noch von einem Komitee zu veranstalten, „damit das Durcheinanderhalten von Vorträgen über Gesundheitsfragen mal ein Ende hat“. Zudem forderte der Schreiber, der sich als Lebensreformer und aktiven Kämpfer für den Sozialismus-Kommunismus (seit 1920) bezeichnete, „aus dem Sektenleben“ herauszukommen und zu einer Massenbewegung zu werden, „denn für den Kommunismus braucht man gesunde Menschen“.71 Johannes S. stammte ebenfalls aus Halle und war Mitglied einer Gruppe, die sich nach dem Krieg gegründet hatte, um die Bevölkerung von einer gesunden und natürlichen Ernährung zu überzeugen72. Er verwies mit seiner Frage „Wie will man gesunde Lebensführung propagieren, wenn man nicht in die Breite geht?“ auf die seiner Meinung nach fehlende Breitenwirkung des Komitees für gesunde Lebensführung, über dessen Tätigkeit der „gewöhnliche Sterbliche“ nichts erfahre. Noch einen Schritt weiter ging der Berufsschullehrer Lothar G. aus Dresden, der die Ansicht vertrat, dass viele Reserven und Potenzen für die Gesundheit der Werktätigen brach lägen, weil zum einen die entsprechende Organisation dafür fehle73 und zum anderen die bestehenden Organe wie das DRK nicht von wirklichen Anhängern einer gesunden Lebensweise geleitet würden, die diese Lebensweise auch selbst beherzigten74. Anscheinend setzten gesundheitsbewusste Menschen wie Lothar G. oder Ernst P. und Johannes S., die sich bereits in früheren Gesundheitsbewegungen engagiert hatten, große Hoffnungen auf das neu formierte sozialistische Gesundheitswesen, das Prophylaxe und Gesundheitsförderung verbal in den 70 Eingabe von Horst v. G. an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, 24.11.1963, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 71 Ernst P. an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung, 2.8.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 72 Er kritisiert in seinem Brief die Auflösung dieser Gruppe und deren Angliederung an das DRK, das seiner Einschätzung nach trotz vieler Versprechungen und reichlich verfügbarer Mittel wenig bis gar nichts mehr in puncto Aufklärung über Gesundheits- und Ernährungsfragen unternehme; Johannes S. an die Schriftleitung des DRK, 26.12.1962, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 73 Sein Vorschlag ans MfGe zur Bildung einer Organisation von Anhängern der gesunden Lebensweise wurde mit der Begründung abgelehnt, dass es das DRK gäbe und es daher nicht erforderlich sei, solch eine Organisation zu gründen; Lothar G. in einem Schreiben ans MfGe, 19.4.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 74 Zur Untermauerung dieser These führte Lothar G. einige Beispiele von rauchenden DRK-Mitgliedern und -Vorsitzenden an; Lothar G. in einem Schreiben ans MfGe, 19.4.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol.
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Mittelpunkt rückte. Viele von ihnen zeigten sich jedoch enttäuscht von den tatsächlichen Maßnahmen und Initiativen des Gesundheitsministeriums. In den Eingaben wurde häufig Unverständnis und Verwunderung zum Ausdruck gebracht. So äußerte Herbert T. aus Dessau, dass er es nicht verstehen könne, dass „in unserem Staat derart wenig […] für die Volksgesundheit getan wird“, obwohl es doch ein Ministerium für Gesundheitswesen und ein Hygienemuseum gebe.75 Hanspeter S. aus Leipzig bescheinigte dem staatlichen Gesundheitswesen der DDR zwar großartige Erfolge hinsichtlich der Erfassung und Betreuung kranker Menschen, nicht jedoch in dem sehr wichtigen Bereich der Propagierung einer gesunden Lebensführung und der Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen. Mit den „vorsichtigen, ja ängstlichen Schritten“, die das Ministerium unternehme, ließen sich diese Aufgaben seiner Ansicht nach jedoch nicht lösen.76 Die meisten Eingabenschreiber misstrauten dem von der Gesundheitspolitik beschrittenen Weg der stetigen und langwierigen Erziehung zum sozialistischen Bewusstsein „mit Hilfe einer beharrlichen Überzeugungsarbeit“77. So wurden die Gesundheitsorgane und Medien von den Bürgern und Bürgerinnen darauf hingewiesen, dass die meisten Leser darüber lachten, wenn in den Zeitungen stand „bitte, bitte denkt an eure Gesundheit“78 oder die Veröffentlichungen zur gesunden Lebensweise von denjenigen, die sich nicht dafür interessierten, erst gar nicht gelesen würden.79 Andere machten die Erfahrung, dass Hinweisschilder zum Nichtrauchen einfach umgedreht und ausgehängte Artikel zu Gesundheitsthemen nach kurzer Zeit entfernt wurden.80 Ein Leipziger Bürger konstatierte daher 1967: „Wenn wir einmal ehrlich an das Problem herangehen, so kann man doch tatsächlich kaum von irgendwelchen bemerkenswerten Erfolgen der ‚Überzeugungskampagne‘ sprechen.“81 Deshalb sollte das Ministerium „mehr Mut“ haben, dem Geschriebenen „Taten folgen lassen“ und „ernsthafte Schritte“ unternehmen. So brachte ein Ernährungsfachmann aus Plauen die Hoffnung zum Ausdruck, im Perspektivplan zur Entwicklung des Gesundheitswesens werde „an Stelle der milden Form der Empfehlung in der endgültigen Fassung die Befehlsform“ treten. Er war der Ansicht, ohne „wohltätigen Zwang“ sei wenig zu erreichen.82 Dieter G. vertrat die Meinung, „daß ein sozialistischer Staat ganz anders an die Durchführung (nicht nur Proklamierung!) der Prophylaxe in jeder Hinsicht herangehen sollte“ und sprach von „totalen, ja meinetwegen ‚totalitären‘ Maß75 Herbert T. an den Staatsrat der DDR, 3.3.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. 76 Brief von Hanspeter S. ans MfGe, 6.11.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 77 Antwortschreiben von OMR Dr. Thränhardt an Lieselotte M. in Magdeburg, 14.3.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 78 Brief von Inge M. aus Gotha an den deutschen Fernsehfunk Prisma, 11.12.1965, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 79 Brief von Walter F. aus Güsten ans MfGe, 14.10.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 80 Brief von Gertrud S. aus Dresden ans MfGe, 30.4.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 81 G. L. aus Leipzig ans MfGe, 13.9.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 82 M. E. Haase an die Ärztekommission beim Politbüro des ZK der SED, 1.10.1959, in: BArch, DQ 1/22318, unfol.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 133
nahmen“, die dabei ergriffen werden sollten.83 Der weit verbreitete Vorschlag, zum Schutz der Menschen gesetzliche Verbote zu erlassen (zum Beispiel Rauchverbote am Arbeitsplatz, in Gaststätten oder öffentlichen Verkehrsmitteln), speiste sich aus den Erlebnissen des Alltags. „Ohne gesetzlichen Schutz, nur mit Appellen an den guten Willen ist leider erfahrungsgemäß […] selten etwas zu erreichen“, schrieb beispielsweise Joachim M. aus Bad Langensalza 1967 an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung.84 Auch Horst K. forderte in seiner Eingabe an den Gesundheitsminister gesetzliche Maßnahmen, „denn auf die Vernunft anderer zu rechnen ist zwecklos“.85 Dabei empörten sich die Bürger insbesondere über das Desinteresse und die Ignoranz der Funktionsträger. Beispielhaftes Vorleben von Verantwortlichen war scheinbar äußerst selten zu finden, dafür Parteimitglieder und Gewerkschafter, die über Gemüseteller spotteten86 oder Abteilungsleiter, die „nicht selten selbst starke Raucher“87 waren. „Was nützen Hinweise in der Presse und im Funk, Arztvorträge und die Aufnahme von Zusätzen im Kollektivvertrag, bei Besprechungen u. dgl. das Rauchen einzustellen, wenn die Verantwortlichen selbst nicht mit gutem Beispiel vorangehen. Alle Hinweise werden nur mit einem Lächeln abgetan, und zu einer neuen Zigarette gegriffen. Selbst manche Ärzte machen hierin keine Ausnahme.“88
Was Lotte K. aus Bernsbach hier 1965 schilderte, lässt sich mit den Erfahrungen vergleichen, die eine Mutter mit ihrem acht Monate alten Kind 1989 in Karl-Marx-Stadt machte. Mona K. brachte in einer Eingabe ihre Verärgerung über die verantwortungslosen Mitarbeiter der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen des Stadtbezirks zum Ausdruck, die in den Dienstzimmern bei geschlossenen Fenstern rauchten und auf ihre Bitte hin, die Zigarette zu löschen, in keiner Weise reagiert hätten – „und daß noch wenn vor diesen Räumen eine Wandgestaltung gegen das Rauchen angebracht ist!“.89 Im Antwortschreiben des Stadtbezirksarztes liest man altbekannte Floskeln, die jedoch im Jahr 1989 seltsam anmuten: Dort wurde die Hoffnung geäußert, dass es gelänge, „nach und nach“ alle Mitarbeiter zu Nichtrauchern zu erziehen, damit sie ihrer Vorbildwirkung als Mitarbeiter des Gesundheitswesens gerecht würden.90 Als „negatives Vorbild“ betrachtete auch die Strausbergerin I. R. die Leitungs83 Eingabe von Dieter G. aus Riesa an die Charité, 13.2.1960, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 84 Joachim M. an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung, 17.2.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 85 Eingabe von Horst K. aus Nieder-Seifersdorf an Minister Sefrin, 15.2.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 86 Eingabe von Dieter G. aus Riesa an die Charité, 13.2.1960, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 87 Horst Z. an die Redaktion der „Freien Welt“, 27.9.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 88 Brief von Lotte K. an das MfGe, 5.12.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 89 Eingabe von Mona K., 30.6.1989, in: BArch, DQ 1/14224, unfol. 90 Antwortschreiben vom Stadtbezirksarzt an Mona K., 25.7.1989, in: BArch, DQ 1/14224, unfol.
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kader im Gesundheitswesen, die durch „Rauchen, Saufen, Fressen […]“ ihre Gesundheit selbst ruinierten und mit Auslandskuren auch noch dafür ‚belohnt‘ würden: „Der gesund Lebende hat ‚bloß‘ Jahresurlaub, der Sünder 2 Entspannungsmöglichkeiten […]“. Gesunde persönliche Lebensführung sei demgegenüber bisher in keiner Form gewürdigt worden. Daher unterbreitete sie dem Gesundheitsminister verschiedene Vorschläge (mehr Urlaub und Sonderurlaubsplätze, Prämien, mehr Gehalt, Kulturangebote sowie einen „Ball der Gesundheitsbewußten“) zur Anerkennung einer gesunden Lebensweise.91 Den Standpunkt, dass es denjenigen, die die Absicht hatten, „sich gesund zu erhalten“, in der DDR zum Teil sehr schwer gemacht wurde, wie die in der Einleitung zitierte Elisabeth F. aus Zwickau es formulierte, vertraten auch andere. Neben dem Aspekt, dass man als Nichtraucher im Büro, beim Mittag im Speisesaal und bei diversen Versammlungen ‚vollgequalmt‘ wurde, spielte die Ernährungslage für viele eine entscheidende Rolle: „Zigaretten und Alkohol sind noch in keinem Lebensmittelgeschäft ausgegangen, aber die notwendigen gesunden Lebensmittel sind nicht immer und überall zu haben.“92 Die gesunden Lebensmittel, die Walter F. aus Güsten in den Regalen vermisste, waren Haferflocken, Vollkornbrot und Diät-Weizen. Ansonsten wurde sehr häufig auf fehlendes Obst verwiesen: „Sollte nicht die Gesundheit an 1. Stelle stehen und an 2. Stelle das Finanzielle? Die Gelder, die man evtl. an Tabak im Ausland einspart, könnte man für andere Lebensmittel (Südfrüchte) verwenden, die den Menschen dienlicher sind.“93 Besonders diese beiden Problemfelder – der Nichtraucherschutz und die Ernährungssituation – sorgten für reichlich Verärgerung und Resignation bei den Mitmenschen. „Wie kann man einen Weg weisen und nicht zugleich dafür Sorge tragen, dass er begehbar ist!“94, erregte sich Werner F. aus Weißenfels in seiner Eingabe zu fehlenden Diät-Lebensmitteln und -Geschäften, während Herr K. aus Werdau ernüchtert die Frage aufwarf, welchen Zweck es für einen Raucher habe, „wenn er des Rauchens entwöhnt, weiterhin täglich den Rauch seiner Arbeitskollegen schlucken muss?“.95 Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die propagierten Ziele und Forderungen der Gesundheitserziehung häufig im Alltag nicht umgesetzt wurden und werden konnten. Ohne die Anerkennung der tatsächlichen Verhältnisse war jedoch keine Verhaltensänderung und effektive Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung zu erwarten. Diese Einschätzung legte 1988 ein Ludwigsluster Arzt in einem Brief an den Gesundheitsminister dar. Als wenig hilfreich erachtete er, dass der Minister der Bevölkerung anlässlich 91 92 93 94 95
Eingabe von Frau I. R. an den Gesundheitsminister, 18.6.1989, in: BArch, DQ 1/14224, unfol. Brief von Walter F., 14.10.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. Schreiben von Annemarie L. aus Karl-Marx-Stadt ans MfGe, 6.11.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Brief von Werner F. an das Institut für Ernährungswissenschaften in Potsdam-Rehbrücke, 16.4.1963, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. Artikel „Den ‚Qualm‘ unterbinden“ des Sicherheitsinspektors K. in der FDGB-Zeitschrift Sozialversicherung, Arbeitsschutz, Nr. 2 (1966), S. 31.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 135
des Weltgesundheitstages eine stabile Gesundheit bescheinigte. Seine eigenen Erfahrungen vermittelten ihm einen anderen Eindruck: „Aber das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis. Und in der Praxis sieht der ärztliche Kollege Tag für Tag Besorgniserregendes.“ Daher forderte er eine „offensive Argumentation mit deutlichen und ehrlichen Worten zur gesundheitlichen Situation. Wir brauchen reale Analysen über diese Situation, aber nicht in verschlossenen Schränken96.“. Zu den besorgniserregenden Verhaltensweisen und Entwicklungen zählte er „Bewegungsmangel, Überernährung und Genußmittelmißbrauch“. Vor diesen „heißen Eisen“ dürfe man sich nicht scheuen, sondern sollte sie auf eine neue, wirksamere Art und Weise anpacken und erläutern.97 Warum diese drei Problemfelder anscheinend bis zum Ende der DDR-Zeit als „heiße Eisen“ galten, wird im Folgenden näher ausgeführt, wobei der Schwerpunkt auf dem Genussmittel-, genauer dem Tabakkonsum, liegt. 3.1.2 Die Einschränkung des Tabakkonsums Während Kochan vor einigen Jahren mit seinem Blauen Würger98 eine umfassende Studie zur Alkoholpolitik und Alkoholkultur in der DDR vorgelegt hat, existiert bislang keine vergleichbar breit angelegte Untersuchung zum Rauchen in der DDR.99 Dabei lohnt sich der Blick auf dieses Spannungsfeld, das sich zusammensetzt aus der Bedeutung des Tabaks als liebgewonnenes Ge96 Daten zu brisanten Gesundheitsthemen wurden oftmals unter Verschluss gehalten oder durften zumindest keiner großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – angefangen von Vermerken „Nicht fürs kapitalistische Ausland“ auf sozialmedizinischen Studien bis hin zu ‚einkassierten‘ Gutachten, wie denen zum Tabak- und Alkoholproblem in der DDR, die in der Vorbereitung der Konferenz des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung zur „Sozialistischen Lebensweise und Gesundheit“ Ende der 1970er Jahre erarbeitet worden waren und von der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED wieder eingezogen wurden; vgl. Lämmel (2002), S. 116. Dieses Vorgehen entsprach der generellen Praxis der SED-Regierung im Umgang mit Informationen und Stimmungslagen aus der Bevölkerung, speziell unter Honecker. Dieser ließ Ende der 1970er Jahre das Institut für Meinungsforschung beim ZK der SED schließen und dessen Datenbank vernichten, als ihm die Forscher Rebellionstendenzen gegen das Herrschaftsmonopol der SED sowie Hoffnungen auf Entspannung und Liberalisierung innerhalb der DDR-Bevölkerung als Ergebnis ihrer Umfragen vermeldeten; vgl. Gibas (2000), S. 71. 97 Brief von Dr. J. M. aus Ludwigslust an Gesundheitsminister Mecklinger (persönlich), 14.7.1988, in: BArch, DQ 1/12332, unfol. 98 Kochan (2011). 99 In den recht zahlreichen kulturgeschichtlichen Abhandlungen zum Rauchen findet die Entwicklung des Tabakkonsums in der DDR höchst selten bis gar keine Erwähnung, beispielsweise bei Dieterich (1998) oder Hengartner (1999). 2002 hat Hong einen ersten anregenden Artikel zur Thematik veröffentlicht, in dem sie ebenfalls mit Eingaben arbeitet. Sie zeigt anhand der gesundheitspolitischen Ziele und Maßnahmen, speziell in Bezug auf das Rauchen, wie schwer der DDR-Regierung die Identitätsbildung und Abgrenzung sowohl gegenüber dem rigiden NS-Vorgängermodell als auch dem Freiheitsverständnis des Westens gefallen ist. Neuburger (2010) liefert einen interessanten Einblick in die Tabakpolitik Bulgariens (mit Seitenblicken auf den Ostblock insgesamt).
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nussmittel und Symbol für Entspannung, Modernität und Emanzipation, als Handelsprodukt und Wirtschaftszweig einerseits sowie als Risikofaktor für die Gesundheit der Menschen andererseits. An dieser Stelle werden zunächst einige Schlaglichter auf die Kulturgeschichte des Tabakkonsums geworfen, die für das Verständnis der Entwicklung in der DDR wichtig sind. Im 20. Jahrhundert trat die Zigarette einen unvergleichlichen Siegeszug an: Sie verhalf dem Rauchen zu noch größerer Popularität und Verbreitung als die Zigarre im 19. Jahrhundert und stieg zum Genussmittel Nummer Eins auf.100 Gründe dafür waren unter anderem die Mechanisierung der Produktion, massive Werbekampagnen der Herstellerfirmen sowie eine kulturell und gesellschaftlich mit der Zigarette harmonisierende Grundstimmung um die Jahrhundertwende. Die für die Zigarette gebräuchlichen Attribute ‚modern‘ und ‚nervös‘ passten ebenso zur Fin-de-siècle-Stimmung wie die Länge der Zigarette als neue Zeiteinheit zur Zunahme des Lebenstempos in dieser Epoche.101 Die Zigarette machte es auch den Frauen einfacher möglich, sich das männliche Privileg des Rauchens zu erobern. Im bürgerlichen 19. Jahrhundert war das Rauchen noch eindeutig männlich konnotiert: Das Pfeife- oder Zigarrenrauchen war mit Orten und Tätigkeiten verknüpft, die Frauen verwehrt blieben (wie die geistige Arbeit, das Studium oder die Kneipe). Zu dieser Zeit wurden auf Karikaturen abgebildete Rauchutensilien in der Hand von Frauen dafür genutzt, diese als unweiblich und „emanzipiert“ zu diffamieren. Bis zum Ersten Weltkrieg war das Rauchen für die meisten Frauen tabu.102 Etwa seit den 1920er Jahren stieg die soziale Akzeptanz weiblicher Raucherinnen; die Entwicklung zum „Unisex-Habitus“ wurde jedoch von vielen Vorurteilen begleitet und setzte sich erst seit den 1960er Jahren langsam durch.103 Nach 1945 fungierte die Zigarette nicht mehr nur als Genussmittel, sondern auch als Mittel zur Bewältigung der enormen Anspannungen der Nachkriegszeit sowie als begehrtes Tauschobjekt und ‚Währung‘ auf dem Schwarzmarkt. In dieser Rolle wurde sie sogar teilweise für Nichtraucher unverzichtbar.104 Im Westen Deutschlands avancierte die Zigarette in den 1950er Jahren durch den Einfluss der amerikanischen Kultur und durch den enormen Nachholbedarf der Bevölkerung in Sachen Genussmittelkonsum zur alltäglichen Erscheinung, insbesondere bei der jungen Generation.105 Kritische Stimmen gegen das Rauchen – vorgebracht von Seiten der Kirche, der Obrigkeit, von Medizinern und Naturwissenschaftlern aus religiösen, moralischen, politischen, sozialen und gesundheitlichen Aspekten – kursierten seit der Verbreitung des Tabaks in Europa im 16. Jahrhundert und hatten den 100 101 102 103
Vgl. Dieterich (1998), S. 25. Vgl. ebenda, S. 25 ff. Vgl. Brändli (1996), S. 86–94. Vgl. Dieterich (1998), S. 29–34 (Zitat S. 32). Weitere Ausführungen zum Genderaspekt des Rauchens in den Kapiteln 3.1.2.2 und 3.3.2. 104 Vgl. Dieterich (1998), S. 36. 105 Vgl. Hanselmann (1991), S. 130 sowie Dieterich (1998), S. 56.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 137
Erlass von Sanktionen und Verboten106 einerseits sowie die Formierung von Anti-Tabak-Vereinigungen107 andererseits zur Folge. Eine massive Kampagne seitens des Staates gegen das Rauchen wurde im nationalsozialistischen Deutschland geführt: Über die Gefahren des Tabaks sollten bereits die Grundschüler unterrichtet werden; es wurden Raucherberatungsstellen eingerichtet, die Werbung für Tabak stark eingeschränkt und schließlich zahlreiche Rauchverbote erlassen (unter anderem in Verwaltungsgebäuden, in Krankenhäusern und Altersheimen und in den Büros der NSDAP).108 Als Gegenkurs zu dieser rigiden Politik der Freiheitseinschränkungen kann die überaus großzügige Werbefreiheit für die Tabakindustrie in der Bundesrepublik und das – zumindest in den 1950er Jahren – Unterbewerten und Verharmlosen der Gesundheitsgefahren durch das Rauchen gedeutet werden.109 Doch wie sah die Situation im östlichen Teil Deutschlands aus? 3.1.2.1 Die DDR und ihr Verhältnis zum Rauchen Während man im Westen in der Nachkriegszeit scheinbar recht unbeschwert die amerikanischen Zigaretten als Symbol des Sieges und des Luxus konsumierte110, sorgten in der DDR bereits Ende der 1950er Jahren mehrere Veröffentlichungen über die Schädlichkeit des Rauchens für Aufmerksamkeit. Artikel in Deine Gesundheit111, in der Neuen Berliner Illustrierten112 oder der Jungen
106 Beispiele: Bulle von Papst Urban VIII. von 1642, die den Tabakgenuss in den Kirchen verbot; Erhöhung des Einfuhrzolls für Tabak im Jahr 1604 um 4.000 Prozent durch König Jacob I. von England, der zudem mehrere Pamphlete gegen den Tabak geschrieben hat. Die Verbote, die in einzelnen Regionen Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert erlassen wurden (beispielsweise in Bayern, Kursachsen oder Berlin), wurden zumeist im Zuge der revolutionären Ereignisse von 1848 aufgehoben. Vgl. Dieterich (1998), S. 15 ff. und Proctor (2002), S. 203. 107 In den USA und England formierten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts diverse überregionale Anti-Tabak-Gesellschaften (viele Vertreter entstammten dem protestantischen Milieu) und versuchten mit moralischen Appellen und Aufklärungsschriften auf die Politik und die Gesellschaft Einfluss zu nehmen; vgl. Dieterich (1998), S. 54. Zur Entstehung deutscher Tabakgegner-Vereinigungen siehe Kapitel 3.1.2.1. 108 Vgl. Proctor (2002), S. 227–235. Die Maßnahmen der NS-Antiraucherpolitik zielten stärker auf das weibliche Geschlecht als auf das männliche ab, was der weit verbreitete Slogan „Die deutsche Frau raucht nicht“ unterstreicht. Hintergrund dafür waren die Ansichten über die Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit des Frauenkörpers, vor allem aber die Annahmen über die Beeinträchtigung der Gebärfähigkeit der Frauen und die Schädigung des Erbguts durch die Einwirkung des Tabaks; vgl. Proctor (2002), S. 247. 109 Vgl. Dinges (2012), S. 139 und Hanselmann (1991), S. 131. 110 Vgl. Dieterich (1998), S. 36. 111 „Nikotin“, in: Deine Gesundheit H. 4 (1957). 112 „Mit oder ohne Glimmstengel?“ Mit dieser Zeile wurde ein Interview mit Gesundheitsminister Steidle betitelt, in: NBI, Ausgabe vom 25.1.1958, S. 18. Mehr zum Interview und den Reaktionen darauf in Kapitel 3.1.2.2.
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Welt113 sowie Broschüren der Reihe Durch Volksgesundheit zur Leistungssteigerung114 und der Fortsetzung Kleine Gesundheitsbücherei115 klärten die Bevölkerung über die Gesundheitsrisiken des Rauchens auf und warnten zunächst vor „ungehemmte[m] Tabakgenuss“116. Ausschlaggebend für diese frühe kritische Auseinandersetzung mit dem Rauchen, die auf großes Interesse in der Bevölkerung stieß, war sicherlich die Tatsache, dass die zwei bereits erwähnten Ärzte Rudolf Neubert117 und Fritz Lickint118 als die entschiedensten Tabak- beziehungsweise Alkoholgegner maßgeblich in der Gesundheitserziehung der DDR wirkten und somit auch Einfluss auf die Themensetzung nahmen. Insbesondere Lickints Rolle ist hier herauszustellen, denn er konnte bereits 1929 als einer der ersten den Zusammenhang zwischen Tabak und Lungenkrebs in einer Studie mit statistischem Material belegen.119 Noch zu Zeiten des Ersten Weltkrieges war der Lungenkrebs eine äußert seltene Erscheinung; in den 1920er und 1930er Jahren stieg die Zahl der Erkrankungen jedoch sprunghaft an.120 Während andere Wissenschaftler diese Zunahme mit einer Vielzahl von Faktoren in Verbindung brachten (zum Beispiel Abgasen, Straßenteer, Röntgenstrahlen oder Fehlernährung), wies Lickint in Untersuchungen mit Lungenkrebspatienten nach, dass der überwiegende Teil von ihnen rauchte. Zudem machte ihn die Tatsa113 „Wie einst gegen die Perücke…gegen Alkoholmißbrauch und das Rauchen zu Felde ziehen“, in: Junge Welt, Ausgabe vom 9.1.1960. 114 „Wem schaden Alkohol, Tabak und Kaffee?“, Lickint (1957). 115 „Lungenkrebs der Raucher“, Lickint (1958). 116 Arzt-Interview zum Thema „Rauchen oder nicht?“, in: Deine Gesundheit H. 2 (1962), S. 42. 117 In den 1920er Jahren veröffentlichte der Sozialdemokrat und Lebensreformer Neubert (Kurzbiographie in Kapitel 2.1.2) Artikel zur Alkoholfrage, in denen er für die Abstinenz eintrat. Bis zum Ende der 1950er Jahre vertrat er in zahlreichen Publikationen diese Position, ordnete sich dann aber der seit 1957 offiziell propagierten Linie des sozialistischen und damit maßvollen Alkoholgenusses unter und schwächte seine Forderungen nach Enthaltsamkeit in den folgenden Jahren immer weiter ab; vgl. Kochan (2011), S. 20–25. 118 Fritz Lickint (Kurzbiographie in Kapitel 2.1.2) war in der Weimarer Republik Mitglied im „Verein abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes“ sowie im Dresdener „Bund Deutscher Tabakgegner“. Letzterer gründete sich 1912 und brachte von 1919–1935 die Zeitschrift Deutscher Tabakgegner heraus. Anhand von Lickints Biographie kann man die Verbindung von Alkohol- und Tabakgegnerschaft nachvollziehen, die oftmals Hand in Hand ging. Ähnlich wie die „Temperance“-Bewegung in den USA setzten sich auch Organisationen wie der „Arbeiter-Abstinenten-Bund“ oder der Hamburger „Alkohol- und Tabakgegnerverein“ für die Abstinenz verschiedener Laster ein. Auch die Vereinigungen der Jugend- und Lebensreformbewegung nahmen Forderungen nach Verzicht auf Alkohol und Tabak in ihre Programme auf. Vgl. Proctor (2002), S. 204 sowie Dieterich (1998), S. 55. 119 Lickint veröffentlichte dieses Material 1929 zunächst in der Zeitschrift für Krebsforschung („Tabak und Tabakrauch als ätiologischer Factor des Carcinoms“). Daran schlossen sich zahlreiche Veröffentlichungen in anderen Zeitschriften (z. Bsp. im Deutschen Tabakgegner) und Monographien zur Wirkung des Tabaks und zur Entstehung des Bronchialkrebses an (u. a. sein Monumentalwerk „Tabak und Organismus“ von 1939); vgl. Proctor (2002), S. 210 f. 120 Vgl. Proctor (2002), S. 207 f.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 139
che stutzig, dass fast ausschließlich Männer von der Krankheit betroffen waren – außer in Ländern, in denen ebenso viele Frauen zur Zigarette griffen.121 Lickint und Neubert waren nach Kriegsende nun ausgerechnet in der Stadt tätig, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Zentrum der deutschen Tabakindustrie bildete und in der sich sämtliche Zigarettenfabriken ansiedelten122, und zwar in Dresden. Daher stammten auch die ersten Veröffentlichungen über die Zunahme des Lungenkrebses aus Dresden.123 Nach dem Krieg wurde weiterhin in der einstigen „Zigarettenmetropole“124 für die SBZ und später für die DDR produziert.125 Lickint setzte von hier aus seinen Kampf gegen den Tabak und den Lungenkrebs nahtlos fort.126 Andere Ärzte gesellten sich dazu: 1953 wandte sich beispielsweise der Obermedizinalrat a. D. Dr. Kurt Schroeder aus Mühlhausen ans Ministerium für Gesundheitswesen und wies auf die deutliche Zunahme der Erkrankungen und Todesfälle an Lungenkrebs hin127, die seiner Meinung nach durch entsprechende Maßnahmen verringert werden könnten. Er forderte umfassende Aufklärungsmaßnahmen über den enorm angestiegenen Tabakkonsum und über die neue und gefährlichere Art des Rauchens (Lungenrauchen).128 1957 schlossen sich 25 Krebsforscher und andere Wissenschaftler der DDR unter dem Vorsitz von Fritz Lickint im Komitee zur Verhütung des Krebses zusammen. Gleich zu Beginn wurde der Beschluss gefasst, über die Presse die Empfehlung zu verbreiten, den Tabakrauch nicht mehr zu inhalieren, da dies als ursächlich für die Zunahme der Lungenkrebserkrankungen angesehen wurde. Der Jugend wurde der Rat erteilt, sich ganz des Rauchens zu enthalten.129 Einige Monate später forderte Neubert in einer Sitzung des Komitees mit dem Zentralrat der FDJ die anwesenden Mitglieder auf, drastische Maßnahmen zur Prophylaxe des Lungenkrebses bei der Jugend zu ergreifen, unter anderem während der Arbeitszeit im Gebäude des Zentralrates sowie auf Veranstaltungen der FDJ
121 Vgl. Proctor (2002), S. 211. 122 Die erste Zigarettenfabrik in Dresden wurde 1862 als Zweigniederlassung der russischfranzösischen Firma „Laferme“ errichtet; vgl. Dieterich (1998), S. 26. 123 Vgl. Lickint (1958), S. 10. 124 Dieterich (1998), S. 26. 125 1946 wurde der Großteil der Zigarettenfabriken enteignet und in VEBs umgewandelt (z. Bsp. die Zigarettenfabriken Kosmos GmbH, Jasmatzi AG, Richard Greiling KG und Union); siehe Bestandsübersicht des HStAD: http://www.archiv.sachsen.de/cps/bestaende. html?oid=09.17 [zuletzt aufgerufen am 9.1.2015]. 126 Lickint war zwar sehr stark in die nationalsozialistische Anti-Tabak-Politik eingebunden, jedoch kein NSDAP-Mitglied. Seine Mitgliedschaft in der SPD und im „Verein sozialistischer Ärzte“ vor 1933 verursachten ihm zeitweise ernste politische Schwierigkeiten; Genaueres dazu bei Proctor (2002), S. 212 f. 127 Schroeder sprach von einer „erschreckende[n] Häufung“ und davon, dass die Tumorerkrankungen in den letzten Jahren um das 11-fache angestiegen seien, insbesondere bei Männern, von denen die meisten stark rauchten. 128 Obermedizinalrat a. D. Dr. Kurt Schroeder ans MfG, 27.4.1953, in: BArch, DQ 1/4848, unfol. 129 Vgl. Lickint (1958), S. 20.
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grundsätzlich nicht mehr zu rauchen oder separate Kantinenräume für Nichtraucher einzurichten.130 Die Bemühungen und Empfehlungen der medizinischen Wissenschaftler fanden aber scheinbar nur wenig Resonanz. So berichtete der Stadtbezirksarzt Dr. Hans Weise aus Karl-Marx-Stadt einem Mitarbeiter im Ministerium für Gesundheitswesen, dass, obwohl das Raucherproblem „mit all seinen schädlichen Folgen allenthalben besprochen“ würde, bei amtlichen Stellen, gleich welcher Art, nicht energischer dagegen vorgegangen würde: „Es gibt keine Besprechung und keine Sitzung, ohne daß danach die Aschenbecher bis zum Rand gefüllt sind.“ Er forderte daher ein absolutes Rauch- und Alkoholverbot während der Dienststunden.131 Auch im Ministerium selbst hatten die Aktivitäten des Komitees wohl so geringen Einfluss, dass dessen Mitglieder 1962 resigniert die Arbeit einstellten.132 Die Galionsfigur Lickint war bereits 1960 verstorben. Die Gesundheitserziehung zur Schädlichkeit des Rauchens verpuffte zudem vor dem Hintergrund der steigenden Produktionszahlen der Tabakindustrie, was im Schreiben eines Mitarbeiters des Gesundheitsministeriums an die Staatliche Plankommission von 1959 deutlich wird. Dort nimmt Rautenberg kritisch Stellung zum dritten Fünfjahresplan133, in dem die weitere Steigerung der Produktion von Tabakwaren festgelegt werden soll: Dem wäre entgegenzuhalten, daß alle Aufklärung über die gesundheitsschädigende Wirkung des Tabakgenusses wirkungslos bleiben muss, wenn der Kreis der Raucher durch eine solche Produktionssteigerung ständig erweitert wird.134
Auch 1965 sollte die Zigarettenproduktion weiter gesteigert werden; die neue Marke „Juwel“ sollte beispielsweise doppelt so hohe Produktionszahlen erreichen.135 Zusätzlich importierte man Zigaretten für Devisen. 1974 wurden in der DDR 18,8 Milliarden Zigaretten hergestellt und darüber hinaus 6,3 Milliarden importiert. Der Gesamtumsatz belief sich damit in jenem Jahr auf 3,6 Milliarden Mark (davon etwa 2,5 Milliarden Mark Steuereinnahmen).136 130 Protokoll der Sitzung des Komitees zur Verhütung des Krebses am 15.2.1958 gemeinsam mit den Mitarbeitern des Zentralrates der FDJ, in: BArch, DQ 1/20434, unfol. 131 Dr. med. Hans Weise am 8.11.1957 an Rautenberg (Mitarbeiter der Abt. Volkskrankheiten im MfGe), in: BArch, DQ 1/2648, unfol. 132 Aussage von Dr. Erhard Geißler, Sekretär des Komitees zur Verhütung des Krebses, im Artikel „Rauchen – kein Attribut der Männlichkeit“, in: Neues Deutschland, Ausgabe vom 25.1.1964, Beilage, S. 11. 133 Nach dem ersten für die Jahre 1951–1955 aufgestellten Fünfjahrplan wurde ein zweiter für die Periode 1956–1960 erlassen. Dieser wurde bereits im Oktober 1959 durch den ersten Siebenjahresplan (1959–1965) abgelöst. Zuständig für die Ausarbeitung dieser langfristigen Volkswirtschaftspläne war die Staatliche Plankommission; vgl. den Eintrag „Fünfjahrplan“, in: Eppelmann et al. (1997): Band 1, S. 300 f. Vermutlich bezieht sich der Mitarbeiter des MfGe, Rautenberg, auf den zu dieser Zeit ausgearbeiteten Siebenjahresplan. 134 MfGe, Abt. Volkskrankheiten (Rautenberg), an die Staatliche Plankommission, Abt. Kultur, Volksbildung, Gesundheits- und Sozialwesen, 6.1.1959, in: BArch, DQ 1/2648, unfol. 135 Vgl. Hong (2002), S. 331. 136 Vgl. Gutachten zum Tabakproblem in der DDR (1976), S. 2, in: BArch, DQ 109/133.
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Wie noch im anschließenden Eingabenkapitel zu zeigen sein wird, spielten diese finanz- und steuerpolitischen Aspekte auch in der seit Mitte der 1960er Jahre noch lebhafter geführten Debatte über das Rauchen eine entscheidende Rolle. Befeuert wurde die Diskussion vermutlich durch von der US-amerikanischen und britischen Regierung zu Beginn der 1960er Jahre in Auftrag gegebenen Studien zum Einfluss des Rauchens auf die Gesundheit und dessen Konsequenzen. In den USA bewirkte beispielsweise der Bericht des amerikanischen Generalbundesarztes von 1964, der alle bisherigen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs zusammenführte, im Jahr darauf den Erlass des Cigarette Labeling and Advertising Act, der unter anderem das Verbot von Zigarettenwerbung im Radio und Fernsehen sowie den Aufdruck „smoking may be hazardous to your health“137 auf Zigarettenschachteln beinhaltete.138 Auf derartige Aktivitäten seitens der DDR-Regierung beziehungsweise des Gesundheitsministeriums oder auch des Ministeriums für Handel und Versorgung zur Einschränkung des Rauchens hofften viele Menschen vergeblich. Ausgerechnet in diesem Bereich scheute man den Weg der Reglementierungen und führte demgegenüber die persönliche Freiheit des Einzelnen und Gewohnheitsrechte ins Feld. Mit Hilfe einer „beharrlichen Überzeugungsarbeit“139 sollte jedem Bürger klargemacht werden, dass Tabakrauchen eine Angewohnheit sei, „die sich nicht mit den Grundsätzen der sozialistischen Moral, nämlich ein gesundheitsförderndes Leben zu führen, vereinbaren läßt“140. Derweil belieferten Tabakautomaten die Bevölkerung rund um die Uhr mit dem „Genußgift“141. Gesetzliche Bestimmungen zum Schutz von Nichtrauchern am Arbeitsplatz und in öffentlichen Bereichen wie sie 1969 und 1974 in den Volksrepubliken Bulgarien und Polen erlassen wurden142 zog die DDR-Regierung nicht in Betracht. Auch Warnaufdrucke auf Zigarettenschachteln oder Steuererhöhungen für Tabakwaren wurden mit dem Argument abgelehnt, dass sie den Zigarettenkonsum nicht einschränken würden.143 Stattdessen verwies man auf die Erziehungs- und Vorbildfunktion der Leiter und Funktionsträger in allen Organen und appellierte an das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gesundheit der Mitmenschen sowie an die sozia-
137 Zit. nach: Hong (2002), S. 334. 138 Vgl. Dieterich (1998), S. 42 sowie Hong (2002), S. 334. 139 Antwortschreiben von OMR Dr. Thränhardt an Lieselotte M. in Magdeburg vom 14.3.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 140 Antwortschreiben von OMR Dr. Thränhardt an Frau Erna A. aus Berlin vom 8.12.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 141 Ludwig (1978), S. 116. 142 Vgl. Gutachten zum Tabakproblem in der DDR (1976), S. 16, in: BArch, DQ 109/133. 143 Antwortschreiben von OMR Dr. Harig an die Arbeitsgruppe zur Förderung des Nichtrauchens des Kreises Sangershausen auf Vorschlag zum Warnaufdruck vom 3.8.1988, in: BArch, DQ 1/12332, unfol. sowie Antwortschreiben an Arthur K. aus Leipzig auf die Forderung nach Steuererhöhung für Tabakwaren vom 11.1.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol.
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listischen Grundgedanken der Höflichkeit und der gegenseitigen Rücksichtnahme.144 Dadurch ergab sich insgesamt gesehen das Bild einer sehr widersprüchlichen Politik – gefangen im Dilemma zwischen sozialistischer Ideologie und ökonomischen und sozialen Realitäten: Der Propagierung einer gesunden Lebensweise und dem öffentlichen Diskurs über das Raucherproblem stand die Ankurbelung der staatlichen Tabakproduktion und der zusätzliche Import von Zigaretten für teure Devisen sowie deren Verbreitung und Anpreisung im Handel gegenüber. Von Regierungsseite erfolgten weder entschlossene Stellungnahmen noch administrative Schritte zur Eindämmung des Tabakkonsums. Hintergrund für den toleranten Kurs gegenüber den Rauchern war die Tatsache, dass auch in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern die Zigarette zum weit verbreiteten Kulturgut gehörte, das insbesondere die Lebensart der Arbeiterklasse sowie Männlichkeit und Modernität verkörperte.145 Die SED-Regierung wägte nach pragmatischen Motiven ab: Sie wollte die große Zahl der Raucher nicht gegen sich aufbringen und nicht durch den Erlass von Gesetzen oder Regelungen in Misskredit geraten, die man nicht bereit oder nicht fähig war, auch durchzusetzen und zu kontrollieren.146 Die einzigen administrativen Schritte in Richtung einer Verminderung des Tabakkonsums und eines Schutzes der Nichtraucher waren die Erweiterung der Nichtraucherabteile in den Zügen der Deutschen Reichsbahn, die Einrichtung von Nichtraucherbahnhöfen (sämtliche U-Bahnhöfe in Berlin, einige Fernbahnhöfe) sowie ein Rauchverbot in öffentlichen Nahverkehrsmitteln.147 Die Werbung für Tabakwaren war bereits Ende der 1950er Jahre eingestellt beziehungsweise nicht mehr mit Mitteln der Regierung unterstützt worden.148 Nichtsdestotrotz schätzten die auf dem Feld der Prophylaxe Tätigen die Situation in der DDR in diesem Bereich als rückständig „gegenüber anderen sozialistischen und kapitalistischen Ländern“ ein.149 „Wir dürfen uns hinsichtlich der Lösung dieses Problems keine weitere Verspätung mehr erlauben, schon gar nicht gegenüber kapitalistischen Staaten, […]“, mahnte 1980 auch der Autor der Broschüre „Lebe ich richtig?“. Er konstatierte weiterhin: „Der Zigarettenkonsum erhöht sich ständig, auch ohne Werbung.“150 Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Zigaretten stieg von 1.069 Zigaretten (1960) auf 1.257 (1970). Der Trend setzte sich in den 1980er Jahren mit ei-
144 Z. Bsp. im Antwortschreiben von OMR Dr. Thränhardt an Gemeindevertreter P. vom 29.3.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 145 Vgl. Neuburger (2010), S. 240. 146 Vgl. Hong (2002), S. 332–338. 147 Vgl. Gutachten zum Tabakproblem in der DDR (1976), S. 19, in: BArch, DQ 109/133. 148 Vgl. Hong (2002), S. 334. Im bereits erwähnten Artikel „Rauchen – kein Attribut der Männlichkeit“ von 1964 ist davon die Rede, dass die Zigarettenwerbung schon seit Jahren eingestellt ist. 149 Gutachten zum Tabakproblem in der DDR (1976), S. 17, in: BArch, DQ 109/133. 150 Oderich (1980), S. 49.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 143
ner Steigerung von inzwischen 1.720 (1980) auf schließlich 1.854 (1988) fort.151 Vor allem Jugendliche, insbesondere junge Frauen und Schwangere152, rauchten seit den 1970er Jahren deutlich mehr, während der Anteil der männlichen Raucher im mittleren Lebensalter rückläufig war. Ende der 1980er Jahre deutete sich in der gleichen Altersgruppe auch eine Abnahme der Raucherinnen an.153 Der steigende Pro-Kopf-Verbrauch bei Zigaretten lässt sich demnach mit dem zunehmenden Konsum durch die Jugendlichen erklären. 1988 rauchten 60 Prozent der Jungen und Mädchen in der DDR – 40 Prozent von ihnen regelmäßig, teilweise bis zu 20 Zigaretten täglich.154 Die in der Jugendarbeit sehr erfahrene Ärztin und Leiterin der Poliklinischen Abteilung für Lungenkrankheiten in Schwedt, Dr. Johanna Goldberg, äußerte sich 1988 in einem Interview mit Deine Gesundheit zu den für die Bekämpfung des Rauchens notwendigen Maßnahmen. Positive Entwicklungen in England, Belgien, Frankreich und Norwegen hätten belegt, dass dazu eine breite Front gebildet werden müsse. In den Medien sollte umfassend über das Rauchen aufgeklärt und informiert werden, Antiraucherprogramme auf Zielgruppen zugeschnitten sowie Gesundheitserziehungsprogramme in den Schulalltag eingebaut und mit für die Jugendlichen interessanten Fragen verknüpft werden. Zudem müsse der Staat einerseits einschränkende Regelungen erlassen (Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden; Werbeverbot, Pflichtaufdrucke sowie höhere Besteuerung für Tabakwaren) und andererseits das Nichtrauchen fördern und unterstützen. In der DDR hätte es hingegen bislang nur „den einen oder anderen Engagierten, die eine oder andere Veranstaltung“ und keine „konzentrierte gesellschaftliche Einflußnahme“ gegeben.155 Goldberg machte ernsthafte gebündelte Bemühungen in der DDR zur Förderung des Nichtrauchens – einer Praktik, die bis in die 1970er Jahre überhaupt nicht propagiert wurde156 – erstmals 1987 aus. Diese Entwicklung lässt sich mit den internationalen Bemühungen der WHO zur Bekämpfung des Tabakkonsums in Verbindung bringen: 1970 wurde das Rauchen zum ernsten öffentlichen Gesundheitsproblem und zur 151 Vgl. Engels (1990), S. 211. Laut WHO-Statistik für das Jahr 1985 betrug der Pro-KopfVerbrauch in der DDR 2.340 Stück, womit die DDR im Weltmaßstab Platz 24 belegte (knapp hinter der BRD mit einem Pro-Kopf-Verbrauch von 2.380 Stück). Nach dieser Statistik müsste der Zigarettenverbrauch in der DDR nach 1985 stark zurückgegangen sein. Vielleicht machte sich hier schon der Trend der insgesamt rückläufigen Anzahl der erwachsenen Raucher bemerkbar (von 45 Prozent zu Beginn der 1960er Jahre auf 33 Prozent Ende der 1980er Jahre). Vgl. Artikel „Ein brennendes Problem“, in: Deine Gesundheit H. 10 (1988), S. 6; Hong (2002), S. 334 und Goldberg (1988), S. 11. 152 Seit den 1970er Jahren war bei den jugendlichen Rauchern insgesamt und besonders bei diesen beiden Gruppen eine statistisch bedeutsame Zunahme zu verzeichnen; siehe Vorwort zum Themenheft „Rauchen ist Asche“, in: Deine Gesundheit H. 10 (1988), S. 2. 153 Vgl. Goldberg (1988), S. 9. 154 Vgl. ebenda, S. 11. 155 Deine Gesundheit H. 10 (1988), S. 5. 156 Entwicklung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen der Bürger der DDR (1970). Komplex I: Konditionssteigerung und Erhöhung der Anpassungsfähigkeit, Teil 3: Tabak – Alkohol – Arzneimittelmißbrauch, S. 2, in: BArch, DQ 1/3654.
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„vermeidbaren Hauptursache des vorzeitigen Todes“ erklärt. Darauf folgten Initiativen wie der Weltgesundheitstag 1980 (Motto „Rauchen oder Gesundheit – entscheide selbst!“), der 1987 erstmalig ausgerufene Weltnichtrauchertag oder die erste Europäische Tabakkonferenz 1988 in Madrid, auf der eine „Charta gegen den Tabak“ verabschiedet wurde.157 Neuburger dagegen stellt für Bulgarien und für den Ostblock insgesamt einen direkten Zusammenhang zwischen dem deutlichen Anstieg jugendlicher und weiblicher Raucher und dem Aufkommen energischer Anti-Raucher-Kampagnen seit Mitte der 1970er Jahre her.158 Auch in der DDR waren bereits zu dieser Zeit verstärkt gesundheitserzieherische Aktivitäten zu vernehmen, insbesondere vorangetrieben durch das Nationale Komitee für Gesundheitserziehung, jedoch handelte es sich dabei weiterhin um Einzelaktionen und keine breiten und entschlossenen Maßnahmen gegen das Rauchen. Das im Jahr 1976 durch eine Reihe von Forschungsinstituten erarbeitete Gutachten zum Tabakproblem in der DDR benannte als Ursachen für bisher nicht erreichte Fortschritte bei der Raucherproblematik neben den zersplitterten Einzelaktivitäten unter anderem die unzureichende Nutzung der vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten, eine Inkonsequenz gegenüber gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie das schlechte Vorbild vieler Erwachsener.159 Interessanterweise wurde zudem hervorgehoben, dass „die Eingaben von Bürgern und gesellschaftlichen Organisationen zum Tabakproblem“ bisher keinen sichtbaren Niederschlag in staatlichen Entscheidungen gefunden hätten.160 Was die DDR-Bürgerinnen und -Bürger in ihren Eingaben konkret äußerten, soll im Folgenden dargelegt werden. 3.1.2.2 Eingaben zu „Qualmstängelchen“ und „blauen Büroräumen“ Wie bereits im vorherigen Kapitel angeklungen ist, stießen die Aufklärungsartikel und -broschüren zum Rauchen Ende der 1950er Jahre auf großes Interesse in der Bevölkerung. Mehrere Redaktionen berichteten dem Ministerium für Gesundheitswesen, dass sie häufig Briefe erreichten, die sich mit der Schädlichkeit des Rauchens befassten.161 Eine regelrechte Flutwelle an Leserzuschriften, aber auch Briefen an das Ministerium für Gesundheitswesen und den Minister selbst hatte 1958 das bereits erwähnte Interview in der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) mit Gesundheitsminister Steidle ausgelöst.162 In ei157 158 159 160
Vgl. Ludwig (1978), S. 120. Vgl. Neuburger (2010), S. 242. Vgl. Nationales Komitee (1978), S. 27 (Gutachten). Diese Passage findet sich allerdings nur in dem unveröffentlichten Gutachten von 1976 (Gutachten zum Tabakproblem in der DDR, S. 21, in: BArch, DQ 109/133) und fand keinen Eingang in die Druckfassung von 1978. 161 Beispielsweise: Frau von heute an Dr. Rautenberg (Leiter der Geschwulstabteilung im MfGe), 8.7.1957, in: BArch, DQ 1/2648, unfol. 162 „Mit oder ohne Glimmstengel?“, in: NBI, Ausgabe vom 25.1.1958, S. 18.
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ner Notiz des Ministeriums hieß es: „Das Interview wegen des Rauchens hat ein Echo, das bisher bei der Redaktion der NBI unbekannt war. Es sind unheimliche Stösse von Post zu diesem Thema eingegangen.“163 In den Briefen der Bürgerinnen und Bürger wurde Steidle zum Teil harsch widersprochen und seine relativ entspannte Einstellung der Raucherthematik gegenüber kritisiert wie zum Beispiel von Max H., der sich vom Gesundheitsminister, als „Hüter der Volksgesundheit“ ein deutlich „kämpferische[s] Eintreten gegen das Rauchen“ erwartet hätte.164 Im von mir durchgesehenen Eingabenbestand des Ministeriums für Gesundheitswesen findet sich eine Vielzahl solcher Äußerungen zum Rauchen, insbesondere zum Rauchen am Arbeitsplatz und in öffentlichen Dienststellen, zur fehlenden Rücksichtnahme auf Nichtraucher (auch durch Abteilungsleiter) und zur Verantwortung der Regierung in Bezug auf die Eindämmung des Tabakkonsums zugunsten der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Einige dieser Eingaben sollen im Folgenden näher betrachtet werden: Von den 402 Eingaben, die im Zeitraum von 1958 bis 1967 in der Hauptabteilung Hygieneinspektion des Ministeriums eingegangen sind, hatten 226, also 56 Prozent, einen unmittelbaren Bezug zum Thema Rauchen.165 Aus dieser Menge von 402 beziehungsweise 226 werden 56 Eingaben in einer qualitativen Überblicksstudie analysiert. Zentrale Fragen sind dabei die nach der Motivation für die Eingabe, den wichtigsten Anliegen sowie den Argumentationsweisen und Stilmitteln. Ergänzt wird das Quellenkorpus um 14 weitere Eingaben aus den 1970er und 1980er Jahren aus dem Bestand der Arbeitshygieneinspektion beziehungsweise dem des Staatssekretärs166, sodass sich insgesamt eine Zahl von 70 Eingaben167 für den Zeitraum von 1958 bis 1989 ergibt. Anlass für ein Schreiben zur Raucherthematik an den Gesundheitsminister, den Staatsratsvorsitzenden, das Komitee für gesunde Lebensführung und 163 BArch, DQ 1/6017, unfol. 164 Max H. aus Döbeln an Minister Steidle, 9.3.1958, in: BArch, DQ 1/6017, unfol. 165 MfGe, Hauptabeilung Hygieneinspektion, Sektor Gesundheitserziehung, Hinweise und Eingaben der Bürger: BArch, DQ 1/6017 (1958–62), 22239 (1963), 22240 (1964), 3614 (1965), 5174 (1964–65), 5175 (1966) und 2433 (1967). Hong hat für ihre Studie ebenfalls mit einigen dieser Akten gearbeitet; ich betrachte die Eingaben jedoch ausführlicher, systematischer und unter einer anderen Fragestellung. 166 MfGe, Gesundheitsschutz in den Betrieben und Arbeitshygieneinspektion, Eingaben: BArch, DQ 1/11734 (1971–73), 14899 (1989) und MfGe, Staatssekretär, Eingaben: BArch, DQ 1/14224 (1989/90). 167 Die 70 Eingaben wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Darunter finden sich 44 Eingaben von Männern (62,9 Prozent), 24 von Frauen (34,3 Prozent), 1 anonyme Eingabe (1,4 Prozent) und 1, bei der sich der Verfasser/die Verfasserin nicht eindeutig zuordnen lässt. Das Geschlechterverhältnis entspricht in etwa dem anderer Statistiken aus dem Gesamtquellenkorpus, wonach Männer ca. 2/3 der Eingaben verfasst haben. Der Anteil der Frauen ist jedoch etwas größer (was der Tatsache geschuldet ist, dass kollektive Eingaben von Betrieben oder Schulen hier gar nicht und anonyme oder nicht zu identifizierende Eingabenschreiber nur in sehr geringer Zahl berücksichtigt wurden; diese machten zusammen etwa einen Anteil von 10 Prozent aus). Siehe dazu auch die Angaben in Kapitel 3.3.2.
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Gesundheitserziehung, Zeitungen oder das Fernsehen der DDR bot den meisten Bürgerinnen und Bürger ein aufschlussreicher Beitrag zum Rauchen in den Medien, dem entweder energisch widersprochen oder ausdrücklich zugestimmt wurde oder dem eigene Gedanken und Ansichten beigefügt wurden. Die eigenen Erfahrungen im Alltag mit rücksichtslosen Raucherkollegen oder die eigens festgestellte Zunahme von hemmungslos rauchenden Jugendlichen und Frauen gaben zusätzlichen Antrieb für kritische Äußerungen, die man nicht länger für sich behalten konnte. „Es ist einfach nicht mehr vertretbar.“, äußerte Margarethe S. aus dem sächsischen Oederan, denn überall würde man „angepafft“, auf der Straße rauche jeder Zweite.168 Paul B. aus Weißenfels machte die Feststellung, dass das Rauchen der Angestellten „gerade nach dem verflossenen Weltkrieg und vornehmlich bei den Frauen während der regulären Arbeitszeit einen Umfang angenommen hat, welcher als erschreckend und besorgniserregend bezeichnet werden muß.“169 Lieselotte M. schrieb dem Ministerium für Gesundheitswesen, der dauernde Aufenthalt in „von Zigarren und Zigaretten blauen Büroräumen“ habe sie zu diesem Schreiben veranlasst.170 Das Rauchen am Arbeitsplatz – in den Büros, bei gemeinsamen Sitzungen und Zusammenkünften jeglicher Art sowie in der Kantine – beschäftigte und erzürnte besonders viele Eingabenschreiber (40 Prozent der Eingaben zum Rauchen thematisierten speziell diesen Bereich). Wie bereits mehrfach deutlich wurde, war die Arbeitssphäre insgesamt der wichtigste Bereich in der marxistischen Lehre und der Betrieb der zentrale Ort des Lebens, an dem man sehr viel Zeit verbrachte und nicht nur zum Arbeiten, sondern auch für gesellschaftliche Veranstaltungen und freizeitliche Aktivitäten zusammenkam. Auch die Gesundheit der Werktätigen hatte demnach Priorität und wurde in den gesundheitspolitischen Richtlinien und der Gesundheitspropaganda sowie den arbeitsrechtlichen Festlegungen explizit hervorgehoben. Auf diese Gesetze und Verordnungen wurde in den Eingaben auch häufig Bezug genommen, besonders anschaulich von dem schon erwähnten Paul B.: Fundamentale Sätze wie: ‚Die Arbeitskraft wird vom Staate geschützt“, oder wie es im Arbeitsgesetzbuch heißt und zwar im § 87: ‚Die Erhaltung und Förderung der Gesundheit und Schaffenskraft als Ausdruck der Sorge um den Menschen ist ein Prinzip der sozialistischen Gesellschaft‘ sind zur Phrase verurteilt, wenn es weiterhin geduldet wird, daß Bürobeschäftigte während der normalen Arbeitszeit durch Rauchen […] gesundheitsgefährdende Einflüsse […] ausüben.171
Auch Gerhard N. aus Magdeburg betonte, dass doch der „Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie der Umweltschutz […] wichtige Faktoren in unserer sozialistischen Gesellschaft“ seien.172 Viele wie beispielsweise Dorothea F. aus
168 169 170 171 172
Margarethe S. aus Oederan, 4.10.1962, in: BArch, DQ 1/6017, unfol. Beschwerde von Paul B. aus Weißenfels, 20.11.1962, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Lieselotte M. ans MfGe, 26.2.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Beschwerde von Paul B. aus Weißenfels, 20.11.1962, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. Brief von Gerhard N. aus Magdeburg, 15.3.1971, in: BArch, DQ 1/11734, unfol.
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Plauen erinnerten die Regierung auch gerne an ihre universale und häufig vorgebrachte Formulierung von der Sorge um den Menschen: Warum wird hier kein Gesetz herausgegeben, daß das Rauchen in den Büroräumen bzw. Arbeitsplätzen verbietet? Auf der einen Seite wird immer von der Sorge um den Menschen gesprochen, auf der anderen Seite läßt man diese Menschen so gewähren.173
Das Unverständnis darüber, dass man ausgerechnet im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat DDR, ausgerechnet an der ‚Hauptwirkungsstätte‘ der Menschen, einer (vermeidbaren) Gesundheitsschädigung so schutzlos gegenüber stand, war enorm groß. Besonders der Aspekt der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins kam häufig zur Sprache. „Wie kann sich aber ein Nichtraucher gegen eine Schar von Rauchern am Arbeitsplatz wehren? Dieser Belästigung ist man hilflos ausgesetzt.“174, fragte die Erfurterin Helene S. in ihrer Eingabe an das Gesundheitsministerium. Oft wurde die Formulierung, man werde „zum Mitrauchen gezwungen“ angewandt wie von Lieselotte R. aus Berlin („Ich glaube nicht, daß man gezwungen werden kann, passiv mitzurauchen und somit eine gesunde Lebensweise einzuschränken.“175) oder Helga H. aus Wolgast: Gibt es bei uns keinen Schutz vor den Rauchern am Arbeitsplatz, wie z. Bsp. Gesetzblätter oder Verordnungen von Ihnen? Muss man sich die Luft verpesten lassen und ‚mitrauchen‘?176
Die Beeinträchtigungen und Schädigungen, welche die Nichtraucher täglich oder langfristig durch die Raucher erfuhren, wurden ausführlich beschrieben wie von Hans J. aus Anklam: „Mancher verlässt nämlich nur des Qualmes wegen eine stundenlange Sitzung völlig zerschlagen.“177 Der Berliner Rudolf D. schilderte in seinem Schreiben an das Ministerium, dass seine Frau und er – nachdem sie vor mehrere Jahren das Rauchen eingestellt hatten – auf fast alle Gelegenheiten gesellschaftlicher Natur verzichten müssten, um sich von rauchenden Umgebungen fernzuhalten. Er selbst hätte sogar seine Arbeitsstelle deswegen verlassen müssen und seine Frau ginge „mit Zittern und Zagen“ an manche gesellschaftliche Verpflichtung.178 Hustenanfälle und Kreislaufstörungen wurden häufig als Folge des (Passiv-)Rauchens benannt, mehrfach wurde das Wort „Leiden“ benutzt. Doch weder die Aufklärung über die Schädlichkeit des Rauchens und Passivrauchens noch die Aufforderungen und Bitten der Nichtraucher hielten die überwiegend als rücksichtslos und unbeherrscht beschriebenen Raucher vom Zigarettengenuss ab. Die Sekretärin des VVB Automobilbau Karl-Marx-Stadt 173 Eingabe von Dorothea F. aus Plauen/V. an das Gesundheitsministerium, 2.2.1971, in: BArch, DQ 1/11734, unfol. 174 Helene S. aus Erfurt ans MfGe, 3.11.1971, in: BArch, DQ 1/11734, unfol. 175 Brief von Lieselotte R. aus Berlin ans MfGe, 20.10.1971, in: BArch, DQ 1/11734, unfol. 176 Eingabe von Helga H. aus Wolgast ans MfGe, Abt. Arbeitshygiene, 8.3.1973, in: BArch, DQ 1/11734, unfol. 177 Hans J. aus Anklam, 31.1.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 178 Rudolf D. aus Berlin an die Regierung der DDR, MfGe, 25.5.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol.
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Johanna W. schilderte das Aufeinandertreffen mit den „unzählig[en]“ rücksichtslosen Rauchern ihrer Dienststelle folgendermaßen: Trotz der Hinweise, daß uns Frauen der Zigarettenqualm sehr lästig ist, kommen sie immer wieder mit Zigaretten im Mund hereingedampft, und beim Diktat wird einem der Qualm dann noch so schön zugepustet.179
Von rüden Reaktionen auf die Bitte, das Rauchen einzuschränken oder zu unterlassen, wussten auch Klaus P. aus Leuna und der zuvor schon zitierte Joachim M. aus Bad Langensalza zu berichten. Der eine erhielt als Entgegnung die „spöttischen bis zynischen Bemerkungen […] wie, ‚sei froh, geräucherte Ware hält sich‘“ oder „wenn wir sterben, kannst du auch mit dran glauben“.180 Dem anderen wurde „mit Spott und frechem ins Gesicht blasen des Rauches“ geantwortet.181 Das Fazit von Emil E., der in seinem Schreiben unter anderem auf die „vernebelt[en]“ Wartesäle der Bahnhöfe, denen sich Nichtraucher auf Reisen bei Kälte oder Regenwetter nicht entziehen könnten, oder die Nachteile für das Bedienungspersonal hinwies, lautete daher: „Fast überall herrscht der Raucher, setzt er sich gedanken- und rücksichtslos durch.“182 Aus diesem Grund forderte der überwiegende Teil der Eingabenschreiber ein härteres Durchgreifen des Staates gegenüber der „Unsitte des Tabakrauchens“183 und eine Bekämpfung der „Seuche“184. Mehr als ein Viertel der 70 Männer und Frauen (25,7 Prozent), die im Quellenkorpus erfasst wurden, verlangte ein direktes staatliches Rauchverbot, insbesondere am Arbeitsplatz und in öffentlichen Dienststellen. Herausragend war dabei die Eingabe von Kurt R., die zwei Listen mit 230 Unterschriften von Arbeitern des VEB Starkstrom-Anlagenbau Karl-Marx-Stadt enthielt: Wir nichtrauchenden Werktätigen […] wollen nicht noch länger durch die Raucher gefährdet werden. Daher fordern wir Unterzeichneten [sic] energisch ein Rauchverbot während der Arbeitszeit und Dienststunden in den Betrieben, Instituten und Behörden, während der Mahlzeiten in allen Speiseräumen sowie in Versammlungen aller Art.185
Weitere Maßnahmen, die zur Reduzierung des Zigarettenkonsums genannt wurden, waren Steuererhöhungen für Tabakwaren, ein Verbot des Verkaufs von Tabakwaren in Lebensmittelgeschäften, die Abschaffung von Zigarettenautomaten sowie das Unterbinden der indirekten Werbung für das Rauchen in Film und Fernsehen. Der Argumentation des Ministeriums, dass man dieses alte Gewohnheitsrecht nicht administrativ verbieten könne, sondern auf erzie179 Johanna W. ans MfGe, 6.1.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 180 Klaus P. ans MfGe, Leuna, 8.10.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 181 Joachim M. aus Bad Langensalza ans Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR, 17.2.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 182 Emil E. aus Oderberg über Eberswalde ans MfGe, 26.2.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 183 Horst M. aus Zwickau an die Sendung Prisma, 7.9.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 184 Eingabe von Wolfgang H. aus Karl-Marx-Stadt, 20.11.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 185 Kurt R., VEB Starkstrom-Anlagenbau Karl-Marx-Stadt, ans MfGe, 26.10.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol.
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herischem Wege auf die Menschen einwirken müsse, hielt beispielsweise der bereits erwähnte Ernst P. aus Halle entgegen, es wäre überhaupt kein Problem, ein Rauchverbot für alle Volksversammlungen und Kulturveranstaltungen zu erlassen, da in Straßenbahnen, Theatern und Kinos ja auch nicht geraucht werden dürfe.186 Außerdem sollte es doch gerade in der DDR – wo „so viel für die Gesunderhaltung der Menschen vom Staate getan“187 und „viel unseres Volksvermögens für die Prophylaxe ausgegeben“188 würde – möglich sein, zum Schutze der Bürger und ihrer Gesundheit, Gesetze zu erlassen. So verwundert und entrüstet wie Anneliese S. äußerten sich zahlreiche Frauen und Männer in ihren Briefen: Ich frage mich immer wieder, warum man sich so fürchtet, ein Gesetz zu erlassen, daß den Nichtraucher endlich vor diesen rücksichtslosen Volksgenossen schützt? Schließlich hat doch ein Bürger unseres Staates nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch ein Recht auf Gesundheit!189
Für viele ergab der Kurs der Regierung den Rauchern gegenüber überhaupt keinen Sinn und das schlüsselten sie in ihren Eingaben auch sehr pointiert auf, wie das Beispiel von Gertrud S. aus Dresden zeigt: Für mich gibt es nur zwei Maximen, entweder die Gefahren für aktive und passive Raucher sind so groß, wie das vom Gesundheitswesen propagiert wird, und dann ist ein Verbot des Rauchens an den Stellen nötig, an denen andere Menschen belästigt werden oder das Gesundheitswesen übertreibt.190
Den Bürgern leuchtete nicht ein, warum trotz der öffentlichen Erklärungen gegen das Rauchen ein übergroßes Angebot an Zigaretten und Tabak in allen Läden und Kiosken sowie an den Automaten vorhanden war. „Sucht man in einem kleineren Bahnhof einen Briefmarkenautomaten, so ist keiner zu finden, aber ein Zigarettenautomat, der hängt bestimmt da, […].“, war die Beobachtung von Annemarie L. aus Karl-Marx-Stadt.191 Besonders häufig wurde die Forderung aufgestellt, den Einkauf von Tabakerzeugnissen im Ausland zugunsten von „Obst und Gemüse oder andere der Gesundheit dienliche Ware“ einzuschränken, wie von Horst M. aus Zwickau. In seinem Schreiben an die Sendung Prisma schilderte er das Ungleichgewicht beim Warenangebot von Zigaretten und Obst: Hat ein Raucher schon mal auf sein Stäbchen verzichten müssen, hat er schon mal Zigaretten kaufen wollen und der Laden war vollständig leer? Für ihn liegt immer ein Qualmstängelchen bereit. […] Dann kann eben der Raucher auch nicht rauchen, genau wie der Nichtraucher keine Apfelsine essen kann.192 186 Ernst P. aus Halle an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung in der DDR, 2.8.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 187 Rudolf R. aus Dresden ans MfGe, 20.1.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 188 Helene S. aus Erfurt ans MfGe, 3.11.1971, in: BArch, DQ 1/11734, unfol. 189 Beschwerde von Anneliese S., 7.3.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 190 Brief von Gertrud S. ans MfGe, 30.4.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 191 Schreiben von Annemarie L. ans MfGe, 6.11.1963, in: BArch, DQ 1/22239, unfol. 192 Horst M. aus Zwickau an die Sendung Prisma, 7.9.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol.
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Für viele der Eingabenautoren und -autorinnen lag der Grund für diese Politik klar auf der Hand: Sie vermuteten, dass nicht mit der erforderlichen Konsequenz gegen den Tabakkonsum zu Werke gegangen wurde, da der Staat nicht auf die Umsätze zur Finanzierung des Staatshaushaltes verzichten wollte.193 Ein Arzt/eine Ärztin aus Bad Klosterlausnitz merkte dazu an, dass es interessant wäre festzustellen, wie sich die Einnahmen der Tabaksteuer zu den Kosten verhalten würden, die durch Arbeitsausfall, Krankengeld, Frühinvalidität und vorzeitigen Tod bei Zigarettenrauchern entstünden.194 Dieser Hinweis wurde mehrmals vorgebracht – noch häufiger jedoch die Ansicht, dass in einem sozialistischen Staat nicht die Finanzen im Vordergrund stehen sollten. „[…] wir hätten wohl keinen sozialistischen Staat wenn ihm diese Einnahmen wichtiger wären als die Volksgesundheit.“, mahnte Karl H. aus Wernigerode, der sein Schreiben an das Gesundheitsministerium explizit mit dem Zusatz „z. Hd. eines Nichtrauchers!“ adressiert hatte.195 Auch der Leipziger Kurt N. vertrat die Meinung: „Wir in unserem sozialistischen Staat sollten auch auf diesem Gebiete fortschrittlich sein oder sollte es andere Gründe geben? (Steuern)“.196 Die Argumente und Handlungsweisen, die von der Regierung auf dem Feld der Tabakpolitik angewandt wurden, passten für die Eingabenverfasser und -verfasserinnen nicht zum Bild des Sozialismus, sondern gehörten in die Welt des Kapitalismus. So wurde die offizielle Linie der Zurückhaltung gegenüber administrativen Einschränkungen des Rauchens und der Verteidigung des Gewohnheitsrechts der Raucher von Johanna K. und von Erika N. energisch zurückgewiesen: „Da faselt man von Einschränkung der persönlichen Freiheit. Soll man sich diese Freiheit aber mit der Aussicht auf einen Lungenkrebs erkaufen?197, fragte Erstere aufgebracht, während Letztere sich sicher war, „diese ‚Freiheit‘, diese ‚Gemütlichkeit‘ und ganze legere Haltung, die da seit 1945 in unsere Büro- und anderen Arbeitsräume eingezogen ist, kann doch keine Eigenschaft des Sozialismus sein!“.198 Andere verwiesen darauf, „sogar im erzkapitalistischen Amerika soll es Gesetz sein, dass jeder Zigaret193 Dieses Argument wurde beispielsweise von Wolfgang H. aus Karl-Marx-Stadt vorgebracht in seiner Eingabe vom 20.11.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol oder von Herrn oder Frau G. L. aus Leipzig in dem Schreiben ans MfGe vom 13.9.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 194 Dr. med. E. V. an die Redaktion der Freien Welt, 5.5.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 195 Karl H. ans MfGe, 23.3.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 196 Kurt N. ans MfGe, 10.11.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 197 Johanna K. aus Crimmitschau an Deine Gesundheit, 3.10.1961, in: BArch, DQ 1/6017, unfol. 198 Erika N. aus Dresden ans MfGe, 7.12.1961, in: BArch DQ 1/6017, unfol. Auch in anderen Eingaben wurde beispielhaft auf die Zeit vor 1945 verwiesen. Die Anti-Raucher-Kampagne der Nationalsozialisten hatte deutliche Spuren hinterlassen, vor allem in Bezug auf das Rauchverhalten der Frauen. Viele Eingabenschreiber echauffierten sich insbesondere über „die holde Weiblichkeit“, die tüchtig rauchte und sich dabei gern „in Pose“ setzte, wie beispielsweise Else B. aus Görlitz in ihrem Schreiben an Walter Ulbricht vom 15.5.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol.
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tenpackung ein Hinweis auf die Schädlichkeit des Rauchens beiliegen muss“199 oder dass ein kapitalistisches Land wie Norwegen der DDR vorexerzieren würde, „was auf diesem Gebiet alles möglich ist. Ich denke, wir haben da noch viel Nachholebedarf!“200. In den meisten Eingaben wurde ein Widerspruch festgestellt zwischen den von der SED immer wieder propagierten Idealen der Arbeitsfähigkeit, Leistungsfähigkeit und Gesundheit und der Tolerierung des Rauchens, das die Beeinträchtigung dieser Werte und Ziele zur Folge hatte – und das nicht nur bei den Rauchern selbst, sondern eben auch bei den Nichtrauchern. Die Regierung käme demnach ihren Versprechungen, alles für die Gesundheit der Menschen zu tun, nicht nach, wenn sie zulasse, dass die Nichtraucher tagtäglich durch den Passivrauch ihrer Mitmenschen geschädigt würden. Viele Bürgerinnen und Bürger vertrauten diesen Zusicherungen oder forderten sich diese vielmehr ein, was dieser Satz der bereits erwähnten Helene S. aus Erfurt belegt: „[…] eine Vielzahl von Nichtrauchern erwartet von unserer Regierung Hilfe und Unterstützung im Kampf gegen die Rauchbelästigung.“201 Aber auch die Behördenmitarbeiter vor Ort, die Verantwortlichen in den Betrieben sowie Lehrer und Erzieher wurden in die Pflicht genommen, sich für den Nichtraucherschutz stark zu machen. Ein Großteil der Menschen wurde jedoch enttäuscht, weil scheinbar „an den verantwortlichen Stellen nur verbohrte Raucher“202 anzutreffen waren, wie der zuvor schon zitierte Herbert T. aus Dessau vermutete. Karl H. – ebenfalls bekannt – äußerte sich in ähnlicher Weise, jedoch bestimmter: All diese Maßnahmen wären natürlich halb so schwierig zu verwirklichen, wenn nicht die Regierung selbst stark mit Rauchern durchsetzt wäre, die natürlich gegen solche Bestrebungen ankämpfen werden und da sie sicherlich in der Mehrzahl sind, wahrscheinlich auch mehr erreichen werden als die Nichtraucher.203
Der auch schon in Erscheinung getretene Hans J. fragte sich, wer mit der Erziehung zum Nichtrauchen beginnen solle, wenn doch „ein grosser Teil der Funktionäre des Partei-, Staats-, Wirtschaftsapparates und der Massenorganisationen“ in vielen Beratungen, Sitzungen und Tagungen so qualmten, „dass sie sich gegenseitig nur noch durch ‚Schleier‘ sehen“ könnten.204 Die in der Bezirksplankommission beim Rat des Bezirkes Dresden tätige Gertrud S. berichtete dem Gesundheitsministerium, dass sowohl die Mehrzahl der Mitglieder der Bezirksparteileitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung als auch die Bezirksärztin rauchen würden, weshalb im Haus „der Wille der Raucher“ dominiere. Auf rauchende Ärzte (und Schwestern) wurde besonders häufig und mit großem Unverständnis hingewiesen. Maria S. aus Meuselwitz schrieb dem 199 200 201 202 203 204
Herbert T. aus Dessau an den Staatsrat der DDR, 3.3.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. Brief von Robert F. aus Dresden, 11.7.1989, in: BArch, DQ 1/14224, unfol. Helene S. aus Erfurt ans MfGe, 3.11.1971, in: BArch, DQ 1/11734, unfol. Herbert T. aus Dessau an den Staatsrat der DDR, 3.3.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. Karl H. aus Wernigerode ans MfGe, 23.3.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. Hans J. aus Anklam, 31.1.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
Minister „Wie oft sieht man Ärzte und Schwestern mit einem Glimmstengel zwischen den Lippen […]“205 und die schon erwähnte Johanna K. zog sogleich die Schlussfolgerung, dass ein Arzt, der „meterweit nach Zigarettenrauch riecht“206 wohl kaum von seinen Patienten erwarten könne, dass diese sich an das von ihm ausgesprochene Rauchverbot halten. Eine bemerkenswerte Beobachtung machte auch die Görlitzerin Else B.: „Am Tage des Gesundheitswesens wurde von Professor Winter das Rauchen als gesundheitsschädigend kaum benannt, weil er als Raucher befangen war.“207 Sehr kritisch sahen zahlreiche Eingabenverfasser insbesondere die fehlenden Bemühungen, das Rauchen unter den Jugendlichen einzudämmen. Nicht nur Rudolf R. aus Dresden hatte angenommen, dass in der FDJ der richtige Platz wäre, um unter der Jugend auf die Gefahren des Alkohols und Nikotins hinzuweisen: „So viel ich in Erfahrung bringen konnte, wird dort kaum davon irgendwie Notiz genommen und der Konsum an diesen beiden in Rede stehenden Dingen ist dort mitunter auch nicht gerade mäßig.“208 Außer bei Walter Ulbricht war scheinbar weit und breit kein vorbildliches Wirken zu finden: Wenn diese Enthaltsamkeit unser Staatsratsvorsitzender Gen. Walter Ulbricht, den wir noch nie rauchend sahen, üben kann, werden dies auch unsere staatlichen und gesellschaftlichen Organe, Genossen, Funktionäre, Lehrer, Sportler usw. können.209
Der überwiegende Teil der Eingabenautorinnen und -autoren brachte insgesamt das Gefühl zum Ausdruck, Raucher – obwohl sie sich und die Gesundheit anderer schädigten – hätten in der DDR mehr Rechte als die Menschen, die sich gesundheitsbewusst und rücksichtsvoll verhielten. Viele von ihnen empfanden es als Zumutung, dass ihnen von Betriebsärzten oder Vorgesetzten der Rat erteilt wurde, sich eine andere Arbeitsstelle zu suchen, wenn sie sich durch den Zigarettenrauch gestört fühlten.210 Die Bürgerinnen und Bürger, denen etwas an ihrer Gesundheit lag, konnten somit sogar in für sie nachteilige Situationen geraten: durch Ausgrenzungen, weil man nicht mehr an gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnahm, durch Anfeindungen, wenn man sich mit seiner Kritik im Kollegium unbeliebt machte, durch Behinderungen im beruflichen Werdegang211 oder durch die Mühen bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Die Alternative bestand für viele darin, den Rauch 205 Schreiben von Maria S. vom 16.7.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 206 Johanna K. aus Crimmitschau an Deine Gesundheit, 3.10.1961, in: BArch, DQ 1/6017, unfol. 207 Else B. an den Staatsratsvorsitzenden und 1. Sekretär des Zentralkomitees Walter Ulbricht, 15.5.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. 208 Rudolf R. ans MfGe, 20.1.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 209 Anonymes Schreiben aus Karl-Marx-Stadt ans MfGe, 14.10.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 210 Von diesen „Lösungsvorschlägen“ berichten sowohl Elisabeth F. aus Zwickau in ihrem Schreiben ans MfGe vom 29.11.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. als auch Carmen P. aus Zwethau in ihrer Beschwerde vom 3.12.89, in: BArch, DQ 1/14899, unfol. 211 Gertrud S. berichtete, dass die nichtrauchenden Mitarbeiter ihrer Dienststelle aus Furcht, durch die höher dotierten Raucher Nachteile in ihrem beruflichen Fortkommen und bei Prämienvorschlägen usw. zu haben, nicht den Mut hätten, etwas gegen den starken Ziga-
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zu ertragen. Sicherlich war es das, was Elisabeth F. mit ihrem Vorwurf meinte, den Menschen, die wirklich die Absicht hätten, sich gesund zu erhalten, würde es in der DDR zum Teil sehr schwer gemacht.212 Im Folgenden sollen noch einige quantitative Angaben zum Quellenkorpus das Kapitel abschließen. Die hauptsächlich in den Eingaben verfolgte Argumentationslinie für den stärkeren Schutz der Nichtraucher war diejenige, die auf die ideologischen, idealistischen und moralischen Grundsätze der DDR abhob und beispielsweise an den Verantwortungs- und Erziehungsaspekt der Funktionsträger oder an die Abgrenzung zum kapitalistischen System erinnerte. In 42 der 70 Eingaben wurden diese Aspekte benannt. Am zweithäufigsten wurden rechtliche und finanzielle Begründungen vorgebracht, wie der verfassungsmäßig garantierte Schutz der Gesundheit oder die durch die Folgen des Rauchens verursachten ökonomischen Belastungen für den Staat. 31 der 70 Eingabenschreiber bezogen sich auf diese Art von Argumenten. An dritter und letzter Stelle tauchen ausschließlich persönliche Motive und ausführliche Leidensdarstellungen auf. In 14 Eingaben traten diese Argumentationen prägnant hervor, wobei Frauen häufiger darauf setzten als Männer.213 Frauen wählten scheinbar eher den emotionalen Weg, während Männer stärker rationale rechtliche und finanzielle Argumente oder ideologische Begründungen anführten. Interessant ist auch die regionale Verteilung der Eingabenabsender. Während der Hauptstadt-Bezirk Berlin in anderen Belangen meist die Eingabenstatistiken anführte, belegte er bei den Raucherfragen zusammen mit dem Bezirk Halle nur Platz vier. Das lässt sich eventuell damit in Zusammenhang bringen, dass Berlin von allen Bezirken den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Zigaretten hatte.214 Die meisten Eingaben stammten hingegen aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt (16), gefolgt von Dresden (11) und Leipzig (8). Diese drei südöstlichen Bezirke waren die alten Zentren der Arbeiterbewegung und zugleich Heimat vieler von der Gesundheitsbewegung beeinflussten Männer und Frauen. Zudem traf man in der Stadt Dresden mit dem Hygienemuseum einerseits und den Zigarettenfabriken andererseits unmittelbar auf zwei starke Antipoden der Diskussion. Mit den hier vorgestellten und analysierten Eingaben wurde ein kleiner Teil der Stimmen sichtbar gemacht, die zur Eindämmung des Zigarettenrauchens und zum Schutz der Nichtraucher Stellung bezogen haben. Zu der Zahl derjenigen, die dieses Problem auch beschäftigte, kommen die in den kollektiven Eingaben direkt benannten oder indirekt als Nichtraucher aus dem Kollerettenkonsum ihrer Kollegen zu unternehmen; Brief von Gertrud S. ans MfGe, 30.4.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 212 Elisabeth F. aus Zwickau ans MfGe, 29.11.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. Auch sie vertrat in ihrer Eingabe die Ansicht, es wäre „endlich an der Zeit, das Rauchen in den Dienststellen von oben herab strengstens zu verbieten.“ 213 In dieser Kategorie war die Verteilung von Männern und Frauen 50 zu 50. In der ersten Kategorie lag das Verhältnis bei 2/3 Männer zu 1/3 Frauen und in der zweiten Kategorie sogar bei 70 Prozent Männer zu 30 Prozent Frauen. 214 Vgl. Paun (1981), S. 85.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
gen- oder Bekanntenkreis angeführten hinzu. Nicht zu vergessen sind die Personen, die Eingaben mündlich vorgebracht haben. Im Vergleich zu anderen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Gesundheitswesens (medizintechnische Versorgung, Spezialbehandlungen, Medikamentenversorgung) und erst Recht im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Themen wie Wohnungsfragen und Reisewünschen sticht die Raucherproblematik quantitativ gesehen nicht sonderlich hervor. Dennoch war sie von großer Relevanz und wurde durch den Druck der Bevölkerung verstärkt diskutiert. Auf der 5. Nationalen Konferenz des Komitees für Gesundheitserziehung 1973 in Magdeburg zum Thema „Sozialistische Arbeitskultur und Gesundheit“ empfahl der Stellvertretende Direktor des Forschungsinstituts für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Berlin-Buch mit Blick auf die Eingabenzahlen, die vorliegenden Rechtsvorschriften, die sich auf den Schutz der Gesundheit beziehen, auch für den Schutz der Nichtraucher konsequent anzuwenden: „In Eingaben aus breiten Schichten der Bevölkerung wird die Forderung nach einem Rauchverbot oder mindestens nach einer Einschränkung des Rauchens am Arbeitsplatz immer lauter.“215 Die Redaktion von Deine Gesundheit erwähnte im Vorwort der Ausgabe vom Oktober 1988, dass sie durch den Kontakt mit den Lesern dazu ermuntert wurde, erneut einen Aspekt des Rauchens zum Hauptthema eines Heftes zu machen.216 Und auch in der vom Nationalen Komitee für Gesundheitserziehung erarbeiteten Grundkonzeption eines nationalen Programms zur „Förderung des Nichtrauchens in der DDR“ vom Dezember 1988 wurde die Dringlichkeit dieses Anliegens neben der gesundheitspolitischen Relevanz mit dem „Druck der öffentlichen Meinung“ begründet.217 Anhand der Raucherthematik ließen sich viele Konfliktfelder und Widersprüche innerhalb des DDR-Systems aufzeigen, was in den Eingaben teilweise sehr spitzfindig und klug bis unverhohlen und zornig zu lesen stand. Wie schon Hong bemerkte, forderte die Regierung durch ihren freiheitlich-pädagogischen Ansatz gegenüber den Rauchern – der sich vom Vorgehen in anderen Bereichen deutlich unterschied – die Kritik der Bürger förmlich heraus.218 Im Mittelpunkt der Diskussion stand daher das Aufeinandertreffen von propagiertem Bild des ‚neuen‘ sozialistischen Menschen einerseits (der anständig lebt und gute Taten vollbringt, kameradschaftlich und hilfsbereit ist, das Kollektiv achtet und seine Kritik beherzigt219) mit der tradierten proletarischen Kultur des Alltags andererseits (zu der Zigaretten und Alkohol ebenso zählten wie derbe Sprüche und ein gelassener Umgang mit Moral und Sittlichkeit, 215 Dr. Landmann im Bericht über die Ergebnisse der Plenardiskussion, in: BArch, DQ 113/14, unfol. 216 Deine Gesundheit H. 10 (1988), S. 2. 217 Nationales Komitee für Gesundheitserziehung der DDR: Die Förderung des Nichtrauchens in der DDR (Grundkonzeption – Nationales Programm), 1.12.1988, in: BArch, DQ 1/13477. 218 Vgl. Hong (2002), S. 339. 219 Siehe dazu die „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“, die Ulbricht 1958 als handlungsleitende Tugenden und Normen verkündete; vgl. Turre (1997), S. 567.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 155
und in der betont gesundheitsbewusste Menschen demnach als Außenseiter gelten mussten). Die verschiedenen von der SED formulierten Idealvorstellungen waren nicht in Einklang zu bringen mit den Erfordernissen und Bedingungen des planwirtschaftlichen Alltags: weder das Ziel der umfassenden Prophylaxe mit den für den Staatshaushalt notwendigen Einnahmen der Tabakindustrie noch die Tugenden der maßvollen Zurückhaltung und Disziplin mit den Versprechungen auf Wohlstand, Konsum und das ‚gute Leben‘. Im nächsten Kapitel soll noch ein kurzer Blick auf die Bereiche Sport und Ernährung geworfen werden, die von der Forschung schon stärker berücksichtigt worden sind, jedoch nicht unter dem Aspekt der Prophylaxe und der Nachfrage seitens der Bevölkerung. 3.1.3 Die Förderung körperlicher Betätigung und gesunder Ernährung Körperertüchtigung und Sporttreiben hatten in der Arbeiterbewegung traditionell einen hohen Stellenwert und wurden demzufolge auch in der DDR stark propagiert. Ob bei der Pausengymnastik oder in der Betriebssportgemeinschaft, beim Turn- und Sportfest oder bei der aktiven Erholung im FDGB-Ferienheim – die Hauptsache war: „Jedermann an jedem Ort – jede Woche mehrmals Sport“220. Walter Ulbricht lebte getreu diesem Leitspruch und betätigte sich bis ins hohe Alter sportlich: Er begann jeden Arbeitstag mit zehn Minuten Gymnastik, demonstrierte seine Fitness und Verbundenheit zum Sport sehr gerne als Vorturner bei großen Turn- und Sportfesten und ließ sich beim Sporttreiben für das Fernsehen der DDR filmen.221 Als wichtige Elemente der sozialistischen Kultur zur allseitigen körperlichen und geistigen Entwicklung wurden Körperkultur222 und Sport sowie deren Förderung durch Staat und Gesellschaft – weltweit erstmalig – in der Verfassung verankert (Artikel 18, 25, 35 und 44).223 Ulbricht verfolgte „missionarisch“224 die Förderung des Leistungssports in der DDR, aber auch dem Massen- und Volkssport (später Freizeit- und Erholungssport) wurde große Bedeutung beige-
220 Von Ulbricht 1968 vor dem Staatsrat der DDR verkündete Losung im Rahmen der Verabschiedung des Beschlusses über die „Aufgaben der Körperkultur und des Sportes bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ vom 20.9.1968; vgl. Priller (1998), S. 295. Häufig liest man auch die Formulierung: „Jedermann an jedem Ort – jede Woche einmal Sport“. 221 Vgl. Frank (2001), S. 287 f. 222 „Körperkultur“ ist ein von der UdSSR geprägter und von der der DDR und anderen sozialistischen Staaten übernommener Oberbegriff für Körpererziehung, Körperübungen etc.; vgl. Litz (2007), S. 25. 223 Vgl. Priller (1998), S. 296. 224 Frank (2001), S. 289. Die Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig 1950 und die kontinuierliche Bereitstellung erheblicher Mittel für deren Ausbau sowie für Forschung und Lehre auf dem Gebiet des Sports gingen maßgeblich auf das persönliche Engagement Ulbrichts zurück.
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messen.225 Letzterer umfasste alle „außerhalb eines relativ straff organisierten Sportbetriebs mit ausgebautem Wettkampfsystem“ durchgeführten Übungsformen der Körperkultur und der aktiven Erholung (Spaziergänge und Wandern, Morgengymnastik, Freizeitspiele, Gesundheitsläufe, Teilnahme an Gesundheitssportgruppen, an Betriebsturnieren, Sportfesten in Betrieben, Wohnbereichen und Erholungsgebieten), die primär der „Verbesserung der allgemeinen physischen Leistungsfähigkeit und der Stabilisierung der Gesundheit“ dienten.226 Dieser auf die Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Erholung fokussierte Alltagssport konzentrierte sich bis in die 1960er Jahre vordergründig auf die Werktätigen und die Betriebssportgemeinschaften. Auch in diesem Feld wurde den Arbeitern ein Vorzugsplatz eingeräumt. Da der Sport der Werktätigen als Bestandteil betrieblicher Sozialpolitik verstanden wurde, flossen ihm beträchtliche Summen aus den finanziellen Mitteln der Betriebe zu (unter anderem aus den Kultur- und Sozialfonds sowie aus den gewerkschaftlichen Budgets).227 Die durch die Betriebe errichteten oder gepflegten Sportstätten hatten daher oftmals einen höheren Standard als kommunale Sportanlagen oder -hallen. Die Breitenwirkung des Betriebssports war enorm und deckte nahezu alle Tätigkeits- und Altersgruppen ab.228 In den Brigadebüchern wurden sportliche Veranstaltungen wie Sportfeste, Kegelabende oder Wandertage regelmäßig und ausführlich dokumentiert229 und auch in den Betriebszeitungen nahm die Berichterstattung über die Aktivitäten und Erfolge der Betriebssportgemeinschaften sowie die Propagierung sportlicher Aktionen breiten Raum ein. Ende der 1960er Jahre wurde dem Freizeit- und Erholungssport insgesamt, das heißt auch dem Sport im Wohngebiet, im Urlaub, in der Familie sowie für ältere Bürger, mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Der Sportwissenschaftliche Kongress zum Thema „Sozialismus und Körperkultur“ mit über 1.000 Teilnehmern in Leipzig 1967230 sowie der Beschluss des Staatsrates über die „Aufgaben der Körperkultur und des Sportes bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ im September 1968 waren hierfür maßgeblich. Mit der Sparte des Erholungs- und Freizeitsports wollte man zwei Drittel der erwachsenen DDR-Bevölkerung erreichen231, auch über informelle und Gelegenheitssportangebote, die dann jedoch möglichst dazu führen sollten, 225 Dem Sport in der DDR widmen sich eine Reihe von Forschungsarbeiten, insbesondere dem Leistungssport sowie der Rolle des Dopings und der Stasi auf diesem Feld. Beispielhaft zu nennen für das noch stark unterbelichtete Feld des Alltagssport ist Hinsching: Alltagssport (1998). Auch der Band von Lehmann et al. (2007) zur DHfK enthält einige Passagen zum Freizeit- und Erholungssport. 226 Zit. nach: Hennig (1998), S. 37. 227 Vgl. ebenda, S. 43. 228 Vgl. Austermühle (1998), S. 135. 229 Gemessen an dem Umfang, den gesundheitsrelevante Aspekte in den Brigadebüchern insgesamt ausmachten, waren die sportlichen Themen in den von mir durchgesehenen 37 Brigadetagebüchern Spitzenreiter. 230 Vgl. Hinsching: Der Bereich (1998), S. 16. 231 Vgl. ebenda, S. 20.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 157
regelmäßig und innerhalb fester Strukturen Sport zu treiben232. Erst in den 1970er Jahren verbesserten sich allmählich die materiellen Voraussetzungen für die sportive Praxis der Allgemeinbevölkerung. Der Bestand an Sporthallen (1960: 3.075, 1979: 7.086) und Hallenschwimmbädern (1960: 52, 1979: 183) wurde erweitert, zudem entstanden neue Kegelbahnen, markierte Wanderwege, Skiwanderrouten sowie Sporteinrichtungen in Betrieben und Ferienheimen.233 In nahezu allen Ferienorten wurden Sportangebote unter dem Motto „Dein Urlaub – kein Urlaub vom Sport“ organisiert, von denen das Wandern, Radwanderungen und Skiwanderungen sowie Schwimmen, Baden und sportliche Spiele am Strand am meisten Anklang fanden.234 Der Sport in den Betrieben blieb hinsichtlich der Beteiligung der bedeutendste Bereich im Freizeit- und Erholungssport235, aber auch die offeneren Formen der sportlichen Betätigung wie das „Tischtennisturnier der Tausende“ oder die „Lauf-Dichgesund“-Veranstaltungen fanden zahlreiche begeisterte Teilnehmer. Von den Sportfunktionären236 unbeabsichtigt, ergaben sich fortan auch Spielräume für Eigeninitiative und nicht standardisierte Sportpraktiken. Das Modell des Freizeit- und Erholungssports wurde zu einem „Eingangstor“ für staatlich nicht beabsichtigte Modernisierungserscheinungen im Sport.237 So ließen sich auch neuartige und zumeist aus anderen Ländern übernommene Sportarten, beispielsweise Aerobic, Yoga, Karate oder Triathlon, die bei der DTSB-Führung auf strikte Ablehnung stießen, weil sie nicht ins Ideologiekonzept passten oder „gefährliche Fertigkeiten“ vermittelten, auf Umwegen und mit großer Findigkeit betreiben.238 Das Leitmotto, jedermann möge an jedem Ort mehrmals in der Woche Sport treiben, wurde nicht nur in den dafür vorgesehenen und staatlich zu kontrollierenden Bahnen umgesetzt, sondern vielfach auch nach eigenen Vorlieben. Viele Autoren des Bandes Alltagssport in der DDR kommen zu dem Schluss, dass die materiellen und technischen Rahmenbedingungen für die Sportausübung im Bereich Freizeit- und Erholungssport trotz der verstärkten Bemü232 233 234 235
Vgl. Hinsching: Der Bereich (1998), S. 17. Vgl. Hennig (1998), S. 39. Vgl. ebenda, S. 47 f. Hierzu einige Daten und Zahlen: Auch in den 1980er Jahren erschienen Männern und Frauen die sportlichen Angebote in den Betrieben attraktiver als diejenigen in den Wohngebieten: Die Teilnahme an Sportgruppen im Wohngebiet lag bei 22 Prozent (Frauen) bzw. 23 Prozent gegenüber 64 Prozent (Frauen) und 71 Prozent (Männer) in den Betriebssportgruppen. 1983 fanden in der DDR in 80 Prozent aller Betriebe und Einrichtungen mit mehr als 50 Beschäftigten Betriebssportfeste statt, die Beteiligung lag 1988 bei ca. 2,8 Millionen; vgl. Hennig (1998), S. 45 f. 236 Organisatorisch eingebunden war der Freizeit- und Erholungssport in die Strukturen des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB); auch der FDGB und die FDJ beteiligten sich an konzeptionellen und politisch-erzieherischen Ausarbeitungen in diesem Sportbereich, wie z. Bsp. dem „Gemeinsamen Sportprogramm“ von 1970; vgl. Hinsching: Der Bereich (1998), S. 19. 237 Vgl. Hinsching: Der Bereich (1998), S. 28 f. 238 Siehe dazu die interessanten Ausführungen von Austermühle (1998) zur Aerobic, zum alpinen Skirennlauf, zu den Kampfsportarten und zum Yoga in der DDR.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
hungen seit den 1970er Jahren unzureichend waren: Hennig spricht von „entwicklungshemmend[en]“ Voraussetzungen und einer „Sportstättenmisere“.239 Für eine wirkliche breitenwirksame sportliche Betätigung waren nicht genügend Sporteinrichtungen und Sportgeräte vorhanden, auch das Angebot an Sportbekleidung war mangelhaft. Geplante Sportbauvorhaben konnten aufgrund der Vorrangstellung des Wohnungsbaus nur teilweise oder gar nicht realisiert werden. Laut einer Studie der DHfK aus dem Jahr 1985 konnte nur jede elfte der untersuchten Sportgemeinschaften Sportstätten in ausreichendem Maße nutzen.240 Hierbei machten sich territoriale Unterschiede bemerkbar – je nach Aktivitäten besonders engagierter Kräfte (Sporteinrichtungen und Geräte wurden beispielsweise in großem Umfang durch die Eigenleistung der Sportler geschaffen oder gepflegt). Zudem wurde der Freizeit- und Erholungssport gegenüber dem Leistungssport durchgängig in der Ressourcenzuweisung benachteiligt – entgegen rühmlicher Versprechungen, dieser Bereich werde dem Leistungssport gleichgestellt241. Die Führung des DTSB konzentrierte sich auf die Leistungssportler und deren Nachwuchs und setzte hier die meisten hauptberuflichen Funktionäre ein242, weshalb im Freizeitbereich häufig qualifizierte Kräfte fehlten wie zum Beispiel im VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau (KKAB) Berlin. Die Frauenkommission des Kombinats beschwerte sich 1973 in einem Leserbrief an die FDGB-Zeitschrift Sozialversicherung/Arbeitsschutz darüber, dass die Pausengymnastik „infolge Mangel an geeigneten Übungsleitern in den einzelnen Territorien des KKAB nur noch in geringem Umfang durchgeführt“ werden könne. Auch in den „Betriebsferienheimen und sonstigen Erholungszentren“ sei eine „Morgen- und Ausgleichsgymnastik im erstrebten Sinne ebenfalls nicht vorhanden“.243 Im Alltag dominierten daher sportliche Tätigkeiten mit Wettbewerbscharakter und Aktionstage wie die Betriebssport- oder Kreissportfeste und Gesundheitsläufe.244 Als positiv und förderlich ist hingegen die grundsätzlich unentgeltliche Nutzung der Sporteinrichtungen in der DDR durch die Sportgemeinschaften des DTSB und andere organisierte Sportvereine einzuschätzen.245 Für die Nichtorganisierten war dies jedoch mit größeren Schwierigkeiten verbunden wie der Psychologe und spätere Direktor des Instituts für Gesundheitserziehung, Peter Voß, 1976 in einem Brief an seinen Zwillingsbruder Klaus Voß berichtete. Zu der Zeit arbeitete dieser am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig und suchte mit einigen Kollegen 239 240 241 242 243
Hennig (1998), S. 64 f. Vgl. ebenda. Vgl. Hinsching: Der Bereich (1998), S. 20. Vgl. Hennig (1998), S. 54. Leserbrief der Frauenkommission des VEB Kombinat Kraftwerksanlagenbau an die Redaktion von „Sozialversicherung/Arbeitsschutz“, 5.2.1973, in: SAPMO-BArch, DY 78/9335, unfol. 244 Vgl. Hennig (1998), S. 53. 245 Vgl. ebenda, S. 65.
3.1 Zur Durchführung und Durchführbarkeit gesundheitsfördernder Maßnahmen 159 […] eine Sporthalle, in welcher wir den Winter über Ballspiele machen können, oder im Sommer einen Sportplatz für Fußball, oder eine Schwimmhalle. Aussichtslos. Alles wird zentral koordiniert und vergeben, und da bleibt für die Nichtorganisierten nichts übrig. […] Die olympische Idee ist in der DDR schon lange dem politischen Prestigedenken zum Opfer gefallen. Wo die höchsten Repräsentanten des Staates ihren Spitzensportlern teure Telegramme schicken, da ist der Volkssport am Ende. Er wird nur deklariert, hat aber keine Mittel und erfährt keine Unterstützung.246
Im gleichen Schreiben schilderte Voß auch, dass er „durch Beziehungen“ in das Leipziger „Zentrum für aktive Erholung“247 kam und dadurch die Möglichkeit erhielt, einmal pro Woche eine Stunde zu Schwimmen – für 48 Mark im halben Jahr! Diese Art der sportlichen Betätigung war also auch nur einem sehr begrenzten Personenkreis zugänglich, zumal sich die Idee des kommunal getragenen Freizeitsportzentrums aufgrund finanzieller Beschränkungen nicht ausbreiten konnte und neben Leipzig nur in Berlin, Magdeburg und KarlMarx-Stadt Zentren für aktive Erholung und Gesundheitssport errichtet wurden.248 Die Ess- und Trinkgewohnheiten der meisten DDR-Bürgerinnen und -Bürger entsprachen der vorherrschenden kleinbürgerlich-proletarischen Kultur249 und waren gekennzeichnet durch eine Tendenz zu sättigender, deftiger Ernährung sowie durch einen unbeschwerten Umgang mit Alkohol.250 Diese Form der kalorienhaltigen Ernährung stellte für schwere körperliche Arbeit ausreichend Energie bereit und sicherte in Zeiten der Not und des Mangels das Überleben; in einer modernen Industriegesellschaft, die gekennzeichnet war durch eine bequemere Lebensweise, ein Defizit an Bewegung und ein Überangebot an Nahrung, führte sie jedoch zu gesundheitlichen Problemen. Die Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED kam 1987 in einem eigens für Honecker angefertigten Bericht zu dem Schluss, dass die DDR-Bevölkerung sich zu fett, zu salzig, zu alkoholhaltig und zu kalorienreich ernährte.251 Hintergrund dafür war die übermäßige Aufnahme von Nahrungsenergie (insbesondere ein sehr hoher Fettverzehr, vor allem gesättigter Fettsäuren), der hohe Konsum von Fleisch, Fleischerzeugnissen und anderen tierischen Nahrungsmitteln sowie der zu geringe Ballaststoffverzehr. Als Verbraucher standen die Ostdeutschen mit an der Weltspitze: 1986 aß jeder DDR-Bürger jähr-
246 Brief von Peter Voß an seinen Bruder Klaus, Leipzig, 9.2.1976, in: Deutsches Tagebucharchiv (im Folgenden: DTA), 1024/I, 2, S. 112. 247 Das „Zentrum für aktive Erholung und Gesundheitssport“ in Leipzig war das erste dieser Art und wurde 1969 eingeweiht. Es bestand bis 1990 und war zwischenzeitlich mit bis zu 12 hauptamtlichen Sportlehrern sowie nebenamtlich tätigen sportpädagogischen Kräften besetzt. Diese Form des Sportzentrums entsprach etwa einem städtischen Fitnesszentrum: Es unterstand der kommunalen Verwaltung – nicht dem DTSB – und diente ausschließlich dem Freizeit- und Gesundheitssport; vgl. Dickwach (2007), S. 444 f. 248 Vgl. Dickwach (2007), S. 445. 249 Näheres zu kulturellen und mentalen Prägungen in der DDR bei Ernst (1993), Müller (1997), S. 75–79; Brandes (2008), S. 68–71 und Kochan (2011). 250 Vgl. Brandes (2008), S. 70. 251 Vgl. Kochan (2011), S. 130.
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lich 96 Kilo Fleisch252, 43 Kilo Zucker, 15,7 Kilo Butter und 307 Eier.253 Auch beim Konsum von Spirituosen lag die DDR-Bevölkerung im Weltmaßstab an vorderster Stelle: Ende der 1980er Jahre wurden jährlich pro Kopf 15,5 Liter Spirituosen konsumiert (im Westen waren es 5,8 Liter).254 Jutta Voigt zufolge war die Nachkriegszeit bis zum Ende der DDR gegenwärtig und auch die nach 1958 immer wieder angeordneten Rationierungen prägten das Konsumverhalten der Bürgerinnen und Bürger. Die Leute kauften mehr als sie brauchten, sie bunkerten und horteten für schlechtere Zeiten.255 Selbst über die Medien wurden diese Ernährungsformen glorifiziert (Eisbein, fettes Kammfleisch, Sahnetorte und Alkohol)256, wohingegen die Gesundheitserziehung es schwer hatte, gesündere und modernere Ernährungsverhaltensweisen zu propagieren.257 Eine Denkschrift des Potsdamer Instituts für Ernährungswissenschaften von 1958 zur „Sicherung und stufenweisen Verbesserung der Volksernährung als Grundpfeiler für Volksgesundheit und Leistungsfähigkeit“ warnte schon zu dieser Zeit vor übermäßigem Verzehr von Zucker, Fleisch und Eiern und plädierte für eine gesunde Ernährung durch Obst, Gemüse und Geflügelfleisch. Diese Warnungen wurden jedoch in den Wind geschlagen – standen sie doch dem Ehrgeiz des damaligen SED-Chefs Ulbricht entgegen, West-Deutschland im Pro-Kopf-Verbrauch an Butter einzuholen sowie generell der Tendenz, den Lebensstandard über das Essen zu definieren. Und Essen ohne Fleisch war eben für den Großteil der Bevölkerung kein richtiges Essen.258 Abhilfe schaffte in gewisser Weise der Broiler259, dessen zartes Fleisch viel Eiweiß und wenig Fett enthielt. Die Erfolgsgeschichte des Broilers und der gleichnamigen Bars, die sich seit Ender der 1960er Jahre ausbreiteten, führte jedoch nicht dazu, dass im Gegenzug weniger Schweinefleisch gegessen wurde.260 Würzfleisch, Bouletten und Hackbraten blieben „Konstanten der DDRErnährung“261. Bei anderen Lebensmitteln gab es hingegen dauerhafte Ver252 Laut Bundesverband der Deutschen Fleischwarenindustrie e. V. lag der Fleischverzehr pro Kopf in Deutschland 2011 bei 61,6 Kilo [http://www.bvdf.de/in_zahlen/tab_05, zuletzt aufgerufen am 11.3.2015]. 253 Vgl. Voigt (2008), S. 10. 254 Vgl. ebenda, S. 132. 255 Vgl. ebenda, S. 49. 256 Vgl. Kochan (2011), S. 130. 257 Alf Lüdtke konstatiert in seinem Aufsatz zu männlichen Körpern, dass seit Mitte der 1960er Jahre in den DDR-Illustrierten deutlich mehr Männerbäuche in Erscheinung traten (und nicht mehr die muskulösen Körper der Aufbaujahre). Lüdtke macht einerseits eine gewisse „Normalisierung“ innerhalb der Gesellschaft dafür verantwortlich und andererseits bedeutete diese Zurschaustellung seiner Meinung nach die Demonstration von Wohlstand und des guten Lebens. Die zeitgleich einsetzende Debatte unter den Ärzten zum Thema Übergewicht der DDR-Bevölkerung wurde Lüdtke zufolge nur intern geführt und erreichte die weit verbreiteten Medien, wie die NBI, nicht; vgl. Lüdtke (2011). 258 Vgl. Voigt (2008), S. 54. 259 Der in der DDR übliche Begriff für das Brathähnchen. 260 Vgl. Voigt (2008), S. 123 ff. 261 Ebenda, S. 114.
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sorgungslücken wie zum Beispiel bei frischem Obst und Gemüse, aber auch bei Molkereiprodukten, Dauerbackwaren, Knäckebrot, Reis, Kindernahrung und anderem.262 Gravierende territoriale Angebotsunterschiede – beispielsweise zwischen den ‚Schaufenster‘-Bezirken Berlin und Leipzig und den Landbezirken Rostock und Schwerin – sorgten für zusätzlichen Unmut.263 Diese Mängel und Fehlentwicklungen bei der Nahrungsmittelbereitstellung waren häufig Anlass für Eingaben beziehungsweise einer der Kritikpunkte, die im Zusammenspiel mit anderen wahrgenommen und in den Eingaben artikuliert wurden. Insbesondere der Vergleich zum stets vorhandenen Angebot an Tabakwaren und Alkoholika wurde gerne bemüht wie in der Eingabe des bereits erwähnten Ernährungsfachmannes aus Plauen von 1959: Wann wird endlich aufgehört werden, in so überreichem Maße Kartoffeln und Getreide zu hochprozentigen Schnäpsen zu verarbeiten. Wenn hie und da einmal irgend etwas knapp ist, diese beiden Volksverdummungs- und Vernichtungsmittel füllen immer die Regale. Es würde der Volksgesundheit viel mehr nützen, wenn die Gemüseanbauflächen vergrößert werden könnten.264
Auch die schon zitierte Maria S. aus Meuselwitz forderte in ihrem Schreiben an den Gesundheitsminister 1965, der Staat solle „keine Devisen für Gift, sondern für Obst, Südfrüchte, Mandeln und Nüsse aus[…]geben, um endlich einmal der großen Nachfrage und dem viel zu geringen Angebot Rechnung zu tragen“.265 Von den Eingabenautoren auf die Mängelliste gesetzt wurden ebenfalls Vollkorn-, Weizenkeim- und Früchtebrot, Diätweizen, Gerste, Roggen und Haferflocken, brauner Zucker und Naturreis, verschiedene Frucktquark- und Joghurtsorten sowie Frucht- und Gemüsesäfte. Walter F. aus Güsten – auch dieser wurde bereits vorgestellt, jedoch mit einer späteren Eingabe – machte vor allem die lückenhafte Versorgung mit Vollweizen, den er für seinen täglichen Frühstücksvollkornbrei brauchte, sehr zu schaffen (insbesondere die Tatsache, dass Hühnerhalter diesen für Futterzwecke erwarben). Er gab in seinem Schreiben an die Staatliche Hygiene-Inspektion im Ministerium für Gesundheitswesen von 1963 zu bedenken, dass die Menschen in der DDR, die naturgemäß leben und sich gesund ernähren wollen, „den Glauben verlieren und die Überzeugung haben, daß man im Sozialismus nicht nach seiner Gesundheit leben kann“, wenn sich die Lage nicht bessere.266 Mehrfach angemahnt wurde auch das Missverhältnis zwischen alkoholfreien und alkoholhaltigen Getränken (zum Beispiel in Gaststätten). Wenn überhaupt, wären Selters oder gesunde Fruchtsäfte dort nur zum doppelten Preis zu bekommen:
262 Vgl. Voigt (2008), S. 110. 263 Vgl. ebenda, S. 103 f. 264 M. E. Haase an die Ärztekommission beim Politbüro des ZK der SED, 1.10.1959, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 265 Schreiben von Maria S. vom 16.7.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 266 Walter F. an Herrn Oberarzt Dr. Klingler im MfGe, Staatliche Hygiene-Inspektion, 10.9.1963, in: BArch, DQ 1/22318, unfol.
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„Ein Glas Apfel- oder Sanddornsaft [ist] mindestens doppelt so teuer wie ein Glas Bier“, kritisierte Herr G. L. aus Leipzig.267 Die Versorgungslage brachte auch die Gesundheitserziehung in Erklärungsnöte: Erzürnte Bürgerinnen und Bürger wandten sich an das Deutsche Hygiene-Museum oder den Verlag „Volk und Gesundheit“ und schilderten ihre Enttäuschung darüber, die vorgefundenen Rezepte nicht nachkochen zu können268 oder Empfehlungen aus Ernährungsvorträgen nicht umsetzen zu können, da es die entsprechenden Zutaten nicht zu kaufen gäbe269. Die Ausstellung des Hygiene-Museums „Deine Ernährung – Deine Gesundheit“ wurde in den 1960er Jahren sogar vom Ministerium für Gesundheitswesen eingezogen, weil sie nicht den „gegenwärtigen Möglichkeiten der gesunden Ernährung der Bevölkerung angepaßt“ war.270 Sie sollte so lange ruhen, bis Obst und Gemüse wieder in ausreichendem Maße vorhanden wären oder aber die Ausstellungstafeln verändert würden und nur auf die derzeit vorhandenen Lebensmittel orientierten.271 Auch in den 1970er und 1980er Jahren blieben insbesondere Obst und Gemüse Mangelware oder kamen zum Teil in sehr schlechtem Zustand – welk und faulig – in den Handel.272 1988 beschwerten sich Kollegen einer polytechnischen Oberschule aus Rodewisch in einem Leserbrief an Deine Gesundheit über unzureichende Möglichkeiten, sich gesund zu ernähren: Wir wissen wohl sehr genau, welche Lebensmittel und welche Lebensweise angebracht wären, doch scheitert dies immer wieder an der Bereitstellung optimaler Lebensmittel im Handel.273
Diese Ausführungen sollen als Überblick zu den Rahmenbedingungen für sportliche Betätigung und gesunde Ernährungsweise in der DDR genügen. Hier besteht noch breiter Raum für anknüpfende Forschungsarbeiten, insbesondere hinsichtlich der Reaktionen in der Bevölkerung auf diese Umstände. Zunächst sei aber ein kurzes Zwischenfazit gezogen, bevor der Gesundheitsalltag am Arbeitsplatz näher betrachtet wird.
267 Herr G. L. aus Leipzig ans MfGe, 16.5.65, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 268 Brief von Robert S. aus Erfurt an den VEB Verlag Volk und Gesundheit, 14.3.1960, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 269 Eingabe einer Leipziger „Hausfrau-Ernährungstechnikerin“ ans DHMD, 22.7.1960, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 270 Brief des MfGe, Abteilung Wissenschaft und Forschung, an den kommissarischen Direktor des DHMD Kunkel, 1.6.1962, in: BArch DQ 1/5255, unfol. 271 Einige Tafeln sollten ganz herausgenommen werden, andere verändert (beispielsweise sollte Auskunft darüber gegeben werden, wie der Mineralstoffbedarf gedeckt werden könne, auch wenn Milch, Obst und Gemüse nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stünden); Brief des MfGe an Direktor Kunkel, 1.6.1962, in: BArch DQ 1/5255, unfol. 272 Vgl. Voigt (2008), S. 127 f. 273 Deine Gesundheit H. 7 (1988), S. 18.
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3.1.4 Zwischenfazit Der propagandistische Aufwand, der im Bereich der Gesundheitserziehung betrieben wurde, stand in keinem ausgewogenen Verhältnis zum reellen Nutzen. Im Alltag fehlten häufig (qualifiziertes) Personal und Zeit, oftmals auch die Mittel, vor allem jedoch die Durchsetzungskraft, um die Anliegen der Gesundheitserziehung sowohl innerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens als auch gegenüber anderen Ressorts zu verteidigen. Angesichts drängenderer Probleme im Gesundheitswesen (Personalfragen, Werterhaltungs- und Investitionsprobleme, Schwierigkeiten bei der Bereitstellung von Arzneimitteln und Medizintechnik) rückten Fragen der Gesundheitserziehung oftmals in den Hintergrund und konnten nicht die Bedeutung erlangen, die ihnen propagandistisch zugeschrieben wurde.274 Hinderlich für eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung war außerdem der offensichtliche Widerspruch zwischen den gesundheitserzieherischen Forderungen und dem häufig dazu in Kontrast stehendem politischen Handeln, was beispielsweise anhand des Konflikts zwischen der Propagierung eines verminderten Tabakkonsums und der Ankurbelung der Produktionszahlen in der Tabakindustrie sowie der Tabakwarenimporte deutlich wurde. Zudem legten insbesondere Leiter und Funktionäre nicht das geforderte vorbildliche Gesundheitsverhalten an den Tag. Die Gesundheitserziehung wurde daher von einem Großteil der Bürgerinnen und Bürger nicht ernst genommen und ignoriert.275 Exemplarisch zeigt dies der Bericht eines Ausstellungsleiters aus dem Dresdner Hygiene-Museum, in dem von einer Boykottaktion der Ausstellung „Unser Dorf“ im thüringischen Schalkau die Rede ist. Den Saal, der für die Ausstellung vorgesehen war, wollten die FDJ und die Freiwillige Feuerwehr für eine Tanzveranstaltung nutzen; der Bürgermeister (immerhin SED-Mitglied und ehemaliger Major der Volksarmee) drohte dem Ausstellungsleiter damit, Gegenpropaganda gegen die Ausstellung zu betreiben, wenn dieser nicht bereit wäre, auf andere Räumlichkeiten auszuweichen. Schließlich wurde eine Kiste mit Ober- und Unterholmen entwendet, die für die Bildtafeln benötigt wurde. Die Ausstellung konnte dadurch nicht verhindert werden, jedoch erschien kein einziger Jugendlicher und wurde keinerlei Werbung im Stadtfunk für die Ausstellung gemacht. Selbstkritisch merkte der Ausstellungsleiter aber auch an, dass die Bevölkerung Schalkaus, die überwiegend aus Industrie-Arbeitern bestand, für eine Ausstellung mit landwirtschaftlichem Fokus und dem Titel „Unser Dorf“ wenig Verständnis aufbringen konnte.276 Neben teilweise verfehlten gesundheitserzieherischen Maßnahmen waren auch die materiellen und ideellen Voraussetzungen für eine gesunde Lebensweise häufig nicht ideal, was anhand der Bereiche Nichtraucherschutz, Ernäh274 Vgl. Lämmel (2000), S. 216. 275 Vgl. Appen (1990), S. 267 f. 276 Bericht des Ausstellungsleiters Gerhard H. vom 18.5.1959 über Boykottaktionen im Rahmen der Ausstellung „Unser Dorf“, in: BArch, DQ 1/6646, unfol.
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rung und Sport gezeigt wurde, darüber hinaus aber auch die Arbeits- und Umweltbedingungen in der DDR mit einschloss. Deutlich zu kurz gekommen ist der Aspekt der Eigenmotivation für gesundheitsförderndes Verhalten. Sich nach eigenen Vorstellungen gesund zu ernähren und individuell präferierte Sportarten auszuüben war nur sehr begrenzt möglich. Die SED-Regierung verwehrte beziehungsweise behinderte selbstgewählte Wege der Gesunderhaltung. So konnten sich beispielsweise (unter Verweis auf die bestehenden staatlichen Organe wie das DRK) keine Gesundheitsvereine gründen, wurde körperliche Betätigung in unerwünschten Sportarten in halblegale Bereiche abgedrängt und die Verbreitung alternativer Heilmethoden unterbunden277. Einige DDR-Bürgerinnen und -Bürger ließen sich von diesen Einschränkungen nicht abbringen und fanden Nischen, in denen sie ihre Gesundheitspraktiken ausleben konnten. In Eingaben äußerten sie zudem ihren Unmut über die ungenügenden und wenig zwingenden Maßnahmen der Gesundheitserziehung sowie ihre Enttäuschung darüber, dass zwar viel über die Prophylaxe gesprochen und geschrieben, aber wenig davon auch in die Praxis umgesetzt werde. Horst S. beispielsweise formulierte dies in seiner Eingabe an den Minister für Gesundheitswesen von 1988 folgendermaßen: „Bald könnte man die Meinung vertreten, daß unser sozialistisches Gesundheitswesen nur theoretisch gut ist und in der Praxis versagt.“278 3.2 Gesundheitsalltag im Betrieb Beim folgenden Einblick in die Abläufe des Betriebsgesundheitswesens im Bezirk Rostock werden in erster Linie die Rahmenbedingungen für die Tätigkeiten des medizinischen Personals, genauer für die Ausübung ihrer prophylaktischen Aufgaben, sowie generelle Aspekte des Gesundheits- und Arbeitsschutzes analysiert. Fokussiert werden dabei der Krankenstand sowie die Erkältungsprophylaxe in den Blick genommen. Die Patientenperspektive kann in diesem Kapitel meist nur indirekt über die Betriebsärzte und -ärztinnen sowie die Betriebsschwestern, die sich in verschiedensten Dokumenten zum Gesundheitsverhalten und -zustand der von ihnen betreuten Betriebsangehörigen äußerten, abgebildet werden. 3.2.1 Arbeitsabläufe im Betriebsgesundheitswesen des Bezirks Rostock Der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED war von Beginn an sehr stark an der Etablierung und Ausgestaltung einer umfassenden Gesundheits- und Arbeitsschutzgesetzgebung gelegen, wie bereits in Kapitel 1.1.4 ausgeführt 277 Zur Homöopathie in der DDR, die unter dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit stand und starken Einschränkungen unterlag, siehe Nierade (2012). 278 Horst S. aus Köthen an den Minister für Gesundheitswesen, 18.7.1988, in: BArch, DQ 1/12332, unfol.
3.2 Gesundheitsalltag im Betrieb
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wurde.279 Im sogenannten Arbeitsgesetz von 1950 und der Arbeitsschutzverordnung von 1951280 wurden alle Aspekte des Arbeitsschutzes – technischer, medizinischer und sozialer Arbeitsschutz – zusammenfassend geregelt und die Pflichten und Kontrollbefugnisse der Akteure des Betriebsgesundheitsschutzes festgeschrieben. Erstmals in der deutschen Geschichte wurde den Betriebsleitern die Gesamtverantwortung für den Schutz vor Gefahren, für die Erleichterung der Arbeit und die Förderung der Gesundheit im Arbeitsprozess sowie für den allgemeinen Gesundheitsschutz übertragen.281 Ihnen zur Seite standen die Organe des Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung, die Arbeitshygieneinspektionen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Betriebsgesundheitswesens, auf die in Kapitel 1.3.3 näher eingegangen wurde. Bereits Ende des Jahres 1949 wurde das „Gesetz zum Schutze der Arbeitskraft der in der Landwirtschaft Beschäftigten“ verabschiedet, das Landarbeitern den gleichen arbeitsrechtlichen Schutz gewährte wie Industriearbeitern und die Sozialversicherungspflicht sowie die Einrichtung sanitärer Anlagen und dergleichen für die ländlichen Werktätigen gesetzlich regelte.282 Die Herausforderung der medizinischen – insbesondere der prophylaktischen – Betreuung der Landarbeiter spielte auch im Bezirk Rostock eine größere Rolle. In einem Lagebericht zur Betriebsgesundheitsfürsorge in den Ländern der SBZ heißt es, dass sich im ehemals reinen Agrarland Mecklenburg283 erst allmählich Industrie, vor allem Werftindustrie, anzubahnen beginne. Vergleiche zwischen ländlichem und industriellem Betriebsgesundheitswesen wären noch nicht möglich, da alles noch im Aufbau und in ständigem Wechsel begriffen sei.284 1959 wurde die Auswahl des Bezirks Rostock für die erste Planstelle eines Instrukteurs für Gesundheitserziehung dann schon damit begründet, dass der Bezirk durch „seine Schiffswerften und den Ausbau des Rostocker Hafens […] eine wichtige Bedeutung als Industrie- und Handelszentrum“ erlangt hätte, zudem bedeutende landwirtschaftliche Gebiete umfasse und „ein hervorragendes Urlaubergebiet in der DDR“ darstelle.285 Die ge279 Zum Arbeitsschutz in der DDR siehe die Beiträge von Wienhold in Geschichte der Sozialpolitik sowie Huyoff (1991), Eriksson-Kuchenbuch (1999), Kreibich (2002) u. a. 280 „Gesetz zur Förderung und Pflege der Arbeitskräfte, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und zur Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage der Arbeiter und Angestellten“ vom 1.5.1950 und „Verordnung zum Schutz der Arbeitskraft“ vom 25.10.1951. 281 Vgl. Tietze (2001), S. 301 und Wienhold (2004), S. 221. 282 Vgl. Spaar: Dokumentation Teil 2 (1996), S. 48. 283 Das Land Mecklenburg (1934–1945) und der westlich der Oder gelegene Teil der ehemaligen preußischen Provinz Pommern wurden 1945 zum Verwaltungsgebiet MecklenburgVorpommern zusammengefasst; vgl. Widmann (1999), S. 404. Seit dem 1. März 1947 musste der Zusatz Vorpommern gestrichen werden, nachdem der Alliierte Kontrollrat am 25. Februar 1947 den Staat Preußen formell aufgelöst hatte. Im Zuge der Verwaltungsreform von 1952 wurde das Land aufgelöst und im Wesentlichen auf den Bezirk Rostock sowie auf die südlich davon gelegenen Bezirke Neubrandenburg und Schwerin verteilt. 284 Kritischer Leistungsbericht (1948), in: BArch, DQ 1/390, Bl. 115. 285 Brief des wissenschaftlichen Direktors des DHMD (Thränhardt) ans MfGe vom 19.2.1959, in: BArch, DQ 1/6646, unfol.
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sundheitliche Betreuung der Landbevölkerung war einigen Medizinern dennoch weiterhin ein Anliegen, weshalb 1961 am Hygiene-Institut der Universität Greifswald eine eigene Abteilung „Gesundheitsschutz auf dem Lande“ und später eine Professur für das Fach „Hygiene auf dem Lande“ – einmalig in der Deutschen Demokratischen Republik – eingerichtet wurden.286 Unter der Leitung des bereits erwähnten Sozialmediziners Herbert Knabe287 entstanden hier zahlreiche epidemiologische Untersuchungen zur Morbidität und zum Gesundheitsverhalten der ländlichen Bevölkerung, auf welche in diesem und insbesondere im folgenden Geschlechterkapitel Bezug genommen wird.288 In einem Referat aus Anlass der Gründung des „Arbeitskreises der Betriebsärzte der Schiffswerften der DDR“ schilderte der Chefarzt der Betriebspoliklinik der Stralsunder Volkswerft Dr. Renker 1954 die Entwicklung des Betriebsgesundheitswesens im Land Mecklenburg-Vorpommern beziehungsweise im Bezirk Rostock. Zunächst seien Betriebssanitätsstellen errichtet oder vorhandene Sanitätsstellen ausgebaut worden. Für das Modell der Betriebspoliklinik hingegen gab es keinen Vorläufer. Die erste Werft, die eine Betriebspoliklinik eröffnete, war die Rostocker Neptunwerft. Am 26. April 1948 nahm diese den Betrieb auf, musste jedoch auch in den folgenden Jahren noch mit erheblichen räumlichen Einschränkungen zurechtkommen. Immerhin arbeiteten bereits sechs haupt- und vier nebenamtliche Betriebsärzte in der Klinik, was bei einer Belegschaftszahl von etwa 10.000289 trotzdem deutlich zu wenig war. Im März 1951 eröffnete dann die Betriebspoliklinik der Warnow-Werft Warnemünde und im Juli des Folgejahres die Speranski-Betriebspoliklinik der Volkswerft Stralsund. Auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar wurden die bereits genehmigten Gelder zum Bau einer Betriebspoliklinik wieder gestrichen. Ähnlich schwierige Verhältnisse herrschten auch auf der Peene-Werft in Wolgast, allerdings war dieser Betrieb etwas kleiner als die anderen vier Werften. Der „Arbeitskreis der Betriebsärzte der Schiffswerften der DDR“, so führte Renker schließlich aus, sei gegründet worden, um das Betriebsgesundheitswesen gemeinsam zu entwickeln, sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen, „[…] denn es ist ja nicht immer leicht, Betriebsarzt zu sein“. Trotz der von ihm geschilderten Unzulänglichkeiten bilanzierte Renker, dass die Erfolge im Betriebsgesundheitswesen der Großwerften nicht zu leugnen seien und dass die Betriebspolikliniken von den Werktätigen immer mehr anerkannt würden.290 286 Vgl. Kiesel/Kiesel (2004), S. 26 f. 1964 wurde der Lehrstuhl mit dem Lehrstuhl für Sozialhygiene zum Lehrstuhl für Sozialhygiene und Hygiene auf dem Lande unter der Leitung Knabes zusammengefasst. 287 Zu den wissenschaftlichen Leistungen und den praktischen Tätigkeiten des sehr engagierten und daher hoch angesehenen Herbert Knabe siehe Kiesel/Kiesel (2004), S. 45–58. 288 Beispielsweise: Gahl, Ingrid: Medizinisch-soziologische Untersuchungen über die Arbeits- und Lebensbedingungen und den Gesundheitszustand in der Landwirtschaft tätiger Frauen (1969). 289 Haack hat aus den Betriebsunterlagen der Neptunwerft für das Jahr 1954 die Zahl von gut 8.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermittelt; vgl. Haack (1999), S. 574. 290 Referat aus Anlaß der Gründung des Arbeitskreises der Betriebsärzte der Schiffswerften der DDR am 27.2.1954 in Wismar, in: LAG, Rep. 200, 2.2.2.4, Nr. 19, unfol.
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Auch in den folgenden Jahren wurde dem Betriebsgesundheitsschutz in den Großbetrieben des Bezirks in Kontrollberichten und Perspektivplänen meist eine gute Entwicklung attestiert. Die Ständige Kommission für Gesundheitswesen und Sozialfürsorge des Bezirkstages Rostock stellte bei einer Überprüfung der Mathias-Thesen-Werft in Wismar und der Neptun-Werft in Rostock 1958 fest, dass die medizinischen Einrichtungen „dem modernen Stand des Gesundheitswesens“ entsprächen. In den Polikliniken beider Werften – inzwischen hatte also auch die Wismarer Werft eine Betriebspoliklinik – würde sowohl im therapeutischen als auch im prophylaktischen Bereich gute Arbeit geleistet. Auch die ärztliche Besetzung sei ausreichend, könnte aber noch verbessert werden.291 Die vorgeschriebenen Reihenuntersuchungen wurden durchgeführt, ebenso die Dispensairebetreuung (vorwiegend für die Gruppen der Magen-Darm- sowie der Kreislauferkrankten). Zudem fanden immer regelmäßiger Betriebsbegehungen mit dem Betriebsarzt, der Sicherheitsinspektion, den Organen des Arbeitsschutzes und der Sozialversicherung sowie der Betriebsgewerkschaftsleitung statt und erbrachten wesentliche Erfolge – so die Beurteilung der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Bezirks Rostock zum Stand des Betriebsgesundheitsschutzes für das Jahr 1958.292 Im selben Bericht wurden jedoch auch „große Schwierigkeiten“ benannt, die für „die kleinen und Splitterbetriebe in Stadt und Land“ bestünden. Beispielsweise sei dort „die ärztliche Kapazität zum großen Teil durch therapeutische Aufgaben in Anspruch genommen“ und reiche für die Durchführung der prophylaktischen Untersuchungen nicht immer voll aus.293 In den nächsten Jahren verbesserte sich die Situation für die Klein- und Mittelbetriebe sowie die landwirtschaftlichen Genossenschaften kaum. Der Leiter des Aktivs „Gesundheitsschutz auf dem Lande“ der Ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozialfürsorge des Bezirkstages Rostock schilderte 1962 in einer Besprechung seine Eindrücke. Er meinte, es gäbe „sehr viel auf dem Lande zu tun, um das zu erreichen, was man sich vorstellt“. Sein Eindruck sei, dass in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der Arbeitsschutz und die Belange des Gesundheitswesens vernachlässigt würden. Es sei jedoch auch schwierig, an die LPG heranzukommen, es fehle „an Menschen, die für diese Sache Interesse zeigen“.294 Der Arbeitskreis der Betriebsärzte der Werften kritisierte auf einer Tagung im Jahr 1963, dass – im Gegensatz zu den Großbetrieben und einem großen Teil der mittleren Betriebe – eine beträchtliche Anzahl der kleineren und auch der mittleren Betriebe überhaupt nicht betriebsärztlich betreut werde. Aus den Statistiken der Versicherung und des Arbeitsschutzes ginge jedoch hervor, 291 Überprüfungsbericht auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar und der Neptun-Werft in Rostock vom 13.10.1958, in: LAG, Rep. 200, 2.2.2.4, Nr. 37, Bl. 39. 292 Der Stand des Gesundheitsschutzes im Bezirk Rostock, 30.12.1958, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 88, Bl. 35. 293 Ebenda. 294 Protokoll über die Aktivleiterbesprechung der Ständigen Kommission am 7.5.1962, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 27, Bl. 51.
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dass gerade diese Betriebe eine wesentliche Rolle im Kranken- und Unfallgeschehen spielten. Die Chefärzte forderten daher, dass sich das Betriebsgesundheitswesen künftig stärker mit diesen mittleren und kleinen Betrieben befassen solle.295 Insbesondere die Arbeiter in den Außenstellen der mittleren Betriebe konnten meist nicht von einem Betriebsarzt oder einer Betriebsschwester betreut werden und mussten bei Erkrankungen ihre „Heimärzte“ oder „Fremdärzte“ aufsuchen, was unter dem Aspekt der Arbeitsausfallzeit und der fehlenden Betriebskenntnisse der Ärzte als äußerst ungünstige Situation eingeschätzt wurde.296 1964 wurde das ländliche Bauwesen im Bezirk Rostock durch das Aktiv „Betriebsgesundheitswesen“ der bereits vielfach zitierten Ständigen Kommission überprüft. Auch hier waren die Ergebnisse eher ernüchternd: So berichteten beispielsweise Bauarbeiter einer Tiefbau-Brigade in Diedrichshagen bei Greifswald, dass sie keinerlei Verbindung zur Betriebsärztin hätten und nicht prophylaktisch betreut würden. Es wurde vielmehr die Meinung geäußert „die von der Betriebsleitung fahren zur Kur, aber wir bekommen keine“. Eine rühmliche Ausnahme stellten die 20 Montagearbeiter des VEB Bau Wolgast dar, die auf ihrer Baustelle in Groß Kiesow in der Nähe von Greifswald in einwandfreien, beheizten Unterbringungen wohnten, sich lobend zur Verpflegung äußerten und auch Verbindung zur Gemeindeschwester hatten. Der Krankenstand dieser Brigade war sehr niedrig, das Arbeitsschutzbuch wurde gut geführt und zwei der Kollegen waren Gesundheitshelfer des DRK. Diese befriedigenden Verhältnisse waren laut Inspektion „in erster Linie der guten Arbeit des Baustellenleiters zuzuschreiben“.297 Trotz einzelner positiver Beispiele gelangten die Betriebsärzte der Werften 1970 weiterhin zu der Einschätzung, ein zu geringer Anteil der werktätigen Bevölkerung würde medizinisch betreut, insbesondere die Bürger in den Klein- und Mittelbetrieben und die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung. In den „strukturbestimmenden Bereichen“ wie dem VVB Schiffbau, dem Bau- oder Verkehrswesen sei es hingegen gelungen „in befriedigendem Umfang […], ein wirksames Betriebsgesundheitswesen zu entwickeln“. In der Verantwortung für eine Verbesserung der Gesamtsituation sahen die Betriebsärzte die leitenden Organe in den Kreisen und im Bezirk, die der Entwicklung des Betriebsgesundheitswesens nicht genügend Aufmerksamkeit widmen und wichtige Beschlüsse der Zentralebene – wie beispielsweise den Ministerratsbeschluss vom 7. Januar 1965 zur Bildung von Bezirksinspektionen für Gesund295 Protokoll über die Tagung der Chefärzte der Betriebspolikliniken der Werften am 27.3.1963 im Rahmen des Arbeitskreises der Betriebsärzte der Werften im Bezirk Rostock, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 30, Bl. 16. 296 Dies stellte Funk in ihrer Untersuchung des Krankenstandes in zwei mittleren Betrieben der Stadt Greifswald (VEB Greifswalder Brauerei und Molkerei-Genossenschaft Greifswald) fest; vgl. Funk (1965), S. 54. 297 Protokoll der Überprüfung im ländlichen Bauwesen durch das Aktiv Betriebsgesundheitswesen der Ständigen Kommission Gesundheitswesen und Sozialfürsorge beim Bezirkstag Rostock vom 12.2.1964, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 165, unfol.
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heitsschutz in den Betrieben und dem Einsatz von Kreisbetriebsärzten – nicht ausreichend umsetzen würden.298 Häufige Kritik und dringende Appelle richteten sich aber auch an die Betriebsleitungen und die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL), die ihre Mitverantwortung für das Gesundheits- und Krankheitsgeschehen in den Betrieben einsehen und energisch mitarbeiten sollten.299 Oftmals wurde von einer „schlechte[n] Zusammenarbeit zwischen der Betriebsleitung, dem Betriebsgesundheitswesen und der Betriebsgewerkschaftsleitung“ berichtet. Konkret hatte es von den medizinischen Mitarbeitern des Fischkombinats Rostock 1955 dazu geheißen: „Die Betriebsleitung bringt einfach kein Verständnis für das Betriebsgesundheitswesen auf.“300 Im Kreis Grimmen wurde bei einer Überprüfung der ländlichen volkeigenen Güter 1957 festgestellt, dass die für die Zwecke des Gesundheitswesens vorhandenen Mittel von den Betriebsleitungen vielfach gar nicht ausgegeben würden.301 Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Poliklinik der Volkswerft Stralsund forderten auf einer Konferenz von der Werftleitung und der BGL der Werft, „in den Produktionsberatungen auch das Thema Gesundheitsprophylaxe genau so verantwortungsvoll zu behandeln wie jeden Produktionsvorgang.“302 Die Betriebsschwestern beklagten sich über das geringe Verständnis und die ungenügende Hilfsbereitschaft vieler Meister und Abteilungsleiter im Hinblick auf die gesetzlichen Reihenuntersuchungen und die Erkältungsprophylaxe sowie über einen unkoordinierten Produktionsablauf, der am Jahresende „Stoßarbeit […] Hasten und Treiben“ verursache und somit durch unsinnige Überstunden der Prophylaxe ebenfalls einen „Schlag“ versetzen würde.303 Um dies zu verhindern, solle die prophylaktische Arbeit von Seiten der Werftleitung im Vornherein eingeplant und mit den Mitarbeitern des Betriebsgesundheitswesens abgesprochen und reibungslos abgewickelt werden.304 Demgegenüber lassen sich in den Quellen jedoch auch Belege dafür finden, dass sich Betriebsdirektoren energisch um die Einrichtung von Betriebssanitätsstellen oder um eine andere Art der betriebsärztlichen Betreuung ihrer Angestellten bemühen haben. Der Direktor des Großhandelsbetriebs Schuhe 298 Stellungnahme des Arbeitskreises der Werftärzte vom März 1970, in: StA Rostock, Rep. 2.1.1, Nr. 11130, unfol. 299 Der Stand des Gesundheitsschutzes im Bezirk Rostock, 30.12.1958, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 88, Bl. 36. 300 Bericht über die Betriebsbegehung im Fischkombinat Rostock, Protokoll der 4. Sitzung der Ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozialfürsorge des Bezirkstages Rostock, 29.3.1955, in: LAG, Rep. 2.2.2.4. Nr. 32, Bl. 34 f. 301 Bericht über die Überprüfung der Ständigen Kommission für Gesundheitswesen und Sozialfürsorge des Bezirkstags Rostock im Kreis Grimmen, 28.3.1957, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 65, Bl. 74. 302 Konferenz Poliklinik der Volkswerft Stralsund, um 1960, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 40, Bl. 212. 303 Ebenda, Bl. 201. 304 Ebenda, Bl. 202.
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und Lederwaren in Rostock wies in einem Schreiben an die Kreisinspektion für ärztliche Betreuung in den Betrieben vom 7. Oktober 1976 darauf hin, dass seine Belegschaft – 140 Personen, davon 85 Prozent weiblich – bisher nicht ärztlich betreut werde. Auch der Direktor des VEB Gartenbau Rostock wandte sich am 18. Mai 1978 an die Poliklinik „Salvador Allende“ mit der Bitte um Überprüfung, inwiefern die Poliklinik die ärztliche Betreuung seiner über 300 Beschäftigten übernehmen könne, da der VEB Gartenbau bislang keiner medizinischen Einrichtung zugeordnet sei. Die Dringlichkeit begründete er mit der hohen physiologischen Belastung des überwiegenden Teils der Mitarbeiter, etwa 40 von ihnen würden ständig mit Pflanzenschutzmitteln arbeiten. Für diese mit Pflanzenschutzmitteln arbeitenden Kollegen sowie für die 30 Kraftfahrer beabsichtigte er regelmäßige Reihenuntersuchungen durchführen zu lassen; zudem wollte der Direktor die Einstellungsuntersuchungen für Lehrlinge und neue Mitarbeiter sowie die Grippeschutzimpfungen abgedeckt wissen.305 Auf die Grippeschutzimpfungen wird im folgenden Teilkapitel noch weiter eingegangen. Im Mittelpunkt steht jedoch die Frage nach der Umsetzung einer der Schwerpunktaufgaben im Betriebsgesundheitswesen, nämlich der Minimierung des Krankenstandes. 3.2.2 Der Krankenstand 306 Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes in der DDR, Werner Ludwig, bezeichnete 1962 in seinem Vortrag zur Gesundheitserziehung in der DDR, aus dem bereits zitiert wurde, die Senkung des Krankenstandes als „Schlüsselfaktor“ des DDR-Gesundheitswesens. Er betonte, die „enge Verbindung zwischen Gesundheit und wirtschaftlichem Erfolg“ würde am Beispiel des Krankenstandes besonders deutlich.307 Anhand dieser Korrelation wird klar, weshalb die Senkung des Krankenstandes für die DDR eine so zentrale Rolle spielte und in den halbjährlichen Arbeitsplänen des Gesundheitsministeriums stets als Schwerpunktaufgabe angeführt wurde.308 1962 erging auch ein Beschluss des Präsidiums des Ministerrates über Maßnahmen zur Senkung des 305 StA Rostock, Rep. 2.1.21, Nr. 17, unfol. 306 Als Krankenstand wurde die mit der Arbeitsunfähigkeit in Zusammenhang stehende Morbidität bezeichnet; vgl. Lesematerial (1978), S. 24. 307 Ludwig, Werner: Die Gesundheitserziehung in der DDR, o. J. [1962], in: BArch DQ 1/6018, unfol. 308 Vgl. Wasem et al. (2006), S. 391. Auch im nationalsozialistischen Deutschland hatte die Kontrolle des Krankenstandes höchste Priorität. Nach Süß waren das NS-Gesundheitssystem und das DDR-Gesundheitswesen (zumindest in den 1950er Jahren) sehr produktionsorientiert und mussten ein möglichst hohes Arbeitskräftereservoir für ihre auf Wachstum angewiesenen Ökonomien zur Verfügung stellen. In der Bundesrepublik hingegen minimierte das Risiko des Arbeitsplatzverlustes das Problem des Krankenstandes bzw. des ‚Krankfeierns‘. Zum Vergleich der Kontrollformen des Krankenstandes im NS und in der DDR siehe Süß (1998), S. 73 ff.
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Krankenstandes, der den Ärzteberatungskommissionen (ÄBK) eine noch wichtige Funktion in diesem Bereich einräumte. Bereits 1953 wurden diese Gremien vom Gesundheitsministerium installiert, um den teilweise sehr hohen Krankenstand in den Betrieben durch Maßnahmen wie die Auswertung der Arbeitsbefreiungsbescheinigungen, Aussprachen und Krankenbesuche, die Vorladung häufig Arbeitsbefreiter und die Beseitigung von Mängeln im Gesundheits- und Arbeitsschutz positiv zu beeinflussen.309 1962 wurde nun verbindlich festgelegt, dass die Zahl der Vorladungen auf 50 Prozent der Arbeitsunfähigkeitsfälle erhöht werden sollte.310 Die Betriebsärzte sollten sich mit besonderer Aufmerksamkeit dem Krankenstand zuwenden und dessen Anstieg – ebenso der Häufigkeit von Betriebsunfällen und berufsbedingten Schädigungen – durch Beratungen mit der Werksleitung und der BGL sowie durch eigene Forschung entgegenwirken.311 Die Forderungen reichten bis zur täglichen gemeinsamen Auswertung des Krankenstandes. Dieser wurde als gesellschaftliches Problem angesehen, das neben der Morbidität auch „durch den Produktionsablauf und die bewusste Einstellung des Beschäftigten zu seinem Betrieb“ beeinflusst werde.312 Zur Reduzierung des Krankenstandes wurde daher auf eine gute Arbeitsorganisation und bestmögliche arbeitshygienische Bedingungen sowie die konsequente Umsetzung der Maßnahmen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes verwiesen: Ein gleichmäßiger Produktionsablauf und die Vermeidung unnötiger Überstunden, ein günstiges Raumklima und ausreichend Arbeitsschutzbekleidung wurden ebenso dazu gezählt wie die Integration einer sinnvollen Ausgleichsgymnastik.313 Die Entlastung von zusätzlicher Beanspruchung im Haushalt wurde als wichtige Maßnahme angesehen, um dem durchweg höheren Krankenstand unter den weiblichen Arbeiterinnen zu begegnen.314 Ein weiteres Schwerpunktthema bei der Senkung des Krankenstandes war die „Erziehung zur sozialistischen Arbeitsmoral“ und somit der Kampf gegen ‚Bummelantentum‘ und ‚Krankfeiern‘.315 Im Untersuchungsbericht über den Krankenstand auf der Neptunwerft in Rostock sowie der Volkswerft in Stralsund im Jahr 1956 wurde festgehalten, dass es die „Erscheinungen des unechten Krankenstandes […] auf beiden Werften“ gäbe. Verwiesen wurde auf die Spitzen der Krankenstandskurven im Frühjahr zur Bestellung und im Herbst zur Erntezeit sowie auf „Krankschreibungen 8 Tage vor einem Fest bis 8 Tage nach einem Fest“.316 Missbrauch bei Krankschreibungen bestätigten die drei interviewten Betriebsärztinnen auch für die darauffolgenden Jahrzehnte. Für die sechswöchige von der Sozialversicherung bezahlte Krankschreibung, die 309 310 311 312 313 314 315 316
Weitere Informationen zu den ÄBK in Kapitel 1.3.3 und bei Reske (1990). Vgl. Wasem et al. (2006), S. 392. Vgl. Schagen/Schleiermacher (2004), S. 415. Lesematerial (1978), S. 67. Vgl. Strozyk (1961), S. 12 ff. Vgl. Lesematerial (1978), S. 69. Ebenda, S. 50 f. Ergebnis der Untersuchung über den Krankenstand auf der Neptunwerft in Rostock und auf der Volkswerft in Stralsund, April 1956, in: LAG, Rep. 200, 2.2.2.4., Nr. 37, Bl. 111.
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häufig als Extra-Urlaub genutzt wurde, bürgerte sich der Begriff ‚SV-Urlaub‘ ein. Besonders beliebt waren Krankschreibungen zur Gartensaison, aber auch Lehrlinge ließen sich häufig krankschreiben.317 Besonders ins Visier geriet dabei auch die Ärzteschaft, der angelastet wurde, Krankschreibungen ungerechtfertigt zu erteilen. In den 1950er Jahren spielte dabei der Vorwurf fehlender „ideologischer Klarheit“, wie es oft hieß, oder der Verdacht, weiterhin falschen bürgerlichen Vorstellungen anzuhängen318, eine Rolle, der insbesondere die privat praktizierenden Ärzte betraf. Der Chefarzt der Betriebspoliklinik der Neptunwerft, Dr. Rücker, machte die Beobachtung, dass Belegschaftsmitglieder, die von vornherein den Plan verfolgten, sich wegen einer „Bagatellsache“ krankschreiben zu lassen, einen städtischen Arzt aufsuchten: „Diese leichte Krankschreibung der freipraktizierenden Ärzte“ sei bekannt, meinte Rücker weiter.319 Frau Krüger bekam auch in den 1980er Jahren – und das als Betriebsärztin – noch den Druck zu spüren, die Bevölkerung nicht so lange krankzuschreiben und musste sich mitunter für ihre hohen Krankschreibungsraten rechtfertigen.320 Einige Betriebsleitungen beschwerten sich über die Vorladepraxis ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor die ÄBK beziehungsweise über das Misstrauen, dass den Betrieben und ihrer Kontrolltätigkeit in Bezug auf den Krankenstand entgegengebracht wurde. So führte die Leitung des Versuchsguts für landwirtschaftliches Sortenwesen Kowall bei Greifswald 1968 in einem Schreiben an die Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen beim Rat des Kreises Greifswald an, dass einerseits in dem kleinen Betrieb mit einer Belegschaftsstärke von 40 Mann jeder Krankheitsfall bekannt sei und analysiert werde und dass es andererseits in dem kleinen Ort mit gerade 100 Einwohnern, in dem alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wohnen, kaum jemandem möglich wäre, „krank zu feiern“. Der Brief endete mit der selbstbewussten Aussage: „Wir werden bemüht sein, in Zukunft in Frage kommende Fälle der Kommission vorzustellen, lehnen es aber ab, einer Meldung von 50 % aller arbeitsunfähig erkrankten Werktätigen formell Genüge zu tun.“321 Auch der Betriebsleiter des VEB Greifswalder Brot- und Feinbackwaren versicherte 1968 gegenüber der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, dass sein Betrieb sehr verantwortungsvoll in Abstimmung mit der BGL festlege, welche Mitarbeiter der ÄBK vorgestellt werden und dass alle Organe selbstverständlich bemüht seien, den Krankenstand soweit wie möglich zu reduzieren. Dennoch kam er zu der pragmatischen Einschätzung: „Es ist aber
317 Gedächtnisprotokoll des Interviews mit Renate Krüger vom 8.6.2012, S. 3. 318 Vgl. Süß (1998), S. 73. 319 Betriebsarzt Rücker an den Generaldirektor der Neptunwerft Rostock, 25. Mai 1950, in: LAG, Rep. 242, Nr. A/48, Bl. 103. 320 Gedächtnisprotokoll des Interviews mit Renate Krüger vom 8.6.2012, S. 2. 321 Zentralstelle für Sortenwesen Nossen beim Landwirtschaftsrat der DDR, Versuchsgut Kowall, an den Rat des Kreises Greifswald, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, 4.1.1968, in: StA Greifswald, Rep. 7.17, Nr. 270, unfol.
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trotzdem nicht vermeidbar, daß auch in unserem Betrieb Erkrankungen auftreten.“322 Solche Ansichten wurden meist als „reaktionär“ zurückgewiesen. In der DDR sollte es mit Hilfe der medizinischen Wissenschaft und Technik möglich sein, Krankheiten aktiv zu bekämpfen und „die Gesetzmäßigkeit im Ablauf des Krankheitsgeschehens zu erkennen“.323 Von den Bemühungen, diesem Anspruch gerecht zu werden, zeugen die unzähligen Listen zum Krankenstandgeschehen in den einzelnen Betrieben und die Protokolle der zahllosen Beratungen über Aktivitäten zur Senkung des Krankenstandes. Doch trotz täglicher oder wöchentlicher Erfassungen in den Betrieben, monatlicher Auswertungen in verschiedenen Beratungsgremien auf Kreis- und Bezirksebene sowie viertel- und halbjährlicher Gesamtübersichten im Gesundheitsministerium, konnten die geplanten Werte für den Krankenstand häufig nicht eingehalten werden oder unterlagen starken Schwankungen. Die Neptunwerft Rostock hatte für ihre Belegschaft in den 1950er Jahren das „Kampfziel“ von 4,7 Prozent für den Krankenstand ausgerufen, erreichte jedoch Werte von 6,2 bis 7,5 Prozent.324 In den 1960er Jahren sank der Krankenstand dann allmählich.325 Trotzdem lag die Neptunwerft im Vergleich zu den anderen Großbetrieben des Schiffbaus bis 1973 immer auf einem der hinteren Plätze oder sogar auf dem letzten Platz. Den Spitzenwert erreichte der Lehrbetrieb im Mai 1973 mit einem Krankenstand von 51,3 Prozent.326 In den Jahren 1974 bis 1976 konnte der Krankenstand gesenkt werden, stieg 1977 allerdings wieder an und lag 1978 bei 6,78 Prozent, womit die Schiffswerft „Neptun“ erneut den letzten Rang unter den Werftbetrieben einnahm. Zurückgeführt wurde diese Entwicklung unter anderem auf die hohe Anzahl der außerhalb der Betriebspoliklinik vorgenommenen Arbeitsbefreiungen von 40 Prozent und auf die geringe Beteiligung der Belegschaft an der Grippeschutzimpfung mit nur etwa 10 Prozent. Aber auch strukturelle Probleme wurden angeführt, beispielsweise ungenügende materielle Voraussetzungen für die medizinische Arbeit – so lag das Hauptgebäude der Poliklinik inmitten des Betriebes, wodurch es neben der räumlichen Beengtheit zu starken Lärmeinwirkungen kam und die medizinischen Geräte beschmutzt wurden – sowie ein „ungenügender ärztlicher Zeitfonds für die arbeitsmedizinische und arbeitshygienische Tätigkeit bedingt durch den hohen Anteil an Heilbehandlungen“.327 322 VEB(K) Greifswalder Brot- und Feinbackwaren an den Rat des Kreises, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, 3.1.1968, in: StA Greifswald, Rep. 7.17, Nr. 270, unfol. 323 Strozyk (1961), S. 44. 324 Die jährlichen Krankenstände für die Neptunwerft Rostock: 1952: 7,5 Prozent, 1954: 6,8 Prozent, 1955: 6,7 Prozent, 1956: 6,4 Prozent, 1957: 6,2 Prozent und 1958 (nach drei Quartalen): 7,3 Prozent; LAG, Rep. 242, A/73, Bl. 8, Bl. 9, Bl. 58 und Bl. 85; Rep. 242, A/147, Bl. 108; Rep. 242, P5c/21, unfol. 325 Im ersten Halbjahr 1964 betrug der Krankenstand auf der Neptunwerft 6,16 Prozent und im Dezember 1967 5,86 Prozent; LAG, Rep. 242, A/314, Bl.1; A3/297, unfol. 326 LAG, Rep. 242, A3/413, unfol. 327 Bericht des VEB Schiffswerft „Neptun“ an den Rat der Stadt zur Tätigkeit der Betriebspoliklinik vom 13.2.1979, in: StA Rostock, Rep. 2.1.1, Nr. 11130, unfol.
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Im VEB Fischkombinat Saßnitz328 hingegen entwickelte sich der Krankenstand zwischenzeitlich sehr positiv. Lag er bis Mitte der 1960er Jahre noch bei etwa 6 Prozent, so bewegte er sich von 1966 bis Mitte der 1970er zwischen 4,08 und 4,99 Prozent.329 Ab 1978 erreichte der Krankenstand dann wieder Höhen von 5,4 bis 6,2 Prozent. Für den erneuten Anstieg der Quote in den 1980er Jahren wurde unter anderem die zunehmende Zahl der Alkoholkranken im Betrieb verantwortlich gemacht, weshalb Betriebsarzt Brandt eine Alkoholiker-Sprechstunde einrichten und stärker vorbeugend durch Gespräche und Vorträge Einfluss auf die Belegschaft nehmen wollte.330 Die günstige Entwicklung seit 1966–1967 wurde der geplante Krankenstand um 1,78 Prozent unterschritten – führte man beim Fischkombinat Saßnitz auf die gute Zusammenarbeit zwischen dem Hafenarzt und dem Betrieb sowie den Arbeitsschutzkommissionen und Sicherheitsinspektionen zurück.331 Renate Krüger erinnerte sich ebenfalls an ein gutes Verhältnis zur Leitung der von ihr betreuten Betriebe, insbesondere zu der des VEB Holz- und Möbelwerke Greifswald – im Gebäude der Holz- und Möbelwerke war auch die Sanitätsstelle untergebracht, in der Frau Krüger als Betriebsärztin tätig war. Ein guter Umgang miteinander erhöhte auch den Ehrgeiz, den Krankenstand im Betrieb zu senken und Erklärungsmöglichkeiten für die Krankmeldungen zu finden.332 328 1949 wurde der Grundstein für den Aufbau einer Fischereiflotte in der DDR – die bisherigen Standorte der deutschen Hochseefischerei lagen an der Nordseeküste und in Schleswig-Holstein – auf der Insel Rügen gelegt und ein volkseigener Fischereibetrieb in Saßnitz gegründet, aus dem 1952 der VEB Fischkombinat Saßnitz hervorging. Hier arbeiteten zu Beginn der 1950er Jahre bereits 1.500 Beschäftigte und Mitte der 1960er Jahre ca. 2.200 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. In Rostock entwickelte sich ab 1950 ein zweiter Fischereistandort mit der Gründung des VEB Fischkombinat Rostock auf dem Hafengelände in Rostock-Marienehe (einst Standort der Ernst Heinkel Flugzeugwerke AG). Die Fischkombinate Saßnitz und Rostock wurden 1954 zum VVB Hochseefischerei Rostock vereinigt; LAG, Rep. 244, Nr. 286, unfol. und VEB Fischkombinat (1974), S. 11 f. 329 Die jährlichen Krankenstände für den VEB Fischkombinat Saßnitz: 1962: 6,60 Prozent, 1963: 5,77 Prozent, 1964: 6,02 Prozent, 1965: 5,93 Prozent, 1966: 4,73 Prozent, 1967: 4,18 Prozent, 1971: 4,24 Prozent, 1972: 4,08 Prozent, 1973: 4,99 Prozent, 1974: 4,71 Prozent, 1975: 4,79 Prozent, 1978: 5,51 Prozent, 1979: 5,4 Prozent, 1986: 6,20 Prozent, 1987: 4,96 Prozent, 1988: 5,69 Prozent, 1989: 5,75 Prozent; LAG, Rep. 244, Nr. 37, Bl. 6; Rep. 244, Nr. 37 (Zugang 1991), unfol.; Rep. 244, Nr. 42, Bl. 5 und Bl. 12; Rep. 244, Nr. 223, unfol.; Rep. 244, Nr. 253, unfol.; Rep. 244, Nr. 295, unfol.; Rep. 244, Nr. 377 (Zugang 1991); Rep. 244, Nr. 380 (Zugang 1991), unfol. 330 Protokoll der Krankenstandsitzung vom 23.6.1988 im VEB Fischkombinat Saßnitz, in: LAG, Rep. 244, Nr. 370 (Zugang 1991), unfol. 331 Krankenstandanalyse des Jahres 1967 (Abt. Arbeitsökonomie) des VEB Fischkombinat Saßnitz, in: LAG, Rep. 244, Nr. 295, unfol. Für die medizinische Betreuung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Fischkombinats Saßnitz war zunächst eine Hafensanitätsstelle, später ein Hafenambulatorium mit 2 Betriebsärzten zuständig, das werktags von 6 bis 17 Uhr durch medizinisches Personal besetzt war. Den ärztlichen Bereitschaftsdienst übernahm das Krankenhaus in Saßnitz; LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 31, unfol. und Rep. 244, Nr. 37 (Zugang 1991), unfol. 332 Gedächtnisprotokoll des Interviews mit Renate Krüger vom 8.6.2012, S. 2.
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Bei den Ursachen für hohe Krankenstände rangierten die Erkältungskrankheiten sehr häufig an erster Stelle. Als prophylaktischen Maßnahmen für deren Bekämpfung unterbreiteten die Chefärzte der Betriebspolikliniken der Schiffswerften 1958 folgende Maßnahmen: Zum einen die medikamentöse Prophylaxe in Form von Schutzimpfungen mit Grippe-Impfstoff, Vitaminpräparaten sowie Raumdesinfektionen von Räumen mit großen Menschenansammlungen. Im Bereich der arbeitshygienischen Maßnahmen erachteten die Betriebsärzte zum anderen die Durchführung raumklimatischer Verbesserungen, die Winterfestmachung aller zu beanstandenden Räume, die Beseitigung von Zugluft, die Herabsetzung der Notwendigkeit des Wechsels von Aufenthalt in geschlossenen Räumen und Außenarbeiten sowie die Einführung einer vernünftigen, an die jeweilige Arbeit angepasste Bekleidung als äußerst wichtig.333 Besonderes Gewicht wurde auf die (freiwillige) Teilnahme an den jährlichen Grippeschutzimpfungen gelegt. Diese verliefen allerdings nicht immer reibungslos. Grund dafür waren einerseits Probleme mit dem Impfstoff beziehungsweise dessen Lieferung und andererseits eine große Skepsis aufseiten der Arbeiter und Arbeiterinnen hinsichtlich der Wirksamkeit und/oder Notwendigkeit dieser Maßnahme334. Die Betriebsärzte der Schiffswerften empfahlen in dem eben schon zitierten Bericht zur Erkältungsprophylaxe, „unbedingt der endonasalen Impfung den Vorzug [zu] geben, da durch Injektionen vorgenommene Impfungen unbeliebt und deshalb von vornherein in ihrer Durchführbarkeit beschränkt“ seien.335 Laut staatlicher Hygieneinspektion konnte die endonasale Grippeimpfung erstmals 1957 in der DDR durchgeführt werden.336 In den Werften, Fischkombinaten, bei der Reichsbahn, den Parteien und Verwaltungen sowie sämtlichen Großbetrieben des Bezirks Rostock wurde die Grippeprophylaxe 1957 auch endonasal durchgeführt – jedoch wurde der Impfstoff zu spät und in zu geringer Menge geliefert, so dass erst „mitten in die Grippewelle hineingeimpft“ werden konnte.337 Einige Jahre später hatte sich die Lage umgekehrt: 1964 standen für den Kreis Rostock 160.000 Portionen Grippeimpfstoff zur Verfügung, von denen aber lediglich 13.000 abgerufen wurden. Zur Begründung hieß es im Bericht 333 Erkältungsprophylaxe 1958/59, Rostock, 25.6.1958, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 82, Bl. 1. 334 Dass die Impfung nur vor der „echten Grippe“ (Influenza) schützt, nicht jedoch vor einfachen Erkältungskrankheiten, musste den Arbeiterinnen und Arbeitern häufig erst erläutert werden. Auch über die Dauer des Grippeschutzes von etwa einem Jahr herrschte oft Unklarheit; Merkblatt „Schutz vor Grippe“, in: StA Rostock, Rep. 2.1.1, Nr. 11120, unfol. sowie Bericht des Betriebsarztes und der Oberschwester über durchgeführte VirusGrippeschutzimpfung von der Haupt-Sanitäts-Stelle Kanalbau Schönwalde (Osthavelland) ans MfGe, Abt. Hygiene, 23.4.1952, in: BArch, DQ 1/5740, unfol. 335 Erkältungsprophylaxe 1958/59, Rostock, 25.6.1958, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 82, Bl. 1. 336 Leiter der Staatlichen Hygieneinspektion Prof. Brekenfeld an den Vorsitzenden des Rats des Bezirks Rostock, 16.10.1957, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 82, Bl. 29. 337 Zustand des Betriebsgesundheitswesens im Bezirk Rostock 1957, Januar 1958, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 31, unfol.
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der Kreishygieneinspektion, dass es in einigen Großbetrieben, unter anderem der Warnow-Werft in Warnemünde, nur zögernd voranging, da „viele Arbeiter vom Impfstoff nichts wissen wollten“.338 Auch auf der Neptunwerft und im Fischkombinat Saßnitz war die Beteiligung an den Grippeschutzimpfungen nicht so hoch, wie von den Betriebsärzten oder den ökonomischen Abteilungen in den Betrieben erwartet. Lag die Beteiligung im Fischkombinat Saßnitz 1965 immerhin bei 43 Prozent – hier nahmen 859 der rund 2.000 Beschäftigten an der Impfung teil – so belief sie sich in der Neptunwerft auf unglaublich niedrige 3 Prozent. Nur 211 Kollegen – davon 197 Lehrlinge – waren zur „nasalen Schutzsprayung“ erschienen, „obwohl diese durch Plakattafeln rechtzeitig bekanntgemacht wurde“.339 1971 wurden auch im Fischkombinat Saßnitz dann nur noch 363 Grippeschutzimpfungen durchgeführt und als Erklärung die große „Antisympathie gegenüber den Impfungen“ vorgebracht.340 Auf einer Tagung der Impfsachbearbeiter der Kreise 1966 in Rostock hatte der Bezirkshygieniker Dr. Lange zum Problemkomplex der Impf-erfüllung geäußert: „Es gibt in der Bevölkerung genügend Diskussionen, daß der Impfungen zu viel sind.“341 Bei der Erkältungsprophylaxe durch Vitamin C-Tabletten sah die Situation nicht viel günstiger aus. In den Quellen stößt man zumeist auf Bemerkungen wie „Die Einnahme von Frühbehandlungstabletten ist ungenügend“342 oder „Über die Wirkung dieser Tabletten besteht bei vielen Kollegen kein großes Vertrauen“343. Oftmals mangelte es hier auch wieder am Nachdruck der Abteilungsleiter, Meister oder Brigadiere344, die vom Direktor der Neptunwerft 1954 in einem Schreiben aufgefordert wurden, „die Verteilung der Tabletten in der mit der Betriebspoliklinik besprochenen Form durchzuführen und auf die Kollegen einzuwirken, die Tabletten auch wirklich zu nehmen“.345 Häufig wurden die Tabletten erst dann ausgegeben, „wenn bereits eine Erkältung eingetreten ist“, hieß es in einem Bericht aus dem Jahr 1964 über die
338 Wortanalyse zum Jahresbericht 1979 vom Rat der Stadt Rostock, Hygieneinspektion, an die Bezirkshygieneinspektion, 9.1.1980, in: StA Rostock, Rep. 2.1.21, Nr. 6, unfol. 339 Jahresanalyse des Krankenstandes 1965 (Abt. Arbeitsökonomie) des VEB Fischkombinat Saßnitz, in: LAG, Rep. 244, Nr. 253, unfol. und Bericht über den Kranken- und Unfallstand für den Monat November 1964 (Abt. Arbeitskraft) des VEB Schiffswerft „Neptun“, in: LAG, Rep. 242, A3/297, Bl. 2. 340 Krankenstandanalyse für das Jahr 1971 (Abt. Arbeitsökonomie) des VEB Fischkombinat Saßnitz, in: LAG, Rep. 244, Nr. 37, Bl. 6. 341 Protokoll über die Arbeitstagung der Impfsacharbeiter der Kreise am 16.9.1966 in Rostock, in: LAG, Rep. 200, 9.1, Nr. 367, Bl. 7. 342 Krankenstandanalyse des VEB Schiffswerft „Neptun“ vom 8.12.1967, in: LAG, Rep. 242, A/314, Bl. 4. 343 Auswertung des Maßnahmeplans zur Senkung des Krankenstands im Bereich TA des VEB Schiffswerft „Neptun“, 24.4.1964, in: LAG, Rep. 242, A3/297, Bl. 91. 344 Brigadier ist der DDR-spezifische Ausdruck für den Leiter einer Brigade. 345 Mitteilung des Arbeitsdirektors an alle Produktions-, Abteilungs- und Abschnittsleiter und Brigadiere zur Vitamin C-Prophylaxe, 13.12.1954, in: LAG, Rep. 242, L5/47, Bl. 42.
3.2 Gesundheitsalltag im Betrieb
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Durchsetzung der Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes auf der Neptunwerft.346 Um das Thema Krankenstand unter besonderer Berücksichtigung der Erkältungskrankheiten und der Grippeprophylaxe im Bezirk Rostock zusammenzufassen und zum Gesamtblick auf die DDR überzuleiten, wird abschließend aus einem Schreiben des Bezirksarztes Neubrandenburg von 1977 an Gesundheitsminister Mecklinger zitiert. Dieser hatte zusammen mit den Kreisärzten seines Bezirks über die Ursachen der mangelnden Impfbereitschaft der Bevölkerung bei der Grippeimpfung nachgedacht und präsentierte dem Minister folgende Ergebnisse: Die Argumentation in den Massenmedien sei nicht überzeugend genug und zum Teil widersprüchlich; in den Gesundheitseinrichtungen selbst und auch in den Bereichen Volksbildung, Handel und Versorgung herrsche eine geringe Impfwilligkeit; die leitenden Genossen im Partei- und Staatsapparat würden im Zusammenhang mit der Grippeschutzimpfung keine Vorbildbereitschaft zeigen und schließlich würden das Auftreten von akuten respiratorischen Erkrankungen347 und die Grippeschutzimpfung gedanklich immer wieder miteinander verbunden.348 Diese Punkte lassen sich sowohl für den Bezirk Rostock als auch für andere Regionen der DDR bestätigen. 3.2.3 Kurzes Resümee zur prophylaktischen Orientierung des Betriebsgesundheitswesens Das Betriebsgesundheitswesen wurde nach dem Ende der DDR häufig – unter Verweis auf die mitunter hervorragende Ausstattung und personelle Besetzung im Vergleich zu den kommunalen Versorgungseinrichtungen, die Unabhängigkeit gegenüber den Betriebsleitungen, die deutlich höhere betriebsärztliche Betreuungsquote im Vergleich zur alten Bundesrepublik sowie den ganzheitlichen Ansatz der Einheit von Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation – als Aushängeschild des DDR-Gesundheitswesens gepriesen.349 Diese Eindrücke und Einschätzungen sind sicher nicht unzutreffend, basieren sie doch auf den Fakten des massiven Ausbaus der Betriebspolikliniken, -ambulatorien und -sanitätsstellen sowie des Aufbaus einer einheitlichen Arbeitsschutzgesetzgebung sowie auf den Daten zur positiven Entwicklung des Unfallstandes und 346 Bericht über die Durchsetzung der Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes in den Produktionsbereichen „Maschinelle Anlagen“ und „Schiffselektrik“, 25.4.1964, in: LAG, Rep. 242, A3/297, Bl. 98. 347 Zu akuten respiratorischen Erkrankungen zählen grippale Infekte wie Atemwegs- oder Rachenentzündungen, die zwar auch durch Viren verursacht werden, jedoch von der ‚echten Grippe‘, für die das Influenza-Virus verantwortlich ist, zu unterscheiden sind. Die Subsumierung von einfachen Erkältungskrankheiten unter dem Begriff „Grippe“ ist auch heutzutage noch ein großes Problem, da sie zur Unterschätzung der Bedeutung von Influenza-Erkrankungen führt; siehe dazu Lübbert et al. (2003). 348 Rat des Bezirkes Neubrandenburg, Bezirksarzt OMR Dr. Möwius, an Minister Prof. OMR Dr. sc. med. Mecklinger im MfGe, 13.1.1977, in: BArch, DQ 1/12238, unfol. 349 Vgl. u. a. Scheuch (1990), Huyoff (1991), Meyer (1997) und Tietze (2001).
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
der Abnahme der Berufskrankheiten350. Die meisten dieser Analysen weisen an der einen oder anderen Stelle auch auf Differenzierungen hin, bleiben zumeist jedoch sehr allgemein und unspezifisch. Eine vertiefende sozialhistorische Betrachtung der konkreten Abläufe und Umstände des Arbeitsalltags von Betriebsärzten kann jedoch noch stärker dazu beitragen, regional- oder branchenspezifische Besonderheiten sichtbar zu machen und Hinweise auf die Erfolgsbedingungen prophylaktischer Maßnahmen liefern. Aus den bisher untersuchten Quellen lassen sich folgende wesentliche Bedingungen für die erfolgreiche Durchführung prophylaktischer Maßnahmen im Betriebsalltag der DDR, aber auch darüber hinaus festhalten: Eine gute Organisation und Verlässlichkeit, ein erkennbarer Nutzen beziehungsweise Verständnis für die Maßnahmen, eine gute und insbesondere an die individuellen Bedürfnisse angepasste Gesundheitsaufklärung sowie in gewisser Hinsicht auch die Vorbildfunktion der Leiter und Vorgesetzten. Dies soll kurz anhand einiger Beispiele erläutert werden. Um die DDR-Bevölkerung zu einer gesunden Lebensweise oder der Teilnahme an prophylaktischen Maßnahmen zu bewegen, konnten gelungene Aufklärungsvorträge einen wichtigen Beitrag leisten. Die prophylaktischen Krebsuntersuchungen bei der weiblichen Bevölkerung, die seit den 1950er Jahre vorrangig in den Betrieben durchgeführt wurden, stießen anfangs noch auf erhebliche Ablehnung. In einer Auswertung für den Bezirk Rostock heißt es dazu, dass die Aufklärungsvorträge zwar gut besucht und mit Interesse angehört würden, die Bereitwilligkeit zur nachfolgenden Untersuchung jedoch gering sei. Aber „in einigen Fällen, besonders im Anschluss an gute Vorträge“ seien „Durchbrüche erzielt worden“.351 Entscheidende Kriterien für gute Vorträge waren Verständlichkeit und Zuwendung zum Publikum. Im Brigadebuch der Universitätsapotheke Greifswald wurde zum Vortrag über „Orthopädische Probleme im Alltag“ vermerkt: „Durch seine gute Vortragsart und das Nennen niederdeutscher Originalausdrücke fand er schnell Kontakt zu seinem Zuhörerkreis.“352 Demgegenüber stieß der eher akademische Vortragsstil einer Ernährungstechnikerin, die im Rahmen der Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums „Deine Ernährung – Deine Gesundheit“ referierte, auf wenig Begeisterung. Eine der Teilnehmerinnen bewertete den Vortrag und dessen Wirkung in einem Schreiben an das Museum folgendermaßen: Die Ernährungstechnikerin Frau Wieloch sprach in ihrem Vortrag: ‚Warum täglich Frischkost‘ viel zu wissenschaftlich, ich nehme an, sie hat ihre Prüfungsarbeit vorgelesen. Derartige langweiligen und weitschweifigen [sic] Vorträge wollen die Zuhörer nicht hören, einige machten deshalb ein Nickerchen und zeigten erst dann Interesse, als die Vortragende über die eigentliche Frischkost sprach.353 350 Siehe dazu Tietze (2001), S. 309. 351 Entwicklung des Gesundheitswesens im Bezirk Rostock (1953–1956), in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 6, unfol. 352 Brigadebuch der Universitäts-Apotheke Greifswald (1968–1970), eigener Besitz Universitätsapotheke. 353 Anonymer Brief (Unterschrift „Eine Hausfrau-Ernährungstechnikerin“) aus Leipzig ans DHMD, 22.7.1960, in: BArch, DQ 1/22318, unfol.
3.2 Gesundheitsalltag im Betrieb
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Ein Werkleiter aus dem sächsischen Schopau verwies in einem Brief an das Komitee für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung sogar direkt auf die Effekte eines – in diesem Fall wieder glänzenden – Vortrags. Er berichtete, Prof. Neubert hätte vor Dozenten der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik in Dresden über die Schädlichkeit des Rauchens referiert, woraufhin der Direktor samt Lehrkräften sogleich einschneidende Maßnahmen zur Beschränkung des Rauchens an der Schule ergriffen.354 Aufschlussreich ist schließlich die Anmerkung von Werner Ludwig, dem Vizepräsidenten des Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung und Präsidenten des DRK, zu einem Vortrag über die „Senkung des Krankenstandes durch gesundheitliche Aufklärung und Erziehung im Betrieb“ auf der dritten Vollversammlung des Komitees im Dezember 1963: Bei der Gesundheitserziehung sollte nicht der ökonomische Aspekt zu sehr in den Vordergrund gestellt werden. […] Bei der individuellen Aufklärung wird man mehr erreichen, wenn die Interessen des einzelnen berücksichtigt werden, statt von den gesellschaftlichen Interessen auszugehen.355
Eines der Hauptargumente für hohe Teilnehmerzahlen bei den Reihenuntersuchungen war deren Integration in den Betriebsalltag. In einem Bericht für das Ministerium für Gesundheitswesen, in dem die ersten Erfahrungen mit den Krebsvorsorgeuntersuchungen für Frauen in den Betrieben zu Beginn der 1950er Jahre dargelegt wurden, führte der Verfasser den Erfolg der auf freiwilliger Basis beruhenden Reihenuntersuchungen darauf zurück, „daß durch die Untersuchungen im Betrieb kein Arbeits- und somit Lohnausfall“ stattfände.356 Wichtig war darüber hinaus auch, dass keine private Zeit verlorenging. In dem Werftecho-Artikel „Der Röntgenzug Mecklenburgs in unserem Betrieb“ vom Mai 1952 wurde zur Teilnahme der innerhalb der nächsten 14 Tage stattfindenden Reihenuntersuchungen auf Tuberkulose aufgerufen, bei denen die gesamte Belegschaft der Neptunwerft durchleuchtet werden sollte. Zu den Vorteilen des Röntgenzugs mit seinem modernen Schirmbildgerät – gegenüber der Untersuchung in der Poliklinik mit einfachem Röntgengerät – heißt es: Bisher wandten sich viele Kollegen gegen diese Untersuchungen, da sie meist in die Freizeit fielen. Diese Bedenken fallen bei der jetzigen Reihendurchleuchtung durch den Röntgenzug weg, da der Zug während seiner Anwesenheit während aller Schichten arbeitet, sodaß selbst die Nachtschicht erfaßt werden kann.357
Auch die in Oesers Studie befragten 55 Bäuerinnen aus der Viehwirtschaft gaben Ende der 1960er Jahre an, sie hätten an der Reihenuntersuchung teilge354 Brief von Otto R. ans Präsidium des Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung, 24.8.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 355 Stellungnahme Ludwigs zur Disposition von Dr. Rabe (Chefarzt der Betriebspoliklinik des Thomas-Müntzer-Schachtes in Sangershausen) in einer Besprechung des Komitees am 20.11.1963, in: BArch, DQ 1/22446, unfol. 356 Krebsvorsorge und Krebsfürsorge in der Gynäkologie (1952), in: BArch, DQ 1/6013, unfol. 357 Werftecho Nr. 14 (1952), S. 8.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
nommen „weil [diese] gut organisiert gewesen ist und nicht unangenehm war“.358 Bei den Grippeschutzimpfungen hingegen war der Ablauf in den Anfangsjahren noch durch Lieferschwierigkeiten beim Impfstoff beeinträchtigt, was zu Verdruss und Enttäuschung führte, wie die Protokolle einiger Kreishygieneinspektionen aus dem Jahr 1961 belegen. Für den Kreis Halberstadt wurde hier vermerkt, die Grippeimpfung sei in fast allen Großbetrieben propagiert worden, konnte jedoch aufgrund des Mangels an Impfstoff nicht durchgeführt werden, was in den Betrieben für Verärgerungen sorgte. Im Kreis Gadebusch konnten ebenfalls viele Betriebe für die nasale Grippeschutzimpfung gewonnen werden. Und auch hier reagierten die Mitarbeiter mit großer Enttäuschung und in vielen Fällen auch stark verärgert, weil die Impfungen aus Mangel an Impfstoff nicht durchgeführt werden konnten. Die Hygieneinspektion schlussfolgerte daher: „Es wird schwer fallen, das Vertrauen dieser enttäuschten Betriebe wieder schnell zurückzugewinnen.“359 Möglicherweise hatten diese Startschwierigkeiten mit dem Impfstoff auch Auswirkungen auf die geringe Akzeptanz der Grippeschutzimpfung in den folgenden Jahren – darüber kann an dieser Stelle allerdings nur spekuliert werden. Nachweisbar negative Effekte auf die Inanspruchnahme dieser Maßnahme hatten hingegen die Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit der Impfungen. Dieser Folgewirkung war sich auch das Gesundheitsministerium bewusst und reagierte äußerst ungehalten auf Medienberichte, die den Nutzen der Schutzimpfungen infrage stellten. Der Ende des Jahres 1953 veröffentlichte Artikel „So ein Schnupfen“ der Zeitschrift Unser Rundfunk stellte die Behauptung auf, es gäbe keinen wirksamen Schutz gegen die Virusgrippe – grenzte dabei jedoch wie üblich die ‚echte Grippe‘ nicht von den einfachen Erkältungskrankheiten ab.360 Daraufhin schrieb der Leiter der Hauptabteilung Hygiene im Gesundheitsministerium im Februar 1954 an das Staatliche Rundfunkkomitee der DDR und bezeichnete den Artikel als „Sabotage der Gesundheitspolitik des Ministeriums“, da es statistische Nachweise für die Wirksamkeit der Schutzimpfung gegen die Virus-Grippe gäbe. Zur Vermeidung „ähnlicher Verunglimpfungen der Gesundheitspolitik der Republik“ sollten zukünftig alle Artikel seuchenhygienischen Inhalts dem Ministerium zur Begutachtung vorgelegt werden. Darüber hinaus verlangte der Abteilungsleiter eine Untersuchung über die Motive, die den Verfasser des Artikels zu diesen Äußerungen veranlasst hatten.361 Als ähnlich wertvoll und einflussreich wie die offizielle Gesundheitspropaganda schätzte man auch die Vorbildwirkung der leitenden Kader ein. Beide Punkte wurden in der Auswertung des Neubrandenburger Bezirksarztes zur Impfwilligkeit der Bevölkerung hervorgehoben. Einige Dokumente bezeugen durchaus, dass Brigadiere und Abteilungsleiter positiven Einfluss auf das Ge358 359 360 361
Oeser (1969), S. 19. BArch, DQ 1/5837, unfol. „So ein Schnupfen“, Unser Rundfunk H. 50 (1953), S. 4, in: BArch, DQ 1/5739, unfol. MfGe, Hauptabteilung Hygiene, an das Staatliche Rundfunkkomitee der DDR, 4.2.1954, in: BArch, DQ 1/5739, unfol.
3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive
181
sundheitsverhalten der Arbeiter nehmen konnten. So wurde beispielsweise im Bericht des Betriebsarztes und der Oberschwester der Sanitätsstelle Kanalbau Schönwalde/Osthavelland ans Ministerium für Gesundheitswesen über die durchgeführte Grippeschutzimpfung im April 1952 herausgestellt, dass – obwohl die Impfbereitschaft der Kollegen des Kanalbaus insgesamt mit 8,6 Prozent nur sehr gering war – einsichtige Bauleiter, Bauführer und Brigadiere günstig auf die Kollegen einwirkten und diese von der Notwendigkeit der Impfung überzeugen konnten.362 Andererseits bestand natürlich auch die Möglichkeit, dass gesundheitliches Fehlverhalten auf Untergebene, vor allem Jugendliche oder Lehrlinge, abfärbte. Von Appen zitiert beispielsweise den Leiter einer Gruppe von FDJ-Sekretären, der ein Forum zum Thema Nikotinmissbrauch mit den Worten beendete: „So Jugendfreunde, Feuer frei für eine Zigarette“.363 Von vergleichbaren Begebenheiten wurde ja auch in den Eingaben in Kapitel 3.1.2.2 berichtet, wobei insbesondere auf die verheerende Vorbildwirkung rauchender Ärzte und Schwestern verwiesen wurde. Insgesamt konnte in diesem Kapitel vorerst nur ein kleiner Einblick in die alltäglichen Abläufe des DDR-Betriebsgesundheitswesens gewährt werden, der aber schon die vielfältigen Einflussfaktoren auf die Arbeit der Betriebsärzte und -schwestern aufzeigt und verdeutlicht, an welchen Stellen auch das privilegierte Betriebsgesundheitswesen unter Druck geriet und wie dies von den Beteiligten wahrgenommen wurde. 3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive Das Thema ‚Geschlecht und Gesundheit‘ hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Nachdem die Frauenbewegung in den 1970er Jahren unter Verweis auf das männlich dominierte Gesundheitssystem eine Frauengesundheitspolitik ins Rollen gebracht hatte, ist inzwischen auch Männergesundheit stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.364 Die Themenfelder Frauengesundheit und Männergesundheit sind jedoch mit zahlreichen Missverständnissen behaftet, zum Beispiel dem, dass es sich bei beiden hauptsächlich um Erkrankungen der jeweiligen Geschlechtsorgane handelt. Insgesamt wird noch mehr über Abgrenzungen gesprochen als über das gemeinsame Anliegen einer geschlechtersensiblen und geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung.365 Darüber hinaus ist das Geschlecht in der quantitativen sozialmedizinischen und biomedizinischen Forschung mittlerweile zwar als „Routinevariable“ präsent – jedoch sehr schematisch als rein biologischer Faktor zur Unterscheidung zwischen den Männern und den Frau-
362 Bericht vom 23.4.1952 an die Abt. Hygiene im MfGe, in: BArch, DQ 1/5740, unfol. 363 Zit. nach: Appen (1990), S. 267. 364 Für eine detaillierte Einordnung beider Bewegungen, insbesondere der Männergesundheitsbewegung, siehe Dinges/Weigl (2011) und Bardehle (2013). 365 Vgl. Schofield u. a. (2002), S. 79.
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3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
en.366 Viele dieser Untersuchungen legen nahe, dass geschlechterspezifisch variierende Mortalitäts- und Morbiditätsdaten auf ‚naturbedingte‘ Unterschiede zurückzuführen sind. Sie rufen daher seit einigen Jahren Geistes- und Sozialwissenschaftler auf den Plan, die gegen diese einseitige biologische Betrachtungsweise argumentieren; stattdessen plädieren diese für die Einbeziehung sozialer und historischer Faktoren zur Einordnung weiblicher und männlicher Gesundheitsverhaltensweisen einerseits sowie für die stärkere Betonung der Gemeinsamkeiten zwischen den Geschlechtern andererseits.367 Aus diesen sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten werden im Folgenden einige Ergebnisse vorgestellt. 3.3.1 Rahmenbedingungen und Erklärungsansätze für das Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen (von 1800 bis heute) Für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gesundheit und Geschlecht ist es gewinnbringend die historische Perspektive einzunehmen, um innerhalb der Kollektive ‚Männer‘ und ‚Frauen‘ zu differenzieren und „Veränderungspotentiale“368, beispielsweise bei der Inanspruchnahme von Früherkennungsund Präventionsmaßnahmen, sichtbar zu machen. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass die Gesundheit von Frauen und Männern einen starken Wandel erlebt hat, was sich am deutlichsten anhand der Lebenserwartung veranschaulichen lässt. Im Gegensatz zur heutigen Spanne von etwa sechs Jahren unterschied sich die Lebenserwartung der Männer von der der Frauen um 1850 nur unwesentlich (Frauen 39,95 Jahre, Männer 39,57 Jahre). Bis etwa 1890 war der Unterschied auf drei Jahre zugunsten der Frauen angestiegen; Mitte der 1970er Jahre lag die Differenz bei ungefähr 6,5 Jahren.369 Sowohl die Zeit der Früh- und Hochindustrialisierung als auch die Jahre des Wiederaufbaus nach 1945 haben Männer demnach gesundheitlich viel stärker in Anspruch genommen als Frauen.370 Während der Hochindustrialisierungsphase wirkte es sich negativ auf den Gesundheitszustand der Männer aus, dass insbesondere männliche Arbeiter in gesundheitsgefährdenden Betrieben tätig waren und in prekären Wohnverhältnissen lebten. Frauen arbeiteten zu dieser Zeit noch vorrangig im Haushalt, was für sie eine bessere Ernährungs- und Wohnsituation bedeutete. Dass gefährliche Arbeiten überwiegend von Männern ausgeübt und eher sitzende, schreibende und demzufolge weniger gesundheitsschädliche Tätigkeiten von Frauen und Männern verrichtet wurden, blieb auch im 20. Jahrhundert der Normalfall.
366 Vgl. Schofield u. a. (2002), S. 71. 367 U. a. Kolip/Koppelin (2002); Schofield u. a. (2002); Dinges (2006); Hoffmann (2010); Moses (2011). 368 Dinges (2007): Was bringt, S. 8. 369 Vgl. Dinges (2006), S. 23. 370 Vgl. Dinges (2007): Was bringt, S. 6.
3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive
183
Das männliche Modell der Vollberufstätigkeit stand dem der weiblichen Teilzeitarbeit gegenüber. Dieses männliche „Belastungsmodell“ ist eine der Ursachen für die Gesundheitsprobleme der heutigen berufstätigen Männer.371 Die höhere Zahl der Verletzungen und Todesfälle am Arbeitsplatz ist größtenteils darauf zurückzuführen, dass Männer häufiger unter gefährlicheren Arbeitsbedingungen tätig sind als Frauen. Zudem übernehmen mehr Männer als Frauen hierarchisch organisierte Arbeitsplätze und haben dadurch eine höhere Disposition für koronare Herzerkrankungen.372 Die stärkere Einbindung der Frauen in die Haus- und Familienarbeit ist wiederum mit bestimmten Gesundheitsvorteilen verbunden: Die Kombination von Haushalts- und Familienpflichten mit bezahlter Teilzeitbeschäftigung ist laut einer australischen Längsschnittstudie von 1997 der beste Schutz für die Gesundheit der Frauen. Sind Frauen jedoch in niedrig bezahlten Vollzeitjobs beschäftigt und überwiegend allein für Familie und Haushalt zuständig, wirkt sich dies schädlich auf ihre Gesundheit aus.373 Die Belastung durch eine Vollzeitarbeit und die Hauptverantwortung im familiären und häuslichen Bereich führt bei Frauen zu Ängstlichkeit, Depression und emotionalen Befindlichkeitsstörungen.374 Die Geschlechterspezifik bei psychischen Störungen hängt jedoch zum größten Teil mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen von Weiblichkeit und Männlichkeit zusammen. Während man bei Frauen eine größere Bereitschaft beobachtet, über emotionale Probleme zu sprechen, ist die Neigung zur Leugnung einer Depression bei Männern verknüpft mit der Demonstration männlicher Stärke und der Vermeidung ‚unmännlicher‘ und ‚schwächlicher‘ Zuschreibungen.375 Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sich die „kulturelle traditionelle Männerrolle“ negativ auf die Gesundheit auswirken kann.376 Gefährliche und gesundheitsschädigende Verhaltensweisen gelten als grundlegend für die männliche Sozialisation: Vor allem in der Phase zwischen der Pubertät und der Haushaltsgründung weisen junge Männer ein höheres Risikoverhalten auf als junge Frauen (beispielsweise eine gefährlichere Fahrweise im Straßenverkehr).377 Sie nehmen unregelmäßigeres und fettreicheres Essen zu sich, kompensieren Stress mit größeren Mengen von Alkohol und anderen gesundheitsschädlichen Genussmitteln und lösen Probleme häufiger durch Verdrängung und Aggressivität. Frauen reagieren hier eher mit Gesprächsversuchen oder mit Tablettenkonsum. Außerdem gehen junge Mädchen von der Pubertät an immer wieder zum Arzt und gewöhnen sich an die regelmäßige Beob371 Vgl. Dinges (2007): Was bringt, S. 7. 372 Vgl. Schofield et al. (2002), S. 74. 373 Vgl. ebenda, S. 74 f. Zu den Belastungen und positiven Einflüssen weiblicher Berufstätigkeit auf die physische und psychische Gesundheit von Frauen siehe auch Kuhlmann (1997), S. 143 ff. sowie Hoffmann (2010), S. 273 ff. 374 Vgl. Schofield et al. (2002), S. 75. 375 Vgl. ebenda, S. 75. 376 Dinges (2006), S. 23. 377 Siehe dazu auch Hoffmann (2010), insbesondere S. 205–236.
184
3 „[…] das Kriterium der Wahrheit ist die Praxis“
achtung ihres Körpers sowie die Inanspruchnahme von Hilfe durch Fachleute. Männer gehen viel seltener und oft zu spät zum Arzt.378 Das war jedoch nicht immer so: Bis ins 19. Jahrhundert waren Männer in den Arztpraxen sogar zahlreicher vertreten als Frauen. Erste Untersuchungen zu Praxen in Deutschland, der Schweiz, Frankreich, Belgien und Kanada zeigen, dass bis 1800 die Männer als Patienten dominierten. In der Folgezeit bis etwa 1860 fand eine Angleichung statt und ab circa 1870 waren dann durchgehend die Frauen die große Mehrheit der Behandelten und machten fortwährend einen Anteil von circa 60 Prozent der Patienten aus.379 Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist der, dass die Ärzte im 19. Jahrhundert die Leistungen der Geburtshilfe als Einfallstor für eine groß angelegte Gesundheitskampagne gegenüber den Frauen nutzen, um ihre Einnahmen zu steigern.380 Zudem galt bereits seit dem 18. Jahrhundert der Frauenkörper als naturnäher und minderwertiger und damit folglich als kränker; im Gegensatz dazu wurden Männer auf Vernunft, Aktivität und Härte festgeschrieben.381 Dieser Diskurs erleichterte somit den Frauen die Entscheidung für den Gang zum Arzt, den Männern erschwerte es eine solche Handlungsweise.382 Von diesen tradierten Rollenzuschreibungen können Frauen und Männer nicht leicht abweichen.383 Daher müssen sie auch von der aktuellen Gesundheitsforschung berücksichtigt werden. Für das Inanspruchnahmeverhalten sind neben den Geschlechterleitbildern aber auch strukturelle Faktoren wichtig wie die Öffnungszeiten von Arztpraxen und Gesundheitsanbietern, die viel stärker mit den Arbeitszeiten der Männer als der Frauen – die sehr viel häufiger in Teilzeit arbeiten – kollidieren.384 Eine historische Betrachtung kann auch helfen, Gesundheitsressourcen aufzuspüren. Den aktuellen Ergebnissen der Gesundheitswissenschaftler, dass Männer nur unzureichend oder gar nicht über ihre Gesundheitsprobleme sprechen, können Befunde aus Briefen, Tagebüchern und Autobiographien vergangener Zeiten gegenübergestellt werden, in denen sich Männer aller Gesellschaftsschichten sehr rege zu Gesundheits- und Krankheitsaspekten äußern, auch in ihrer Rolle als Ehepartner, Vater oder Freund.385 Hier wird zudem deutlich, dass sowohl der Arbeitsplatz als auch die homosoziale Gemeinschaft die Gesundheit der Männer nicht nur negativ beeinflussen können, denn in Selbstzeugnissen führen Männer ihre Arbeitskollegen auch als hilfreiche Gesundheitsratgeber an.386 Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass zur Ergründung der Ursachen von Gesundheitsproblemen der Bevölkerung interdisziplinäre Forschun378 379 380 381 382 383 384 385 386
Dinges (2006), S. 21. Vgl. Dinges (2011), S. 31. Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 310. Näheres dazu in Kapitel 2.2.3.1. Vgl. Dinges (2007): Immer, S. 309. Vgl. Dinges (2006), S. 24. Vgl. Dinges (2009), S. 22. Vgl. Schweig (2009), S. 249–257. Vgl. Dinges (2007): Was bringt, S. 7.
3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive
185
gen unerlässlich sind. Das Phänomen des gender gap bei der Lebenserwartung kann nur zu einem geringen Teil biologisch erklärt werden und ist überwiegend auf soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren zurückzuführen. Dieses Ergebnis erbrachte eine Vergleichsstudie zwischen der bayerischen Klosterbevölkerung und der Allgemeinbevölkerung im Zeitraum von 1910 bis 1985: Interessanterweise sind im Gegensatz zur Allgemeinbevölkerung die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern bei der Klosterbevölkerung – also unter identischen Lebensbedingungen – nicht kontinuierlich größer geworden, sondern blieben konstant auf einem Niveau von 0–2 Jahren zugunsten der Frauen.387 Die deutlich größere Lebenserwartungsdifferenz von circa sechs Jahren bei den außerhalb der Klostermauern lebenden Männern und Frauen muss demnach mit anderen Einflussgrößen zusammenhängen wie beispielsweise den Lebensstilen, der sozialen Schicht oder dem Wohnort. Die bislang vorherrschende Sichtweise kontrastiver Geschlechterbilder muss relativiert werden, um den Blick dafür zu öffnen, dass beispielsweise das Gesundheitsverhalten von voll berufstätigen Frauen in vielerlei Hinsicht demjenigen voll berufstätiger Männer viel ähnlicher war und ist als dem von Hausfrauen.388 Vordergründig sollten die Geschlechterverhältnisse in einer Gesellschaft betrachtet werden, da die Interaktion zwischen Frauen und Männern sowie die Umstände, unter denen sie wechselseitig agieren, auch großen Einfluss auf Gesundheitsfragen haben.389 Welche Aussagen lassen sich nun für die DDR-Geschichte bezüglich des geschlechterbezogenen Gesundheitsverhaltens machen und wie lassen sich diese in die Geschlechtergesundheitsgeschichte einordnen? Sind für die DDR ähnliche Ergebnisse wie aus der Klosterstudie zu erwarten? Haben sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung in einem auf Gleichheit bedachten Gesellschaftssystem so angenähert, dass Gesundheitsunterschiede kaum feststellbar waren? Hat sich die offizielle geschlechterneutrale Ausrichtung der Gesundheitspropaganda und das weit verzweigte Netz der Gesundheitseinrichtungen (auch in den Betrieben) dahingehend ausgewirkt, dass Männer stärker ins Gesundheitssystem eingebunden waren und ihr Weg zum Arzt mit weniger mentalen und strukturellen Hürden gepflastert war? 3.3.2 Befunde zum Gesundheitsverhalten der DDR-Bürgerinnen und -Bürger Nimmt man die bisher veröffentlichten statistischen Angaben zum Gesundheitszustand von Männern und Frauen in der DDR und zu männlichem und weiblichem Gesundheitsverhalten zur Hand, gelangt man zu dem Schluss, die DDR-Bevölkerung habe voll und ganz den seit dem 19. Jahrhundert gültigen Geschlechterzuschreibungen entsprochen: Frauen waren gesundheitsbewuss387 Vgl. Luy (2002), S. 119 f. 388 Vgl. Dinges (2009), S. 20. 389 Vgl. Schofield et al. (2002), S. 73.
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ter, haben Arztkonsultationen und regelmäßige Untersuchungen häufiger wahrgenommen390 und hatten eine um vier bis sechs Jahre höhere Lebenserwartung als Männer (siehe Tab. 3).391 Unterschiede ließen sich sowohl bei den Unfällen und Suizidraten feststellen (in beiden Statistiken lagen Männer vorn) als auch bei den Krebserkrankungen (bei Frauen war hier im Gegensatz zu Männern im Laufe der Jahre eine Sterblichkeitsabnahme zu verzeichnen; Männer erkrankten in den 1980er Jahren häufiger an Krebs als Frauen, in erster Linie an Lungenkrebs). Männer fühlten sich hingegen gesünder und leistungsfähiger, Frauen waren häufiger arbeitsunfähig.392 Die DDR-Gesellschaft lässt sich also nicht mit einer Klostergemeinschaft vergleichen – im real existierenden Sozialismus waren weiterhin deutliche Differenzen und Ungleichheiten spürbar, auch zwischen Männern und Frauen. Tab. 3: Lebenserwartung Lebendgeborener in der DDR in Jahren393 Jahr
männlich
weiblich
Differenz*
1952
63,90
67,96
4,06
1955
65,78
69,92
4,14
1960
66,49
71,35
4,86
1965
67,97
72,96
4,99
1970
68,10
73,31
5,21
1975
68,52
74,04
5,52
1980
68,67
74,61
5,94
1985
69,52
75,42
5,90
1986
69,54
75,45
5,91
1987
69,84
75,92
6,08
1988
69,74
75,97
6,23
1989
70,13
76,38
6,25
* zugunsten der weiblichen Bevölkerung
Im Folgenden sollen diese Befunde durch Angaben aus den von mir untersuchten Quellen ergänzt werden. Dabei geht es vor allem darum, Differenzierungen vorzunehmen und abweichende Ergebnisse abseits des statistischen Durchschnitts sichtbar zu machen. Zudem werden die Hintergründe und Erklärungen für die Differenzen im Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen diskutiert und es wird abschließend für die Einbeziehung weiterer Kategorien plädiert. 390 Nach Untersuchungen von Radoschewski (1974) und Niehoff (1976) wurden 57,8 bzw. 67,5 Prozent aller Arztkonsultationen von Frauen vorgenommen; vgl. Greve (1981), S. 8. 391 Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 158. 392 Vgl. ebenda, S. 162 ff. 393 Daten übernommen aus: Engels/Fritsche (1990), S. 159.
3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive
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3.3.2.1 Von vorsorgenden Frauen und sorglosen Männern Es lassen sich etliche Belege dafür finden, dass die DDR-Bürgerinnen in vielerlei Hinsicht dem Bild der fürsorglichen und gesundheitsbewussten Frau entsprachen, das die Gesundheitserziehung so gerne von ihnen zeichnete. 1970 gelangte das Ministerium für Gesundheitswesen in einer Vorlage zu Fragen der Gesundheitserziehung zu der Feststellung: „[…] ein Interesse an gesundheitlichen Fragen besteht vor allem bei Frauen, älteren Menschen und bei eigener Krankheit.“394 Einer Untersuchung zur Effektivität der Gesundheitserziehung bei Lehrlingen zufolge, die Ende der 1980er Jahre durchgeführt wurde, zeigten weibliche Lehrlinge ein positiveres Gesundheitsverhalten als männliche.395 Wie bereits erwähnt, nahmen Frauen Beratungen und Behandlungen im Gesundheitssystem – sowohl in ambulanter als auch in stationärer Hinsicht – häufiger in Anspruch als Männer.396 Dies lässt sich am Beispiel der Krebsvorsorge gut nachvollziehen. Seit 1950 wurde in den Betrieben damit begonnen, die bereits mehrfach erwähnten gynäkologischen Reihenuntersuchungen zur Früherkennung des Gebärmutterhalskrebses (Kolposkopie)397 durchzuführen. Aus der Praxis berichteten Ärzte dem Gesundheitsministerium, dass die meisten Frauen diesen Untersuchungen zunächst skeptisch und ablehnend gegenüberstanden (vor allem das Schamgefühl der Frauen wurde häufig erwähnt); nachdem jedoch die ersten Befunde festgestellt wurden und den Frauen erklärt wurde, worum es ginge, nahm die Zahl der untersuchungswilligen Frauen schnell zu.398 Der Arzt und Autor der Broschüre Die wichtigsten Krebserkrankungen der Frau Robert Ganse schilderte 1952 in einem Brief an den Direktor des Deutschen Hygiene-Museums, Walter Friedeberger, dass einer seiner Werbevorträge für die kolposkopische Untersuchung für verblüffende Reaktionen gesorgt hätte: „Der Erfolg war, dass ein Entrüstungssturm unter den Frauen losbrach, da vorläufig Untersuchungen nicht stattfinden können.“ Ganse wollte davon absehen, weitere Aufklärungsvorträge zu halten, bis die Möglichkeiten der Untersuchungen „völlig gesichert sind und man den Frauen nicht Versprechungen macht, die dann nicht eingehalten werden können.“.399 Ähnliche Fälle dieser laut Ganse „katastrophalen Situation“ – erfolgreiche Aufklärung einer394 Entwicklung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen der Bürger der DDR (1970). Komplex III: Die Integration der Gesundheitserziehung in das Erziehungssystem als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, S. 11 f., in: BArch, DQ 1/3654. 395 Die Probandengruppe umfasste 284 Lehrlinge der Geburtsjahrgänge 1967 bis 1971, die vom September 1985 bis August 1987 in Betrieben des Kreises Sebnitz ihre Berufsausbildung erhalten hatten. Teilbericht im Rahmen der Einzelaufgabe M55 zur Hauptaufgabe II „Erforschung von Stand und Tendenzen des Gesundheitsverhaltens Jugendlicher“, Dresden, 30.11.1990, in: HStAD, 13658, Nr. M55, Anlage 4.2.5. 396 Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 154. 397 Siehe Kapitel 2.1.1. 398 Bericht „Krebsvorsorge und Krebsfürsorge in der Gynäkologie“ (1952), in: BArch, DQ 1/6013, unfol. 399 Zit. nach: Roeßiger (2001), S. 28.
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seits und nur unzureichend vorhandenen Kapazitäten für die Früherkennungsuntersuchungen andererseits –, gab es auch in den nächsten Jahrzehnten immer wieder. 1964 beschwerte sich der Bürgermeister der nahe Rostock gelegenen Gemeinde Kavelstorf in einer Eingabe darüber, dass bei den Krebsvorsorgeuntersuchungen im August des Jahres 19 Frauen nicht untersucht werden konnten. Hintergrund war die starke Beanspruchung der nebenamtlich tätigen Ärztinnen und Ärzte durch den zusätzlichen Zeitaufwand (seit dem Frühjahr wurden zusätzlich zur Gebärmutterhalskrebs- auch Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen durchgeführt). Dadurch konnten an einem Untersuchungstag von den 33 erschienenen Frauen nur 23 untersucht werden.400 In einer Beratung der medizinischen Kräfte für die Geschwulstbekämpfung im Landkreis Rostock informierte 1977 die Leiterin der Betreuungsstelle für Geschwulstkranke die Anwesenden darüber, dass sie seit vier Jahren die gynäkologischen Sprechstunden sowie die Geschwulst- und Schwangerenberatung für den gesamten Landkreis zu bewältigen hätte und diese Arbeit (bei circa 10.000 Frauen im Landkreis) kaum noch mit einer Vollbeschäftigteneinheit401 zu schaffen sei. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass in den einzelnen Ortschaften des Landkreises regelmäßig Krebsuntersuchungen stattfänden und die Sprechstunden unterschiedlich ausgelastet seien – mitunter kämen 80 bis 120 Patientinnen an einem Vormittag.402 Im selben Jahr wandten sich auch fünf Frauen aus dem Kreis Zittau mit einer Eingabe an das Gesundheitsministerium und brachten ihren Unmut darüber zum Ausdruck, dass sie inzwischen zwei Jahre auf einen Untersuchungstermin zur Krebsvorsorge warten müssten. In dem Schreiben heißt es: Eine solche Wartezeit hätte „nichts mit einer vorbeugenden Untersuchung zu tun“. Zudem verwiesen sie darauf, dass sie beim Sekretariat des Kreisarztes in Erfahrung gebracht hätten, dass dort mehrere Eingaben dieser Art vorliegen würden.403 In den 1970er Jahren wurde von klinisch tätigen Ärzten ein umfassendes Programm zur Früherfassung des Zervixkarzinoms (Gebärmutterhalskrebs) entwickelt, das darauf abzielte, die Krebsvorsorgeuntersuchung (bestehend aus kolposkopischer Untersuchung und zytologischem Abstrich) über die gynäkologische Sprechstunde zu organisieren.404 Auf der Tagung der Gesellschaft für Geschwulstbekämpfung 1975 in Leipzig konnte der am Rostocker 400 Quartalsanalyse der Eingaben an den Rat des Bezirkes Rostock, Abt. Gesundheitsund Sozialwesen, für das III. Quartal 1964, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 243, Bl. 55. 401 Die Vollbeschäftigteneinheit (meist VbE) ist der DDR-spezifische Begriff für eine Vollzeitarbeitskraft. 402 Protokoll über die Beratung mit den Kolleginnen der Betreuungsstelle für Geschwulstkranke Rostock-Land, Rat des Kreises, 6.10.1977, in: LAG, Rep. 200 (II), OGS, Nr. 4, Bl. 122. 403 Eingabe von Inge L. und weiteren Frauen aus dem Kreis Zittau, 3.11.1977, BArch DQ 1/24497, unfol. 404 Zur Durchführung des Programms „Früherfassung des Zervixkarzinoms“ in der Stadt Rostock (1970–74) siehe: StA Rostock, Rep. 2.1.1, Nr. 10993. Zum Berliner Zytologieprogramm siehe Berndt (1991).
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Zervixprogramm beteiligte Oberarzt eine positive Entwicklung verkünden: In der Untersuchungsgruppe der 21- bis 61-Jährigen sei ein Anstieg der Beteiligung der Frauen von 28 Prozent im Jahr 1971 auf 75 Prozent im Jahr 1974 zu verzeichnen.405 Auch das Ministerium für Gesundheitswesen schätzte 1978 insgesamt den Stand der Vorsichtsuntersuchungen auf Gebärmutterhalskrebs als sehr gut ein. Die Mehrzahl der Frauen ab dem 20. Lebensjahr (64,9 Prozent) suche alle ein bis zwei Jahre den Frauenarzt auf und in zunehmendem Umfang würden dabei gleichzeitig zytologische Abstriche vorgenommen werden.406 Zehn Jahre später konnte in einer Vorlage zum „Stand der Verwirklichung der Richtlinien zur frühzeitigen Erkennung von Geschwulstkrankheiten und zur Betreuung von Geschwulstkranken“ vom Ministerium konstatiert werden, dass in allen Bezirken mit hohem und kontinuierlichem Durchuntersuchungsgrad der weiblichen Bevölkerung (Berlin, Frankfurt/Oder, Rostock, Schwerin) der stärkste Rückgang der Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit an Gebärmutterhalskrebs zu verzeichnen war.407 Die Fokussierung des Gesundheitswesens auf die Frauen hatte also ihre Wirkung erzielt – die weibliche Nachfrage nach prophylaktischen Maßnahmen und anderen Gesundheitsleistungen war sehr hoch und konnte teilweise kaum befriedigt werden. Auch die Schwangerenberatung wurde von der großen Mehrheit der Frauen in Anspruch genommen: Über 90 Prozent aller Schwangeren wurden hier vor der 16. Woche vorstellig.408 Außerdem rauchten Frauen weniger, konsumierten weniger Alkohol als Männer und ernährten sich gesünder. Laut einer medizinsoziologischen Studie zum Gesundheitsverhalten der Berliner Stadtbevölkerung aus dem Jahr 1971 mit fast 5.000 Probanden rauchte weit über die Hälfte der Männer und „nur“ ein Viertel der Frauen. Der Anteil der Frauen, die noch nie geraucht hatten, war bedeutend höher. Zudem rauchten Frauen mengenmäßig weniger (2,4 Prozent der Frauen gegenüber 10 Prozent der Männer rauchten 21 und mehr Zigaretten pro Tag) und inhalierten dabei seltener als Männer.409 Einer weiteren Statistik zufolge gab es 1988 in der DDR 18 Prozent weibliche und 41 Prozent männliche Raucher.410 Eine Umfrage des ZIJ aus demselben Jahr 405 Kurzprotokoll von der III. Tagung der Gesellschaft für Geschwulstbekämpfung in Leipzig, 17.–19.4.1975, in: LAG, Rep. 200 (II), OGS, Nr. 4, Bl. 140. 406 Zur Erfüllung des Krebsbekämpfungsprogramms, 8.9.1978, in: BArch, DQ 1/13477, unfol. 407 Vorlage des Ministers für Gesundheitswesen „Stand der Verwirklichung der Richtlinien zur frühzeitigen Erkennung von Geschwulstkrankheiten und zur Betreuung von Geschwulstkranken“ (1988), in: LAG, Rep. 200 (II), 9.1., Nr. 635, unfol. 408 Vgl. Rücker (1990), S. 63. Mit ein Grund für die hohe Teilnahmequote dürfte der finanzielle Anreiz gewesen sein, den es seit 1972 gab: Für jedes Kind zahlte der Staat in Teilbeträgen insgesamt 1.000 Mark. Die Auszahlung der Summe war an die Inanspruchnahme bestimmter Vorsorgeuntersuchungen gebunden, wie eben die Vorstellung in der Schwangerenberatung und später die des Säuglings in der Mütterberatung; vgl. Rücker (1990), S. 62 f. 409 Vgl. Akademie (1971), S. 29. 410 Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 156.
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unter 1.200 Jugendlichen und Erwachsenen zwischen 16 und 30 Jahren hatte ergeben, dass männliche Befragte zwei- bis dreimal mehr Alkohol tranken als weibliche: durchschnittlich 18 Normalglas411 im Vergleich zu durchschnittlich 7 Normalglas.412 Die Berliner Studie „Gesundheit 71“ hatte auch ein anderes Essverhalten zutage gefördert: Frauen verzehrten demnach regelmäßiger Obst und Gemüse als Männer.413 Die männliche DDR-Bevölkerung entsprach scheinbar zu großen Teilen dem hegemonialen, proletarisch geprägten Männlichkeitsbild und der damit korrespondierenden „Ess- und Trinkkultur“414, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Alkohol. In der Landwirtschaft, den Kleinbetrieben sowie auf den Werften und in den Fischereibetrieben im Norden der DDR wurde jedenfalls viel Alkohol getrunken.415 Die Ständige Kommission Gesundheitsund Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock stellte 1956 in einer Sitzung zum Thema Jugendschutz fest, dass der Alkoholmissbrauch in den Fischkombinaten Rostock und Saßnitz erheblich sei und auch die Jugendlichen „Unmengen von Alkohol“ tränken.416 Die Mitarbeiter des Betriebsgesundheitswesens der Rostocker Neptunwerft berichteten der Ständigen Kommission im März 1958, dass in den vergangenen Tagen drei junge Menschen infolge von Alkoholgenuss bei einem Brand ihr Leben lassen mussten. In der Neptunwerft gäbe es starke Diskussion zum Thema Alkohol, insbesondere nach diesem Vorfall. Bei der Analyse der Ursachen wurde nach Ansicht des ärztlichen Personals hingegen nicht bedacht, dass gerade ein Teil der älteren Kollegen die jüngeren zum Trinken verleite und die Jugendlichen oft auffordere, „einen mitzutrinken und einen auszugeben“.417 In den Akten der Betriebe und der staatlichen Gesundheitsverwaltungen der 1960er und 1970er Jahre finden sich zudem zahlreiche Berichte über „Alkoholausschweifungen“ in Nachtsanatorien oder Krankengeldsperrungen, weil kranke Kollegen abends alkoholisiert in Tanzlokalen angetroffen wurden oder auf Kuren gegen die Kurdisziplin verstoßen haben.418 Eine medizinisch-soziologische Studie, in der Ende der 1960er Jahre 76 Traktoristen der Landkreise Rügen und Weimar interviewt und analysiert wurden, kam zu dem Ergebnis, dass 87,1 Prozent der männlichen Probanden Raucher 411 Dieser Einheit entsprach ein kleines Glas Bier (0,25 l), ein übliches Glas Wein oder Sekt (125 ml) oder ein Glas Spirituosen (20 ml); vgl. Reißig (1991), S. 135. 412 Vgl. Reißig (1991), S. 135. 413 Vgl. Akademie (1971), S. 51. 414 Brandes (2008), S. 70. 415 Die folgende Passage wurden in ähnlicher Weise bereits in einem Artikel für das Medizinhistorische Journal verwendet; Linek (2015). 416 Protokoll der 20. Sitzung der Ständigen Kommission Gesundheits- und Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock vom 28.12.1956, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 65, Bl. 84. 417 Protokoll der 28. Sitzung der Ständigen Kommission Gesundheits- und Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock vom 1.3.1958, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 65, Bl. 35. 418 Z. Bsp. Bericht über die Konferenz der Poliklinik der Volkswerft Stralsund, um 1960, LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 40, Bl. 202 oder Berichte über Kranken- und Unfallstand der Schiffswerft „Neptun“ der 1960er und 1970er Jahre, LAG, Rep. 242, A3/297, Bl. 14 und LAG, Rep. 242, A3/413, unfol.
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waren (überwiegend Starkraucher mit einem durchschnittlichen Verbrauch von 20–25 Zigaretten am Tag) und dass viele der Traktoristen regelmäßige Gasthausbesucher waren, die in der Woche circa einen Liter Spirituosen konsumierten.419 Auch hier hatten die jugendlichen Traktoristen, die genauso häufig im Gasthaus einkehrten, ein negatives Vorbild in ihren männlichen Arbeitskollegen.420 Im VEB Kohlenhandel Rostock war Alkoholmissbrauch ebenfalls ein großes Problem. Die zuständige Betriebsärztin informierte die Arbeitsgemeinschaft zur Senkung des Kranken- und Unfallstandes auf einer Beratung 1977 darüber, dass 70 Prozent aller Mitarbeiter übermäßig Alkohol zu sich nähmen – die Kraftfahrer vorwiegend nach der Arbeitszeit, die Beifahrer und Platzarbeiter auch während der Arbeitszeit. Sie berichtete außerdem davon, dass die Termine zur Grippeschutzimpfung kaum wahrgenommen und die im vergangenen Jahr verabreichten Vitamintabletten während der Erkältungszeit nicht eingenommen worden seien. Selbst bei der Durchführung der gesetzlich vorgeschriebenen Reihenuntersuchung gab es Schwierigkeiten: Von den 56 gemeldeten Kollegen waren bis dato lediglich 11 erschienen.421 Aus den bereits zitierten Eingaben zum Rauchen am Arbeitsplatz und den Befunden der in der DDR-Gesundheitserziehung tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lässt sich schlussfolgern, dass es auch überwiegend Männer waren, die sich über gesundheitserzieherische Maßnahmen und Kampagnen lustig machten und Zigarette, Alkohol und Fleischkonsum bewusst als Zeichen ihrer Männlichkeit (und auch als Zeichen der Macht) zur Schau stellten. So berichtete die Sekretärin Johanna W. über ihre männlichen Kollegen aus dem VVB Automobilbau in Karl-Marx-Stadt, dass diese immer wieder mit Zigaretten im Mund „hereingedampft“ kämen – trotz der Hinweise, dass „uns Frauen der Zigarettenqualm sehr lästig ist“ – und ihr und ihren Kolleginnen beim Diktat den Qualm direkt zupusteten.422 Dieter G. aus Riesa machte negative Erfahrung mit Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern und deren „Verspottung und Belächelung des Gemüseessens“.423 Die Strausbergerin I. R. vertrat die Meinung, die Leitungskader würden durch „Rauchen, Saufen, Fressen“ ihre Gesundheit ruinieren.424 Dass alle darüber Bescheid wussten, „wie es in bestimmten Funktionärs-Kreisen mit dem Alkohol- und Tabakkonsum aussah“425, war auch die Ansicht der Deine Gesundheit-Redakteurin Ursula Hertel. Rolf Lämmel machte ebenfalls in seiner täglichen Arbeit als Generalsekretär des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung in den 1970er und 1980er Jahren die Erfahrung, dass gesundheitserzieherische Anliegen – insbesondere Appelle und Maßnahmen zur Einschränkung des Genussmittel419 Vgl. Lindner (1969), S. 43. 420 Vgl. ebenda, S. 44. 421 Protokoll über die Beratung der ständigen Arbeitsgemeinschaft zur Senkung des Kranken- und Unfallstandes am 11.11.1977, StA Rostock, Rep. 2.1.1, Nr. 10997, unfol. 422 Johanna W. ans MfGe, 6.1.1967, in: BArch, DQ 1/2433, unfol. 423 Eingabe von Dieter G. an die Charité, 13.2.1960, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 424 Eingabe von Frau I. R. an den Gesundheitsminister, 18.6.1989, in: BArch, DQ 1/14224, unfol. 425 Von Wasserheften (1999), S, 81.
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konsums – von den SED-Oberen nicht ernst genommen und belächelt wurde.426 In bewusster Abgrenzung zum hegemonialen Männlichkeitsbild wurden aber auch andere Männlichkeiten in Szene gesetzt. Und auch die Frauen in der DDR legten vielfältigere Gesundheitsverhaltensweisen an den Tag, als die von der Gesundheitserziehung propagierten. 3.3.2.2 Von gesundheitsbewussten Männern und emanzipierten Frauen In den Dokumenten lassen sich nicht nur Beispiele für Männer finden, die keine Rücksicht auf die Bitten ihrer nichtrauchenden Kolleginnen nahmen oder die ihre Lehrlinge zum Mittrinken animierten, sondern auch für jene, die sich ausdrücklich für Gesundheitsbelange interessiert und eingesetzt haben. Dies kann anhand zweier Statistiken aus dem Eingabenkorpus verdeutlicht werden. Von den von mir erfassten 485 Eingaben, die in den Jahren 1963 bis 1985 im Ministerium für Gesundheitswesen zum Thema allgemeine Gesundheitserziehung sowie Lebensmittel- und Ernährungshygiene in der Hauptabteilung Hygiene eingegangen sind, wurden mindestens 319, also zwei Drittel, von Männern verfasst (siehe Diagr. 1). Frauen waren für 23,7 Prozent und Institutionen wie Schulen und Betriebe sowie anonyme oder nicht identifizierbare Eingabenschreiber oder -schreiberinnen zusammengenommen für circa 10 Prozent der Eingaben verantwortlich.427 Auch bei den Beschwerden zum Thema Rauchen standen die Männer weit vorn. Für den Zeitraum von 1958 bis 1964 finden sich von den 215 an das Ministerium adressierten oder weitergeleiteten Eingaben zu gesundheitserzieherischen Fragen 90 Eingaben zum Schwerpunkt Nichtraucherschutz oder Rauchverbote – 73,3 Prozent stammten aus der Feder von Männern, 14,4 Prozent aus der von Frauen und 12,2 Prozent wurden von Institutionen verfasst oder von anonymen beziehungsweise nicht identifizierbaren Personen.428 426 Vgl. Lämmel (2000), S. 216. Die große Mehrheit der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, Leitungskader und erst recht der SED-Oberen in der DDR waren Männer. In 40 Jahren DDR-Geschichte gab es beispielsweise nur drei Ministerinnen. Zwar waren ein Drittel aller SED-Mitglieder Frauen (1981: 33,7 Prozent), im ZK hingegen betrug der Anteil der weiblichen Vollmitglieder nur 12 Prozent und im Politbüro wurde keine einzige Frau Vollmitglied. Auch auf den Posten des 1. oder 2. Sekretärs einer Bezirksleitung der SED gelangte nie eine Frau. In der Volkskammer – dem machtpolitisch unbedeutendsten DDR-Gremium – stellten Frauen Mitte der 1970er immerhin ein Drittel der Abgeordneten. Vgl. Gerhard (1994), S. 395 und Schwartz (2005), S. 64 f. Für detailliertere Angaben und Ausführungen zur politischen Partizipation von Frauen in der DDR siehe zudem Hampele (1993). 427 MfGe, Hauptabeilung Hygieneinspektion, Sektor Gesundheitserziehung sowie Lebensmittel- und Ernährungshygiene, Eingaben: BArch, DQ 1/22239 (1963), 22240 (1964), 3614 (1965), 5174 (1964–65), 5175 (1966), 2433 (1967), 23333 (1967–68), 23346 (1969), 11520 (1984–85). 428 MfGe, Hauptabeilung Hygieneinspektion, Sektor Gesundheitserziehung, Eingaben: BArch, DQ 1/6017 (1958–1962), 22239 (1963), 22240 (1964).
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Männer Frauen Institutionen anonym/unbekannt
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115 319
Diagr. 1: Eingaben an das MfGe, Hauptabteilung Hygieneinspektion, 1963–1985.
Leider gibt die Sekundärliteratur zu Eingaben in der DDR nur vereinzelt Hinweise auf die Frage, ob Eingaben eher von Männern oder von Frauen verfasst wurden. Dies hing auch von weiteren Faktoren wie sozialer Schicht, Generation und lebensweltlichem Kontext ab und differierte zudem nach Themenfeldern. Reuter-Boysen, die Eingaben der 1950er Jahre zum Thema Rente untersucht hat, schätzt ein, dass diese überwiegend von Frauen verfasst wurden.429 Mühlberg zeigt in Diagrammen zur Verteilung ausgewählter Eingaben an den Staatsrat, dass in den 1980er Jahre 40 bis 46 Prozent der Wohnungsanfragen von Frauen vorgebracht worden sind.430 Leserbriefe an DDR-Tageszeitungen – offiziell ja auch als Eingabe gewertet – wurden hingegen zum überwiegenden Teil von Männern verfasst.431 Auch bundesdeutsche Institutionen erhielten mehr Eingaben und Petitionen zu den Themenkomplexen Gesundheit und Krankheit von Männern als von Frauen.432 Pfütsch verweist darauf, dass das um 1800 entstandene bürgerliche Geschlechtermodell der getrennten Sphären und Zuständigkeiten – der öffentliche Raum und repräsentative Funktionen für den Mann, Privatheit und häusliche Aufgaben für die Frau – auch das Geschlechterverhalten im 20. Jahrhundert noch beeinflusste und sich Männer vor diesem Hintergrund deutlich häufiger dazu veranlasst sahen als Frauen, öffentlich ihre Stimme zu erheben.433 Auch wenn sich durch diese Einschätzungen die quantitativen Ergebnisse der Eingabenstatistiken etwas verschieben, bleibt festzuhalten, dass sich Männer in recht beachtlicher Zahl zu Gesundheitsfragen geäußert und sich dabei nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um die ihrer Mitmenschen besorgt gezeigt haben. Viele männliche Eingabenschreiber haben sich im In-
429 430 431 432 433
Vgl. Reuter-Boysen (2010). Vgl. Mühlberg (2004), S. 184. Vgl. Bos (1992), S. 218. Vgl. Pfütsch (2015), S. 134. Vgl. ebenda (2015), S. 132.
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teresse anderer Nichtraucher im Betrieb434, im Namen der Ehefrau, die nicht mehr an gesellschaftlichen Verpflichtungen teilnehmen konnte435, oder der Kinder, die bei Schulausflügen oder während der Ausbildung „dauernd mit Nikotinnebel“ berieselt wurden436, an staatliche Stellen oder die Medien gewandt. Auch Männer beklagten sich darüber, dass man dem Unverständnis und Spott der Raucher ausgesetzt sei, wenn man um Rücksichtnahme bat. Darüber hinaus haben sich Männer zu allgemeinen Aspekten der Hygiene, zu Lebensmittel- und Ernährungsfragen sowie zur Organisation und Effektivität des Gesundheitsschutzes zu Wort gemeldet. Selbst an die Frauenzeitschrift Für Dich wurden Leserbriefe von männlichen Lesern geschrieben, beispielsweise, um sich über die Zustände im Schwangerenkurheim zu beschweren.437 Aufschlussreiche Informationen zum Gesundheitsbewusstsein und -verhalten kann man den Selbstdarstellungen entnehmen, die in vielen Eingaben dem eigentlichen Anliegen vorangestellt wurden.438 Einige der männlichen Eingabenautoren gaben Auskunft über ihren durch die Lebensreform- oder Naturheilbewegung beeinflussten Lebensstil oder berichteten von ihren Erfahrungen in der sozialistischen Arbeiterjugend. So zum Beispiel der bereits zitierte Werkleiter aus dem sächsischen Schopau, Otto R., der sich seit Jahren für den Nichtraucherschutz in seinem Industriebetrieb engagierte: „Mit den Fragen einer gesunden Lebensführung habe ich mich schon von Jugend auf vielfach beschäftigt, zumal mein Vater […] grosser Anhänger der Bestrebungen der damals bestehenden Naturheilbewegung war.“439 Die meisten verzichteten durch diese Prägung auf Alkohol und Nikotin, bewegten sich viel an der frischen Luft und ernährten sich sehr bewusst. Der bereits zitierte Dresdner Rudolf R. schilderte in seiner Eingabe an das Ministerium für Gesundheitswesen, dass er und seine Brüder überzeugte Nichtraucher seien: „[…] es ist praktisch noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als wir 2 jüngeren Brüder damals Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterjugend waren und es dort mit einer der ersten Grundsätze war, Alkohol und Nikotin zu meiden.“440 Werner F. 434 Erinnert sei hier nochmal an die Eingabe von Kurt R., die zwei Listen mit 230 Unterschriften von Arbeitern des VEB Starkstrom-Anlagenbau Karl-Marx-Stadt erhielt, die nicht länger durch Raucher gefährdet werden wollten und ein energisches Rauchverbot in Betrieben und Behörden sowie in Speiseräumen und auf Versammlungen jeglicher Art forderten; Kurt R. ans MfGe, 26.10.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 435 Schreiben von Rudolf D. aus Berlin an die Regierung der DDR vom 25.5.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 436 Brief von Rudolf R. aus Dresden ans MfGe vom 20.1.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol. 437 Leserbrief von Jürgen B. aus Brandenburg an die Redaktion der Zeitschrift Für Dich vom 22.5.1977, in: BArch, DQ 1/24496, unfol. 438 Dieses rhetorische Mittel diente dem Zweck, den Adressaten für sich oder sein Anliegen einzunehmen – von daher kann man davon ausgehen, dass die Selbstbeschreibungen häufig stark ausgeschmückt wurden. Zu den verschiedenen Eingabestrategien und rhetorischen Kompositionen siehe Mühlberg (2004), S. 198–256. 439 Brief von Otto R. ans Präsidium des Komitees für gesunde Lebensführung und Gesundheitserziehung, 24.8.1965, in: BArch, DQ 1/3614, unfol. 440 Rudolf R. ans MfGe, 20.1.1964, in: BArch, DQ 1/22240, unfol.
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wiederum – auch er wurde weiter oben bereits erwähnt – war durch Literatur und Ausstellungen von einer gesunden Lebensweise überzeugt worden und fühlte sich nach einigen Wochen der Ernährungsumstellung „beschwingter, freier, gesünder“. In seiner Eingabe wies er nun aber auf die Schwierigkeiten hin, die erforderlichen gesunden Lebensmittel (unter anderem gereinigter Weizen, Roggen, brauner Zucker, Naturreis, Weizenschrot, Quark, Grünkern sowie Vollkorn-Haferflocken) zu „ergattern.“441 Männer wie Otto R., Rudolf R. und Werner F. traten also nicht als – wie von der Gesundheitspropaganda häufig dargestellte – Raucher oder Trinker in Erscheinung, sondern als ausgesprochen gesundheitsorientierte Personen. Anhand ihrer Eingaben wird deutlich, wie sich diese gesundheitsbewussten Männer ganz explizit von den rücksichtslosen Rauchern oder denjenigen, die ungehemmt dem Fleischkonsum frönten, abgrenzten und ein alternatives oder ergänzendes – in Connells Formulierung „untergeordnetes“ oder „marginalisiertes“ – Männlichkeitsbild inszenierten, bei dem die Sorge um die eigene Gesundheit und die der Familie oder der Kolleginnen und Kollegen eine wichtige Rolle spielte. Dass die proletarische Männlichkeitskultur in der DDR nicht das einzige Männlichkeitsmodell war, konnte auch Wiebke Waburg anhand der Auswertung von Interviews mit ostdeutschen Männern aus den 1990er Jahren zeigen. Die von ihr herausgearbeiteten unterschiedlichen männlichen Strategien im Umgang mit Krankheiten belegen, dass es nicht nur eine dominante Form der Männlichkeit gab, die für alle DDR-Männer verbindlich war. In den Erzählungen der Interviewpartner wurden verschiedene Konstruktionen von Männlichkeit sowie unterschiedliche Auffassungen von Krankheit deutlich: einerseits Verdrängung und Kompensation der Krankheit und ihrer Folgen (Orientierung am hegemonialen Modell), andererseits Akzeptieren und Arrangieren mit der Krankheit (Konstruktion einer alternativen Männlichkeit).442 Es lassen sich selbst Beispiele für im Vergleich zu den Frauen positivere Gesundheitsverhaltensweisen ausfindig machen. Die Männer in der DDR betrieben beispielsweise mehr Sport als die Frauen, was unter anderem die Berliner Studie von 1971 belegt: Körperliches Training (außer Gymnastik) wurde von Männern häufiger durchgeführt als von Frauen. Von den 6,8 Prozent, die dieses Training mit einer Frequenz absolvierten, die leistungssteigernde Effekte erwarten ließ, waren 11 Prozent männlichen und 3,5 Prozent weiblichen Geschlechts.443 Industrie-Bauarbeiter betrieben einer empirischen Untersuchung aus den Jahren 1965 und 1966 zufolge täglich durchschnittlich 22 Minuten aktiven Sport. 90 Prozent von ihnen betätigten sich in den Sportarten Fußball, Schwimmen (im Sommer), Handball, Geländefahren mit Krad, Moped oder Fahrrad, Volleyball, Luftgewehrschießen, Angeln, Radtouren und Gewichtheben. Als Motive führten die Arbeiter unter anderem physische 441 Brief von Werner F. aus Weißenfels an das Institut für Ernährungswissenschaften in Potsdam-Rehbrücke, 16.4.1963, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 442 Vgl. Waburg (2000), S. 78–80. 443 Vgl. Akademie (1971), S. 60.
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Leistungssteigerung und Freude am Wettkampf an.444 In diesem Fall konnte das hegemoniale Männlichkeitsmuster, bei dem nach Scholz Siegesbereitschaft und Erfolg im Mittelpunkt standen445, positive Effekte auf das Gesundheitsverhalten und die körperliche Verfassung der Männer haben. DDR-Männer waren darüber hinaus deutlich seltener übergewichtig – hier betrug das Verhältnis 20 Prozent bei den Männern im Vergleich zu etwa 40 Prozent bei den Frauen.446 Sie absolvierten auch Reihenuntersuchungen und Impfungen zum Teil mit besseren Quoten als Frauen. Vergleichsstudien zwischen männlichen Traktoristen und weiblichen Bäuerinnen der Viehwirtschaft in den Kreisen Rügen und Weimar erbrachten Ende der 1960er Jahre beispielsweise das Resultat, dass die Tetanusschutzimpfung von 77,6 Prozent der Traktoristen (alle drei Injektionen) absolviert wurde. Von den Bäuerinnen hingegen waren nur 60 Prozent zur Erstimpfung erschienen, knapp 30 Prozent zur Zweitimpfung und gar keine zur Drittimpfung.447 Auch bei der Prostata-Krebsvorsorge, die für Männer ab 45 Jahren seit 1973 staatlich festgeschrieben war448, konnten gute Ergebnisse erzielt werden. Im Bezirk Erfurt kamen 1974 von den geladenen Männern immerhin 68,3 Prozent zur Untersuchung, die in den Betrieben beim Schichtwechsel der Arbeiter vorgenommen wurde.449 Von der Teilnahme an Reihenuntersuchungen und Impfungen konnten auch Männer, die eher dem proletarischen Männlichkeitsbild entsprachen wie beispielsweise die Traktoristen – die ansonsten eher durch hohen Zigarettenund Alkoholkonsum auffielen – überzeugt werden. Ausschlaggebend waren hier andere Faktoren wie die Organisation und der Ablauf der Untersuchung oder die Aufklärungsarbeit für die prophylaktischen Maßnahmen. Damit sind schon einige Einflüsse und Bedingungen benannt, die abseits der Differenzkategorie männlich/weiblich für das Gesundheitsverhalten der DDR-Bevölkerung verantwortlich waren beziehungsweise diese Kategorie überlagerten. Weitere Einflussfaktoren werden im folgenden Kapitel 3.3.3 diskutiert. Zunächst gilt es aber noch, Beispiele für die Verschiedenartigkeit der Gesundheitsverhaltensweisen der DDR-Frauen aufzuzeigen, die ebenfalls das Zusammenspiel der Kategorie Geschlecht mit anderen Faktoren verdeutlichen. Wie bereits im Verlauf der Arbeit angeklungen ist, haben nicht alle DDRFrauen – obgleich doch die Gesundheitsliteratur sehr stark auf das weibliche Geschlecht ausgerichtet war – dem Bild der gesundheitsbewussten Frau entsprochen. Schon in Dokumenten und Eingaben der 1950er und 1960er Jahre wurde auf die steigende Anzahl der weiblichen Raucherinnen verwiesen. Auf 444 445 446 447 448
Vgl. Voigt (1973), S. 51. Vgl. Scholz (2008), S. 23. Siehe Artikel „Wenn Lust zur Sucht wird“, in: Deine Gesundheit H. 2 (1988), S. 24. Vgl. Oeser (1969), S. 19. Siehe Zusatzinformationen zum Merkblatt „Die Vorsteherdrüse des alternden Mannes“ von 1975 in der Objekt-Datenbank des DHMD: http://www.dhmd.de/emuseum/ eMuseumPlus. 449 Protokoll der Arbeits- und Weiterbildungstagung des Bezirkes Erfurt (Onkologie), 11.– 12.11.1974 in Oberhof, in: LAG, Rep. 200 (II), OGS, Nr. 4, Bl. 148.
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der zuvor schon erwähnten Sitzung der Ständigen Kommission Gesundheitsund Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock 1956 zum Thema Jugendschutz wurde explizit hervorgehoben, dass Schülerinnen mehr rauchten als früher.450 Die Eingabenverfasserinnen und -verfasser empörten sich beispielsweise über „die holde Weiblichkeit“, die auch in Zeitschriften und im Film oder Fernsehen zunehmend beim Rauchen „in Pose“ gesetzt wurde451 oder betonten, dass Frauen in den Betrieben die gleiche „Raucherleidenschaft“ an den Tag legten wie Männer452. Seit den 1970er Jahren machte sich diese Zunahme dann auch statistisch bemerkbar. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der Emanzipation der DDR-Frauen zu sehen. Das doing gender äußerte sich bei ihnen in der Übernahme bislang männlicher Vorrechte, wozu neben dem Rauchen auch in zunehmendem Maße der Konsum von Alkohol zählte453. Dies bestätigt die Aussage einer 17-jährigen Textilfacharbeiterauszubildenden in einem Interview Ende der 1980er Jahre: „Für mich ist Gleichberechtigung zum Beispiel das Recht zu rauchen, allein zum Tanz gehen zu können, Meisterlehrgänge mitzumachen“.454 Auch die Bemühungen der Gesundheitserziehung konnten nur bedingt zu den Ohren der Frauen durchdringen, wie der Bericht der Brigade 7. Parteitag der Flugzeugwerft Dresden455 über den „Besuch des Hygienemuseums“ aus dem Jahr 1985 zeigt. Handschriftlich neben einem Zeitungsausschnitt zum Museum stand dort: „Wir wurden am 1.4. dieses Jahres auf die Gefährlichkeit des Alkoholmißbrauchs bzw. die Raucher unter uns auf die Schädlichkeit des Tabaks hingewiesen. Es wird seitdem nicht mehr bzw. auch nicht weniger geraucht.“456 Kopfzerbrechen bereitete den Gesundheitserzieherinnen und -erziehern vor allem die hohe Quote der rauchenden Schwangeren. Die Analyse des Rauchverhaltens von mehr als 1.000 Schwangeren im Bezirk Rostock ergab, dass 1980 56 Prozent von ihnen zu Beginn der Schwangerschaft rauchten (im Vergleich dazu waren es 1970 etwa 20 Prozent) und 15,4 Prozent dieser Frauen während der gesamten Schwangerschaft weiterrauchten. In der Altersgruppe bis 19 Jahre war der Anteil am höchsten. Am häufigsten rauchten zudem ledige Frauen ohne Partner und Geschiedene.457 450 Protokoll der 20. Sitzung der Ständigen Kommission Gesundheits- und Sozialwesen beim Bezirkstag Rostock vom 28.12.1956, in: LAG, Rep. 200, 9.1., Nr. 65, Bl. 84. 451 Else B. an den Staatsratsvorsitzenden und 1. Sekretär des Zentralkomitees Walter Ulbricht, 15.5.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. Der teilweise schrille Ton der Empörung war sicherlich auch der Anti-Raucherkampagne der Nationalsozialisten, die sich vorrangig gegen die „rauchende Frau“ richtete, geschuldet. 452 Schreiben von Wilhelm W. aus Plauen ans MfGe, 29.5.1966, in: BArch, DQ 1/5175, unfol. 453 Vgl. Reißig (1991), S. 137. 454 Zit. nach: Adam und Eva (1988), S. 20. Ende der 1980er Jahre wurden vom ZIJ Interviews mit eineinhalbtausend Jugendlichen und Älteren zum Thema Gleichberechtigung in der DDR durchgeführt. 455 Von den 26 Mitgliedern der Brigade waren 22 weiblich. 456 Brigadebuch der Brigade 7. Parteitag der Flugzeugwerft Dresden, Bd. 2 (1985), Bl. 58, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (im Folgenden: ISGV). 457 Vgl. Goldberg (1988), S. 16 f.
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Ferner spielten Frauen im Zusammenhang mit dem Thema Alkohol eine Rolle, auch wenn die Gesundheitspropaganda dieses Problemfeld als durchweg männliche Angelegenheit behandelte. Elke Schrader, Mitarbeiterin in einer großen „Vorzeigekaufhalle“ in Berlin, in der 150 Mitarbeiter im DreiSchicht-System arbeiteten, berichtet in Thomas Kochans Studie zur Alkoholkultur in der DDR, wie sie und ihre Kollegen nach der Arbeit im Büro der Kaufhallenleiterin oftmals bis abends um zehn getrunken haben: „Wir haben uns nicht jeden Tag besoffen, sage ich mal, und haben uns auch nicht verabredet. Es ergab sich immer, es musste kein Geburtstag sein, vielleicht an einem stressigen Tag, nach dem Motto: Mensch, jetzt müssen wir erst mal einen trinken!“458 In den Brigadebüchern wird ebenfalls deutlich, wie häufig der Alkohol auch das Gemeinschaftsleben der weiblichen Brigademitglieder begleitete. In der Brigade der Stomatologischen459 Abteilung der Kreispoliklinik Altentreptow, in der in den 1980er Jahren über 80 Prozent der Brigademitglieder Frauen waren, wurde den Eintragungen zufolge bei gemeinsamen Abendveranstaltungen der Brigade regelmäßig Alkohol konsumiert – sowohl beim Grillen und Kegeln als auch bei den Handarbeitsabenden. Beim Handarbeitsabend im Januar 1982 war „mit Gebäck und alkoholischen Getränken nicht gespart worden“. Selbstkritisch wurde angemerkt, dass die Handarbeitsergebnisse nicht besonders gut geworden seien, „denn schon nach einigen Gläschen fielen die Maschen schon von allein von der Stricknadel.“460 Zum Kegelabend im April desselben Jahres wurde festgehalten: Der Ärger über die ‚Ratten‘ konnte durch den Verzehr von „Kurzen“ beseitigt werden.461 Und auch beim Grillabend in Grischow wurden „natürlich“ Bier und „Schnäpschen“ dazu getrunken.462 Auch im Kollektiv Produktionsorganisation der Deutschen Reichsbahn, Außenstelle Greifswald, unter dessen 14 Mitgliedern sich 9 weiblichen Geschlechts befanden, wurden am Brigadewandertag im Juni 1975 nach der Wanderung nach Eldena Kaffee und Kuchen und „…zur Stärkung unseres Geistes einige alkoholische Erfrischungen…“ verzehrt. Beim anschließenden Kegeln wurden dem Körper „noch einige Spirituosen“ zugeführt.463 Sehr ähnlich verlief der Kegelabend der aus 12 weiblichen und 7 männlichen Mitgliedern bestehenden Brigade Konstruktion des VEB Robotron in Dresden im Mai 1971. Zunächst wurde das kräftige Abendbrot mit großem Appetit verschmaust […]. Es braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden, daß dem Bier keiner feindlich gegenüberstand. […] Anschlie458 Zit. nach: Kochan (2011), S. 160–162. 459 Stomatologie war der in der DDR übliche Begriff für die Zahnmedizin. 460 „Unser Handarbeitsabend“, 21.1.1982, Brigadebuch der Stomatologischen Abteilung der Kreispoliklinik Altentreptow (1981–1983), privater Besitz. 461 „Wieder einmal alle Neune“, Kegelabend am 30.4.1982, Brigadebuch der Stomatologischen Abteilung der Kreispoliklinik Altentreptow (1981–1983), privater Besitz. 462 „Grillabend in Grischow“, Brigadebuch der Stomatologischen Abteilung der Kreispoliklinik Altentreptow (1984–1987), privater Besitz. 463 „25. Juni 1975“, Brigadewandertag, Brigadebuch aus der Sammlung Deutsche Reichsbahndirektion, Nr. 1 (1974–1975), StA Greifswald.
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ßend wurde in gemütlicher Runde die ‚Neune‘ begossen und auch die Kegelkasse in Flüssigkeitseinheiten umgesetzt.464
Dass es dabei nicht nur um gemütliches Beisammensein ging, sondern der Alkohol auch für Frauen zu einer Gesundheitsgefahr werden konnte, zeigt unter anderem eine Beratung der Arbeitsgruppe zur Senkung des Krankenstandes mit dem Post- und Fernmeldeamt Greifswald465 aus dem Jahr 1985, in der festgehalten wurde, dass die häufige Arbeitsbefreiung der Alkoholiker sehr problematisch für den Betrieb sei.466 Auf einer Arbeitsberatung der Instrukteure für Gesundheitserziehung des Bezirks Rostock wurde 1985 gleichermaßen festgestellt, dass unter den Alkoholpatienten zunehmend Jugendliche und Frauen seien.467 Sportliche Betätigung war unter Frauen ebenfalls wenig verbreitet. 1953 hieß es in einer Stellungnahme des Bezirkskomitees für Körperkultur und Sport zur sportlichen Entwicklung in den Werften des Bezirkes Rostock, dass durch gut vorbereitete und durchgeführte Lehrlingssportfeste der größte Teil der Lehrlinge in allen Werften an den Sport herangeführt worden sei – lediglich die Beteiligung der Mädchen wurde als „ungenügend“ angemahnt.468 Ein Eintrag im Brigadebuch der Universitäts-Apotheke469 Greifswald Anfang der 1970er Jahre verweist darauf, dass auch die Frühgymnastik bei den Frauen nicht so hoch im Kurs stand wie es im Film „Hygiene – Pausengymnastik“ aus der Reihe Tausend Tele-Tips dargestellt wurde. Zum Thema „Der Sport bei uns in der Apotheke“ wurde festgehalten, dass sich bei schönem Wetter um 9 Uhr ein Teil der Kollegen auf dem Hof zur fünfminütigen Frühgymnastik eingefunden hatte; der Beitrag endete hingegen mit der Mahnung: „Es wäre jedoch zu begrüßen, wenn sich noch mehr Kollegen dieser sinnvollen Frühgymnastik anschließen würden, schließlich hat doch jeder Nutzen davon.“470 An anderen Sportveranstaltungen wurde ebenfalls nicht so stark partizipiert wie die Brigadebuchschreiberin Sylvia B. zum „Sportliche[n] Abend 1982“ bemerkte, der ab 17 Uhr zur gemeinsamen Gymnastik, zum Ausdauerlauf oder Tischtennis und zum Völkerballspiel einladen sollte: „Leider fanden nur 11 Mitarbeiter Zeit und Lust, sich sportlich zu betätigen.“471 Und auch die lange geplante 464 „Kegelabend am 3. Mai 1971“, Brigadebuch der Brigade „3ZKK“ des VEB Robotron, Bd. 4 (1971/72), Bl. 17, ISGV. 465 77 Prozent der Belegschaft waren Frauen. 466 Beratung der Arbeitsgruppe zur Senkung des Krankenstandes mit dem Post- und Fernmeldeamt am 19.2.1985, in: StA Greifswald, VA 1106, unfol. 467 Mitschrift der Arbeitsberatung der Instrukteure für Gesundheitserziehung, durchgeführt vom Bezirkskabinett für Gesundheitserziehung des Bezirks Rostock, 28.5.1985, in: Kreisarchiv Ostvorpommern, keine Aktensignatur. 468 Stellungnahme vom 26.1.1953, in: LAG, Rep. 200, 8.3.1, Nr. 18, Bl. 60. 469 Die Brigademitglieder waren nicht einzeln verzeichnet, auf den Fotos waren jedoch ausschließlich weibliche Mitarbeiterinnen abgebildet (den Beruf des Apothekers übten in der DDR überwiegend Frauen aus). 470 Brigadebuch der Universitäts-Apotheke Greifswald (1971–1973), eigener Besitz Universitätsapotheke. 471 Brigadebuch der Universitäts-Apotheke Greifswald (1973–1982), eigener Besitz Universitätsapotheke.
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„Fahrt ins Grüne“ mit dem Rad erfreute sich keiner großen Teilnehmerzahl: „Obwohl laut Umlauf großes Interesse für die Teilnahme an dieser Radtour bestand, fanden sich kurz nach 17.00 Uhr nur 6 Mitarbeiter vor der Apotheke ein.“472 Auf dem Lande gab es noch weniger sportlich aktive Frauen: Von den 70 befragten Bäuerinnen einer LPG im Kreis Rügen gab 1963 nur eine an, Mitglied in einer Gymnastikgruppe zu sein.473 Aus den genannten Beispielen lässt sich nicht unbedingt auf eine naturgemäße Umsicht oder ein „tiefe[s] Verantwortungsbewußtsein[…] allem Lebendigen gegenüber“474 schließen wie es den Frauen in der bereits erwähnten Broschüre zur Fahrtüchtigkeit aus dem Jahr 1963 zugeschrieben wurde. Frauen waren in Bezug auf gesundheitliche Verhaltensweisen nicht per se die Vernünftigeren. Je stärker Frauen in die Erwerbssphäre eingebunden wurden und sich vom Hausfrauenmodell verabschiedeten, desto eher entsprachen sie scheinbar auch dem proletarischen Arbeiterbild ihrer männlichen Kollegen, was die Beispiele aus dem Brigadeleben verdeutlichen: deftiges Essen, Alkohol – auch Spirituosen – und Zigaretten gehörten zunehmend zu ihrem Alltag dazu. Demzufolge kann man auch für die DDR-Geschichte weder von kollektiven Identitäten sprechen – von dem DDR-Mann oder der DDR-Frau – noch von einem ‚natürlichen‘ männlichen oder einem ‚natürlichen‘ weiblichen Gesundheitsverhalten ausgehen. In vielen Fällen haben Männer und Frauen den propagierten Konzepten von Weiblichkeit und Männlichkeit entsprochen, jedoch konnten auch enorme Abweichungen festgestellt werden. Für eine umfassende Analyse der Einstellungen zur Gesunderhaltung und präventiven Handlungsweisen müssen daher unbedingt weitere Aspekte Berücksichtigung finden. 3.3.3 Analyse des geschlechterspezifischen Gesundheitsverhaltens der DDR-Bevölkerung unter Einbeziehung weiterer Einflussfaktoren Im letzten Abschnitt dieses Kapitels zur Geschlechterperspektive werden die Hintergründe für das Gesundheitsverhalten und den Gesundheitszustand der weiblichen und männlichen DDR-Bevölkerung beleuchtet. Im Zuge dessen wird auf weitere Bedingungen und Variablen verwiesen, von denen die Gesundheit der DDR-Bevölkerung sehr stark beeinflusst wurde und die in Verbindung mit der Kategorie Geschlecht gesehen werden müssen. Die Diagnose von Engels und Fritsche oder von Lützenkirchen zur Widersprüchlichkeit der Frauengesundheitspolitik der DDR lässt sich in mehreren Punkten nachvollziehen.475 Die zentralstaatlich organisierte prophylaktische 472 Brigadebuch der Universitäts-Apotheke Greifswald (1983–1989), eigener Besitz Universitätsapotheke. 473 Vgl. Gahl (1969), S. 51. 474 Lachmann (1963), S. 35. 475 Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 153 und Lützenkirchen (1999), S. 202.
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Betreuung der Frauen war – wie gesehen – sehr umfassend, sowohl am Arbeitsplatz als auch im Bereich der Schwangeren- und Mütterfürsorge. Die Krebsvorsorge fokussierte von Beginn an ebenfalls auf die weibliche Bevölkerung, da Anfang der 1950er Jahre Brust- und Gebärmutterhalskrebs mit als häufigste Krebsarten ausgemacht wurden und die prophylaktischen Untersuchungen dieser Körperregionen auch zeitlich und mit bereits vorhandenen Geräten am ehesten zu bewältigen waren – im Gegensatz zu Untersuchungen der Thoraxorgane und des Verdauungstraktes.476 Der Gesundheitszustand der Schwangeren und Mütter wurde in einem dichten Netz von Schwangeren- und Mütterberatungsstellen überwacht und kontrolliert. 1989 fanden 99 Prozent der Geburten in der DDR in der Klinik statt.477 Durch die Zugänglichkeit zur Pille und die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs war es den Frauen seit 1968 beziehungsweise 1972 möglich, über die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburten von Kindern frei zu bestimmen. Insgesamt konnte die DDR dadurch große Erfolge bei der Entwicklung der Säuglings- und Müttersterblichkeit vorweisen: Die Müttersterblichkeit sank von 20,6 je 10.000 Geburten im Jahr 1950 auf 1,2 je 10.000 Geburten im Jahr 1989.478 Bei der Säuglingssterblichkeit kam die DDR im Vergleich zur BRD von Mitte der 1960er Jahre bis 1980 sogar auf bessere Werte. Seit 1981 lag die BRD vorn und 1989 glichen sich die Werte wieder an. 1950 lag die Säuglingssterblichkeit in der DDR noch bei 72,2 je 1.000 Lebendgeborene, 1989 betrug die Quote 7,6 je 1.000 Lebendgeborene.479 Dass diese Art der prophylaktischen Betreuung von den DDR-Frauen nicht nur aufgrund der finanziellen Anreize als positiv angesehen und angenommen wurde, zeigt unter anderem eine Interviewstudie mit Berliner Frauen zu Beginn der 1990er Jahre.480 Von den Frauen der Berliner Ostbezirke wurde der Verlust der zentralen Schwangeren- und Mütterberatungsstellen beklagt. Das neue gesamtdeutsche Gesundheitssystem empfanden sie als schlecht organisiert, beispielsweise durch die Segmentierung in medizinische Versorgung beim Gynäkologen und soziale Betreuung in unterschiedlichen Beratungsstellen staatlicher sowie privater Träger.481 Der steigende Komfort in den Praxen, die vielfältigen neuen Möglichkeiten, sich den Arzt oder die Entbindungsklinik selbst wählen zu können, sowie eine Lockerung der ärztlichen Erwartungshaltung, sich in einen bestimmten Maßnahmenkatalog einzufügen (beispielsweise regelmäßige Inanspruchnahme der Schwangerenbetreuung oder Gewichtskontrolle), wurden demgegenüber grundsätzlich positiv bewertet.482 476 Einschätzung von Dr. H. Henneberg (Städtisches Krankenhaus Perleberg) zur Frage der Krebsbekämpfung, 9.4.1952, in: BArch, DQ 1/6013, unfol. 477 Vgl. Ockel (1995), S. 111. 478 Vgl. ebenda, S. 106. 479 Vgl. ebenda, S. 115. 480 In zwei Ost- und zwei Westberliner Bezirken wurden Interviews mit niedergelassenen GynäkologInnen, Hebammen und VertreterInnen von Beratungsstellen sowie schwangeren Frauen und Müttern durchgeführt; vgl. Barbian et al. (1997). 481 Vgl. Barbian et al (1997), S. 24 f. 482 Vgl. ebenda, S. 27.
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Anhand dieser Aussagen wird deutlich, weshalb Lützenkirchen in ihrer Studie über ostdeutsche Ärztinnen zu der Einschätzung gelangt ist, der Gesundheitsschutz für Frauen hätte einerseits selbstverständlichen, andererseits auch zwingenden Charakter gehabt.483 Die staatlich formulierte Norm der berufstätigen Frau und Mutter spiegelte sich auch im prophylaktischen Betreuungsangebot wider, das vordergründig den Aspekt der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Mutterschaft berücksichtigte. In der sozialmedizinisch orientierten Frauengesundheitsforschung beispielsweise, die von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den Universitäten und Hochschulen sowie von außeruniversitären wissenschaftlichen Einrichtungen durchgeführt und vom wissenschaftlichen Beirat „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ bei der Akademie der Wissenschaften der DDR koordiniert wurde484, standen Themen über berufstätige Frauen und ihr reproduktives Verhalten im Mittelpunkt. Abweichende Themen oder Problemgruppen wurden hingegen nicht genügend berücksichtigt: So fanden weder Frauen im Vor- und Rentenalter noch soziale Randgruppen wie alkoholkranke oder behinderte Frauen größere Beachtung und auch Gewalt gegen Frauen in der Familie und in der Gesellschaft war – aufgrund der Tabuisierung in der Öffentlichkeit – kein Thema für die Wissenschaft.485 Der Sozialmedizinerin Lieselotte Hinze zufolge, die sich in der DDR und auch nach der Wende mit Frauengesundheitsaspekten befasste, hatte die zentral geleitete Forschung vorrangig den wissenschaftlichen Nachweis für die Überwindung sozialer Ungleichheiten zu erbringen und war deshalb nicht an der Aufdeckung von strukturellen Benachteiligungen für Frauen sowie an der Offenlegung von Diskriminierungen interessiert.486 Dabei wäre man durchaus fündig geworden, hätte nicht diese politische Vorgabe im Raum gestanden. Denn die Realität entsprach nicht dem ideologischen Anspruch der Geschlechteregalität. Die Gesundheit vieler Frauen war durch die Mehrfachbelastung, bestehend aus Berufstätigkeit, Familie und Haushalt sowie gegebenenfalls beruflicher Qualifizierung und gesellschaftlichen Verpflichtungen, stark angegriffen.487 Wie in Kapitel 2.2.3.2 geschildert, lag die Verantwortung für Haushalts- und Familienangelegenheiten weiterhin überwiegend bei den Frauen. Nach Feierabend begann ihre ‚zweite Schicht‘ beim „Schlangestehen und Herumrennen nach wichtigen Dingen des täglichen Bedarfs“488. In der bereits erwähnten Vorlage des Ministeriums für Gesundheitswesen zu Fragen der Gesundheitserziehung von 1970 heißt es unter dem Punkt „Erholung“: Das Freizeitverhältnis Mann Frau von 2:1 „bedarf dringend einer Veränderung“.489 Fulbrook zitiert eine vom Institut für Markt483 484 485 486 487 488 489
Vgl. Lützenkirchen (1999), S. 202. Vgl. Hinze (1996), S. 100 f. Vgl. ebenda, S. 102. Vgl. ebenda, S. 99. Vgl. Lützenkirchen (1999), S. 202. Merkel (1994), S. 370. Entwicklung gesundheitsfördernder Verhaltensweisen der Bürger der DDR (1970). Komplex I: Konditionssteigerung und Erhöhung der Anpassungsfähigkeit, Teil 6: Persönliche Hygiene, in: BArch, DQ 1/3654.
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forschung ebenfalls 1970 durchgeführte Befragung zum Zeitaufwand für hauswirtschaftliche Tätigkeiten in den Haushalten der DDR, die das Ergebnis erbrachte, dass Frauen von den durchschnittlich 47,1 Stunden Hausarbeit pro Woche 37,1 Stunden (also gut 79 Prozent), Männer 6,1 (knapp 13 Prozent) und „andere“ 3,9 Stunden (8,3 Prozent) erledigten.490 Auch 1980 betrug die wöchentliche Freizeitdifferenz zwischen den Geschlechtern fast sechs Stunden – Männer hatten täglich etwa 4,4 Stunden freie Zeit, Frauen 3,6 Stunden.491 Frauen hatten demzufolge meistens keine oder nur sehr wenig Zeit für sportliche Betätigung oder erholsame und gesundheitsdienliche Aktivitäten.492 Auch die in den 1970er Jahren zur Steigerung der Geburtenrate eingeführten sozialpolitischen Maßnahmen wie beispielsweise die Erhöhung des Kindergeldes, die Geburtenbeihilfe in Höhe von 1.000 Mark, das Babyjahr und die bezahlte Freistellung bei Krankheit der Kinder hatten nicht unbedingt entlastende Funktionen für die Frauen, sondern beeinflussten deren Gesundheit in mehrfacher Hinsicht negativ. Zum einen bestätigten und verstärkten sie das traditionelle Geschlechterverhältnis und behinderten die Frauen in ihrem beruflichen Fortkommen.493 Daraus resultierten Unzufriedenheit und ein geringes Selbstwertgefühl. Auch der psychologische Druck, „alles unter einen Hut zu bringen“ und dabei das Gefühl zu haben, nicht ganz bei der Sache zu sein494, blieb bestehen. Ein weiterer ungünstiger Effekt der verstärkten Orientierung der Frauen in Richtung Mutterschaft und Privatsphäre war der, dass Frauen nach wie vor von der bevorzugten prophylaktischen und medizinischen Betreuung leitender Kader ausgeschlossen blieben, da sie – wie bereits weiter oben erwähnt – deutlich seltener in Leitungsfunktionen tätig waren.495 490 Vgl. Fulbrook (2011), S. 178. 491 Zeitbudgetanalyse aus dem Jahr 1980 für Mitglieder von Arbeiter- und Angestelltenhaushalten der DDR im Alter von 18 bis 65 Jahren; vgl. Bertram et al. (1988), S. 112. 492 Dass Frauen noch lange Zeit die Hauptverantwortung für Kinder und Familie übernahmen, hinderte sie beispielsweise auch daran, gesundheitsfördernde Maßnahmen wie Kuren in Anspruch zu nehmen. 1966 gelangte man im Fischkombinat Saßnitz zu der Einschätzung, dass es hier viele Frauen gäbe, die einer Kur dringend bedürfen, sich dabei aber meistens die Schwierigkeit der Unterbringung der Kinder für die Zeit der Kur ergeben würde; LAG, Rep. 244, Nr. 286, unfol. 493 Vgl. Merkel (1994), S. 374. 494 Ebenda, S. 372. 495 Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 161. In einer Mitte der 1960er Jahre erlassenen „Richtlinie zur Durchführung der Betreuung leitender Kader der Staats- und Wirtschaftsorgane sowie der Parteien und gesellschaftlichen Organisationen“ wurde festgehalten, dass leitende Kader (genannt wurden explizit Direktoren der VVB, Werksdirektoren von Betrieben ab 3.000 Betriebsangehörige, gewählte Ratsmitglieder der Bezirke und Kreise, Bürgermeister der Städte ab 10.000 Einwohner, Vorsitzende der größeren LPG, Direktoren volkswirtschaftlich wichtiger Institute und die Bezirks- und Kreisvorstände der Massenorganisationen) aufgrund ihrer hohen Verantwortlichkeit mit in den Kreis der in der Betriebspoliklinik im Hause der Ministerien und der im Regierungskrankenhaus Betreuten in die Dispensairebetreuung einbezogen werden sollten. Als weitere besondere Maßnahmen waren vorgesehen: die Sicherstellung eines ungeteilten Jahresurlaubes, verlängerte Freizeit am Wochenende in besonders begründeten Einzelfällen sowie die Gewäh-
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Allerdings wurden auch die Familienmitglieder der hohen Funktionäre in die bevorzugte Behandlung und Versorgung miteinbezogen.496 Zum anderen sorgten die häufig als „Muttipolitik“ bezeichneten Maßnahmen für ein ungünstiges Betriebsklima zwischen den Kolleginnen und Kollegen einerseits wie auch zwischen den Frauengenerationen andererseits. Das Arbeitskollektiv musste die durch Geburtenfreistellung oder Krankheit der Kinder bedingten Ausfälle kompensieren. Insbesondere die älteren Frauen der Aufbaugeneration, die nicht von diesen Maßnahmen profitieren konnten, fühlten sich übergangen und betrachteten die neue „Mutti“-Generation mit Argwohn.497 Insofern ergab sich hier durch die staatliche Familienpolitik eine gesundheitliche Belastung für die Arbeiterinnen und Arbeiter sowohl durch Mehrarbeit in den Betrieben als auch durch Disharmonien am Arbeitsplatz. Dass davon ausdrücklich auch Männer gesundheitlich beeinträchtigt wurden, belegen die Lebenserinnerungen des Arbeiters Horst J., der von 1967 bis 1990 im größten Chemiebetrieb der DDR, dem VEB Leuna-Werke, in der Nähe von Halle tätig war. In seinen Aufzeichnungen beschreibt er, wie die Aufgaben der schwangeren Mitarbeiterinnen, der Mütter oder auch der Frauen, die an Qualifizierungsmaßnahmen teilnahmen, „ohne viel ‚Federlesen‘ unmittelbaren Mitarbeitern zugeschanzt [wurden], die oft ohnehin schon ausgelastet waren.“498 Horst J. schreibt, es sei nicht sein Anliegen, die sozialen Maßnahmen insgesamt zu kritisieren. Er macht jedoch auf die enormen Lasten aufmerksam, die den Werktätigen damit aufgebürdet wurden, denn „in den wenigsten Fällen“ konnte „eine Vertretung am Arbeitsplatz der jeweilig Betreffenden eingearbeitet werden […]. Deren Aufgaben mussten wiederum von den noch im Arbeitsbereich Tätigen mitbewältigt werden.“499 In diesen Passagen schwingt dennoch sehr viel Unmut über die „mit weiten Rechten ausgestattete[n] Gruppe[n] der Frauen“500 mit. Noch bis Mitte der 1980er Jahre richtete sich der Unmut der Kolleginnen und Kollegen – wenn nicht gegen den Staat als eigentlichen Verursacher dieser Belastungen – allein gegen das weibliche Elternteil, das die Honecker’schen Sozialmaßnahmen in Anspruch nahm. Erst 1986 kam die SED auf die Idee, auch die Männer rechtlich stärker in die Familienarbeit einzubinden.501 Dennoch blieben die Frauen durch ihre Doppelrolle als Berufstätige und Familienverantwortliche bis zum Ende der DDR-Zeit Konfliktsituationen ausgesetzt, die ihre Gesundheit „außerordentlich und überdurchschnittlich
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rung eines zusätzlichen Jahresurlaubs oder Sanatoriumsaufenthalts für Kader über 50 Jahre zwecks zweimaliger Ausspannung im Jahr; StA Greifswald, VA 1110, unfol. Vgl. Probst (1962). Vgl. Merkel (1994), S. 373. Siehe dazu auch Wierling (1999). „Ein Leben von Diktatur zu Diktatur“, S. 206, DTA, 1259. Ebenda, S. 207. Ebenda, S. 206. Mit der Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern vom April 1986 wurde auch Vätern der Anspruch auf die Gewährung des Babyjahres oder die bezahlte Freistellung im Falle der Erkrankung des Kindes eingeräumt; vgl. Schochow (2012), S. 113.
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belasteten“502. Dies schlug sich unter anderem in den erhöhten Zahlen der Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen seit den 1970er Jahren nieder: Zwischen 1970 und 1980 stieg die Zahl um 14,7 je 10.000 Gestorbene (bei den Männern war es im gleichen Zeitraum ein Anstieg von 4,5 je 10.000 Gestorbene).503 1988 machten die Krankheiten des Kreislaufsystems mit 62,7 Prozent den größten Anteil in der Statistik zu den Frauenerkrankungen aus.504 Diese Entwicklung führte jedoch nicht dazu, dass der weiblichen kardiovaskulären Morbidität größere gesundheitspolitische Aufmerksamkeit zuteilwurde. Wie bereits bei der Auswertung der Zeitschrift Deine Gesundheit in Kapitel 2.3.1.1 erwähnt, wurden Frauen aus diesem medizinischen Diskurs weitestgehend ausgeblendet. Kritik von der kardiologischen Ärzteschaft an der fehlenden Berücksichtigung weiblicher Probanden in epidemiologischen Studien wurde mit dem Hinweis auf fehlenden Handlungsbedarf und Ressourcenmangel zurückgewiesen.505 Interessante Ergebnisse ergeben sich durch den Vergleich der Lebenserwartungsdaten mit der westdeutschen Bevölkerung.506 Während die Frauen in der Bundesrepublik durchgängig von 1950 bis 1989 höhere Werte bei der Lebenserwartung – nur im Jahr 1956 lagen die ostdeutschen Frauen minimal vorn – erreichten, verhielt sich die Situation bei den Männern vollkommen anders. In den 1950er erreichten sowohl DDR- als auch BRD-Männer die jeweils besseren Werte. Von 1961 an bis 1976 hatte die männliche DDR-Bevölkerung durchgehend einen Vorsprung von 0,2 bis zu 1,1 Jahren. Erst 1977 überholten die westdeutschen Männer die ostdeutschen und blieben kontinuierlich an der Spitze. Der Abstand zur DDR vergrößerte sich in den 1980er Jahren deutlich und lag 1988 bei 2,61 Jahren. Auch die Lebenserwartungsspanne zwischen den Frauen wurde seit Ende der 1970er Jahre zunehmend größer: Bis Mitte der 1970er lag die Differenz bei 0,2 bis 0,7 Jahren, 1979 betrug sie dann schon 1,55 Jahre und erreichte ihren höchsten Wert 1986 mit 2,81 Jahren Unterschied zwischen ost- und westdeutschen Frauen. An dieser Stelle kann nur darüber spekuliert werden, wieso der Abstand zwischen den Frauen im Ost-West-Vergleich größer war als der zwischen den Männern und warum die ostdeutschen Frauen über den gesamten Zeitraum hinweg schlechtere Werte hatten als die Frauen in der Bundesrepublik. Bislang wurde immer nur versucht zu ergründen, warum sich die Situation für beide Geschlechter ungünstiger entwickelte als im Westen Deutschlands und 502 Engels/Fritsche (1990), S. 153. 503 1970 sind 78,9 Frauen und 1980 93,6 Frauen je 10.000 an Herz-Kreislauf-Erkrankungen verstorben; vgl. Spaar (2002), S. 40. 504 Vgl. Engels (1990), S. 197. 505 Siehe dazu Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013), insbesondere S. 161 ff., sowie ganz aktuell Madarász-Lebenhagen (2015). 506 Die folgenden Angaben zum Ost-West-Vergleich und auch zur Geschlechterdifferenz sind der Internetseite www.lebenserwartung.info entlehnt (zuletzt aufgerufen am 25.5.2015), auf der Marc Luy Daten zur Lebenserwartung in Deutschland von 1871 an hervorragend aufbereitet und aktualisiert. Ich beziehe mich dabei auf die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt, e (0).
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in Westeuropa.507 Der ausschlaggebende Faktor ist sicherlich die deutlich höhere Ganztagsberufstätigkeit der ostdeutschen Frauen (zumeist sogar im Schichtsystem) und die damit in Zusammenhang stehenden veränderten Lebensbedingungen gegenüber Hausfrauen oder Frauen in Teilzeitarbeit. In der DDR waren 91 Prozent der Frauen berufstätig, davon 11 bis 15 Prozent in Teilzeitbeschäftigung; in der Bundesrepublik lag die Frauenbeschäftigungsquote bei 52,9 Prozent und die für Teilzeitarbeit bei 38 Prozent.508 Die mit einer vollen Erwerbstätigkeit – zusätzlich zur Haushalts- und Familientätigkeit – in Zusammenhang stehenden Belastungen und deren negative Auswirkungen auf die Herzkreislauffunktionen wurden bereits mehrfach hervorgehoben. Übergewicht, Diabetes und Krankheiten des Verdauungssystems waren bei den ostdeutschen Frauen ebenfalls stärker verbreitet, sowohl im Vergleich zu den westdeutschen Frauen als auch zu den ostdeutschen Männern.509 Zudem war auch die Suizidrate bei den DDR-Frauen in jeder Altersgruppe höher als bei den westdeutschen Frauen – bei den Frauen ab 75 Jahre sogar dramatisch höher.510 Das Gesundheitsverhalten und die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der ostdeutschen Frauen waren denen der ostdeutschen Männer demnach in mancher Hinsicht ähnlicher als denen der westdeutschen Frauen. Diese Theorie lässt sich durch das Hinzuziehen einer weiteren Statistik ergänzen, nämlich die zur Geschlechterdifferenz in der Lebenserwartung im Ost-West-Vergleich, die auf eine kleinere Schere zwischen den Geschlechtern in Ostdeutschland verweist. Während der Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit war die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern im Westen permanent höher als im Osten: 1960 betrug der Unterschied 5,35 Jahre (im Osten 4,87), 1970 waren es 6,33 Jahre (5,21 im Osten) und für das Jahr 1980 lässt sich eine Differenz von 6,77 Jahren (im Osten 5,94) feststellen. Erklärungsbedürftig ist auch die geringere Differenz in der Lebenserwartung zwischen den Männern. Diese deutet auf stärker angeglichene Lebensläufe und Belastungen der Männer in beiden Teilen Deutschlands hin. Sowohl im Osten als auch im Westen galt für Männer die Vollerwerbstätigkeit als 507 Genannt werden hier die seit den 1970er Jahren deutlich in Rückstand geratene materielle und technische Ausstattung im Gesundheitswesen, beispielsweise die unzureichenden Bedingungen für Herzdiagnostik und -chirurgie sowie für Gefäßdiagnostik und -operationen, sowie die Umweltbelastungen und die verhaltensbedingten Risikofaktoren. Vgl. Engels/Fritsche (1990), Wiesner (1990) sowie Hockerts (1994). 508 Vgl. Wehler (2008), S. 230 und S. 172. 509 Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 162 f. Zum Gesundheitszustand und -verhalten im OstWest-Vergleich siehe Lampert et al. (2010). 510 1987 Jahre lag die Suizidrate jenseits des 75. Lebensjahres bei den ostdeutschen Frauen dreimal so hoch wie bei den westdeutschen: 73 Gestorbene je 100.000 (DDR) im Vergleich zu 23,7 Gestorbene je 100.000 (BRD); vgl. Wiesner (1990), S. 23. In der Forschungsliteratur wird dies zumeist mit der schlechten medizinischen Versorgung und Betreuung der Rentnerinnen und Rentner in der DDR begründet; siehe u. a. Hockerts (1994), S. 527. Dies betraf darüber hinaus auch alle anderen, die aus dem engmaschigen Betreuungsnetz während der Kinder- und Jugendphase sowie aus der regelmäßigen Gesundheitsüberwachung im Erwerbsleben herausfielen.
3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive
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Norm. In der DDR verbrachten Männer 90 bis 95 Prozent „ihres möglichen Berufslebens im Erwerbssystem“, Teilzeitarbeit hingegen spielte eine völlig untergeordnete Rolle.511 Die höhere Lebenserwartung der männlichen DDRBevölkerung im Zeitraum von 1961 bis 1976 kann man vermutlich auf die Verbesserungen im Arbeitsschutz, auf die Abnahme der tödlichen Arbeitsunfälle512 und auch auf die gesundheitliche Betreuung über das Dispensairesystem (vor allem für leitende Kader) und das Betriebsgesundheitswesen zurückführen. Auch wenn sich nicht alle Männer an den Untersuchungen beteiligten, so konnte doch der überwiegende Teil der Arbeiter in die regelmäßige Gesundheitsüberwachung einbezogen werden. Barrieren, die heutzutage Männer von der Inanspruchnahme von Früherkennungsmaßnahmen abhalten, waren im DDR-Gesundheitswesen weniger relevant wie zum Beispiel Terminabsprache und lange Wartezeiten sowie fehlende Hinweise durch den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin.513 Dass sich die Spanne in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern auch im Osten Deutschlands deutlich vergrößerte – von circa vier auf über sechs Jahre zugunsten der weiblichen Bevölkerung (siehe Tab. 3) – lässt sich mit den massiven Belastungen und Gesundheitsproblemen der Männer erklären, die vorrangig auf die Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt sowie die „kulturell traditionelle Männerrolle“514 zurückzuführen waren. Die Lebenserwartungswerte der männlichen DDR-Bevölkerung fielen in den 1980er Jahren plötzlich deutlich hinter die Werte der BRD-Männer zurück. Die Sterblichkeitswerte waren demgegenüber Ende der 1980er Jahre teilweise höher als in den 1960er oder 1970er Jahren.515 Die sich weiter verschlechternden Arbeitsbedingungen als Folge der maroden DDR-Planwirtschaft betrafen in den Fabriken sehr häufig die männlichen Arbeiter, die teilweise an Anlagen aus der Kaiserzeit produzieren mussten.516 Der bereits zitierte Chemiearbeiter des VEB Leuna-Werke Horst J. beschreibt seine Arbeitsbedingungen als „andauernde[…] Überbelastungen“ und „stetig steigende Verantwortung“. Infolgedessen machten sich „depressive[…] Anwandlungen“ bei ihm bemerkbar, auf die er mit Beruhigungsmitteln reagierte.517 Bezüglich der kontinuierlichen Gesundheitsüberwachung waren viele DDR-Männer ja durchaus im Vorteil gegenüber den Frauen, da sie deutlich häufiger in Leitungspositionen und häufiger in Bereichen tätig waren, in de511 Trappe (2007), S. 253. 512 Die Anzahl der tödlichen Arbeitsunfälle sank von 1.075 im Jahr 1952 auf 349 im Jahr 1988. Arbeitsunfälle ohne tödlichen Ausgang erlitten 1952 noch 56,6 je 1.000 Berufstätige. Bis 1988 sank die Zahl kontinuierliche auf 22,6 Arbeitsunfälle je 1.000 Berufstätige; vgl. Tietze (2001), S. 309. 513 Diese Punkte wurden unter anderem von den 178 befragten Männern in einer Interviewstudie zur Untersuchung der geringen Inanspruchnahme der Prostatakrebsvorsorge genannt; vgl. Köpke (2008), S. 61. 514 Dinges (2006), S. 23. 515 Vgl. Wiesner (1991), S. 7. 516 Vgl. Richter (2009), S. 45. 517 „Ein Leben von Diktatur zu Diktatur“, S. 227, DTA, 1259.
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nen regelmäßige Reihenuntersuchungen stattfanden.518 Dies galt jedoch nicht für die Krebsvorsorge. Wie im Laufe der Arbeit mehrfach deutlich geworden ist, richteten sich die Vorsorgeuntersuchungen (und demzufolge auch die Gesundheitspropaganda) hauptsächlich an die weibliche Bevölkerung. Männer erkrankten jedoch im Laufe der Zeit häufiger an Krebs. Im Gegensatz zu den Frauen nahm die Sterblichkeit der Männer in diesem Bereich zu – an erster Stelle rangierte dabei der Lungenkrebs, gefolgt vom Prostata- und vom Magenkrebs.519 In diesem Zusammenhang spielt die hohe Neigung der DDRMänner zu Zigaretten und Alkohol eine entscheidende Rolle, die von der Gesundheitspolitik weitestgehend vernachlässigt wurde. Auch in der DDR war der Suizid unter Männern weiter verbreitet als unter Frauen – obgleich die Geschlechterdifferenz nicht so stark ausgeprägt war wie in anderen Ländern. 1980 erreichte die Suizidrate den höchsten Stand mit 3.480 männlichen im Vergleich zu 2.147 weiblichen Toten.520 Bis Ende der 1980er Jahre nahmen die Zahlen wieder ab. Sie waren 1987 im Vergleich zu den BRD-Männern dennoch sehr viel höher, insbesondere in den Altersgruppen ab 35 Jahren.521 Mit den Zuschreibungen an Männlichkeit verbundene Tätigkeiten waren demnach sowohl gesundheitsfördernd als auch gesundheitsschädigend. Über das Betriebsgesundheitswesen waren Männer in die regelmäßige Gesundheitsvorsorge – Gesundheitsaufklärung, Reihenuntersuchungen und Impfungen – eingebunden, die höheren Funktionäre kamen zudem in den Genuss bevorzugter medizinischer Behandlung und Vorsorgeuntersuchungen. Männer hatten etwas mehr Freizeit als Frauen und keine ‚zweite Schicht‘ im Haushalt zu absolvieren. Demzufolge war es ihnen eher möglich, sich der Erholung und sportlichen Aktivitäten zu widmen. Männliches Verhalten konnte jedoch auch sehr negative Auswirkungen haben: Vollzeitarbeit an alten Maschinen, in Industriebetrieben und -bezirken, die starker Luftverschmutzung ausgesetzt waren, viel Alkohol und Zigaretten, fette und salzhaltige Ernährung begünstigten Krebs- und Herzkreislauferkrankungen, aber auch Atemwegsinfektionen und Diabetes. Dies galt jedoch nicht für alle Männer gleichermaßen, weshalb im Folgenden noch einige der Faktoren benannt werden sollen, die neben dem Geschlecht Auswirkungen auf Gesundheitsverhalten und Gesundheitszustand hatten. Als eine wichtige Variable wäre der Bildungsstand zu nennen. Viele medizin-soziologische Untersuchungen ergaben, dass die Unterschiede im persönlichen Verhalten bei Gesundheit und Krankheit zwischen den Bildungsschichten besonders ausgeprägt waren und dass mit zunehmendem Bildungs518 519 520 521
Vgl. Engels/Fritsche (1990), S. 161. Vgl. ebenda, S. 162. Vgl. ebenda, S. 164. In der Altersgruppe 45 bis 55 Jahre: 58,1 Gestorbene je 100.000 (DDR) im Vergleich zu 35,2 Gestorbene je 100.000 (BRD) und in der Altersgruppe 75 Jahre und älter: 185,2 Gestorbene je 100.000 (DDR) im Vergleich zu 77,2 Gestorbene je 100.000 (BRD); vgl. Wiesner (1990), S. 23.
3.3 Gesundheitsverhalten in geschlechterspezifischer Perspektive
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niveau die Bereitschaft wuchs, sich gesundheitsbewusster zu verhalten und an prophylaktischen Untersuchungen zu beteiligen.522 Auch das Weiterrauchen in der Schwangerschaft hing stark vom Bildungsstand der Mutter ab: So rauchten 11 Prozent der Hochschulabsolventinnen gegenüber 63 Prozent der Teilfacharbeiterinnen.523 Der Schwangerenbetreuung blieben zudem insbesondere die sozial schwächsten Schwangeren fern, die keine feste Wohnung oder Arbeitsstelle hatten und in keinem Sozialversicherungsverhältnis standen.524 Auf Nichtraucherkollektive stößt man ebenfalls nur in akademischen Kreisen, beispielsweise bei Ingenieuren oder Geologen. Die Betriebsärztin der Zentralen Poliklinik der Bauarbeiter Berlin, Dr. Anni Kruska, hob auf der Konferenz des Nationalen Komitees für Gesundheitserziehung der DDR 1973 zum Thema „Sozialistische Arbeitskultur und Gesundheit“ lobend das Nichtraucherkollektiv Ingenieurhochbau Berlin hervor, das Rauchern den Eintritt in seine Räume nicht gestatte.525 Auch die Brigade Steine und Erde des VEB Geologische Forschung und Erkundigung Freiberg/Sachsen, die zu zwei Dritteln aus Männern bestand, berichtete 1975 in ihrem Brigadebuch, dass sich ein großer Teil der Raucher das Rauchen im Laufe der letzten Monate abgewöhnt hatte und dass in keinem Arbeitszimmer der Abteilung mehr geraucht würde.526 Auffällige Unterschiede im Gesundheitsbewusstsein und Gesundheitsverhalten waren zudem zwischen den Regionen auszumachen. So wiesen die nördlichen (Agrar-)Bezirke beim Alkohol den höchsten Verbrauch in der DDR auf527, während die Industrie- und Arbeiterbezirke im Süden den geringsten Verbrauch verzeichneten528. Diese Südbezirke hatten wiederum eine deutlich höhere Quote bei der Verbreitung der Gesundheitsliteratur: Von Deine Gesundheit wurden im Bezirk Karl-Marx-Stadt 28 bis 29 Prozent, im Bezirk Rostock jedoch nur 0,8 Prozent der Auflage verkauft529: Demzufolge lasen etwa 573.300 Menschen aus Karl-Marx-Stadt und Umgebung die Zeitschrift, wohingegen sich im ‚Ostseebezirk‘ nicht mehr als 6.950 Bürgerinnen und Bürger dafür erwärmen konnten.530 Das gleiche Ergebnis erhält man, wenn man die Eingaben ans Gesundheitsministerium nach Absendern auf522 523 524 525 526 527 528 529 530
Vgl. Ruban (1981), S. 81. Vgl. Artikel „Raucherbabys“, in: Deine Gesundheit H. 6 (1988), S. 25. Vgl. Kinder/Derneff (1990), S. 228. Nationales Komitee für Gesundheitserziehung der DDR, V. Nationale Konferenz für Gesundheitserziehung 1973 in Magdeburg, in: BArch, DQ 113/14, unfol. „Wird die Brigade Steine und Erden eine Nichtraucherbrigade?“, Brigadebuch der Brigade Steine und Erde des VEB Geologische Forschung und Erkundigung Freiberg, Bd. 6 (1975), Bl. 77, ISGV. Niederschrift über die 2. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats des DHM am 13.2.1959, in: BArch, DQ 1/6646, unfol. Vgl. Kochan (2011), S. 135. Zum Ergebnis der publizistischen Gemeinschaftsaktion Arbeitskultur und Gesundheit 1975, 25.5.1976, in: BArch, DQ 113/18, unfol. Bevölkerungsangaben aus dem Statistischen Jahrbuch der DDR von 1976, online einzusehen unter: http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PPN=PPN514402644_1976 (zuletzt aufgerufen am 5.6.2015).
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schlüsselt: Diejenigen aus dem Südosten waren um ein Vielfaches höher als die aus dem Norden.531 Auch beim Blick in die Impfstatistik ergeben sich schlechtere Ergebnisse für den Norden: Beim Stand der Durchimpfung gegen die Virus-Grippe im Jahr 1977 erreichte der Bezirk Rostock bei einer Zielstellung von 12 Prozent mit 6,5 Prozent den letzten Platz und der Bezirk Magdeburg mit 13,5 Prozent den ersten Platz.532 Regionale Unterschiede konnte man außerdem hinsichtlich der medizinischen Betreuung und Versorgung, beispielsweise der Ausstattung mit medizintechnischen Geräten sowie Medikamenten ausmachen, wobei die landwirtschaftlichen Gebiete am stärksten benachteiligt waren, während die Hauptstadt Berlin deutlich privilegiert war.533 So konnte in Berlin durch ein großes Netz von Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens 1971 ein betriebsärztlicher Betreuungsgrad von 85,8 Prozent erreicht werden. Auch im Bezirk Halle war dieser mit 77,3 Prozent in der Einschätzung des Ministeriums für Gesundheitswesen noch „vorbildlich“, wohingegen die Prozentzahlen aus den Bezirken Rostock und Neubrandenburg mit einer ärztlichen Betreuungsquote der Arbeiterinnen und Arbeiter von 48,7 beziehungsweise 23,3 Prozent als „nicht befriedigend“ bezeichnet wurden.534 Selbst innerhalb eines Bezirks existierten mitunter gravierende Ungleichverteilungen, was bereits in Kapitel 3.2 deutlich wurde. Die drei interviewten Betriebsärztinnen wussten beispielsweise alle von der überaus gut ausgestatteten Poliklinik des Kernkraftwerks „Bruno Leuschner“ in Lubmin bei Greifswald zu berichten, in der es unter anderem kleine Kanülen und Wegwerfspritzen gab, während in vielen anderen medizinischen Einrichtungen die Nadeln der Spritzen noch mühsam ausgewaschen und sterilisiert werden mussten.535 Frau Krüger konnte darüber hinaus in den von ihr betreuten Klein- und Mittelbetrieben nur selten Lärmschutzkontrollen durchführen, weil die entsprechenden Messgeräte fehlten. Insgesamt war die medizintechnische Ausstattung in ihrer Betriebssanitätsstelle eher dürftig – außer der Blutentnahme waren ihr nicht viele Untersuchungen möglich.536 Wie schon bemerkt, wurden auch bestimmte Personengruppen bevorzugt behandelt, beispielsweise die Politprominenz, die Vorsitzenden der Räte der 531 Für die Eingaben, die 1968 und 1969 ans MfGe gerichtet wurden, ergibt sich folgende Rangliste nach Bezirken: Den ersten Platz belegt die Hauptstadt Berlin mit insgesamt 590 Eingaben, dicht gefolgt vom Bezirk Dresden mit 589 Eingaben auf Platz zwei und KarlMarx-Stadt mit 578 Eingaben auf dem dritten Rang. Weit abgeschlagen sind hingegen die Bezirke Rostock mit 177 und Schwerin mit lediglich 110 Eingaben, die damit den vorletzten und letzten Platz belegen; Jahresanalyse 1969 über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger im MfGe, 30.6.1970, in: BArch, DQ 1/2619, unfol. 532 Schreiben des Gesundheitsministers Mecklinger an den Oberbürgermeister von Berlin und die Vorsitzenden der Räte der Bezirke Cottbus, Dresden, Leipzig und Rostock, 2.11.1977, in: BArch, DQ 1/12238, unfol. 533 Vgl. Hockerts (1994), S. 527. 534 Statistische Daten fürs Betriebsgesundheitswesen 1971, Zuarbeit des MfGe für die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, 15.1.1973, in: BArch, DQ 1/11735, unfol. 535 Gedächtnisprotokoll des Interviews mit Dr. Dorothea Meyer und Dr. Adelheid Wussow vom 15.10.2012, S. 3. 536 Gedächtnisprotokoll des Interviews mit Renate Krüger vom 8.6.2012, S. 1.
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Bezirke und die Parteisekretäre der Bezirksleitungen der SED oder auch prominente Künstler und Wissenschaftler. Im Regierungskrankenhaus in Berlin oder der Betriebspoliklinik im Hause der Ministerien wurden die hohen Funktionäre und ihre Familienmitglieder exklusiv und unter komfortabelsten Bedingungen medizinisch versorgt.537 Leuna-Mitarbeiter Horst J. beschreibt eine ähnliche Diskrepanz beziehungsweise Benachteiligung auch zwischen der ‚herrschenden Klasse‘ der Arbeiter sowie den ihr gegenüber als nachrangig behandelten Gruppen der Intelligenz und der Angestellten, zum Beispiel wenn es um die Vergabe von Ferienplätzen oder Kuraufenthalten ging.538 Diese Klassifizierung der Schichten führt schließlich noch zur Differenzierung zwischen den ‚Milieus‘, beispielsweise zwischen dem der Land- und dem der Stadtbevölkerung. Eine 1973 durchgeführte Vergleichsstudie zur Untersuchung der Berliner Stadtbevölkerung von 1971 erbrachte für das Gesundheitsverhalten der Landbevölkerung des Bezirks Neubrandenburg folgende Ergebnisse: Für die Bevölkerung der Landgemeinden waren in Gegenüberstellung zur Berliner Stadtbevölkerung gesundheitsförderliche Tätigkeiten wie höhere Teilnahmequoten bei Vorsorgeuntersuchungen und geringerer Tabakverbrauch, aber auch gesundheitsschädlichere Verhaltensweisen wie weniger sportliche Betätigung und eine reichhaltigere Ernährung als gegenläufige Effekte charakteristisch.539 Identische Resultate erbrachten auch andere Untersuchungen. Das Ernährungsverhalten der Landbevölkerung war die Folge des Festhaltens an alten Gewohnheiten: Es wurden Gerichte gekocht, die schon seit Generationen in der Familie üblich waren, zumeist wurde gehaltvolles Essen in großen Mengen verzehrt. Überernährung wurde nicht als ungesund angesehen und dass ernährungsbewusstes Verhalten die Gesundheit fördert, war vielen unbekannt beziehungsweise wurde wenig beachtet.540 Das Interesse an Impfungen, Röntgenreihenuntersuchungen und auch Krebsvorsorgeuntersuchungen war hingegen auf dem Lande sehr hoch.541 Ein Beispiel aus dem Landkreis Ludwigslust verdeutlicht, dass diese Bereitschaft zur Teilnahme 537 Im Regierungskrankenhaus standen alle medizintechnischen Geräte zur Verfügung, die in den Kreiskrankenhäusern Mangelware waren. Zudem wurden die Patienten hier mit pharmazeutischen Präparaten von westlichen Firmenherstellern behandelt. Zum Komfort auf den Zimmern zählten dicke Teppiche, Fernsehapparate und Telefone sowie eine ausgezeichnete Verpflegung, u. a. mit den begehrten Südfrüchten; vgl. Probst (1962). 538 „Ein Leben von Diktatur zu Diktatur“, S. 205, DTA, 1259. 539 Vgl. Koppisch (1979). 540 Vgl. Michel (1969), S. 72 und Oeser (1969), S. 18. 541 Eine hohe Teilnahmequote an kolposkopischen Reihenuntersuchungen konnte Michel bei den Bäuerinnen der Insel Rügen feststellen; vgl. Michel (1969), S. 108. Die Röntgenreihenuntersuchungen der von Gundermann und Oeser untersuchten Bäuerinnen der Viehwirtschaft wurden jeweils zu 100 Prozent absolviert; vgl. Gundermann (1969), S. 33 und Oeser (1969), S. 19. Die von Lindner untersuchten Traktoristen zweier LPG im Kreis Rügen hatten sich zu 90,8 Prozent an den Röntgenreihenuntersuchungen beteiligt – im Vergleich dazu kam die Stadt Greifswald im gleichen Zeitraum auf einen Teilnehmerwert von 75,4 Prozent; vgl. Lindner (1969), S. 65. Auch im Kreis Annaberg (Bezirk Karl-Marx-Stadt) war die Beteiligung an den Krebsvorsorgeuntersuchungen Mitte der 1970er Jahre im Landkreis in allen Fällen größer als in der Kreisstadt; Kurzprotokoll von
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an prophylaktischen Maßnahmen auch auf die Nachkommen übertragen wurde: Die Kinder der Landgemeinden des Kreises waren 1961 zu 80 bis 100 Prozent dreifach schutzgeimpft (gegen Diphtherie, Wundstarrkrampf und Keuchhusten), Kinder in den Städten hingegen nur zu etwa 40 Prozent – trotz mehrfacher schriftlicher Aufforderungen.542 Insgesamt war die Ansicht weit verbreitet, dass das Leben auf dem Lande an sich schon gesund sei, durch die Luft sogar wesentlich gesünder als in der Stadt. Zudem schätzte die Landbevölkerung ausreichend Schlaf und Essen sowie zweckmäßige Kleidung und die Vermeidung beziehungsweise Reduzierung des Genussmittelkonsums als gesundheitsförderndes Verhalten ein.543 Dieser Abschnitt zur Komplexität der vielfältigen äußeren Verhältnisfaktoren, aber auch der persönlichen Komponenten, die das Gesundheitsverhalten und den Gesundheitszustand der DDR-Bevölkerung begünstigt oder beeinträchtigt haben, soll mit der Gegenüberstellung zweier Briefwechsel beendet werden. Sie veranschaulichen die geschlechterübergreifende Widersprüchlichkeit der DDR-Gesundheitspolitik oder vielmehr des gesamten Lebens im ostdeutschen Staat. Darüber hinaus wird den individuellen Wahrnehmungen der DDR-Bevölkerung abschließend nochmals Raum gegeben. Die folgenden Briefpassagen repräsentieren das DDR-spezifische beziehungsweise deutsch-deutsche Problem der Trennung von Freunden und Familie, das sich negativ auf das Gemüt und damit auf den Gesundheitszustand auswirken konnte. Hier schreibt eine im staatlichen Gesundheitswesen angestellte ostdeutsche Kinderärztin ihrer Freundin in Darmstadt, welche 1958 mit ihrer Familie in den Westen gegangen war. In den Briefen der Kinderärztin – sie ist verheiratet mit einem Elektroingenieur, zusammen haben sie drei Kinder – ist häufig die Rede von eigener Krankheit sowie ihren beruflichen und privaten Anstrengungen und Aufgaben. Auffallend ist dabei die psychische Belastung durch die Sehnsucht zur Freundin: Diese wird als körperlicher Schmerz empfunden, hervorgerufen durch das Getrenntsein, das sich durch den Mauerbau noch verschärft hat. Im Oktober 1961 schreibt sie aus Weißenfels: „Kannst Du Dir wohl vorstellen, daß ich oft fast körperliche Sehnsucht nach Euch habe? Irgendwie nimmt es zu. Das Gefühl, von Euch allen getrennt zu sein, ist einfach scheußlich.“544 Ein Jahr später berichtet sie von ihrem „[…] physisch und psychisch ziemlich abgewirtschafteten Korpus […]. Die Zeit seit dem August 61 war eben doch sehr hart.“545 Und im August 1963 formuliert sie die Einsicht: Weißt Du, ich glaube sicher, daß dieses oft so Fremde für mich einfach auch durch die Trennung hervorgerufen wird von Euch allen. Das macht mich oft ganz elend, dieses Gefühl, Euch einfach nicht sehen zu können, Euch nicht sprechen zu können.546
542 543 544 545 546
der dritten Tagung der Gesellschaft für Geschwulstbekämpfung in Leipzig, 17.–19.4.1975, in: LAG, Rep. 200 (II), OGS, Nr. 4, Bl. 140. Protokolle einzelner Kreishygieneinspektionen von 1961, in: BARch, DQ 1/5837, unfol. Vgl. Gundermann (1969), S. 32. Brief aus Weißenfels vom 23.10.1961, in: Baumgart (1971), S. 299. Brief aus Weißenfels vom 22.10.1962, in: Baumgart (1971), S. 301. Brief aus Weißenfels vom 23.8.1963, in: Baumgart (1971), S. 302.
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Der zweite Briefwechsel steht demgegenüber stellvertretend für den Stolz der Menschen in der DDR auf die sozialen Errungenschaften in ihrem Land, die bei einem Vergleich mit dem Westen immer gern herausgestellt wurden. Eine Leipziger Lehrerin schreibt der Freundin im Westen im September 1967: Du darfst den Mut nicht verlieren, wenn Deine schreckliche Krankheit sich wieder bemerkbar macht. Es wird doch immer wieder gut, wenn Du in Behandlung warst. Nur die schrecklich hohen Kosten, die Du selber tragen mußt, das ist natürlich ein Problem für sich. Unsere sozialen Verhältnisse sind gegen Eure ganz hervorragend. Wir haben alles, aber auch alles, selbst Kuren etc. pp. frei. Auch die Rentner haben keinerlei Kosten zu tragen. Ich bin ja auch laufend in Behandlung. Wenn ich die Medizinen, die ich immer zu nehmen habe, bezahlen müßte, dann wäre der Erfolg, daß man den Arzt meiden würde, bzw. nur im äußersten Falle in Anspruch nehmen würde. So aber kann man vielleicht doch manches verhüten, um das bißchen Leben, an dem man so sehr hängt, zu verlängern.547
547 Brief aus Leipzig vom 13.9.1967, in: Baumgart (1971), S. 268 f. Beide Frauen kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in Hamburg vor dem Zweiten Weltkrieg. Eine ging nach dem Exil nach Westdeutschland, die andere wurde Neulehrerin in Leipzig.
4 Gesundheit – ein substanzielles Thema in der DDR? Schlussbetrachtungen „Die Meinung, daß der Mensch im Sozialismus automatisch gesünder wird, hat sich als Irrtum erwiesen, […].“1
Bezugnehmend auf das in der DDR zur Leitlinie erhobene Konzept der umfassenden Prophylaxe und dessen propagandistisch-ideologischer Ausgestaltung in Formulierungen wie „Die beste Prophylaxe ist der Sozialismus“2 oder „Der Sozialismus bietet […] die alleinige Voraussetzung für eine gesunde Lebensweise der Werktätigen“3 wurde in der Arbeit versucht, aus Perspektive der Adressaten und der potentiellen Patienten auf das Thema Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung in der DDR zu blicken. Gezielt wurde die Praxis der Implementierung gesundheitspolitischer Vorgaben der Zentralebene – des Ministeriums für Gesundheitswesen und der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED – auf Bezirks- und Kreisebene untersucht, wobei den Ansichten und Wahrnehmungen der Bevölkerung größere Bedeutung zukam als in der bisherigen Forschung zum Gesundheitswesen der DDR. Im Sinne dieses kulturhistorischen Ansatzes waren alltagsgeschichtliche und speziell geschlechterspezifische Fragestellungen von besonderer Relevanz, die mit dem Fokus auf den ‚Ostseebezirk‘ Rostock analysiert wurden. Anhand der Auswertung zeitgenössischer Ego-Dokumente wie Eingaben, Brigadebüchern, Autobiographien und Briefen sowie retrospektiver Zeitzeugeninterviews konnte den unterschiedlichen Denk- und Handlungsweisen der DDR-Bürgerinnen und -Bürger zu Gesundheitsfragen und zum Stellenwert der Prophylaxe im sozialistischen Alltag nachgespürt werden. In Ergänzung dazu lieferten Dokumente der regionalen und lokalen Gesundheitsorgane sowie einzelner staatlicher Betriebe interessante Einblicke in den Ablauf des Arbeitsalltags von Betriebsärztinnen und -ärzten oder Mitarbeitern der Gesundheitserziehung. Auch die Gesundheitspropaganda in Form von Gesundheitsbroschüren und -filmen sowie einer Gesundheits- und einer Betriebszeitschrift waren Bestandteil der Arbeit und wurden im Hinblick auf die dort propagierten Geschlechterleitbilder ausgewertet. Schließlich stellten zeitgenössische sozialmedizinische Studien zum Gesundheitsverhalten und zur Morbidität der DDR-Bevölkerung einen weiteren Quellenbaustein für die Fragen nach geschlechterspezifischem Gesundheitsverhalten und nach den Bedingungen für die Inanspruchnahme prophylaktischer Maßnahmen dar. Diese vielfältigen Quellen eröffneten den Blick auf eine Gesellschaft, die nicht nur aus „fügsamen“ Patienten bestand, sondern ebenfalls aus Bürgerinnen und Bürgern, die der vielen Belehrungen oder Impfungen überdrüssig 1 2 3
„Gedanken zum Tag des Gesundheitswesens 1987“, Eintrag im Brigadebuch der Universitätsapotheke Greifswald (1983–1989), eigener Besitz Universitätsapotheke. Dieses Zitat wird Maxim Zetkin – Sohn von Clara Zetkin, Chirurg und leitender Mitarbeiter im MfGe der DDR – zugeschrieben und zierte das von Kurt Winter und Adolf Beyer herausgegebene Lehrbuch der Sozialhygiene von 1953; vgl. Schagen (2002), S. 167. Hecht (1969), S. 90.
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waren. Auch stieß man auf Anhänger der Reformbewegung, die sich gerne über die in der DDR etablierten Gesundheitsorgane hinaus für eine gesunde Lebensweise engagiert hätten. Zudem waren Stimmen von couragierten Ärzten zu vernehmen, die den Gesundheitsminister aufforderten, besorgniserregende gesundheitliche Entwicklungen realistisch zu benennen anstatt der Bevölkerung an Gedenktagen eine gute Gesundheit zu bescheinigen. Fragen von Gesundheit und Krankheit, Gesundheitsvorsorge und Krankheitsverhütung waren nicht für alle DDR-Bürger von gleichwertiger Bedeutung: Manch einen motivierte das Versprechen „Der Mensch steht im Mittelpunkt“ oder das verfassungsmäßige Recht auf den Schutz der Gesundheit und der Arbeitskraft zu mehrseitigen Beschwerdebriefen mit Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen hinsichtlich des ungenügenden Schutzes der Nichtraucher oder des eingeschränkten Warenangebots an gesunden Lebensmitteln. Den männlichen und weiblichen Eingabenschreibern lag dabei sowohl die eigene Gesundheit als auch die der Familie oder des Arbeitskollektivs am Herzen. Bei anderen wiederum hinterließen Appelle zur Verhütung von Krankheiten und zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für den Schutz der Gesundheit keinerlei Wirkung. Einige von ihnen nutzten die sechswöchige von der Sozialversicherung bezahlte Krankschreibung als Extra-Urlaub und prophylaktische Kuren, um sich von abendlichen Trinkgelagen zu erholen. Diese bisweilen stark differierenden gesundheitlichen Einstellungen und Verhaltensweisen waren auf personale Faktoren wie Bildung, Alter, Milieu und Geschlecht sowie unterschiedliche regional- und berufsbedingte Lebensverhältnisse zurückzuführen, die auch in der auf Egalität ausgerichteten DDR weiterhin präsent und verhaltensbestimmend waren. Zwischen Männern und Frauen wiederum kam es teilweise zu bemerkenswerten Angleichungen im Gesundheitsverhalten: Auch Frauen neigten durch Vollzeitarbeit und die Einbindung in den Brigadealltag – die rechtlich und finanziell gesehen sowie aus emanzipatorischer Sicht viele Vorteile mit sich brachten – zu einem ungesunden Lebensstil, der sich in höherem Zigaretten- und Alkoholkonsum, ungesunder Ernährung, Stress und somit steigenden weiblichen Herzkreislauferkrankungen äußerte. Denn trotz Gleichstellung und Erwerbstätigkeit blieben Frauen in der Hauptverantwortung für Haushalt und Kinderbetreuung, jedenfalls bis weit in die 1970er Jahre hinein. Somit ergab sich für die überwiegende Zahl der Frauen, sofern sie keine Unterstützung erhielten, eine Doppel- bis Dreifachbelastung, rechnet man die beruflichen Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen oder gesellschaftliche Aktivitäten hinzu. Von SED-Seite wurde dieses Modell der berufstätigen Mutter als einzig gangbarer Weg propagiert und subventioniert – die Abfederung der Belastungen wurde jedoch größtenteils privatisiert. Gesundheitliche Nachteile für Männer ergaben sich zum einen durch weiterhin bestehende Arbeitserschwernisse infolge des materiell-technischen Rückstands der DDR-Industrie und zum anderen durch die im hegemonialen Männlichkeitsmodell proletarischen Typs verankerten Tugenden der Leis-
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tungsbereitschaft, Härte, Gefühlskontrolle sowie die damit in Zusammenhang stehende Ess- und Trinkkultur. Dass sich längst nicht alle DDR-Männer an diesem Leitbild orientiert haben, konnte insbesondere anhand der Eingaben deutlich gemacht werden. Ein Großteil der Männer profitierte zudem stärker als Frauen vom System der betrieblichen Gesundheitsvorsorge, da dieses eine zusätzliche Betreuung für Beschäftigte in exponierten Arbeitsbereichen sowie Führungs- und Leitungskader vorsah und Männer in beiden Gruppen überrepräsentiert waren. Angleichung der weiblichen und männlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen bedeutete demzufolge nicht, dass alle Menschen im Sozialismus „automatisch gesünder“ wurden, sondern dass die gesamte DDR-Bevölkerung seit Mitte der 1970er Jahre in ihrer Lebenserwartung statistisch hinter die Werte der westlichen Industriestaaten zurückfiel. Die Hintergründe dafür waren unter anderem der technische Rückstand in der medizinischen Diagnostik und Therapie, Umweltbelastungen und eine hohe Sterblichkeitsrate im Bereich der so genannten „vermeidbaren“4 Todesursachen. Gerade auf dem Feld der Prophylaxe verhaltensbedingter Erkrankungen hätte demnach weiterer Handlungsbedarf bestanden. Die institutionell breit aufgestellte Gesundheitserziehung mit dem Dresdner Hygiene-Museum als Flaggschiff sollte hier einen wichtigen Beitrag leisten. Unzählige Broschüren, Plakate, Ausstellungstafeln, Zeitschriften-, Filmund Radiobeiträge sowie Anleitungsmaterialien für Gesundheitserzieherinnen und -erzieher wurden produziert und in die Gesellschaft getragen. Doch die vielfältigen Aufklärungsbemühungen über gesunde Ernährung, ausreichende körperliche Betätigung, die Verhütung von Erkältungskrankheiten und die Reduzierung des Tabakkonsums standen in keinem günstigen Verhältnis zu den Ergebnissen. Auf das Gesundheitsverhalten der DDR-Bevölkerung konnte eingebunden in ein ideologisches Korsett und ohne Rezeption neuerer Verhaltensforschung nur bedingt Einfluss genommen werden. Die Schwierigkeit, auf das Gesundheitsverhalten der Menschen einzuwirken, ergibt sich für jedes Land und jedes politische System. Anweisungen von Hygienikern erreichen immer lediglich einen kleinen Teil der Bevölkerung und werden nur angenommen, wenn sie verstanden und als notwendig erachtet werden und wenn die Chance besteht, dass sie im Alltag auch befolgt werden können.5 Doch dieses letztgenannte wichtige Kriterium konnte in der DDR nicht immer erfüllt werden. Es bestand oftmals nicht die Möglichkeit, die angeregten Gesundheitstipps auch zu befolgen: In den Geschäften fehlten die propagierten 4
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Zu vermeidbaren Sterbefällen zählen – je nach Definition – diejenigen Sterbefälle, die bei angemessener Vorsorge oder Therapie hätten vermieden werden können wie Lungen- und Gebärmutterhalskrebs, Diabetes oder Krankheiten des Herzkreislaufsystems. Im Zeitraum von 1970 bis 1987 sank diese Sterbeziffer in der DDR um 42,6 Prozent – in der BRD hingegen um 74,3 Prozent. 1985 kamen in der Bundesrepublik auf 100.000 Einwohner 25,7 vermeidbare Sterbefälle, in der Deutschen Demokratischen Republik 43,3. Vgl. Wiesner (1990), S. 25 sowie Gesundheitsberichterstattung des Bundes (https:// www.gbe-bund.de). Vgl. Mühlberg (1992), S. 47.
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Lebensmittel, Nichtraucher waren überall dem Passivrauch ihrer Mitmenschen ausgesetzt, auch Vorsorgemaßnahmen konnten aufgrund von personellen Engpässen oder Impfstoffmangel nicht für alle gewährleistet werden. Darüber hinaus wurde der Gesundheitserziehung von Seiten der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED oder von den Betriebs- und Betriebsgewerkschaftsleitungen häufig nicht der Stellenwert zugebilligt, der erforderlich gewesen wäre, um das anvisierte Konzept einer umfassenden Gesundheitserziehung, die in alle gesellschaftlichen Ressorts eingebettet wird, wirksam werden zu lassen. Dieses Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde auch von den DDR-Bürgern und -Bürgerinnen sehr deutlich wahrgenommen. So äußerten viele ihr Unverständnis darüber, dass die Pläne und Vorgaben zur Gesunderhaltung der Bevölkerung nicht mit der notwendigen Konsequenz durchgesetzt wurden, beispielsweise beim Nichtraucherschutz. Ausgerechnet beim Rauchen, einem der wichtigsten Risikofaktoren für den Lungenkrebs, reagierte die Regierung besonders tolerant gegenüber tradierten Gewohnheiten und setzte auf Einsicht und Überzeugung anstatt auf gesetzliche Reglementierungen. Die Bedürfnisse der Nichtraucher und entwöhnungswilligen Raucher hatten erkennbar nachrangige Bedeutung gegenüber den Einnahmen aus der staatlichen Tabakindustrie. Das Verlangen nach dem in der Arbeiterklasse und insbesondere in Funktionärskreisen äußerst beliebten ‚Kulturgut‘ Zigarette konnte im Vergleich zu anderen Konsumgütern jederzeit befriedigt werden. Wie widersprüchlich das „Prinzip der besonderen Verantwortung der leitenden Staats- und Wirtschaftsfunktionäre gegenüber Leben und Gesundheit der ihnen anvertrauten Werktätigen“6 vor dem Hintergrund der unzähligen rauchenden Vorgesetzten und auch der rauchenden Ärzte gewirkt haben muss, davon zeugen die zahlreichen Eingaben zum Rauchen am Arbeitsplatz. Auf die Erfahrung mit rücksichtslosen rauchenden Führungspersonen bezog sich auch die eingangs zitierte Feststellung von Elisabeth F., dass es den Menschen in der DDR teilweise „sehr schwer gemacht“ werde, sich gesund zu halten. Anhand der Raucherproblematik werden die vielen Konfliktlinien innerhalb der Gesundheitspolitik und die komplexen Ursachen für die teilweise sehr begrenzte Wirksamkeit der Gesundheitsaufklärung deutlich: Zu dem nicht sehr ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein vieler leitender Funktionäre kamen die schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen sowie die Notwendigkeit der Planerfüllung und somit die Konzentration auf kurzfristige wirtschaftliche Erfolge zulasten langfristiger Kostenersparnis durch gesundheitsfördernde Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzu. Überhaupt wurden die sozialen Bedingungen für die Entstehung von Krankheiten und die klassische sozialhygienische Sichtweise, dass Gesundheitsschutz eine sozialpolitische Aufgabe ist, im Laufe der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund ge6
Prinzip 5 der Sozialistischen Prinzipien des Gesundheits- und Arbeitsschutzes, hg. vom FDGBBundesvorstand, Abteilung Arbeitsschutz, o. O., o. J. [1963], in: SAPMO-BArch, DY 34/8515, unfol.
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drängt. Die soziale Wirklichkeit wurde nicht mehr thematisiert – die Verantwortung (im internationalen Trend der Risikofaktorenmedizin) dem Einzelnen und seiner Lebensführung zugeschrieben. Die staatlichen Gesundheitsmedien folgten dieser vorgegebenen Linie im Großen und Ganzen. Vorbildliche Turnerinnen oder entspannt lächelnde Arbeiter bei der Grippeschutzimpfung demonstrierten in den 1950er und 1960er Jahren, dass gesundheitsbewusstes Verhalten als „ideologische Grundhaltung“ der sozialistischen Persönlichkeit zu gelten hatte. Diese neuen Inhalte wurden jedoch in alten Gewändern präsentiert: Bevorzugte Adressatinnen der Gesundheitspropaganda waren wie seit Jahrhunderten üblich Frauen und Mütter, denen Hygiene-, Koch- und Schönheitstipps dargeboten wurden. Männer wurden nur sehr selten direkt angesprochen oder abgebildet. Für den DDRMann wurden keine normativen Vorstellungen formuliert und seit den 1970er Jahren tauchte er dann als unbelehrbarer Gegenpart zur gesundheitsbewussten Frau auf. Bis Mitte der 1960er Jahre wurde noch breit über die Errungenschaften des sozialistischen Gesundheitswesens berichtet, danach dominierten Aufrufe zur individuellen Gesunderhaltung. Doch das idealisierte Wunschbild von der aktiven und dennoch maßhaltenden sozialistischen Persönlichkeit konnte kaum als Vorbild für eine gesunde Lebensweise dienen, wenn die wirklichen Gesundheitsbelastungen und Probleme nicht thematisiert werden durften (wie zum Beispiel Umweltverschmutzungen, das Drei-Schicht-System und seine Belastungen für die berufstätigen Mütter, die schlechten Arbeitsbedingungen an alten Maschinen oder Alkoholiker und Suizide, die nicht ins Bild eines besseren Lebens im sozialistischen Staat passten). Einige Medienvertreter setzten sich über vorgegebene Leitlinien und Tabuisierungen hinweg, wie die Redaktion der Zeitschrift Deine Gesundheit, die Ende der 1970er Jahre auf die widersprüchliche Raucherpolitik der Regierung aufmerksam machte, oder der private Filmemacher Stejskal, der für die Filmreihe Werbung auf Sender Gesundheitsfilme mit deutlich mehr Alltags- und Realitätsbezug und weniger stereotypisierten Darstellern und Darstellerinnen produzierte. Abgesehen von diesen Ausnahmen, ging die Gesundheitserziehung aber größtenteils an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei und wurde daher von vielen auch nicht ernst genommen, sondern eher belächelt. Um die Gesundheitsaufklärung wirklichkeitsnäher und damit auch erfolgversprechender zu gestalten, wäre die aktive Einbeziehung der Bürger vonnöten gewesen. Außerhalb des gesellschaftlich vorgegebenen Rahmens selbst gesundheitsfördernd tätig zu werden, zum Beispiel in selbst organisierten Gruppen oder Gesundheitsvereinen, war jedoch kaum möglich. Solche Gruppierungen waren aufgrund der Befürchtung, sie würden den Rahmen für oppositionell-politische Aktivitäten bilden, nicht erlaubt.7 Nach „seiner Gesundheit“8 zu leben, sich nach eigenen Wünschen und Vorlieben gesund zu ernähren oder in 7 8
Vgl. Appen (1990), S. 268. Diese Formulierung bezieht sich auf das Zitat „[…] daß man im Sozialismus nicht nach seiner Gesundheit leben kann“, welches der Eingabe von Walter F. an Oberarzt Dr.
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nicht staatlich propagierten Sportarten aktiv zu sein, war – auch aufgrund der materiellen Versorgungslage – mit großen Anstrengungen verbunden. Dabei machten sich die teilweise massiven Ungleichverteilungen sowie geographische und branchenspezifische Differenzen bemerkbar, die den Gesundheitsalltag der DDR-Bevölkerung auch mit geprägt haben. In der Hauptstadt Berlin konnte man sich gesünder ernähren als in ländlichen Regionen des Bezirks Neubrandenburg, Beschäftigter eines Industriebetriebes zu sein bedeutete umfassender betriebsärztlich betreut zu werden als eine Angestellte in einem kleinstädtischen Handelsbetrieb. Gesundheitssport nach Belieben und ohne Leistungsdruck zu betreiben, war wiederum nur finanzstärkeren Bewohnern der Großstädte, beispielsweise in einem gut ausgestatteten Freizeitsportzentrum, möglich. Gerade in Bezug auf den Einflussfaktor Wohnort decken sich diese Ergebnisse für die DDR mit denen aus Susanne Hoffmanns Studie zum ‚gesunden Alltag‘ in deutschsprachigen Ländern des 20. Jahrhunderts.9 Insofern muss die für die Arbeit formulierte Leitfrage angepasst werden: Ist es der DDR gelungen, die Bürgerinnen und Bürger zu gesundheitsbewusstem Handeln im Sinne der durch ihre gesundheitspolitischen Ziele vorgegebenen Bahnen zu bewegen? Hierzu ist zunächst zu sagen, dass das Gesundheitswesen insgesamt hohes Ansehen in der DDR-Bevölkerung genoss. Die medizinische Grundversorgung, die Betreuung der Schwangeren und Mütter sowie der Kinder- und Jugendschutz funktionierten zumeist reibungslos und erfuhren breite Akzeptanz, ebenso die verpflichtenden Impfungen und Reihenuntersuchungen. Bei der Senkung der Säuglings- und Müttersterblichkeit und der Zurückdrängung der Infektionskrankheiten konnten große Erfolge erzielt werden: Poliomyelitis, Diphtherie und Tetanus wurden ausgerottet, Tuberkulose und Masern10 fast vollständig eingedämmt. Insofern kann man konstatieren, dass eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger diesen auf kollektive Untersuchungen und an die Bevölkerung herangetragenen Maßnahmen ausgerichteten Weg der Gesundheitspolitik mit beschritten hat. Dafür haben sich mehrere Aspekte als zuträglich herauskristallisiert wie beispielsweise das System der Poliklinik mit kurzen Wegen, geringen Wartezeiten und mehreren Fachärzten unter einem Dach. Initiativen wie das vorgestellte Zervixprogramm, das Anfang der 1970er Jahre von Ärzten aus der Klinik auf den Weg gebracht wurde, unterstreichen darüber hinaus den Vorzug der Einbettung des prophylaktischen Wirkens in den Alltag von Praxis und Klinik – ganz im Gegenteil zur Handhabung in der alten Bundesrepublik, wo Vorsorgeuntersuchungen nur von den niedergelassenen Ärzten angeboten wurden.11 Des Weiteren hat sich als förderlich für die Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen Klingler im MfGe, Staatliche Hygiene-Inspektion vom 10.9.1963 entstammt, in: BArch, DQ 1/22318, unfol. 9 Vgl. Hoffmann (2010), S. 402 f. 10 Ewert nennt für Ende der 1980er Jahre die Zahl von nur noch 16 an Tuberkulose erkrankten Kindern im Jahr und gibt für die Masern eine Morbiditätsrate von unter 1 zu 100.000 an; vgl. Ewert (1991), S. 113. 11 Zur Prävention in der Bundesrepublik siehe u. a. Rosenbrock (1998).
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erwiesen, dass diese einer breiten Bevölkerungsschicht kostenfrei zur Verfügung standen und in den Berufsalltag integriert wurden. Unterstützend wirkten sich weiterhin gezielte und verständliche Aufklärungskampagnen für die Untersuchungen, eine gute Organisation und ein ungestörter Ablauf sowie die (selten anzutreffende) Einflussnahme und positive Vorbildwirkung von Abteilungs- und Brigadeleitern auf die Teilnahmebereitschaft an prophylaktischen Maßnahmen aus. Dennoch wurde die weit verbreitete „Laissez-faire-Haltung“12, die von Appen hinsichtlich des Gesundheitsbewusstseins der DDR-Bevölkerung konstatiert hat, auch in den von mir untersuchten Quellen sichtbar. Zur Erklärung dessen wurden bereits mehrere Faktoren angeführt: Es sei hier nochmals auf die Ignoranz vieler Funktionäre und Personen in Leitungsverantwortung gegenüber den Fragen der Gesundheitserziehung sowie auf die generell untergeordnete Stellung der Gesundheitspolitik im Vergleich zu wirtschaftspolitischen Aspekten verwiesen. Die daraus resultierenden materiellen und personellen Engpässe im Gesundheitswesen begrenzten prophylaktische Anwendungen und erschwerten eine gesundheitsfördernde Lebensweise. Aus diesen ökonomischen Schwierigkeiten und ideologischen Barrieren resultierte eine halbherzige und inkonsequente Umsetzung gesundheitserzieherischer Konzeptionen. Auf diese Defizite im Bereich der Prophylaxe haben viele Bürger und Bürgerinnen in Leserbriefen und Eingaben hingewiesen und Verbesserungen eingefordert. Insgesamt funktionierte die Gesundheitserziehung daher weniger über fiktive positive Vorbilder wie den turnenden Chef auf dem Cover des Buches, sondern stärker über negative Beispiele aus der Praxis, die den Unterschied zwischen dem propagierten Anspruch des Gesundheitswesens und der wahrgenommenen Realität der DDR verdeutlicht haben. Die Forschung hat sich bisher des Themas der Nachfrage seitens der Patienten nach gesundheitserhaltenden Maßnahmen oder medizinischer Prophylaxe kaum angenommen. Die vorliegende Arbeit kann hoffentlich einen Beitrag dazu leisten. Für vertiefende Forschungen zur Implementierung der Gesundheitspolitik besteht jedoch noch viel Raum. Interessant wären weitere Studien zu den Bereichen, die hier nur kursorisch untersucht werden konnten, wie körperliche Betätigung, gesunde Ernährung oder prophylaktische Kuren. Darüber hinaus können vergleichende Analysen zur Politik und Praxis der Präventionspolitik, beispielsweise die Gegenüberstellung zum ebenfalls sehr stark auf staatliche Prävention ausgerichteten Großbritannien oder aber zu anderen sozialistischen Ländern, sicherlich wertvolle Erkenntnisse darüber liefern, inwieweit das Ideologiegebäude der SED und die wirtschaftliche Lage in der DDR das Konzept der umfassenden Prophylaxe bestimmt und beeinträchtigt haben.
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Appen (1990), S. 268.
Abkürzungsverzeichnis Abb. ÄBK Abt. BArch Bd. bearb. BGL bzw. ca. CDU DDR dg. d. h. DHfK DHMD Diagr. Diss. DRK DTSB DZVG erw. etc. f./ff. FDGB FDJ H. Hg./hg. HStAD Jg. KPD KrA LAB LAG LPG MfGe NBI NKFD NS o. J. OMR o. O. S. SAG SAPMO SBZ SED SMAD SPD
Abbildung Ärzteberatungskommission Abteilung Bundesarchiv (Berlin) Band bearbeitete Betriebsgewerkschaftsleitung beziehungsweise circa Christlich Demokratische Union Deutschlands Deutsche Demokratische Republik durchgesehene das heißt Deutsche Hochschule für Körperkultur Deutsches Hygiene-Museum (Dresden) Diagramm Dissertation Deutsches Rotes Kreuz Deutscher Turn- und Sportbund Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen erweiterte et cetera folgende Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Heft Herausgeber/herausgegeben Hauptstaatsarchiv Dresden Jahrgang Kommunistische Partei Deutschlands Kreisarchiv Landesarchiv Berlin Landesarchiv Greifswald Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Ministerium für Gesundheitswesen Neue Berliner Illustrierte Nationalkomitee Freies Deutschland Nationalsozialismus ohne Jahr Obermedizinalrat ohne Ort Seite Sowjetische Aktiengesellschaft Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands
222 StA Tab. u. a. überarb. unfol. usw. VEB verb. VVB WHO z. Bsp. ZIJ zit. ZK
Abkürzungsverzeichnis
Stadtarchiv Tabelle unter anderem überarbeitete unfoliiert und so weiter Volkseigener Betrieb verbesserte Vereinigung Volkseigener Betriebe World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation) zum Beispiel Zentralinstitut für Jugendforschung zitiert Zentralkomitee
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Berlin Lichterfelde Ministerium für Gesundheitswesen: DQ 1/390, 2433, 2619, 2648, 3614, 4848, 5174, 5175, 5255, 5739, 5740, 5837, 6013, 6017, 6018, 6646, 11520, 11735, 12238, 12332, 13477, 14175, 14224, 20434, 20542, 20968, 22239, 22240, 22318, 22446, 22647, 23333, 23346 Ministerium für Gesundheitswesen (Nachgeordnete Behörden): Rat für Medizinische Wissenschaften beim Ministerium für Gesundheitswesen: DQ 109/133 Nationales Komitee für Gesundheitserziehung der DDR: DQ 113/14, 18 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv FDGB, Abteilung Arbeitsschutz: DY 34/8515 Verlag Tribüne: DY 78/9335 Hauptstaatsarchiv Dresden 13658 – Deutsches Hygiene-Museum Dresden, F VIII/Nr. 24 13658 – Deutsches Hygiene-Museum Dresden, Nr. M55, Anlage 4.2.5 Landesarchiv Greifswald Bezirkstag und Rat des Bezirkes Rostock, Bezirksstelle für Organisation des Gesundheitswesens: Rep. 200 (II), OGS, Nr. 4 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Rostock, Stellvertreter des Vorsitzenden für Gesundheitswesen, Arbeit und Berufsausbildung und kommunale Wirtschaft: Rep. 200, 2.2.2.4, Nr. 19, Nr. 32, Nr. 34, Nr. 37, Nr. 44 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Rostock, Abteilung Körperkultur und Sport: Rep. 200, 8.3.1, Nr. 18 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Rostock, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen: Rep. 200, 9.1, Nr. 6, Nr. 27, Nr. 30, Nr. 31, Nr. 32, Nr. 40, Nr. 65, Nr. 82, Nr. 165, Nr. 243, Nr. 367 Rep. 200 (II), 9.1., Nr. 635 VEB Neptunwerft Rostock: Rep. 242, A/48, A/73, A/147, A/314, A3/297, A3/413, L5/47, P5c/21 VEB Fischkombinat Saßnitz: Rep. 244, Nr. 37, Nr. 37 (Zugang 1991), Nr. 42, Nr. 223, Nr. 253, Nr. 286, Nr. 295, Nr. 370 (Zugang 1991), Nr. 377 (Zugang 1991), Nr. 380 (Zugang 1991) Landesarchiv Berlin Magistrat Berlin, Gesundheits- und Sozialwesen: C Rep. 118, Nr. 785 Stadtarchiv Rostock Stadtverordnetenversammlung und Rat der Stadt, Gesundheits- und Sozialwesen: Rep. 2.1.1, Nr. 10993, Nr. 11122, Nr. 11130 Stadtverordnetenversammlung und Rat der Stadt, Hygieneinspektionen: Rep. 2.1.21, Nr. 6, Nr. 17 Stadtarchiv Greifswald Rat der Stadt, Gesundheits- und Sozialwesen: Rep. 7.17, Nr. 270; VA 1106, VA 1110 Sammlung Deutsche Reichsbahndirektion, Nr. 1, Brigadebuch 1974 und 1975 Kreisarchiv Nordvorpommern Rat des Kreises Grimmen, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen: 07/247
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Gesundheitsplakat kolposkopische Untersuchung (1950er Jahre). ................................................................................. 69 Abb. 2: Gesundheitsplakat kolposkopische Untersuchung (1961) .......... 70 Abb. 3: Titelblatt Deine Gesundheit H. 4 (1958) Foto: John. ....................................................................................... 91 Abb. 4: Fotoseite aus dem Themenheft „Rauchen Sie?“, Deine Gesundheit H. 11 (1978), S. 329 Foto: Joachim Kirchmair................................................................ 93 Abb. 5: Fotoseite zum Artikel „Nach dem Herzinfarkt“, Deine Gesundheit H. 10 (1972), S. 308 Fotobeitrag: Jochen Baltzer und Siegfried Riemer ...................... 103 Abb. 6: Fotoseite zum Artikel „Das erste Jahr“, Deine Gesundheit H. 4 (1978), S. 103 Foto: Joachim Kirchmair................................................................ 105 Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3:
Anzahl der Artikel in Deine Gesundheit zu ausgewählten Themenbereichen nach Jahrzehnten ............................................ 95 Anzahl weiblicher und männlicher Abbildungen in Deine Gesundheit zu ausgewählten Themenbereichen nach Jahrzehnten ............................................................................ 106 Lebenserwartung Lebendgeborener in der DDR in Jahren .......................................................................................... 186
Diagr. 1 Eingaben an das MfGe, Hauptabteilung Hygieneinspektion, 1963–1985 ....................................................................................... 193
medizin, gesellschaft und geschichte
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beihefte
Herausgegeben von Robert Jütte.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0941–5033
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