Macht und Bewegung: Zur Meta-Physik im sozialen und politischen Machtbegriff im Ausgang von Aristoteles’ dynamis 9783787342495, 9783787342488

In begriffsgeschichtlichen Exkursen zum sozialen und politischen Machtbegriff heißt es häufig, dass dieser seinen ‚Vorlä

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German Pages 528 [574] Year 2022

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Macht und Bewegung: Zur Meta-Physik im sozialen und politischen Machtbegriff im Ausgang von Aristoteles’ dynamis
 9783787342495, 9783787342488

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PA R A LORINA BUHR

Macht und Bewegung

DEIG Zur Meta-Physik im sozialen und politischen Machtbegriff im Ausgang von Aristoteles’ dynamis

M A TA

PARADEIGMATA 44

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

LORINA BUHR

Macht und Bewegung Zur Meta-Physik im sozialen und politischen Machtbegriff im Ausgang von Aristoteles' dynamis

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung der an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt eingereichten und im Juli 2021 verteidigten Dissertation »Macht und Bewegung. Zur Meta-Physik im politischen Machtbegriff im Ausgang von Aristoteles' dynamis«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://portal.dnb.de〉 abrufbar. ISBN 978-3-7873-4248-8 ISBN eBook 978-3-7873-4249-5

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Meiner lieben Oma Hilde †, meinen Eltern und K. gewidmet.

Die Philosophiegeschichte [. . .] gleicht eher der Portraitkunst in der Malerei. Es sind mentale, begriffliche Portraits. (Deleuze, Unterhandlungen, 197) Nun haben die Begriffe – obwohl datiert, signiert und getauft – zwar ihre eigene Art von Unsterblichkeit und sind doch Zwängen der Erneuerung, der Ersetzung, der Mutation ausgesetzt, die der Philosophie eine bewegte Geschichte und ebenso eine bewegte Geographie verschaffen, in denen sich alle Momente, alle Orte erhalten [. . .]. (Deleuze / Guattari, Was ist Philosophie?, 13) Es gibt keine Generatio spontanea der Begriffe, sie sind, durch ihre Ahnen sozusagen, determiniert. (Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 31)

Inhalt

1.

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1.1 1.2 1.3

19 30 34

Diskussionen zum Machtbegriff in der politischen Theorie . . . Begriffsverständnis und untersuchungsleitende Thesen . . . . . Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

TEIL A: Forschungsstand und methodischer Zugang 2.

3.

Die dynamis als Vorläufer des politischen Machtbegriffs . . . . . . . . . .

39

2.1 2.2

40

Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 3.2 4.

Der ›weite‹ Machtbegriff in der gegenwärtigen Philosophie . . . Die aristotelische dynamis in der Geschichtsschreibung des politischen Machtbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erkenntnisinteressen und Leitfragen in der aktuellen politischen Ideen- und Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Desiderate für die Untersuchung des Machtbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 53 54 63

Begriffliche Diagrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

4.1 4.2

68

4.3

Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari . . . . . . . . . Komponentenmodell des Begriffs im Anschluss an Deleuze und Guattari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Diagrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80 90

TEIL B: Die meta-physische dynamis des Aristoteles und die Machtbegriffe von Hobbes und Foucault 5.

Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis . . . . . . . . . . . . . . . 109

5.1 5.2

Dynamis im antiken Alltagsgriechisch und bei Plato . . . . . . . . 109 Zugang zu Aristoteles' Begriff der dynamis . . . . . . . . . . . . . . . 121

Inhalt

10

6.

Die Komponenten der aristotelischen dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . 125

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 7.

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125 130 150 205 230

Hobbes’ Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 8.

Denkmilieu . . . . . . . . . Begriffsmilieu I . . . . . . Begriffskorpus . . . . . . . Begriffsmilieu II . . . . . . Diagramm der dynamis

Zugang zu Hobbes' Machtbegriff . . . . Denkmilieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu I . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu II . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm von Hobbes' Machtbegriff

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233 236 248 280 320 339

Foucaults Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6

Zugang zu Foucaults Machtbegriff . . . Denkmilieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu I . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu II . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm von Foucaults Machtbegriff

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343 352 358 401 455 481

TEIL C: Schlussbetrachtung 9.

Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . 485

9.1 9.2 9.3 9.4

Aristoteles' dynamis als Begriff der Bewegung . . . . . . . . . . Aristoteles' dynamis als Vorgänger des politischen Machtbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hobbes' Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles' dynamis Foucaults Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles' dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 485 . . 487 . . 489 . . 490

10. Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

10.1 Meta-Physik als theoretische und begriffliche Ressource . . . . . 493 10.2 Macht als Begriff der Bewegung und bewegungsorientierte Machtanalytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 10.3 Ein machtbegriffliches Schema im Ausgang von Aristoteles' dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

Inhalt

11

10.4 Begriffliche Diagrammatik als Beitrag zur kritischen Begriffsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Vollständiges Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

Vorwort

D

ie vorliegende Arbeit untersucht den sozialen und politischen Machtbegriff aus einer historischen und einer systematischen Perspektive. Das Grundanliegen ist, die Herkunft dieses für das politische und soziale Denken so zentralen Begriffs, die in der dynamis des Aristoteles liegt, einer gründlichen Untersuchung zu unterziehen und den Spuren, die die dynamis in den modernen Machtbegriffen von Thomas Hobbes und Michel Foucault gezogen hat, systematisch nachzugehen. Das Anliegen wurde von der Beobachtung angeleitet, dass sich erstens in der Geschichte des Machtbegriffs eine begriffliche Nähe zwischen Konzeptionen von Macht und Begriffen aus einem Denken der Natur abzeichnet. Viele Machtkonzeptionen arbeiten, bei genauerer Hinsicht, mit Termini wie ›Dynamik‹, ›Ursache‹, ›Wirkung‹, ›Vermögen‹, ›Konstitution‹, oder sprechen von ›Wirkungsverhältnissen‹ und ›Bewegungs- und Affizierungsverhältnissen‹. Dass die Begriffe ›Wirkung‹, ›Vermögen‹ und ›Kausalität‹ ihrerseits eng mit einem weiten Begriff von Bewegung im Sinne von Wandel, Werden und Veränderung verwandt sind, und damit auch Macht und Bewegung in ein enges begriffliches Verhältnis rücken, bleibt in den meisten Diskussionen allerdings implizit. Die zweite untersuchungsanstiftende Feststellung war, dass sich der Begriff der dynamis – der ›Vorläufer‹ des Machtbegriffs – in mehrfacher Weise auf den Begriff und das Denken von Bewegung bezieht und dabei selbst aus einem diskursiven Umfeld stammt, das sich zwischen Physik, Naturphilosophie, Metaphysik und Wissenschaftstheorie aufspannt. Dieses diskursive Feld sei hier ›Meta-Physik‹ genannt. Aus den beiden Beobachtungen zum Machtbegriff entstanden auch die untersuchungseinleitenden Fragen: Inwiefern durchziehen Elemente der Meta-Physik den sozialen und politischen Machtbegriff? Und wie lassen sich derartige Implikationen systematisch aufspüren und nachzeichnen? Um diese Untersuchungsfragen anzugehen, war es notwendig eine Analytik zu entwickeln, die es erlaubt sowohl systematisch-analytische als auch historische Dimensionen der Begriffsuntersuchung integrativ zusammenzuführen. Diese Analytik, die sich als Heuristik für eine kartografisch angeleitete Erkundung von Begriffen versteht, nenne ich begriffliche Diagrammatik. Vor diesem Hintergrund bildet die ganze Untersuchung auch eine Übung in und Erprobung der begrifflichen Diagrammatik. Die Studie begreift sich als Beitrag sowohl zur Geschichte des Machtbegriffs als zur systematischen Durchdringung des Machtbegriffs.

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Vorwort

Wie viele wissenschaftliche Studien war auch diese Arbeit eine lange Wanderung. Manchmal mit Umwegen, selten mit Abkürzungen, stellenweise Glatteis, zuletzt eher steinig, streckenweise umsäumt von Blütenmeer. Ich danke allen, die mich von Beginn an und gerade auch auf den letzten Metern unterstützt haben. Mein Dank gilt den Teilnehmenden des Erfurter Doktorand:innen-Kolloquiums im Rahmen des Center for Political Practices and Orders (C2PO) und des Frankfurter Doktorand:innen-Kolloquiums für Sozialphilosophie, die mir stets durch wertvolle Nachfragen, Einwände und Hinweise wichtige Impulse für die weiteren Wegstrecken gaben. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. André Brodocz und Prof. Dr. Martin Saar, die mir große Freiheiten im Ausprobieren gaben und dabei zugleich immer auch die Machbarkeit des methodischen Experiments im Auge behielten. Mein Dank für die Geduld und das Verständnis für die Bürden, die ein so langer Weg des Verfertigens mit sich bringt, das mir meine Eltern, Kevin und meine liebe Oma Hilde stets entgegengebracht haben, ist unermesslich – ihnen ist deshalb auch die vorliegende Studie gewidmet.

1. Einleitung

Macht ist ein Dauerthema, oder um es etwas stärker zu formulieren: »Macht ist ein aufdringliches und penetrantes Thema.« 1 Auf Macht wird verwiesen, wenn es um die empirische Untersuchung und theoretische Analyse der Eigenschaften und Beziehungen der Menschen als Subjekte und Bürger:innen geht, aber auch generell im Rahmen der Analyse des Sozialen, des Politischen, der Politik, des Staates, der staatlichen Organe, der Medien, der Kommunikation und der technischen Infrastrukturen. In der vorliegenden Arbeit geht es in erster Linie nicht um die Phänomene von Macht in der sozialen und politischen Handlungssphäre, sondern um den Begriff von Macht. Der Begriff der Macht gehört zum Grundrepertoire der Sozialwissenschaften, der politischen Theorie und der Sozialphilosophie – er bildet nicht weniger als einen ihrer »Schlüsselbegriffe[]«. 2 Dabei ist in die ›Arbeit am Begriff der Macht‹ von jeher eine Spannung eingeschrieben: Auf der einen Seite verlangen zeitaktuelle gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische und politische Verhältnisse, den Begriff der Macht je neu auszurichten. Auf der anderen Seite ist Begriffsbildung nie eine creatio ex nihilo oder generatio spontanea, sondern greift immer auch auf bestehende begriffliche und theoretische Ressourcen und Traditionsbestände zurück. Die begrifflichen Ressourcen ihrerseits bergen erwartbare, aber auch weniger explizite und markierte Verknüpfungen zu anderen Begriffen. Dabei stellt sich die Frage nach den Traditionszusammenhängen, Filiationen und (Dis-)Kontinuitäten gleichermaßen aus analytischer und systematischer sowie aus historischer Forschungsperspektive: Welche begrifflichen Bezüge sind einmalig, tauchen zu einer Zeit auf und dann wieder ab, und welche begegnen wiederkehrend? Einer weit vertretenen These zufolge gehören zum begrifflichen Traditionsbestand des Machtbegriffs auch der aristotelische Begriff der dynamis (δύναµις) und dessen latinisierte Form, die potentia. Die dynamis des Aristoteles – ein zentraler Begriff in dessen Naturphilosophie und Metaphysik – wird dabei häufig als ›Vorgänger‹ oder ›Vorläufer‹ des politischen Machtbegriffs ausgewiesen. Was aber bedeutet es, dass der soziale und politiStoellger (2008), 1, Herv. i. O. Brodocz (2013), 9. Sozialphilosophie wird hier im Anschluss an Martin Saar (2018a) verstanden als eine spezifische Fragen, Konzepte und Ebenen verbindende Rahmenperspektive auf das Soziale und die Gesellschaft als sozialer Zusammenhang, der jeweils auf den Ebenen der Ordnung, der Praktiken und des Subjekts durch eine Analyse und Kritik von Macht untersucht werden kann. 1

2

16

Einleitung

sche Machtbegriff 3 in der Denktradition des antiken Begriffs der dynamis von Aristoteles steht? Zudem wird Macht auch häufig mit Termini wie ›Dynamik‹, ›Produktion‹, ›Konstitution‹, ›be-/erwirken‹, ›verursachen‹, ›hervorbringen‹ ›Wirkungsverhältnisse‹ und ›Affizierungsverhältnisse‹ assoziiert. Die Terminologie rund um ›(Be-)Wirkung‹ und ›Produktion‹ zählt zum kausalen Vokabular 4 – der Machtbegriff steht somit, wie vielfach bemerkt worden ist, in einem engen Verhältnis zur Kategorie der Verursachung bzw. Kausalität. Damit ist der Hinweis verbunden, dass der Machtbegriff im ›weiten Sinne‹ Wirkungen, Affizierungen und generell Kausalität zwischen Subjekten, Dingen oder Ereignissen erfasst. Die Konzeptionen von Verursachung und Wirkung bleiben allerdings in den machtbegrifflichen Analysen ihrerseits oft opak oder auf ein mechanistisches Modell reduziert. 5 Zudem ist in den machtbegrifflichen Diskussionen bisher wenig beachtet worden, dass viele Ansätze Verursachung zu denken ihrerseits eng mit einem weiten (naturphilosophischen und ontologischen) Begriff von Bewegung im Sinne von Wandel, Werden und Veränderung verbunden sind 6, und damit auch Macht und Bewegung in ein enges begriffliches Verhältnis rücken. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie hängen Macht und Bewegung zusammen? Inwiefern gibt es systematische und historische Verknüpfungen von Machtbegriffen und einem Denken der Bewegung? Wenngleich die Bedeutung des Machtbegriffs in der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Theoriebildung zur Gesellschaft, zum Staat und zum Politischen nahezu unbestritten ist und die Diskussionen rund um den politischen und sozialen Machtbegriff in den letzten dreißig Jahren intensiv und kontrovers geführt wurden, lässt sich an dieser Stelle für die Geschichte des Machtbegriffs ein auffälliges Forschungsdesiderat identifizieren: Die begrifflichen Bezüge des sozialen und politischen Machtbegriffs zur dynamis und zum Begriff der Bewegung, der ein Begriff der Naturphilosophie, Physik und Metaphysik ist, werden zwar bisweilen angedeutet, sind aber bisher nicht systematisch untersucht und aufgearbeitet worden. So ist in der politischen Theorie und Begriffsgeschichte bisher auch weitgehend unberücksichtigt geblieben, dass die dynamis bei Aristoteles in mehrfacher Hinsicht ein Begriff der Bewegung ist 3 Unter dem Singular ›sozialer und politischer Machtbegriff‹ wird fortan jenes offene Kollektiv an Machtkonzeptionen referenziert, das in der Theoriebildung der politischen und sozialen Theorie sowie in der Staats- und Sozialphilosophie zum Einsatz kommt. 4 Vgl. Keil (22015), 1; Anscombe (1993). 5 Vgl. Riker (1964), Ogilvy (1978), Ball (1975a, 1975b), siehe dazu ausführlicher Kap. 1.1. 6 Hier ist mit Ned Hall (2004) die ›produktive‹ Verursachung zu nennen, also jene Konzeptionen von Verursachung, die dem Schema »when we say of an event c that it helps to generate or bring about or produce another event e« (ebd., 225, Herv. i. O.) folgen.

Einleitung

17

und somit eine Verknüpfung von Machtbegriff und Bewegungsbegriff bereits in der Herkunft des Machtbegriffs gelegt wurde. Der Begriff der Bewegung umschließt seinerseits einen großen thematischen Problemkreis, von der ontologischen Frage des Verhältnisses von Seiendem und Nicht-Seiendem, Einheit und Vielfalt, also ontischer Differenzierung und Individuation, bis zu naturphilosophischen und physischen Bestimmungen von (realer) (dis-)kontinuierlicher Veränderung in Raum und Zeit. Verwandte und z. T. synonyme Begriffe sind ›Veränderung‹, ›Werden‹, ›Übergang‹, ›Umschlag‹, ›Veranlassung‹. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit besteht darin, das doppelte Desiderat zum historisch-systematischen Zusammenhang von dynamis und sozialem und politischem Machtbegriff und der Bewegungsbezogenheit des Machtbegriffs einzulösen. Die Untersuchung setzt an dem Desiderat an, indem sie die aristotelische dynamis für die Geschichte und Analyse des Machtbegriffs erschließt und systematisch begriffliche Verbindungen zu den Machtbegriffen von Thomas Hobbes und Michel Foucault aufzeigt. 7 Da sich die dynamis in erster Linie selbst als kinetischer Begriff erweist, kann mit der dynamis als ausgewiesenem Vorläufer des Machtbegriffs auch ein begriffsstruktureller Bezug des politischen Machtbegriffs zum Begriff der Bewegung (kine¯sis, metabole¯) herausgearbeitet werden. Der enge Bezug zur Bewegung hat wiederum Konsequenzen für die ontologische Grundierung und epistemologische Rahmung 7 Der Begriff der dynamis wird häufig mit ›Potentialität‹, ›Potenz‹, oder ›Vermögen‹ (›capacity‹) übersetzt. Mit jeder Übersetzung ist jedoch eine bestimmte begründungsbedürftige Interpretationsentscheidung verbunden, die die Interpretation auf bestimmte begriffliche und theoretische Bahnen festlegt. Um diese Bahnen möglichst offen zu halten, bleibt dynamis hier weitestgehend unübersetzt oder wird, der Lesbarkeit halber, gelegentlich mit dem Terminus ›Vermögen‹ ins Deutsche übertragen. Die dynamis hat als Gegenstand der begrifflichen Rekonstruktion, aber auch als produktive konzeptuelle Anschlussfolie, in jüngster Zeit vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In der philosophischen Aristoteles-Forschung ist mit der umfangreichen monografischen Studie Dynamis. Sens et genèse de la notion aristotélicienne de puissance von David Lefebvre über die Herkunft und Genese der dynamis bei Aristoteles jüngst eine Forschungslücke geschlossen worden (als Dissertation 2000 an der Université Clermont-Auvergne eingereicht, 2018 bei Vrin in Paris erschienen). Der Studie ist ein umfangreicher Sammelband zur dynamis bei Platon und Aristoteles unter der Herausgeberschaft von Michel Crubellier, Annick Jaulin, David Lefebvre und Pierre-Marie Morel (2008) vorausgegangen. Kürzlich wurde auch der Kommentar von Ludger Jansen (22016) zum neunten Buch (The¯ ta / IX) der Metaphysik von Aristoteles, in der wesentlich die dynamis verhandelt wird, in zweiter Auflage überarbeitet und ergänzt herausgegeben. Vgl. ebenso die Dissertation von Ursula Wolf, die sich bereits 1979 dem Begriff der dynamis widmete und neu aufgelegt wurde (Wolf [22020]). Wolf und Jansen wählen den deutschen Terminus ›Vermögen‹ zur Übersetzung, und ähnlich dazu verwendet auch Jonathan Beere (2009) in seinem Kommentar zu Buch IX der Metaphysik die Termini ›power‹ und ›capacity‹. Das konzeptuelle Potential der dynamis ist zudem kürzlich aus bild- und kunstwissenschaftlicher Perspektive (Alloa / Cappelletto [2020]), für eine Materialistische Philosophie der Differenz von Nassima Sahraoui (2022) und in einem Plädoyer für den Möglichkeitsbegriff als »Grundbegriff der praktischen Philosophie und kritischen Gesellschaftstheorie« von Gösta Gantner (2021) aufgegriffen worden.

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Einleitung

der Konzeption und Kritik von Macht sowie für die Theorie sozialer und politischer Ordnung und der Konstitution von Subjekten. Insgesamt nimmt die Arbeit damit zugleich eine Perspektivverschiebung hinsichtlich der Bedeutung des Aristoteles für die Politische Theorie und Sozialphilosophie vor. Nicht Aristoteles' Politik und Nikomachische Ethik, sondern seine Metaphysik und Physik stehen im Zentrum der Lektüre. Die Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt in den Beobachtungen, dass zum einen in der bisherigen Forschung das Verhältnis zwischen Machtbegriff und dem Begriff der dynamis von Aristoteles häufig auf den Verweis reduziert bleibt, dass der Machtbegriff in der dynamis einen ›Vorläufer‹ und ›Vorgänger‹ habe, in dessen Tradition er stehe oder dessen Spuren er trage. Zum anderen zeichnet sich der Machtbegriff durch eine bisher wenig bestimmte Nähe – manche würden sagen: ›Verstrickung‹ – zu Begriffen und Theorien der Physik, Naturphilosophie und Metaphysik aus. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist damit primär ein metabegriffliches, ihr Gegenstand liegt in der Herkunft des sozialen und politischen Machtbegriffs und seiner spezifischen, mit kausalen und kinetischen Kategorien verbundenen konzeptuellen Gestaltung. Dabei zielt die Arbeit insbesondere auf den Nachweis von Kontinuitäten in dieser Gestaltung bzw. Begriffsbildung. Auf diese Weise ist die Untersuchung sowohl systematisch und begriffsanalytisch als auch historisch bzw. begriffsgeschichtlich angelegt. Ein weiteres Anliegen dieser Studie ist es, die Untersuchung der begrifflichen Herkunft des Machtbegriffs eng mit einem metadiskursiven und wissensarchäologischen Impuls zu verbinden, d. h. mit der Frage, wie über die spezifischen Konzeptionen des Machtbegriffs verschiedene disziplinäre Diskurse und wissenschaftliche Register zusammenfinden. Sie wird, so viel sei hier angedeutet, auf ein für die Fragstellungen gesondert entwickeltes heuristisches und methodologisches Instrumentarium der Begriffsanalyse zurückgreifen. Der Arbeit liegt die begriffs- und ideengeschichtliche Arbeitsthese zugrunde, dass ein Rückgang auf die Herkunft eines Begriffs Auskunft über begriffliche Bezüglichkeiten, Verzweigungen, Strukturelemente geben kann. Die Untersuchung dieser begrifflichen Aspekte soll wiederum zu einem besseren Verständnis der Konstitution, Funktionsweise und der theoretischen und begrifflichen Ressourcen in der Bildung eines Begriffs, in diesem Fall des Machtbegriffs, verhelfen. Der ideen- und begriffsgeschichtliche Impuls, die Herkunft eines Begriffs einem ausführlichen Studium zu unterziehen und dabei zugleich sowohl begriffliche Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten in der Evolution und Fort-Bildung eines Begriffs herauszuarbeiten, ist seinerseits durch die normativ-kritische Annahme über die Notwendigkeit der Analyse der Geschichte und Elemente des politischen Denkens motiviert. Denn weder Begriffsanalyse

Diskussionen zum Machtbegriff in der politischen Theorie

19

noch politische Begriffs- und Ideengeschichte sind methodische Unternehmungen im Stil einer l'art pour l'art, vielmehr bilden sie Instrumente der Selbstreflexion über die Grundlagen der politischen Theorie und Sozialphilosophie und damit über die spezifischen Rahmungen und begrifflichen Ressourcen der Analyse und Kritik sozialer und politischer Phänomene. Die Begriffe der Beschreibung und Analyse der Ereignisse, Zusammenhänge und Strukturen des Sozialen und Politischen sind eng mit der spezifischen Form der Wahrnehmung von politischen Problemen verbunden. Auswahl, Ordnung und Einsatz von Ideen, Begriffen und variierenden Begriffskonzeptionen prägen Wahrnehmungsweisen und -gegenstände – ihre Bedeutung für die Erfahrung, Beschreibung und Erklärung der sozialen Welt sind daher kaum zu überschätzen. Axel Honneth formulierte in diesem Kontext zutreffend, dass es »wichtig für unsere demokratische Kultur« ist, »sich die historischen Ursprünge und Entwicklungen derjenigen Ideen oder Begriffe vor Augen zu führen, von denen unser politisch-soziales Zusammenleben bis heute nachhaltig geprägt ist; denn nur im Spiegel einer solchen historischen Rückversicherung können wir gemeinsam erkennen, warum wir geworden sind, wer wir sind, und welche normativen Ansprüche mit diesem geteilten Selbstverständnis einhergehen.« 8 In den nachfolgenden Vorbemerkungen und Erläuterungen soll zunächst die Stellung des Machtbegriffs in der politischen Theorie charakterisiert und wichtige Diskussionen skizziert werden, für die die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu leisten sich vornimmt (1.1). Daran anknüpfend werden die diskursiven Einsatzpunkte der Arbeit markiert und die Untersuchungsthesen zum begrifflichen Verhältnis von dynamis, politischer und sozialer Macht und Bewegung präsentiert (1.2). Abschließend wird das weitere Vorgehen beschrieben (1.3).

1.1 Diskussionen zum Machtbegriff in der politischen Theorie

Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht der Machtbegriff, wie er in der politischen Theorie, Sozialphilosophie und Ideengeschichte konzipiert, reflektiert und in die Theoriebildung und Kritik eingebunden wird. 9 Dabei ist zunächst Honneth (2018), 13. Damit bleiben Konzeptionen und begriffliche Diskussionen von Macht in der Theologie, Anthropologie, Psychologie, Pädagogik, der empirischen Soziologie und in den Kultur- und Medienwissenschaften weitestgehend unberücksichtigt. Für ein transdiskursives semiologisches Nachspüren der »Spuren der Macht« und des Machtbegriffs sei stattdessen auf die gleichnamige Studie von Kurt Röttgers (1990) verwiesen; eine ähnlich breit angelegte Untersuchung – im Umfang allerdings deutlich reduzierter – hat auch Byung-Chul Han (2005) vorgelegt. Dem institutionell häufig 8

9

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Einleitung

auf die funktionale Varianz des Machtbegriffs in der politischen Theorie und in den Sozialwissenschaften hinzuweisen. Ganz grundsätzlich erlaubt es der Begriff von Macht, soziale und politische Phänomene als Phänomene der Macht zu adressieren. Über den Begriff von Macht im Allgemeinen und spezifische Konzeptionen von Macht im Besonderen werden Dinge und Phänomene also überhaupt erst der sozialen und politischen Analyse, Theorie und Kritik zugeführt. 10 Indem er sowohl empirischen Studien als auch der normativen Theoriebildung und Kritik zugrunde gelegt wird, 11 erfüllt der Machtbegriff deskriptive und »problematisierende Funktionen«. 12 Das heißt, der Machtbegriff eignet sich, um soziale und politische Phänomene und Verhältnisse als Ausdruck von Macht zu beschreiben oder erklärend zu erschließen, gleichzeitig aber auch deren Hervorbringung, Bedingung und Rechtfertigung zu evaluieren. 13 Über die Analyse der Anwendungsfunktionen (»funktionale[] Begriffsanalyse« 14) und Verwendungsweisen (sprachliche und methodologische Analyse) hinaus hat die konkrete Bestimmung des Machtbegriffs eine diskursformative Wirkung für die Form der politischen Theorie und Theorie der Politik selbst. Denn politikwissenschaftlich verankerten Feld der ›Politischen Theorie und Ideengeschichte‹ schreibe ich in Orientierung an Samuel Salzborn die Kompetenz zu, vermittelnd und zwischen Philosophie und Geschichtswissenschaft »integrativ zu wirken« (Salzborn [2018a], IX), hier mit besonderem Schwerpunkt auf die Wissensgeschichte. Der disziplinäre Diskurs der Politischen Theorie wird hier zudem in einem engen, nicht disjunktiven Verhältnis zur Disziplin der Sozialphilosophie verstanden (vgl. Fn. 2). 10 Die Unterscheidung von Begriff und Konzeption stammt aus der analytischen Philosophie und wird hier lose angewendet als Unterscheidung von Grundeinheit im politischen Denken (›Begriff‹) und deren kontextueller und autor:innenbezogener Aus- oder Reformulierung (›Konzeption‹ oder ›Bestimmung‹); wobei ›Begriff‹ in dem weiten Sinne des französischen und englischen concepts verstanden wird und nicht epistemologisch verengt als Einheit des kognitiven Begriffsapparats. Für eine exemplarische Trennung zwischen Begriff und Konzeption siehe J. Rawls (1999), insbesondere 5–6. Auffallend ist, dass im deutschen Sprachgebrauch häufig von Autor:innen signierte Konzeptionen eines Begriffs auch als Begriff selbst bezeichnet werden, z. B. wenn von ›Hobbes’ Machtbegriff‹ oder ›Foucaults Machtbegriff‹ die Rede ist. Von diesem Sprachgebrauch soll hier der Leserlichkeit und diskursiven Gewohnheit halber nicht Abstand genommen werden. 11 In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird oft nicht analytisch und methodologisch hinreichend zwischen Theorie, Begriff und Konzeptionen von Macht getrennt. Das kann den Effekt haben, dass dem Begriff von Macht theoretische oder empirische Vorannahmen, normative oder explanatorische Zielvorstellungen beigemengt werden oder die Reichweite eines Begriffs aufgrund eines disziplinären Theorierahmens beschränkt oder überzogen wird. Eine weitere Problematik besteht darin, dass häufig ein Begriff oder eine Konzeption von Macht mit einer ›Definition‹ von Macht gleichgesetzt wird. In der vorliegenden Arbeit werden Begriff und Definition methodologisch voneinander unterschieden. Als Beispiel für eine sensible Trennung zwischen Begriff, Konzeption und Theorie von Macht sei auf die Studie zum Machtbegriff von Peter Morriss (22002), 42–46, verwiesen. 12 Strecker (2012), 9. 13 Ebd., 9–10. 14 Strecker (2012), 10.

Diskussionen zum Machtbegriff in der politischen Theorie

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durch die Bestimmung und Konturierung des Machtbegriffs werden gegenständliche und theoretische Ein- und Ausschlüsse vollgezogen, die sowohl den Gegenstandsbereich Macht als auch die begriffliche und theoretische Reichweite der politischen Theorie insgesamt betreffen. 15 Zugleich wird mit der jeweiligen Bestimmung des Machtbegriffs ein spezifischer Zugang zum Politischen und zum Verständnis von Politik gelegt, sodass der konzeptuellen Arbeit am Machtbegriff stets auch ein metapolitisches Moment eignet. 16 Aufgrund seiner zentralen Stellung in der Politikwissenschaft und politischen Theorie verwundert es daher nicht, dass sich seit Ende der 1950er Jahre eine mittlerweile sehr ausdifferenzierte und weitgespannte Diskussion zum Machtbegriff in der politischen Theorie und Sozialphilosophie, Soziologie und Politikwissenschaft herausgebildet hat. 17 Gegenstände der mitunter kontrovers geführten Debatten sind – knapp zusammengefasst – Inhalt, Form, methodologischer Status und Politizität des Machtbegriffs sowie das Verhältnis zu angrenzenden Begriffen der politischen Ordnung und Ordnungsbildung wie ›Herrschaft‹, ›Autorität‹, ›Einfluss‹, ›Regierung‹, ›Hegemonie‹ und ›Gewalt‹ einerseits und zu ›Potentialität‹, ›Aktualität‹, ›Kausalität‹ und ›Kraft‹ andererseits. Nachfolgend wird aus diesen Kontroversen eine Auswahl von (meta)begrifflichen Diskussionen mit exemplarischen argumentativen Fragen und Desideraten herausgestellt, die im Rahmen der vorliegenden Studie adressiert werden.

Saar (2013a), 135–136, (2013b), 25. Unter ›metapolitisch‹ sei hier mit Axel Honneth die Untersuchung und kritische Evaluation von Begriffen und bestimmten Konzeptionen von Begriffen der Politik und des Sozialen im Lichte konstruktiver Begriffs- und Theoriebildung verstanden (vgl. Honneth [2017], 21). Für Connolly begibt sich jede Untersuchung des Machtbegriffs und von Phänomenen der Macht immer schon auf das Feld der »political and ideological debates of their day. To study power is to implicate oneself in politics.« (Connolly [1993], 128). 17 Vgl. Göhler (2012), 224–225. Dies schlägt sich auch in einer Vielzahl von interdisziplinären, v. a. begriffsanalytisch und konzeptionell angelegten Anthologien und Monografien zum Thema politische und soziale Macht nieder. Siehe z. B. die englischsprachigen Sammelbände und Reader von John R. Champlin (1971), Wartenberg (1992), Scott (1994), Haugaard (2002), Haugaard / Clegg (2009), Dowding (2011) und die Monografien von Clegg (1989), Haugaard (1997), Morriss (22002), Lukes (22005). Und die deutschsprachigen Sammelbände von Krause / Rölli (2008b), Imbusch (2012b), Brodocz / Hammer (2013), Roth / Weiß (2016), Hastedt (2016b), Felgenhauer / Bornmüller (2018); sowie die Monografien von Han (2005), Berger (2009), Strecker (2012), Saar (2013a), Meier / Blum (2019), Gilabert (2022). Zudem bietet das Journal of Political Power (ab 2008) ein wichtiges Forum für begriffsanalytische Diskussionen zum politischen Machtbegriff. 15 16

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Einleitung

(i) Geschichte und Herkunft des Machtbegriffs

Ein großes Desiderat bildet die historische Untersuchung des Machtbegriffs, die im deutschsprachigen Raum bisher lediglich durch eine große Monografie, das Standwerk Spuren der Macht von Kurt Röttgers (1990), sowie begriffshistorische Lexikoneinträge abgedeckt wird. 18 Häufig wird sowohl in begriffsanalytischen Untersuchungen wie auch in machttheoretischen Entwürfen auf die dynamis des Aristoteles als »begriffsgeschichtlichen Vorläufer des Ausdrucks Macht« verwiesen. 19 Die systematische Untersuchung der dynamis bleibt in den begriffs- und ideengeschichtlichen aber auch in den analytischen Verweisen der politischen Theorie rudimentär. Zwar hat Röttgers die Wirkmächtigkeit der dynamis für den politischen Machtbegriff betont, jedoch bleibt die Analyse der dynamis auch bei ihm letztlich etwas unscharf. 20

(ii) Das Verhältnis vom Machtbegriff zu den Begriffen von Herrschaft, Gewalt und Regierung

Ist Herrschaft der »›präzisere‹ Begriff« gegenüber dem Begriff von Macht? 21 Bestehen zwischen den Begriffen von Herrschaft, Gewalt und Macht begriffliche oder theoretische Übergänge oder sind sie vielmehr nicht-graduell und disjunkt zu begreifen? 22 Die wissenschaftliche Bestimmung dieser zentralen Begriffe konkurriert dabei immer auch mit alltagssprachlichen Verwendungsweisen, die gerade »in Bezug auf Macht und Herrschaft in besonderem Maße auseinander[]fallen«. 23

18 Vgl. z. B. den Eintrag von Lichtblau (1980) im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Anders als viele analytische oder anwendungsorientierte Studien zum Machtbegriff bietet Cleggs Monografie Frameworks of Power (1989) immerhin eine historisch-systematisch orientierte Untersuchung der Vielfalt des Machtbegriffs bzw. – für ihn – derjenigen Machtbegriffe, die den Machtkonzeptionen von Hobbes und Machiavelli einen systematischen Platz einräumt. 19 Krause / Rölli (2008a), 8; vgl. Morriss (22002), 24–25, 99. 20 Vgl. zu diesem Desiderat ausführlicher Kap. 2.2. 21 Jaeggi / Celikates (2017), 93; vgl. Imbusch (2012a). 22 Vgl. z. B. prominent die begrifflichen Unterscheidungen von Macht und Gewalt, Stärke, Kraft und Autorität bei Hannah Arendt (262013), 44–58, und zur »sozialphilosophische[n] Unterscheidung von Macht und Gewalt« Katrin Meyer (2016), 46, Herv. i. O. 23 Imbusch (2012a), 9.

Diskussionen zum Machtbegriff in der politischen Theorie

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(iii) Der ontologische und theoretische Status des Machtbegriffs

Inwiefern ist der Machtbegriff ein Begriff der Ontologie bzw. sind einzelne Machtkonzeptionen ontologisch ausgerichtet? Welche ontologischen und metaphysischen Vorannahmen und Implikationen liegen einer bestimmten Machtkonzeption zugrunde? Diese Fragen werden zumeist im Rahmen ontologisch und wissenschaftstheoretisch ausgerichteter Untersuchungen einzelner Machtbegriffe gestellt. Systematische Untersuchungen problematisieren, inwiefern Macht in der Form eines ontischen Vermögens oder einer »substantial bestimmbare[n] Habe« 24 konzipiert wird oder generell aufzufassen sei. Technischer ausgedrückt lautet die Frage: Ist Macht ein (prädikativer) Dispositionsbegriff? Oder ist der Machtbegriff weniger als ein ontologischer und metaphysischer Begriff, sondern vielmehr als ein theoretischer Begriff aufzufassen, der keinen expliziten ontologischen oder metapsychischen Gehalt aufweist? 25

(iv) Der methodologische Status des Machtbegriffs

Eine zentrale Frage richtet sich auf die Funktion des Machtbegriffs bzw. seiner methodischen ›Leistung‹: Eignet sich der Machtbegriff als erklärender Begriff? Ist der Machtbegriff ein Begriff, der Zusammenhänge kausaler Natur und damit eine Erklärung für ein Phänomen indiziert, oder ist er eher als ein explikativer Begriff aufzufassen? 26 Es gibt eine grundlegende Debatte darüber, ob die unterschiedlichen Anwendungskontexte bzw. -funktionen des Machtbegriffs den ›Kern‹ des Machtbegriffs bestimmen, und ob dem Machtbegriff eine implizite Normativität und evaluative Funktion eingeschrieben ist – es sich dabei also um einen ›wesentlich umstrittenen‹ Begriff (mit Gallie: »essentially contested concept« 27) handelt – oder ob der Begriff an sich weder negativ noch positiv konnotiert zu verstehen sei. 28

Ricken (2004), 122. Vgl. Dowding (2012). 26 Vgl. Morriss (22002), xxvii-xxxii; Ball (1975a), (1975b); Ogilvy (1978). Zur philosophischen Unterscheidung von Explanation und Explikation sei auf Audi verwiesen, der hierzu die folgende präzise Erläuterung gibt: »Explanations account for why something exists or occurs or is the way it is. Explications account for what it is for something to exist or occur or be a certain way.« (Audi [2008], 208, Herv. i. O.). 27 Galli (1955). 28 Für die erste Option plädieren bspw. Lukes (22005), Connolly (1993), Strecker (2012), für letztere McLachlan (1981), Forst (22018). 24 25

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Einleitung

(v) Verhältnis des Machtbegriffs zum Begriff der Ursache / Verursachung

An die Frage nach der genuinen Erklärungskraft und -funktion des Machtbegriffs schließt sich die Frage nach dem generellen Zusammenhang von Macht- und Kausalität bzw. Ursache und Verursachung an. Traditionell wird das Thema Kausalität 29 als solches in den Disziplinen Metaphysik, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie verhandelt, der Begriff der Ursache wird in anderen Disziplinen sowie empirischen Einzelwissenschaften und theoretischen Programmen meist als Grundbegriff vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt. 30 Generell ist, so lässt sich mit Hüttemann skizzieren, die Erlangung von »Kausalwissen, d. h. [. . .] Wissen bezüglich der Ursachen eines Geschehens« 31, aus mehreren Gründen relevant. Es geht darum, »Prozesse oder Abläufe«, also Bewegungen, zu verstehen und zu erklären, jene vorherzusagen oder in sie einzugreifen, und schließlich ist die Angabe von Ursachen eine Bedingung von Verantwortungszuschreibung. 32 In den Sozialwissenschaften ist insbesondere der letzte Faktor relevant, wobei die Angabe von Ursachen primär mit »the ideas of agency and productivity« verbunden ist. 33 Dies deutet bereits an, dass in der sozialwissenschaftlichen Anwendung bestimmte, aber auch variierende Konzeptionen von Ursache-Wirkung-Beziehungen zugrunde gelegt werden. In welchem Verhältnis stehen vor diesem Hintergrund nun der Machtbegriff und der Begriff und die Kategorie Kausalität zueinander? Bereits zu Beginn der ersten intensiven Diskussionen um den Machtbegriff in den 1960ern hatten einige Autor:innen auf einen engen Zusammenhang von Machtbegriff und Kausalbegriff hingewiesen. Der Zusammenhang ist wiederum in unterschiedlichen Registern, so etwa über einen begrifflichen Parallelismus, als Fundierungsverhältnis oder über geteilte Modelle, analysiert worden. Für William Riker bspw. sind »power and cause [. . .] closely related concepts«, insofern Macht »potential cause« ist. 34 Konzeptionelle Strukturen auf Seiten des Kausal29 Einer der einschlägigen Autoren zu diesem Thema, Mario Bunge, hat dazu angeregt, »das Kausalproblem« bzw. »das Wort ›Kausalität‹« in dreierlei Hinsicht semantisch zu unterscheiden: Erstens sei damit unter dem Terminus »Verursachung« (»gleichbedeutend mit dem Kausalnexus«) eine Kategorie der allgemeinen und speziellen Verbindung zwischen zwei zentralen realen Sachverhalten verstanden, zweitens verweise es als »Kausalprinzip oder Prinzip der Verursachung« auf einen gesetzesmäßigen Zusammenhang, drittens werde mit Kausalität eine Doktrin des »kausalen Determinismus« formuliert, die die »universelle Gültigkeit des Kausalprinzips« postuliert (Bunge [1987], 3–4, Herv. i. O.). 30 Hüttemann (22018), 5. 31 Ebd., 4. 32 Ebd., 5. 33 Marini / Singer (1988), 347. 34 Riker (1964), 347.

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begriffs würden sich aufgrund eines begrifflichen Parallelismus beider Begriffe auch im Machtbegriff niederschlagen. 35 Eine häufig vertretene Position lautet, dass dem Machtbegriff einer bestimmten Tradition, nämlich jener, die maßgeblich von der Machtkonzeption von Thomas Hobbes geprägt worden ist und zur berühmten Definition von Macht von Max Weber 36 führt, ein bestimmtes Modell von Kausalität bzw. Kausalbeziehung zugrunde liegt. Bei diesem Modell handelt es sich um das neuzeitliche kausalmechanische Modell von naturgesetzlich grundiertem (An-)Stoßen und Druck(ein)wirkung, das häufig mit dem prominenten Bild vom Anstoßen einer Billardkugel in Analogie gesetzt wird. 37 Anstoßen meint hier genau genommen das In-Bewegung-Setzen einer Kugel durch eine andere Kugel in der Kollision der Kräfte beider Kugeln. 38 Da sich das kausalmechanische Modell von Ursache und Wirkung immer auf (unbelebte oder belebte) Körper als grundlegende Einheit der Bewegung und des (externalen) Angestoßenwerdens bezieht, wird die mechanistische Modellierung gelegentlich auch als ›physikalische‹ oder ›physikalistische‹ Konzeption von Macht bezeichnet. Nietzsche scheint hier einen historischen Einschnitt zu markieren, hat sich mit ihm doch der Bezug zum Physischen im Macht-Denken vom Physikalischen zum Physiologischen verschoben: »Bei Nietzsche ist es das dynamische Konzept ›Leben‹, das den angestammten Physikalismus des Machtdenkens sprengt.« 39 Gleichwohl bewegt sich auch Nietzsches physiologisches Macht-Denken, wie noch gezeigt wird, nicht jenseits der Grundkategorie der Kausalität, sondern umspielt den Schatten der neuzeitlichen mechanischen Konzeption der UrsacheWirkung-Beziehung. 40 35 Ebd. Ähnlich bereits Simon (1957), 5: »If we can define the causal relation we can define influence, power, or authority, and vice versa.« 36 Max Weber bestimmt Macht als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« (Weber [2013], 210). Vgl. zur nach wie vor anhaltenden Dominanz von Webers Machtbegriff in den Sozialwissenschaften Anter (52021), 40–43. 37 Eine metaphorologisch orientierte Untersuchungsperspektive würde hier im Machtbegriff in Anschluss an Blumenberg die »Hintergrundmetaphorik« bzw. »absolute[] Metapher« des »neuzeitliche[n] komologische[n] Mechanismus« durchscheinen sehen, vgl. Blumenberg (1998), 98. Ich danke Andreas Anter für diesen Hinweis. 38 Terence Ball hat als einer der wenigen das mechanische Modell bei Hobbes, Locke und Hume in seiner Relevanz für den Machtbegriff herausgearbeitet. Er hat auch auf die Relevanz der mit der Mechanik verbundenen Kinetik hingewiesen: »Change or movement is, on this view, always indicative of the presence of some causal antecedent or other; indeed, in the absence of oberservable motion, no causal inference or power-attribution can be claimed.« (Ball [1975a], 215). Der Zusammenhang von Ursache und Bewegung bei Hobbes wird in seiner ganzen Breite ausführlich in dieser Arbeit untersucht; vgl. Kap. 7.3 und 7.4. 39 Gehring (2008), 179. 40 Vgl. dazu ausführlicher Kap. 8.3.3 a).

Einleitung

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In der anglo-amerikanischen Politikwissenschaft, die stärker in der Tradition der analytischen Philosophie steht, wurde hingegen in den 1960ern und 1970ern die kausale Definition von Macht nicht als Hypothek, sondern als begriffliche Ressource für – wohlgemerkt behavioristisch orientierte – sozialwissenschaftliche Erklärungen aufgefasst. So rekurrieren bspw. die einschlägigen Konzeptionen von Macht bei Dahl, Bachrach und Baratz, die von Steven Lukes als »eindimensionale« und »zweidimensionale« Machtkonzeptionen charakterisiert und um eine dritte ›Dimension‹ ergänzt worden sind, auf einen gemeinsamen Kern 41: Sie basieren, so Lukes' Analyse, auf der Vorstellung eines »primitive (causal) notion« von Macht, wonach »A exercises power over B when A affects B in a manner contrary to B's interests«. 42 Auffällig ist in den Diskussionen um den kausal-mechanischen und physikalischen Charakter von Machtkonzeptionen, dass gerade das kausale und physikalische Moment von einigen Kommentator:innen als historisch überholt und daher als defizitär oder zumindest ergänzungsbedürftig identifiziert wird. In dieser Position gehen die Attributionen ›physikalistisch‹ und ›mechanisch‹ in der Regel mit einer pejorativen Konnotation einher. 43 Einige Vertreter:innen dieser Position und auch postmarxistische und -strukturalistische Ansätze, die vorschlagen, Macht in den Termen ›Hegemonie‹, ›Antagonismen‹ und soziale Inklusion und Exklusion zu konzeptualisieren (z. B. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Jacques Derrida) stehen dafür, Macht nicht weiter durch die Kausalitätskategorie zu fundieren, sondern sich gänzlich von der Idee von Macht als Verursachung zu verabschieden. 44 Anders gelagert ist hingegen Niklas Luhmanns Kritik der kausalen »Prämissen« der, wie er es nennt, »klassischen Theorie der Macht«. 45 In seiner Theorie von Macht als Kommunikationsmedium weist er darauf hin, dass »[d]ie theorieleitende Kausalvorstellung [. . .] nicht negiert, [. . .] aber ab-

Vgl. Dahl (1957), Bachrach / Baratz (1962), Lukes (22005). Lukes (22005), 30. Die Diskussion um die verschiedenen ›Dimensionen‹, ›Views‹ und ›Gesichter‹ von Macht ist häufig rekonstruiert worden und soll an dieser Stelle nicht erneut wiedergegeben werden; für eine übersichtliche Darstellung und abschließende Ergänzung dieser Diskussion sei anstelle dessen auf Haugaard (2012) verwiesen. Für einen klugen kritischen Kommentar zu den begrifflichen Unschärfen dieser Debatte siehe McLachlan (1981). Die Formelzeichen A und B für zwei – zumeist asymmetrisch bestimmte – Relata einer Machtbeziehung haben sich früh im Machtdiskurs etabliert. 43 Vgl. Ball (1975a), (1975b); Ogilvy (1978); Honneth (1985), 173–175; Krause / Rölli (2008a), 14; Gehring (2008), 178–184, (2016), 87–89; Hetzel (2008), 142. 44 Torfing (2009), 108–109. Torfing spricht daher auch von einer »anti-foundationalist conception of power«, die den »causationist« Machtbegriff, der entweder Handlungsmacht (»agency«) oder Strukturen kausale Effekte zuspricht, überwinden müsse (ebd.). 45 Luhmann (1969). 41

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strahiert werden« müsse. 46 Abstrahiert werden müsse von der neuzeitlichen Konzeption von Ursache und Wirkung, jedoch nicht von der Kausalkategorie als solcher. 47 Zwar werden in diesem Kontext häufig die Begriffe von Ursache, Wirkung, Kraft / Kräfte und Dynamik aufgegriffen, allerdings blieb bisher sowohl die analytische als auch die begriffsgeschichtliche Verhältnisbestimmung von Kausalität, Theorie der Natur (als Physik, Naturphilosophie oder Physiologie) und Macht jenseits einer Fokussierung auf mechanische Ursache- und Wirkungsmodelle noch ungenügend aufgearbeitet. 48 Dies ist zum einen erstaunlich, da seit ca. dreißig Jahren in verschiedenen philosophischen Diskussionen die Thematik von Kausalität nach einer langen Phase der Negierung in der ersten Hälfte und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine intensive Rehabilitation erfahren hat. 49 Zum anderen bleibt, wie bereits erwähnt, das begriffliche Verhältnis zum weiten Begriff von Bewegung und Veränderung unaufgearbeitet; jener wird tendenziell als nicht weiter analysierbarer und diskutierbarer Grundbegriff aufgefasst und aufgegriffen. 50

(vi) Die Vielfalt der Machtkonzeptionen: Pluralismus vs. Monismus

Eine ebenso langwierig schwelende Debatte wie diejenige um das Verhältnis von Machtbegriff und Kausalkategorie ist diejenige um einen angemessenen Ordnungsversuch angesichts der Vielfalt von Machtkonzeptionen und Verwendungsweisen des Terminus ›Macht‹. Sie dreht sich um die Fragen: Gibt es einen oder mehrere Machtbegriffe? Vollzieht sich die Differenzierung von 46 Luhmann (21988), 11; vgl. Luhmann (1969), 151. Für den Systemtheoretiker Luhmann charakterisiert sich Macht allerdings nicht durch »das konkrete Bewirken bestimmter Wirkungen«, sondern als »eine Chance [. . .], die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge zu steigern.« (Luhmann [21988], 11, 12). Macht habe damit eine »katalytische Funktion«, die »ihrerseits bereits auf sehr komplexen Kausalzusammenhängen« beruhe. (Ebd., 13). 47 Luhmann (1969), 150–151. Luhmann fährt fort: »Das hieße die Ursächlichkeit der Ursache Macht nicht mehr in alter Weise auf eine ihr immanente Kraft noch auf eine naturgesetzlich notwendige Korrelation zwischen bestimmten Ursachen und bestimmten Wirkungen zurückzuführen, sondern auf die Selektivität von Systemstrukturen.« (Ebd., 151). 48 Siehe als Ausnahme von der Regel zum Verhältnis von Affekt als »Wirkungsimmanenz« und der grundsätzlichen Bewegungsbezogenheit die Studie Immersive Macht. Affekttheorie nach Spinoza und Foucault von Rainer Mühlhoff (2018). 49 Exemplarisch sei hier auf die empfehlenswerten Monografien von Losee (2011), Illari / Russo (2014), Hüttemann (22018) verwiesen. 50 Dies ist gleichwohl nicht allein ein Versäumnis der politischen Theorie; auch in philosophischen Debatten verschiedener Register begegnet einem die Unhinterfragtheit des Bewegungsbegriffs.

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Einleitung

Macht in generischer Hinsicht, d. h., gibt es verschiedene Formen und Arten (kinds) von Macht? Wie verhalten sich die verschiedenen Konzeptionen und Verwendungsweisen von Macht zueinander? Ein probates Mittel ist die Aufstellung von Typologien und Ordnungsschemata. 51 Die Aufstellung von Typologien gibt freilich noch keine Antwort auf die metabegriffliche Frage der Form der Einheit und Vielfalt der Machtbegriffe. Hierzu haben Steward R. Clegg und Mark Haugaard den Vorschlag gemacht, dass die verschiedenen konzeptuellen Bestimmungen und Verwendungsweisen im Sinne einer ›Familienähnlichkeit‹ im Anschluss an Wittgenstein zu verstehen sind: Sie lassen sich wie Mitglieder einer Familie aufgrund einer hinreichenden Ähnlichkeit gruppieren, ohne dass die Machtkonzeptionen von einem zugrundeliegenden Begriff zusammengehalten werden. 52 Haugaards und Cleggs Bestimmung des Machtbegriffs verfährt damit anti-essentialistisch bzw. deflationär (es gibt nicht den oder einen Begriff von Macht für sämtliche theoretische und empirische Analysen) und pluralistisch auf der Ebene der Semantik (es gibt viele brauchbare Konzeptionen von Macht), ohne in einen begrifflichen Nihilismus (es gibt generell keinen sinnvollen oder geeigneten Machtbegriff) oder einen Relativismus (Machtkonzeptionen sind austauschbar) zu gleiten. Ein anderer pluralistischer Ansatz spannt sich über eine begriffliche Grundentscheidung von power to und power over auf. Hier ist eine intensive Debatte darüber entfacht, ob und inwiefern sich die Begriffe und Konzeptionen von Macht auf die definitorischen Formeln power to (›Fähigkeit‹/›Ermächtigung‹/›Vermögen‹ zu) und power over (Herrschaft / Machtausübung von A über B) bringen und im Hinblick auf diese Unterscheidung einordnen lassen, oder welcher der begrifflichen Definitionsansätze der plausiblere sei. 53 Die systematische Leitunterscheidung von power to und power over – und damit in der Tendenz plurale Orientierung – drückt sich auch begriffsgeschichtlich in verschiedenen 51 Vgl. für eine ausführliche Typologie Emmet (1971); Haugaard hat seinem einschlägigen Band Power: A Reader (2002) eine Übersichtskarte über Macht-Autor:innen und deren Theorieregister (»Analytical political theory – conceptual«, »Social theory – modern«, »Political theory – nonanalytical«, »Social theory – postmodern«) vorangestellt; Strecker (2012) hat einige instruktive schematische (An-)Ordnungsversuche zu Machtdimensionen und -verständnissen unternommen. 52 Clegg (1989); Haugaard (1997), 2–3, (2010). Haugaard identifiziert im Anschluss an Clegg drei Familien bzw. »Cluster« von Machtkonzeptionen (»›episodic power‹, ›dispositional power‹, ›systematic power‹«), die jeweils in verschiedenen Sprachspielen verwendet werden können (als die wichtigsten Sprachspiele identifiziert er das »normative« und das »analytische« Sprachspiel), welche selbst wiederum unterschiedliche »Paradigmen« und Zielführungen (»objectives«) adressieren (Haugaard [2010], 424–425). 53 Pitkin (1972), 276–279; Wartenberg (1988); Connolly (1993), 101–137; Morriss (22002), 32– 35; Göhler (2012); Haugaard (2012); Allen et al. (2014); Allen (2016); Pansardi (2012), (2018); Forst (22018), 60–65. In der feministischen Machtanalytik und -kritik wurde die Unterscheidung von power to und power over in um den Typ power with erweitert, vgl. Pansardi (2012), Pansardi / Bindi (2021).

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›Traditionen‹ und Filiationen des Machtbegriffs über die Unterscheidung von potentia und potestas aus, die in der Geschichte der Machtbegriffsbildung identifiziert werden. 54 Dem pluralistisch orientierten Ansatz steht der monistisch orientierte Versuch gegenüber, so etwas wie eine allgemeine Machttheorie und auf der Ebene des Begriffs eine integrative Definition von Macht anzubieten. Hinter dem definitorischen Ansatz steht weniger ein Bestreben nach einer essentialisierenden Fixierung des Machtbegriffs, sondern vielmehr das Bemühen, einen hinreichend flexiblen, aber zugleich auch einheitlichen begrifflichen Rahmen abzustecken, in dem sich eine Vielfalt der Machtkonzeptionen eintragen lässt. 55 In diese Richtung wies bereits die frühe und vielzitierte machtbegriffliche Arbeit von Robert Dahl (1957), die sich über das Medium einer »intuitiven Idee« von Macht einem kontrafaktischen machtbegrifflichen Schema annähert. »My intuitive idea of power«, so schreibt Dahl, »is something like this: A has power over B to the extent that he can get B to do something B would not otherwise do.« 56 Wenngleich der definitorische Ansatz gegenwärtig einen der belebtesten Diskussionsstränge in der Auseinandersetzung um den Machtbegriff bildet, ist er doch von einer gewissen Eindimensionalität gekennzeichnet, da das begriffsanalytische Anliegen bisher kaum mit einer begriffsgeschichtlichen Perspektivierung zusammengeführt wurde. Die definitorischen Ambitionen bleiben nach wie vor weitestgehend historisch uninformiert. 57 Die skizzierten Diskussionsstränge zeigen: Trotz intensiver systematischer Forschungen zum sozialen und politischen Machtbegriff sind einige deutliche Lücken und offene Flanken in der Erforschung dieses vielfältigen und komplexen Begriffs zu identifizieren. Diese betreffen zusammengefasst (i) metabegriffliche Aspekte der Begriffsbildung (die Varianz im ontologischen und methodologischen Status des Machtbegriffs, die Form der Einheit der Vielfalt der Machtkonzeptionen), (ii) eine historisch-systematische Analyse des Verhältnisses von Bewegung, Kausalität und Machtbegriff sowie (iii) eine historisch-systematische Beantwortung der Frage, was es bedeutet, dass die dynamis des Aristoteles der Vorgänger des sozialen und politischen Machtbegriffs ist. Letzteres birgt sogleich weitere Teilfragen: Wie lässt sich diese begriffliche ›Vorläuferschaft‹ systematisch untersuchen und konzeptuell bestimmen? Vor dem Hintergrund, dass die dynamis ein Begriff ist, der gleichermaßen der Naturphilosophie entstammt und in einem Diskursfeld zu verorten ist, das gemeinhin Vgl. Saar (2007), 234–246; Saar (2009). Vgl. Kap. 2.2. Vgl. z. B. Dowding (2012); Gilabert (2018). 56 Dahl (1957), 202–203, Herv. i. O. Sieben Jahre vorher plädierten bereits Lasswell und Kaplan (1952) für die Notwendigkeit einer begrifflichen Klärung. 57 Dieselbe Kritik übte bereits Ball (1975a) an den Debatten zum Machtbegriff in den 1970ern. 54 55

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Einleitung

als ›Metaphysik‹ bzw. von Aristoteles selbst als ›Erste Philosophie‹ bezeichnet wird, stellen sich außerdem folgende Fragen: Was bedeutet es, dass ein naturphilosophischer und metaphysischer Begriff der Vorgänger eines sozialen und politischen Begriffs ist? Wie lässt sich bestätigen oder begründet ablehnen, dass die dynamis ein Vorläufer des politischen Machtbegriffs ist? Welchen Erkenntnismehrwert hätte ein Studium der dynamis für die Untersuchung der Geschichte des Machtbegriffs? Die vorliegende Untersuchung widmet sich diesen Forschungsfragen mithilfe eines spezifischen Verständnisses von Begriffen im Allgemeinen und einiger untersuchungsleitenden Thesen.

1.2 Begriffsverständnis und untersuchungsleitende Thesen

Begriffsverständnis. Der Machtbegriff wird hier weder als Monolith vorgestellt, der sich den unterschiedlichen denk- und sozialgeschichtlichen Zeiten gemäße Gewänder anlegt, noch ist die Arbeit von der Vorstellung getragen, dass es sich bei der Geschichte des Machtbegriffs um eine ausschließlich diskontinuierliche Entwicklung handle, deren einzelne Etappen bloß retrospektiv in Form der Aneinanderreihung zusammengehalten sei. Jene Vorstellungen haben zwar ihre Plausibilität, sie weisen aber auch Limitationen und Einseitigkeiten auf. Unterstützt wird hier hingegen folgendes Begriffsverständnis: Begriffe sind nie nur der reflektierende Spiegel semantischer Gehalte ihrer diskursiven Umfelder oder Ausdruck der politischen Agenda ihrer Schöpfer:innen – Begriffe leben nicht nur durch ihre Kontexte. Auch gehen Begriffe nicht in einem wissenschaftlichen Modell auf oder lassen sich auf eine ›Definition‹ reduzieren. Begriffe weisen all diese Aspekte auf, in ihnen sind aber zugleich noch weitere Elemente eingelagert, als die Untersuchung und Beschränkung auf einen oder wenige dieser Aspekte hervorholen kann. Denn Begriffe konstituieren sich auch durch ihre strukturellen und konnektiven Merkmale, durch ihre Komponenten, in denen sich Elemente aus früheren Begriffen wiederholen, die von den Begriffsschöpfer:innen – einem Baumaterial gleich – wieder geholt werden und die sich in den (im wahrsten Sinne des Wortes) ›Wieder-Holungen‹ ihre Bahnen durch die Geschichte des politischen Denkens brechen. WiederHolungen und Trajektorien ereignen sich in, an und über diese Begriffskomponenten. Die Differenzierung zwischen Begriff und Begriffskomponenten und deren Elemente ist eine der leitenden Unterscheidungen der vorliegenden Arbeit. Der Begriff wird hier im Anschluss an den Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari als eine mannigfaltige Entität verstanden, die sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt und dessen Existenz und Wirkung sich in und zwischen den überlappenden Feldern der Geschichte des Wissens, der Philoso-

Begriffsverständnis und untersuchungsleitende Thesen

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phie und des politischen Denkens entfaltet. 58 Begriffe sind Agenten politischer Theoriebildung und praktischer Politik. Fernab eines Begriffshistorismus und einer Begriffsnarration fußt die vorliegende Arbeit auf der Perspektive genealogischer Nachforschung. Aber anders als die vielen derzeit populären historischen Ansätze in der Begriffsgeschichte und politischen Ideengeschichte folgt der hier vorgeschlagene Ansatz zur Untersuchung des Machtbegriffs nicht nur den sozialhistorischen, geistesgeschichtlichen und diskursiven Einbettungen (›Kontexten‹) eines Begriffs in der Form einer Geschichte des Begriffs. Vielmehr nimmt er das Werden eines Begriffs in den Blick, d. h., er zeichnet das evolutive Spiel in den heterogenen Komponenten eines Begriffs nach, das sich zwischen einer grundlegenden Konstruktion, der dynamis des Aristoteles, und kleinen Schöpfungen, den Machtkonzeptionen der Moderne und Gegenwart, aufspannt. Auf diese Weise können in der begrifflichen Untersuchung Aspekte am Machtbegriff untersucht werden, die eine rein semantisch orientierte Begriffsgeschichte nicht in den Blick zu holen vermag. Ausgehend von diesem an Deleuzes und Guattaris Begriffskonzeption angelehnten Begriffsverständnis und den skizzierten Desideraten in der Erforschung des Machtbegriffs können nun die folgenden forschungsleitenden Thesen formuliert werden.

These 1

Die dynamis des Aristoteles ist der Vorläufer des sozialen und politischen Machtbegriffs. Allerdings ist die dynamis kein einfacher Grundbegriff, sondern sehr komplex. Die dynamis ist ein Begriff mit zwei Konfigurationen, einer auf Bewegung bezogenen (›kinetischen‹) und einer auf die Konstitution des Seienden 58 Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari wird in Kap. 4.1 ausführlich vorgestellt. Deleuze und Guattari entfalten ihre Konzeption des Begriffs maßgeblich in dem gemeinsamen Text Was ist Philosophie? (2000) (nachfolgend mit der Sigle WPh im Fließtext zitiert). Hiernach kann ein Begriff weder mit einer Definition (Nietzsche, KSA 5, 317; vgl. Blättler [2015], 164) noch mit einem ›Sachverhalt‹, ›Faktum‹ oder einer ›Faktizität‹ zur Deckung gebracht werden (WPh, 29–30). Das grundlegende Modell, wonach Begriffe aus mehreren Komponenten bestehen, deren Herausarbeitung zum Verständnis des Begriffs notwendig ist, ist allerdings keinesfalls eine genuin poststrukturalistische Idee, sondern auch Basis der klassischen Begriffsanalyse in der Analytischen Philosophie. Überhaupt wird es im Methodenteil (Kap. 4) auch darum gehen, Deleuze und Guattaris Begriff des Begriffs durch Verweise auf andere methodologische Bestände in Philosophie und politischer Ideengeschichte aus dem Bereich des Theoretisch-Esoterischen herauszuholen und für eine erweiterte, hoch anschlussfähige Methodologie in der Begriffs- und Ideengeschichte im weiteren Sinne zu empfehlen. Dass sich Deleuze und Guattaris Begriff des Begriffs in dem weiten Sinne von concept als Ausgangsbasis für einen unkonventionellen Zugriff auf Begriffe eignet, hat bereits Philipp Wüschner (2016) auf eindrückliche Weise am Beispiel der antiken hexis, die eng mit der dynamis verwandt ist, gezeigt.

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Einleitung

bezogenen (›ontologischen‹) Konfiguration. Unter diesen beiden Konfigurationen ist es weniger die ontologische als vielmehr die kinetische dynamis (dynamis kata kine¯sin), die in die Geschichte des politischen Machtbegriffs hineingewirkt hat.

These 2

Die aristotelische dynamis kata kine¯sin steht in einer engen begrifflichen und diskursiven Beziehung zum Begriff der Bewegung; dies gilt auch für die exemplarisch untersuchten Machtbegriffe von Hobbes und Foucault. Der Begriff der Bewegung fungiert selbst wiederum als eine Art Relais, das die Konzeptualisierung des politischen Machtbegriffs mit dem Diskursfeld der Meta-Physik strukturell verbindet, da die Meta-Physik jener Bereich ist, in welchem der Begriff und die Thematik der Bewegung traditionell verhandelt werden. 59 Das Diskursfeld, das ich als ›Meta-Physik‹ bezeichne, umspannt die Naturphilosophie, Naturwissenschaft, Metaphysik der Natur und Ontologie. In den modernen Machtbegriffen wiederholen sich Elemente, die sich weder als physikalisch noch als metaphysisch, sondern vielmehr als ›meta-physisch‹ verstehen lassen. Auf diese Weise ist der politische Machtbegriff auch eng mit der Kategorie der Kausalität verknüpft, die ihrerseits Gegenstand sowohl der meta-physischen Diskurse als auch der Wissenschaftstheorie ist. Die begriffliche Verknüpfung ist von struktureller Natur und reicht daher über eine bloß methodologische Verbindung in der Form von Naturalismen, Physikalismen und Metaphern hinaus.

These 3

Um die verschiedenen, gleichermaßen historischen wie analytischen begrifflichen Bezüge sowohl zwischen kinetischer dynamis und Machtbegriff als auch zwischen Machtbegriff und Bewegungsbegriff auszuleuchten, bedarf es einer speziell konzipierten Analytik, die es ermöglicht, sowohl systematische Bezüge in einem Begriff als auch die historische Dimension der begrifflichen Kontinuität und Diskontinuität zwischen verschiedenen Konzeptionen von Macht herauszuarbeiten. Weder die klassische analytische Begriffsanalyse noch die Methodologien der philosophischen und politischen Begriffsgeschichte und der 59 Seit Aristoteles und im Anschluss an die ionische Naturphilosophie steht das Phänomen der Bewegung im Mittelpunkt einer programmatischen Physis-Wissenschaft, d. h. der »Wissenschaft von der φύσις«, wie es Gasser (2015), 125, treffend formuliert hat.

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politischen Ideengeschichte bieten für sich genommen das methodische und heuristische Instrumentarium für eine systematische Bearbeitung der vorangegangenen Untersuchungsthesen. Aufgrund dessen erscheint die Konstruktion einer integrativen Untersuchungsanalytik notwendig, die es vermag, die verschiedenen methodischen Zugänge zu integrieren. Aus den Thesen wird ersichtlich, dass die vorliegende Studie zwei zusammenhängende Untersuchungsunternehmen verfolgt: zum einen die Konstruktion einer Analytik, mit der die in den Untersuchungsthesen dargelegten begrifflichen Aspekte gezielt beleuchtet werden können – und damit zusammenhängend: die Erprobung dieser Analytik an der dynamis und an zwei exemplarischen Machtbegriffen im Lichte der Untersuchungsthesen. Zum anderen verfolgt die Studie ein historisch-systematisches Anliegen zur Analyse des sozialen und politischen Machtbegriffs, das die dynamis als Vorläufer und Vorprägung des Machtbegriffs und die enge Beziehung von meta-physischem Bewegungsdenken und Machtbegriff systematisch ausweist. Für die begriffliche Untersuchung sind neben der dynamis die Machtkonzeptionen von Thomas Hobbes und Michel Foucault ausgewählt worden. Die Auswahl begründet sich in mehrfacher Hinsicht: Beide Machtkonzeptionen bzw. Machtbegriffe haben für sich genommen eine große Wirkung in der Geschichte des sozialen und politischen Machtbegriffs entfaltet. Beide Machtbegriffe stellen, mit Foucault gesprochen, ›begriffliche Operatoren‹ für die Bildung des Machtbegriffs dar, d. h., sie haben den Machtbegriff ›als Ganzen‹ und seine Elemente auf wirkmächtige Weise arrangiert bzw. konfiguriert. 60 Sie stehen zudem exemplarisch für die wissenskulturellen und begriffsgeschichtlichen ›Epochen‹ der Neuzeit und der Moderne. Und schließlich lässt sich mit Hilfe der erkenntnisleitenden Thesen bei beiden ein gemeinsamer Befund aufweisen: Beide Machtbegriffe scheinen – zumindest in vielen Darstellungen der politischen Theorie und Ideengeschichte – kaum Gemeinsamkeiten mit der aristotelischen dynamis zu haben und auch keine begrifflichen Verbindungen zum Begriff der Bewegung einzugehen. Mit der dargelegten Analytik können jedoch überraschende Korrespondenzen und Zusammenhänge systematisch aufgezeigt werden.

60 In der Vorlesung Über den Willen zum Wissen (fortan zitiert mit der Sigle WW) am Collège de France (1970–1971) charakterisiert Foucault die Eingangspassage von Aristoteles’ Metaphysik sowie Passagen bei Descartes und Spinoza als »›philosophische[] Operator[en]‹« und versteht darunter die wirkmächtige Arbeit an der Disposition, Möglichkeit und Stellung »des philosophischen Diskurses schlechthin« (WW, 21). Innerhalb von wissenschaftlichen Diskursen können dazu bestimmte »›epistemologische Operatoren‹« in Texten von bestimmten Autor:innen auf der Ebene der Grundlagen einer Disziplin wirksam sein.

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Einleitung

1.3 Vorgehen

Die Arbeit verläuft in drei Schritten. Zunächst wird ein Überblick über die bisherige Forschung zur dynamis in der politischen Theorie und Ideengeschichte und ein Einblick in aktuell verbreitete Methodiken in der politischen Begriffsund Ideengeschichte gegeben (TEIL A, Kap. 2 und 3). Sodann wird angesichts des methodologischen Desiderats und im Hinblick auf die Untersuchungsthesen eine Analytik auf der Basis der Begriffskonzeption von Deleuze und Guattari entwickelt, die ich ›begriffliche Diagrammatik‹ nenne (Kap. 4). Mithilfe der Analytik wird die Untersuchung eines Begriffs im Hinblick auf zwölf begriffliche Gesichtspunkte durchgeführt. Die zwölf Gesichtspunkte der Untersuchung verweisen zugleich auch auf die ›formalen‹ Komponenten eines Begriffs, sodass am Ende der Untersuchung sämtlicher Gesichtspunkte die Inhalte der begrifflichen Komponenten herausgearbeitet sind und die Grundlage eines umfassenden Verständnisses des untersuchten Begriffs gelegt ist. Das Ensemble der Komponenten nenne ich das ›Diagramm‹ eines Begriffs. Das Ensemble der Untersuchungsgesichtspunkte verstehe ich als ›diagrammatische Karte‹, da es aufgrund seiner spezifischen Abfolge die Untersuchung eines Begriffs entlang der zwölf Gesichtspunkte bzw. Komponenten systematisch anleitet. Am Ende der Untersuchung eines Begriffs bildet das vollständige Begriffs-Diagramm das Ergebnis einer ausführlichen und systematischen ›Kartierung‹ des untersuchten Begriffs. In den nachfolgenden Schritten wird es darum gehen, zunächst eine gründliche Untersuchung der dynamis des Aristoteles vorzunehmen (TEIL B, Kap. 5 und 6). Anschließend wird die Analytik der begrifflichen Diagrammatik an den Machtbegriff von Thomas Hobbes (Kap. 7) und an den Machtbegriff von Michel Foucault (Kap. 8) angelegt. Im Rahmen der jeweiligen begrifflichen Erkundungen werden für jede Komponente ›Wieder-Holungen‹ von begrifflichen Elementen der dynamis und strukturelle Bezüge zur Bewegung aufgezeigt. Auf diese Weise kann mithilfe der Analytik die bisher offene begriffsgeschichtliche Frage »Was bedeutet es, dass ein griechischer Begriff der Metaphysik und Naturphilosophie ein Vorläufer von einem modernen sozialen und politischen Begriff ist?« systematisch beantwortet werden. Die in der bisherigen Forschung lediglich postulierte Vorläuferschaft der aristotelischen dynamis für moderne Machtkonzeptionen kann durch den Nachweis von Kontinuitäten in den einzelnen Begriffskomponenten konkretisiert und diagrammatisch abgebildet werden. Die begriffliche Diagrammatik stellt daher einerseits eine Heuristik bereit, um einzelne Begriffskonzeptionen systematisch im Hinblick auf mehrere (hier: zwölf) Gesichtspunkte zu analysieren (›horizontale Diagrammatik‹), und andererseits können über den Vergleich der einzelnen Begriffskomponenten von verschiedenen Begriffen begriffsgeschichtliche

Vorgehen

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›Wieder-Holungen‹ analytisch aufgezeigt werden (›vertikale Diagrammatik‹). Im abschließenden TEIL C werden zentrale Erkenntnisse aus den diagrammatischen Untersuchungen der dynamis und der Machtbegriffe von Hobbes und Foucault zusammengetragen (Kap. 9) und einige systematische Schlussfolgerungen und Thesen für den sozialen und politischen Machtbegriff als Begriff der Bewegung aufgestellt (Kap. 10).

TEIL A: Forschungsstand und methodischer Zugang

2. Die dynamis als Vorläufer des politischen Machtbegriffs

In der Geschichte des abendländischen Denkens nehmen die Begriffe von Vermögen, Kraft, Macht und Möglichkeit neben dem Begriff der Ursache eine zentrale Stellung ein. Ihre Begriffsgeschichten weisen, das mag überraschen, allesamt auf einen antiken griechischen Terminus, nämlich den der dynamis, zurück. Unter Aristoteles erhielt der griechische Terminus dynamis eine begriffliche Prägung, die ihn überhaupt erst zu einem philosophischen und naturwissenschaftlichen Begriff werden ließ. 1 Als philosophischer Begriff hat sich die dynamis als äußerst produktiv erwiesen, indem sie gleich mehrere Denkregister und Semantiken fundiert hat: das Denken von Vermögen, Dispositionen, Möglichkeit und Macht. Anders ausgedrückt begründete die dynamis mehrere begriffliche und kategoriale Trajektorien. Diese haben sich in der Geschichte des Denkens auf vielfache Weise verschlungen, separiert, vermengt und ergänzt sowie in verschiedenen Wissensfeldern und fachlichen Disziplinen in unterschiedlicher Intensität, mit unterschiedlichen Konjunkturen und unterschiedlichen Begriffsworten und Transliterationen etabliert. So hat bspw. die englische Terminologie von power und powers die Eigenschaft, dass sie Kräfte, Dispositionen und Vermögen in der theoretischen Philosophie und Macht in der politischen und Sozialtheorie und Philosophie durch ein geteiltes Begriffswort vereint. In den auf die Untersuchung des Sozialen und Politischen ausgelegten Wissenschaften und Subdisziplinen der Philosophie hat sich daher die Unterscheidung eines Machtbegriffs im ›weiten‹ oder ›weiteren‹ Sinne und eines Machtbegriffs im ›engen‹ Sinne etabliert. 2 Mit ersterem wird dabei auf Macht als Begriff der Naturphilosophie, Wissenschaftstheorie und Metaphy1 Vgl. ausführlicher zur Etablierung und Aufwertung des Wortes dynamis in der griechischen Alltagssprache zu einem philosophischen Begriff Kap. 5. 2 Mit Hinrich Fink-Eitel lassen sich drei Horizontebenen des Machtbegriffs unterscheiden: Zunächst der Machtbegriff im »weitesten, oft amorphen Sinne«, der Machtbegriffe in der Metaphysik, Naturphilosophie und im übertragenen Sinne in der Rhetorik umfasst. Philosophiegeschichtlich fallen hierunter bspw. die dynamis des Aristoteles, Spinozas potentia, Lockes powers, Nietzsches Macht und Kräfte. (Fink-Eitel [1992a], 40, Herv. i. O.) Sodann Macht in einem »weiten« Sinne als »Können im Kontext menschlicher Handlungsmöglichkeit im allgemeinen«, und schließlich ein enger bzw. »strikte[r]« Begriff von Macht als »intersubjektive Machtausübung«. (Ebd., 39) Vor dem Hintergrund eines holistisch orientierten Gesamtansatzes zum Machtbegriff, der gerade die Trennung zwischen ›natürlicher‹ und ›menschlicher‹ Sphäre aufbrechen und die Meta-Physik im sozialen und politischen Machtbegriff herausarbeiten will, soll hier Fink-Eitels Unterscheidung zwischen ›weitestem‹

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Die dynamis als Vorläufer des politischen Machtbegriffs

sik und mit letzterem als Begriff der praktischen Philosophie und Sozialwissenschaften verwiesen. Im Folgenden soll anhand der Unterscheidung eines ›weiten‹ und ›engen‹ Machtbegriffs zunächst ein kurzer Einblick über die verschiedenen Anwendungsfelder gegeben werden, in denen gegenwärtig auf die aristotelische dynamis als Vorläufer oder Herkunftsbegriff verwiesen wird, um sodann die Referenz auf die dynamis in begriffsgeschichtlichen Rekursionen zum sozialen und politischen Machtbegriff zu vertiefen.

2.1 Der ›weite‹ Machtbegriff in der gegenwärtigen Philosophie

Eine Vielfalt an Termini. Nach einer langen Zeit der Dominanz einer von David Hume geprägten Auffassung von Kausalität, die die ontologische Existenz von Ursachen und Kräften zwar nicht grundsätzlich negiert, sie aber dem Feld epistemologischer Erörterung zuordnet, ist seit rund drei Jahrzehnten – insbesondere in der angloamerikanischen Philosophie – eine Wiederbelebung einer metaphysisch und ontologisch orientierten Auffassung von Macht und Kräften zu beobachten. Dabei erfährt der Machtbegriff in einem ›weiten‹ Sinne als Vermögen zu Wirkung und Veränderung sowohl in den klassischen Feldern der theoretischen als auch transregional in der praktischen Philosophie eine Renaissance und begriffliche Ausdifferenzierung. Unter den Termini der ›(causal) powers‹, der ›Dispositionen‹, ›passiven Kausalkräfte‹ (›liabilities‹), ›dispositionalen Eigenschaften‹, ›Vermögen‹ (›capabilities‹ und ›abilities‹), ›Potentialität(en)‹ (›potentiality / ies‹), ›Ursachen‹ (›causes‹) 3 und ›agency‹ wird bspw. in der analytischen Wissenschaftsphilosophie (Philosophy of Science und Philosophy of Social Sciences) 4, der (analytisch orientierten) Metaphysik, der Philosophie der Physik sowie in der Metaphysik der Natur und Naturphilosophie 5 mit und ›weiten‹ Machtbegriff nicht mitgegangen werden und beide anstelle dessen zusammengefasst als ›weiter‹ Machtbegriff betrachtet werden. 3 Vgl. für einen kleinen, wohlgemerkt kritischen, Überblick zur Renaissance von »Kausale[n] Kräfte[n], Dispositionen und Vermögen« Keil (22015), 301–317. 4 In der Philosophy of Science bzw. Wissenschaftsphilosophie siehe v. a. Cartwright (1989, 2007) und unter dem metatheoretischen Label des ›Critical Realism‹, der generelle Wissenschaftsphilosophie und spezielle Wissenschaftsphilosophie der Sozialwissenschaften verbindet und auf einer Ontologie kausaler Kräfte aufbaut, z. B. Bhaskar (1975), Archer (1998), Sayer (2000), Heil (2004), Kaidesoja (2013) Frauley / Pearce (2016), Groff (2013, 2016) und für eine pointierte knappe Einführung Gorski (2013). 5 Im Bereich der modernen Naturphilosophie und Philosophie der Physik optiert Esfeld (2008) eingeschränkt für eine Metaphysik der Kräfte (indem Kräfte nicht als intrinsische Eigenschaften, sondern als physische Relationen gedeutet werden). Dagegen werden eine Metaphysik der Kräfte und das Konzept der ›material agency‹ in der spekulativen Naturphilosophie – im Rekurs auf den deutschen Idealismus: Iain Hamilton Grant (2006, 2013) – und im transdisziplinären ›Neuen

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einem weiten Machtbegriff gearbeitet. 6 Dieser weite Machtbegriff kommt hier vermehrt auf den Ebenen der metaphysischen und ontologischen Bestimmung, der Epistemologie, Begriffsanalyse und Theorie der Explanation zum Einsatz und wird häufig flankiert von einer Metaphysik, einer Ontologie oder einem Realismus kausaler Kräfte oder Dispositionen. 7 Dabei drehen sich die Diskussionen grob zusammengefasst um Fragen (i) nach den Verhältnissen der Begriffe und theoretischen Einheiten zueinander (z. B. »Sind kausale Kräfte dispositionelle Eigenschaften?«), (ii) nach der ontologischen Verfasstheit von Macht und Kräften (»Was sind Kräfte und Dispositionen als Phänomene in der natürlichen Welt?«), (iii) danach, was die Annahme von powers für eine Theorie der Kausalität, Erklärung, Beobachtung und Beschreibung bedeutet 8, (iv) nach dem Verhältnis der Macht- und Kraftbegriffe zu Begriffen der Kausalität, Essenz / Natur, (Natur-)Gesetze, Regularität, Kontrafaktualität, Intervention, Handlung, Ereignis, Modalität, Notwendigkeit, (Nicht-)Determination, Transitivität, Aktivität und Passivität. 9 Diese philosophischen und wissenschaftstheoretischen Strömungen, die die Begriffe von Kraft / Kräfte, Macht und Disposition zu grundlegenden Elementen der Theorie erklären oder im Rahmen einer Metaphysik oder Ontologie powers 10 als reale Gegenstände der natürlichen Welt behandeln, werden als ›realistische‹ Positionen in Bezug auf Kräfte, Dispositio-

Materialismus‹ virulent. Auf ›Potentialität(en)‹ rekurrieren in jüngerer Zeit Diskussionen um die philosophische Interpretation der Quantentheorie (vgl. Eastmann / Epperson / Griffin [2016]) sowie Diskussionen um die Frage nach dem Status von Leben in der Philosophie der Biologie, Lebenswissenschaften und Medizin; siehe hierzu Lizza (2014) sowie umfassend das Handbook of Potentiality (Engelhard / Quante 2018). 6 Macht als Kraft und Vermögen wird von Christoph Menke (2013, 2017) in der ästhetischen Anthropologie und kunstphilosophischen Ästhetik als ein ›Grundbegriff‹ positioniert. 7 Kritisch zu dem Trend einer (neuen) Metaphysik der Kräfte: Barker (2013). 8 Vgl. Harré (1970), 97. 9 Die Publikationen haben, zumal transdisziplinär betrachtet, das Level der Unüberschaubarkeit erreicht, deshalb sei hier für den Einblick in diese theoretische Trendwende nur auf einige der zentralen Autor:innen, exemplarischen Studien und Sammelbände verwiesen. Im Feld der Metaphysik und der Metaphysics of Science (Mumford / Tugby [2013]) haben v. a. Harré/Madden (1971, 1973, 1975), Harré (1970) und Shoemaker (1980) die Entwicklung von Metaphysiken und Ontologien von ›(causal) powers‹ und ›Dispositionen‹ (meist als ›passive Kräfte‹ konzeptualisiert) eröffnet. Daran anknüpfende und neue Entwürfe finden sich u. a. bei Holton (1999), Ellis (2001, 2002, 2009), Hüttemann (22018), Keil (22015), Molnar (2003), Mumford (2004, 2009, 2013), Mumford / Anjum (2010, 2011) sowie in den anthologischen Sammelbänden von Marmodoro (2010), Bird / Ellis / Sankey (2011), Groff / Greco (2013) und Jacobs (2017), letztere auch unter Einbeziehung von causal power-Ansätzen in der Philosophie des Geistes. 10 Das englische Wort powers lässt, sich ähnlich wie dynamis, immer nur mit theoretischen Vorentscheidungen übersetzen (z. B. Vermögen, Kräfte, Dispositionen), weshalb hier auf eine Übersetzung verzichtet wird.

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nen und Ursachen charakterisiert und z. B. als ›dispositionaler Realismus‹ oder ›power(s)-based approach‹ gekennzeichnet. 11 Machtdenken als Aristotelismus. Da sich diese Stränge eines Macht- bzw. kräfterealistischen Denkens explizit oder implizit in die Trajektorien der aristotelischen dynamis einreihen, werden sie auch als eine Form von ›neuem‹ oder Neo-Aristotelismus bezeichnet. 12 Bezüglich des weiten Machtbegriffs sind in den aktuellen philosophischen Diskussionen mindestens zwei Aspekte auffällig. Zum einen gehen die Begriffe von Kausalität und Macht eine enge Beziehung, nahezu differenzielle Identität ein: Macht wird als kausale Wirksamkeit konzipiert. Zum anderen sind die Deklarierung und das Selbstverständnis als Weiterschreiben von und Verorten in einer ›aristotelischen‹ Theorietradition, zumindest aus der Perspektive der sozialtheoretischen und politischen Theorie, bemerkenswert. Denn der Rückgriff auf den Machtbegriff wird an sich sozialphilosophisch und -wissenschaftlich keineswegs als aristotelisch verstanden; vielmehr wird häufig der Machtbegriff in seiner Herkunft mit dem Beginn der Theorie und Analyse politischer Macht im Format einer politischen oder Staatstheorie der frühen Neuzeit identifiziert und mit den Autoren Jean Bodin, Thomas Hobbes, Spinoza und Niccolò Machiavelli assoziiert. 13 Anders als im metaphysischen, wissenschaftstheoretischen und naturphilosophischen Gegenwartsdiskurs, der sich seiner genealogischen Herkunft aus einem Denken (genauer: der spezifischen Konzeption) der dynamis in Aristoteles' Metaphysik und naturphilosophischen Schriften sehr bewusst ist, wurde im sozialwissenschaftlichen und politisch-theoretischen Diskurs die begriffliche, von der dynamis aufgezeigte Trajektorie des Begriffs der Macht lange vernachlässigt.

Vgl. Groff (2013), 1–10; Groff / Greco (2013). Vgl. z. B. Ott (2009); bezeichnend ist auch der Sammelband Powers and Capacities in Philosophy: The New Aristotelianism (Groff / Greco [2013]) sowie Mumford (2014). Ob tatsächlich alle powers-basierten Ansätze zurecht auf Aristoteles verweisen, bezweifelt Charlotte Witt (2008). Ihr zufolge zeichneten sich diese Ansätze vielmehr philosophiegeschichtlich ex negativo durch einen ›Anti-‹ oder ›Non-Humeanism‹ aus. 13 Es wäre jedoch ein begrifflich-theoretischer Fehlschluss, wenn die Genealogie und Genese eines ›politischen‹ Begriffs, d. h. eines Begriffs, dem innerhalb eines Diskurses der Politik oder des Politischen eine gewichtige Bedeutung attestiert wird, mit dem Beginn der Gegenstands- und Theoriebildung – hier von Macht – zusammengelegt würde; dieser Fehlschluss ist tendenziell vorzufinden bei Blumenberg (2015a), 27, und Plessner (2003). 11 12

Die dynamis in der Geschichtsschreibung des politischen Machtbegriffs

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2.2 Die aristotelische dynamis in der Geschichtsschreibung des politischen Machtbegriffs

Zwei Herkunftsgeschichten des politischen (›engen‹) Machtbegriffs. Einer verbreiteten begriffsgeschichtlichen Narration zufolge fällt die Entstehung des politischen Machtbegriffs mit einer »terminologische[n] Ausdifferenzierung« einerseits von Macht als allgemeinem oder göttlichem Vermögen (potentia, Potentia Dei, Potentia Absoluta) sowie als Begriff der Staatsphilosophie und andererseits mit der begrifflichen Gegenübersetzung und Paarung von »potentia und potestas und der Abgrenzung zu auctoritas und violentia« in der frühen Neuzeit zusammen. 14 Die Geburt des politischen Machtbegriffs als ›enger(er)‹ Machtbegriff beginnt hiernach also mit einer »Bifurkation, einer Zweiteilung des Begriffs« von Macht in potentia und potestas. 15 Das Wort potentia stellt wiederum die lateinische Transliteration der aristotelischen dynamis dar. 16 Begleitet wird dieses machtbegriffliche Narrativ von einem anthropologischen und individualistischen Konzept von Macht, das Macht (ausschließlich) als Attribut von Menschen und menschlichen Beziehungen begreift. 17 Für die politische Ideen- und Begriffsgeschichte und den sozial- und politischtheoretischen Diskurs ergibt sich daraus die Tendenz, die Genese desjenigen Machtbegriffs, der als ›politisch‹ qualifiziert wird, mit der frühneuzeitlichen begrifflichen Differenz von potentia und potestas einsetzen zu lassen und es – wenn überhaupt – bei einem Verweis auf den griechischen Vorgängerbegriff der dynamis in der Form eines einleitenden, schmal gehaltenen begriffshistorischen Exkurses (oder schlichtweg bei einem nicht weiter ausgeführten Hin14 Saar (2009), 571, vgl. 577. Vgl. zur Metaphorik der Einengung und Reduzierung des weiten Machtbegriffs mit seinem ›Politisch-Werden‹ auch Röttgers (1990), 42–43. Alternativ dazu setzt Green in der Routledge Encyclopedia of Philosophy die Unterscheidung des Machtbegriffs in einer allgemeinen und einer engen Verwendung an das Bezugssubjekt an: »The general notion of power involves the capacity to produce or prevent change. In social and political philosophy, narrower conceptions of power specify the nature of these changes«. (Green [2006], 610) Interessant ist hier, dass der Bewegungsbezug zu einer differentia im Machtbegriff ausgebaut wird. 15 Gehring (2008), 176, nach Röttgers (1990), 113–126. 16 Gelegentlich, aber eher selten wird im politisch-begriffsgeschichtlichen Kontext korrekterweise darauf hingewiesen, dass die dynamis-Konzeption des Aristoteles in der dynamis-Verwendung in Platons Sophistes seine philosophische Vorzeichnung hatte (ausführlicher dazu in Kap. 5.1). Fragwürdig erscheint jedoch der Ansatz, Platons Sophistes (getreu dem Whitehead’schen Bonmot über den Fußnotenstatus aller Philosophie nach Platon) zur primären konzeptuellen Herkunft zu stilisieren und mit der potentia activa und potentia passiva der Scholastik unter Auslassung der Begriffsbildung der dynamis bei Aristoteles kurzzuschließen, wie dies bspw. bei Röttgers (2011), 1480–1481, zu finden ist. 17 Vgl. Gerhardt (1996), 47. Kersting (1991), 136, nennt diesen Typ Machttheorie deshalb auch passend »›Subjektivitätstheorie der Macht‹«. Heinrich Popitz hatte ebenfalls eine »Anthropologisierung des Macht-Konzepts« in der Neuzeit konstatiert (Popitz [21992], 21).

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weis) zu belassen. 18 Aus dieser Perspektive ereignete sich eine Art ›PolitischWerden‹ des weiten Machtbegriffs der potentia mit ihrer Ausdifferenzierung. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auch kursorisch auf die (vermeintlich) naheliegenden Termini aus der griechischen politischen Philosophie kratos (›might‹, ›strength‹, ›power over‹; ›Macht‹ einer Person oder von Gruppen), arche¯ (›Anfang‹, ›Beginn‹, ›Ursprung‹, ›Prinzip‹, ›Element‹; metaphorisch: ›Herrschaft‹, ›Autorität‹, ›Richteramt‹) und bia (›körperliche Stärke‹, ›Kraft‹, ›Gewalt[akt]‹) 19 hingewiesen 20 – jene Begriffe, die freilich auch in der Politik und Nikomachischen Ethik des Aristoteles verwendet werden. In einem strengen begriffsgeschichtlichen Sinne sind arche¯, kratos und bia zwar für sich genommen Termini der politischen Theorie von Herrschaft, Regierung, Autorität, sie bilden jedoch nicht den begrifflichen Ausgangspunkt für diejenige Konzeption politischer Macht, die sich aus der potentia und damit aus der dynamis begründet. 21 Insgesamt lässt sich die machtbegriffliche Darstellung, die die neuzeitlichscholastischen Begriffe von potentia und potestas in den Vordergrund der Geschichte des Machtbegriffs rückt, als potentia-potestas-These bezeichnen. Im sozialwissenschaftlichen Kontext bildet sie gegenüber der Rückführung auf die aristotelische dynamis die dominante Herkunftsbeschreibung für den politischen Machtbegriff. Hingegen stellt die systematische Rückführung auf die dynamis in Aristoteles' Metaphysik und Physik, die hier als dynamis-These bezeichnet sei, eine bis heute eher marginalisierte und unzureichend explizierte Herkunftsthese für den sozialen und politischen Machtbegriff dar. Ein Grund dafür dürfte in einer disziplinären Engstellung der politischen Begriffsgeschichte liegen, die sich mit einer Herkunftsbestimmung eines ihrer Basisbegriffe außerhalb des Bereichs der politischen Theorie und Geschichts-

18 Vgl. z. B. Walter (1964); Arendt (182012), 52–53; A. O. Rorty (1992), 12–13; Morriss (22002), 19– 20, 99; Stockhammer (2009), 62–66; Lindahl (2015), 167–170; Meier / Blum (2019), 18–19. Exemplarisch für die begriffsgeschichtlichen Preliminarien, die mit der potentia/potestas-Differenz einsetzen: Hastedt (2016a), 19–27. 19 Die Übersetzungen orientieren sich an den einschlägigen Begriffslexika des Altgriechischen von Liddell / Scott / Jones (LSJ) und The Brill Dictionary of Ancient Greek (BDAG) von Franco Montanari, hier insbesondere an der Online-Version des LSJ, verfügbar unter dem Thesaurus Linguae Graecae® (TLG®). 20 Vgl. z. B. ausführlich Walter (1964), 350–355; Chédin (1994). Berger (2009), 21–23, setzt Macht mit Herrschaft gleich und verweist daher auf arche¯ als Vorläuferbegriff des Machtkonzepts – eine Interpretation, die hier zurückgewiesen wird. Vgl. ähnlich bereits Röttgers (1990), 41. Stattdessen wird in der vorliegenden Arbeit dafür argumentiert, die politische arche¯ als kategorialen Nachbarbegriff der dynamis zu verorten, vgl. Kap. 6.4.1 (K11). 21 Vgl. Walter (1964), 351; Lichtblau (1980), 586; Chédin (1994), 22; Röttgers (1990), 41–42.

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schreibung schwertut. 22 Hier blieb der ›weite‹ oder ›allgemeine‹ Machtbegriff entsprechend lange Zeit außerhalb des gegenständlichen Radars oder wurde dezisionistisch als Begriff der Ontologie und Metaphysik charakterisiert, der der Begriffsbildung in der Sozialtheorie, der politischen Theorie und Philosophie vorausgehe und daher davon zu trennen sei. 23 Sobald jedoch das Blickfeld erweitert und insgesamt Metaphysik und politische Theorie zusammen betrachtet werden, fällt es leichter, den Machtbegriff im weiten Sinne in die machtbegriffliche Reflexion einzubeziehen und damit auch die aristotelische dynamis als seinen veritablen Vorläufer (an)zuerkennen und in die begriffliche Betrachtung zu integrieren. Aus dieser metaphilosophischen Perspektive erscheint dann die dynamis des Aristoteles als Vorläufer eines ›weiten‹ Machtbegriffs oder gar einer »ganze[n] Traditionslinie« 24 im politischen Machtbegriff, nämlich derjenigen Traditionslinie, die Macht als power to und in Termini von Vermögen zu Wirkung und Produktion konzeptualisiert. 25 Diese Perspektive bzw. die dynamis-These ist nicht selten mit dem Hinweis verbunden, dass politische Begriffe generell in einem engen Zusammenhang mit metaphysischen Philosophemen stehen oder eine »metaphysische Dimension« aufweisen. 26 In jüngerer Zeit wird die dynamis-These u. a. von Kurt Röttgers, Georg Zenkert, Martin Saar, Philipp Stoellger und Kerstin Andermann sowie Nassima Sahraoui vertreten. 27 22 Etwas drastischer drückt es Röttgers aus: »Der zweite Usus, gegen den ich mich wende und der zugleich jeden sinnvollen Zugang zur Tradition des machttheoretischen Denkens versperrt, ist die Reduktion des Verständnisses des Begriffs der Macht auf den von politischer Macht. Gerade eine gewissenhaft durchgeführte Begriffs- und Theoriegeschichte der Macht sollte uns darüber belehren können, daß diese Reduktion modernen Ursprungs ist und sich allenfalls auf die jeweilige Borniertheit des einzelwissenschaftlichen Fachbetriebs berufen kann, der sie entstammt und aus der sie ihre scheinbare Selbstverständlichkeit bezieht – auf keinen Fall aber auf die Tradition des Machtbegriffs in seinen vielfältigen Schattierungen selbst. Alle bedeutenden Machttheorien der Spätantike, des Mittelalters und der Neuzeit verknüpfen metaphysische und politische Implikationen des Machtbegriffs.« (Röttgers [1990], 41–42. 23 Martin Saars Ansatz der Immanenz der Macht (2013) im Anschluss an Spinoza versucht hingegen, den ›weiten‹ Machtbegriff als zentralen Begriff für die Theoriebildung in der politischen Theorie und Sozialphilosophie zu restituieren. Der weite Machtbegriff wird hier vor allem ontologisch als Macht auf der Ebene der Konstitution von Sein-Können und von »Konstituierungsprozessen« im Sinne einer »generelle[n] Wirkfähigkeit« verstanden (Ebd., 140, 12). 24 Saar (2009), 571. 25 Ebenso verweisen auch analytische und definitorische Arbeiten, die Macht als dispositionalen Begriff konzipieren, sporadisch auf die aristotelische dynamis als Vorläufer der von ihnen bestärkten Machtkonzeption (z. B. Morriss [22002]). 26 Zenkert (2004), 14; vgl. ähnlich bereits Riedel (1979), 8. 27 Röttgers (1990), Zenkert (2004), Saar (2007), (2009), (2018b), Stoellger (2008) und Andermann (2019) sowie Sahraoui (2022). Zwei aktuelle Monografien zeichnen die Spuren, das Material und Potential der aristotelischen dynamis für das Denken von ›Kraft‹, ›Potential‹ und ›Verwirklichung‹ begriffs- und ideengeschichtlich nach: Sahraouis Untersuchung Dynamis. Eine materialisti-

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Die Herausforderungen der dynamis-These. Die dynamis-These identifiziert die aristotelische dynamis als begrifflichen Vorläufer des politischen Machtbegriffs. Die ›Vorläuferschaft‹ ist hier so zu verstehen, dass die griechische dynamis nicht nur formal der sprachliche Vorgänger der lateinischen potentia ist, sondern vielmehr begriffliche Ressourcen für den neuzeitlichen und modernen politischen Machtbegriff bereitstellt. Zwischen dynamis und politischem Machtbegriff besteht also eine Art materiale Beziehung. Allerdings sieht sich diese These mit der grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert, dass die dynamis ein komplexer, mehrschichtiger Begriff ist. Aristoteles unterscheidet nämlich zwei Verwendungsweisen, die sich (in der hier vorgeschlagenen Interpretation) als zwei Begriffsebenen oder Konfigurationen von dynamis abbilden: zum einen die dynamis als Prinzip der Bewegung und Veränderung des Einen in einem Anderen, die in der Aristoteles-Forschung ›kinetische dynamis‹ genannt wird; zum anderen die dynamis, die als Element des Begriffspaares dynamis und energeia (häufig übersetzt als Potenz / Potentialität und Akt / Wirklichkeit) auf eine Bestimmung des Seienden als dem der Möglichkeit und der Wirklichkeit nach Seienden selbst ansetzt und deshalb als ›ontologische dynamis‹ bezeichnet wird. Zwar wird diese Unterscheidung in den wenigen Reflexionen zur aristotelischen dynamis als Vorläufer des abendländischen politischen Machtdenkens aufgegriffen. Doch entweder wird der ontologischen dynamisKonzeption – und mit ihr den Termini der Möglichkeit und Potentialität – die entscheidende genealogische Rolle beigemessen, sodass die kinetische dynamis unterbestimmt bleibt. 28 Oder es wird auf die Unterscheidung hingewiesen und der kinetischen dynamis die für die politische Machtkonzeption entscheidende Rolle zugewiesen, wobei ihre begriffliche Struktur und Bezüglichkeit zum Begriffsgefüge der naturtheoretischen Bewegungsdefinition nicht aufgearbeitet wird. 29 Zusätzlich findet sich die dynamis in elementarer Funktion in der Definition der Bewegung in der Physik-Vorlesung des Aristoteles (Physik), sche Philosophie der Differenz (2022) sowie Clare Connors’ Studie Force from Nietzsche to Derrida (2010). Beide Studien stehen der vorliegenden Arbeit insofern in ihrem systematisch-historischem Anliegen nahe, als sie die dynamis als hinreichenden und konstituierenden Begriff für weitere Konzeptionen von Kraft, Macht, Vermögen, Möglichkeit und Wirklichkeit in der Geschichte des politischen Denkens in den Fokus stellen. Doch während Connors den Akzent auf die Begriffsfacette ›Kraft‹ und Sahraoui zusätzlich auf die Facetten von ›Potentialität‹ und ›Verwirklichung‹ und darin eine dekonstruktive Lesart (an)legt, rekonstruiert die vorliegende Arbeit die dynamis als Begriff der Bewegung. Sahraouis Studie konnte aufgrund der zeitlichen Überschneidung von Finalisierung und Publikation inhaltlich nicht weiter einbezogen werden. In der internationalen Diskussion zum Machtbegriff selbst gibt es nur wenige Verweise auf die dynamis, so bspw. kürzlich Marder (2019), 208–210. 28 So z. B. Röttgers (1990), 47–50, 56–61. 29 So z. B. bei Saar (2007), (2018b) und Zenkert (2004).

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die wiederum grundlegend ist für sämtliche seiner naturphilosophischen Texte, aber auch für das Textkonvolut der Metaphysik 30 – ein Aspekt, der in begriffsgeschichtlichen Thematisierungen des politischen Machtkonzepts weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Nur in vereinzelten Fällen werden die komplexe begriffliche Struktur der dynamis analysiert, verschiedene Ebenen des dynamis-Begriffs differenziert und im Hinblick auf die Begriffs- und Theoriebildung von Macht als Begriff des politischen Denkens betrachtet. Zu diesen raren Fällen in der Historiographie des Machtbegriffs im politischen Denken zählen die Ausführungen von Kurt Röttgers 31 im Rahmen seiner transdiskursiv angelegten »Semiologie (= Spurenkunde) der Macht« 32, die kritischen Entgegnungen zu Röttgers dynamis-Interpretation von Hinrich Fink-Eitel, Volker Gerhardts machtbegriffsgeschichtlicher Überblick zur Untersuchung von Nietzsches Machtkonzeption, Philipp Stoellgers Einführung in die Thematik von Sprache und Macht sowie am eindrücklichsten das Kapitel »Die Struktur der dynamis und das Kriterium politischer Macht« in Georg Zenkerts historisch-systematischer Untersuchung Die Konstitution der Macht. 33 In jüngster Zeit wiesen außerdem Martin Saar und Kerstin Andermann auf die Bedeutung der dynamis für die ›Traditionslinie‹ des auf der potentia basierenden Machtbegriffs (Spinoza – Nietzsche – Arendt/ Foucault/ Deleuze) hin. 34 Nachfolgend werden einige dieser Ausführungen zur dynamis als »Vorläufer der modernen Machtbegriffe« 35 näher skizziert. Röttgers' dynamis-Interpretation. Der bisher einzigen machtbegriffsgeschichtlichen Monografie Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik von Kurt Röttgers (1990) kommt das große Verdienst zu, eine umfangreiche und vielschichtige Untersuchung der Geschichte des Machtbegriffs im ›weiten‹ und ›engeren‹ Sinne bereitgestellt zu haben. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich die Studie daher nicht zu Unrecht als Standardreferenz. Röttgers' Auslegung ist insofern auch besonders wertvoll, als sie auf die große Bedeutung der aristotelischen dynamis für den philosophischen, aber auch für den politischen Machtbegriff hinweist. In der Interpretation der dynamis unterläuft der Studie jedoch eine folgenschwere Konfusion in Bezug auf die bei30 Natürlich zeichnet sich in dieser ersten Problembeschreibung bereits eine spezifische Interpretation und Lesart des aristotelischen Korpus, insbesondere des Zusammenhangs von Physik und Metaphysik ab. Ausführlicher dazu Kap. 6.2.1 und 6.2.3. 31 Röttgers (1990), 39–54. 32 Ebd., 5. 33 Vgl. Fink-Eitel (1992a, 1992b); Gerhardt (1996), 35–39, 304–305; Stoellger (2008); Zenkert (2004), 61–70. Weitere Studien zur dynamis im Kontext machtbegriffsgeschichtlicher und politischer Literatur sind mir nicht bekannt. 34 Saar (2007), (2009), (2013a) (2013b), (2018b); Andermann (2019). 35 Fink-Eitel (1992b), 35.

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den Konfigurationen der dynamis. Röttgers unterscheidet zwar richtigerweise zwischen einer ontologischen und einer kinetischen dynamis bei Aristoteles. 36 Er versäumt aber, die beiden Ebenen als solche und in ihrem (in meiner Interpretation) kontinuierlichen Verhältnis präzise zu bestimmen; und letztlich spricht er der ontologischen dynamis die größere Relevanz für die Geschichte des Machtbegriffs zu. Weiterhin differenziert Röttgers nicht hinreichend klar zwischen einer prädikativen, d. h. auf Vermögensprädikaten basierenden ›Möglichkeit‹ und einer logischen Modalität, also einer rein logischen ›Möglichkeit‹, die Aristoteles kategorial aus dem dynamis-Begriff exkludiert. 37 Dies ist eine interpretatorische Malaise, auf die auch Fink-Eitel hingewiesen hat: Daß Machttheoretiker wie Luhmann und Röttgers Macht als Modalität faßten [. . .], hat zu vertrackten Abwegen in der Machttheorie geführt. Macht = Möglichkeit im Sinne von Können wird nicht propositional, sondern prädikativ verwendet. D. h.: dieser Ausdruck steht nicht vor einem ganzen Satz, den er modalisiert (»es ist möglich, daß. . .«), sondern ist Teil eines Prädikats (»a kann x tun« = »a hat das Vermögen / die Macht, x zu tun«). [. . .] Sie [Macht] bezeichnet eine wirkliche Disposition, ein wirkliches Vermögen. 38

Röttgers' von der Relevanz der modalen oder ›ontologischen‹ dynamis einerseits und der mangelnden Präzision des Modalitätsform andererseits geprägte Interpretation wurde von vielen Rezipient:innen ohne Korrektur übernommen. Exemplarisch sichtbar ist dies an dem von Ralf Krause und Marc Rölli herausgegeben Sammelband Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart (2008), in dem sowohl die Herausgeber als auch einige beitragende Autor:innen die begriffsgeschichtliche Analyse von Röttgers übernehmen. Im Gegensatz zu Röttgers trennt Fink-Eitel in seinem Aufsatz »Dialektik der Macht zwar präzise die kinetische‹ und ontologische dynamis und interpretiert sie in einem Erweiterungsverhältnis zueinander, bewertet dann aber auch die ontologische dynamis, die er als »substantiell-monologische[n] Vermögensbegriff« charakterisiert, als diejenige Konzeption, die »philosophisch Karriere machte«. 39 36 Vgl. auch Zenkert (2004), 63, Fn. 32, der ebenfalls in Röttgers Interpretation der dynamis eine »Vermengung« von kinetischer und modaler Möglichkeit konstatiert. 37 Röttgers (1990), 47–50, 54–61. Zum Verhältnis der dynamis bei Aristoteles als prädikativer Term eines auf Vermögen basierenden Möglichkeitsbegriffs siehe ausführlich Wolf (22020), 9–15 und Jansen (22016). 38 Fink-Eitel (1992b), 38, Fn. 21, vgl. Fink-Eitel (1992a), 284, Fn. 11. 39 Fink-Eitel (1992b), 44. Fink-Eitels Interpretation dürfte sich vor allem daraus ergeben, dass er den Machtbegriff in seiner Fortsetzung aus der aristotelischen dynamis auf die Absolutierung des Möglichseins als ›Geworfensein‹ nach Heidegger zulaufen sieht. Denn die »Geworfenheit des Entwurfs« sei schließlich nichts anderes als ein »Macht-sein-müssen« (ebd., 47).

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Ontologische Verweise auf die dynamis. In der politischen Philosophie weist Giorgio Agamben auf die philosophie- und wissensgeschichtliche Zentralstellung der dynamis hin. Seine Interpretation zeichnet sich allerdings durch eine mehrfache Problematik aus: Obgleich er auf den doppelten Kontext der Physik und Metaphysik bei Aristoteles hinweist, bleibt er letztlich auch einer allgemein ontologischen Akzentuierung verhaftet. Außerdem nimmt er keine binnenstrukturelle Unterscheidung zwischen kinetischer und ontologischer dynamis vor. 40 Ein weiteres Beispiel, bei dem zwar die dynamis-These vertreten, aber die beiden Konfigurationen m. E. nicht präzise getrennt werden, findet sich bei Martin Saar. Er konstatiert: Sinnvollerweise lässt sich die Vorgeschichte des modernen Machtbegriffs in den grundlegenden Unterscheidungen der philosophischen Tradition finden. Der aristotelische Begriff der dynamis bezeichnet das Vermögen eines Seienden zur ›Veränderung‹ eines anderen Seienden und bleibt bestimmend für eine ganze Traditionslinie [handlungstheoretischer und ontologischer Machtkonzeptionen; L. B.]. 41

In seinen kürzlich erschienenen Überlegungen zu einer ›Dynamik‹ der Macht greift Saar den Bezug von Macht und Bewegung ausgehend von der dynamis des Aristoteles wieder auf, verortet dabei allerdings Bewegung einer allgemeinontologischen (heideggerianischen) Lesart folgend auf der Ebene des ›Seins‹ und des Seienden: Begriffsgeschichtlich ist das griechische Wort dynamis das früheste Wort in den europäischen Sprachen, in dem viele der Bedeutungsspuren der späteren Machtbegriffe enthalten sind: Kraft oder wirkendes Vermögen, eine Fähigkeit, etwas zu bewirken, manchmal eine konkrete Kraft. In einem gewissen Sinn ist die erste Philosophie der Macht die Konzeption der dynamis bei Aristoteles, eine Lehre von den tätigen Vermögen und von der Tätigkeitsdimension des Seins im Allgemeinen, also fest verankert im Denkrahmen der Frage nach dem 40 Vgl. Agamben (2013), 313: »Der Begriff der Potenz bzw. des Vermögens hat innerhalb der abendländischen Philosophie eine lange Geschichte und nimmt darin, zumindest seit Aristoteles, eine zentrale Stellung ein. Aristoteles kontrastiert – und verbindet dadurch zugleich – das Vermögen (dynamis) und die Verwirklichung (energeia). Diese Gegenüberstellung, die sowohl seine Metaphysik als seine Physik durchzieht, bildet das Erbe, das er zunächst der Philosophie, darüber hinaus aber auch der Wissenschaft des Mittelalters und der Neuzeit hinterließ. [. . .] Ich bin davon überzeugt, dass dieser Begriff niemals aufgehört hat, im Leben und in der Geschichte, im Denken und in der Praxis [. . .] zu wirken.« Agamben erweitert in Der Gebrauch der Körper (2020) das Begriffspaar dynamis und energeia zu einer zentralen Theoriefolie. Es bedürfte einer ausführlichen Besprechung dieses Werkes, um die überstrapazierte und gegen Aristoteles gewendete Ausdeutung der dynamis herauszuarbeiten; für eine Kritik in diese Richtung siehe Geulen (2010). 41 Saar (2009), 571, vgl. (2007), 234–246.

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Allgemeinsten, d. h. der Ontologie. Über Macht reden, ist also von Beginn an eine allgemeine Rede über Sein und Seiendes, ihre Vermögen und Fähigkeiten, es ist eine ontologische Frage. 42

Als einer der wenigen Autor:innen identifiziert Saar Macht im Anschluss an die dynamis als »Bewegungsprinzip«, als »[d]as, was bewegt«. 43 Er geht allerdings nicht weiter auf die Begriffsstruktur der dynamis, ihr Begriffsgefüge und ihren mehrfachen Bezug zum Begriff der natürlichen Bewegung ein. Zenkerts und Stoellgers Interpretation. Die meines Kenntnisstandes einzige Studie, die die kinetische dynamis – so wie auch in der vorliegenden Untersuchung argumentiert werden soll – als die entscheidende Konzeptionsebene herausstellt und auch ihre begriffliche Struktur als grundlegend für den politischen Machtbegriff betrachtet, ist die Habilitationsschrift von Georg Zenkert (2004). Zenkert reklamiert, dass es für die Geschichte des politischen Machtbegriffs erforderlich sei, »die geschichtlichen Fundamente dieses Begriffs zu vergegenwärtigen und gleichsam archäologisch zu rekonstruieren.« 44 Er meint damit die begriffliche Struktur der aristotelischen dynamis als Prinzip der Veränderung und Bewegung, wie sie im fünften Buch der Metaphysik (Buch Delta) skizziert wird. 45 Zenkerts Untersuchung ist konstruktiv und weitreichend, indem sie die Binnenstruktur der dynamis beleuchtet und auf die Unterscheidung bzw. das Strukturprinzip von aktiver und passiver Macht hinweist. Ähnlich betont auch Philipp Stoellger die Zweiteiligkeit der aristotelischen dynamis in dynamis tou poiein (aktive Macht) und dynamis tou paschein/tou pathein (passive Macht) und die daraus hervorgegangene, in der Scholastik gängige Unterteilung in potentia activa und potentia passiva. 46 Stoellgers Akzent liegt auf einer theoretischen Rehabilitierung der »meist vergessene[n] Seite des Machtbegriffs: [der] potentia passiva«. 47 Zenkerts und Stoellgers Verweise auf die dynamis mit einem Schwerpunkt auf der Unterscheidung von aktiver und passiver dynamis sind für die Diskussion um die begriffliche Struktur des Machtbegriffs wertvoll. Sie kontextualisieren jedoch die dynamis nicht weiter mit der naturphilosophischen Bewegung in der Physik des Aristoteles, sodass der zentrale begriffliche Bezug und der originäre philosophische Problemkontext dieses Begriffs vernachlässigt werden. Saar (2018b), 77–78. Ebd., 78. 44 Zenkert (2004), 17. 45 Vgl. das Kapitel »Die Struktur der dynamis und das Kriterium politischer Macht« in Zenkert (2004), 61–70. 46 Stoellger (2008), 8–11, hier: 8. 47 Ebd., 8. 42 43

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Zusammenfassung. Gegenüber der Position, dass sich der politische Machtbegriff aus der scholastisch-neuzeitlichen Begriffspaarung potentia-potestas begriffsgeschichtlich und strukturell erschließen lässt und die aristotelische dynamis lediglich das sprachliche Äquivalent zur potentia darstellt (potentia-potestas-These), behauptet die dynamis-These, dass sich wesentliche machtbegriffliche Ressourcen für einen ›weiten‹ und ›engen‹ Machtbegriffs aus einem Studium der dynamis in der begrifflichen Bestimmung des Aristoteles gewinnen lassen. Der begriffsgeschichtliche Rückbezug auf die dynamis im Kontext machtbegrifflicher und politisch-theoretischer Reflexionen erfolgte jedoch bisher überwiegend kursorisch und angeleitet von einem selektiven Fokus auf bestimmte Elemente und Aspekte der aristotelischen dynamis, deren Auswahl von einem Vorgriff auf eigene theoretische Überlegungen und Konstruktionen geprägt ist. Auf diese Weise bleibt eine systematische Erschließung der dynamis als Begriff der Bewegung, die sowohl das aristotelische Denkmilieu, die begriffliche und theoretische Einbettung als auch die Elemente und Binnendifferenzierungen der dynamis in den Blick holt, ein Desiderat der Untersuchung der Geschichte und Struktur des sozialen und politischen Machtbegriffs.

3. Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte

Konnte noch vor zwanzig Jahren ein gewisses Desinteresse im deutschsprachigen Raum an der Erforschung der Geschichte des politischen Denkens konstatiert werden 1, hat sich dieses seit einigen Jahren in ein gesteigertes Interesse gekehrt. 2 Die Geschichtsschreibung des politischen Denkens verläuft in mehreren gegenstandsbezogenen und methodologischen Registern, unter denen sich vor allem die ›Begriffsgeschichte‹ und ›Ideengeschichte‹ institutionalisiert haben. In den letzten Jahren sind zudem neben einer Vielzahl an Einleitungen, Überblicksarbeiten und Fallstudien zu Autor:innen, Ideen, Theorien und Begriffen auch meta-theoretische Auseinandersetzungen mit den Methoden und Methodologien der Erforschung der Geschichte des politischen Denkens auf den Plan der Politischen Theorie und Ideengeschichte getreten. 3 Nachfolgend soll ein kursorischer Überblick über die für die Arbeit relevanten Methodendiskussionen gegeben werden, wobei sich der Überblick überwiegend auf die Register der politischen Ideengeschichte und der politischen Begriffsgeschichte beschränkt. Damit lassen sich anschließend methodologische Desiderate markieren, die sich für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Forschungsfragen ergeben. Auf diese Weise werden auch die Anknüpfungs- und Einsatzpunkte der im anschließenden Kapitel (Kap. 4) entwickelten Analytik gekennzeichnet. Asbach (2002), 638. Bluhm (2006), 9; Busen / Weiß (2013), 15. Ich verwende die Begrifflichkeit ›Geschichte des politischen Denkens‹ bzw. deren Erforschung als Ober- und Sammelbegriff für sämtliche methodische und disziplinäre Ansätze, die sich der Gewordenheit und den Verläufen des politischen Denkens widmen. Dabei bleibt strategisch und methodologisch offen, was ›das politische Denken‹ ist und welche Ausdrucksformen es wählt. Mit Henning Ottmann teile ich zwei Grundpfeiler der Untersuchung des politischen Denkens: Zum einen die disziplinäre und gegenständliche Offenheit, zum anderen »die Hochschätzung der Antike« für das politische Denken bis zur Gegenwart (Ottmann [2001], VI). Eine alternative methodologische wie fach- und forschungsprogrammatische Strategie besteht darin, ›Ideengeschichte‹ oder ›politische Ideengeschichte‹ in einem ›weiten Sinne‹ als Oberbegriff oder Gattungsnamen zu setzen, so. z. B. vorgelegt von Mahler / Mulsow (2014a). Wiederum alternativ dazu hat sich bereits der breite, die Inter- und Transdisziplinarität betonende Programmtitel der ›Historischen Semantik‹ etabliert, siehe dazu das einschlägige »kritische Kompendium« Begriffsgeschichte und historische Semantik, hg. v. Ernst Müller und Falko Schmieder (2016). 3 Siehe die Sammelbände Blum / Gebhardt (2006), Stollberg-Rilinger (2010), Busen / Weiß (2013a), Reinalter (2015), Goering (2017), die kleine Anthologie Die Cambridge School in der politischen Ideengeschichte, hg. v. Martin Mulsow und Andreas Mahler (2010b), sowie das jüngst von Samuel Salzborn herausgegebene Handbuch Politische Ideengeschichte (2018b). 1 2

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3.1 Erkenntnisinteressen und Leitfragen in der aktuellen politischen Ideen- und Begriffsgeschichte

Erkenntnisinteressen und Perspektiven. In der Erforschung der Geschichte des politischen Denkens lassen sich mit Olaf Asbach »analytisch drei Perspektiven unterscheiden, aus denen man politische Theorien und Ideen [und Begriffe; L. B.] [. . .] in den Blick nehmen kann (und nimmt) und die die Untersuchungsfragen und -methoden anleiten, die bei der jeweiligen Analyse und Bewertung« zur Anwendung kommen. 4 Die drei Perspektiven repräsentieren ein jeweils spezifisches Erkenntnisinteresse am historischen Material und charakterisieren sich durch bestimmte Zugangsweisen. Es handelt sich hierbei um (i) »[p]rimär historisch ausgerichtete Zugänge«, (ii) »[s]ystematisch ausgerichtete Zugänge« und (iii) »[a]ktualisierende Zugänge«. 5 Eine historisch fokussierte Zugangsweise interessiert sich bezogen auf das vorhandene Textmaterial 6 primär für die ›Kontexte‹ einer Autor:in, eines Werkes, einer Thematik, einer Theorie, einer Idee oder eines Begriffs. 7 Die Kontexte sind in einem weiten ideengeschichtlichen Sinne kultur-, geistes-, sozial- und zeitgeschichtliche Verläufe und Ereignisse, mithilfe derer Form, Inhalt und Wirken des untersuchten Gegenstandes verstehbar, oder, abhängig vom methodologischen Selbstverständnis, erklärbar gemacht werden. Aus der derzeit prominenten, von der sog. ›Cambridge School‹ und ›Intellectual History‹ geprägten ideengeschichtlichen Perspektive wird der relevante Kontextrahmen zum Verständnis von Ideen, Argumenten und Begriffen in der Geschichte des politischen Denkens enger gefasst und mit jenen rhetorischen, »theoretischen und ideologischen Debatten und DisAsbach (2011), 131; vgl. Bluhm (2006), 19–20. Asbach (2011), 131–132, Herv. i. O. 6 Martin Saar hat pointiert auf die implizite, aber oft vernachlässigte Arbeitsprämisse der Totalität des Textes in der Erforschung des politischen Denkens hingewiesen: »So banal es auch klingen mag und so unsichtbar es auch in der unmittelbar ausgeübten Tätigkeit der Forschung und Lehre oft wird, es ist doch die erste Bestimmung der Erforschung und Geschichtsschreibung der politischen Ideen und des politischen Denkens, dass sie eine Tätigkeit am Text und in Texten ist, dass sie sich schreibend auf Geschriebenes bezieht und damit implizit schon eine Theorie des Textes, der Referenz und der Genese von Bedeutung aus Sprachhandlungen voraussetzt.« (Saar [2013c], 322). 7 Inwiefern sich Ideen, Begriffe und Konzepte voneinander abgrenzen lassen und in welchem Verhältnis sie zueinander und zu Theorien stehen, ist Gegenstand anhaltender methodologischer und philosophischer Diskussionen (vgl. Bluhm [2006], 15; Straßenberger [2018], 4). Sowohl die Begriffs- als auch die Ideengeschichte haben aber davon profitiert, ihre theoretischen Gegenstände eher schwach zu differenzieren und weniger rigoros voneinander abzutrennen. Einer in der deutschsprachigen politischen Ideengeschichte viel zitierten, von Harald Blum vorgelegten konzeptuellen Bestimmung zufolge lassen sich Ideen »als Intuitionen, die Theorien zugrunde liegen, begreifen oder als Paradigmen bzw. als theoretischer Rahmen oder als Knotenpunkte von Wissensordnungen.« (Bluhm [2006], 15). 4

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kurse[n] der Zeit oder mehr oder weniger umfassender Epochen« 8 identifiziert, in die die Autor:innen und ihre Ideen ›hineinsprechen‹ und von denen sie selbst ihre Position des Sprechens und epistemologische Rahmung erhalten. 9 Systematisch orientierte Zugänge sind hingegen primär bestrebt, »argumentative[] Strukturen und Bedeutungen, ihre Sachhaltigkeit und Probleme« aus Texten des politischen Denkens herauszuarbeiten, um ihre Erklärkraft und Bedeutung für die Genese sozialer, ökonomischer und politischer Phänomene und ideeller Bewegungen zu bestimmen. 10 Da die Argumentationen und Konzeptionen dabei implizit oder explizit im Lichte ihrer geschichtlichen, diskursiven und ideellen Kontexte dargestellt und bewertet werden, ist auch den systematisch orientierten Zugängen eine latent oder explizit historisch-kontextualisierende Verfahrensweise zu eigen. 11 Die aktualisierenden Zugänge schließlich untersuchen Textmaterialien der Geschichte des politischen Denkens, um deren Produktivität oder pädagogischen Gehalt für gegenwärtige Theorie- und Begriffsbildungen, Kontroversen und argumentative Strategien auszuloten. 12 Hierbei werden somit immer auch rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Dimensionen eines historischen theoretischen Gegenstandes adressiert. Die drei basalen Perspektiven bzw. Zugangsweisen zu einer interdisziplinären Erforschung des politischen Denkens lassen sich weiter ausdifferenzieren entlang fachspezifischer Fokusse, Methoden, Funktionen und Motivationen der beitragenden Disziplinen der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaften. 13 Erkenntniseinstellungen und -gegenstände. Die Zugangsweisen sind dabei nicht nur von verschiedenen Erkenntnisinteressen bezüglich der historischen (Denk-)Gegenstände, sondern auch von divergierenden Orientierungen in der Erkenntniseinstellung geprägt. 14 Eine explanatorische Erkenntniseinstellung zielt darauf ab, Aussagen über Gesetzmäßigkeiten oder im weiten Sinne Asbach (2011), 131. Mulsow / Mahler attestieren dem sprach- und diskurskontextualistischen Ansatz der Cambridge School, der sich seit den späten 1980ern im angelsächsischen Raum in der politischen Ideengeschichte etablierte, mittlerweile den Status einer »ideengeschichtlich[n] Orthodoxie« (Mulsow / Mahler [2010a], 8). Der in sich vielfältige methodische Ansatz begann in den späten 1960ern ausgehend von einer Reihe von Historiker:innen des politischen Denkens an der Universität Cambridge Kreise zu ziehen. Engagierte Vertreter:innen sind bspw. Quentin Skinner, John Pocock, John Dunn, Richard Tuck. Vgl. zum Verhältnis von (deutscher) Begriffs- und (angloamerikanischer) Ideengeschichte Richter (1987). 10 Asbach (2011), 131. 11 Ebd., 131–132. 12 Ebd., 132. 13 Vgl. Salzborn (2018b), Kap. I und II; Müller / Schmieder (2020), 34–63. 14 Ich greife hier die wissenschaftstheoretische Kategorie der ›Erkenntniseinstellung‹ und die Unterscheidung zweier wesentlicher Formen, der »explanatorische[n]« einerseits und »beschrei8

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Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte

kausale Zusammenhänge in der Entwicklung von Ideen und Begriffen zu erlangen, während eine deskriptive oder erzählende Erkenntniseinstellung – durch eine möglichst detailgenaue Beschreibung von Unterschieden und Veränderungen – eine Form der Erkenntnis über und ein Verstehen von Ideen und Begriffen anstrebt. »Das Beschreiben und Erzählen von Zeitabläufen ist häufig der Versuch, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was anders geworden oder gewesen ist, auf etwas, das entstanden oder verschwunden ist. Erklärungen sind dagegen Rückführungen von Unbekanntem, Neuem auf Bekanntes, schon Durchschautes.« 15 Diese Differenz in den Erkenntniseinstellungen lässt sich auch an die unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Unternehmungen der Ideen- und der Begriffsgeschichte und die verschiedenen Ansätze innerhalb der beiden historiografischen Register anlegen. Schematisch und vereinfacht war die ›klassische‹ oder ›alte‹ Ideengeschichte um 1900 sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer eher explanatorischen, auf das Allgemeine und Persistierende abstellenden Erkenntniseinstellung angetrieben; sie widmete sich der hermeneutischen Extrapolation von »sedimentierten Denkmotiven« 16, ›überzeitlichen‹ Ideen und Problemen. 17 Während also die klassische Ideengeschichte das metaphysische Allgemeine und Kontinuierende zum Kriterium ihrer Untersuchung nahm, ereignete sich mit der Cambridge School ein paradigmatischer Wechsel dergestalt, dass Ideen nun mit den konkreten, historischen sprachlichen Äußerungshorizonten und -bedingungen kontextualisiert werden. Ideen werden somit von ihrem historischen Diskurskontext aus in den Blick genommen und hinterfragt. Dagegen ist es der Begriffsgeschichte stets um die Beschreibung semantischer Veränderungen gegangen, die sich in einem begrifflichen Wandel und Bedeutungsverschiebungen ausdrücken. Ihre Leitkategorie ist eher das Diskontinuierliche. So werden bspw. in dem von Reinhart Koselleck maßgeblich begründeten begriffsgeschichtlichen Ansatz Begriffe als etwas sich Wandelndes und Veränderliches konzipiert, das »die Vielfalt der geschichtlichen Bewegung« und damit verbundene veränderte geschichtliche Erfahrungsstrukturen und -horizonte und politische Sprache benden und erzählenden Erkenntniseinstellung« andererseits, von Michael Hampe auf (vgl. Hampe [32015], 22–28, hier: 22–24, Herv. i. O.). 15 Ebd., 25, Herv. i. O. 16 Mahler / Mulsow (2014b), 17. Damit sind z. B. Arthur O. Lovejoys ›Elementarideen‹ (»unit ideas«) gemeint, vgl. Lovejoy (1938). 17 Wie die meisten Unterscheidungen von ›alt‹ und ›neu‹ im wissenschaftlichen Kontext basiert auch die verbreitete Klassifizierung von ›alter‹ und ›neuer‹ Ideengeschichte auf einem affirmativen Bias zugunsten des ›Neuen‹. In diesem Fall richtet sich also die ›neue‹ Ideengeschichte unter der Leitung der Cambridge School gegen die Methoden und Konzeptionen der ›alten‹ Ideengeschichte, wie sie u. a. von Arthur O. Lovejoy, Friedrich Meineke, Leo Strauss und Dolf Sternberger durchgeführt wurden. (Vgl. Straßenberger [2018], 4).

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indiziert. 18 Auf der Basis einer an Hegel orientierten Begriffs- als Geschichtsphilosophie liegt der historiografische Untersuchungsfokus auf dem Zeitraum 1750 bis 1850, der von Koselleck als »›Sattel-Zeit‹« für die begriffliche Genese, Wandlung und Ausformung bis heute verwendeter sozialer und politischer Begriffe charakterisiert wird. 19 In den berühmten »Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit« (1967), die die begriffsgeschichtliche Programmatik der Geschichtliche[n] Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Koselleck / Brunner / Conze 1972– 1997) bilden, erläutert Koselleck die untersuchungsleitende »Schwerpunktbildung« als »von der geschichtlichen Fragestellung nach Dauer und Überdauern der Herkunft und nach Wandel und Umbruch durch die revolutionäre Bewegung bestimmt«. 20 Der Ansatz der Geschichtlichen Grundbegriffe hatte zunächst die Doppelperspektive verfolgt, Begriffe »als Indikatoren und als Faktoren der sozialen und politischen Sprache ernstzunehmen« und die Sprache wiederum in ihrem »Hinweischarakter für soziale Phänomene und deren Veränderung« auszuweisen. 21 Von dem Selbstverständnis als »reflektierte[r] Historismus« und »Begriffsgeschichte als Sozialgeschichte« hat sich der Ansatz der (deutschen) Begriffsgeschichte in ihrem Fortgang – zumindest in der Beschreibung von Koselleck – zu einem Instrument der »Selbstreflexivität der Sprache« und der kritischen Untersuchung der bedingenden und ermöglichenden Funktion politischer und sozialer Sprache für die soziale und politische Erfahrung entwickelt. 22 Vor diesem Hintergrund mündet die geschichtswissenschaftliche begriffsgeschichtliche Methode schließlich in eine Untersuchung der »Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache«. 23 Metapolitik der politischen Ideen- und Begriffsgeschichte. Die Unternehmungen der politischen Begriffs- und Ideengeschichte sind von einem mehr oder weniger expliziten Gegenwartsbezug und damit immer auch normativen Impulsen geprägt. In der Begriffsgeschichte nach Koselleck drückt sich Koselleck (1972), XXII; vgl. Bödeker (2002a), 75. Vgl. Koselleck (1967), 82. 20 Koselleck (1967), 83. 21 Koselleck / Dipper (1998), 188. 22 Ebd., 188–189. Der erkenntnisleitende philosophische Hintergrund hat sich sozusagen von Hegel zu Kant verschoben. 23 Koselleck (2006), so der Untertitel der einschlägigen Aufsatzkollektion Begriffsgeschichten. Die Begriffsgeschichte ›koselleckscher Art‹, die sich gegen eine philosophiegeschichtliche bzw. philosophieimmanente Begriffsgeschichte im Stil des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Ritter / Gründer / Gabriel [1971–2007]) formierte, hat auch international seit den 2000ern fußgefasst. Exemplarisch angeführt seien hier das Periodikum Contributions to the History of Concepts, hg. v. Jani Marjanen, Jan Ifversen, Margrit Pernau (die Contributions sind das Publikationsorgan des internationalen Netzwerks The History of Concepts Group) sowie das mit illustrativen Bildern angereicherte Onlineportal Political Concepts. A critical Lexicon (http://www.politicalconcepts.org/). 18 19

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Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte

dieser Gegenwartsbezug darin aus, dass die Auswahl und Charakterisierung der untersuchten Begriffe als ›soziale‹ und ›politische‹ Begriffe vor dem referenzierten Hintergrund der andauernden Gültigkeit in der Gegenwart der begriffsgeschichtlichen Untersuchung erfolgt. Die Gewordenheit dieser Begriffe, ihre Umdeutungen und Bedeutungswandel werden dabei – dies weist auf eine implizite antagonistische politische Theorie des Begriffs und der Idee hin – zurückgeführt auf die Einbettung in ein Interaktionsfeld politischer Kämpfe um Deutungsmacht und -hoheit, das in den spezifischen Begriffsgebräuchen zum Ausdruck kommen. 24 Sowohl die politische Ideengeschichte der Cambridge School als auch die Begriffsgeschichte nach Koselleck »richten ihre Aufmerksamkeit auf den Politikum-Charakter der Begriffe, wodurch auch das, was als ›politisch‹ gilt, als ein historisches Produkt erscheint und jeweils umbestimmt werden kann.« 25 Politische Begriffe und Ideen werden konzipiert als Gegenstände und Subjekte der sprachlich verfassten Politik und genau in dieser Doppelfunktion untersucht. Zugleich setzt jeder der Zugänge und Perspektiven auf die Geschichte des politischen Denkens immer auch »implizit oder explizit ein Verständnis allgemeiner historischer und gesellschaftlicher Strukturen, Institutionen und Entwicklungen samt der damit verbundenen Probleme und Widersprüche« 26 voraus, sodass die historische Analyse nicht von einem hintergründigen Vorverständnis des Politischen zu trennen ist. Damit stellt der ›reflektierte Historismus‹ auch eine Reflexion über die Grundlagen und Bedingungen von Politik auf der Ebene der Idee und des Begriffs selbst dar. Während sich die Rekonstruktionsarbeit zu politischen Kämpfen im Medium der Begriffe und Ideen auf die politischen Gewordenheiten und Genealogien konzentriert, um das Politische der verwendeten Begriffe herauszustellen, gibt es auch die normative Haltung, Ideen- und Begriffsgeschichte als Zuarbeit der politischen Theoriebildung zu betreiben. Die Erforschung des politischen Denkens soll Verstrickungen und Legitimationen von ideellen und begrifflichen Traditionsbeständen für die gegenwärtige Theoriebildung überprüfen und deren Tauglichkeit für eine produktive Begriffsbildung evaluieren. Es geht also darum, gleichsam ›propädeutisch‹ auszuloten, ob und inwiefern historische Begriffs- und Ideenbestände brauchbare Ressourcen für die gegenwärtige politische Theoriebildung bieten. Denn in Theorien eingebettete Begriffe oder deren Veränderungen strahlen, darauf hat William Connolly hingewiesen, in 24 Für Carl Schmitt bildet »die Strukturanalyse des Politischen die Basis der (staats- und völkerrechtlichen) Begriffsanalyse.« (Egner [2013], 86) Koselleck greift diese politische Theoriefigur als zugrunde liegendes Raster der Begriffsuntersuchung auf, vgl. ebd., 90; vgl. auch Salzborn (2017). 25 Palonen (2002), 224. 26 Asbach (2011), 143.

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die sie einbettende Theorieperspektive zurück und können diese verändern. 27 Die Ideen- und Begriffsgeschichte tritt dann selbst in den »politischen Kampf um Deutungshoheit« ein. 28 Man kann dies als »›Verstrickung‹« 29 der politischen Ideengeschichte und Begriffsgeschichte (generell: der politischen Theorie) begreifen oder direkt als eine Form von ›Metapolitik‹. Manfred Riedel bspw. formuliert unter dem Titel der Metapolitik seine analytisch-konstruktive Arbeitsthese, »daß die traditionell-politische Sprache bis hin zu Vertretern des klassischen Liberalismus auf Voraussetzungen beruht, die es – im Interesse einer kritisch geläuterten Begriffsbildung – ›reflexiv‹ zu durchlaufen und aufzuklären gilt.« 30 Ähnlich hat Axel Honneth kürzlich seine Untersuchung der Idee des Sozialismus als »metapolitisch[]« charakterisiert, insofern sie rekonstruieren und ausloten will, »wie sein [des Sozialismus; L. B.] ursprüngliches Anliegen noch einmal so zu reformulieren wäre, daß es erneut zur Quelle politisch-ethischer Orientierungen werden könnte.« 31 Auf diese Weise beinhaltet die Ideengeschichte nicht nur ein rekonstruktives und metapolitisches Moment, sondern kann einer interventiven oder performativen Ambition dienen, indem sie »auf die kategoriale und narrative Neubestimmung des ideengeschichtlichen Bezugsrahmens« für die Deutung der Gegenwart abstellt. 32 Zentrale methodologische Leitfragen. Aus den vorangegangenen Ausführungen lassen sich vier methodologische Leitfragen herausstellen, aus denen sich zentrale Untersuchungsfelder der politischen Ideengeschichte und der Begriffsgeschichte begründen und die aktuelle methodische Debatten entfacht haben. Dies sind die Fragen nach (i) der Kontinuität und Diskontinuität des untersuchten historischen Gegenstandes, (ii) dem Begriff des Begriffs, (iii) der Reichweite und explanatorischen Rahmung des Kontexts der Ideen und Begriffsbildung und (iv) der methodologischen Zusammenführung verschiedener Untersuchungsperspektiven und fachlich-methodischer Ansätze. Im Folgenden soll auf jede dieser Leitfragen kursorisch eingegangen werden. (i) Historische Untersuchungen der Ideen- und Begriffsgeschichte zeichnen sich, sofern sie dem Studiendesign einer Verlaufsstudie und historischen Vergleichsstudie entsprechen, durch eine doppelte Bezugnahme aus: zum einen 27 Connolly (1993), 21. »Conceptual disputes, then, are neither a mere prelude to inquiry nor peripheral to it, but when they involve the central concepts of a field of inquiry [. . .].« (Ebd.). 28 Straßenberger (2018), 6. 29 Ebd. 30 Riedel (1979), 7–8. 31 Honneth (2017), 21. 32 Straßenberger (2018), 6. Münkler und Straßenberger sprechen dem »Lehr- und Forschungsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte« insgesamt drei Perspektiven und Ansprüche zu: die »historisch-analytische Perspektive«, »einen zeitdiagnostischen Anspruch« und ein »prognostische[s] bzw. therapeutische[s]« Potential (Münkler / Straßenberger [2016], 17, Herv. i. O.).

Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte

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durch einen Bezug zum methodischen Leitkriterium, das entweder dasjenige des Nachweises der Wandlung und Diskontinuität oder dasjenige des Nachweises des Fortbestandes, der Kontinuität ist; zum anderen durch einen Bezug zu einer konzeptuellen Verknüpfung dieser Kontinuität und Diskontinuität mit dem theoretischen Gegenstand (der Idee, dem Begriff) und dem als relevant bestimmten Kontext. Die Fragen, die sich hier stellen, sind substantiell formuliert die Fragen nach dem, was bleibt, was sich ändert, was wie entsteht und wie das Bleibende (das Persistierende) oder wie das Neue mit dem sich verändernden und veränderlichen Kontext in Beziehung steht. Es sind mithin die Fragen nach den Prinzipien von Identität und Nichtidentität, Identität und Differenz und Persistenz am oder in einem Begriff oder einer Idee. Daraus stellt sich zudem die methodologische Frage, wie diese Prinzipien und ihre Verhältnisse zueinander modelliert sind. Blumenberg adressiert diese Frage mit dem Konzept der »›Umbesetzung‹« 33, d. h. der Annahme von einem »Minimum an Identität, das noch in der bewegtesten Bewegung der Geschichte muß aufgefunden oder zumindest vorausgesetzt und gesucht werden können.« 34 Dieses »Minimum an Identität« durch die Geschichte könne mit Blumenberg allerdings nicht als eine Art »historische[r] Substantialismus« verstanden werden, sondern eher als ein Aufrechthalten von »Rahmenbedingungen« der Formulierung von Inhalten und Antworten auf »relativ konstant« bleibende Fragen. 35 Eine andere Lösung der Verhältnisbestimmung von Kontinuität und Wandel in der Genese und Evolution philosophischer Begriffe hat jüngst Tad M. Schmaltz mit dem für die analytische Philosophie typischen Modell der type-token-Unterscheidung 36 im Rahmen der programmatischen Publikationsreihe Oxford Philosophical Concepts (OPC) vorgeschlagen: »If there is a chain of development that connects earlier to later concepts, there may well be sufficient overlap to warrant a history of the concept-type that comprises historically diverse concept-instances.« 37 Einzelne Begriffe oder Konzeptionen, wie sie bspw. in Theorien der politischen Denker:innen aufzufinden sind, wären nach dieser Vorstellung Instanziierungen (token) eines begrifflichen types oder Schemas. 38

Blumenberg (1996), 538, 539, 541. Ebd., 541. 35 Ebd., 541–542. 36 Die type-token-Unterscheidung, dessen Kernelemente sich kaum angemessen ins Deutsche übersetzen lassen, geht auf Peirce’ Symboltheorie zurück. 37 Schmaltz (2014), 6. 38 Auf die vorliegende Untersuchungsthese des begrifflichen Zusammenhangs von Aristoteles’ dynamis und modernen politischen Machtbegriffen übertragen, wären die Machtbegriffe von Thomas Hobbes und Michel Foucault als Instanziierungen des begrifflichen types (Schema) zu verstehen, der von der aristotelischen dynamis generiert worden ist. 33 34

Erkenntnisinteressen und Leitfragen

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(ii) Die Frage nach dem »neuralgische[n] Punkt von Kontinuität und Diskontinuität«, Konstanz und Wechsel führt uns auf die »notorische[]« Frage nach dem zugrundeliegenden Begriff des Begriffs. 39 Während Helmut G. Meier in der Erstausgabe des Historischen Wörterbuchs für Philosophie (1971) unter dem Eintrag »Begriffsgeschichte« noch das Desiderat einer Theorie der (philosophischen) Begriffsgeschichte und damit einer methodologischen Theorie des Begriffs diagnostizierte 40, herrscht unter eher linguistisch orientierten Begriffsforscher:innen die geteilte Ansicht, »dass es für die praktische begriffsgeschichtliche Arbeit weder notwendig noch hilfreich ist, diese Begriffe [die begriffsgeschichtlichen Grundtermini von Begriff, Wort, Bedeutung usw.; L. B.] präzise zu bestimmen«. 41 In den vergangenen Jahren ergaben sich schließlich sowohl auf dem Feld der Begriffsgeschichte als auch der (neueren) Ideengeschichte begriffskonzeptionelle Surrogate, wonach Begriffe als »verdichtete[], konstante[] Bedeutungselemente« 42 oder im Anschluss an Willibald Steinmetz als »gesellschaftlich hochwirksame[] Knotenpunkte im diachronen Bedeutungswandel einzelner Worte« 43 zugrunde gelegt werden. Somit lässt sich hier eine ›Semantisierung‹ des Begriffs des Begriffs feststellen. Begriffe werden rudimentär als semantische Einheiten in einem semantisch-gesellschaftlichen Diskursgewebe konzeptualisiert, sodass mittlerweile die ›Historische Semantik‹ den größeren Rahmen der Begriffsgeschichte bildet. (iii) Während der zugrunde liegende Begriff des Begriffs somit mehr oder weniger offen oder nachrangig behandelt wurde, erwies sich die Frage nach der Bestimmung sowie Ein- und Abgrenzung des als begriffsprägend wirksamen Kontexts als prioritäre methodenpolitische Kontroverse. Denn ist erst einmal die Relationierung der theoretischen Gegenstände mit ihren realgeschichtlichen Kontexten zugestanden, evoziert der Ansatz des ›Kontextualismus‹ 44 die Frage nach den richtigen Kontexten – d. h. solchen, in denen sich Geltungen, Rechtfertigungen, Intensionen oder andere wirkungsmächtige Faktoren als Faktoren der Begriffsbildung und -formation manifestieren. Die Frage lautet also: Welche Kontexte sind für die Untersuchung von Ideen und Begriffen relevant, d. h. wirken nachweisbar auf die konkrete historische Begriffsbildung und Begriffsveränderung ein und machen diese dadurch intelligibel? Aus der Perspektive Geulen (2018), 54, 50. Meier (1971), 789. 41 Müller / Schmieder (2020), 10. 42 Ebd., 12. 43 Steinmetz (2008), 182; vgl. Müller / Schmieder (2016), 18, 64–78. 44 Vgl. für eine kritische Analyse der Probleme, die der kontextualistische Ansatz (auch ›contextual turn‹) aufwirft, so etwa das Problem des Verschwindens des Untersuchungsgegenstandes, die Kommentare von Lawson (2008), Koikkalainen (2011). 39

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Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte

einer materialistisch orientierten Wissenssoziologie und -geschichte bestimmt sich der Kontext aus den konkreten ökonomischen, sozialen, religiösen und politischen Umständen, Technologien und Situationen einer Epoche. Für Quentin Skinner und die Cambridge School hingegen ist die »Kenntnis des sozialen Kontextes«, mithin die »Sozial-, Ethik- und Politikgeschichte« zwar hilfreich für das Erfassen und Verstehen der »Art von Gesellschaft, für die ein Autor schrieb und die er überzeugen wollte«. 45 Relevant für die historische Untersuchung der Ideen und Begriffe sei aber – ähnlich wie bei der Begriffsgeschichte nach Koselleck – der sprachliche Kontext. Hierunter verstehen die Vertreter:innen der Cambridge School mit unterschiedlicher theoretischer und methodischer Akzentuierung die spezifischen Sprachhandlungen und das illokutionäre Umfeld (Skinner im Anschluss an die Sprechakttheorie von John L. Austin und John Searle), die Diskurse (John Pocock im Anschluss an poststrukturalistische Diskurstheorien) oder die diskursiven Kohärenzbedingungen (Mark Bevir im Anschluss an W. V. O. Quine). Für Skinner ist dieser sprachliche Kontext so umfassend angelegt, dass er »Fakten des sozialen Kontextes als Teil dieses sprachlichen Unterfangens« begreift. 46 Dabei sollte, so Skinner, die kontextuelle ›Einwirkung‹ auf die Ideen- und Begriffsbildung nicht als »determinierende[r] Faktor« sondern als »determinierende[r] Rahmen« verstanden werden. 47 Skinner und der Cambridge School geht es demnach um nicht weniger als eine sprachphilosophisch oder diskurstheoretisch begründete »Neuvermessung des Kontextualismus« 48 in der Methodik der politischen Ideengeschichte. (iv) Schließlich wurde in der letzten Zeit unter dem Eindruck einer hoch produktiven interdisziplinären Begriffsgeschichte und ›Historischen Semantik‹ vermehrt die Frage nach der methodologisch sinnvollen Integration verschiedener Ansätze, synchroner und diachroner Perspektiven angestoßen. In der interdisziplinären Begriffsgeschichte bestehen mittlerweile über die vermeintlich »inkommensurablen Forderungen systematischer und historischer Philosophie« 49 hinaus zahlreiche Unternehmungen, die die Begriffsgeschichte mit Ansätzen 45 Skinner (2010), 70–71, vgl. ebd., 69–87. Skinner trennt hier, ähnlich wie Hampe, zwischen Erklären und Verstehen. Auf dieser Differenzierung baut seine Argumentation auf: »[S]elbst wenn wir die Bedeutung einer Aussage aufgrund der Analyse ihres sozialen Kontextes dekodieren könnten, folgt daraus nicht, dass wir ihre beabsichtige illokutionäre Kraft erfasst haben. Wir haben daher im Endeffekt kein wirkliches Verständnis der Aussage erreicht. Kurz gesagt, es bleibt eine unvermeidliche Lücke: Selbst wenn eine Analyse des sozialen Kontextes Texte erklären könnte, wäre dies nicht gleichbedeutend damit, sie zu verstehen.« (Ebd., 78, Herv. i. O.). 46 Ebd., 82. 47 Ebd. 48 Kopp-Oberstebrink (2018), 115. 49 Meier (1971), 806. Meier referiert hier auf eine Position von Nikolai Hartmann (1909), einem Vertreter des logischen Positivismus.

Methodologische Desiderate für die Untersuchung des Machtbegriffs

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der Ideen-, Problem-, Metapherngeschichte und Diskursgeschichte, Globalgeschichte, Ideologieforschung 50, Ikonologie, Konstellationsforschung, Mentalitätsgeschichte, Digital Humanities, der Mediengeschichte und der Theorie- und Wissenschaftsgeschichte ergänzen 51 und damit das Feld möglicher Gegenstände und Gegenstandsaspekte systematisch erweitern. 52 Eine methodische Ambition besteht seitdem darin, möglichst mehrere Gegenstands- und damit Untersuchungsaspekte, aber auch analytische mit historischen Analysen zusammenzubringen. 53 »Vierzig Jahre nach den großen Aufbrüchen hat das Bedürfnis nach wechselseitiger Absetzung voneinander«, wie Mahler und Mulsow für die Nullerjahre des 21. Jahrhunderts beobachteten, »nachgelassen, und eine eklektische, synthetisierende Praxis hat sich etabliert.« 54 Mit der ›entgrenzten‹ Begriffsgeschichte »vervielfältigen und verkomplizieren sich die methodischen Probleme allerdings auch erheblich«, weshalb umso mehr und erneut methodologische und begriffstheoretische Reflexionen und Impulse notwendig werden. 55 Zuletzt hat bspw. Michael Marder in der politischen Theorie und Philosophie mit dem phänomenologisch unterlegten Forschungsprogramm Political Categories. Thinking Beyond Concepts (2019) eine Alternative zu den bisherigen begriffszentrierten Erforschungen der Geschichte des politischen Denkens und einen Impuls für die gegenwärtige Theoriebildung angeboten.

3.2 Methodologische Desiderate für die Untersuchung des Machtbegriffs

Für die in dieser Arbeit formulierten Untersuchungsthesen, die den Status der aristotelischen dynamis als ›Vorläufer‹ oder ›Vorgänger‹ für den politischen Machtbegriff einerseits und dessen multiple Bezogenheit auf den naturphilosophischen Begriff der Bewegung andererseits hinterfragen, lässt sich aus den 50 Hierzu sei im Feld der politischen Theorie insbesondere auf Michael Freedens ideologieanalytischen Ansatz verwiesen, der Ideologien als Begriffsnetze konzeptualisiert und untersucht, siehe Freeden (2007), (2008). 51 Siehe z. B. Bödeker (2002b), Müller / Schmieder (2008), Danneberg / Spoerhase / Werle (2009), Eggers / Rothe (2009), Pozzo / Sgarbi (2011). 52 Vgl. Müller / Schmieder (2020), 122–139. 53 Vgl. die von Asbach skizzierten »Bausteine für eine umfassende Analyse politischer Ideen und Diskurse« (Asbach [2011], 144). 54 Mulsow / Mahler (2010a), 17. Allerdings erscheint diese 2010 formulierte Diagnose nicht mehr ganz aktuell, da Müller / Schmieder gegenwärtig kritisch konstatieren, dass nach der experimentellen und synthetischen Phase »inzwischen, unterstützt nicht zuletzt durch die politische Forschungsförderung, eine traditionelle und erkenntnishemmende Redisziplinarisierung zu erkennen« sei. (Müller / Schmieder [2020], 32). 55 Müller / Schmieder (2020), 165–166.

Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte

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aktuellen Diskussionen und methodologischen Leitperspektiven und -fragen der politischen Ideen- und Begriffsgeschichte ein mehrfaches Desiderat feststellen. Kontinuität und Diskontinuität. Die derzeit dominanten Ansätze in der ideen- und begriffsgeschichtlichen Methodik reduzieren die politischen Begriffe und Ideen auf semantische Einheiten. Zwar werden Ideen und Begriffe teilweise als mehrschichtige und komplexe Gebilde untersucht, deren Bestandteile werden jedoch wiederum reduktiv als Bedeutungselemente aufgefasst, die persistieren, ›umbesetzt‹ oder ›umbestimmt‹ werden. Begriffe werden auf diese Weise zu einem Gegenstand von Bedeutungsveränderungen und -kontinuitäten homogenisiert. Vernachlässigt werden in dieser sprachlich-semantischen Begriffskonzeption heterogene Begriffselemente und -aspekte wie bspw. inhärente Begriffsstrukturen und -logiken, Modellierungen und strukturelle Bezüge zu anderen Begriffen. Einer sprachhandlungstheoretischen und bedeutungszentrierten Begriffskonzeption entgehen damit weitestgehend wissenschaftstheoretische Aspekte und strukturelle Vernetzungen von Begriffen. Kontextualisierung. Zwar gibt es eine methodologische Kontroverse um die angemessene Reichweite von Kontexten und damit um eine für das Verstehen von Begriffen gewinnbringende und hinreichende Kontextualisierung. Die Kontexte selbst werden allerdings in der politischen Ideen- und Begriffsgeschichte allein in den Feldern sozialer und politischer Deutung, Aushandlung und Interaktion situiert, sodass wissensgeschichtliche, wissenskulturelle und methodologische Kontextualisierungen der Begriffsbildung systematisch nicht erfasst werden. In dieser eingeschränkten Kontextualisierung bringt sich die implizite methodologische Prämisse zum Ausdruck, dass politische Begriffe primär aus dem Praxis- und Wissensfeld der Politik stammen. Auf diese Weise wird die traditionelle Auffassung einer wissenschaftskulturellen Separierung der Erforschung des Sozialen auf der einen und der Natur auf der anderen Seite aktualisiert. Dabei bemerkte bereits Koselleck, dass »[d]ie Vorprägung der historischen Begriffe durch Fremddisziplinen [. . .] die übliche Form« sei. 56 Es fehlt mithin eine Heuristik oder methodische Rahmung, die die Beziehung der nicht originär ›politischen‹ Begriffe zu ›politischen‹, z. B. naturphilosophischen und metaphysischen Begriffen herauszuarbeiten vermag. Damit wäre auch eine Abkehr von der methodologischen Grundprämisse verbunden, dass politische Begriffe nur in den Feldern der politisch-sprachlichen Handlung – oder mit Carl Schmitt: in der Theologie – ihre Herkunft hätten. Integrative methodische Ansätze. Aus einer begriffsanalytischen Perspektive fehlen in der politischen Begriffs- und Ideengeschichte bisher Ansätze, 56

Koselleck / Dipper (1998), 190.

Methodologische Desiderate für die Untersuchung des Machtbegriffs

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die nicht-bedeutungszentrierte Aspekte von Begriffen, z. B. auf der Ebene der Begriffsstruktur und der theoretischen Einbindung, in den Blick nehmen. Aus der Perspektive einer politikwissenschaftlich basierten Begriffsgeschichte wird diese Zugangsweise gern als ›philosophischer Zugang‹ deklariert und an die philosophische bzw. wissenschaftstheoretische Forschung delegiert, obgleich so ein umfassendes Verstehen der Struktur und des ›Funktionierens‹ von Begriffen limitiert wird. Es fehlt also eine Methode bzw. Analytik, die nicht-bedeutungszentrierte Aspekte wie Begriffsstrukturen, Begriffsbezüge und (meta)theoretische Rahmungen von Begriffen historisch vergleichend, d. h. bezogen auf verschiedene Konzeptionen eines Begriffs, zu erfassen vermag. Schließlich fehlt ein integrativer, begriffstheoretisch fundierter methodologischer Rahmen, anhand dessen die verschiedenen begrifflichen Aspekte sowohl einer analytisch-systematischen als auch einer historischen Untersuchung zugeführt werden können. Fazit. Insgesamt bilden eine begriffstheoretische Grundierung und ein begriffstheoretisch fundierter integrativer methodologischer Rahmen, der sowohl analytische, wissenschaftstheoretische als auch historische Aspekte von Begriffen und Begriffsbildung erfasst – jene Aspekte also, die in der vorliegenden Arbeit adressiert werden sollen – ein Desiderat der Methoden der politischen Ideen- und Begriffsgeschichte. Mit dem methodischen Defizit erwächst daher die Notwendigkeit, eine Analytik zu entwickeln, die es ermöglicht, die bisher unterbeleuchteten begrifflichen Aspekte systematisch aufzudecken und in historischer und aktualisierender Perspektive zu betrachten.

4. Begriffliche Diagrammatik

Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Forschungsfragen verlangen ein anderes Begriffsverständnis als jenes, das bisher in der politischen und philosophischen Begriffs- und Ideengeschichte zugrunde gelegt wurde. Gesucht ist eine methodologische Begriffskonzeption, die Begriffe nicht auf einen semantischen Gehalt, eine Bündelung von Bedeutungen oder auf den Status eines Objekts von Sprachhandlungen reduziert, sondern vielmehr Begriffe als heterogene Einheiten des politischen Denkens versteht und damit die Möglichkeit einer umfassenden systematisch-historischen Begriffsanalyse eröffnet. Hierfür bietet der Begriff des Begriffs der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari eine optimale Grundlage. Im Nachfolgenden wird zunächst ein Einblick in die Begriffskonzeption von Deleuze und Guattari gegeben. 1 Die Darstellung konzentriert sich dabei im Wesentlichen auf die ›Begriffstheorie‹, wie sie in ihrem gemeinschaftlichen Werk Was ist Philosophie? (frz. 1991, dt. 2000) formuliert wurde (Kap. 4.1). 2 Darauf aufbauend wird im zweiten Schritt ein methodologisch orientiertes Begriffsmodell entwickelt, das als Grundlage für eine Analytik zur mehrperspektivischen Untersuchung von Begriffen dient (4.2). Schließlich wird die hier als ›begriffliche Diagrammatik‹ bezeichnete Untersuchungsanalytik in ihren einzelnen Bestandteilen vorgestellt (4.3).

1 Ich folge der von Bernd Schwips und Joseph Vogl vorgeschlagenen und streng durchgehaltenen Übersetzung des französischen concept mit dem deutschen Wort ›Begriff‹ vor dem Hintergrund, dass der vorliegenden Arbeit ein dem Französischen nahekommendes breites Verständnis von ›Begriff‹ zugrunde liegt und das Begriffswort ›Begriff‹ auch in methodischer Hinsicht – man denke nur an die etablierten Terme ›Begriffsanalyse‹ und ›Begriffsgeschichte‹ – deutlich anschlussfähiger ist als der Terminus ›Konzept‹. Andere Deleuze-Rezipient:innen übersetzen concept hingegen konsequent mit ›Konzept‹, siehe z. B. Jäger (1997), 262–265. 2 Der Text Was ist Philosophie? wird, wie bereits erwähnt, mit der Sigle WPh abgekürzt und dient als hauptsächliche Quelle, wird aber um Verweise auf weitere Texte von Deleuze ergänzt. Die weiteren Texte bzw. Textbände werden mit folgenden Siglen zitiert: Unterhandlungen (U), Schizophrenie und Gesellschaft (SG), Tausend Plateaus (TP), Die einsame Insel (IN). Sämtliche Zitationen mit Siglen erfolgen im Fließtext. In einigen Fällen wird zur Verdeutlichung des Originaltons die französische Originalversion mitangegeben.

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Begriffliche Diagrammatik

4.1 Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari

Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari ist ein vieldiskutierter Gegenstand in der philosophischen Deleuze- und Guattari-Rezeption. 3 In den vergangenen Jahren hat er zudem über den engeren theoretischen Diskurs hinaus einige Resonanz und methodische Aufgriffe erfahren – bspw. in der Forschungs- und Bildungstheorie sowie in der Theorie der Methodologie in der qualitativen Sozialforschung. 4 Während einige Begriffe der beiden Autoren wie z. B. ›Rhizom‹, ›Gefüge‹, ›Kriegsmaschine‹, ›Staatsmaschine‹ und ›Kontrollgesellschaften‹ in der der französischen Philosophie zugewandten politischen Theorie seit den 2000ern rezipiert werden 5, erfährt der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari in der politischen Begriffs- und Ideengeschichte bisher keine sonderliche Beachtung. 6 Nachfolgend sei die innovative Begriffskonzeption mit einem Schwerpunkt auf dessen spezifischen Charakteristika vorgestellt. Da die Begriffskonzeption als esoterisch oder idiosynkratisch empfunden werden mag, sollen dabei an einigen Stellen Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten mit philosophischen Positionen aus der kontinentalen und analytischen Philosophie angezeigt werden. Ausgang: Begriffe als Teil der Frage nach der Definition von Philosophie. Deleuze und Guattari fragen sich in ihrem gemeinsamen ›Alterswerk‹ Was ist Philosophie?, wie sich Philosophie und das Betreiben von Philosophie bestimmen lassen: Was heißt es, philosophisch tätig zu sein? Auf diese Frage nach der Definition und Praxis von Philosophie präsentieren sie eine prägnante Antwort: »Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen [l'art de former, d'inventer, de fabriquer des concepts].« (WPh, 6; frz., 8) 7 3 Man kann jedoch nicht davon sprechen, dass dieser in der breiten institutionellen Philosophie angekommen ist. Die Rezeption beschränkt sich zumeist immer noch auf nur rekonstruktive Verweise im Rahmen von Darstellungen zur ›französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts‹ (›French Philosophy‹, ›French Thought‹). 4 107 Siehe z. B. St. Pierre (2017), Schulte (2018). 5 In besonderem Fokus stehen dabei die vielen, mittlerweile bisweilen inflationär verwendeten Begriffe aus dem »Begriffs-Buch« (U, 41) Tausend Plateaus. Unter Berücksichtigung der grundlegenden Politizität des Denkens – ein Aspekt, den Deleuze immer wieder zu bedenken gab – ist es allerdings nur konsequent, die gesamte Philosophie und die Konzeption von Philosophie als Kunst der Begriffsschöpfung als durch und durch ›politisch‹ zu charakterisieren (vgl. Patton [2010], 1– 5). Alain Badiou verortet hingegen in seiner Interpretation von Deleuzes’ Verhältnis zur Politik ›die Politik‹ in der »libération du désir et du devenir« und in den Denkformen selbst, woraus er den (bemerkenswerten) Schluss zieht, dass die (Begriffs-)Schöpfung selbst nicht politisch sein könne (Badiou [2009], 17). 6 Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Rezeption von Adi Ophir (2012). 7 Diese Definition wird von Deleuze und Guattari an zahlreichen Stellen in ihren gemeinsamen Schriften, aber auch in Gesprächen und kleineren Texten von Deleuze gegeben. Ausführlicher erläu-

Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari

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»Im strengeren Sinn«, führen sie weiter aus, »ist die Philosophie die Disziplin, die in der Erschaffung der Begriffe besteht.« (Ebd., 9, Herv. i. O.) Damit rückt die Frage nach der Konzeption des Begriffs selbst in den Vordergrund, sodass die konkrete Konzeption des Begriffs wiederum auf die philosophiephilosophische oder metaphilosophische Frage antwortet, wie sich die Philosophie als Kunst der Erschaffung, als »creatio continua von Begriffen« präzisieren lässt (ebd., 13, Herv. i. O.; vgl. IN, 204). Für Deleuze und Guattari sind Begriffe »philosophische[] Realität« (ebd., 16). »[D]iese Begriffe«, so drückt es Deleuze an anderer Stelle etwas radikaler aus, »gehen über die Dualitäten des gewöhnlichen Denkens hinaus und verleihen zugleich den Dingen eine neue Wahrheit, eine neue Aufteilung, eine außergewöhnliche Zerlegung.« (IN, 28) Dies bedeutet zunächst zweierlei: Erstens sind Begriffe zweifellos evident für die philosophische Praxis; zweitens sind sie dies jedoch in einem strengen Sinne nur für die Philosophie, nicht aber für die Wissenschaften, Logik und Kunst. Jene »Formen des Denkens« sind zwar gleichermaßen schöpferisch tätig wie die Philosophie, nur fabrizieren sie nicht Begriffe, sondern »Funktionen« bzw. »Propositionen« (im Fall der Wissenschaft) (WPh, 135–156), »Prospekte« (im Fall der Logik) (ebd., 157–190) sowie ›Empfindungsblöcke‹ bzw. eine »Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten« (im Fall der Kunst) (ebd., 191, Herv. i. O.). Begriffe sind also für Deleuze und Guattari ausschließlich Gegenstand der Philosophie. Und obwohl Philosophie, Wissenschaft, Logik und Kunst in ein disjunktes, diskontinuierliches Verhältnis zueinander gesetzt werden 8, kann die philosophische Begriffsschöpfung mit den Gegenständen der anderen Formen des Denkens in ein interagierendes und integratives Verhältnis der Resonanz und Interferenz treten – in der reichen Begriffsschöpfungsaktivität von Deleuze und Guattari ist das sogar die Regel. 9 Die Interferenz kann dann so aussehen, dass philosophische Begriffe Aussagen und Elemente bspw. aus der Wissenschaft (inklusive der Mathematik) »als Komponenten aufnehmen« (WPh, 135) 10 oder tert und dargelegt wurde sie in Was ist Philosophie? und in den Gesprächen und Texten des Bandes Unterhandlungen (U) unter der Rubrik »Philosophie« (U, 175–239). 8 Vgl. Heinrich (2002). 9 Vgl. hierzu die ausführliche und exzellente Studie von Arkady Plotnitsky (2012). Siehe auch die von Deleuze und Guattari eingeführten drei »Interferenztypen« der intrinsischen, »äußerlichen« und »nicht lokalisierbaren« Interferenzen (WPh, 258–260). 10 Die Interferenz zeichnet sich ad hoc in der Philosophiekonzeption selbst ab, indem die philosophische Definition der Philosophie auf den Begriff der Kunst zurückgreift. Sie durchzieht aber auch sämtliche zentralen Begriffe, auch diejenigen zur Kennzeichnung des Begriffsbegriffs, wie z. B. ›Singularität‹ und ›Mannigfaltigkeit‹, die der Mathematik entstammen (vgl. dazu ausführlich Plotinsky [2012]). Nicht zu verwechseln sind solche interferierenden Begriffe mit Metaphern oder metaphorischen Ausdrücken. Im Gegenteil: Deleuze lehnt die Interpretation der Begriffe als Metaphern explizit und vehement ab (vgl. Patton [2010], 19–21).

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philosophische Begriffe wissenschaftlich verwendet werden (U, 47). Denk- und Wissensformen übergreifende Interferenz bildet mithin eine gewichtige metaphilosophische Dimension 11, die in der Konzeption von Philosophie und damit auch in der Konzeption des Begriffs mitschwingt. 12 Was aber sind nun Begriffe? Annäherung ex negativo. Zunächst: Was Begriffe in der Konzeption von Deleuze und Guattari nicht sind, ist schnell beschrieben und verhindert Verwechslungen. Begriffe sind weder Allgemeinheiten, Kategorien des Verstandes (Kant) noch Propositionen, Funktionen (Frege), kognitive oder mentale Repräsentationen, Signifikanten, die auf Wesen oder Essenzen von Dingen bezogen sind (ebd., 16; U, 51), noch sind sie atomare oder einfache Einheiten (WPh, 21) oder diskursive Formationen (ebd., 29). Ebenso wenig sind sie Ausdruck eines Sachverhaltes und eines geschlossenen Referenzsystems (vgl. ebd., 40). Deleuze und Guattari konzipieren Begriffe stattdessen als »offenes System«, d. h. in Bezug auf ihre Entstehungskontexte und Denkbedingungen, auf ihre »Umstände« (ebd.), die sich stets wandeln und in Bewegung sind (U, 51). Begriffe beziehen sich auf Ereignisse, die sie zuallererst aus den Dingen freilegen; sie sind »Selbsterkenntnis« des »reine[n] Ereignis[ses], das nicht mit dem Sachverhalt verschmilzt, in dem es sich verkörpert« (WPh, 40). Sie sind daher auch keine Universalien oder enzyklopädischen Erzeugnisse eines ahistorischen Selbst, »eine[r] reine[n] Subjektivität« (ebd., 17), wie sie das ›Ich denke‹ von Kant darstellt. Damit sind Begriffe auch nicht als gegebene oder fixierte Ideen oder Kategorien des Verstandes zu betrachten. Im Gegenteil: Begriffe haben »eine Geschichte« und »ein Werden« (ebd., 24, Herv. i. O.), und in diesem Werden setzen Begriffe »sich selbst in sich selbst« (ebd., 17). 11 Vgl. ähnlich die Interpretation von Axel Cherniavsky (2012), 517. Ein Aufgabenzweig der Metaphilosophie und seit Aristoteles latentes Dauerthema in der Philosophie ist die Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie zu den ›Einzelwissenschaften‹, wobei das Verhältnis von Physik (Mathematik) und Metaphysik und Ontologie sowie darin eingebettet der Status der Naturphilosophie besonders kontrovers diskutiert werden. Auch Deleuze und Guattari trennen Philosophie und Einzelwissenschaften und Logik voneinander als verschiedene Formen des Denkens. Die metaphilosophische Bestimmung von Philosophie wird zudem kombiniert mit einer Konzeption der Geschichte der Philosophie als Schichtung, ›Blätterung‹ von philosophischen Denkebenen, in denen gleichsam tektonischen Verschiebungen und vulkanischen Eruptionen ›alte‹ Schichten des Denkens, alte Probleme erneut hochdringen können oder auch ›zugeschichtet‹ werden können. Die Geschichte der Philosophie ist daher – wie in der Geografie und Geologie – durch eine »stratigraphische Zeit« geprägt, u. a. deshalb gestaltet sich Philosophie immer auch als eine Art »Geophilosophie« (WPh, 69–99, hier: 67, Herv. i. O.). Vgl. zu Deleuzes Philosophie der Geschichte der Philosophie Smith (2012b). 12 Letztlich wird die strikte Abgrenzung der Denkformen dadurch auch wieder aufgehoben, zumindest ein Stück weit relativiert. Für eine zukünftige »nicht-denkende[]« Form des Denkens wird die »Ununterscheidbarkeit von Philosophie, Wissenschaft und Kunst« am Ende von Was ist Philosophie? sogar auch in Aussicht gestellt (WPh, 260).

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Positive Bestimmung des Begriffs. Positiv bestimmt ist ein Begriff »eine Mannigfaltigkeit [multiplicité]« und »Singularität[]«, die sich aus einer bestimmten Anzahl begrifflicher und nicht-begrifflicher Komponenten (composantes) zusammensetzt (WPh, 21; frz., 21; U, 51, Herv. L. B.). Der Begriff ist »ein VielesSein« (SG, 291). In dem Multiple-Sein sind die Begriffe wirkmächtig, ohne in Bedeutungen aufzugehen. Denn Begriffe »zergliedern die Dinge, die ihnen entsprechen, immer wieder auf andere, neue Weise. Deshalb lassen sich die Begriffe nicht von der Art und Weise trennen, die Dinge wahrzunehmen.« (Ebd., 309) Die Vielheiten-Begriffe aber sind nicht unbestimmt, denn sie tragen gleichsam eine arithmetische Signatur, die den »unregelmäßigen Umriß« bestimmt: »Jeder Begriff besitzt Komponenten und definiert sich durch sie. Er hat also eine Ziffer.« (WPh, 21, Herv. L. B.) Aufgrund der bestimmten Anzahl seiner Komponenten ist ihm eine totalisierende Dimension in Bezug auf die Komponenten zu eigen. Der Begriff ist ein »Ganzes«, allerdings ein Ganzes, dessen Kontur nicht streng gezogen ist, dessen Offenheit anfällig ist für den Einbruch des Chaos, der Un(an)geordnetheit (ebd.). Deshalb sind (philosophische) Begriffe besser zu verstehen als »fragmentarische Ganzheiten [des touts fragmentaires]« (ebd., 42; frz., 38). Der Eindruck der Fragilität sollte aber weder über ihre potenzielle und intendierte Wirksamkeit hinwegtäuschen noch über ihre Konsistenz – denn Begriffe intervenieren in die Wahrnehmung und Empfindung und sind »voll kritischer und politischer Kraft und Freiheit« (U, 51). Zwar hat ein Begriff »keine Referenz« (WPh, 29, Herv. i. O.), jedoch eignet ihm durch seine Fähigkeit, die distinkten und heterogenen Komponenten in den Status eines unzertrennbaren Zusammenhalts zu versetzen 13, eine Art »Endo-Konsistenz« (ebd., 26). Diese definiert sich durch die Unzertrennbarkeit seiner Komponenten, die in Zonen der »partielle[n] Überlappung« und der »Nachbarschaft« »deutlich geschieden, heterogen und dennoch nicht voneinander trennbar« sind (ebd.). So wie die Komponenten im Inneren des Begriffs vernetzt und über ihre »Nachbarschaftszonen [zones de voisinage]« und »Brücken« zusammengeschweißt werden, bildet der Begriff durch Verbindung, Verzweigung, Überbrückung zu anderen Begriffen auf derselben Ebene auch eine »Exo-Konsistenz« aus (ebd., 26–27; frz., 26). 14 Die Konsistenz eines Begriffs ist somit Resultat seiner nach innen und außen anordnenden Tätigkeit (»Heterogenese«) (ebd., 27). Umgekehrt formuliert ist er »Koinzidenz-, Kon13 Deleuze und Guattari nennen »den Zustand des Begriffs«, der die Komponenten zusammenstellt und -hält, ein »›Überfliegen [survol]‹« derselben (WPh, 28; frz., 26). Das Überfliegen und damit der Begriff »ist in diesem Sinne ein Denkakt [acte de pensée]« (ebd.). Diese Charakterisierung ist den Neurowissenschaften entlehnt, wo der Überflug einen zerebralen Prozess bezeichnet (vgl. Schmidgen [2007], 44–45). 14 Vgl. zur Endo- und Exo-Konsistenz der Begriffe auch Smith (2012a), 69.

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densations- oder Akkumulationspunkt seiner eigenen Komponenten« (ebd., 26). Endo- und Exo-Konsistenz verweisen auf die doppelte Seinsweise von Begriffen: Begriffe sind mit anderen Begriffen auf einer Ebene verzweigt und zugleich Begriffsnetze (vgl. ebd., 24); ähnlich wie die Akteur-Netzwerke der Akteur-Netzwerk-Theorie, aber auch ähnlich der Modellierung von Begriffen in Begriffsnetzen in der Analytischen Philosophie. 15 Die Komponenten sind wiederum nicht als »Variablen« oder »Konstanten« zu verstehen, sondern als »modulatorisch[e]« und »ordinal[e]« »Variationen« (ebd., 27), als »intensive[] Merkmal[e]« oder »intensive Ordinate[n]«, die wiederum selbst »als reine und einfache Singularität[en] aufgefasst werden« müssen (ebd., 26, 27, Herv. i. O.). Die Komponenten als Variationen können verschiedene »Phasen« haben, die verschiedene Ausprägung des Begriffs kennzeichnen. Dies ist nach Deleuze und Guattari am Beispiel von Descartes' Begriff des »Ego« so zu verstehen: Der Begriff besteht aus drei Komponenten (›Zweifeln‹, ›Denken‹, ›Sein‹), die Komponente (oder der ›Subbegriff‹) ›Zweifel‹ lässt sich wiederum ausdifferenzieren in einen »sinnliche[n], wissenschaftliche[n] und zwanghafte[n] Zweifel« (ebd., 32–33). Diese Ausprägungen oder »Phasen« der Komponente Zweifel bilden einen »Phasenraum [espace de phases]«, »[j]eder Begriff besitzt also einen Phasenraum« (ebd., 33; frz., 30). Und jeder Begriff hat über seine Komponenten auch eine »Gesamtaussage [énoncé total]« (ebd., 32; frz., 29). Topologisch betrachtet ließen sich die eine Gesamtaussage bildenden Komponenten auch als ›Begriffskorpus‹ eines Begriffs verstehen. Begriffe verbinden durch ihre Endo- und Exo-Konsistenzen das Relative mit dem Absoluten, die Heterogenität mit einer ›offenen Form‹, die »SelbstSetzung« und »Erschaffung« (ebd., 29) mit der Instanz, die an der Begriffsschöpfung beteiligt ist. Letztere nennen Deleuze und Guattari »Begriffsperson« (ebd., 31, 74–92). Mit der je spezifischen Exo-Konsistenz ist bereits eine Dimension der Begriffe angesprochen, die man ›immanente Kontextualität‹, ›Begriffsäußeres‹ oder ›Begriffsmilieu‹ nennen kann, insofern sie ›von außen‹ zugleich durch ›Überlappung‹ mit dem Begriff in seinem Inneren verbunden ist und ihn mitkonstituiert. Elemente des ›immanenten‹ Kontexts von Begriffen. Begriffe sind in der Konzeption von Deleuze und Guattari in dreierlei Hinsicht von kontextuellen Ele15 So setzt sich bspw. Peter F. Strawson für ein solches Modell von Begriffen ein: »Stellen wir uns [. . .] das Modell eines kunstvollen Netzes vor, eines Systems verknüpfter Einzelheiten, verknüpfter Begriffe, derart, daß jeder Begriff aus philosophischer Sicht nur verstehbar wird, wenn man seine Verknüpfung mit anderen Begriffen versteht, seinen Platz innerhalb des Systems [. . .].« (Strawson [1994], 33–34) Eine andere Bedeutung von Begriffsnetz präsentiert der politische Theoretiker Michael Freeden (1998), für ihn bilden Netze aus politischen Begriffen die Grundeinheit von ›Ideologien‹.

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menten geprägt: Durch ihre theoretische Einfassung oder philosophische Umgebung, durch den Problemkomplex, auf den sie antworten, und die Begriffspersonen. Beginnen wir zunächst mit der philosophischen Einfassung, also das, was Deleuze und Guattari Immanenzebene nennen. 16 Philosophie und ebenso die anderen Denkformen Wissenschaft und Kunst sind auf je spezifische Weise schöpferisch tätig. Eine Philosophie (z. B. diejenige Descartes' oder Nietzsches) konstruiert aber nicht nur Begriffe, sondern entwirft immer zugleich auch ein ihr je spezifisches »intuitive[s]«, »vor-philosophisch[es]« Existenzfeld, das von den impliziten subjektiven Vorstellungen über die Denkform und ihrer Funktionsweise gebildet wird (WPh, 48). Deleuze und Guattari nennen diese denkerische Bedingung und Voraussetzung »Ebene« und die Vorstellungen über das Denken »Bild des Denkens« (ebd., 44). 17 Auf einer Ebene sind die der Denkform entsprechenden Gegenstände (Begriffe, Funktionen, Empfindungsblöcke) angesiedelt, von ihr werden sie getragen und erhalten ihre Spezifizität, und umgekehrt geben die Begriffe der Ebene, die sie besiedeln, eine Form des Zusammenhalts (vgl. ebd., 43–44). Die Art von Ebene, die die philosophischen Begriffe trägt und in ihnen ›inhäriert‹, ohne sie zu determinieren oder in ein Ableitungsverhältnis zu setzen (vgl. ebd., 49), nennen Deleuze und Guattari »Immanenzebene«, »Konsistenzebene« oder das »Planomenon« (ebd., 42): Die Begriffe sind Ereignisse, die Ebene aber ist der Horizont der Ereignisse, der Speicher oder der Vorrat der rein begrifflichen Ereignisse [. . .]. Die Begriffe pflastern, besetzen oder bevölkern die Ebene, Stück für Stück, während die Ebene selbst das unteilbare Milieu ist, in dem sich die Begriffe verteilen [. . .]. (Ebd., 43)

Um das Verständnis von Immanenzebene und Begriff anschaulicher zu machen, geben Deleuze und Guattari eine Reihe von Beispielen philosophischer Immanenzebenen, z. B. das »virtuelle Bild eines Bereits-Gedachten« der Idee 16 Es gilt hierbei die für Deleuze typische Figur des eingeschlossenen Nein – oder auch: des nicht-transzendenten, empirischen Transzendentalen – als konstitutives Element der Philosophie (ebenso von Wissenschaft und Kunst), als ›Außen im Innen‹ zu begreifen (vgl. WPh, 260): »Vorphilosophisch meint nichts Präexistentes, sondern etwas, das nicht außerhalb der Philosophie existiert, wenngleich es von dieser vorausgesetzt wird. Es sind dies ihre inneren Bedingungen. Das Nicht-Philosophische [ein Terminus von Laruelle; L. B.] ist vielleicht tiefer im Zentrum der Philosophie als die Philosophie selbst [. . .]« (ebd., 49, Herv. i. O.). Die Immanenzebene der Philosophie drückt sich somit auch als eine Art nicht-philosophische philosophiebedingende Existenz- und Funktionsbedingung der Begriffe aus. Vgl. dazu auch Balke (1998). 17 Richard Heinrich (2002) erinnert daran, dass sich eine dem Bild des Denkens ähnliche Figur eines »bestimmte[n] Bild[es] von dem Wesen der menschlichen Sprache« bereits in Augustinus’ Confessiones I,8 findet, das von Wittgenstein zur Einleitung in seine Philosophischen Untersuchungen aufgegriffen wird (vgl. Wittgenstein [2006], 237).

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bei Platon oder Heideggers »›vorontologisches Verständnis des Seins‹« (ebd., 48–49). Was für die Philosophie die Immanenzebene darstellt, ist für die Wissenschaft die Ebene der Referenz in der Form des »Bezug[s] eines Sachverhalts zum System« (ebd., 140) und für die Kunst die Ebene der Komposition (vgl. ebd., 258). 18 Die Schöpfung der Gegenstände des Denkens und der Entwurf der inhärierenden Ebene sind dabei distinkte, aber »komplementäre Aspekte« (ebd., 42) der Konstruktion. Die Komplementarität von Begriffen und ihrer Ebene ist unerlässlich für die Bewegung des Denkens als Praxis der Philosophie: »Begriffe erschaffen und die Ebene errichten, ganz wie zwei Flügel oder Flossen.« (Ebd., 50) Auf einer gemeinsamen Immanenzebene interagieren Begriffe miteinander, sie »passen sich hier einander an, überschneiden einander, stimmen ihre Konturen aufeinander ab, bilden ihre jeweiligen Probleme, gehören zur selben Philosophie, selbst wenn sie verschiedene Geschichten besitzen« (ebd., 24). Für das Verhältnis von Immanenzebene und Begriff lässt sich mit Ingo Zechner festhalten: »Erst die Ebene verschafft einem Begriff seine Konsistenz – Benjamin und Adorno hätten von der Konstellation der Begriffe gesprochen, durch die sie ihren Sinn erhalten.« 19 Die Immanenzebene, die entworfen wird 20, ist wiederum eng mit dem historischen ›Kontext‹ oder ›ZeitRaum‹ verbunden, jener bildet gleichsam das ›historisch-transzendentale Feld‹ oder, ökologisch formuliert, das ›Milieu‹ eines Denkens. Deleuze und Guattari nennen diesen im Denken insistierenden Hintergrund entsprechend auch das »Immanenzmilieu« des Denkens bzw. einer (signierten) Philosophie (WPh, 99, Herv. i. O.). Sowohl die Immanenzebene als auch das Immanenzmilieu lassen sich als eine Art Topologie des Begriffs verstehen, innerhalb derer jene zwei Zonen eines ›Begriffsäußeren‹ bzw. einen doppelten ›notwendigen Kontext‹ bilden, der die Begriffe auf ihrer Ebene anordnet und distribuiert (vgl. ebd., 59). 18 Nicht nur die Gegenstandsschöpfungen (›Konstruktionen‹) verlaufen über Interferenzen zwischen den Denkformen, auch die zugrunde liegenden und gelegten Ebenen interferieren und bilden »[e]in reichhaltiges Gewebe von Korrespondenzen« (WPh, 236). Was für einige esoterisch klingen mag, stellt im Grunde nicht mehr und nicht weniger als eine metadiskursive und metaphilosophische Position dar. Eine ähnliche Position der diskursiven Interferenz vertreten auch Michel Serres mit dem Ansatz einer Geschichte der Wissenschaften als »schwankendes Gefüge«, als »vielfältiges und komplexes Netz von Wegen, Straßen, Bahnen, Spuren, die sich verflechten, verdichten, kreuzen, verknoten, überlagern« (Serres [22002], 18–19) und Michel Foucault in der Archäologie der Wissenschaften. Aber anders als Foucault kommen Deleuze / Guattari und Serres ohne eine historischapriorische Rückbindung in Form einer ›Episteme‹ und ›Diskursformation‹ aus. 19 Zechner (2003), 51. 20 Die ›Immanenzebene‹ tritt bei Deleuze und Guattari in verschiedenen Bedeutungen auf, die nicht immer klar differenzierbar sind. Meiner Interpretation nach ließe sich im Gesamtwerk von Deleuze eine allgemeine Immanenzebene des Lebens, eine allgemeine Immanenzebene des philosophischen Denkens sowie spezielle Immanenzebenen, die einzelne Denker:innen entwerfen, unterscheiden (vgl. WPh, 58–69).

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Begriffsperson. Was verbindet Begriff und Ebene dann in einem hinreichenden Maße? An dieser Stelle bringen Deleuze und Guattari ein weiteres für die Philosophie konstitutives Element ins Spiel, die »Begriffsperson«. 21 Die Begriffsperson bildet zugleich auch einen weiteren ›subjektiven‹ Faktor und ein weiteres Element des Begriffsäußeren neben der impliziten und bedingenden Voraussetzung in der Form einer Immanenzebene bzw. eines ›Bild des Denkens‹. Begriffspersonen agieren auf zwei brisanten Schnittstellenbereichen: Sie intervenieren sowohl zwischen dem absoluten Außen der Philosophie, dem Chaos 22, dem Immanenzmilieu und der Immanenzebene, als auch zwischen der Ebene und den Begriffen (vgl. ebd., 258–260). Sie sind nicht deckungsgleich mit einer Autor:in, einer menschlichen Person, die denkt und schreibt, können aber mit einem Eigennamen – Platon, Aristoteles, Nietzsche, Kant – konvergieren. Doch auch im Fall der Konvergenz zwischen leibhaftiger und begrifflicher Person besteht immer ein Überschuss: »Der Philosoph ist lediglich die Umhüllung seiner hauptsächlichen Begriffsperson und aller anderen, die die Fürsprecher, die wirklichen Subjekte seiner Philosophie bilden.« (Ebd., 73) 23 Die Begriffsperson ist das wahre Subjekt der Philosophie, der Begriffsschöpfung und der Errichtung der Ebene, »sie lebt, sie insistiert« (ebd., 73). 24 Durch die Begriffsperson wird ein Begriff »datiert, signiert und getauft« (ebd., 13). Die »Signatur [la signature]« (ebd., 10; frz., 11) macht einen neu geschaffenen oder transformierten Begriff zu einem Begriff der Philosophiegeschichte, sei es Leibniz' Monade, der Wille zum Wissen Nietzsches (vgl. ebd., 12) – oder eben: die dynamis des Aristoteles. Der Begriff ist auf seine Signatur angewiesen, um als solcher existieren und wahrgenommen werden zu können. Begriffspersonen geben den Begriffen eine eigene Prägung oder erschaffen sie. Auf diese Weise verleihen sie ihnen eine bestimmte Signatur. Begriffsbildung und Problem. Eine Begriffsschöpfung erfolgt nicht ohne Grund oder Anlass, Begriffskonstruktion ist niemals l'art pour l'art. Vielmehr antwortet sie auf eine Situation, die die Notwendigkeit einer Begriffsneuschöpfung oder die grundlegende Transformation eines Begriffs (also eine Schöpfung im kleineren Maßstab) generiert (vgl. WPh, 51). Sie steht somit unter einem »›problematischen Imperativ‹«. 25 »Jeder Begriff verweist auf ein Problem, auf 21 Begriff, Ebene und Begriffsperson bilden zusammen, nicht ironiefrei, die »philosophische Trinität« (WPh, 88). 22 Zum Chaos, das von Ebenen geschnitten wird und die ›Chaos schneidenden‹ Denkformen zu »Chaoiden« macht, vgl. WPh, 238–260, insb. 238–247. 23 Vgl. zur Begriffsperson WPh, 70–96. 24 Begriffspersonen ›überleben‹ bisweilen ihre eigenen Stifter: Platon wurde Sokrates, Nietzsche spricht als Dionysos und Zarathustra (vgl. WPh, 73–75). 25 Smith (2012a), 68.

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Probleme, ohne die er keinen Sinn hätte und die selber nur nach Maßgabe ihrer Lösung herausgestellt oder begriffen werden können.« (Ebd., 22) Der Begriff steht dadurch in einem engen, ja konstitutiven Bezug zu dem spezifischen Problem, das seiner Schöpfung den Anstoß gab. Dabei zeichnet sich auch hier wieder ein reziprokes Verhältnis (was als generelles Signum eines Denkens in Gefügen gelten dürfte) ab: Die Begriffsschöpfung konstruiert das in ihr bezügliche Problem in seiner Stellung gleichsam korrektiv oder ›pädagogisch‹ mit: »[I]n der Philosophie erschafft man Begriffe nur in Abhängigkeit von Problemen, die man für schlecht gesehen oder schlecht gestellt hält (Pädagogik des Begriffs).« (Ebd.) Gerade weil Begriffe problembezogen konstituiert sind und konstituierend wirken, ist ihre Funktion nicht die Referenz, die Repräsentation eines Gegebenen in der Sprache. Sie »bilden es [das Gegebene; L. B.] nicht einfach ab, sondern erschließen neuartige Sachverhalte«, wie Henning Schmidgen pointiert zusammenfasst. 26 Begriffe sind insofern ›problematisch‹, als sie konstitutiv auf Probleme verweisen. Sie sind aber auch insofern ›begrifflich‹ bestimmt, als sie auch auf andere Begriffe verweisen, andere Begriffe affizieren oder in sich integrieren. 27 Für Deleuze und Guattari geht es dabei um »Erkenntniseffekte« (U, 42) in einer problematischen Lage. 28 Dies ähnelt wiederum der Vorstellung von Begriffen als Werkzeuge (Wittgenstein) und den ›Phänomenotechniken‹ Canguilhems und Bachelards. 29 Der Problembezug ist also ein zentraler Aspekt des Begriffs des Begriffs von Deleuze und Guattari, den es nicht zu unterschätzen gilt: Der Begriff lebt durch ›sein‹ Problem. Damit ist letzteres zudem mindestens so zentral für die philosophische Praxis wie der Begriff selbst. 30 Das bedeutet auch: Die sich wandelnden Umstände, neue oder alte Probleme reflektieren sich im Werden der Begriffe. Ihre ›Substantialität‹ liegt in der inneren und äußeren kreativen Anpassung, die von »Zwängen der Erneuerung, der Ersetzungen, der Mutation« durchzogen ist (WPh, 13). Begriffe erhalten durch ihre Problembezüge historische Implikate, Schmidgen (2007), 48. Die Bestimmung des Begriffs als notwendig begriffsbezüglich wähnt sich im Umfeld etablierter philosophischer Traditionslinien der Sprachphilosophie und strukturellen Linguistik. 28 Das Wort »Erkenntniseffekte« stammt von dem Interviewer Christian Descamps. Deleuze und Guattari betonen, dass ihr konzeptioneller Einsatz gegen das dominante Verständnis von Begriffen als Instrumente der Referenz auf einen Sachverhalt weist: »Man hat sie lange dazu benutzt, um zu bestimmen, was eine Sache ist (das Wesen). Wir dagegen interessieren uns für die Umstände einer Sache: in welchen Fällen, wo und wann, wie . . .? Für uns muß der Begriff das Ereignis und nicht das Wesen nennen.« (U, 41). 29 Vgl. Schmidgen (2007), 48. 30 Henning Schmidgen geht in seiner Interpretation sogar noch weiter: Deleuze und Guattari gehe es nicht um »die Begriffe selbst oder die Begriffsprägung [. . .], sondern um die Problemstellungen, auf die die Tätigkeit der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen bezogen ist.« (Schmidgen [2007], 34). 26 27

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die sich in ihrem Inneren sedimentieren und aufschichten (vgl. ebd., 68) – sie sind demnach immer auch Integrationsinstrumente ihrer historischen Kontexte und Notwendigkeiten. Begriffe ohne Problem oder Begriffe im atomaren Zustand ohne Begriffsvernetzung sind sinnfrei (vgl. WPh, 90). Fasst man nun das Problem eines Begriffs als ein Nichtbegriffliches, so wiederholt sich im Begriff die Figur des inneren Außen. 31 Obwohl das Problem höher oder mit dem Begriff gleichwertig gewichtet werden kann, reiht sich methodologisch betrachtet der Ansatz des konstitutiven Problembezugs durchaus in die Auffassung der Philosophiegeschichte als Problemgeschichte oder »Archäologie von Problemen« 32 ein, die ihre Anfänge bereits bei Teichmüller, Trendelenburg und Dilthey findet und Anfang des 20. Jahrhunderts unter den Neukantianern Wilhelm Windelband, Nicolai Hartmann und Ernst Cassirer eine theoretische Ausgestaltung und Anwendung erfuhr. 33 Bezüglich der engen Bezogenheit von Begriff(sbildung) und Problem bzw. Fragestellung stehen sich überdies Deleuze und Guattari und Adorno mit seinem Unternehmen der Philosophischen Terminologie sehr nahe. Denn ähnlich, wie für Deleuze und Guattari das Problem in die Konstruktion des philosophischen Begriffs selbst eingeprägt ist, gibt es für Adorno »Termini [. . .], in denen [. . .] Probleme konzentriert« sind. 34 Begriffe und Geschichte. Begriffsvernetzung (Exo- und Endo-Konsistenz), der Problembezug und die Begriffspersonen bilden die synchrone oder horizontale Dimension des Begriffs; diese wird von Deleuze und Guattari um eine diachrone oder vertikale Dimension ergänzt, sodass die Elemente Problembezug, horizontale Konstellation der Begriffe und die Geschichte und das Werden eines Begriffs (Begriffsevolution) in ein komplexes Vermittlungsverhältnis treten: Ein Begriff hat eine Geschichte, die Geschichte wiederum schichtet die 31 In dieser Formulierung konvergieren die Konzeptionen von Philosophie und des Begriffs von Deleuze / Guattari und Adorno auf erstaunliche Weise: »Philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff.« (Adorno [2003b], 23). 32 Zechner (2003), 50. 33 Vgl. Müller / Schmieder (2016), 59–64, 84–93. Siehe auch die Diskussionen um die Konvergenz von Begriffs- und Problemgeschichte in den Sammelbänden von Pozzo / Sgarbi (2010), (2011). Im Feld der Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung lassen sich grob zwei Auffassungen der Philosophiegeschichte als Geschichte philosophischer Probleme unterscheiden. Zum einen die Position, die die Philosophiegeschichte gewissermaßen als Antwortgeschichte auf perennierende, konstant bleibende Probleme des Denkens und der Menschheit betrachtet, und diejenige Position, die – mit Richard Rorty formuliert – »die Geschichte der Philosophie nicht als Abfolge alternativer Lösungsversuche derselben Probleme zu betrachten [sucht; L. B.], sondern als Abfolge ganz unterschiedlicher Problematiken.« (Rorty [72012], 9). 34 Adorno (21976), 8. Eine weitere Untersuchung der spannenden Verbindung zwischen dem Terminologie-Ansatz von Adorno und der Theorie des Begriffs von Deleuze und Guattari muss hier ausgespart bleiben.

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Begriffe auf, folglich können sich in einem Begriff die Residuen vergangener Problemkonstellationen und Immanenzebenen ablagern 35: In einem Begriff befinden sich meist Stücke oder Komponenten aus anderen Begriffen, die anderen Problemen entsprachen und andere Ebenen bedingten. Dies ist zwangsläufig so, weil jeder Begriff eine neuen Schnitt vollzieht, neue Konturen annimmt, von neuem aktiviert oder zugeschnitten werden muß. (WPh, 24)

Entsprechend sind Begriffe nach der Vorstellung von Deleuze und Guattari polychrone und polyseme Komponentenkomplexe. Während die Geschichte eines Begriffs von dessen problemspezifischer Gestaltung abhängt, betrifft das Werden eines Begriffs die Wandlungen in der Konstellation der Begriffe auf einer Ebene zueinander. Im Werden eines Begriffs zeichnen sich die inneren, aber auch die äußeren »Mutationen« ab, die ein Begriff in der Philosophie einer Philosoph:in annehmen kann (U, 40, 49; vgl. WPh, 24–26). Mit dem Modell der geschichtlichen Schichtung greifen Deleuze und Guattari auf eine Denkfigur zurück, die prominent in der Form der archäologischen Schichtung in Husserls techne 36 und in dem Archiv der Aussagen Foucaults begegnet. 37 Gängig ist dabei die phänomenologische Vorstellung einer verloren gegangenen, nicht mehr oder aktuell nicht verfügbaren ›Sinnschicht‹ oder die historisch semantische Vorstellung von »schichtenden Ablagerungen vergangener Verwendungsweisen« in einem Begriff. 38 Prominent führte Koselleck die These der verschiedenen temporalen Schichten in die historische Begriffsgeschichte ein, und ähnlich erinnert Marcus Llanque in seiner »archäologischen Ideengeschichte« an die Relevanz »ältere[r] Sinnschichten« politischer Ideen für die

35 Ähnlich spricht auch Adorno von einer »außerordentlich komplexe[n] Schichtung der Begriffe« (Adorno [21976], 50). 36 Vgl. Husserl (2012). 37 Vgl. Foucault (Archäologie des Wissens [= AW]), 187–190 und Deleuzes Aufsatz »Über die wesentlichen Begriffe von Michel Foucault« (SG, 231–249), dessen Kapitel »Die Schichten oder historische Formationen: das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)« in Deleuzes Foucault-Buch [= F] (69–98) eingeflossen ist. Deleuze wendet hier das Konzept der Schichten bzw. »Strata«, das er zusammen mit Guattari in Tausend Plateaus [= TP] entworfen hat und in dem er große Anleihen vom geologischen Konzept der Stratifizierung nimmt (vgl. TP, 60–63), auf den Begriff der Episteme von Foucault an (vgl. F, 69). 38 Kersting (1991), 135. In diesem Sinne unterscheidet bspw. Max Wundt in seinen Untersuchungen zur Metaphysik (1953), 83 zwei »Schichten« der dynamis, die zwei unverbundene Bedeutungsweisen repräsentieren. Kersting (1991), 135, kritisiert, dass in einem sprachanalytischen Zugriff auf den Machtbegriff wie demjenigen von Peter Morriss (22002) die fruchtbare Auffassung historischer semantischer Schichten und damit die Vielschichtigkeit des Machbegriffs an sich verloren geht.

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Theoriebildung der Gegenwart. 39 Die Figur des Werdens hingegen ist hier dem Paradigma der Evolution des Lebendigen entlehnt. Zusammenfassung und Ausblick. Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari ist äußerst komplex und versammelt eine Vielzahl an Elementen, die unter das Register einer begriffsinternalistischen (Zusammensetzung aus heterogenen Komponenten, Endo-Konsistenz, offene Ganzheit, [inneres] Werden durch Evolution und Mutation der Komponenten, Ablagerung vergangener Problemzusammenhänge und Begriffsstrukturen) und einer begriffsexternalistischen Perspektive fallen (Begriffsvernetzung, Problembezug, Signatur und Begriffsperson, Bezug auf eine ›Ebene‹). ›Begriffsäußeres‹ und ›-inneres‹, Vorausgesetztes und Hervorgebrachtes, Kontext und Struktur des Begriffs, sind für Deleuze und Guattari über die deleuzsche Interpretation der Figur der Immanenz (die ihrerseits eine Reformulierung der Idee des transzendentalen Feldes als empirische Transzendentalität von Sartre und Kant darstellt) auf das Engste miteinander verzahnt. Dabei fallen den Entwicklungen in den Elementen des Begriffsäußeren, und hierin vor allem dem Problembezug, ein analytisch höheres Gewicht zu. 40 Zugespitzt formuliert handelt es sich bei Deleuze und Guattaris Begriffstheorie um eine Form von immanenzphilosophisch grundierter Begriffsmetaphysik. Es geht in ihrer Begriffskonzeption primär darum, einen Begriff in seinem Funktionieren in und über seine Komponenten zu begreifen, und nicht darum, ihn mit einem Sinn oder einer Bedeutung zu assoziieren, die durch eine Untersuchung der Sprachpragmatik intelligibel würden. Im Gegenteil: »Für Deleuze und Guattari sind Begriffe nicht durch die etikettierende Funktion einer Bedeutung, sondern durch ihre Komponenten definiert. Sie sind ein Ganzes und doch fragmentarisch«, wie Philipp Wüschner die spezifische Charakteristik der Begriffskonzeption pointiert resümiert hat. 41 Sie zeigt die Möglichkeit auf, Begriffe anders zu analysieren und zu kontextualisieren als in den Dimensionen von Referenz, Sprachhandlung, Bedeutung, Allgemeinheit und Wesensbezug. Damit bieten Deleuze und Guattari ein alternatives Verständnis zur Natur und Funktion des Begriffs gegenüber einer semantischen Begriffskonzeption, die derzeit dominant in den Methodiken der politischen Begriffs- und Ideengeschichte zugrunde gelegt wird. Eine Untersuchung der Begriffe meint aus der Perspektive von Deleuze und Guattari genau das: einen Begriff in seine Komponenten zu zergliedern und deren Beziehungen zueinander aufzuzeigen. Formal gesehen ist die Konzeption des Begriffs als Gesamtheit von Komponenten und 39 Llanque (2008), 3. In der Literaturtheorie spricht man schießlich von den ›Werkschichten‹ im Sinne eines »chronologisch offenen Rezeptionsmodells [. . .], das es erlaubt, Werkgeschichte als Schichtungs- und Schichtengefüge zu diskutieren.« (Eke [1989], 15). 40 Vgl. die Interpretationen von Henning Schmidgen (2007) und Paul Patton (2010), insb. 9–15. 41 Wüschner (2016), 28.

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der Ansatz, eine Untersuchung von Begriffen als ›Begriffsanalyse‹ zu begreifen, der analytischen Philosophie sehr ähnlich. Denn auch den analytischen Philosoph:innen geht es mit Strawson um das »Aufdecken[], aus welchen Elementen ein Begriff oder Gedanke zusammengesetzt ist, und wie diese Elemente aufeinander bezogen sind.« 42 Im Unterschied zu den Begriffen der analytischen Philosophie tragen die Begriffe von Deleuze und Guattari allerdings einen historischen Nexus, sie sind signiert und immer mit einem bestimmten wissenskulturellen und geschichtlichen Milieu des Denkens verbunden. Deleuze und Guattari konzeptualisieren einen Begriff des Begriffs, der eine originäre und zugleich anschlussfähige Theorie des Begriffs als fragmentarisches und mannigfaltiges Ganzes impliziert. In ihrem Buch Was ist Philosophie? haben Deleuze und Guattari die Elemente ihres Begriffs des Begriffs anhand verschiedener Beispiele exemplifiziert und damit bereits selbst zur Anwendung gebracht, jedoch nicht zu einem Modell einer Begriffsanalytik ausgearbeitet. 43 Im Folgenden soll es nun darum gehen, durch Modifizierung und Neumodularisierung wesentlicher Merkmale des Begriffbegriffs von Deleuze und Guattari ein methodologisches Begriffsmodell zu entwickeln, das die Basis für eine systematisch-historische Begriffsanalytik zur Untersuchung der Trajektorie der dynamis und der Bezogenheit von Macht- und Bewegungsbegriff bereitstellt. Es gilt, die Theorie des Begriffs von Deleuze und Guattari »aus ihre[r] komplexen ontologischen Einbettung[ ] heraus[zu]lösen« und sodann einzelne Bestandteile methodologisch zu reformulieren. 44

4.2 Komponentenmodell des Begriffs im Anschluss an Deleuze und Guattari

Methodische Vorbemerkung. Das nachfolgend präsentierte methodologische Begriffsmodell und die darauf aufbauende Analytik und Heuristik – das sei hier im Sinne selbstreflexiver Evaluation vorweg geschickt – sind im höchsten 42 Strawson (1994), 12. Die Ansätze unterscheiden sich jedoch in materialer Hinsicht darin, was sie jeweils unter ›Komponenten‹ eines Begriffs verstehen. Deleuzes und Guattaris Begriff des Begriffs mit der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts einerseits und mit Adorno andererseits in Beziehung zu setzen, wäre eine spannende Untersuchung. 43 Womöglich weil ihr philosophisches Anliegen mehr der begriffsschöpfenden Aktivität als der begrifflichen Rekonstruktion galt. 44 Ophir (2012), 7. Adi Ophir (2012) und Slaby / Mühlhoff / Wüschner (2019) entwickeln in ähnlicher Vorgehensweise ein jeweils eigenes Begriffsmodell im Anschluss an Deleuze und Guattari. Sie unterscheiden sich allerdings voneinander und von dem in diesem Kapitel vorgestellten Modell erheblich: Während bei Ophir eine Rückverkoppelung des Begriffs mit dem foucaultschen Diskurs im Vordergrund steht, zielen Slaby / Mühlhoff / Wüschner (2019) auf eine methodologisch produktive Verbindung von agencement und concept.

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Maße adaptiv, thetisch, konstruktiv und anwendungsorientiert auf die spezifischen Thesen bzw. Fragestellungen der Arbeit zum Machtbegriff: Es macht sich die immanenzphilosophische Begriffstheorie von Deleuze und Guattari zu eigen, reformuliert sowohl deren Kernpunkte als auch die Figur der Immanenz und transzendentalen Empirizität und macht eigene begriffstheoretische Setzungen in der Form von Grundannahmen in der Konstruktion des Begriffsmodells. 45 Dabei erfolgen Selektion, Gewichtung und methodologische Reformulierung der begriffstheoretischen Grundlagen von Deleuze und Guattari bereits im Vorgriff auf das konkrete Material – hier im Besonderen auf Aristoteles' dynamis und ihr theoretischer Kontext der Metaphysik und Naturphilosophie. Das bedeutet auch: Die letztliche Auswahl und Aufstellung der Komponenten ist informiert von einer ersten Lektüre der dynamis und ihrer Umgebung, der aristotelischen Philosophie. Genese und Ausarbeitung des Komponentenmodells und der darauf aufbauenden begrifflichen Analytik sind damit als Produkt eines iterativen, zwischen erster Materialschau, vorgelegter Begriffstheorie und Präzisierung der Forschungsfragen und -thesen oszillierenden Findungsprozesses zu verstehen. Diesem iterativen, vortastenden Vorgehen in der methodischen Genese eignet wiederum ein hermeneutisches und konstruktives Moment, das sich aus einem permanenten Vor- und Rückgriff auf die Gesamtaussagen einer Begriffskonzeption nährt. Worauf ist das Komponentenmodell dann im Wesentlichen ausgelegt? Beginnen wir nun zunächst mit seinen Prämissen. Grundannahmen des methodologischen Begriffsmodells. Die erste Grundannahme des Begriffsmodells ist, dass ein Begriff aus formalen heterogenen Komponenten besteht und diese wiederum aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind. Die Komponenten werden in der Form einer minimalen Theorie der begrifflichen Konstitution als inkorporierte Einheiten und konstitutive Bestandteile des Begriffs betrachtet. Dabei werden sowohl wissenschaftstheoretische Aspekte, verschiedene Kontexte (geschichtliche, wissenskulturelle, theoretische) und verschiedene internale und externale Bezüge und Strukturen eines Begriffs als dessen Komponenten verstanden. So bildet sich 45 Indem ich der Grundfigur der Immanenz folge, ist auch mein methodologisches Begriffskomponenten-Modell immanenzphilosophisch und begriffsmetaphysisch informiert, was sich z. B. auch in der Topologisierung des Begriffs, die weiter unten (Kap. 4.3.1) eingeführt wird, ausdrückt. Ich danke Martin Saar für den Hinweis, dass der thetische und immanenzgeleitete Charakter meines Ansatzes nicht unexpliziert und unreflektiert bleiben darf. Insgesamt macht er sich das ganze Unterfangen einer begriffstheoretisch grundierten Untersuchungsheuristik bzw. Analytik leicht angreifbar, ihre Akzeptanz prekär. Denn sie ist im Grunde nur annehmbar, wenn i) die Begriffskonzeption von Deleuze und Guattari, ii) meine Interpretation sowie iii) meine Adaptation, Modifikation dessen und schließlich iv) die aufwendige Konstruktionsweise (›Architektur‹) der begrifflichen Diagrammatik akzeptiert werden. Über das Gelingen mögen die Leser:innen entscheiden.

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bspw. das, was in den Sozialwissenschaften häufig als philosophischer, ontologischer oder epistemologischer ›Hintergrund‹, ›Bezugsrahmen‹ oder ›Fundierung‹ eines Begriffs bezeichnet wird, im Rahmen des vorgeschlagenen Modells als Bestandteil des Begriffs selbst ab. 46 Äußere Variablen und Existenzbedingungen von Begriffen – so eben auch der historisch-geografische Kontext – inhärieren und insistieren in Begriffen. Das ist so zu verstehen, dass die Komponenten des Denk- und Begriffsmilieus sich in einen Begriff gleichsam als seine immanenten Bestandteile ›eindrücken‹. Auf diese Weise werden heterogene und multiple Aspekte zu immanenten Bestandteilen des Begriffs selbst. 47 Die zweite Grundannahme ist, dass diese Komponenten auf unterschiedliche Aspekte, die eine Begriffsbildung und damit auch die Konstitution eines Begriffs ausmachen, verweisen: Die verschiedenen Aspekte eines Begriffs können analytisch gezielt angesteuert werden, sodass mit diesen Aspekten immer auch bestimmte Zugangsweisen der Begriffsuntersuchung verbunden sind. Somit haben die formalen Komponenten eine Art ›materiale‹ Seite, die auf die begriffskonstitutiven Bestandteile verweist, welche wiederum von jeder Begriffsbildung individuell ›ausgefüllt‹ werden, und eine ›methodische‹ Seite, die die Untersuchungsperspektiven, die mit jedem konstitutiven Bestandteil eines Begriffs verbunden sind, anzeigt. Kurz gesagt: Komponenten stellen im Rahmen des Begriffsmodells Inkorporationen ganz unterschiedlicher Bestandteile bzw. Aspekte von Begriffen dar und zugleich repräsentieren sie heterogene Untersuchungsperspektiven und -zugänge auf einen Begriff. Auf diese Weise werden heterogene Untersuchungsperspektiven auf einen Begriff in ein Modell des Begriffs integriert, die in den bisherigen Ansätzen der philosophischen Begriffsanalyse und politischen Begriffs- und Ideengeschichte entlang der Fachgrenzen und eher separat und isoliert betrachtet werden. Gemäß einer dritten Grundannahme wird Begriffen – wie bereits von Deleuze und Guattari – eine »philosophische[] Realität« in der Existenzweise eines 46 Diese Modellierung mag radikal erscheinen, wenn man allerdings das Ziel einer umfassenden, mehrere Untersuchungsperspektiven integrierenden Begriffsuntersuchung vor Augen führt, sollte sich dieser methodologische Kniff plausibilisieren. Der Kniff stellt m. E. eine Vertiefung oder – je nach Interpretation der deleuzschen Immanenzphilosophie – eine Anwendung der Idee der Immanenz als Variation transzendentaler Empirizität dar. 47 Mit dem Komponentenmodel wird somit eine eigene Antwort auf die Frage nach dem ›richtigen‹ »›Bezugsrahmen‹« in der auf das Verstehen ausgerichteten methodischen Problematik der Ideengeschichte gegeben, die lange Zeit die Methodendiskussion der Ideengeschichte umtrieb. (Vgl. Skinner [2010], 21). Zugleich wird die damit verbundene Frage nach dem »determinierende[n] Faktor« oder dem »determininierende[n] Rahmen« (ebd., 82), in eine Frage der Konstitution, d. h. des Aufbaus und Zusammenhangs von Begriffen, und in eine These über die konstitutiven Bestandteile von Begriffen verschoben, womit zugleich eine Multiplizierung der Analysedimensionen und -perspektiven einhergeht.

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»Ereignis[es]«, einer »Diesheit, einer[r] Entität« zugeschrieben (WPh, 16, 27). Damit rekurriert die methodologische Begriffsmodellierung auf eine »›begriffsrealistische[]‹ Einstellung«, der zufolge mit Andreas Kemmerling »manchen Begriffen« als Einheiten des Denkens »sozusagen ein Eigenleben über den Gebrauch der Wörter hinaus zu[ge]billigt« werden kann. 48 Kemmerling bezieht diese ›begriffsrealistische Einstellung‹ in der Analyse von Begriffen, die nicht die volle ontologische Verpflichtung zu einem platonischen Begriffsrealismus eingeht, aber doch unter dem Firmament der Ideen den Begriffen eine denkerische Eigenständigkeit, ein ›Eigenleben‹ zuschreibt, auf den Glaubensbegriff. Hat bereits die Begriffskonzeption von Deleuze und Guattari ein nicht-sprachliches Begriffsverständnis angeregt, so lässt sich mit Kemmerling begriffstheoretisch derart Stellung beziehen, »daß Begriffe [. . .] nichts Psychologisches und auch nichts Sprachliches oder von Sprache Abhängiges sind.« 49 In der hier vorgelegten Studie zum sozialen und politischen Machtbegriff soll diese Form des nicht-sprachlichen Begriffsrealismus fruchtbar gemacht werden. Der Begriff als Kompositum aus zwölf heterogenen Komponenten. Die erste Grundannahme bedarf der Vertiefung: Erstens stehen die Komponenten eines Begriffs weder in einem deduktiven noch in einem derivativen Verhältnis zueinander, d. h. zwischen ihnen gibt es formal keine Hierarchisierung, keine unterschiedliche Valorisierung. Das Verhältnis der Komponenten bestimmt sich vielmehr als Verkettung gleichrangiger heterogener Elemente. Zweitens gilt es die Existenz- und Funktionsweise der Komponenten näher zu charakterisieren. Die Komponenten ›verkörpern‹ verschiedene Bezugsrahmen zum Verstehen von Begriffen insgesamt. Zugleich werden sie als begriffskonstitutive und begriffsbedingende Bestandteile identifiziert. 50 Als solche sollen sie die verschiedenen konstitutiven Aspekte und Elemente eines Begriffs intelligibel machen. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die methodologischen Komponenten einen Begriff auch kausal erklären. Vielmehr soll die Untersuchung der konstituierenden Komponenten zu einem Verstehen der Aufbau- und inneren Funktionsweise des Begriffs beitragen. Methodologisch betrachtet wird ein Begriff damit auch nicht von einer spezifischen Zugangsweise her untersucht oder gar erklärt, sondern auf seine vielschichtigen »konnektiv[en]« (WPh, 104, Herv. i. O.) Bestandteile hin untersucht, die selbst heterogene Zugangsweisen repräsentieren. Während sich bei Deleuze und Guattari verschiedene Begriffe durch eine unterschiedliche Anzahl an Komponenten – ihre »Ziffer« – definieren, weist das methodologische Begriffsmodell eine feste Anzahl an formalen Kemmerling (2018), 77. Kemmerling (2017), 19. 50 Hier in Abwandlung der skinnerschen Formel des »determinierende[n] Rahmen[s]« von Ideen und Begriffen (vgl. Skinner [2010], 82). 48 49

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Komponenten auf. Diese sind insofern formal, als sie eine bestimmte Dimension, einen Aspekt eines Begriffs anzeigen. Nach diesem Modell verfügt jeder Begriff über mindestens folgende zwölf Komponenten, 51 die sich einerseits an die Eigenschaftsbeschreibungen des Begriffs des Begriffs von Deleuze und Guattari anlehnen und andererseits zugleich – und das ist die methodologische Wendung des Verständnisses von ›Komponenten‹ – auch als spezifische Untersuchungsperspektive qualifizieren (vgl. Abb. 1). Das Modell hat die Funktion, die begriffliche Konstitution, d. h., die annähernde Gesamtheit der Ressourcen und Bestandteile eines Begriffs herauszustellen. Damit soll ein analytischer und heuristischer Zugriff angeboten werden, der die Ressourcen der Begriffsbildung und die innere Funktion von Begriffen in ihren Bestandteilen sowie diese Bestandteile analysierend und vergleichend jenseits ihrer sprachpragmatischen Einbettung zu beleuchten vermag. K1 Historisch-geografisches Milieu. Das hier als ›historisch-geografisches Milieu‹ Bezeichnete referiert auf das, was in kontextualistischen Ansätzen der politischen Begriffs- und Ideengeschichte als historischer, ›sozialer‹ und ›politischer‹ Kontext eines politischen Denkens gilt. Es umfasst in etwa die Lebensund die Schaffenszeit derjenigen Denker:in – oder mit Deleuze und Guattari: der Begriffsperson –, deren Begriffe oder Ideen untersucht werden. K2 Wissenskulturelles Milieu. Der Kontextrahmen, der aus der Perspektive der Begriffs- und Ideengeschichte als philosophischer, ideeller oder geistesgeschichtlicher ›Hintergrund‹ einer politischen Theorie oder Begriffsbildung adressiert wird, soll hier als ›wissenskulturelles Milieu‹ bezeichnet werden. Dazu wird das Konzept der ›Wissenskultur‹ von Hans-Jörg Sandkühler aufgegriffen, das seinerseits auf Ansätze der Historischen Epistemologie rekurriert. 52 Sandkühler versteht eine Wissenskultur als eine spezifische »Kultur[] der Erkenntnis und des Wissens«, die sich auf mehreren Ebenen ausdrückt. 53 Sie lässt sich auch als »eine mehrstufige ›Rahmung‹ und kulturelle Bedingung der Wissens- und Erkenntnisgenese« begreifen. 54 Dabei unterscheidet Sandkühler ineinander integrierte engere Rahmen (z. B. Begriffsschemata, Theorien), übergreifende Rahmen (Wissenschaftsdisziplinen, deren Diskurse und Paradigmen) und umfassende Rahmen (z. B. Weltbilder, Religionen). In diesen Rah51 Es sind weitere und alternative Komponenten, wie bspw. imaginäre und metaphorische Aspekte oder die Integration der sprachpragmatischen Dimensionen, für das methodologische Begriffsmodell denkbar. Tatsächlich betrachte ich das Begriffsmodell als modular erweiterbar. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit habe ich mich jedoch für die nachfolgend präsentierte Auswahl an Komponenten bzw. Untersuchungsaspekten entschieden. Die Auswahl für das Begriffsmodell orientiert sich, wie bereits erwähnt, an den für die Untersuchungsfragen relevanten Aspekten. 52 Sandkühler (2002), 18, 250, 256, vgl. Detel (2011), LXXXI. 53 Sandkühler (2002), 18, Herv. i. O. 54 Buhr (2019), 79.

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Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari

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Komponente (K) im methodologischen Begriffsmodell (Untersuchungsperspektive)

Geschichtliche und raumzeitliche Kontextua- K1 Historisch-geografisches Milieu lisierung eines Denkens, das Denken in einer (sozial- und politisch-geschichtlich Zeit an einem Ort (»Immanenzmilieu«) = das kontextualisierend) »geographische[], historische[], psychosoziale[]« Territorium des Denkens (WPh, 101) Weisen des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens, ein zugrunde liegendes ›Bild des Denkens‹ (»Immanenzmilieu«)

K2 Wissenskulturelles Milieu (philosophie- und wissensgeschichtlich und wissenskulturell kontextualisierend)

Die Immanenzebene, die ein:e Philosoph:in entwirft

K3 Metatheoretische Ebene des Begriffs (theoretisch, methodologisch, ggfs. metaphilosophisch)

Das Problem, auf das der Begriff in seiner Bildung antwortet

K4 Problemkomplex der Begriffsbildung (problemfokussiert)

Die Stelle auf der Immanenzebene, an der ein Begriff gebildet wird und mit anderen Begriffen in Beziehung steht (der »Ort, den er [der Begriff, L. B.] auf der Ebene besetzt«, WPh, 28)

K5 Theoretisches Terrain/champ fondateur (theorie-kontextuell)

Begriffe können aus mehreren Schichten (Blättern) bestehen

K6 Basisebene des Begriffs und deren Elemente (definitorisch-analytisch)

Die Komponenten eines Begriffs können ver- K7 Phasenraum (=Typen) der ersten schiedene ›Phasen‹ haben, d. h., sie können Ebene des Begriffs (analytisch) sich in verschiedene Typen ausdifferenzieren Innere Anordnung der Komponenten

K8 Strukturprinzip (analytisch, wissenschaftstheoretisch)

Begriffe können aus mehreren Schichten (Blättern) bestehen

K9 Weitere begriffliche Ebenen / Schichten (definitorisch und systematisch-historisch)

Die Immanenzebene, der ›immanente philosophische Kontext‹ eines Begriffs

K10 Epistemologisches und ontologisches Profil (wissenschaftstheoretisch)

Nachbarschaftszonen, Zonen der Überlagerung von Begriffen mit anderen Begriffen

K11 Kategoriale Nachbarschaften (analytisch)

Nachbarschaftszonen, Zonen der Überlagerung von Begriffen mit anderen Begriffen

K12 Begriffliche Verzweigungen (analytisch)

Abb. 1 Komponenten des methodologischen Komponentenmodells des Begriffs

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men bilden die Frage nach dem vertretenen Realismus und die mit dem Realismus-Konzept verbundene Idee von Repräsentation wesentliche Elemente 55: »Auffassungen über Realismus sind in komplexe Welt-Bilder eingeschrieben und prägen eine Wissenskultur.« 56 Gemeint sind hier paradigmatische und weit verbreitete diskursive Positionen zum Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand, Mensch und Welt, Natur und Gesellschaft, die das Denken einer Zeit, einer Epoche charakterisieren. Ein wissenskulturelles Milieu ist dabei immer auch durch eine spezifische »ontologische Situation« 57 und ein geteiltes ›Bild des Denkens‹ (Deleuze) gekennzeichnet. In eine ähnliche Richtung gehend hat Whitehead das, was hier als wissenskulturelles Milieu verstanden wird, illustrativ auch als eine bestimmte ›Kolorierung‹ bezeichnet, die »modes of thought« in der Geschichte des Denkens benetzt und durchtränkt. 58 K3 Metatheoretische Ebene des Begriffs. Die deleuzsche ›Immanenzebene‹ wird hier methodologisch reformuliert und gestaltet sich nun als spezifischer metatheoretischer Rahmen einer Theorie- und Begriffsbildung. Er umfasst hier die Gesichtspunkte (i) der generellen Erkenntniseinstellung und des Erkenntnisinteresses, (ii) der methodologischen Orientierung und (iii) des zugrunde liegenden Wissensbegriffs, im Rahmen dessen eine theoretische Unternehmung und Begriffsbildung eingeordnet werden muss. 59 Die methodologische Grundannahme für diese Komponente ist, dass nicht nur philosophische Entwürfe, sondern auch sämtliche politischen Theorien und Begriffsbildungen sich implizit auf bestimmte Positionen oder Rahmungen (z. B. eine epistemologische oder eine ontologische) festlegen und diese methodologischen Verpflichtungen oder Grundzüge die Begriffsbildung selbst präfigurieren. Traditionell wird die metatheoretische Ebene einer Begriffsbildung von methodischdisziplinären Perspektiven wie denjenigen der historischen und politischen Epistemologie, der Wissensgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte untersucht. K4 Problemkomplex der Begriffsbildung. Insofern eine spezifische Begriffsbildung immer auf ein Problem oder eine Fragestellung antwortet, verkörpert der Begriff gewissermaßen die Antwort auf dieses Problem selbst. Die These Sandkühler (2002), 250–256. Ebd., 256. 57 Adorno (2003a), 346. Im Anschluss an Adorno verstehe ich unter einer ontologischen Situation das Verhältnis der Philosophie und der Wissenschaften zu der Lehre vom Sein und von der Existenz sowie generelle Züge und Tendenzen in der Ausrichtung derselben in einem bestimmten Zeitraum. 58 Whitehead (1997), 54: »Every philosophy is tinged with the colouring of some secret imaginative background, which never emerges explicitly into its trains of reasoning.« 59 Zur Erkenntniseinstellung vgl. Hampe (32015), 22–28, und oben Kap. 3.1, Fn. 61. Ausgespart bleiben auch hier wieder aus Gründen der Arbeitsökonomie die imaginären Dimensionen. 55 56

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der Problembezogenheit eines Begriffs, die sich bei Deleuze und Guattari ganz zentral in der Konzeption des Begriffs findet, ist transdisziplinär verbreitet und findet sich sowohl in philosophiegeschichtlichen Ansätzen als auch in der politischen Ideengeschichte, so z. B. im Challenge- und Response-Ansatz von Münkler und Straßenberger. 60 Dabei wird das Aufkommen und Formulieren von Problemen selbst historisch gefasst; nicht gemeint ist der Ansatz der Philosophiegeschichtsschreibung, wonach die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte perennierender Probleme verstanden wird, auf die im Laufe der Geschichte verschiedene Antworten in Form von Theorie- und Begriffsbildungen gefunden werden. In die Problemformulierung fließen, darauf haben sowohl Deleuze und Guattari als auch Richard Rorty hingewiesen, selbst immer schon Vorannahmen und Präfigurationen im Hinblick auf die konkrete Antwort als Begriffsbildung ein. 61 Problem und antwortender bzw. problemlösender Begriff bilden somit ein besonders festgezurrtes Gefüge. K5 Theoretisches Terrain / champ fondateur. Das konkrete theoretische Umfeld eines Begriffs sei hier im Anschluss an Georges Canguilhem als »theoretisches Terrain« 62 oder mit Stanguennec auch als champ fondateur 63 bezeichnet. Hiermit sind Aspekte impliziert, die klassischerweise als theoretische ›Prämissen‹, ›Hintergründe‹, ›Vorannahmen‹ oder ›theoretischer Kontext‹ der Begriffsbildung adressiert werden. Ein theoretisches Terrain bildet das unmittelbare Bedingungs- und Existenzfeld der Begriffskonstruktion und damit einen engeren Rahmen als das wissenskulturelle Milieu (K2) und die metatheoretische Ebene eines Begriffs (K3). In den großen philosophischen Systementwürfen reflektiert es die Lokalisation der Begriffsbildung innerhalb dieses Systems sowie die theoretische Verbindung des champ fondateur zu anderen Teilen des philosophischen Systems oder anderen angrenzenden Theoriefeldern. K6 Basisebene des Begriffs und deren Elemente. Die methodische Grundannahme hierbei ist, dass sich ein Begriff aus mehreren Ebenen oder ›Schichten‹ zusammensetzen kann. Jeder Begriff verfügt über eine Basisebene, und falls keine weiteren Ebenen ausgebildet sind, bildet sie die Gesamtaussage des Begriffs. Begriffliche Ebenen resultieren entweder aus einer begrifflichen Münkler und Straßenberger (2016); Straßenberger (2018). WPh, 90–95. Rorty (72012), 9, skizziert die für ihn wichtige Einsicht, die ihm seine philosophischen Lehrer vermittelten, im Vorwort zu seiner großen Studie Der Spiegel der Natur folgendermaßen: »Ein ›philosophisches Problem‹ war das Produkt gewisser in die Terminologie der Problemformulierung eingebauter unbewußter Voraussetzungen, die man zu hinterfragen hatte [. . .].« 62 Canguilhem bezeichnet den theoretischen Kontext eines wissenschaftlichen Begriffs als »theoretische[s] Terrain« (Canguilhem [2008], 12). In seiner Untersuchung zur Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert zeigt er, dass der Begriff des Reflexes mehrere theoretische Terrains in seiner Herausbildung zum physiologischen Begriff durchwandert hat. 63 Stanguennec (1990). 60 61

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Weiterentwicklung oder Neukonfiguration und / oder durch Verlagerung des theoretischen Fokus in der Evolution eines Begriffs durch eine Begriffsperson. Angewendet bedeutet dies, dass bspw. der Machtbegriff von Hobbes als aus mehreren Ebenen zusammengesetzt erfasst werden kann. Die Schichtung kann dabei selbst rein analytisch oder mit historischem Index im Sinne von ›Werkschichten‹ verstanden werden. Mit der Basisebene wird eine Grundaussage des Begriffs formuliert und mit dieser die Elemente dieser Aussage angegeben. So bilden bspw. bei der begrifflichen Bestimmung von Macht im Schema ›Macht ist XY‹ X und Y die Elemente der Ebene des Machtbegriffs. Wird ein Begriff als aus mehreren Ebenen zusammengesetzt identifiziert, gilt es eine erste oder grundlegende Ebene zu bestimmen und die Elemente der sämtlichen Ebenen zu skizzieren. K7 Phasenraum (= Typen) der ersten Ebene. Eine begriffliche Ebene kann verschiedene Formen oder Typen ausbilden und damit einen sogenannten Phasenraum, d. h. Ausdifferenzierungen aufspannen. So kann es unterschiedliche Formen der Elemente einer Ebene geben, die den Begriff insgesamt binnendifferenzieren – bspw. könnte für die Elemente der Basisebene mit dem Schema ›Macht ist XY‹ zwischen unterschiedlichen X und Y bzw. Variationen von X und Y oder verschiedene Typen von Macht unterschieden werden. 64 Variationen gilt es insbesondere für die Basisebene eines Begriffs herauszuarbeiten und deren Kontinuität in den weiteren Schichten nachzuzeichnen. K8 Strukturprinzip. Die methodische Grundannahme für diese Komponente ist, dass jeder Begriff eine innere Struktur aufweist oder einer Logik folgt, die ihn auf eine bestimmte Weise ›von innen her‹ anordnet oder ausrichtet. Strukturprinzipien gilt es insbesondere für die Basisebene eines Begriffs herauszuarbeiten in den weiteren Schichten nachzuzeichnen. K9 Weitere Ebenen / Schichten. Diese Komponente steht in engem Zusammenhang mit der Komponente der Basisebene eines Begriffs (K6). Sie folgt ebenfalls der methodischen Grundannahme, dass sich ein Begriff aus mehreren Ebenen oder ›Schichten‹ zusammensetzen kann. Die Basisebene und die weitere(n) Ebene(n) stehen auf näher zu bestimmende Weise in Beziehung zueinander, bspw. in einem Verhältnis der Komplettierung oder der Diskontinuität. Die Ebenen bilden neben den Phasen und dem Strukturprinzip eine weitere Komponente der begrifflichen Binnendifferenzierung. Sie können aus der Genese des Werkes einer Autor:in bzw. Begriffsperson resultieren oder rein analytisch verstanden werden. 65 Die Figur der Schichtung erlaubt es, auch auf 64 Die Unterscheidung von Typen ist nicht zu verwechseln mit der ontologischen Unterscheidung von verschiedenen Arten einer Sache. 65 Ich danke André Brodocz für die Nachfrage, ob und inwiefern die Schichten des Begriffs eine Materialität aufweisen und wie sich diese bestimmen ließe. Die Materialität besteht, wenn man

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den ersten Blick eher fernliegende Aussagen als Ebenen eines signierten Begriffs zusammenzuführen, so z. B. – vorausgreifend – Macht und Regierung bei Foucault. K10 Epistemologisches und ontologisches Profil. Die zugrunde liegende methodische Grundannahme für diese Komponente ist, dass mit jedem Begriff ontologische und epistemologische Verpflichtungen bzw. Implikationen und Profilierungen verbunden sind, die über das theoretische Terrain (K5) und die metatheoretische Rahmung (K3) vorgeprägt sind. Über die Profilzeichnung 66 wird ein Begriff als (primär) ontologischer, methodologischer oder epistemologischer Begriff klassifiziert und die Form der involvierten Ontologie (z. B. theoretische oder substanzielle Ontologie) und der Epistemologie (z. B. konstruktivistisch, realistisch) bestimmt. Entsprechend der Schichtung kann das ontologische Profil auch hybrid ausfallen bzw. eine gewisse ontologische Varianz und Polarität aufweisen, ohne dass dies zwingend als Ambivalenz oder Widerspruch in einem Begriff gedeutet werden muss. Die Charakterisierung erfolgt primär im Zusammenhang mit der Komponente der Basisebene des Begriffs (K6). K11 Kategoriale Nachbarschaften. Die begriffstheoretische Grundannahme dieser Komponente ist, dass ein Begriff nicht allein aus sich selbst besteht und verstehbar wird, sondern immer auch mit ›nachbarschaftlich‹ nahen Begriffen verbunden ist und darüber eine Form von Exo-Konsistenz erhält. 67 Unter den sehr eng verbundenen Begriffen sei hier zwischen kategorialen Verbindungen und Verbindungen in der Form einer Verzweigung und Vernetzung unterschieden. Die Qualifizierung als ›kategoriale‹ Nachbarschaft begründet sich aus einer ähnlichen Begriffsstruktur oder äquivalenten begrifflichen Funktion. K12 Begriffliche Verzweigungen. Die begriffstheoretische Grundannahme auch dieser Komponente ist mit Deleuze und Guattari, dass ein Begriff nicht allein durch sich selbst, sondern immer auch über eine begriffliche Vernetzung oder Verzweigung zu begreifen ist und darüber eine Form von Exo-Konsistenz erhält. Die Figur der begrifflichen Bezogenheit auf andere Begriffe ist sowohl in überhaupt davon im Rahmen eines Modells sprechen kann, aus der analytischen Modellierung der Differenzierung in Schichten. 66 Das evaluative Konzept des ›epistemologischen Profils‹ stammt von Gaston Bachelard (1978), 55–65. Während es bei Bachelard zur Anzeige des einer Begriffsbildung zugrunde liegenden Rationalisierungsgrades dient und dadurch in sich teleologisch ausgerichtet ist, verwende ich es hier nicht-teleologisch im Hinblick auf die Bewertung der epistemologischen Rahmung und des ontologischen Gehaltes. 67 Diese Qualifizierung als ›Exo-Konsistenz‹ versteht sich im Rahmen des methodologischen Komponenten-Modells natürlich nur relativ, insofern diese Komponente in den Begriff inkorporiert ist. Aus der Perspektive einer klassischen Begriffsanalyse adressiert sie eher das ›Äußere‹ eines Begriffs.

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der Historischen Epistemologie, Analytischen Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, aber auch in der Kritischen Theorie weit verbreitet, ihr zufolge gilt es, Begriffe in ihren konstitutiven begrifflichen Vernetzungen zu erfassen und zu begreifen. 68 Im nachfolgenden Abschnitt wird das Komponentenmodell zur Skizzierung einer Analytik herangezogen, die darauf ausgelegt ist, begriffliche Strukturen, Bezüge und Ähnlichkeiten innerhalb eines Begriffs und zwischen verschiedenen signierten Machtbegriffen systematisch aufzudecken.

4.3 Begriffliche Diagrammatik

Die Ausarbeitung des Komponenten-Modells ist bereits im Vorgriff auf seine Verwendung als Grundlage einer Analytik erfolgt. Inwiefern sich auch die Anordnung der zwölf Komponenten aus diesem Vorgriff ergibt, wird sich nun in der Präsentation der Analytik aufklären, die sich als historisch-systematische Heuristik zur Untersuchung des Machtbegriffs versteht. Die Analytik nimmt das Komponenten-Modell des Begriffs zu ihrer inhaltlichen Grundlage, kombiniert es aber darüber hinaus mit Dimensionen des Diagrammatischen und Kartographischen. Hieraus sollte deutlich werden, warum die Analytik die Bezeichnung der ›begrifflichen Diagrammatik‹ erhält (4.3.1). Schließlich werden im Hinblick auf die begriffshistorische Untersuchungsthese der Vorläuferschaft der dynamis für den sozialen und politischen Machtbegriff und der systematischen Untersuchungsthese der Beziehung von Machtbegriff und Bewegungsbegriff zwei Modi der begrifflichen Diagrammatik skizziert (4.3.2).

4.3.1 Diagramm und Karte

Zwar bietet das Komponenten-Modell für sich bereits eine erste heuristische Orientierung für eine multiperspektivische Begriffsuntersuchung, indem es unter dem Namen der ›Komponenten‹ eine dezidierte Auswahl an zwölf Konstitutionsbestandteilen eines Begriffs zusammenträgt und anordnet, die ihrerseits zugleich zwölf Untersuchungsperspektiven bzw. -zugänge adressieren. Allerdings fehlen dabei noch vermittelnde Elemente, die das KomponentenModell in eine Analytik bzw. Heuristik für systematische und historische be68 In diesem Sinne vertritt z. B. Andreas Kemmerling in einem Interview zu seiner großformatigen Studie über den Glaubensbegriff die These, dass Begriffe am besten »durch die Verbindungen, in denen sie zu anderen Begriffen, insbesondere zu anderen Grundbegriffen, stehen«, zu bestimmen seien. (Kemmerling [2018], 77).

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griffliche Zusammenhänge überführen. Diese Elemente sind die Konzepte der Begriffsregion, des Diagramms, der Karte sowie die Konzepte der Wieder-Holung und der Trajektorie. Begriffsregionen. Einem gängigen Explikationsmuster folgend wird in der Beschreibung oder Erklärung eines Gegenstandes zwischen ›internalistischen‹ und ›externalistischen‹ Perspektiven, zwischen Immanenz und Kontext, Text und Kontext, Innen und Außen oder verschiedenen Zonen oder Regionen unterschieden. Die zugrundeliegende Strategie der metaphorischen Verräumlichung und Topologisierung eines epistemischen Gegenstandes und seiner Zugangsweisen dient dem Zweck, einen in sich komplexen Gegenstand, der eine angemessen komplexe Betrachtung einfordert, einer ersten heuristischen Anordnung und Orientierung zuzuführen. Denn bereits durch geschickte Anordnung der Komponenten lässt sich das Mannigfaltige (oder das Chaos, wie Deleuze und Guattari sagen würden) nach einem gleichermaßen systematischen und imaginären Ordnungsgefüge rastern. Dieser Idee folgend schlage ich vor, auch die begrifflichen Komponenten (K1–K12) des methodologischen Begriffsmodells den Zonen des ›Denkmilieus‹ einer Begriffsbildung, des Begriffsaußen oder ›Begriffsmilieus‹ und des Begriffsinneren oder ›Begriffskorpus‹ zuzuordnen (vgl. Abb. 2). Die Zuordnung ist in erster Linie heuristisch motiviert und meint nicht eine ontologische Segmentierung des Begriffs. Sie greift auf topologische und ›geophilosophische‹ Dimensionen sowohl bei Deleuze und Guattari als auch von Gaston Bachelard zurück. Bachelard hat in seiner historisch-epistemologischen Untersuchung des physikalischen Massebegriffs zwischen einem »Innere[n] des Begriffs« mit Verweis auf die »interne funktionale Struktur« und »extern[en]« »Funktionen« eines Begriffs, die sich durch seine »Verbindung mit anderen einfachen Begriffen« begründen, unterschieden. 69 »[G]egen Ende des 17. Jahrhunderts«, so analysiert es Bachelard, trat der Gebrauch des Massebegriffs von einer einfachen in eine komplexe Gebrauchsweise über, in der der Massebegriff nun korrelativ, d. h. in Korrelation mit den Begriffen Kraft und Beschleunigung, verwendet wurde. Damit trat der Massebegriff in einen »Korpus von Begriffen«, der sich durch einen spezifischen »begrifflichen Zusammenhang[] (solidarité notionelle)« auszeichnet. 70 Das Konzept des »Begriffskorpus« soll hier nun so verstanden werden, dass ein komplexer Begriff – wie derjenige von Macht – dergestalt einen Begriffskorpus aufspannt, dass die verschiedenen Komponenten, die die innere Struktur eines Begriffs ausmachen, unter ihm zusammengefasst sind; dabei können Teile dieser Komponenten selbst auch Begriffe (z. B. als Elemente der Ebenen) 69 70

Bachelard (1978), 43, Herv. i. O. Ebd., 40, Herv. i. O.

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sein. Durch die Komponenten des Begriffskorpus' erhält ein Begriff eine Art Endo-Konsistenz. Der Begriffskorpus ist wiederum, gleichsam organisch-topologisch, in ein begriffliches Milieu eingefasst. Dabei ist das Milieu eines Begriffs mit Deleuze und Guattari – die Figuren der Immanenz und des transzendentalen Empirismus aufgreifend 71 – als sein »transzendentales Feld« zu begreifen, d. h. als seine inhärierende und immanente Vorausgesetztheit. 72 Diese Voraussetzungen sind zum einen die metabegrifflichen Zusammenhänge, die (meta)theoretischen Bezüge sowie die Problemstellung, auf die ein Begriff antwortet (Segment I), zum anderen die Verbindungen zu anderen Begriffen (Segment II). Wenn wir Deleuze und Guattari folgen, hat ein Begriff »keine andere Regel als die innere wie äußere Nachbarschaft.« (WPh, 103) 73 Die inneren Nachbarschaften bilden somit den Begriffskorpus aus, die äußeren sein Milieu. Da das begriffliche Milieu seinerseits in ein spezifisches Denkmilieu eingefasst ist, faltet sich das transzendentale Feld bzw. die kontextuelle Immanenz doppelt aus, nämlich als Milieu der begrifflichen Nachbarschaften und theoretischen Bezüge und als Milieu des Denkens, innerhalb dessen sich die Begriffsbildung ereignet. Während das Begriffsmilieu dem Begriffskorpus unmittelbar ExoKonsistenz verleiht, verleiht das Denkmilieu dem Begriffsmilieu Exo-Konsistenz. Zusammengefasst lassen sich drei Regionen und Konsistenzzonen innerhalb des methodologischen Komponentenmodells des Begriffs ausmachen: Begriffskorpus (Endo-Konsistenz), Begriffsmilieu (Exo-Konsistenz ersten Grades) und Denkmilieu (Exo-Konsistenz zweiten Grades). Methodisch betrachtet bilden Begriffskorpus und Begriffsmilieu klassischerweise den Gegenstand der ›philosophischen‹ Begriffsanalyse und das Denkmilieu den Gegenstand wissenssoziologischer und denkgeschichtlicher Untersuchungen. Der Kontext des Denkmilieus bildet somit den weitestmöglichen Rahmen, in dem die Bildung des Begriffs zu verorten ist. Das methodologische Komponentenmodell und seine Regionalisierung vermögen nun genau diese heterogenen methodischen 71 Deleuzes Philosophie der Differenz selbst lässt sich als »transzendentale[r] Empirismus« (Deleuze [32007], 186) begreifen. Dieser Aspekt soll hier nicht weiter vertieft werden, anstelle dessen sei auf die ausführliche Studie von Marc Rölli (22012) verwiesen sowie eine Idee dessen mithilfe der präzisen Zusammenfassung von Friedrich Balke gegeben: »Der Empirismus ist transzendental, wenn er das Sinnliche aus seiner komplementären Beziehung zum Intelligiblen herauslöst und aus ihm kein erstes Prinzip macht. Er muß die Konstitutionsleistung des Sinnlichen selbst beschreiben, ohne zu einem konstituierenden Subjekt welcher Art auch immer Zuflucht zu nehmen.« (Balke [1998], 31). 72 Der Begriff ›transzendentales Feld‹ geht auf Sartre zurück; er wurde von Deleuze und Guattari zur »Immanenz« bzw. zum »Immanenzfeld« umgemünzt (vgl. WPh, 56–57) und von Deleuze in seinem letzten Text »Die Immanenz: ein Leben« auf das Leben selbst (zurück-)geführt (vgl. SG, 365– 370). 73 »Seine innere Nachbarschaft wird gewährleistet durch die Verbindung seiner Komponenten in Ununterscheidbarkeitszonen; seine äußere Nachbarschaft oder Exo-Konsistenz durch die von einem Begriff zum anderen führenden Brücken [. . .].« (WPh, 103).

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Abb. 2 Topologische Gestalt des Begriffs und Begriffskomponenten in drei Zonen

Zugangsweisen der Begriffsuntersuchung zu integrieren. Die Regionalisierung der begrifflichen Komponenten lässt sich wie folgt vornehmen: Denkmilieu: K1 (Historisch-geografisches Milieu), K2 (Wissenskulturelles Milieu) Begriffsmilieu: Segment I: K3 (Metatheoretische Ebene des Begriffs), K4 (Problemkomplex der Begriffsbildung), K5 (Theoretisches Terrain/champ fondateur); Segment II: K11 (Kategoriale Nachbarschaften), K12 (Begriffliche Verzweigungen) Begriffskorpus: K6 (Basisebene), K7 (Phasenraum), K8 (Strukturprinzip), K9 (weitere Ebenen), K10 (epistemologisches und ontologisches Profil) Vom Modell zur Analytik: Das begriffliche Diagramm. Bisher wurde das hier eingeführte methodologische Modell des Begriffs eher formal dargestellt und mit der Regionalisierung der formalen begrifflichen Komponenten um eine topologische Dimension erweitert. Das Ensemble der begrifflichen Komponenten soll nun, in einem dritten Schritt, als begriffliches Diagramm beschrieben werden, sodass aus der methodologischen Modellierung eine Analytik zum angeleiteten Entdecken und Verstehen der begrifflichen Bestandteile und der Verhältnisse und Verbindungen der materialen Komponenten zueinander wird.

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Die Regionalisierung der Komponenten und die damit verbundene topologische Gestaltung des Begriffsmodells inklusive der räumlichen Anordnung der formalen Komponenten ist, wie bereits erwähnt, im Vorgriff auf die gesuchte Analytik zur integrativen, analytisch-historischen Untersuchung unterschiedlicher begrifflicher Aspekte angelegt worden. In der Illustration der Topologie des Begriffsmodells (vgl. Abb. 2) deutet sich ein – im wahrsten Sinne des Wortes – Diagramm an, d. h. ein funktionales Schaubild und eine bestimmte epistemische und räumliche Existenzweise der Komponenten. In seinem Buch über den Maler Francis Bacon definiert Deleuze das Diagramm in Berufung auf Bacons Verständnis eines Diagramms als »operative Gesamtheit der Linien und Zonen, der asignifikanten und nicht-repräsentativen Striche und Flecke« in einem Bild (FB, 88). Ein solches ästhetisches Diagramm zeichnet sich folglich durch einen operativen, wirksamen Charakter aus: »Das Diagramm hat also stets Effekte, die es übersteigen.« (FB, 120) Es ordnet an, dirigiert, ist aber zugleich selbst die Konstellation einer bestimmten Menge von Komponenten an einer bestimmten Stelle in einem Raum. 74 Gerade dadurch, dass es keinen Anspruch auf absolute Bestimmung erhebt, vermittelt das Diagramm zwischen Ordnung und Chaos, Bewegung und Ruhe. Im Strom des Denkens bietet das Diagramm eines Gemäldes »ein[en] Haltepunkt«, der in seinem Halten und durch seine Begrenztheit wirkt (ebd.). Erfasst man die begrifflichen Komponenten in diesem Sinne diagrammatisch, so werden die Komponenten nicht nur ihrem Inhalt nach bestimmt, sondern auch in ihrer Relationalität verortet. Die Relationalität bedeutet hier die Beziehung, die Verbundenheit und die Wirkungsweise der Komponenten zueinander, die sich diagrammatisch als Wirkungslinien darstellen. Das Diagramm zeichnet sich aber auch durch eine maßgebliche epistemische Funktion aus, d. h., es führt auf eine Erkenntnis. In der Erkenntnistheorie wird das Diagramm als Instrument der Visualisierung eines Zusammenhangs oder Relationsgefüges oder (seit Platons Menon) als bildliche Erkenntnisweise verstanden. 75 Das Diagramm basiert auf einer Kulturtechnik der Verflachung 74 Das Diagramm ist ein Konzept, das auch die Schriften von Deleuze und Guattari durchzieht. Siehe v. a. Tausend Plateaus, Foucault, Logik der Sensation, Was ist Philosophie?. 75 Ernst / Schneider / Wöpking (2016), 9, stellen sechs Eigenschaften von Diagrammen heraus: »Graphik, Struktur, Erkenntnis, Handeln, Codierung und Vielheit«. Das Diagramm erfährt seit einigen Jahren unter den methodischen Schlagworten und Programmatiken der ›Diagrammatik‹ oder ›Diagrammatologie‹ eine starke Beachtung in der Philosophie (vgl. z. B. Depner [2016]), der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie (vgl. z. B. Gehring et al. [1992]; Krämer [2016]; Wöpking [2016]; Schneider / Ernst / Wöpking [2016]), auf der Schnittstelle von Philosophie und Kunst (vgl. Gansterer [2011]; Steinweg [2013a, 2013b]; Thiel / Bielefelder Kunstverein [2013]) sowie in den Medien-, Bild-, und Kulturwissenschaften (vgl. Bauer / Ernst [2010]; Schmidt-Burkhardt [22017]). Die Auseinandersetzung mit der Funktion und Seinsweise von Diagrammen bildet auch einen Teil der »Visuellen

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und der Verräumlichung. 76 Durch die Eröffnung eines Bildraums, und damit von Spatialität, bietet ein Diagramm Zugang zu einem komplexen, mehrdimensionalen Gegenstand und ermöglicht somit eine spezifische Art »räumlicher Orientierung« 77, wie Sybille Krämer »das epistemische Potenzial« der Technik der Verflachung und Verräumlichung nennt. 78 Die formalen begrifflichen Komponenten bilden im Lichte dieses epistemischen Diagramm-Verständnisses eine bestimmte (geo-)graphisch konnotierte, strukturelle Anordnung von Elementen aus, die in ihrer Zusammenschau als Ensemble einen erkenntnisgenerierenden Effekt über einen Begriff hat. Vor diesem Hintergrund sei das regional organisierte Ensemble der formalen Komponenten des Begriffsmodells – im Anschluss an den wertvollen diagrammatologischen Ansatz von Sybille Krämer 79 – auch als begriffliches Diagramm verstanden (vgl. Abb. 3). Der instrumentale und erkenntnisinduzierende Charakter eines Diagramms verweist zugleich auf seinen Anwendungskontext: Ein Diagramm wird im Rahmen einer Analyse, einer Untersuchung eines komplexen Gegenstandes eingesetzt. In diesem Sinne »handelt es sich um einen operationalen Terminus, einen Strukturbegriff, der das, was die Analyse zu erfassen meint, auf die Seite des Analysevorgangs holt.« 80 Vom Modell zur Analytik: Das begriffliche Diagramm als Karte. Übertragen auf die begriffliche Untersuchung meint eine diagrammatische Begriffsanalyse, das Diagramm eines Begriffs gleichsam räumlich zu explorieren. Wenn es also darum geht, im Rahmen der diagrammatischen Untersuchung eines Begriffs das bisher unbekannte Terrain seiner Komponenten sukzessive systematisch zu erkunden, bietet die Anordnung derselben in einem Diagramm die Möglichkeit, »mit Hilfe einer schematisierten Darstellung des Terrains [sich] in ebendiese[m]« orientieren und fortbewegen zu können. 81 Das Diagramm Philosophie« (Depner [2015]). Zur Rolle des Diagramms bei Deleuze und Descartes hat André Reichert (2013) eine hervorragende Studie im Rahmen seiner Dissertation vorgelegt; Marcus Steinweg (2013a; 2013b) hat das Diagramm und die Theorie des Begriffs von Deleuze theoretisch-künstlerisch in Form von monumentalen ›Begriffe-Diagrammen‹ umgesetzt. Von den Ansätzen der ›philosophischen Diagrammatik‹ im Anschluss an Deleuze bei Reichert und Marcus Steinweg unterscheidet sich mein Ansatz der begrifflichen Diagrammatik als Analytik, insofern es mir um die Untersuchung eines spezifischen Begriffs (der Macht) und nicht um Modi des Denkens als solche geht. Anders formuliert: Statt erneut die theorieimmanente Debatte um eine philosophische Diagrammatologie aufzurollen, macht die vorliegende Arbeit die Funktionsweise des Diagramms für einen begriffsanalytischen Ansatz produktiv. 76 Krämer (2016), 15–21. 77 Ebd., 20. 78 Ebd., 20, 17. 79 Krämer (2016). 80 Gehring (1992), 95. 81 Krämer (2016), 87.

K1 Historischgeografisches Milieu

K7 Phasenraum

K2 Wissenskulturelles Milieu

K12 Begriffliche Verzweigungen

K9 Zweite/weitere Ebene(n) des Begriffskorpus

K8 Strukturprinzip

K5 Theoretisches Terrain/champ fondateur

Abb. 3 Das formale begriffliche Diagramm

K11 Kategoriale Nachbarschaften

K10 Epistemologisches u. ontologisches Profil

K6 Basisebene des Begriffskorpus

K3 Metatheoretische Ebene

K4 Problemkomplex

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und die diagrammatische Untersuchung folgen einem »›kartographischen Impuls‹«, der eine »geographische[] und [eine] epistemische[] Bewegungsorientierung« in Analogie setzt. 82 Ein Diagramm bietet also selbst bereits eine Art (Land-)Karte zur Erschließung seiner Komponenten; und das Erschließen eines Begriffs gleicht einem ›Erwandern‹ seiner Komponenten. Diesem kartographischen Impuls hat bereits die Regionalisierung der begrifflichen Komponenten zugearbeitet. Tatsächlich ist die Idee, sich mithilfe einer (Land-)Karte einen Überblick über Strukturen und Verbindungen eines Begriffs zu anderen Begriffen zu verschaffen, gar nicht so neu. In der analytischen Philosophie hat Gilbert Ryle bereits 1949 in seiner wichtigen Studie The Concept of Mind von der Skizzierung einer »logical geography of concepts« gesprochen, die darauf zielt, »to reveal the logic of the propositions in which they are wielded«. 83 Auch Peter Strawson hat den heuristischen Wert des Bildes der »Begriffsgeographie oder Begriffskartographie« von Ryle aufgegriffen und mit dem Bild der stürmischen See verbunden, die einem in der Begriffsanalyse widerfährt: »Eine Landkarte«, so affirmiert er, »gibt uns die Beschreibung eines Gebiets, eine in gewissem Maße abstrakte Beschreibung [. . .]. Landkarten [. . .] helfen uns, uns zu orientieren. Mit einer genauen Seekarte ist es weniger wahrscheinlich, Schiffbruch zu erleiden; und die Möglichkeit intellektuellen oder begrifflichen Schiffbruchs ist durchaus gegeben.« 84 Den Ansatz, sich mithilfe einer diagrammatischen Karte durch das Terrain eines Begriffs zu navigieren, nenne ich ›begriffliche Diagrammatik‹. 85 Der methodisch-analytische Ansatz der begrifflichen Diagrammatik erweist sich dabei zugleich als eine Heuristik im Sinne einer systematischen Analyse eines kartografierten, aber noch nicht ›ausgemessenen‹ Begriffsterrains. Metaphorisch gesprochen lässt sich die systematische Untersuchung der Komponenten als Wanderung von Wegmarke zu Wegmarke vorstellen, wobei die Wegmarken zugleich immer auch Aussichtspunkte markieren, von denen aus andere Komponenten in unterschiedlicher Nähe und Ferne sichtbar werden. Eine formale, listenförmige diagrammatische Karte für die Untersuchung der begrifflichen Komponenten gestaltet sich dann wie folgt (Abb. 4): Ebd., 87–94, hier: 94. Ryle (2002), 10. 84 Strawson (1994), 13. 85 Ich greife hier die Unterscheidung von ›Diagrammatik‹ und ›Diagrammatologie‹ von Sybille Krämer auf. Während die Diagrammatik den Schwerpunkt auf die Spatialität und Figuration in der Verbindung von Anschauung und Begriff legt und das »intellektuelle Potenzial des Graphismus im Horizont einer ›Epistemologie der Flächigkeit‹ und der ›Erkenntniskraft der Figuration‹« freilegt, rekonstruiert die Diagrammatologie, wie die Technik der figurativen Verräumlichung das Denken selbst verändert (Krämer [2016], 20). 82 83

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Denkmilieu Historisch-geografisches Milieu (K1) Wissenskulturelles Milieu (K2) Begriffsmilieu I (»Begriffsäußeres«) Metatheoretische Ebene (K3) Problemkomplex der Begriffsbildung (K4) Theoretisches Terrain/champ fondateuer (K5) Begriffskorpus (»Begriffsinneres«) Basisebene des Begriffs und deren Elemente (K6) Phasenraum (=Typen) der ersten Ebene (K7) Strukturprinzip (K8) Weitere begriffliche Ebenen (K9) Epistemologisches und ontologisches Profil (K10) Begriffsmilieu II (»Begriffsäußeres«) Kategoriale Nachbarschaften (K11) Begriffliche Verzweigungen (K12)

Abb. 4 Diagrammatische Karte (listenförmig)

Vom formalen zum materialen begrifflichen Diagramm. Doch was genau meint nun die ›Erkundung‹ eines begrifflichen Diagramms in der Anwendung, also die Untersuchung eines signierten Begriffs, z. B. Foucaults Machtbegriffs, entlang seines formalen Diagramms (vgl. Abb. 3, 5)? Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst eine Grundannahme der dem Modell zugrunde liegenden methodischen Begriffstheorie erweitert werden. Die begriffsrealistische Position lässt sich nämlich folgendermaßen mit einer These der minimalen Identität und begrifflichen Evolution präzisieren: Grundlegende Begriffe, wie die von Glauben und Macht, stellen Einheiten des politischen Denkens dar, die sich entwickeln, verändern, sich an Denkepochen anpassen und sich doch auf eine gewisse Art und Weise durchhalten und damit eine minimale begriffliche Identität behalten. Das beschreibt auch, was Deleuze und Guattari unter dem ›Werden‹ eines Begriffs verstehen: Das Werden verläuft über Modifizierungen, Anpassungen, partielle Neuschaffungen und Restrukturierungen und mündet in verschiedene ›Signaturen‹ oder ›Konzeptionen‹ eines Begriffs. An diesen Neuschaffungen bzw. Begriffsbildungen sind Begriffspersonen beteiligt – sie beschaffen einem Begriff neue Konzeptionen. Ein Begriff erhält also durch eine Begriffsperson eine jeweilige Signatur, indem die formalen Komponenten eine je charakteristische materiale ›Füllung‹ erhalten und auf jeweils spezifische Weise in Beziehung gesetzt werden. In der vorliegenden Studie sind es die Begriffspersonen von Aristoteles, Hobbes und Foucault, die die formalen Komponenten des Machtbegriffs auf je eigene Weise ›füllen‹ und mit einer Art Konzentrationsfeldern, d. h. Intensivierungen der Verbindungsli-

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Abb. 5 Wanderung durch den Begriff / Diagrammatische Karte mit Schleife

nien der Komponenten, versehen. Gemeinhin spricht man dann von ›dem foucaultschen Machtbegriff‹ oder ›der hobbesschen Konzeption von Macht‹. Eine begriffliche Konzeption stellt also eine jeweils spezifische Ausformulierung des Begriffs bzw. der begrifflichen Komponenten dar. Verstehen wir nun das Ensemble aus den zwölf formalen Komponenten als analytisches oder formales begriffliches Diagramm (vgl. Abb. 3), lässt sich zu jedem signierten Begriff ein materiales begriffliches Diagramm erarbeiten, das die Inhalte der Komponenten und deren Relationen zueinander angibt und so die multiple Konstitution einer Machtkonzeption vor Augen führt. Die diagrammatische Schleife. Eine Komponente zu erkunden erfordert, sie im Lichte des gesamten Diagramms im Ganzen und der Nachbarschaften im Besonderen auszumessen. Dabei verläuft die Erkundung durch die drei Zonen des Begriffs: Vom Denkmilieu startend, geht es zu den ersten drei Komponenten des Begriffsmilieus (Segment I) und vom Begriffsmilieu ›springen‹ wir in das Begriffsinnere, in den Begriffskorpus, um dann im Lichte der Komponenten des Begriffsinneren, die selbst wiederum geschichtet sein können, den äußeren Brückenschlägen zu weiteren Begriffen folgend das weitere Begriffsmilieu (Segment II) zu erkunden. Bisher wurde allerdings noch nicht geklärt, warum sich das Begriffsmilieu überhaupt in zwei Segmente aufteilt. Warum also, so ließe sich einwenden, kann die Untersuchung nicht konsequent linear, dem Häuten einer Zwiebel gleich, nach der Erkundung des gesamten Denk- und Begriffsmilieus ins Begriffsinnere vordringen? Warum dieser ›Ha-

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kenschlag‹ in der Analyse von K5 zu K6 und von K10 zu K11? Für die Komponenten der begrifflichen Nachbarschaft (K11 und K12) gilt die Besonderheit, dass sie von den Inhalten der begrifflichen Bestimmung der Basis-Ebene (K6) und der weiteren Ebenen (K9) abhängen: Erst durch die begriffliche Bestimmung und Analyse der Basisschicht (K5) und der weiteren Ebenen (K9), d. h., erst durch die konkreten Aussagen-Elemente von ›Macht ist XY‹ können kategoriale Nachbarschaften und Vernetzungen mit X und Y plausibel dargestellt werden. Die prominente Figur des hermeneutischen Zirkels begegnet uns hier als eine Art ›diagrammatische Schleife‹ (vgl. Abb. 5).

4.3.2 Vertikale und horizontale Diagrammatik

Horizontale Diagrammatik. Die begriffliche Diagrammatik, so wie sie bisher auf der Grundlage des Komponenten-Modells des Begriffs und der These der multiplen Konstitution des Begriffs formuliert worden ist, versteht sich zugleich als Analytik und »Heuristik der Entdeckung« 86. Die begriffliche Diagrammatik ist eine Heuristik in dem Sinne, dass sie systematisch, d. h. Schritt für Schritt, die zwölf Komponenten eines (signierten) Begriffs und deren Beziehungen untereinander zu erkunden anregt, um damit jene materialen Bestandteile und Aspekte eines Begriffs offenzulegen, die ihn konsistent machen. Dabei sind gerade die materialen Elemente, die einzelne Komponenten ›ausfüllen‹, in ihrer Beziehung zu anderen Elementen innerhalb einer Komponente und zu anderen Komponenten und deren Elementen zu erfassen. Auf diese Weise versucht die begriffliche Diagrammatik einen Begriff auch in seinen Bezügen zu anderen Begriffen zu beleuchten. Die begriffliche Diagrammatik verfährt analytisch, indem sie die multimethodisch orientierten konstitutiven Komponenten eines Begriffs betrachtet. Diese Grundbestandteile sind nicht zu verwechseln mit der diskursiven und intensionalen Verwendung von Begriffen im Rahmen einer sozialen oder politisch motivierten Sprachhandlung. Indem sie das ›Terrain‹ eines Begriffs, seine Geographie erkundet, verfährt die begriffliche Diagrammatik gleichsam synchron und horizontal. Ich nenne daher die analytische Vorgehensweise ›horizontale begriffliche Diagrammatik‹. Gegenstand der horizontalen Diagrammatik werden im Rahmen der vorliegenden Studie signierte Begriffe von Aristoteles, Hobbes und Foucault sein. Die horizontale begriffliche Diagrammatik hat die Aufgabe und Zielstellung, die mannigfaltigen konstitutiven Bestandteile eines Begriffs, die multiplen Bezugsrahmen, die sich in den Komponenten verkörpern und die innere Funktionsweise aus dem 86

Böhme / van den Daele (1977), 218.

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Zusammenspiel der Bestandteile bzw. Elemente desselben herauszuarbeiten. In der vorliegenden Arbeit soll die horizontale Diagrammatik helfen, systematisch die verschiedenen konstitutiven Bezüge des Machtbegriffs zum Begriff der Bewegung aufzudecken. Vertikale Diagrammatik. Die horizontale bzw. rein analytische Untersuchung allein vermag jedoch noch nicht, Beziehungen zwischen verschiedenen Machtkonzeptionen bzw. signierten Machtbegriffen herzustellen. Um den diagrammatischen Fokus auch in der Untersuchung der dynamis-These gewinnbringend einsetzen zu können, bedarf die begriffliche Diagrammatik eines Supplements, das es erlaubt, materiale begriffliche Diagramme im Hinblick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten genealogisch in Beziehung zu setzen. Denn das eine ist, zwei begriffliche Diagramme, bspw. diejenigen von Aristoteles' dynamis und Hobbes' Machtbegriff, vergleichend nebeneinander zu legen und Differenzen, Ähnlichkeiten und Korrespondenzen zu markieren. Das andere aber ist, diese Abgleichung in historischer Dimension, also begriffsgeschichtlich bzw. begriffsevolutiv, zu betrachten. Hierzu bedarf es einer Qualifizierungsstrategie, die die Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen temporal perspektiviert und Formen von begrifflicher ›Wirkung‹ und ›Tradition‹ zu dokumentieren vermag. Als Lösung sollen hier die Konzepte der ›Wieder-Holung‹ und der Trajektorie eingeführt werden. Was ist mit der ›Wieder-Holung‹ gemeint? In der materialen Ausfüllung der Begriffskomponenten kann es zu formalen Ähnlichkeiten und materialen Übernahmen von begrifflichen Elementen kommen. Solche Ähnlichkeiten und Übernahmen können auch als ›Wieder-Holung‹, d. h. als Repetition von Elementen in den Komponenten, verstanden werden. Die Wieder-Holung hat sowohl eine subjektive Konnotation und verweist auf die Möglichkeit, dass eine Begriffsperson intentional und strategisch an den Formulierungen oder einer begrifflichen Struktur einer von einer anderen Begriffsperson geschaffenen Begriffskonzeption anschließt, sie also gleichsam in der konkreten Begriffsbildung aufgreift und wieder hervorholt und integriert. Gemeinhin bringt sich dieser Zusammenhang in geläufigen Aussagen wie »Max Webers Machtbegriff schließt an Hobbes' Machtbegriff an« oder »Foucaults Machtbegriff steht in der Tradition der spinozistischen potentia« zum Ausdruck. Die Wieder-Holung hat aber auch eine objektiv-deskriptive Konnotation, insofern schlicht Wieder-Holungen in begrifflichen Komponenten registriert werden können, ohne auf eine gesonderte Intentionalität verweisen zu müssen. Damit ist der Wieder-Holung von Elementen in den methodologischen Komponenten eine temporale Struktur eingeschrieben: Wiederholt werden kann eben nur dasjenige, das bereits vorhanden war. Die Feststellung von Wieder-Holungen stellt damit eine Aussage über eine Form von begrifflicher Kontinuität am Maßstab der Geschichte

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dar. 87 Dagegen verweist das komplementäre Konzept der ›Trajektorie‹ auf eine flugbahnartige Wirkung einer bestimmten Begriffskonzeption in die Geschichte und das Werden von Begriffen hinein: Nicht ganze begriffliche Diagramme, wohl aber spezifische Elemente in den Komponenten können sich als besonders wirkmächtig in der Begriffsbildung erweisen, wenn sie besonders viele oder intensive Wieder-Holungen evoziert haben. Das Konzept der Trajektorie adressiert hier also die Wirkkraft der Herkünfte von Begriffen und begrifflichen Bestandteilen und greift damit die Figur der ›Wirkungsgeschichte‹ auf. Die historische bzw. temporalisierte Form der begrifflichen Diagrammatik ist insofern diachron und ›vertikal‹, als er sich durch die Geschichte und das Werden und damit durch die Schichtungen der Begriffsbildungen hindurchbohrt. 88 Fazit. Die horizontale und die vertikale Diagrammatik lassen sich somit als Anwendungsmodi begreifen, wobei die vertikale, also die historisch orientierte Untersuchung, auf der analytisch-systematischen horizontalen Untersuchung bzw. Erkundung aufbaut. Jede horizontale Erkundung zeichnet sich zudem durch eine spezifische interpretative Zugangsweise zu einem signierten Begriff aus, die – nicht zu unterschätzen – die gesamte Wanderung anleitet und sich im weiten Horizont der bisherigen Interpretationen verortet. Im Rahmen einer diagrammatischen Untersuchung beginnt deshalb jede begriffliche Erkundung mit einer transparenten Klärung über den gewählten Einstieg bzw. Zugang. In den im Rahmen dieser Studie präsentierten diagrammatischen Untersuchungen wird der Schwerpunkt auf das Aufdecken und Markieren von WiederHolungen von Elementen der dynamis in den Komponenten der Machtbegriffe von Hobbes und Foucault gelegt.

4.3.3 Methodologische Vorkehrungen

Die begriffliche Diagrammatik versteht sich als eine aufdeckende Analytik und Heuristik, die wesentlich interpretativ verfährt und darin bestimmte konzeptuelle Vorverständnisse und Interpretationsentscheidungen mit sich führt. 87 Die Herausarbeitung von begrifflichen Wieder-Holungen hat die Gefahr der unangemessenen »Anverwandlung« zu antizipieren, auf die Skinner eindrücklich hingewiesen hat. Er meint damit die »Gefahr [. . .], wenn man versucht, eine fremde Kultur oder ein unbekanntes Begriffssystem zu verstehen« und dabei – gleichwohl unvermeidlich – »die eigenen, vertrauten Kriterien der Klassifizierung und Differenzierung verwendet.« (Skinner [2010], 49) Hierbei werden fälschlicherweise scheinbare Bezüge als ›Einflüsse‹ eines ›Werks‹/einer Autorin / einer Lehre auf ein anderes Werk / eine andere Autor:in / eine andere Lehre substantialisiert. (Vgl. ebd., 49–57). 88 Und damit gewissermaßen von der geographisch-topologischen Analyse in die geologische Auswertung übergeht.

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In diesem Sinne seien nachfolgend das Verständnis von Ontologie sowie der grundlegende Interpretationsethos und das Darstellungsprinzip dieser Arbeit skizziert. Ontologie. Unter Ontologie wird im philosophischen Sinne derjenige disziplinäre Diskurs verstanden, der sich mit dem Seienden als solchem, der Existenz als solcher und der Existenz(-weise) und Wirklichkeit von Dingen, Gegenständen und Eigenschaften beschäftigt. In der Ontologie und der Wissenschaftstheorie, jenen philosophischen Disziplinen, die sich prioritär mit ontologischen Fragen beschäftigen, wird zwischen allgemeiner Ontologie und regionaler Ontologie sowie zwischen materialer und formaler oder theoretischer Ontologie unterschieden. Während eine materiale und allgemeine Ontologie auf Theorieaussagen über kontextinvariante Strukturen und Einheiten der Welt im Allgemeinen zielt, handeln regionale Ontologien von bestimmten Bereichen des Seienden, bspw. von den Dingen der Natur bzw. von dem ›Natürlichseienden‹ oder dem Sozialen (= Sozialontologie). Die allgemeine Ontologie kann der allgemeinen Metaphysik als System von Aussagen über die Welt entsprechen. Hingegen erheben ›theoretische‹ Ontologien nicht den Anspruch, die Dinge, Einheiten und den Zusammenhalt der Welt oder Natur zu erfassen, sondern wählen eine ›schwächere‹ Form der Existenzaussage, indem sie lediglich behaupten, dass im Rahmen einer Theorie Dinge und theoretische Einheiten als existierend angenommen werden. Eine Theorie kann sich so gesehen in ihren Aussagen auf eine Ontologie ›verpflichten‹ (ontological commitment). 89 So ›gibt es‹ aus der Perspektive einer theoretischen Ontologie Prinzipien im Rahmen der Erkenntnis von Dingen oder im Rahmen von normativen Theorien, allerdings werden Prinzipien nicht als ontische Dinge der Welt verstanden (was einer Hypostasierung des Prinzips entspräche). Die Analyse auf ontologische Verpflichtungen und Vorannahmen von Theorien und Methoden wird sowohl von den Einzelwissenschaften, im Rahmen derer Theorien aufgestellt werden, als auch von speziellen Wissenschaftstheorien (z. B. ›Philosophy of Social Sciences‹) unternommen. Da die ontologische Untersuchung unterschiedlich skaliert und in unterschiedlichen Diskursen geführt wird, hat Stephen Pratten vorgeschlagen, in ontologischen Analysen zwei Typen von ontologischer Theoriebildung zu unterscheiden: »philosophical ontology« und »scientific ontology«. 90 Da explizit gemachte oder implizite substanzielle oder theoretische Ontologien in die Begriffsbildung hineinwirken, ist es wichtig, den Typ der zugrunde liegenden Ontologie zu identifizieren, um einen Begriff in seiner 89 Die Analyse von theoretischen Ontologien bzw. von Theorien reklamierten Ontologien geht maßgeblich auf W. V. O. Quine zurück. Siehe dazu seinen einschlägigen Aufsatz »On What There Is« (1948). 90 Pratten (2007), 51.

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ontologischen Substantialität kohärent mit der theoretischen Einbettung zu profilieren. Deshalb kommt der ontologischen Analyse in ihrer analytischen Zuordnung kein geringes Gewicht zu; ontologische Überbewertungen sind zu vermeiden, denn »Meinungsverschiedenheiten in der Ontologie bringen Meinungsverschiedenheiten über Begriffsschemata mit sich«. 91 In der vorliegenden Arbeit werden Theorien, ontologische Implikationen und Verpflichtungen vor diesem Hintergrund generell eher sparsam und in Relation zur epistemologischen Rahmung einer Theorie oder Philosophie ausgelegt. Auf diese Weise sollen ›ontologisierende‹ Interpretationen vermieden werden, die allzu schnell den interpretierten Theorien substanzielle ontologische Aussagen insinuieren, und in der Folge bspw. methodisch orientierte Machtbegriffe als ontologische auszulegen argumentieren. Interpretationsethos. Die untersuchten Texte von Autor:innen und die Gesamtheit der Texte, die gemeinhin als ›Werk‹ einer Autor:in verstanden werden, können mit unterschiedliche Interpretationshaltungen und unterschiedlichen Interpretationsinteressen gelesen werden. Zwei (polare) fundamentale Interpretationshaltungen bestehen darin, die Texteinheit und das Aussagensystem einer Autor:in primär auf Widersprüche und Inkonsistenzen zu prüfen und eben jene herauszustellen oder primär die Zusammenhänge im Sinne einer sinnvollen, in sich ausdifferenzierten Einheit zu lesen, und im Zweifel dem Text eher Kohärenz und Konsistenz als Inkonsistenz und Friktionen zu insinuieren. Der dieser Arbeit zugrunde liegende Interpretationsethos entspricht einer an Kohärenz und Konsistenz orientierten Leseweise. 92 Darstellungsprinzip und Erkenntniseinstellung: Die diagrammatische Untersuchung stellt eine Analyse eines Begriffs im Hinblick auf zwölf Gesichtspunkte dar. Entsprechend bildet darin jede Darstellung einer Komponente das Ergebnis einer horizontalen und gegebenenfalls vertikalen Analyse derselben, indem die Analyse zentrale Elemente der jeweiligen materialen Ausformulierung der Komponenten identifiziert und ausfaltet. Mit ›Analyse‹ ist hier eine systematische Zerlegung 93 und Kontextualisierung zugleich gemeint. Damit eignet der analytischen Untersuchung eines Begriffs im Sinne einer Erkundung seiner Komponenten hin zu einem materialen Begriffs-Diagramm entQuine (2011), 47. Das heißt nicht, dass in einer Interpretation Kohärenz das Maximalgebot der Auslegung annimmt, sondern vielmehr ist damit eine interpretationsethische Minimalthese angezeigt, die darauf ausgelegt ist, an einen Textkorpus analytisch und produktiv anstelle im Stil der Entlarvung oder Dekonstruktion von Inkohärenz und Inkonsistenz heranzutreten. Dabei geht es darum, weder einem »Mythos der Kohärenz« (Skinner [2010], 43) noch einem Prinzip der Inkärenz simpliticer aufzuliegen. 93 Verzichtet wird hierbei weitestgehend auf formallogische Aussagenanalysen und Logizismen. 91 92

Begriffliche Diagrammatik

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lang des formalen Diagramms als untersuchungsanleitender Karte stets auch ein gewichtiges interpretatives und konstruktives Moment. Die konkrete Erkundung – ähnlich wie die foucaultsche Diskursanalyse – ist also eher »individuell und mimetisch. [Sie] fungiert als singuläres Struktur- oder Relationenportrait«. 94 Was aber sind vor diesem Hintergrund die Kriterien für die konkrete Darstellung der Komponenten? Ein Kriterium der Identifikation und Darstellung der für eine Komponente relevanten Elemente bildet zum einen die Frage, ob ein Element einen Konsistenzfaktor für die Begriffsbildung darstellt. Und damit die Frage: Leistet dieses oder jenes Element für das Verstehen eines Begriffs und seiner Profilierung einen Beitrag? Ein weiteres Kriterium ist, ob und inwiefern in der Forschungsliteratur bereits bestimmte begriffliche und theoretische Beziehungen und Verwandtschaften identifiziert und expliziert worden sind, an die sich angeschlossen werden kann. Jede diagrammatische Untersuchung verfolgt in der vorliegenden Arbeit den Anspruch, sich in der Forschungslandschaft zu einem signierten Begriff – also konkret: zu Aristoteles' dynamis, zu Hobbes' Machtbegriff und Foucaults Machtbegriff – zu verorten und diese so weit wie möglich zu integrieren. Insgesamt ist die begriffliche Diagrammatik von einer erzählenden Erkenntniseinstellung motiviert; eine solche zeigt sich – mit Michael Hampe – in einer möglichst detailgenauen Beschreibung von Unterschieden und Veränderungen, von Verknüpfungen, Wirkungen und Nachbarschaften. 95 Darin erzeugt die Diagrammatik in ihrer Anlage gleichwohl – das sei hier konzediert – Überschüsse in der inhaltlichen Darstellung der Komponenten. Die Ausmaße der Überschüsse dürften zum einen aus der jeweiligen Komplexität einer Komponente und der damit verbundenen Verlockung zur ausgeprägten Großrahmigkeit oder Mikro-Kosmologie der Erzählung, zum anderen aber auch von der individuellen Bewertung von der Leser:innen-Seite her resultieren.

94 Gehring (1992), 96. Analog zu einer Portraitzeichnung ist jede diagrammatische Untersuchung selbst nicht vollständig replizierbar und interpretativ-individuell. 95 Vgl. Hampe (32015), 22–28.

TEIL B: Die meta-physische dynamis des Aristoteles und die Machtbegriffe von Hobbes und Foucault

5. Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

Wichtig ist, woher die Begriffe kommen. Was ist eine Schöpfung von Begriffen? Ein Begriff existiert nicht weniger als Personen. (Deleuze, IN, 204)

In der Aristoteles-Forschung stellt der Begriff der dynamis, häufig zusammen mit den Begriffen energeia und entelecheia (Aktivität, Akt, Aktualisierung, Wirklichkeit), einen intensiv untersuchten Gegenstand dar. Eine zentrale, untersuchungsleitende Prämisse der diagrammatischen Untersuchung der aristotelischen dynamis lautet, dass das Wort dynamis unter Aristoteles mittels einer zweifachen begrifflichen Operation zu einem wissenschaftlich-philosophischen Begriff entwickelt wurde, der sich durch einen mehrfachen Bezug zum Begriff der Bewegung auszeichnet. Die generelle These, dass die dynamis unter Aristoteles zu einem wichtigen wissenschaftlichen und philosophischen Begriff wurde, entspricht auch dem gegenwärtigen Forschungsstand. Kontrovers wird jedoch diskutiert, welche Aspekte am Begriff der dynamis und welche Konfiguration der dynamis eine begriffliche Innovation von Aristoteles darstellen. Die Erkundung des Begriffs der dynamis bei Aristoteles soll daher mit einer kurzen, vorgelagerten Exkursion durch die Verwendungen des Terminus in der antiken griechischen Alltagssprache und bei Platon Anlauf nehmen, denn auf diese Weise kann bereits ein Einblick in die vielfache, noch vorphilosophische Semantik des Terminus gegeben werden (Kap. 5.1). Nach dem kurzen thematischen Einstiegsexkurs sollen der gewählte interpretative Zugang zur aristotelischen dynamis und die untersuchungsleitenden Thesen expliziert werden (Kap. 5.2). 5.1 Dynamis im antiken Alltagsgriechisch und bei Plato 5.1.1 Vorphilosophische Verwendungen und semantische Kontexte

Dynamis als kraftvolle Eigenschaft oder Qualität. In der griechischen Alltagssprache ist dynamis (sowohl das Substantiv im Nominativ als auch im Dativ als [en] dynamei) ein vielfältig verwendetes Wort, das in seinen Anwendungsfeldern ein weites Bedeutungsspektrum von ›Kraft‹, ›körperliche Stärke‹,

Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

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›Vermögen‹, ›Fähigkeit‹, ›Können‹ und (politischer und militärischer) ›Macht‹ abdeckt. 1 Diese Verwendungsweisen stehen zunächst häufig im speziellen Zusammenhang von Herrschaft und Krieg oder genereller mit der Erfahrung von Krafteinwirkung und Wirkungserzeugung von Menschen und Dingen. 2 Frühe wortgeschichtliche Zeugnisse finden sich bei Homer, Hesiod, Herodot und Thukydides. Bereits bei diesen Autoren ereignen sich verschiedenartige Übertragungen und Ausweitungen des Wortes dynamis auf neue Referenzbereiche. In Homers Illias und Odyssee taucht der Ausdruck dynamis insgesamt noch selten (neunmal) auf und ausschließlich im Verweis auf eine spezifische, naturgemäß limitierte physische Kraft des Körpers oder von menschlichen Körperteilen, die notwendig ist, um Widerstände und Hindernisse zu überwinden oder den Gegner zu bezwingen. 3 Hesiod und Herodot verwenden dynamis und die Verbform dynasthai ebenfalls – zumindest in den erhaltenen Textfragmenten – noch selten, gleichwohl aber in einem abstrakteren Sinne als ›Macht‹. Macht ist nicht mehr nur ein Bündel aus physischen und materiellen ›Kräften‹, sondern kann »jede Art ›Macht‹ von Personen, aber auch von Unbelebtem«, von Zuständen (Krankheit, Glück) und politischen und kulturellen Entitäten und Fähigkeiten (Staat, Armee, Geld, Worte, Rhetorik) bedeuten. 4 Das heißt, Macht kann sich nun »auf alle Eigenschaften, die eine Respekt einflößende Überlegenheit ausmachen«, beziehen oder auf Eigenschaften, denen eine besondere Werthaftigkeit innewohnt, samt ihrer Träger. 5 Dynamis in der Medizin und Naturkunde. In den Texten aus den Bereichen der Medizin, Pharmazie und Biologie wird dynamis wiederum mit dem Physischen, seiner Wirk- und Kontaktsphäre assoziiert. Im Corpus Hippocraticum Heidegger (1981), 75–77; Lefebvre (2018), 12; Wolf (22020), 9. Die lexikalischen Eintragungen zu dynamis in zwei Standardwerken zur Übersetzung aus dem Altgriechischen verzeichnen folgende Hauptbedeutungen bzw. Verwendungsweisen: The Online Liddell-Scott-Jones Greek-English Lexicon (= LSJ, 452): I.1. »power, might, (. . .) bodily strength (. . .). 2. outward power, influence, authority (. . .). 3. force for war, forces (. . .). 4. a power, quantity (. . .). II. power, faculty, capacity (. . .). III. force or meaning of a word (. . .). V. math., power (. . .)«. The Brill Dictionary of Ancient Greek (= Montanari 2015, 558): »[A] power, potency, force (physical and moral), strength (. . .) || power, authority, influence, (. . .) [B] power, possibility, ability, capacity (. . .) || power, property, quality, endowment (. . .) || faculty, art, profession (. . .) [C] value (. . .) [D] milit. force, troop, army (. . .)« (alle Herv. i. O.). 3 Souilhé (1919), 1–2. In der Interpretation von Simone Weil (2003) kursiert die Illias in erster Linie um ein Denken der Kraft. Vgl. zur dynamis bei Homer auch Lefebvre ([2018], 55–85) und zum Verb dynasthai (,können’ im Sinne von ›in der Lage zu etwas sein‹/ ›zu etwas fähig sein‹) in der Illias Beere ([2009], 51–53). 4 Stallmach (1959), 22, Fn. 6; vgl. Souilhé (1919), 3–8. Zur politischen Bestimmung von dynamis »als personale Kategorie eines politischen Führers« und in der Bedeutung einer im Kriegsfall zur Verfügung stehenden »Bündelung« von Ressourcen bei Thukydides, siehe Stockhammer ([2009], 62–66, hier 65). 5 Stallmach (1959), 22, Fn. 6. 1

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Dynamis im antiken Alltagsgriechisch und bei Plato

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bspw. kennzeichnet dynamis die spezifische Widerstandskraft eines lebendigen Körpers gegenüber schädlichen Substanzen und die Qualitäten im Sinne von spezifischen Wirkeigenschaften einer Substanz, von Nahrung und Körpersäften. 6 Die dynamis im semantischen Feld der voraristotelischen Medizin und Naturforschung impliziert nicht nur ein Verständnis von Wirk- und Bewegungsursächlichkeit, sondern wird bereits als eine Art von Vermögen oder Fähigkeit begriffen, eine bestimmte Bewegung und Veränderung im Bereich des Lebendigen (physis) zu erreichen. 7 Stephen Menn situiert daher den Beginn philosophischer Reflexion über dynamis bzw. von dynameis (Plural) in den frühen medizinischen und naturphilosophischen Schriften. 8 Als Platon später die dynamis in einer philosophischen Fragestellung nach dem Wesen des Seienden aufgreift, hat er, so zeigen es bereits diese nur kursorischen Ausführungen, ein sehr breites semantisches Spektrum vorgefunden. Dabei hat sich aus der anfänglichen poetischen bzw. literarischen Verwendung im Sinne einer physischen oder militärischen Kraft und physischen Stärke ein prägender semantischer Bereich herausgeschält, nämlich jener physisch-physiologische Bereich, in dem die dynamis zur Indizierung einer Fähigkeit und zugleich einer Wirkung, Wirkweise, und Veränderungsbewegung einer physischen Entität (Medikamente, Naturdinge) dient. Dieser Verwendungskontext zeichnet sich durch einen starken Bezug zum Natürlichseienden (physei on) als Beweglichem aus. David Lefebvre hat in seiner umfangreichen Studie zur dynamis 9 vor diesem multiplen Hintergrund zwei axiologische Bedeutungslinien, zwei »Filiationen« in der genealogischen Herkunft der dynamis herausgear6 Duminil (2008), 21. In der Schrift Über die Heilkunst taucht dynamis zwanzig Mal auf. Während Duminil ([2008], 25) die medizinische Verwendungsweise von dynamis als Unterstützung einer parmenideischen Position betrachtet (»La dynamis [. . .] préserve l’immobilité et la permanence de l’un de Parménide, en assumant, pour les êtres vivants, le mouvement et le changement.«), weist Souilhé ([1919], 31–32) die medizinisch-physiologische dynamis als Anschlusssemantik für die Verwendungsweise bei Platon aus. Zur medizinischen dynamis siehe die Beiträge in der von Anna Marmodoro herausgegebenen Themenausgabe im British Journal for the History of Philosophy 22 (5), 2014. 7 Duminil (2008), 25; vgl. Souilhé (1919), 55–56. 8 Menn (unv.), IIIα, 3. Stephen Menn hat eine groß angelegte Studie zur Gesamtdeutung der Bücher Metaphysik unternommen (The Aim and the Argument of Aristotle’s Metaphysics), die aktuell noch überarbeitet wird und nicht publiziert ist. Die letzte Manuskriptversion ist auf seiner Profil-Website an der Humboldt-Universität zu Berlin einsehbar (https://www.philosophie.huberlin.de/de/lehrbereiche/antike/mitarbeiter/menn/contents [zuletzt aufgerufen: 22. 11. 2022]). Das Manuskript, das über Einzeldokumente online aufrufbar ist, wird nachfolgend unter Angabe des Abschnitts (römische Zahlen und griechischen Buchstaben, z. B. IIIα) und der Seitenzahl im jeweiligen Dokument zum Abschnitt zitiert. 9 Die Publikation basiert auf seiner Dissertation (eingereicht 2000, publiziert in der Fassung Lefebvre [2018]), die lange Zeit nur schwer in Deutschland zugänglich war. Die philosophiegeschichtlich ausgerichtete, rund 550 Seiten starke Monografie zur dynamis schließt an Souilhés Studie

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Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

beitet, die er in der aristotelischen dynamis konserviert sieht: zum einen eine Verwendung bzw. Bedeutung von dynamis, die überwiegend, aber nicht nur, in der Sphäre menschlicher Tätigkeit eine Fähigkeit, etwas zu tun oder zu erleiden (»capacité d'agir ou de pâtir«) meint, die ein menschlicher oder nicht-menschlicher Träger besitzt und die stets auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist (so zu finden z. B. in den Schriften von Homer, Hesiod und Demokrit). Zum anderen bezeichnet dynamis einen Wert, eine Qualität oder Kraft (»force, pouvoir actif«), die sich einen Weg gegen Limitationen, Hindernisse oder Widerstände (Gegen-Kräfte) bahnt. 10 Zusammenfassung. Die voraristotelischen dynamis-Konzeptionen basieren auf einem Wortgebrauch, der einem Bereich menschlicher Erfahrung entstammt 11, doch die konzeptuellen Entwicklungen ereignen sich im Denken über Naturgegenstände (physei on). Die vorphilosophischen Verwendungsweisen sollten nicht mit den Erfahrungen einer modernen Subjektivität verwechselt werden, die, ihr Können und Wollen selbst erfahrend, Kraft und Kraftwirkungen abstrakt auf die Dinge der Natur überträgt. 12 Vielmehr sind Kraft und Vermögen Begrifflichkeiten, die zur Beschreibung von Eigenschaften und zur Erklärung von Wirkereignissen in sämtlichen Naturereignissen der menschlichen und nicht-menschlichen Sphäre Plausibilität entfalten. Der dynamisBegriff ist damit von früh an geöffnet für eine nicht-bifurkative, nicht-anthropomorphe naturtheoretische, aber auch ontologische Verwendungsweise. Es scheint hier bereits ein Spielraum auf, der die konzeptuelle Ausarbeitung von ›Macht‹ in den Fragebezirken von Bewegung und Seiendem als solchen, wie sie uns bei Platon und Aristoteles begegnen wird, möglich macht.

5.1.2 Dynamis bei Platon

Einer weit verbreiteten Ansicht in der Platon- und Aristoteles-Forschung zufolge geht die Verwendung von dynamis bei Platon, aber auch über weite Teile aristotelischer Schriften, nicht wesentlich über den Wortgebrauch im antiken Alltagsgriechisch hinausreicht. 13 Allerdings erfährt der Begriff der dynamis bereits bei Platon eine erste philosophische Kontextualisierung, d. h., er (1919) an und dürfte aufgrund ihrer außergewöhnlichen Detailschärfe zu einem neuen Standardwerk in der Aristoteles-Forschung zur dynamis avancieren. 10 Lefebvre (2018), 32–34. 11 So auch Wolf (22020), 9 und Gerhardt (1996), 30–39. 12 Vgl. Heidegger (1981), 74, 90–99. 13 Vgl. z. B. Berti (2008), Beere (2009). Souilhé dagegen unterscheidet in den platonischen Dialogen zwischen einem alltagssprachlichen und mathematischen Wortgebrauch (163 Vorkommnisse) und einer Verwendung von dynamis »dans un sens plus spécialement philosophique« (198 Vor-

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wird im Rahmen philosophischer Problembearbeitungen und Konzeptbildungen aufgegriffen und eingesetzt. Vom reinen Wortgebrauch her und den sich darin abzeichnenden inneren Funktionszusammenhängen soll daher die philosophische Einbettung unter Platon entsprechend als eine erste ›philosophische Formung‹ des Wortes dynamis verstanden werden, die selbst noch unter der Schwelle einer eigenen Konzept- oder Theoriebildung bleibt. In diesem, auf Aristoteles' dynamis-Konzeption hinleitenden Abschnitt geht es einerseits darum, anzuzeigen, dass der Terminus dynamis bereits bei Platon in jene primären Fragebezirke, nämlich die der naturphilosophischen und ontologischen Bewegung eingewoben wird, die im Hinblick auf Aristoteles' dynamis-Konzeption von Relevanz sind. Zum anderen zeichnen sich hierin bereits begriffliche Strukturmomente der dynamis ab, die sich rückblickend als konzeptionelle Vorzeichnungen oder Anschlüsse für Aristoteles identifizieren lassen. Zur Veranschaulichung seien hier zwei Stellen – Sophistes 247d–e und Politeia 477b5– e2 – exemplarisch ausgewählt. 14

a) Dynamis und die Frage nach dem Seienden und der Bewegung im Sein (Sophistes 247d9–e4)

Problemkontext. In dem spätplatonischen Dialog Sophistes (Der Sophist) taucht das Wort dynamis in einem Problemkontext auf, der eine der Grundfragen der abendländischen Metaphysik markiert, die Frage nach dem Seienden und (dem Sein) des Nicht-Seienden. 15 Diese Frage wurde in vorsokratischen Zeiten am prominentesten von den ionischen Naturphilosophen und von den frühen ›Ontologen‹ Heraklit und Parmenides von Elea und der ›eleatischen Schule‹ behandelt. Die Thesen von Parmenides bilden die zentrale Referenz für das Gespräch des Sophistes, in dem es im Grunde um »Korrekturen an der parmenideischen Ontologie« 16 geht. Eine für die Untersuchung der dynamis zentrale kommnisse) (Souilhé [1919], 148). Lefebvre identifiziert in der Konzeption von dynamis bei Platon »le lieu de naissance du concept aristotelicien d’être en puissance« (Lefebvre [2018], Avant-propos). 14 Der nachfolgende Abschnitt zielt also nicht auf eine Behandlung der dynamis bei Platon insgesamt, hierzu sei abermals auf Souilhé (1919), Lefebvre (2018) und Crubellier et al. (2008) verwiesen. Vielmehr werden zwei zentrale Referenzstellen ausgewählt, wobei sich die Skizzierungen mit einem sehr selektiven und restriktiven Einsatz von Sekundärliteratur begnügen müssen. Interessanterweise haben die Auseinandersetzungen mit dem Begriff der dynamis auch in der PlatonForschung in den letzten Jahren erheblich zugenommen. 15 Die angegebene Passage fällt gemäß der Einteilung von Meinhardt unter den zweiten Teil des Dialogs »Über das Nichtseiende« (232a–251c7). Explizit im Gegensatz zu Heidegger mache ich keine programmatische Unterscheidung zwischen ›das Sein‹ und ›das Seiende‹, sondern verwende die Ausdrücke weit gehend synonym. 16 Meinhardt (2012) benennt mit dieser Formulierung passend die Passage 241c–251a.

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Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

These von Parmenides lautet, dass das Sein unbewegt sei, denn nur das Unbewegte sei erkennbar. Hierbei werden eine epistemologische und ontologische Betrachtung des Seienden eng verschränkt. Eine zweite These lautet, dass Bewegung inklusive Werden (kine¯sis) nichtseiend sei. 17 Platons Sophistes greift in der für uns relevanten Passage die zentralen Thesen des Parmenides mit einem prüfenden, zur Revision bereiten Gestus auf. Dramaturgischer Anlass des Dialogs, den ein nicht weiter benannter »Gast« aus Elea mit dem jungen Theätet auf Einladung des Theodoros im Dabeisein von Sokrates führt, bietet eine Auseinandersetzung über das Wesen der Sophistik. 18 Da ein Sophist mit Scheinargumenten und vorgetäuschtem Wissen sowie täuschender und bildnerischer Nachahmung, also einer Form von Nichtwissen operiere, und solche Verfahren der Rhetorik auf einer Art Nicht-Seiendem basierten, gelangen die Gesprächspartner zu dem »grammatisch-semantisch-ontologische[n] Problem« 19 des Scheins und des Wesens des Nicht-Seienden. Der dynamis-Vorschlag. Dieses philosophische Problem wurde seinerzeit kontrovers diskutiert. In der Diskussion stehen sich die Positionen des ›Materialismus‹ und des ›Idealismus‹ 20 gegenüber. Die Vertreter:innen dieser Positionen diskutieren einer »Gigantenschlacht [gigantomachia]« (Soph. 246a4) gleich über die Frage nach dem Sein (peri tes ousias). Im Zuge des Dialogs porträtiert der Gast aus Elea beide Positionen, und genau hier, in der Auseinandersetzung mit den gegenüberstehenden Positionen, taucht nun der Ausdruck dynamis auf. 21 Werfen wir einen Blick auf die von der Forschungsliteratur 17 Die Thesen gehen aus einer streng deduktiv geführten Argumentation hervor, deren ausführliche Rekonstruktion hier ausgespart bleiben soll. Für einen Einstieg in die Argumentation sei verwiesen auf Kirk / Raven / Schofield (1994), 263–288, insb. 277, Hölscher (2014), 75, Rapp (22007), 94–107 sowie in formallogischer Reformulierung Barnes (1979), 155–172. 18 Für die Mehrheit der Kommentatoren ist die Wesensbestimmung der Sophisten, obgleich titelgebend, nicht das zentrale Thema des Dialogs. Vielmehr biete der Dialog gemäß einer verbreiteten Interpretation vermittelt über die Behandlung des Nicht-Seienden eine Erörterung des Wesens und der Struktur der Sprache im Rahmen der Dialektik; vgl. hierzu z. B. Seeck (2011). Gemäß einer alternativen Lesart fungiert der Dialog Sophistes als Einführung in die Teilhabe-Metaphysik (Methexis), so z. B. bei Leigh (2010), Noack (2015), dagegen: Meinhardt (2012). Die Übersetzungen aus dem Sophistes werden, wenn nicht anders angegeben, von Meinhardt (2012) übernommen. 19 Seeck (2011), 57. 20 Die Bezeichnung der Vertretenden als ›Materialisten‹ und ›Idealisten‹ oder ›Ideenfreunde‹ ist in der Forschungsliteratur vorherrschend, aber doch irreführend, denn die antiken Positionen sollten keinesfalls mit den philosophischen Programmatiken der Neuzeit und Moderne verwechselt werden. Künne macht daher den sachlich überzeugenden Vorschlag, die Vertretenden der beiden Grundpositionen besser als »Somatiker« und »Eidetiker« zu bezeichnen (Künne [2004], 307). Der Übersichtlichkeit wegen bleibe ich – gleichwohl mit Vorbehalt – bei den dominanten Bezeichnungsweisen. 21 Jonathan Beere charakterisiert in seinem Kommentar zu Buch The ¯ ta der aristotelischen Metaphysik die in diesem Abschnitt enthaltene Passage der ›Gigantenschlacht‹ als »conceptual

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vieldiskutierte Passage des »dunamis proposal«. 22 Der Gast beginnt in seiner Diskursskizze bei der Position derer, die das Sein ausschließlich mit dem visuell und haptisch Greifbaren und sinnlich Widerständigen, kurz: mit dem Materiell-Körperlichen, identifizieren und alles Nicht-Körperliche für unwirklich erklären: »An so etwas [Felsen und Eichen; L. B.] halten sie sich fest und sind nicht davon abzubringen, daß nur das Sein hat, was festen Widerstand leistet und was man anfassen kann. Sie setzen Sein und Körperlichkeit gleich« (246a8– b1). Hingegen erkennt die Gegenposition nur das Intelligible als wahres Sein an: »[S]ie treten mit Nachdruck dafür ein, daß gewisse nur denkbare, unkörperliche Ideen [aso¯ mata eide¯] das wahre Sein sind« (246b7–8). Die Positionen werden dann eingehender auf ihr Verständnis des Seins geprüft, d. h., inwiefern sie zu Eingeständnissen bezüglich des von ihnen exkludierten Bereich des Seienden bereit sind oder ›vernünftigerweise‹ sein müssen (vgl. 246e5– 249d8). Die Prüfung steht unter dem Diktum der Wahrheitsfindung darüber, »welche Bedingung Körperliches und Nicht-Körperliches gleichermaßen erfüllen muss, um real zu sein«. 23 Da die Prüfung sich ausgehend von einem radikalen Materialismus erschweren würde, nimmt der Gast gleich die materialistische Position in einer »gebesserten«, d. h. modifikationsbereiten Variante zum Ausgang, und bittet Theätet um Antwort in deren Namen. Die ›gebesserten Materialisten‹ konzedieren nach einer geschickten Prämissenfolge (246e5– 247c2), dass mit den Lebewesen beseelte Körper existieren, in denen auch die ihrem Wesen nach nicht-sichtbaren und nicht-greifbaren Tugenden, insbesondere der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit, ansässig sind. Die Seele wird damit als »irgendwie einen Körper [so¯ ma ti]« habend (247b8) dem Sein zugehörig zugestanden, der ontologische Status der Tugenden und ihrer Gegenteile bleibt jedoch offen. Allerdings erscheint es schwierig, den Begriffen von Vernunft und Gerechtigkeit gänzlich einen Existenzstatus zu verwehren, da sie doch in der sozialen Wirklichkeit eine zumindest reklamierbare Rolle spielen und somit auf eine unbestimmte Weise existieren. 24 Daraufhin forciert der Gast von Elea die Befragung zur Auffindung einer angemessenen Definition des Seienden, indem backdrop« für die Entwicklung der dynamis-energeia-Unterscheidung von Aristoteles (Beere [2009], 6–11, hier: 5). Innerhalb der intellektuellen Gigantomachie, die ihren Namen (mit ironischer Geste) in Anlehnung an die mythische Götterschlacht erhalten hat (geschildert bei Hesiod in der Theogonie), rebellieren die erdnahen Giganten gegen die Ordnung der himmlischen Götter, hier also die naiven ›Materialisten‹ gegen die ›Freunde der Ideen / Begriffe‹ oder ›Idealisten‹: »The realms of earth and heaven correspond to the realms of bodily and non-bodily, changing and unchangeable, perceptible and intelligible.« (Beere [2009], 6). 22 Brown (1998), 184. Die Bezeichnung wurde jüngst aufgegriffen von Leigh (2010) und Meißner (2015). 23 Künne (2004), 308. 24 Seeck (2011), 75.

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er die ›gebesserte‹ materialistische Position nun mit einer neuen These, dem ›dynamis-Vorschlag‹, konfrontiert: Ich sage also was nur irgendein Vermögen besitzt [kekte¯menon dynamin], es sei nun anderes zu irgend etwas zu machen [eit' eis to poiein] oder wenn auch nur das mindeste von dem allergeringsten zu [er-]leiden [eit' eis to pathein], und wäre es auch nur einmal, das Alles sei wirklich. Ich setze nämlich als Erklärung fest um das Seiende [ta onta] zu bestimmen, daß es nichts anderes ist als Vermögen, Kraft [dynamis]. (247d9–e4, Übers. v. Schleiermacher) 25

Es ist leicht ersichtlich, dass diese Passage der dynamis terminologisch eine erste manifeste philosophische Prägung gibt. Für die Formung als philosophischen Begriff ist es nachrangig, welchen Grad an Relevanz und Brisanz die dynamis an dieser Stelle für die Struktur des Dialogs einnimmt, ob er als vorläufiger Kompromissvorschlag zur Bestimmung oder zur Definition des Seins fungiert, ob er eine positive metaphysische Doktrin Platons darstellt oder nicht, oder ob er strategisch als Vorbereitung auf die dynamis koino¯ nias, der Fähigkeit der Ideen zur Gemeinschaft, als Element der Teilhabe-Metaphysik eingeführt wird. 26 Interessant ist für die vorliegende Untersuchung, dass die dynamis hier (i) explizit als Zweifaches bestimmt wird, nämlich als Produktives, Agentives 27, Aktion, Machen, (to poiein) und als Pathos, als Passivum, als Vermögen, etwas zu erleiden, d. h. verändert und bewegt zu werden (to paskein / to pathein) 28, (ii) durch die Bestimmung als Instanz der Veränderung in einem anderen oder als Veränderbares in den Kontext von Bewegung und Werden gesetzt wird, (iii) als Kriterium für die Bestimmung von etwas als Seiendem eingeführt wird. Schauen wir uns diese konzeptionellen Konturierungen der dynamis genauer an. 25 Den Vorschlag Meinhardts (2012), dynamis an dieser Stelle mit »Befähigung« zu übersetzen, scheint mir aufgrund seiner starken anthropomorphen Konnotation nicht optimal, ich greife daher auf die passendere Übersetzung von Schleiermacher zurück, der dynamis mit Vermögen übersetzt. 26 Die Deutung als positive metaphysische Doktrin Platons, d. h. als nicht bloß rhetorisch eingeführte Definition des Seienden, ist eine in der Forschungsliteratur heterodoxe Lesart des Sophistes, vertreten jüngst von Brown (1998) und Leigh (2010). Eine Begründung gegen eine metaphysische Lesart findet sich z. B. bei Malcolm (1983). 27 Charlotte Witt verwendet zur Übersetzung von poiein statt ›aktiv‹ »agent«, um den Tätigkeitscharakter gegenüber der alternativen Konnotation ›aktiv-inaktiv‹ abzugrenzen (Witt [2003], 132, Fn. 9). Ich werde den Punkt bei Aristoteles aufgreifen und zur Unterscheidung ›agentiv-patentiv‹ erweitern. 28 Diese Bestimmung findet sich ebenso im Phaidros 270d, Theätet 156a, Parmenides 150d, Sophistes 248c5, 7 (Dixsaut [2008], 228, Fn. 2). Dixsaut weist darauf hin, dass, wenngleich nur wenige Dialoge die Zweifach-Bestimmung der dynamis enthalten, jene doch eine »fundamentale« Dimension (ebd., 229) der dynamis bei Platon darstelle. Die aktiv-passiv-Unterscheidung soll hier als wirkmächtige philosophische Formung (und Strukturmoment) verstanden werden, die zentral wird für die bewegungsbezogene dynamis von Aristoteles.

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Erste begriffliche Bestimmungen der dynamis. Die dynamis wird in zweierlei Weise, als zwei Modi oder als zwei Arten bestimmt (i): als ›aktive‹ bzw. agentive dynamis, die eine Veränderung in einem anderen bewirkt, und als ›passive‹ dynamis (aktives und passives Vermögen / active and passive power / puissance active et passive). Die aktive dynamis wird durch das Verb poiein gekennzeichnet, das eine Tätigkeit, ein Verfertigen oder ein Hervorbringen meint. Die agentive dynamis ist also durch ihren produktiven, hervorbringenden oder bewirkenden Charakter definiert. Das Hervorbringen selbst ist hier nicht-technisch, sondern eher physiologisch im weiten Sinne gemeint 29, es verweist auf das operativ bestimmte Wesen der dynamis im Sinne eines generellen Tätigseins (oder genauer einer ›Tätigseiendheit‹) und dadurch auf eine spezifische Bewegung an einem Seienden. 30 Mit der aktiven dynamis hängt korrelativ und komplementär eine ›passive‹ dynamis, d. h. das Vermögen eine Einwirkung zu erfahren, zu »erleiden« (paskein / pathein), zusammen. 31 In der Forschung zu Platon und Aristoteles divergiert die Einordnung des Begriffspaares poiein/paskein in Bezug auf die Kategorie der Bewegung (ii). Eine Position ist skeptisch oder ablehnend gegenüber einer Identifikation mit der Kategorie der Bewegung im weiteren Sinne als Veränderung; eine andere Position, der sich hier angeschlossen wird, deutet poiein und paskein als relationale Dimensionen von Bewegung (kine¯sis). 32 Indem Platon dynamis mit den Dimensionen des aktiven und passiven Tätigseins kennzeichnet, wird dynamis selbst als eine Art von Bewegung, genauer: zwei Arten von Bewegung charakterisiert: operativ-agentiv im Sinne von bewegend und passiv-widerstehend als bewegt / bewegbar. 33 Bewegung ist hier aller29 Brown (1998) und Leigh (2010) deuten die dynamis im Rahmen der Kategorie der Kausalität als »quasi-causal power« (Brown [1998], 187). Eine direkte kausale Interpretation scheint mir jedoch, auch wenn sie Kausalität hier explizit nicht im neuzeitlich-physikalistischen Sinne, sondern alternativ, z. B. ›partizipativ‹ meint, nicht zielführend im Hinblick auf die Diskussion des Verhältnisses von Sein, Seiendem, Vermögen und Bewegung. Kritisch gegenüber einer kausalen Deutung der dynamis bei Platon ist auch Künne (2004), 309. Ebenso fraglich ist eine rein technizistische Deutung von poiein und paskein, so z. B. bei Dixsaut (2008). 30 Wersinger (2008), 154–155. 31 Dazu Wersinger (2008), 151: »La dunamis peut être définie comme le mouvement d’une chose, d’un être vivant, d’une activité, d’une notion, qui dispose cet être ou cette chose à opérer d’une manière qui lui est propre et en relation avec une autre chose ou un autre être.« 32 Zu letzterer Position siehe z. B. Menn (1994), 107, Seeck (2011), 77, Berman (2014), 57–58, Sorabji (1989), 220–222. Gegen eine Identifikation von poiein und paskein als Termini der Bewegung sprechen sich bspw. Brisson (2008), 176, und Souilhé (1919), 154, aus. Mit poiein/paskein korreliert eine weitere, in der Forschung divergente Auffassung über die Termini der Bewegung kine¯ sis (Bewegung), metabole¯ (Wandel, Umschlag) und alloio¯ sis (Veränderung). Ich folge der Interpretationslinie, metabole¯ als systematischen Oberbegriff und kine¯ sis als terminologischen Hauptbegriff für Bewegung und Veränderung zu verstehen; vgl. dazu Kap. 6.2.2. 33 Berman (2014), 58.

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Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

dings nicht primär als physikalische Ortsbewegung und Bewegung aufgrund von anstoßender und anstoßempfangender Kontaktierung zu verstehen – jene mechanischen Vorstellungen stellen bereits einen verengten Bewegungsbegriff dar – sondern umfassender, auch als qualitative und substanzielle Veränderung. 34 Die Bestimmung der dynamis als ein Vermögen, etwas zu bewegen, hervorzubringen, und als Vermögen, sich bewegen oder verändern zu lassen, wird schließlich im Sophistes als ein Kennzeichen, Kriterium oder – je nach Auslegung von horos – als Definiens des Seienden, und damit zum Prüfstein eines Seinsverständnisses aufgewertet (iii). Das bedeutet: dynamis wird hier nicht mehr nur physisch als quantifizierbare Kraft und prädizierte Qualität eines Dinges, sondern zur Bestimmung des Seienden, d. h. ›ontologisch‹, ausgesagt. Sie wird damit unmittelbar in den ontologischen Fragebezirk der Frage nach der Weise des Nicht-Seienden und des Seienden eingebunden. Da die dynamis auch in ontologischer Verwendung die Struktur des ›Agentiven‹ und ›Passiven‹ in sich trägt, rückt über die dynamis die Frage nach dem ontologischen Status der Bewegung als das Zwischen von Nicht-Seiendem und Seienden in den Fokus. Die dynamis weist hier also bereits sowohl eine Bewegungs- als auch eine Seinsbezüglichkeit auf. Der weitere Gesprächsverlauf scheint diese Deutung zu unterstützen: Nach den gebesserten Materialisten erkennen auch die Idealisten den dynamis-Vorschlag als gültige Charakterisierung des Seienden an. Bewegung wird schließlich, zusammen mit Ruhe, als einer der fünf großen Begriffe (oder höchsten Ideen) 35 präsentiert, die den Kern der philosophischen Dialektik Platons, d. h. der Untersuchung der sinnvollen und korrekten Weise des Sprechens über Tatsachen und Phänomene, aber auch den Kern der platonischen Partizipations-Metaphysik der Ideen ausmachen, also der Vorstellung, dass die Ideen Teilhabe aneinander nehmen.

b) Dynamis in ihrem relationalen Charakter (Politeia 477b5–e2)

In dem dynamis-Vorschlag des Sophistes ist die dynamis als ein mögliches Seinskriterium postuliert und ihre Binnendifferenzierung in eine agentiv-operative und eine passiv-widerständige Form beschrieben worden. Die spezifische Operationsweise bzw. das agentive Moment, aber auch die (mögliche) 34 Vgl. Seeck (2011), 76–77, der die Passage des dynamis-Vorschlags gar nicht um die Einführung der dynamis zentriert, sondern als Argument der »Bewegung« selbst anführt: Der Gast aus Elea »könnte statt der Dihärese ›tun oder leiden‹ (Soph., 247e1–2) einfach ›bewegen‹ sagen« (ebd.). In diese Richtung geht auch die Deutung von Malcolm (1983), 126. 35 Gemeint sind Sein / Seiendes (to on), Identität / Selbiges (tauton), Verschiedenheit / Andersheit (thateron, heteron), Bewegung (kine¯ sis) und Ruhe / Verharren (stasis), vgl. Soph., 254b7–256b4.

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Anerkennung der dynamis als Seiendes begegnet bereits in einem früheren Dialog, der Politeia (Der Staat) (Politeia, 477b5–e9). 36 Im fünften Buch untersucht Sokrates im Gespräch mit Adeimantos die Bedingung der Verwirklichung eines gerechten Staates. Als dessen Kernbedingung behauptet er die Besetzung der Regierung durch Philosophen. Um die These zu rechtfertigen, leitet Sokrates zu einem Exkurs über die Wesensbestimmung des Philosophen über und erörtert im Rahmen dessen – auch hier in Reminiszenz und Kritik an Parmenides – die Unterscheidung der epistemischen Zugänge zum Seienden und NichtSeienden, zu Erkenntnis, Vorstellung und Unkenntnis (476c3–480a): Erkenntnis richte sich auf das Vollkommene und dadurch auf das gänzlich erkennbar Seiende, Unkenntnis hingegen auf das Nicht-Seiende (477a2–4, a9–b1). Dazwischen situiere sich die epistemische Form der Vorstellung (doxa), deren epistemologischer Status zunächst unklar ist: Stellt sich die Vorstellung als »ein von dem Wissen verschiedenes Vermögen [alle¯n dynamin episte¯me¯s] oder als dasselbige« (477b6) dar? Vorstellung könne nicht dasselbe wie Erkenntnis und Wissen sein, denn nicht nur beziehe es sich auf etwas anderes als das Seiende, der Bezug selbst sei durch ein ihm spezifisches Vermögen gekennzeichnet: »Für etwas anderes also ist die Vorstellung geordnet, und für etwas anderes das Wissen, jedes von beiden nach seinem ihm eigentümlichen Vermögen (kata te¯n dynamin)« (477b7) (Herv. L. B.). Bereits in diesem Satz kündigen sich zwei begriffliche Bestimmungen gegenüber dem simplen Sprachgebrauch von dynamis an. Zum einen der relational-teleologische Charakter der dynamis: Ein Vermögen bezieht sich immer auf etwas von ihm selbst Verschiedenes. 37 Zum anderen wird dynamis (bzw. im Nominativ und Akkusativ Plural dynameis, 477c1) verwendet, um verschiedene sinnliche und intellektuelle Vermögen zu unterscheiden – ein zur damaligen Zeit ungewöhnlicher Wortgebrauch. 38 Wir wollen doch sagen, Vermögen [dynameis] sei eine gewisse Art des Seienden, wodurch sowohl wir vermögen was wir vermögen, als auch jegliches andere, was etwas vermag [dyne¯tai]; wie ich zum Beispiel meine, daß Gesicht und Gehör zu den Vermögen gehören [. . .]. Nämlich an einem Vermögen sehe ich weder Farbe noch Gestalt noch etwas dergleichen [. . .]. (Politeia, 477c1–4, 6–7). 36 Ich greife in diesem Abschnitt auf die Übersetzung von Schleiermacher zurück. Wersinger weist auf die Kompatibilität hinsichtlich der Frage nach der dynamis in beiden Stellen, im fünften Buch der Politeia sowie im mittleren Teil des Sophistes, hin und konstatiert einen Zusammenhang: »La première question conduit à définir la puissance en tant qu’opération et la seconde conduit a définir l’opération propre de l’être.« (Wersinger [2008], 152). 37 Gerhardt (1996), 36. 38 Adam (1965), 339. Adam vermutet, dass die Verwendung von dynamis an dieser Stelle »in the sense of the ›intellectual powers‹« ein sprachliches Experiment von Platon war. Eine Übersetzung mit »Fakultät« hält er für »too concrete to be a right translation« (ebd.), ebenso Souilhé (1919), 164.

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Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

Die erste Bestimmung unterscheidet die Vermögen nicht nur durch ihren je spezifischen Bezug, sondern auch durch die Weise, wie ein Vermögen etwas vermag. 39 Ein Vermögen zielt auf die Bewirkung von etwas Spezifischem und ›endet‹ in oder mit dem Objekt oder Zustand, auf den es ausgerichtet ist. Der dynamis wohnt also eine gewisse Gerichtetheit inne. Und die Tätigkeit, die je spezifische Bewirkung im vollziehenden und resultierenden Sinne, ist selbst wiederum ein Differenzkriterium für die Definition von Vermögen, bspw. das Vermögen etwas zu erfassen oder das Vermögen etwas zu hören: Bei einem Vermögen aber sehe ich lediglich darnach, worauf es sich bezieht und was es bewirkt [apergazetai], und darnach pflege ich ein jedes Vermögen als ein einzelnes zu benennen, und was für das dasselbe bestimmt ist und dasselbe bewirkt, nenne ich auch dasselbe, was aber für etwas anderes und etwas anderes bewirkt, nenne ich auch ein anderes. (Politeia, 477d1–5)

Ein Vermögen trägt in sich also eine Gerichtetheit auf etwas hin, nämlich auf sein ›Werk‹ (ergon). 40 Der relationale Charakter der dynamis lässt sich mithin als ein Ziel-Bezug (telos-Bezug) konkretisieren. Außerdem deuten sich hier konzeptionelle Unterscheidungen zwischen dem Vermögen selbst und einem ihm zugehörigen Organon sowie zwischen Vermögen und Disposition an. 41 Auffallend ist zudem die zweite begriffliche Verwendung: Die dynamis wird von einem anthropozentrischen Anwendungsbezirk der menschlichen Sinne geöffnet zu einer Entität, die generell prädizierbar ist. Damit wird die dynamis zwar am Beispiel kognitiver Fähigkeiten eingeführt, bleibt aber ihrer Intension nach nicht auf den menschlichen Sinnes- und Erfahrungsbereich beschränkt. 42 Hier orientiert sich Platon vermutlich an der begrifflichen Verwendungsweise im Feld der Medizin. 43 Zusammenfassung. Das Wort dynamis hat durch Platon erste begriffliche Bestimmungen erfahren, die sich vor allem als Bezüglichkeiten abbilden: Die dynamis wird in Bezug gesetzt mit dem Begriff der Bewegung, der wiederum sowohl physisch als auch ontologisch adressiert wird. In der Bewegungsbezüglichkeit zeichnet sich ein Strukturmoment ab, nämlich die Unterscheidung zwischen einer aktiven / agentiven und einer passiven / patentiven dynamis; beide 39 Dazu pointiert Wersinger: »Socrate présice que les puissances se distinguent selon leur objet et leur opération (477b5–e2). Si la puissance opère, ses opérations se diversifient suivant les types des choses considérées.« (Wersinger [2008], 153). 40 Vgl. hierzu auch Platon, Politeia, 352d–353b, sowie ausführlich Lefebvre (2018). 41 Tatsächlich führt Platon diese Differenzierung noch nicht stringent durch, vgl. Wersinger (2008), 156–158. 42 Nur aus einer anthropologisch-phänomenologischen Perspektive erscheint dieser Übergang als »ontologische[] Verselbstständigung der Macht als dynamis« (Gerhardt [1996], 35). 43 Vgl. Kap. 5.1.1.

Zugang zu Aristoteles’ Begriff der dynamis

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Typen stehen korrelativ zueinander. Schließlich wird die dynamis als relational und zielspezifisch präsentiert: Ein Vermögen bezieht sich immer auf ein ihm spezifisches Ziel (Zustand, Objekt, Tätigkeit). Das Wort dynamis erhält damit eine erste, aber noch unsystematische Prägung als philosophischer Begriff.

5.2 Zugang zu Aristoteles’ Begriff der dynamis

Der Begriff der dynamis hat in der modernen Aristoteles-Forschung immer schon Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sei es aus philosophiegeschichtlicher Perspektive oder in systematischer Hinsicht im Rahmen der Kommentierung der aristotelischen Texte (›Bücher‹), die seit der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung unter dem disziplinbegründenden Namen Metaphysik rmieren. 44 In den letzten zwei Jahrzehnten ist dieses Grundinteresse noch einmal deutlich angewachsen, was sich durch eine Reihe von Publikationen bezeugt. 45 Angesichts der Fülle an systematischen und interpretativen Zugängen erscheint es umso wichtiger, den eigenen Zugang vorab transparent zu machen und in der Diskussionslandschaft einzuordnen. Dazu werden zunächst zwei weithin geteilte Lehrmeinungen skizziert. In einem zweiten Schritt werden ein Haupt- und ein Nebenstrang in der vielfältigen Diskussion um den dynamis-Begriff umrissen, vor deren Hintergrund ich den hier gewählten Zugang markiere. Verbreitete Positionen in der Aristoteles-Forschung. Zwei Interpretationen zum dynamis-Begriff bei Aristoteles sind unbestritten. Das ist zum einen der Aspekt, dass Aristoteles zwei Formen von dynamis unterscheidet. Generell wird zwischen einer dynamis in Bezug auf Bewegung und Veränderung (›kinetische dynamis/Vermögen‹) und einer dynamis in Bezug auf (die) Substanz (dynamis pros ousian) (›ontologische dynamis/Vermögen / Potentialität‹) unterschieden. Erstere Bezeichnung stammt von Aristoteles selbst, der sie terminologisch als 44 Aristoteles verwendet den Begriff ›Metaphysik‹ selbst nicht. Einer weit verbreiteten Ansicht nach stammt der Name von dem Bibliothekaren Andronikos von Rhodos, der den Namen für ein bestimmtes Konvolut an Texten gemäß seiner Anordnung im Regal vergab, um anzuzeigen, dass diese Bücher aus didaktischen Gründen am besten nach (meta) den Büchern der Physik zu studieren wären: »(ta) meta ta physika (biblia)«. Die historische Richtigkeit dieser These ist mehrfach bezweifelt worden (vgl. Chroust [1961]; Cohen [2020]). 45 Wichtige Beiträge zur Erforschung des dynamis-Begriffs bei Aristoteles finden sich (i) in begriffsgeschichtlicher Hinsicht u. a. bei Lefebvre (2018), Menn (1994), (ii) in systematischer Hinsicht bei Sentesy (2017), (2020), 81–107, Cao (2012), Anagnostopoulos (2011), Crubellier et al. (2008), Cleary (1998), Frede (1994) und (iii) in der Kommentierung von Buch The¯ ta: Jansen (22016), Beere (2009), Makin (2006), hier häufig dezidiert mit Verweis auf das Verhältnis von dynamis und energeia. Jüngst hat Mark Sentesy eine Gesamtdeutung von Aristotle’s Ontology of Change (2020) vorgelegt, in deren Rahmen die dynamis ausführlich beleuchtet wird. Eine der wenigen Studien zum Verhältnis der dynamis mit dem politischen Machtverständnis bei Aristoteles stammt von Chédin (1994).

Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

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dynamis kata kine¯sin (»dynamis im Hinblick auf Bewegung«, Met. IX 1, 1046a1– 2; 1048a25) kennzeichnet. Die Bezeichnung der ›ontologischen‹ dynamis hat sich erst in der jüngeren Forschung etabliert. Die ›ontologische‹ dynamis bezieht sich nicht mehr nur auf physische Bewegung, sondern auf die Werdensbewegung der beweglichen Dinge (›Substanzen‹), also das Entstehen (genesis) der beweglichen Dinge selbst. Die sogenannte ›ontologische‹ dynamis wird häufig übersetzt mit ›Potentialität‹, ›Möglichkeit‹ oder ›Potenz‹ (potency, potentiality, potentialité) und wird in der Aristoteles-Rezeption nach wie vor überwiegend als die ›eigentliche‹ begriffliche Invention des Aristoteles betrachtet. 46 Eine weitere Ansicht wird nahezu unisono vertreten, ohne dass sie allerdings selbst näher legitimiert wird. Dies ist die Ansicht, dass die wichtigste Hauptquelle für den Begriff der dynamis das neunte Buch bzw. Buch The¯ta (Θ) der Metaphysik sei. 47 Mit dieser weit verbreiteten Ansicht ist häufig die implizite Auffassung verbunden, dass nur die ›ontologische‹ dynamis in ihrer begrifflichen Paarung mit energeia und entelecheia (›Akt‹, ›Aktivität‹, ›Aktualisierung‹) einen gereiften philosophischen Begriff darstelle, während die kinetische dynamis – wie sie im fünften Buch (∆) der Metaphysik bestimmt wird – vielmehr nur auf eine vorphilosophische Verwendungsweise referiere. 48 Umstrittene Auslegungen zur dynamis. Die Interpretationen gehen darüber auseinander, inwiefern die beiden dynamis-Konzeptionen ontologisch und epistemologisch zu bewerten sind: als ›Bedeutungen‹, ›Verwendungsweisen‹ (hierfür spricht das wiederholte legetai) oder ›Arten‹ (hierfür spricht der Term eidos, vgl. Met. IX 1, 1046a9). 49 Zudem wird kontrovers diskutiert, wie die beiden dynamis-Konzeptionen begrifflich im Verhältnis zueinander stehen. In der Tradition dieser Lesart ist auch Kurt Röttgers (1990) zu verorten. Die Buchbezeichnung werden mit römischen Kapitälchen entsprechend der Standardzählweise angegeben. Hiernach ist das Buch Delta (∆) in römischer Zählung das fünfte (V) Buch der Metaphysik und Buch The¯ ta (Θ) das neunte Buch (IX), die Abschnitte in den jeweiligen Büchern werden mit arabischen Ziffern angebenen. 48 Exemplarisch hierfür ist Berti (2008); tendenziell ist diese Auffassung auch bei Stallmach (1959) angelegt. 49 Die meisten Interpretationen deuten das legetai als ›Bedeutungen‹, andere insinuieren verschiedene ›Arten‹ (kinds) von dynamis. Beere (2009), 32–37, weist darauf hin, dass Aristoteles die dynamis in Met. V 12 nur in Hinsicht auf ihre Verwendungsweisen, nicht aber in Arten ausdifferenziert, vgl. ähnlich Anagnostopoulos (2011), 389, der »neutral« von »senses of« dynamis spricht. Ich folge der Interpretation von Beere (2009), wonach Aristoteles in V 12 verschiedene Verwendungsweisen im Sprachgebrauch von dynamis differenziert, die man auch ontologisch etwas stärker als ›Typen‹ derjenigen dynamis verstehen kann, die Aristoteles in IX 1 als dynamis kata kine¯ sin bezeichnet. Diese Auslegung begründet sich dadurch, dass Aristoteles in den sprachlichen Verwendungsweisen bereits eine Reflektion der vorliegenden Phänomene und Einheiten der Wirklichkeit sieht. Eine TypenInterpretation wird ebenso von Johannes Fritsche unterstützt: »While the vocabulary of ›active‹ and ›passive‹ principles suggests a strong contrast between these two kinds of principles, in Aristotle’s view it would be a matter of different types or degrees.« (Fritsche [2010], 22, Fn. 26). 46 47

Zugang zu Aristoteles’ Begriff der dynamis

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Die Kontroverse dreht sich vor allem um die Frage, ob und inwiefern die ›kinetische‹ und die ›ontologische‹ dynamis in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinander stehen und einen Begriff bilden oder ob sie als diskontinuierlich und disjunkt zu verstehen sind. 50 Die Fragen rund um den Status der dynamis und die – mit der ontologischen dynamis gekoppelten – Einführung der Begriffe energeia und entelecheia in Buch IX sind wiederum nicht selten mit einer komplex angelegten Argumentation zum Anliegen der Metaphysik als philosophisches Forschungsprogramm im Ganzen verbunden; hier geht es dann zumeist darum, die Strategie der begrifflichen Konstruktionsarbeit innerhalb von Buch IX und im Verhältnis zu den vorangehenden und nachfolgenden Büchern (insbesondere zu den Büchern III, VII, VIII und XII) auszuloten. 51 Der hier gewählte Zugang und das Ziel. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird eine kontinuierliche Lesart vertreten, die das Verhältnis von der kinetischen und der ontologischen dynamis als Erweiterung und Vertiefung begreift (vgl. K6, K9). 52 Dabei nimmt die bewegungsbezügliche dynamis (dynamis kata kine¯sin), so der diagrammatisch orientierte Interpretationsvorschlag, die begriffliche Basisebene ein, während sich die ontologische dynamis als eine die erste Ebene erweiternde ›Konfiguration‹ und zweite Begriffsebene darstellt. Unter ›Konfiguration‹ verstehe ich die Ausrichtung, die Installation einer Bezüglichkeit und die systematische innere Strukturierung einer Begriffsebene oder eines Begriffs im Ganzen. Ziel dieses ersten Hauptteils ist es, aufzuzeigen, dass unter Aristoteles der griechische Terminus dynamis eine philosophische Bestimmung und Kontur erhalten hat, die ihn als einen Begriff der Bewegung und in Bezug auf Bewegung ausweist. Genau genommen erhält die dynamis unter Aristoteles also nicht nur eine ontologische Konfiguration, sondern überhaupt erst eine begriffliche Binnenstruktur und eine mehrfache systematische Bezüglichkeit zum Begriff der Bewegung, nämlich als Prinzip der Bewegung, in der Funktion als Grundbegriff der Bewegungsdefinition, und als Begriff, der struk50 Cao (2012) hat im Anschluss an Frede (1994) vorgeschlagen, die Lesarten als ›unititarian‹ vs. ›dualist‹ zu bezeichnen, wobei sie selbst für eine dualistische Lesart argumentiert. Ich bevorzuge, die Positionen als ›kontinuierlich‹ und ›diskontinuierlich‹ zu bezeichnen, da auf diese Weise die Gegensätzlichkeit der Positionen besser zum Ausdruck kommt. Für die kontinuierliche Lesart plädieren auch bspw. Bröcker (41974), 66–92, Ide (1992), Frede (1994), Liske (1996), Cleary (1998), Ide (1992), Beere (2009), Anagnostopoulos (2011), Jansen (22016), Sentensy (2017, 2020, 81–107), Lefebvre (2018), Wolf (22020), Menn (unv.). Für eine diskontinuierliche Lesart argumentieren Graham (1987), Cao (2012), Gohlke (1943), Berti (2008). Die Begründungsstrategien verlaufen in beiden Lagern unterschiedlich, sie sollen hier im Detail ausgespart bleiben. Stattdessen sei für die Rekonstruktionen von Argumentationslinien auf Anagnostopoulos (2011) und Cao (2012) verwiesen. 51 Siehe z. B. Beere (2009), Menn (unv.). 52 Diese Interpretation schließt argumentativ an Wolf (22020), Liske (1996), Beere (2009), Anagnostopoulos (2011), Lefebvre (2018) und Sentesy (2020), 81–107, an.

Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis

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turanalog zur Bewegung konzipiert wird. Die Konfigurationen sind bei Platon bereits rudimentär angelegt, aber noch nicht im Rahmen einer begrifflichen Reflexion und aktiven Begriffsarbeit eingeholt. Aus der Perspektive der hier vorgeschlagenen Interpretation findet, begriffsgeschichtlich formuliert, mit der begrifflichen Bestimmung der kinetischen dynamis unter Aristoteles eine erste konzeptuelle Operation und mit der Erweiterung der kinetischen dynamis zur ontologisch genannten dynamis eine zweite konzeptuelle Operation statt. Untersuchungsleitende These. Die untersuchungsleitende These für die Erkundung des Begriffs der dynamis lautet entsprechend, dass bereits die bewegungsbezogene dynamis, wie sie im fünften Buch der Metaphysik, Abschnitt 12 und in Met. IX 1 bis 5 von Aristoteles bestimmt wird, einen wichtigen, ja fundamental philosophischen und wissenschaftlichen Begriff darstellt. Dabei dient die kinetische Konfiguration in der ersten Hälfte von Buch IX der Metaphysik zur konzeptionellen Hinführung auf die ontologische Konfiguration, die in der zweiten Hälfte von Buch IX eingeführt wird. 53 Lesarten, die einzig die ontologische dynamis begrifflich ernst nehmen, vernachlässigen aus der Perspektive der hier verfolgten Interpretation systematisch die begriffliche Bestimmung bzw. Konzeption der dynamis als Prinzip der Bewegung (kine¯sis) und Veränderung (metabole¯, alloio¯ sis). Damit allerdings ist der Begriff der dynamis weder ›nur‹ ein Begriff der Physik / Naturphilosophie noch ein schlichtweg metaphysischer oder ontologischer Begriff. Vielmehr lässt sich die dynamis als ein Begriff charakterisieren, der einem theoretischen Übergangsterrain entstammt, das sich als ›Meta-Physik‹ verstehen lässt. 54 Dieses Terrain wird wesentlich im fünften Buch der Metaphysik und in der Physik ausgerollt. Entsprechend tritt der hier präsentierte Interpretationsvorschlag für eine Aufwertung von Buch Delta der Metaphysik im Allgemeinen und insbesondere gegenüber Buch The¯ta ein. Rezeptionsgeschichtlich wird mit der besonderen Fokussierung und Interpretation der dynamis als Begriff in Bezug auf Bewegung eine Interpretationslinie verfolgt, die in der Scholastik mit Thomas von Aquin einen prominenten Vertreter verzeichnete und in jüngerer Zeit systematisch stark gemacht worden ist. 55 Vgl. Bröcker (41974), 71–81. Vgl. Höffe (2014), 153–156. 55 Bspw. von Tugendhat (52003), 88–102, insb. 92; Kaulbach (1965); Bröcker (41974), 66–92; Weizsäcker (1993); Beere (2009); Aichele (2009) und Sentesy (2017), (2020). Die Auslegung der dynamis als in erster Linie ›kinetischer‹ Begriff, d. h. als Begriff der Bewegung und als für die Philosophie des Aristoteles elementarer Begriff, findet sich außerdem u. a. angedeutet bei Peck (1942), lii–lvi; Menn (1994); Gerhardt (1996), 1–29, 36–38; Müller (2006), 22–26; Höffe (42014), 122–123. Heidegger (1981) hat zwar der kinetischen dynamis viel Aufmerksamkeit geschenkt, deutet sie aber als »Kraft« und von vornherein im »Fragebezirk des Seins«. Heideggers Zugriff auf Aristoteles ist m. E. von seinem Projekt der Fundamentalontologie verstellt. Vgl. zur dynamis bei Heidegger auch Gonzalez (2006), (2018). 53 54

6. Die Komponenten der aristotelischen dynamis

Nachdem der Zugang und das Ziel der Untersuchung des Begriffs der dynamis bestimmt worden sind, soll es nun darum gehen, seine wesentlichen Komponenten mithilfe der diagrammatischen Analytik und damit unter Anwendung der diagrammatischen Karte mit ihren zwölf Haltepunkten, den formalen Komponenten, zu erkunden und herauszuarbeiten. Die diagrammatische Karte gliedert die begrifflichen Komponenten und ihre systematische Herausarbeitung in drei ›Zonen‹, das Denkmilieu, das Begriffsmilieu und den Begriffskorpus. Diese Zonen sollen nun im horizontalen Modus eingedenk der diagrammatischen Schleife zwischen Begriffsmilieu und Begriffskorpus ›abgeschritten werden‹. Die Erkundung der Komponenten der dynamis entlang der diagrammatischen Karte resultiert in einem materialen begrifflichen Diagramm der aristotelischen dynamis, auf das wiederum – im Modus der vertikalen Diagrammatik – in der Analyse der Machtbegriffe von Hobbes (Kap. 7) und Foucault (Kap. 8) durch Herausarbeiten von Wieder-Holungen in den Komponenten rekurriert wird.

6.1 Denkmilieu 6.1.1 Das historisch-geographische Milieu (K1)

Hegemonialkämpfe und Bündnisse an der Ägäis. Aus der kleinen Stadtrepublik Stagira (Starro) im nordöstlichen Teil Griechenlands auf der Halbinsel Chalkidiki stammend, wurde Aristoteles 384 v. Chr. in eine Zeit geboren, in der die Ordnungs- und Regierungsform der freien Stadtrepubliken (Poleis) und ihre politische Freiheit nach innen und außen im Verschwinden begriffen war. 1 Die Poleis in der Region ›Kleinasien‹ waren lange Zeit eingebunden in Bündnissysteme unter der Hegemonialmacht Athen. Der Attische Seebund wurde gegründet, um einer erneuten kriegerischen Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden Persischen Reich strategisch entgegenzutreten. Zugleich wuchs mit dem Erstarken des Königreichs Makedonien neben Theben, Sparta und Athen eine weitere Großmacht heran, die bereit war, um die Vormachtstellung in der Ägäis 1

Höffe (42014), 13–14.

Die Komponenten der aristotelischen dynamis

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und um die Vorherrschaft über die Griechen gegen den langjährigen Hegemon Athen zu kämpfen. Waren viele Poleis zur Zeit der Perserkriege im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. in einer Oszillation zwischen Schutzgesuch und Unterwerfung dem (ersten) Attischen Seebund beigetreten, so waren sie mit dem Aufstieg Makedoniens in der Mitte des 4. Jahrhunderts erneut in der Situation, sich dem neugegründeten (zweiten) Attischen Seebund (379/378 v. Chr.) anzuschließen. Mit der Schlacht von Chaironeia (338 v. Chr.) erlebte das Bündnis um Athen und Theben die endgültige Niederlage, die ihm der makedonische König Philipp II. (mit seinem Befehlshaber Chares), der Vater Alexander des Großen, abrang. Um die politische Vormacht der Makedonier zu behaupten, aber auch um den ›Allgemeinen Frieden‹ (koine¯ eire¯ne¯) in der Ägäis bündnisrechtlich abzusichern, schlossen sich die Großmächte und die Poleis dem 337 v. Chr. neu gegründeten panhellenischen Korinthischen Bund auf der Basis von rechtlichen Vereinbarungen an. 2 Regierungsformen und früher Hellenismus. Die Niederlage und der Verlust der politischen Hegemonialstellung hatte Auswirkungen auf die Verfassungsund Regierungsformen in Athen und Theben und bei den stadtstaatlichen Bündnispartnern. Philipp der II. hörte überwiegend auf den Rat des führenden ›Intellektuellen‹ seiner Zeit, Isokrates, den Poleis nicht die Regierungsform der Monarchie aufzubürden. 3 Eine Klausel des Bündnisvertrags untersagte es den Poleis jedoch, eigenständig ihre Verfassung gegenüber der Form zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung zu ändern. Auch wenn diese Klausel sowohl dem Allgemeinen Frieden als auch einer Stabilität der Verfassung dienen sollte, verletzte sie doch die Autonomie der Poleis und nahm ihnen die Möglichkeit, verfassungspolitisch auf Bürgerkriege oder interne Rebellionen (staseis) zu reagieren. 4 Die Poleis und Athen befanden sich unter Vormachtstellung des Makedonischen Königreichs in einer Spannungslage zwischen Autonomie und Ordnungsverlust. Denn einerseits konnten sich die Poleis unter der Hand einer Hegemonialmacht relativ frei, autonom und über interstaatliche Vertragswerke abgesichert entwickeln. In dieser Zeit des Korinthischen Bündnisses war auch eine gewisse personelle Mobilität zwischen Athen und Makedonien möglich, was sich an der Person des Aristoteles illustrieren lässt: Philipp II. bat Aristoteles, dessen Vater Nikomachos bereits Leibarzt am makedonischen Königshof gewesen war, die Erziehung seines Sohnes Alexander zu übernehmen. Aristoteles kam dem Gesuch nach und wurde zwei Jahre lang (ca. 349–347 v. Chr.) dessen Privatlehrer. Zuvor hatte Aristoteles die Gelegenheit zu mehrjährigen 2 3 4

Roebuck (1948); Perlman (1985). Perlman (1985), 154. Ebd., 170.

Denkmilieu

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Forschungs- und Lehraufenthalten in Athen, unter anderem in der von Platon gegründeten Akademie (347–367 v. Chr.) und in anderen griechischen Stätten (die sogenannten ›Wanderjahre‹, 347–335/4 v. Chr.). 5 Andererseits schloss der formale Frieden zwischen den Bündnisstaaten nicht den verfassungswirklichen Verlust an Ordnung und sozialer Integration im Gemeinwesen aus. Henning Börm hat die Spannung zwischen formal zugesicherter Verfassung und der sozialen (Ordnungs-)Wirklichkeit für die griechischen Poleis pointiert beschrieben: »Eskalierende soziale Desintegration konnte [. . .] letztlich nicht nur zur weitgehenden Lähmung des Gemeinwesens, sondern auch zur Etablierung monokratischer Ordnungen, sei es eine Tyrannis, sei es die Unterwerfung unter eine auswärtige Macht, führen – etwas, das die meisten Hellenen eigentlich perhorreszierten.« 6 Die Zeit, deren Zeuge und denkerischer Akteur Aristoteles wurde, war also geprägt durch den Abstieg Athens als politischer und kultureller Hegemon und den Aufstieg einer neuen griechischen Großmacht, die, obgleich sie den Poleis relative Autonomie gewährte, doch durch hegemonialstrategische Bündnisse die innere Ordnung nicht unberührt ließ. Aus der Erfahrung des Niedergangs der attischen Vormachtstellung und aus der Erfahrung des Verfalls freiheitsbasierter Ordnungen (Demokratie, Isogonie) drängte sich eine Reflexion über Regierungsformen und deren Morphologie zwischen einer makedonischen Monarchie und der attischen Demokratie für den politisch wie wissenschaftlich Interessierten nahezu auf. Es ist die Zeit der Geburt der politischen Wissenschaft, zu der Aristoteles maßgeblich beitrug.

6.1.2 Das wissenskulturelle Milieu (K2)

Das wissenskulturelle Milieu der griechischen Antike in der Zeit von Aristoteles lässt sich als letzte Etappe einer denkgeschichtlichen Umwälzung verstehen, die häufig mit der Formel ›Vom Mythos zum Logos‹ beschrieben wird. Damit ist weder gemeint, dass fortan der Mythos, d. h. die sagenhafte und fiktive Erzählweise, aufhörte zu existieren, noch dass das mit dem Mythos verbundene »mythisch-ästhetische Weltbild« 7 abrupt verschwand und durch eine logische Sprache und Denkform substituiert wurde. Vielmehr ereignete sich ein Prozess der sukzessiven Herauslösung und Absetzung einer spezifischen logos-zentrierten Sprachform und Denkhaltung gegenüber dem narrativen Mythos auf dem Höffe (42014), 14–21. Börm (2019), 13. 7 Leinfellner (1966), 13, oder wie Horkheimer und Adorno es bezeichnen, die »mythische Anschauung« (Horkheimer / Adorno [182009], 11). 5

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vormals noch von beiden gemeinsam bestellten Feld der sprachlichen Äußerung. 8 Was sich mit der Zentralstellung des logos herausschälte, war eine »wissenschaftliche Erklärungsweise und [. . .] wissenschaftliche Vorhersage« unter dem Namen der Philosophie. 9 Mit dieser im Entstehen begriffenen spezifischen Form des Denkens verband sich zugleich auch eine neue »Weltauffassung« und »Weltdeutung«. 10 Bereits im Mythos reichte die erzählerische Spannweite von den Dingen über die Lebewesen bis hin zum Verhältnis der Menschen zum Götterhimmel. Dem Mythos eignete dabei sowohl eine ordnungsstiftende und sinndeutende Funktion in Bezug auf das Ganze der Welt, ihrer Zusammenhänge, als auch die Fähigkeit der Erklärung und Prognose einzelner Naturereignisse: »Der Mythos«, so beschreiben es Horkheimer und Adorno mit Blick auf die späteren Phasen der Aufklärung, »wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.« 11 Das ›wissenschaftliche‹ Denken übernahm diese Grundanliegen des Mythos genauso wie die Beschäftigung mit den grundsätzlichen Problemen der Welt, die bereits im Mythos verhandelt wurden. Als Medium des Umgangs mit diesen Problemen diente nun aber nicht länger die Fabel (mythos), sondern die philosophische Methode. Ein mit diesem ›Übergang‹ zum logos zusammenhängendes zentrales Problemfeld wurde bereits im Kapitel zur dynamis bei Platon angedeutet: das Verhältnis von Seiendem und Nicht-Seiendem, das mit der Frage nach der Existenzweise des Seienden als solchem, d. h. kontextinvarianter Strukturen, verbunden ist. 12 Auf diese Probleme konnten die Mythen nur unbefriedigende bzw. nur widerspruchsvolle Antworten geben. Der Anspruch der Philosophie war es, diese Probleme mit anderen Mitteln als denen der reinen sprachlichen Fiktion und sagenhaften Rede zu behandeln. Hierzu gründeten sich die ersten ›Denkschulen‹ und Akademien. In der Philosophiegeschichtsschreibung haben 8 Vernant (1987), 188. Siehe zur gemeinsamen Herkunft von mythologein und logos im Bereich des Gesprochenen und der sprachlichen Äußerung (legein: sprechen, logoi: Ausdrücke, Wörter) und dem Prozess der Ablösung und Entgegensetzung in pointierter Kürze Vernant (1987), 188–195. Die Darstellung des wissenschaftlichen Milieus bezieht sich überwiegend auf die konzise Darstellung von Leinfellner (1966). Die eher globale Nachzeichnung des wissenschaftlichen Milieus dient hier lediglich dazu, die geistesgeschichtliche Folie zu benennen, vor deren Hintergrund Aristoteles seine Philosophie entwickelte. Die Vorstellungen von einer Trennung von mythos und logos, die vor allem das Resultat einer teleologisch ausgerichteten Philosophiegeschichtsschreibung ist, wurde zurecht in unterschiedlichen Forschungen scharf kritisiert. Betrachtet man Aristoteles’ Poetik, kann von solchen idealtypischen Übergängen auch bei Aristoteles selbst kaum die Rede sein. Ein anderes Beispiel ist sicherlich die Einführung der chora in Platons Dialog Timaios, mit der eine bildliche Ausdrucksweise inmitten des philosophischen Denkens eingerückt wird. 9 Leinfellner (1966), 13. 10 Pleger (1991), 16, 17. 11 Horkheimer / Adorno (182009), 14. 12 Vgl. Kap. 5.1.2 a).

Denkmilieu

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sich hierbei vor allem die Pythagoräer, die ionischen Naturphilosophen, die Herakliteer und die Eleaten als wirkmächtig erwiesen. Und unter den Eleaten war es wiederum Parmenides, der die folgenschwere Differenz von epistemologischer und ontologischer Betrachtungsweise eines Gegenstandes und mit ihr das Sein als solches als Gegenstand philosophischer Untersuchung – wohlgemerkt in der Form eines Lehrgedichts – einführte. Mit dieser Markierung eines spezifisch philosophischen Gegenstandsfeldes und seiner gangbaren Zugänge sind zwei wesentliche diskursive Operationen verbunden: zum einen die »Forderung der Widerspruchsfreiheit«, zum anderen »die Entdeckung der Begriffe (logoi)« – und mit den Begriffen wiederum »die Erkenntnis, an welche sprachlichen und erkenntnistheoretischen Regeln der Gebrauch von Begriffen gebunden ist, wenn man sinnloses Reden vermeiden will.« 13 Die Verschiebung vom Mythos zum Logos im Feld der sprachlichen Rede meint also den (idealtypischen) ›Paradigmenwechsel‹ von narrativen Aussagesystemen zu logisch verifizierbaren Aussagesystemen, die – von wissenschaftstheoretischen Axiomen und logischen Regeln abgesichert – auf der Ebene der Idee und des Begriffs Wissen erzeugen. Es ist mit anderen Worten der Beginn der Arbeit am Begriff und der Einstieg in die Explikation von Begriffen, die als Grundbegriffe der Philosophie etabliert werden und von dort wiederum auf die Grundbegriffe der Wissenschaften zurückwirken sollen. Die wissenschaftliche und philosophische Begriffsbildung der dynamis unter Aristoteles lässt sich somit auch als direkter Ausdruck für das begriffsorientierte und auf Systematisierung der Regeln der Wissensgenese abstellende wissenskulturelle Milieu begreifen. Aristoteles' philosophisches Schaffen zeichnet in diesem Kontext dadurch aus, grundlegende Entwürfe auf allen drei Ebenen des sich herausbildenden ›wissenschaftlichen Denkens‹ vorgelegt zu haben: eine logische, wissenschaftstheoretische und begriffliche Rahmenlegung der Erkenntnisverfahren in den Einzelwissenschaften (episteme) und auf der Ebene des Seienden als solchem (›Erste Philosophie‹), eine Abgrenzung und Aufteilung der intelligiblen Gegenstandsfelder, und nicht zuletzt einzelwissenschaftliche Studien (›Pragmatien‹). 14 Umgekehrt formuliert adressieren die Begriffsbildungen – und damit auch die Begriffsbildung der dynamis – bestimmte, am logos orientierte Wissens- und Wissenschaftskonzeptionen, zu denen die Wissenskultur dieser Epoche aufforderte.

Leinfellner (1966), 18. Mit Buchheim ist eine »Pragmatie« »eine begründbar zusammengehörige, methodisch durchgeführte ›Behandlung‹ eines wissenschaftlichen Themas; gemeint ist mit dem Wort nicht die zu Papier gebrachte Darstellung, sondern das wissenschaftliche Unternehmen selbst, dessen Ausdruck sie ist.« (Buchheim [22016], 15). 13 14

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Nachdem das historisch-geographische und wissenskulturelle Denkmilieu, innerhalb dessen und aus dem heraus sich Aristoteles' theoretische und wissenschaftliche Arbeit verortet, in gebotener Kürze skizziert wurde, können nun entsprechend der diagrammatischen Karte die ersten Komponenten des Begriffsmilieus, d. h. des engeren theoretischen und problematischen Umkreises der Begriffsschöpfung und begrifflichen Konsistenz, der dynamis untersucht werden.

6.2 Begriffsmilieu I 6.2.1 Metatheoretische Rahmung (K3)

Der Begriff der dynamis, so sei hier bereits vorweggenommen, ist ein Prinzipienbegriff, d. h., er wird von Aristoteles als eine Art von Prinzip bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den Begriff des Prinzips im Kontext der aristotelischen Wissenschaftstheorie im Allgemeinen und im Rahmen seines Wissensbegriffs im Besonderen zu verorten. Nachfolgend soll daher der metatheoretische Rahmen im Hinblick auf Aristoteles' Erkenntniseinstellung, seine Einteilung der Wissenschaften, seinen Wissensbegriff und die Rolle von Ursachen und Prinzipien in der Wissensgenese skizziert werden. Explanatorische Erkenntniseinstellung und Erkenntnisinteresse. Aristoteles' philosophisches ›Werk‹ lässt sich mit Buchheim als breitangelegtes Unternehmen der Konstruktion einer Theorie über »de[n] ursächliche[n] Bau des Wirklichen« begreifen. 15 Aristoteles' Erkenntniseinstellung ist damit als explanatorische Erkenntniseinstellung par excellence zu verstehen, die nahezu sämtliche Wissensbereiche zu kartografieren versuchte. Der Corpus Aristotelicum gleicht aufgrund seiner umfassenden Spannweite »einer wahren Enzyklopädie des Wissens« 16, die durch den Versuch einer hierarchischen Ordnung der Wissensarten auf eine »Phänomenologie des Wissens« hinausläuft. 17 Die Erkenntnisstufen reichen dabei mit zunehmendem Abstraktionsgrad von der sinnlichen Wahrnehmung über die Erinnerung bis zu den Wissenschaften und der Weisheit (sophia) als höchste Form der Wissenschaft (episte¯me¯). 18 Auf der oberen Erkenntnisstufe, d. h. auf der Stufe des Wissens, nimmt Aristoteles eine Dreiteilung der Wissensbereiche und ihrer zugehörigen Wissenschaften vor. Die aristotelische ›Trichonomie‹ der Forschungsgebiete ergibt sich u. a. aus den unterschiedlichen 15 16 17 18

Buchheim (22016), 61. Höffe (42014), 30. Ebd., 37–46. Vgl. Höffe (42014), 42–46; Met. I 1, 980a21–982a3, NE I 2.

Begriffsmilieu I

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Erkenntnisinteressen und Gegenstandsbereichen (»Gattungen von Seiendem«): Die Künste (techne¯, poie¯tike¯) bzw. die poietischen Wissenschaften (Handwerk, Dichtung, Medizin) widmen sich der Herstellung eines gegenständlichen Dinges, Werkes, Zielzustandes oder Gutes (z. B. der Gesundheit) (vgl. NE I 1, 1095a1–5). Kennzeichnend für die herstellenden Wissenschaften ist, dass der Zweck der Tätigkeit außerhalb der Tätigkeit selbst liegt. Da sie auf die alltäglichen, existenziell notwendigen, aber auch kulturellen Bedürfnisse gerichtet sind (Met. I 1, 981b16–20) 19, verfolgen sie einen Nutzen. Die praktischen Wissenschaften (praktike¯) hingegen befassen sich mit den Ausrichtungen der Tätigkeiten bzw. mit dem Handeln selbst. Das Handeln ist hierbei sowohl theoretischer Gegenstand der Wissenssuche als auch Verwirklichung von moralisch erstrebenswerten Handlungen eines gelingenden Lebens. Grundsätzlicher formuliert beziehen sich die praktischen Wissenschaften auf menschliche Handlungen in sozialer wie in individueller Hinsicht und insofern sie auf einem Entschluss (prohaire¯sis) bzw. auf Intentionalität beruhen (Ethik, Politik, Ökonomie, Rhetorik). Von ihnen unterscheidet Aristoteles schließlich die theoretischen (»betrachtenden«) und philosophischen Wissenschaften (philosophiai theo¯ re¯tikai, Met. VI 1, 1026a 18–19). Während sämtliche Wissenschaften, sowohl die theoretischen als auch die praktischen und poietischen, auf Wahrheit gerichtet sind, werden allein die theoretischen bzw. philosophischen Wissenschaften – Aristoteles nimmt hier noch keine disziplinäre und wissenstheoretische Trennung zwischen Einzelwissenschaften und ›Philosophie‹ vor 20 – »um ihrer selbst und um des Wissens willen« (Met. I 2, 981a14–15) ausgeübt. Die theoretischen Wissenschaften umfassen nach Aristoteles i) die Mathematik, ii) die Physik oder Naturphilosophie und iii) die Theologie oder »Erste Philosophie« (prote¯ philosophia, theologike¯), die den beiden anderen theoretischen Wissenschaften voraus geht (Met. VI 1, 1026a 18–19, 24). 21 Die Physik beschäftige sich mit dem Bewegbarem (kine¯to¯ n) und selbstständigen Dinge (cho¯ rista), die Mathematik mit den unbewegten und nicht abtrennbaren, aber auch abtrennbaren Dingen, und die Erste Philosophie »handelt von sowohl abtrennbaren (selbstständigen), als auch unbeweglichen Dingen (akine¯ta).« (Met. VI 1, 1026a9–16) Darin drücken sich zugleich auch »drei Abstraktionsgrade« innerhalb der Wissenschaften aus. 22 Aristoteles markiert außerdem mit der Unterscheidung zwischen »Erster« und »Zweiter Philosophie« (Met. IV 3, 1004a7–8, VI 1, 1026a24, 30) eine Binnendifferenzierung, wobei mit Zweiter Philosophie / Wissenschaft die Naturphiloso19 Die Übersetzungen von Zitaten aus der Metaphysik sind, wenn nicht anders angegeben, von Horst Seidl übernommen. 20 Vgl. Mansion (1946), 41. 21 Vgl. Hierzu weiter Kap. 6.2.3. 22 Mansion (1936), 10.

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phie oder »Physik« (physike¯) und mit Erster Philosophie disziplinäre Diskurse gemeint sind, die wir heute als Allgemeine Wissenschaftstheorie oder Metaphysik bezeichnen würden. 23 Aristoteles' Wissensbegriff: Über Ursachen und Prinzipien. Aristoteles legt den Wissenschaften einen prinzipientheoretischen und ursachenbasierten Wissensbegriff zugrunde. Die metatheoretischen, logisch-methodischen Grundlagen dieses Wissens- bzw. Erkenntnisbegriffs werden konzentriert in den Analytiken, aber auch in einleitenden methodischen Überlegungen oder Exkursen in den naturwissenschaftlichen Studien ausformuliert und aufgegriffen. Wissen über ein Ding oder einen Sachverhalt liegt in einem wissenschaftlichen Sinne dann vor, wenn die Ursachen (und manchmal nennt Aristoteles auch die Notwendigkeit als Kriterium des Wissens) dieses Sachverhaltes angegeben werden können: Zu wissen nun glauben wir eine jede Sache schlechthin, [. . .] wenn wir von der Ursache (aitian) glauben Kenntnis zu besitzen, aufgrund derer die Sache besteht, dass sie ihre Ursache ist, und dass sie sich nicht anders verhalten kann. (Post. An. I 2, 71b9–13, vgl. Post. An. II 11)

Die Angabe der Ursächlichkeit, d. h. die Explanation seiner Gegebenheit, ist also für Aristoteles essenziell für die Erkenntnis eines Gegenstandes 24, aber auch für die Erkenntnis der Wahrheit. 25 Eine Ursache antwortet auf eine »›Weshalb‹-Frage«, und dies, so Aristoteles, auf vierfache Weise: als (i) Worauses-entsteht (›Stoff-Ursache‹), als (ii) ›Was-es-ist‹ (›Form-Ursache‹), (iii) als »[W]oher-zuerst-die-Veränderung«/Woher des Anstoßes zur Bewegung oder Beharrung, und (iv) als Worum-willen / »Weswegen« (›Ziel-Ursache‹) eines Sachverhalts oder der Beschaffenheit eines Gegenstandes (Phys. II 3, 194b23– 195a3, II 7, 198a14–b9). 26 Ursachen (aitiai) sind ebenso wie Prinzipien (archai) erkenntnistragend, genauer: »alle Ursachen sind Prinzipien« (Met. V 1, 1013a17), und Prinzipien sind »dasjenige, wovon man in der Erkenntnis eines Gegenstandes ausgeht« (ebd., 1013a14–15). Wissenschaftliches Wissen lässt sich nach dem aristotelischen Wissensbegriff zudem idealerweise in der Form eines Syllogismus darstellen, in dem die Ursachen und Prinzipien die Rolle von 23 Aristoteles charakterisiert die Erste Philosophie auch als Theologie; tatsächlich wird um das Gegenstands- und Aufgabenprofil der ›Ersten Philosophie‹ bei Aristoteles eine andauernde Diskussion geführt. 24 Zum Verhältnis der aristotelischen Ursachen zu den Ursächlichkeitslehren der akademischen Vorgänger und den frühen, »vorsokratischen« Naturphilosophien siehe Hankinson (2009), 213–215. 25 Met. II 1, 993b23–24: »Die Wahrheit aber wissen wir nicht ohne Erkenntnis der Ursache.« 26 Für eine Ausführung der Fragestellungen und Antworten in der Physik siehe Hankinson (2009), 215–218. Die Übersetzungen und Hervorhebungen aus Aristoteles’ Physik durch Kursivierung in denselben sind, wenn nicht anders angegeben, von Hans Günter Zekl übernommen.

Begriffsmilieu I

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Mittel- und Primärtermini einnehmen 27: »Ein Faktum BC ist eine aristotelische Ursache eines anderen Faktums AC genau dann, wenn die B-Eigenschaft von C als Material, Bewegungsursprung, Ziel oder Form in Beziehung auf die A-Eigenschaft klassifiziert werden kann.« 28 Ohne an dieser Stelle das Verfahren des syllogistischen Schlusses und der deduktiv vorgehenden Demonstration (= die wissenschaftliche Erklärung, in der das Explanandum in der Konklusion steht) weiter zu vertiefen, soll abschließend im Rahmen der Komponente der metatheoretischen Rahmung das aristotelische Verständnis von Prinzipien skizziert werden. Denn das Ziel jeder Forschung ist für Aristoteles rückgebunden an die Einsicht in gegenstandsspezifische und primäre Prinzipien. Prinzipien der Erkenntnis. Die Prinzipien stehen am Ende eines Forschungsweges, sie sind das, wonach gefragt wird, nicht aber die Ausgangsinstanzen einer axiomatischen ›top-down‹-Deduktion. 29 Prinzipien sind grundsätzlich relational verfasst, d. h., sie sind stets Prinzipien von etwas, dessen Bewegungsanfang sie darstellen. Aristoteles unterscheidet drei Arten von (wissenschaftlichen) Prinzipien, die beim empirisch Gegebenen einsetzen und einen zunehmenden Abstraktionsgrad erreichen: Hypothesen (hypotheseis), Definitionen (horismoi) und Postulate (axiomata). 30 Hypothesen, zumindest als wissenschaftliche Prinzipien, sind Existenzannahmen, sie setzen fest, »dass etwas der Fall ist oder dass etwas nicht der Fall ist«, d. h., ob ein Gegenstandsbereich oder ein Gegenstand existiert (An. Post. I 2, 72a19–21). Sie bilden die Geschäftsgrundlage von Einzelwissenschaften, so bspw. in der Physik die Hypothese der Existenz von Bewegung. Definitionen drücken einerseits empirische oder mathematische Festsetzungen aus, sie sind unvermittelte Prinzipien in dem nominal-definitorischen Sinne, dass sie eine Bestimmung des »Was-es-ist« treffen, die an sich nicht weiter beweisbar ist. Eine andere Art von Definition gibt ein Kausalitätsverhältnis an; in diesem Fall ist sie »eine Bestimmung, die klar macht, warum etwas der Fall ist [. . .], [so] dass sie gleichsam eine Demonstration des Wases-ist sein wird« (An. Post. II 10, 93b38–94a2, Herv. i. O.). Postulate schließlich sind transdisziplinär gültige, unvermittelte, d. h. selbst nicht weiter ableitbare Prinzipien, die notwendig sind für den Wissenserwerb, bspw. der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (An. Post. I 2, 72a14–18). Ebenso wie die Ursachen sind Prinzipien für Aristoteles nicht aus einem übergeordneten Prinzip abgeleitet. Daher besteht auch die Einheit der Prinzipien allenfalls analogisch. Prägendes Charakteristikum von Aristoteles' Wissens- und Wissenschaftsbegriff ist 27 28 29 30

Buchheim (22016), 6. Detel (2011), XXX, Herv. i. O. Zum Ursachenbegriff siehe weiter unter Kap. 6.3.1 b) (K6). Ebd., XXXV–XXXVI. Ebd., XXXVII.

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mithin, dass verschiedene Prinzipiensysteme nebeneinander bestehen 31 (der sogenannte Prinzipien-Pluralismus), die zugleich von einem »wissenschaftliche[n] Anti-Reduktionismus« 32 zeugen. Ohne Aristoteles einen naiven Empirismus zu unterstellen, könnte man seinen Ansatz wissenschaftlich-theoretischen Forschens als eine Art bottom-up-Prinzipienforschung verstehen. 33 Mit der Methode des demonstrativen ›bottom-up‹-Verfahrens korrespondiert der genetische Weg der Prinzipienforschung »von dem uns Bekannteren und Klareren zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren« (Phys. I 1, 184a16–18). 34 Dies ist die methodische Formel, mit der Aristoteles seine genetische Betrachtungsund Herangehensweise fasst. Sie charakterisiert sich durch einen analytischen Erkenntnisweg, der bei den aggregathaft vorliegenden Phänomenen so, wie sie uns in der Wahrnehmung gegeben sind, beginnt und zu den Elementen, allgemeinen Grundsätzen und ersten Prinzipien hinführt, die so etwas wie ein ›an sich‹ darstellen (ebd., 184a16–26). Das der Natur nach Nähere und Bekanntere (= das Allgemeine) sind die Prinzipien der Natur, die Ursachen oder Elemente (stoicheia) (Phys. I 1, 184a10–13). Aus der Skizzierung von Aristoteles' Wissensbegriff wird bereits deutlich, dass Prinzipien eine zentrale Rolle für die Erlangung von Wissen über einen Gegenstand zukommt. Aufgabe sämtlicher Wissenschaften ist es, genau jene Prinzipien und Ursachen zu ermitteln, die die Entstehung eines Dings und den Verlauf eines Geschehens zu erklären ermöglichen. Über den zentralen prinzipienbasierten Wissensbegriff werden die Einzelwissenschaften strukturell homogenisiert und selbst noch einmal in drei Bereiche bzw. Typen unterteilt. Darunter bilden die Naturphilosophie, Erste Philosophie oder Theologie und die Mathematik die Gruppe der theoretischen Wissenschaften, sie stehen sich also besonders nahe. Diese metatheoretische Rahmung drückt sich in jedem der von Aristoteles als solche bestimmten und konturierten Basisbegriffe aus – und somit auch in dem Begriff der dynamis.

6.2.2 Problemkomplex (K4)

Das Problem der Bewegung. In der antiken griechischen Philosophie und Wissenschaft, die damals noch nicht getrennt waren, stellt die begriffliche Erfassung und logische Durchdringung des Phänomens der Bewegung (kine¯sis, metabole¯) und des Werdens und Entstehens (genesis) ein Grundproblem dar. 31 32 33 34

Vgl. Wieland (21970), 215–217. Detel (2011), LIX, Herv. i. O. Ebd., XXXV, XLIII; vgl. Wieland (21970), 58; Aichele (2009), 75–142; Höffe (42014), 80–81. Vgl. Met. I 1, 982a 4–32; An. Post. I 31, 87b30–35.

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Das Problem des Werdens spannt sich von der Frage nach der Wirklichkeit von Bewegung her auf 35: Wie lässt sich Bewegung »einerseits als Übergang vom Seienden zum Nichtseienden, andererseits auch als das Durchhalten eines Bewegten durch die vielen Zustände seiner Bewegung hindurch begreifen?« 36 Sofort ist ersichtlich, dass das Problemfeld in sich komplex ist, denn es adressiert sowohl die physische Bewegung in Raum und Zeit, die physiologische Bewegung als Veränderung (alloio¯ sis) als auch das Werden und Vergehen (phthora) von (organischen und nicht-organischen) Dingen überhaupt. Gemäß einer philosophiegeschichtlichen Erzählung ist Bewegung in diesem weiten Sinne das Grundproblem, das in seiner Formulierung »die Philosophie auf den Plan ruft.« 37 In diskursiver Hinsicht ist das Problem der Wirklichkeit von Bewegung eine Thematik, an der sich der aufsteigende Diskurs der (theoretischen) Philosophie orientierte und zu einer inneren Differenzierung nach Gegenstandsgebieten führte. Aristoteles nimmt auf die Vorgängerpositionen in der ihm eigenen Methode der Dialektik Bezug (Phys. I 2–8), indem er sie als erste positive Ansatzpunkte oder Kontrastpositionen für den Aufbau seiner argumentativ und begrifflich systematischen Wissenschaft (episte¯me¯) heranzieht. Um sich dem Problem der Bewegung zu nähern, wie es in der antiken Philosophie und für Aristoteles relevant ist, ist es daher hilfreich, zunächst einen Überblick über die Problemformulierung bei den vorsokratischen Naturphilosophen, insbesondere Parmenides, zu gewinnen. Sodann lässt sich eingrenzen, auf welche diskursstrategische Weise Aristoteles seine Behandlung des Problems der Bewegung ausfaltet. Die vorsokratische Problematisierung. Von jenen ersten philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Problem der Bewegung sind einige Fragmente und Berichte aus der vorsokratischen 38 Epoche, die von Thales von Milet bis zu Demokrit von Abdera angesetzt wird (um 585 bis 380 v. Chr.), erhalten und überliefert. Darunter bilden die ionischen Naturphilosophen aus Milet um Thales, Anaximander und Anaximenes eine erste Phase oder Gruppe der spekulativen Naturbetrachtung, Parmenides und die Eleatische Schule und

Solmsen (1960), 7. Kaulbach (1971), 866, Herv. i. O.; vgl. Pollock (2011), 386. 37 Höffe (42014), 109; vgl. Bröcker (41974), 39–49. 38 Der Ausdruck ›Vorsokratiker‹ stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde durch Hermann Diels’ Fragmente-Edition maßgeblich mitgeprägt. Er ist aufgrund seiner normativen Ausrichtung auf die Philosophie des Sokrates umstritten, zumal auch einige ›Vorsokratiker‹ Zeitgenossen von Sokrates und Platon waren (vgl. Curd [2020], Kap. 1). Als Alternative wurde der Begriff ›frühe griechische Philosophie‹ (Early Greek Philosophy) vorgeschlagen (vgl. Long [1999], 5–10). Ich verwende ›Vorsokratiker‹ hier mit Curd (2020) zur Bezeichnung von Denkern, die (noch) nicht von Sokrates’ und Platons Philosophie beeinflusst waren. Die Vorsokratiker werden zitiert nach Diels-Kranz [DK]. 35 36

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Heraklit eine zweite Gruppe. 39 Sie eint das Bemühen um eine Beschreibung und Erklärung der Bewegung(en) der vielfältigen lebendigen und kosmischen Dinge (ta onta) unter Rückgriff auf »eine spekulative Form der Naturerklärung, bei der meist aufgrund eher zufälliger und als bedeutsam eingestufter Einzelbeobachtungen oder aufgrund ontologischer Vorgaben auf ein einheitliches Prinzip zur Erklärung der gesamten Welt geschlossen wird.« 40 Der spekulativen und tendenziell monistischen Naturerklärung lag eine genetisch-genealogische Erkenntniseinstellung zugrunde, die die Frage nach dem Woher des Kosmos, der natürlichen Dinge und ihrer (ontischen) Bewegungen als Frage nach den ersten Prinzipien (archai) in das Zentrum der Naturbetrachtung stellte und in einem ontologischen Ausgriff auf die gesamte Realität ausdehnte. 41 Fragen nach den Ursprüngen als Fragen nach dem Woher eines Gegenstandes sind immer auch Fragen nach dem Woher einer Bewegung, denn die Herkunft (arche¯) der Dinge ist der Ort des Hervorspringens, aber auch der Ort der Rückkehr. 42 Die Frage nach dem Woher eines Dinges oder eines Geschehens trägt damit zugleich eine temporale und eine ontologisch-materielle Komponente, da sie sowohl nach dem zurückliegenden Ausgang einer (Entstehungs-)Bewegung als auch nach dem (idealen oder materialen) Woraus fragt. 43 Das Problem der Bewegung beginnt sich damit in der ionischen Naturphilosophie eher indirekt aus dem Frageparadigma nach dem Ursprung zu einer Frage der Konstitution der Wirklichkeit und der doppelten Gegensatzproblematik von Einheit und Vielheit, Seiendem und Nichtseiendem 44 herauszuschälen. Darin zeichnet sich ein Übergang aus einer herkunftslogischen zu einer paradoxalen und identitätslogischen Problematisierung heraus, für die exemplarisch die Thesen des Heraklits stehen. In den berühmten sogenannten ›Flussfragmenten‹ 45 hat Heraklit – einer starken, an die platonische Interpretation angelehnten Lesart zufolge – die Identität von Sein und Werden postuliert. Die Dinge würden sich gerade durch ihre in sich persistierende Bewegung und Veränderung und damit auch ›fließende‹ Prädikation auszeichnen – eine These, die der gemeinen Vorstellung eines Identitätskonzepts des Sichgleichbleibens entgegensteht. 46 Rapp (22007), 8–19. Ebd., 19. 41 Kirk / Raven / Schofield (1994), 83. 42 Bröcker (41974), 51; Angehrn (2005), 72. 43 Angehrn (2005), 71–79. Thales postulierte als Erklärungs- und Seinsgrund der Welt Wasser (hydo¯ r), Anaximander das Unbegrenzte / Unzählbare (apeiron) und Anaximenes Luft (dine¯ ). 44 Vgl. Kaulbach (1971), 864; Pollock (2011), 388. 45 »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu.« (DK 12) »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.« (DK 49a) »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.« (DK 91). 46 Die gemeinhin Heraklit zugeordneten Formeln ›alles fließt‹ oder ›alles sei im Fluss‹ und 39 40

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Aus moderner Perspektive firmieren die philosophischen Fragen zur natürlichen und substanziellen Bewegung durch ihre Ausrichtung auf den Bereich des Lebendigen unter dem Theorieformat einer Naturphilosophie oder speziellen Metaphysik (metaphysica specialis), mit der eine regionale Ontologie der Natur (physis), des Natürlichseienden (physei onta) und des Kosmos 47 korrespondiert. Fragen nach der Erfassung und Natur von Bewegungen zeigen aber auch bereits allgemein-ontologische Ambitionen, wenn unter ›Ontologie‹ die Angabe eines Konstitutionsprinzip der Wirklichkeit verstanden wird. 48 Mit Parmenides verschiebt sich das Problem der Bewegung dann auch in jenen Bereich, der heute als Ontologie bezeichnet wird. Die Herausforderung des Parmenides. Die Grundgedanken der Ontologie des Parmenides finden sich in dem ersten Teil seines in epischen Hexametern verfassten Lehrgedichts, das der Form nach die Offenbarungsrede der Göttin der Gerechtigkeit (Dike¯) darstellt und damit bezüglich sowohl der ausgesprochenen Wahrheit als auch der Weise der Schlussfolgerung einen besonderen Anspruch auf Anerkennung reklamiert. 49 Parmenides negiert die Erkennbarkeit und damit die Existenz von Bewegung und Veränderung auf der Ebene des Seins. Seine These ist eine zugleich epistemologische und metaphysischontologische Position, die sich unter dem Stichwort ›Leugnung der Bewegung‹ markant in die Geschichte des abendländischen Denkens eingetragen hat. 50 In einer pointierten wie komprimierten Paraphrasierung von Wolfgang Pleger lässt sich die Argumentation von Parmenides wie folgt zusammenfassen: Es gibt nur das eine, unteilbare, in sich vollendete und begrenzte, in sich ruhende, bewegungslose Sein. Daraus folgt negativ: Es gibt kein Nichts, es gibt kein Werden oder Vergehen, denn beide setzen einen Übergang von Nichtsein in Sein oder von Sein in Nichtsein voraus und damit die unmögliche Existenz eines

damit die These eines universalen Werdens haben sich als rezeptionsgeschichtliches Phänomen erwiesen; jedenfalls wird schon länger angezweifelt, dass Heraklit je eine derartige »Flusslehre« vertrat. Philosophiegeschichtlich ist die starke Interpretation dennoch äußerst wirksam gewesen, bspw. in der gängigen Gegenüberstellung mit der Position des Parmenides. Vgl. dazu Graham (2019), Kap. 3.1; Rapp (22007), 67–72; Angehrn (2005), 115. 47 Ich orientiere mich an der Klassifikation von Emil Angehrn (2005), 65–66, »Naturphilosophie hat mit dem Bereich des Beweglichen und Sichtbaren, mit der eigentlichen Welt-Erfahrung zu tun. Ihr Thema ist sowohl die Physis wie der Kosmos, die Welt der lebendigen Natur wie die sichtbare Konstellation der Gestirne.« 48 Angehrn (2005), 30. 49 Rapp (22007), 93. 50 Zunächst war die These ein im höchsten Maße provokantes Ereignis in der frühen griechischen Philosophie oder, wie es Solmsen ausdrückt: »Parmenides’ conception of unchanging and eternal being heralded a crisis for the vigorous cosmological speculation which had developed in Ionia.« (Solmsen [1960], 3) Ich nenne Parmenides’ Position in Bezug auf Bewegung ›Negationsthese‹.

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Nichtsein. An diesen zentralen Gedanken schließt sich der weitere an: Nur das Sein kann gedacht werden. 51 Das bewegungsproblematisierende Hauptargument verläuft dabei über die kategoriale Differenz von Sein und Werden: Werden nimmt Teilhabe an dem Nicht-Seienden. Da kein Nicht-Seiendes denkbar ist, ist auch das Entstehen und Vergehen (Werden) nicht denkbar, weil es einen Übertritt von bzw. zu einem (Noch)-Nicht-Seienden darstellt. Parmenides hat darin eine prädikationslogische Argumentation eingeflochten: Wenn jede Form der Veränderung und Bewegung an einem Ding im Kern eine Form von Entstehen und Vergehen eines Prädikats ist (denn diese Gleichsetzung von Existenz und Prädikation scheint Parmenides anzunehmen), das Werden und Vergehen eines Prädikats aber nicht denkbar ist, dann ist jede Form von Bewegung zu negieren, und das Seiende unbeweglich (akine¯tos). 52 Nun schließt Parmenides nicht aus, dass wir Bewegung wahrnehmen und erfahren können, die Erfahrung von Bewegung ist eine nicht zu leugnende erfahrungsgebende Evidenz. Jedoch stellt für ihn diese Erfahrung lediglich eine subjektive Illusion dar. 53 Die Negationsthese zur Bewegung ist bei Parmenides also zum einen die Konsequenz eines strikten Korrespondenzprinzips zwischen Denken / Erkennen, Sagen und Seiendem. Zum anderen resultiert die Negation aus dem ontologischen Monismus, welcher das Sein als unteilbares, homogenes Eines setzt. Das ontologische Problem der Bewegung zeichnet sich bei Parmenides zusammengenommen also auch als ein »Intelligibilitätsproblem«. 54 Parmenides' Schüler Melissos und Zenon waren bestrebt, durch verschiedene Argumentationsstrategien die Unmöglichkeitsthese des Werdens und der Bewegung zu begründen. Zenon versuchte den Beweis der Nicht-Existenz von Veränderung und Bewegung über das Konzept des Unendlichen und der Gliederung der Zeit. Von den sogenannten Bewegungsparadoxien des Zenon hat Aristoteles im vierten Buch der Physik ausführlich berichtet, um sie dann aufzulösen. 55 Melissos versuchte durch eine physikalische Argumentationsstrategie die Nichtexistenz von Bewegung zu beweisen, indem er auf die Leere als Bedingung der Möglichkeit von Bewegung abhob, wobei die Leere selbst ein Nicht-Seiendes und damit Nicht-Existierendes sei. Bei Platon und Aristoteles ereignet sich schließlich eine Art Synthetisierung Pleger (1991), 101. Zentrale Referenzen hierfür sind die Fragmente DK 28 B2, B7, B8. Zur Unterscheidung von Prädikation und Existenzaussage siehe Frede (1967). Zu diesem Schluss von der Unmöglichkeit des Entstehens und Vergehens auf die Unmöglichkeit von Bewegung und Veränderung siehe die aufschlussreiche Interpretation von Rapp (22007), 122–125; Solmsen (1960), 3–19. 53 Badiou (2013), 33; Brague (1990), 3. 54 Corcilius (2011), 77. 55 Vgl. für einen Überblick: Huggett (2010), sowie im Rahmen einer Untersuchung »reiner Bewegungsvorstellungen« Bockrath (2014), 59–82. 51 52

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aus den bewegungsaffirmativen naturphilosophischen und ontologischen bewegungsnegierenden Positionen seiner Vorgänger. Emil Angehrn nennt diese diskursiven wie konzeptuellen »Versuche der Synthetisierung« die »naturphilosophische Synthese«; in dieser kommen »die nicht rückgängig zu machenden Einsichten beider Seiten zur Geltung [. . .]: die Rechenschaftsablegung über das Entstehen und Vergehen aller Dinge, wie es von Thales bis zu Heraklit mit zunehmender Schärfe herausgestellt wird, und die Einsicht [des Parmenides; L. B.] in die Konsistenzbedingungen allen Denkens und Sprechens, in die basale Selbstgleichheit alles Seienden.« 56 Ein Beispiel dafür ist der bereits vorgestellte ›dynamis-Vorschlag‹ von Platon im Sophistes. Aristoteles differenzierte Behandlung des Bewegungsproblems. Wir haben bisher gesehen, wie sich das Problem der Wirklichkeit und Existenz von Bewegung bei den vorsokratischen Philosophen stellte. Eine wichtige Beobachtung dabei ist, dass sich eine Verschiebung aus einem naturphilosophischen Kontext zu einer ontologisch-epistemologischen Fragekonfiguration bei Parmenides ereignet hat. In der Aristoteles-Forschung herrscht große Einigkeit darüber, dass Aristoteles' Antwort, im Rahmen derer er die Begriffe der dynamis und energeia zum Einsatz bringt, sich primär auf die parmenideische Herausforderung im Bewegungsproblem bezieht. 57 Die Frage ist jedoch, von welchem diskursiven Spielfeld aus er auf das Problem der Bewegung Bezug nimmt und welchen diskursstrategischen Einsatz er dabei eingeht: Greift Aristoteles Bewegung und Werden (primär) naturphilosophisch oder ontologisch oder in einem anderen theoretischen Spielfeld auf? Auf diese Frage sind in der Forschung verschiedene Antworten gegeben worden. Die ›ontologische‹ Lesart lautet grob skizziert, dass Aristoteles in der Aufnahme des eleatischen Bewegungsproblems die Ontologie selbst zum Gegenstand macht bzw. die Ontologie als die Befassung mit der Wirklichkeit. Aristoteles behandle Bewegung dieser Lesart zufolge wie ein genuin ontologisches Problem mit dem Ziel, die bisherigen Ontologien von Parmenides und Platon um das Element der Existenz der Bewegung im Bereich des Seienden zu erweitern. Damit ist wiederum auch ein begriffliches Argument verbunden: Bewegung und die mit der Bewegungsanalyse verbundenen Begriffe (Raum, Zeit bei Eugen Fink, dynamis, energeia, Form, Materie bei Sentesy) sollen zu Begriffen der Ontologie nobilitiert werden. 58 Die zweite Lesart, der hier gefolgt wird, verfolgt hingegen eine metatheoretische Argumentation: Aristoteles setzt Bewegung und Werden zunächst als Gegebenes voraus (siehe die Existenzhypothese von Bewegung in Angehrn (2005), 158. Vgl. z. B. Brague (1990), Anagnostopoulos (2013), Corcilius (2011). 58 Mit Fink (1957) und Sentesy (2020) seien hier eine klassische und eine gegenwärtige Interpretation der Ontologie-Lesart angeführt. Fink folgt klar seinem Lehrer Heidegger. 56 57

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Phys. I 2 59). Sein Argument ist dann das folgende: Wenn es gelingt, Bewegung und Veränderung definitorisch, begrifflich und durch Angabe der notwendigen Prinzipien von Bewegung zu bestimmen, lässt sich die Intelligibilität von Bewegung erweisen. Mit dem Nachweis der Intelligibilität erhärtet sich dann auch der ontologische Status von Bewegung als Wirkliches bzw. bestätigt sich die Grundannahme. Dass Bewegung existiert, ist wiederum die Voraussetzung für die sinnvolle Erforschung derjenigen Gegenstände, die sich durch ein inhärentes Prinzip der Bewegung auszeichnen, was für Aristoteles sämtliches Natürlichseiendes ist. 60 Die »ontologische Rehabilitierung« der Bewegung, wie es Rémi Brague treffend bezeichnet hat, dient damit nicht der Begründung einer universalen oder allgemeinen Ontologie (als Gegenentwurf zum ontologischen Monismus bei Parmenides) und sie dient auch nicht dem Unternehmen, »to do physics, but rather to secure the legitimacy of the entire enterprise of a knowledge of nature by making room for motion within being.« 61 Ähnlich bewertet Anagnostopoulos die argumentative Ausrichtung von Aristoteles' Antwort auf das Bewegungsproblem: »Aristotle's treatment [. . .], of a dilemma purporting to show that change is impossible, aims in the first instance to defend not the existence of change, but the explicability of change, a presupposition of his natural science.« 62 Mit Aichele lässt sich diese Interpretation erweitern: Die begriffliche und definitorische Erfassung der Physik gewinnt insofern »metaphysische Qualität«, als sie letztlich »dem Begriff der Substanz vorgelagert ist und eine entsprechende, auf ihm aufbauende Ontologie wenn nicht ersetzt, so doch zumindest in einer Prozeßontologie grundlegt.« 63 Aristoteles macht dabei einen geschickten argumentativen und diskurspolitischen Schachzug: Die Frage nach der Existenzform des Seienden und seiner Prädikate, »also die Untersuchung, ob das Seiende eines [hen] und unwandelbar [akine¯ton] ist« (Phys. I 2, 184b25–185a1), adressiert er gar nicht direkt, sondern delegiert die Zuständigkeit für diese Grundsatzfrage an eine »andere[] Wissenschaft [heteras episte¯me¯s] oder [. . .] Allgemeinwissenschaft [koine¯]« (185a2–3). 64 Mit dieser »anderen Wissenschaft« ist vermutlich die Erste Philosophie im Sinne einer Metaphysik oder Theologie, mit der Allgemeinwissenschaft eine allgemeine Wissenschaft der Prinzipien und Begriffe gemeint. Hingegen ist es Aufgabe 59 »Für uns [. . .] soll die Grundannahme sein [he ¯ min d’ hypocheistho¯ ]: Die natürlichen Gegenstände [ta physei] unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel [kinoumena einai].« (Phys. I 2, 185a12–13). 60 Es geht mit anderen Worten um den Nachweis der Möglichkeit von »positive[r] Naturerklärung« (Corcilius [2011], 75). 61 Brague (1990), 4. 62 Anagnostopoulos (2013), 245. 63 Aichele (2009), 180, 12. 64 Vgl. Bolton (1991).

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der Physik bzw. der Zweiten Philosophie, Bewegung definitorisch und mit der Bewegung zusammenhängende Begriffe zu bestimmen. 65 Für die definitorische Bestimmung setzt Aristoteles die Begriffe dynamis, energeia und entelecheia auf begrifflich innovative Weise ein. 66 Bemerkenswert ist dabei, dass Aristoteles den Problemkomplex der Bewegung auf zwei Zuständigkeitsbereiche, die Naturphilosophie und die Erste Philosophie oder ›Metaphysik‹ aufteilt, die dadurch selbst wiederum in einen Verweisungszusammenhang gebracht werden. Das Problem der Bewegung wird somit von Aristoteles auf zwei Spielfeldern platziert, wobei er das ontologische Spielfeld vom Spielfeld der Naturphilosophie aus heraus anzeigt. Auf diese Weise bringt er mit seiner Problematisierung ein wesentliches metatheoretisches Argument ins Spiel 67: Das Problem der Bewegung kann als Gegenstand von zwei unterschiedlichen Perspektiven mit je eigenen Zielführungen betrachtet werden, wobei beide Aufgaben- und Zielführungen wieder zusammengebracht werden können. Damit bringt Aristoteles letztendlich durch eine erfolgreiche Bearbeitung im Feld der Naturphilosophie und dem Nachweis der Intelligibilität von Bewegung und Werden die parmenideische Negationsthese in Bedrängnis. Für die begriffliche Komponente und den diagrammatischen Gesichtspunkt der Problemstellung lässt sich festhalten, dass das Bewegungsproblem dasjenige ist, woauf die begriffliche Schöpfung der dynamis antwortet. Zugleich deutet sich bereits durch die diskursive Ausdifferenzierung ein komplexes theoretisches Terrain für die dynamis an, das sich zwischen Naturphilosophie, Metaphysik als Ontologie und ›Allgemeinwissenschaft‹ situiert. Denn einerseits ist die definitorische Bestimmung und die Angabe der Prinzipien der Bewegung Aufgabe der Naturphilosophie, andererseits weist das Problem der Bewegung und des Werdens zugleich auf einen Bereich jenseits der Physik hin, in dem wiederum die Grundannahme der Naturwissenschaft, nämlich die Möglichkeit der Existenz von Bewegung überhaupt, begründet wird. Wir werden darüber Auskunft im Rahmen des nachfolgenden Untersuchungsaspekts, dem theoretischen Terrain der dynamis, erhalten. Vgl. zur Unterscheidung Erste und Zweite Philosophie Kap. 6.2.3 (K5). Siehe zur Bewegungsdefinition Kap. 6.3.3 und 6.3.4 a). Menn konstatiert daher richtig, dass letztendlich jene Begriffe (in ihrer Koppelung) es ermöglichen, »to secure the very possibility of a science of physics« (Menn [1994], 73). 67 Mit Hofweber (2009), 287–290, lassen sich drei analytische Ebenen des Problems der Bewegung / Veränderung bzw. drei Problemstellungen in Bezug auf Bewegung unterscheiden (»three kinds of problems about change«): ein empirisches Problem (Warum geschieht eine spezifische Veränderung?), ein metaphysisches Problem (Wie ist Bewegung möglich?) und ein metatheoretisches Problem bzw. »meta-problem of change« (Worin besteht das metaphysische Problem der Bewegung und in welchem Verhältnis steht es zur empirischen Problematik?). Aristoteles lässt sich hiernach klar in der dritten Art von Problemstellung verorten. 65 66

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6.2.3 Theoretisches Terrain (K5)

Kurze Rekapitulation der vorangegangenen Wegstrecke. Es wurden bisher die Komponenten des Denkmilieus (K1 und K2) und des Begriffsmilieus hinsichtlich der metatheoretischen Rahmung (K3) und des Problemkomplexes (K4) bei Aristoteles beleuchtet. Zuletzt wurde der Problemkomplex skizziert, auf den die Begriffsschöpfung der dynamis als philosophisch-wissenschaftlicher Begriff antwortet; dies ist das Problem der Intelligibilität und begrifflichen Erfassung von Bewegung. Aristoteles ist bemüht, ein ›Forschungsprogramm‹ 68 aufzusetzen, das die Bewegung und Bewegtheit aller Naturdinge als »fundamentales Faktum« 69 versteht und die Bewegung selbst zum Gegenstand der definitorischen Bestimmung macht. Zugleich hat Aristoteles ein fein ziseliertes System der Wissenschaften bzw. disziplinären Diskurse aufgestellt, welches die theoretischen Wissenschaften, praktischen Wissenschaften und die Wissenschaft der Herstellung voneinander trennt. Es gilt nun ein Gebiet in dieser diskursiven Anordnung zu lokalisieren und zu markieren, in welchem Aristoteles die Begriffsschöpfung der dynamis vollzieht. Im Rahmen der begrifflichen Diagrammatik bildet dieses theoretisch-diskursive Gebiet das theoretische Terrain oder den champ fondateur der Begriffsbildung. Ein champ fondateur wird als unmittelbares Bedingungs- und Existenzfeld der Begriffskonstruktion betrachtet, mit Deleuze und Guattari als ›transzendentales Feld‹ des Begriffs auf der Immanenzebene. Als solches hat es eine große Präfigurationskraft auf den Begriffskorpus und die begrifflichen Nachbarschaften und bildet somit eine zentrale Komponente in dem begrifflichen Diagramm der dynamis und seiner diagrammatischen Erkundung. Interpretationsthese: Meta-Physik als champ fondateur der dynamis. Im nachfolgenden wird die These vertreten, dass der Begriff dynamis im theoretischen Terrain der ›Meta-Physik‹ konstruiert wird und als solcher auch ein Begriff der Meta-Physik ist. Diese These impliziert die Subthese, dass es bei Aristoteles überhaupt so ein theoretisches Feld gibt, welches sich treffenderweise als ›Meta-Physik‹ charakterisieren lässt. Meta-Physik ist ein Kompositum, das Aristoteles selbst – ebenso wie ›Metaphysik‹ – nicht verwendet; zumindest 68 Aus wissenschaftshistorischer Perspektive erhalten die Naturphilosophie und die Naturwissenschaft mit der Fokussierung auf Bewegung eine ›kinetische Konfiguration‹, die bis heute nachwirkt und aktuell sogar – nach einer weitgehenden Negation in der ›klassischen‹ Physik und mechanistischen Naturphilosophie der Neuzeit – vor allem in den Bereichen der Quantenphysik und Biologie eine erneute positive Resonanz erfährt (Craemer-Ruegenberg [1980], 22–23; vgl. Weizsäcker [1993]; Makin [2018]; Kistler [2018]). Mit Lakatos (1974) ließe sich sagen, dass Aristoteles ein spezifisches ›Forschungsprogramm‹ verfolgt, das den Begriff der Bewegung ins Zentrum setzt; siehe dazu auch bereits Feyerabend (2009), 255–271. 69 Aichele (2009), 176.

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nicht in den überlieferten Schriften. Wie lässt sich Meta-Physik als theoretisches Terrain verstehen? Zunächst einmal handelt es sich hierbei um ein diskursives Gebiet, das sich, um in der geografischen Metaphorik zu bleiben 70, in der Region der theoretischen Wissenschaften ansiedelt. Die theoretischen Wissenschaften sind, wie bereits erwähnt, auf eine bestimmte Weise angeordnet, denn Aristoteles kennzeichnet die Naturphilosophie auch als »Zweite Philosophie«, 71 der eine »Erste Philosophie« als Bezugsdiskurs zugeordnet ist. In der Aristoteles-Kommentierung und Forschung stellt die Verhältnisbestimmung der beiden Diskurse einen Gegenstand anhaltender Diskussionen dar. 72 Das theoretische Terrain nun, das hier im Anschluss an Höffe als ›Meta-Physik‹ 73 bezeichnet wird, ist einerseits im Zwischenraum der Ersten und Zweiten Philosophie angesiedelt, zugleich umschließt es aber auch beide Diskurse und überführt sie auf diese Weise in ein diskursives Kontinuum von der Zweiten zur Ersten Philosophie mit einem epistemologischen Primat der Physik. Außerdem weist es eine Verbindung zur Ethik bzw. zur Praktischen Philosophie auf. Ein derartiger epistemischer Zwischen- und Übergangsraum, bzw. die These eines Diskurskontinuum, ist in der Grundfigur bereits von einigen bekannten Autoren der Aristoteles-Forschung der jüngeren Vergangenheit vertreten worden. 74 Obgleich sich die These der Meta-Physik als aristotelisches 70 Hier wird bewusst auf die räumliche Metaphorik der Anordnung und Aufteilung des Wissens in disziplinäre Diskurse, disziplinübergreifende Diskurse, Diskursfelder und Wissensregionen zurückgegriffen, da sie mit der ebenfalls räumlich-kartografischen Metaphorik der diagrammatischen Analytik korrespondiert. 71 Aristoteles verwendet den Terminus deutera philosophia / episte ¯ me¯ tatsächlich nur einmal explizit, siehe Met. VII 11, 1037a15 (vgl. Mansion [1958], 196). Die Unterscheidung »erste« und »zweite« Wissenschaft / Philosophie verwendet Aristoteles nicht nur zur Anordnung von verschiedenen disziplinären Diskursen, sondern auch zur Binnendifferenzierung innerhalb von Wissenschaften, dann im Sinne von Grundlagendisziplin (erste Subdisziplin) und empirischen Subdisziplinen. Das legt jedenfalls jene Stelle (Met. III 2, 1004a2–9) nahe, an der Aristoteles exemplarisch innerhalb der Mathematik zwischen erster und zweiter Mathematik unterscheidet. 72 Der von Maddalena Bonelli herausgegebene Band Physique et Métaphysique chez Aristote (2012b) versammelt wichtige Beiträge zu dieser Thematik aus der jüngeren Forschung. Ich greife auf einige davon zurück. 73 Höffe (42014), 143–147, 153–156. 74 So z. B. von Enrico Berti (2018), Lefebvre (2012), Höffe (42014), 143–156. Vermittelt über die Interpretationsthese eines »Primats der Physik« findet sie sich außerdem bei Wieland (21970), Aichele (2009) und Leunissen (2015). Wieland hat seine zum Standardwerk zu Aristoteles’ Physik gewordene Interpretation unter die Hypothese gestellt, dass die Physik aus sich heraus verständlich ist, ohne auf die Ausführungen der Metaphysik rekurrieren zu müssen; für die Metaphysik gelte das jedoch nicht, sie greife vielmehr auf Begriffe und Schemata aus der Physik (z. B. die Vier-UrsachenLehre, die Materie-Form-Unterscheidung) zurück. Damit hat sich Wieland gegen ein lange in der Aristotles-Forschung vorherrschendes Paradigma der inhaltlichen Vorrangigkeit der Metaphysik gestellt (vgl. Wieland [21970], 13–15). In jüngerer Vergangenheit hat Alexander Aichele im Anschluss an Wieland das Primat der Physik argumentativ bestärkt (2009), 11–17. Der aktuelle Cambridge

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Diskursfeld und Diskurskonfiguration auf Interpretationsansätze aus der Aristoteles-Forschung berufen kann, ist sie derzeit jedoch weder weit verbreitet noch im Hinblick auf die Bestimmung des theoretischen Herkunftsfeldes der dynamis eng geführt worden. Mit ihr ist eine starke Aufwertung des in systematischer Hinsicht in der Forschung eher vernachlässigten fünften Buchs (∆) der Metaphysik verbunden. Nachfolgend soll das Feld der Meta-Physik als champ fondateur des dynamis-Begriffs entlang von drei Dimensionen näher bestimmt und plausibilisiert werden: (i) diskursiv, (ii) methodisch, (iii) begrifflich. Dimensionen der Meta-Physik: (i) Diskursfeld und diskursive Demarkation. Es wurde bereits eine erste grobe Lokalisation vorgenommen: Das Diskursfeld der Meta-Physik erstreckt sich auf dem Übergang von der theoretischen Philosophie (oder Wissenschaft) der Natur bzw. Naturphilosophie zu einem Bereich, den Aristoteles auf mehrfache Weise besetzt sieht: durch eine »andere« (Phys. I 2, 185a2) oder »gesuchte« Wissenschaft oder Philosophie (z. B. Met. II 3, 995a24, 996b3), eine »vorgeordnete Philosophie« (philosophia protera) (z. B. Gen. corr. I 3, 318a6) oder »allgemeine« Philosophie (philosophia katholou) (z. B. Met. VI 1, 1026a30). Dieses an die Physik angrenzende Diskursfeld kann mit der »Ersten Philosophie« (pro¯ te¯ philosophia) identifiziert werden. 75 Die Erste Philosophie wird in der Aristoteles-Forschung wiederum je nach Interpretation als »Allgemeinwissenschaft« (Phys. I 1, 185a2–3) in der Form einer Wissenschaft der Ersten Prinzipien und Ursachen, als Metaphysik in der Form einer Theologie (Metaphyica specialis), als allgemeine Ontologie (Metaphysica generalis) oder als Mischform von allgemeiner und spezieller Metaphysik (mit Heidegger: die »Onto-Theologie«) gedeutet. 76 Für die vorliegende Untersuchung interessiert, wie Aristoteles die Erste Philosophie adressiert und welchen Zuständigkeitsbereich er ihr zuteilt, da wir davon genauere Auskunft für eine angemessene Interpretation des Verhältnisses von Erster Philosophie und Zweiter Philosophie bzw. Naturphilosophie erhalten. Gleich zu Beginn der Physik verweist Aristoteles – wie wir bereits zum vorherigen Untersuchungsaspekt (K4) gesehen haben – auf ein Untersuchungsfeld,

Critical Guide (2015) zu Aristoteles’ Physik folgt dem Interpretationsansatz der Autonomie und Grundlegungsfunktion der Physik gegenüber der Metaphysik und den naturwissenschaftlichen Einzelwissenschaften, aber auch für die Politische Wissenschaft. Dass sich dieser Interpretationsansatz, der die Eigenständigkeit der Physik betont, immer stärker durchsetzt, kann als Anzeichen eines Paradigmenwechsels in der Aristoteles-Forschung gedeutet werden, in den sich die hier favorisierte Herausstellung eines Diskursfeldes der ›Meta-Physik‹ integriert. 75 Für ausführliche Stellenangaben siehe Guyomarc’h (2014), 141–142. Aristoteles verwendet den Ausdruck »Erste Philosophie« insgesamt nur achtmal in den überlieferten Texten, davon fünfmal in naturphilosophischen Texten. 76 Vgl. Höffe (42014), 151.

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das sich mit einer Reihe von spezifischen Fragen auseinandersetzt, die jenseits der einzelwissenschaftlichen Betrachtung auf einer Meta-Ebene liegen: Die Untersuchung, ob das Seiende [to on] eines und unbewegt [akine¯ton] ist, ist keine Untersuchung im Bereich der Naturforschung [peri physeo¯ s]. Wie ja auch der Geometer demjenigen keine Erklärungen mehr geben kann, der seine Grund-Sätze [archai] aufhebt, sondern dies entweder Sache einer anderen Wissenschaft ist oder einer Allgemeinwissenschaft, nicht anders verhält es sich bei den Anfängen [Prinzipien] [archai]: Es gibt nämlich gar keinen Anfang [Prinzip] mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn ›Prinzip‹ ist immer Anfang ›von etwas‹, einem oder mehrerem. (Phys. I 2, 184b25–185a5; Übers. leicht modifiziert)

Offensichtlich belässt es Aristoteles nicht nur bei einer bloßen Zuständigkeitszuweisung, sondern gibt auch erste positive Bestimmungen, was die sehr heterogenen Aufgaben und Gegenstände dieser anderen Wissenschaft sind. Dies sind Fragen der Eigenschaften des Seienden als solchen, der ersten Prinzipien, aber auch der Grundsätze und Prinzipien wissenschaftlicher Erklärung. Warum aber zeichnet Aristoteles in der Physik überhaupt ein relativ ausführliches Bild von den Fragen und Gegenständen der Ersten Philosophie, die ja dezidiert nicht von den Physikern beantwortet werden können – so auch die ontologische und epistemologische Negationsthese der Bewegung durch die Eleaten? 77 Zum einen um das diskursive Profil und den explanativen Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaft zu konturieren. Zum anderen aber auch, weil die Fragestellungen der Ersten Philosophie jene Erkundungsziele und Gegenstände der Naturwissenschaft, nämlich ihre invarianten Strukturen, betreffen und die Erste Philosophie dadurch im wahrsten Sinne über die Physik und ihre Gegenstände hinaus geht, um das der Erkenntnis nach Fernere, der Natur nach aber Erstere zu erfassen. »The first philosophy, therefore, is nothing but the continuation of the physics, and it is ›metaphysics‹ in this sense, i.e. because it comes ›after (µετά) the physics‹«, so hat Enrico Berti den Zusammenhang treffend zusammengefasst. 78 Insoweit ist also die Erste Philosophie oder »die Metaphysik keine wissenschaftlich streng autarke Disziplin, sondern die Grenzüberlegung einer konsequent durchgeführten Physik«. 79 Dieses über die Physik Hinausgehen als ein Durch-sie-Hindurchgehen bildet sich auch in den Schriften von Aristoteles wiederkehrend als ein struktureller Aufbau von Büchern und Passagen ab: Zunächst werden die Aspekte, Prinzipien und Be77 78 79

Vgl. hierzu ausführlich die Komponente zum Problem-Komplex (K4) in Kap. 6.2.2. Berti (2018), 255 (Herv. L. B.); vgl. ähnlich Guyomarc’h (2014), 148, Lefebvre (2012), 173. Höffe (42014), 155.

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griffe zur Erfassung des Natürlichseienden behandelt, um darauf aufbauend zu erweiterten Begriffsdimensionen und Substanzbereichen vorzudringen. 80 Wenn aber die Metaphysik aus der Physik hervorgeht, man also das Verhältnis von Naturphilosophie und Erster Philosophie als Kontinuum mit zwei Polen beschreiben kann, so impliziert das kontinuierliche Verhältnis Guyomarc'h folgend drei interessante Aspekte: Ein erster Aspekt ist die diskurspolitische Bestimmung, dass es überhaupt Fragen und Gegenstände gibt, die außerhalb der Naturwissenschaft/-philosophie liegen, die zugleich aber deren, wenn man so will, ›disziplinäre Geschäftsgrundlagen‹ sowohl materiell als auch methodisch betreffen. Dadurch ergibt sich eine strategische epistemische Differenz- und Anordnungsbestimmung innerhalb eines kontinuierlichen Diskursraumes, den die Naturphilosophie und Erste Philosophie aufspannen. Dieser Diskursraum wird nach innen abgesteckt durch das Ausrufen einer Ersten Philosophie, die den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaft begrenzt: »[L]'expression ›philosophie première‹ a principalement pour fonction argumentative de désigner une tâche qui ne peut échoir au physicien, et, partant, de servir une stratégie critique (au sens étymologique) de secondarisation, ou de limitation de la physique.« 81 Da nun aber der Ort der diskursiven Zuweisung und der Grenzbestimmung bei Aristoteles die Naturphilosophie ist, ist der Begriff der Ersten Philosophie wiederum ein »Funktions- oder Differenzbegriff« der Naturphilosophie. 82 Man kann die Grenzbestimmung des Diskursfeldes der Meta-Physik insgesamt auch als metaphilosophische Position beschreiben, die ein Abhängigkeitsverhältnis der Diskurse der Physik und der Ersten Philosophie reklamiert. 83 Damit geht ein zweiter interessanter Aspekt einher: In der kurzen naturwissenschaftlichen Schrift Über die Bewegung der Lebewesen (De Motu Animalium) befürwortet Aristoteles ein kollaboratives Vorgehen: Naturphilosophie 80 Vgl. ebd. Exemplarisch dafür sind sowohl das Buch The ¯ ta, in dem die Begriffskonstruktion der dynamis wesentlich fortgeführt und erweitert wird, als auch das Buch Lambda (XII). Zum Buch Lambda betont Höffe: »Durch den Ausgang von der Physik (1 und 2) stellt sich das Buch Lambda als Meta-Physik im wörtlichen Sinne dar, als eine Überlegung über ein Jenseits der Physik, das sich lediglich im Durchgang durch die Physik zeigt.« (Höffe [42014], 155). 81 Guyomarc’h (2014), 143. 82 Ebd. Vgl. ähnlich Menn: »[T]he physicists were there first, and they shape the discussion, because those who put forth other disciplines as ways to wisdom are putting them forth as rivals to physics, and they take basic assumptions over from the physicists, in order to show that they can achieve the shared goal better than the physicists can, just as the physicists in their turn had put themselves forward as rivals to the people Aristotle calls the θεολόγοι, that is, to Hesiodic and Orphic theogonic and cosmogonic poetry.« (Menn [unv.], Ia3, 6). 83 Auf jeden Fall sind Naturphilosophie und Erste Philosophie, Physik und Metaphysik nicht strikt getrennt. Unter diesem Grundkonsens können sich viele Aristoteles-Forscher:innen versammeln; vgl. die Zusammenstellung bei Aichele (2009), 27, Fn. 1.

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und Erste Philosophie sollten gemeinsam und komplementär Themen behandeln, jeweils aus ihrer spezifischen Perspektive. So zum Beispiel die Frage, ob es eine ewige Bewegung gibt. Dieses Problem sei, so schildert es Aristoteles dort, zunächst einmal eine Frage der Ersten Philosophie. Jedoch sei, so sein Appell zur Kollaboration, das Problem der Bewegung »nicht nur allgemein dem Begriff nach [zu] erfassen, sondern auch beim Einzelnen, d. h. den wahrnehmbaren Dingen; ihretwegen suchen wir ja nach den allgemeinen Begriffen, und auf sie müssen sich diese nach unserer Überzeugung anwenden lassen.« (Mot. An. 1, 698a11–14, Übers. nach Corcilius). Naturphilosophie und Erste Philosophie komplettieren sich durch ihre jeweiligen Perspektiven in der Begriffsbildung und Problemlösung, einmal von einem regionalbegrifflichen und empirischen, einmal von einem allgemeinbegrifflichen Standpunkt aus. 84 Auch wenn die Erste Philosophie Thesen über die allgemeinen und unbeweglichen, ewigen Strukturen der Welt betreffen, verbindet Aristoteles damit keinen Anspruch auf Totalerfassung der Welt. Für ihn gibt es, gegen die platonischen und eleatischen Theorieambitionen, keine »science universelle«. 85 Durch die Zusammenarbeit und den gegenseitigen Austausch werden die Naturphilosophie und ihre Begriffe einerseits von der Ersten Philosophie begrenzt, andererseits aber auch von ihr aufgewertet. 86 Damit kommen wir zum dritten Aspekt der Verhältnisbestimmung von Physik und Erster Philosophie. Die Erste Philosophie ist, wie bereits ausgeführt, nicht autark, vielmehr erwächst sie aus einem Bezug zur Naturphilosophie und deren (Einzel-)Untersuchungen. In diesem Zuge ist die Erste Philosophie, obgleich mit den ›großen‹ Fragen nach den allgemeinen, invarianten Strukturen des Kosmos und der Dinge beauftragt, selbst auf eine gewisse Weise regionalisiert, denn sie erfasst nicht alles, sondern Bestimmtes: die ersten Prinzipien und Ursachen, die formalen, d. h. unbewegten Strukturen der Wirklichkeit und des Denkens. Im Erfassen der Wirklichkeitsstrukturen rekurriert die Erste Philosophie auf die Gegenstände und Begriffe der Physik. Erste Philosophie und Physik haben die gleichen Gegenstände, betrachten diese jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven. 87 Damit ist die Erste Philosophie letztlich eine Wissenschaft oder philosophische Perspektive, die das Wissen vom Lebendigen über die Erkundung der relevanten Prinzipien vertiefen soll. Vor diesem Man könnte das Verhältnis der beiden Disziplinen auch auf die Kurzformel bringen ›Kollaboration durch Kompletion und Kompletion durch Kollaboration‹. Vgl. dazu auch Mot. An. 6, 700b6–10, hier wird auch noch einmal explizit die Erste Philosophie benannt. Guyomarc’h (2014), 151–153, hat ebenfalls auf diese Stelle verwiesen. 85 Guyomarc’h (2014), 154; vgl. hierzu auch Aichele (2009), 21. 86 Guyomarc’h (2014), 153. 87 Destrée (1992), 432; Buchheim (2016), 64–70. 84

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Hintergrund lässt sich ›Meta-Physik‹ bei Aristoteles als ein Diskursfeld verstehen, das sich einerseits genau aus diesem Durchgang durch die Physik und aus der ›Grenzüberlegung‹ und inneren Grenzsetzung der Physik entfaltet und sich andererseits durch ein Über-sich-Hinausweisen und Rückbezug der Metaphysik auf die Physik sowie schließlich durch komplementäre und kollaborative Begriffsanalyse und Begriffsarbeit auszeichnet. Damit ist die Meta-Physik eher als ein polar strukturiertes Feld vorzustellen, deren Polregionen jeweils genuine Fragestellungen bilden. Die Polregionen können, je nach Gewichtung und Perspektive, eine asymmetrische Bewertung ihres Fundierungscharakters erhalten. 88 Zwischen ihnen liegt eine Zone der Zusammen- und Zuarbeit, »une zone mitoyenne« mit Lefebvre. 89 Sie wird getragen von einem »Verhältnis partieller wechselseitiger Implikationen mit spezifischer Aspektverschiedenheit«, wie es Klaus Oehler einmal konzise formuliert hat. 90 In dieser Zone situiert sich die Binnengrenzziehung als Zuweisung funktionaler Zuständigkeitsbereiche in der Bearbeitung der Fragestellungen, Prinzipien und Ebenen der Begriffsbildung rund um den »ursächliche[n] Bau des Wirklichen« 91. Dimensionen der Meta-Physik: (ii) methodisches Programm. Das Diskursfeld der Meta-Physik bei Aristoteles charakterisiert sich methodisch gesehen durch eine wissenschaftstheoretische Grundierung in der Prinzipienforschung, d. h., es entfaltet sich gemäß Aristoteles' Wissensbegriff und seinem Ideal des Wissens über die Erschließung der Prinzipien (archai) und Ursachen (aitiai) eines Gegenstandes. 92 Die Meta-Physik verfolgt – mit Stephen Menn formuliert – eine archai-logie, eine Archäologie der Prinzipen 93, und ist als solche primär als ein epistemologisches Programm zu verstehen, das seinen Ausgang in den Begriffen und dem Forschungsprogramm der Physik und in der Übergangzone zur Ersten Philosophie nimmt. Meta-Physik verpflichtet sich demnach in ihrem naturphilosophischen Pol auf die Eruierung der Prinzipien der Bewegung und der Dinge (Substanzen) und in ihrem metaphysischen Pol auf die Untersuchung der ersten Prinzipien und der ersten (Bewegungs-)Ursache der Welt. Darin befruchten sich die Prinzipientypen gegenseitig, wobei im naturphiloso88 Naturphilosoph:innen mögen die Stellung der Ausgangsbasis als gewichtiger reklamieren, Metaphysiker:innen das Ziel, die ersten Prinzipien, Ursachen und göttliche Substanz zu ergründen. In jedem Fall ist die These einer hierarchischen Anordnung mit dem Primat der Ersten Philosophie (das selbst näher zu erläutern wäre) weder klar noch plausibel. So sieht es auch Bonelli:»Je ne sais pas si, dans les deux cas, on peut envisager et justifier un ordre hiérarchique entre la philosophie première et la philosophie seconde [. . .].« (Bonelli [2012a], 15). 89 Lefebvre (2012), 173. 90 Oehler (1969), 191. 91 Buchheim (22016), 61. 92 Vgl. Kap. 6.2.1 (K3). 93 Vgl. Menn (unv.), Ia3.

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phischen Pol die grundlegende Arbeit geleistet wird. Die Prinzipienerkenntnis ist mit einem explanatorischen Anliegen verknüpft: Durch die Ergründung der Prinzipien und Ursachen des Seienden ist auch ein Kausalwissen über ihr Werden und Vergehen, ihre Bewegtheit und Veränderungen möglich. Dimensionen der Meta-Physik. (iii) Begriffe. Angesichts der bisher aufgezeigten Charakteristika erscheint es passend, das umfassende Diskursfeld der Meta-Physik so zu verstehen, dass es eine »Grundwissenschaft oder Fundamentalphilosophie«, eine philosophia generalis, bereitstellt. 94 Meta-Physik reklamiert keinen Anspruch auf Totalitätserklärung, keine allgemeine Ontologie, vollzieht aber komplementäre Begriffsarbeit aus zwei Erklärungsebenen. Im Rahmen der Begriffsarbeit erarbeitet die Meta-Physik erste Begriffsbestimmungen, die wiederum sowohl für die empirischen Naturwissenschaften als auch für die Praktische Philosophie und die poetischen Wissenschaften als geteilte begriffliche Grundlage dienen sollen. In Buch Delta (V) der Metaphysik versammelt Aristoteles in diesem Sinne »dreißig Haupt- und etwa zehn Nebenbegriffe«, die »einen philosophischen, sogar fundamentalphilosophischen Rang« haben – einer dieser Begriffe ist der Begriff der dynamis. 95 Ergänzend zu Metaphysik Delta wird auch in den ersten fünf Büchern der Physik fundamentale Begriffsarbeit geleistet. Entscheidend ist, dass die in Metaphysik Delta versammelten Begriffsbestimmungen in ihrer systematischen Funktion und funktionalen Systematik zu begreifen sind, nämlich als wissenschaftlichbegriffliches Ausgangsmaterial, das für die weitere kontextuelle Verwendung und Vertiefung in den theoretischen und praktischen Wissenschaften genutzt wird. Die gemeinhin zirkulierende Bezeichnung als ›Wörterbuch‹ und ›Begriffslexikon‹ erfasst zwar die in der Tat lexikalisch angeordnete Darstellungsweise, allerdings verdecken solche Bezeichnungen die meta-physische Grundstruktur und funktionale Einbettung. In Anerkennung dessen können wir uns nun ausführlich der begrifflichen Grundbestimmung der dynamis im zwölften Abschnitt von Buch Delta der Metaphysik (V 12) und seiner Erweiterung in Buch The¯ta widmen.

94 Höffe (42014), 144. Höffe ist hier nicht ganz eindeutig. Einerseits charakterisiert er die Erste Philosophie als »Fundamentalphilosophie«, zugleich aber auch in operativer Hinsicht als MetaPhysik; vgl. Höffe (42014), 144–145, 155–156). Aichele unterstützt ebenfalls die Position, dass es Aristoteles nicht um eine materiale allgemeine Ontologie geht, sondern, wenn überhaupt, um eine formale Ontologie des Natürlichseienden (Aichele [2009], 144–153). 95 Höffe (42014), 147.

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6.3 Begriffskorpus

Vorschau. Gemäß der in dieser diagrammatischen Untersuchung von Aristoteles' dynamis entfalteten Interpretation besteht der Begriff der dynamis aus zwei Ebenen oder Schichten, wobei die Schichten in erster Linie systematisch als zwei Begriffsebenen und nicht evolutionär bzw. als ›Entwicklungsschritte‹ zu verstehen sind. 96 Dabei bildet die dynamis kata kine¯sin die begriffliche Basisebene (K6), der Aristoteles selbst wiederum verschiedene Verwendungen oder ›Typen‹ von dynamis zuordnet. Die Anordnung der Subtypen der kinetischen dynamis sei nachfolgend das ›Tableau‹ der dynamis kata kine¯sin genannt. Aus begrifflich-diagrammatischer Perspektive bildet das Tableau den ›Phasenraum‹ der dynamis kata kine¯sin (K7). In dem Tableau zeichnet sich bereits das zentrale Strukturmoment der ›agentiv-patentiv‹-Unterscheidung (lateinisch: agens-patiens) (K8), die sowohl der dynamis in ihrer Basisschicht als auch der zweiten Begriffsebene eingeschrieben ist (K9). Und schließlich lässt sich noch die Komponente des epistemologischen und ontologischen Profils der dynamis untersuchen (K10). Im Folgenden wird eine kontinuierliche Lesart präsentiert, die das Verhältnis von der kinetischen zu der in der Forschung als ›ontologisch‹ charakterisierten dynamis als Erweiterung und Vertiefung begreift (vgl. K9). 97 Gemäß der hier präsentierten Interpretation stellt die spezifische Anordnung der verschiedenen dynamis-Typen 98 zu einem Tableau, innerhalb dessen alle Typen auf den primordialen Typ der sogenannten ›aktiven‹ dynamis verweisen, die erste konzeptuelle Operation von Aristoteles dar. Während die Operation der Erstellung des Tableaus die kinetische dynamis in den Status eines philosophischen Konzepts erhebt, hat Aristoteles den von der Agentiv-patentivUnterscheidung strukturierten kinetischen dynamis-Begriff auf eine neue Anwendungsebene, das Werden, und auf die der Seinsweise von Einzeldingen bzw. sinnlich wahrnehmbaren und getrennt existierenden Substanzen erwei96 Wundt spricht bspw. von zwei »Schichten« der dynamis, betrachtet diese aber nicht als zwei systematische Ebenen, sondern (im Anschluss an Jäger) eher als Resultat einer begrifflichen Entwicklung im Verlauf des Schaffensprozesses von Aristoteles (Wundt [1953], 83). Gegen werkevolutive Auslegungen argumentiert auch ausführlich Lefebvre (2018). 97 Die Interpretation schließt argumentativ an Liske (1996), Makin (2006), Beere (2009), Lefebvre (2018), Heinemann (2018) und Wolf (22020) an. 98 Die Deutung von ›Typen‹ ist sprachphilosophisch und ontologisch orientiert an der tpye-token-Unterscheidung. Die stärkere Auslegung in kinds / Arten arbeitet m. E. tendenziell eher einer diskontinuierlichen Lesart in Bezug auf die dynamis zu. Auch Heideggers Auslegung warnt vor einer ontologischen Differenzierung nach ›Arten‹, auch wenn Aristoteles an einer Stelle von eidos spricht (in der Übersetzung von Bonitz / Seidl: ›Art‹: Met. IX 1, 1046a9): »Der Sinn unserer Stelle ist ganz verfehlt, wenn wir für εἶδος ›Art‹ setzen; damit wäre gesagt, die im Folgenden zu erörternden Weisen der δύναµις κατὰ κίνησιν seien Unterarten zu einer höheren; das ist aber nicht der Fall, sondern wir haben hier ein Verhältnis der Analogie.« (Heidegger [1981], 67–68).

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tert (vgl. ausführlich K9). Substanzen (ousiai) konzipiert Aristoteles als FormMaterie-Komposita und meint damit zuvorderst sämtliche lebendigen Einzeldinge: Tiere, Pflanzen, Menschen. Durch den begrifflichen Bezug auf das Sein und Werden von Substanzen erhält die dynamis eine, wie Aristoteles selbst sagt, ›erweiterte‹ (epi pleon) Anwendung oder Bedeutung, die in der Forschung häufig als ›ontologisch‹ bezeichnet wird. Diese Erweiterung wird im Rahmen dieser Untersuchung – so viel sei vorweggegriffen – als zweite Operation am Begriff der dynamis und Konstruktion einer zweiten Begriffsebene verstanden. Da die kinetische dynamis der untersuchungsleitenden These gemäß nicht nur die Basis für den dynamis-Begriff des Aristoteles bildet, sondern auch in politischen Machtkonzeptionen der Neuzeit und Moderne ihre Wirkung entfaltet, liegt der Schwerpunkt der Darstellung des Begriffskorpus insgesamt auch auf der Konzeption und der Ausdifferenzierung der dynamis kata kine¯sin (K6 bis K8). Zentrale Textstellen für die Untersuchung des Begriffskorpus der dynamis kata kine¯sin sind Metaphysik V 12 und IX 1–9; sie werden entsprechend auch als Hauptreferenzen für die nachfolgende Darstellung herangezogen und durch weitere Stellen in den naturphilosophischen Texten, vor allem in der Physik, ergänzt.

6.3.1 Die erste Begriffsebene und ihre Elemente (K6)

Begriffsbestimmung durch Anordnung. Dynamis war, wie bereits skizziert, ein geläufiges Wort in der griechischen Alltagssprache, zugleich aber auch ein von den Naturphilosophen (physikoi) und Medizinern sowie im Militär verwendeter Terminus. 99 Aristoteles hat in Buch V der Metaphysik eine ausführliche begriffliche Bestimmung derjenigen dynamis vorgenommen, die er in Buch The¯ta als »dynamis in Bezug auf Bewegung« bezeichnet (dynamis kata kine¯sin) (Met. IX 1, 1046a1–2, 1048a25). In den Ausführungen zur dynamis unternimmt Aristoteles nun zweierlei: Erstens trägt er diejenigen Begriffsverwendungen zusammen, die ihm als die relevanten Verwendungsweisen von dynamis und dynaton (das Adjektiv zu dynamis) erscheinen. Zweitens setzt er die verschiedenen Verwendungsweisen in eine Art immanenter Anordnung zueinander, bei der eine Verwendungsweise als prioritär gesetzt wird. Dadurch zeichnet sich innerhalb der Verwendungsweisen oder Typen ein asymmetrisches Verhältnisgeflecht ab. Diese begriffliche Auswahl und Anordnung der relevanten Verwendungsweisen bilden das ›Tableau der dynamis‹. Aus diagrammatischer Perspektive skizziert das Tableau der verschiedenen Verwendungsweisen oder 99

Vgl. Kap. 5.1.1.

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Typen von dynamis den Phasenraum des Begriffs. Was aber ist nun mit der prioritären Verwendung gemeint? Innerhalb des Tableaus charakterisiert Aristoteles eine Verwendungsweise als den begrifflichen Fokus oder konzeptuellen Bezugspunkt, von dem die anderen Verwendungsweisen oder ›Typen‹ abhängig sind bzw. auf den hin sie zulaufen (pros hen). 100 Die einzelnen Typen sind nicht bloß sprachliche Homonymien, vielmehr stehen sie in einer Art strukturellem Verhältnis zu dem ›Kerntyp‹. 101 Dieser begriffliche Kern oder prioritäre Fokus ist die dynamis in der Verwendung als aktives Prinzip der Bewegung und Veränderung in einem anderen. 102 In der Aristoteles-Rezeption wird sie auch kurz als ›aktives Vermögen‹ bezeichnet. Auf ihre Definition beziehen sich, gemäß Aristoteles' begriffsstruktureller Bestimmung, die anderen Typen / Verwendungen von kinetischem Vermögen: Diejenigen Vermögen [dynameis] aber, welche derselben Form [eidos] angehören, sind alle gewisse Prinzipien und heißen so nach ihrer Beziehung auf ein erstes Vermögen [dynamis] [. . .]. (IX 1, 1046a9–10, Übers. Seidl, modifiziert).

Die Anordnung und die Bestimmung des prioritären Typs von dynamis, die agentive dynamis, bildet die erste wesentliche begriffliche Operation am dynamis-Begriff durch Aristoteles. Denn das Aufstellen des Tableaus und die Ausweisung einer prioritären Verwendungsweise haben nicht nur einen anordnenden, sondern auch einen exkludierenden Charakter; so schließt Aristoteles zwei Verwendungsweisen von dynamis als bloß ›homonym‹ (homo¯ nymo¯ s legetai) oder ›metaphorisch‹ verwendet aus: die logische (im Sinne von modallogisch ›möglich‹, possible) und die mathematische dynamis (noch heute als ›Potenz‹ geläufig) (Met. IX 1, 1046a5–8, V 12, 1019b33–4). Dadurch erhält der 100 Beere (2009), 34–37, nennt die Ausrichtung der verschiedenen Verwendungsweisen auf einen begrifflichen Bezugspunkt hin im Anschluss an Shields (2002) »core-dependent homonymy«. Shields und Beeres Konzeption des Verhältnisses pros hen (»auf eines hin«) versteht sich als Alternativvorschlag zu der in der Aristoteles-Forschung lange Zeit verbreiteten »focal meaning«-Konzeption von G. E. L. Owen (1960). 101 Viele Interpret:innen sprechen auch von der »Haupt-« oder »Grundbedeutung« (Jansen [22016], 36; Heidegger [1981]; Seidl [1991] im Kommentar zu Met. IX, 461–496). Ich versuche, ebenso wie Beere (2009), 34–37, und Anagnostopoulos (2011), 389, diese sprachphilosophische Eingrenzung zu vermeiden; dies einerseits aus interpretativen Gründen, denn legetai ist nicht mit ›Bedeutung‹ gleichzusetzen, andererseits aus begriffstheoretischen Überlegungen im Anschluss an Deleuze und Guattari, wonach Begriffe ja gerade deutlich mehr und anderes sind als ihre ›Bedeutungen‹. 102 Seidl übersetzt kurios an einer Stelle mit ›eigentlich‹, was unglücklich erscheint, um die prioritäre Stellung zu kennzeichnen: »Der eigentliche Begriff also von Vermögen in erster Bedeutung würde danach sein: Prinzip der Veränderung in einem anderen oder insofern es ein anderes ist [ho¯ ste ho kurios horos te¯ s pro¯ te¯ s dunameo¯ s (. . .)]«, Met. V 12, 1020a4–6. Besser wäre eine Übersetzung von kurios mit bspw. »bestimmend«.

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dynamis-Begriff eine erste Binnenstrukturierung und eine klare Konturierung, deren dezisionistischen Hintergrund man nicht vernachlässigen darf. Begriffspolitisch formuliert, vollzieht Aristoteles nämlich im methodischen Gewand einer pros hen-Beziehung eine konzeptuelle Setzung und Bestimmung, die er selbst nicht weiter begründet. 103 Aristoteles bestimmt den ersten Typ der dynamis folgendermaßen: Vermögen heißt [dynamis legetai] einmal das Prinzip [arche¯] der Bewegung [kine¯sis] oder Veränderung / Umwandlung [metabole¯] in einem andern 〈als dem Sich-Umwandelnden〉 oder 〈in diesem selbst〉 insofern es ein anderes ist [dynamis legetai he¯ men arche¯ kine¯seo¯ s e¯ metabole¯s he¯ en heteroi e¯ he¯i heteron (. . .)] (V 12, 1019a15–16, Übers. Seidl, modifiziert in Anlehnung an Gasser [2015], 217 104) 105

Im Rahmen der diagrammatischen Untersuchung bildet diese prioritäre Verwendung von dynamis bzw. der Kerntyp der dynamis als agentives Vermögen die Komponente der begrifflichen Basisschicht des gesamten dynamis-Begriffs. Über diese Basisschicht spannt sich wiederum das Tableau oder die Komponente des Phasenraums der dynamis auf (vgl. K7). Nachfolgend wird nun der prioritäre Typ von dynamis, der als ›active power‹ in die Geschichte des abendländischen Denkens eingegangen ist, in seine Elemente aufgegliedert. Die Elemente der aktiven kinetischen dynamis. Das aktive kinetische Vermögen setzt sich aus drei Elementen zusammen: die Klassifizierung als ›Prinzip‹ (a), die Bezugnahme auf die Begriffe der Bewegung (kine¯sis) und der Veränderung (metabole¯) (b) sowie die zweifache Relationalitätsbeziehung »in einem anderen oder dem selben, insofern es ein anderes ist« (c). 106 Aristoteles greift damit Begriffsnuancen sowohl aus dem seinerzeitigen Alltagsgriechisch als auch aus den Begriffsverwendungen bei Homer und Hesiod im Sinne einer (limitierten) physischen Fähigkeit und ›Kraft‹, eines ›Könnens‹ oder Vermögens 103 Vgl. Beere (2009), 50: »In saying that ›power‹ is the strict sense of the term in ordinary Greek, Aristotle is not attempting to give an account of all the uses of the word ›power‹ (dunamis) or the associated verb and adjective. Rather, he is picking out one ordinary use among many ordinary, and claiming that it is the strict ordinary use.« Vgl. auch Makin: »Aristotle’s decision to privilege active capacities as the primary focus lacks justification.« (Makin [2006], 28). 104 In Bezug auf Metaphysik V 12 und IX 1 greife ich im Weiteren auch auf die Übersetzungen von Thomas Szlezák (2003) und Andreas Gasser (2015) zurück, da sie die hier vorgelegte dynamisInterpretation noch stärker unterstützen als diejenige von Seidl. 105 Vgl. mit leicht modifizierten Formulierungen in Met. V 12, 1019a19–21, V 12, 1020a1–2, 1020a5–6 sowie in IX 1, 1046a10–11 und IX 2, 1046b3–4. Die leicht changierenden Formulierungen führen zu keiner semantischen Veränderung gegenüber der ersten Variante. 106 Diese analytische Aufgliederung findet sich auch ausführlich bei Jansen (22016), 37–46, und knapp bei Heidegger (1981), 67–70.

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zu etwas (im Rahmen einer Ausführung von etwas) sowie die Begriffsverwendung Platons als Vermögen zu einer Bewegung und Bewirkung (arche¯ kine¯seo¯ s) auf. 107 Gleichwohl erschöpfen sich diese Begriffsnuancen nicht in der begrifflichen Bestimmung als Hauptbedeutung oder prioritäre Form innerhalb der kinetischen dynamis, vielmehr sind die Elemente sowohl in ihrem Zusammenspiel als auch vor dem meta-physischen Hintergrund des Begriffsmilieus der dynamis zu betrachten.

a) ›Prinzip‹

Die aktive dynamis kata kine¯sin gehört, wie alle ihr zugeordneten Vermögen, zu der Klasse der Prinzipien (archai). Prinzip besagt »ein Erstes von etwas« und »Anfang«. In Kohärenz mit seiner Bedeutung wird der Begriff des Prinzips auch als erster und einleitender Begriff von Metaphysik V vorgestellt. Prinzip (arche¯) wird genannt (Met. V 1, 1012b34–1013a16): 1. das Woher (hothen) einer Bewegung (z. B. der Anfang einer Linie oder Strecke); 2. »dasjenige, von dem aus etwas am besten entstehen kann« (z. B. der Einstieg und Beginn einer Lehrübung, die eben gut oder eher schlecht / ungeeignet sein können); 3. die einem Ding inhärente Basis, »der immanente Teil« oder die Konstitutionselemente und -momente 108, von dem eine Entstehungsbewegung beginnt und sich fortentwickelt (z. B. das Fundament eines Hauses, der Kiel eines Schiffes); 4. der externale Bewegungsanfang (physisch wie begründend, z. B. die Erzeuger eines Kindes, der Streit für die Schlacht); 5. der Ausgang der Regierung und die Formungsinstanz in einer Gesellschaft, d. h. »dasjenige, nach dessen Entschlusse das Bewegte sich bewegt und das Sich-Verändernde sich verändert; in diesem Sinne werden die Ämter in 107 Vgl. Elm (2001), 89. Viele Kommentator:innen sehen gerade in der Bedeutung als aktives kinetisches Vermögen eine ›vor-philosophische‹ oder ›vor-wissenschaftliche‹ Bedeutung abgebildet, die am ehesten mit ›Kraft‹ (oder ›power‹) zu übersetzen sei, vgl. z. B. Wolf (22020), 9–10; Berti (2008), 267. Heidegger (1981) hält strikt an dem Begriff ›Kraft‹ in seiner Untersuchung der dynamis in den ersten drei Kapiteln von Metaphysik IX im Rahmen seiner Vorlesung zum Buch The¯ ta aus dem Sommersemester 1931 fest. In seinem Aufsatz »Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles Physik B.1« von 1939 übersetzt Heidegger dynamis hingegen mit »Vermögen, besser die Eignung zu« (Heidegger [2013], 280, 285–287). Lefebvre sieht in der kinetischen dynamis noch einige Spuren einer »logique de la force« enthalten, die u. a. die Figur des Widerstandes birgt (Lefebvre [201], 506– 515). Zum Verhältnis von Kraftbegriff (ischus, bia) und dynamis vgl. Kap. 6.4.2 a) (K11). 108 Craemer-Ruegenberg (1980), 28.

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den Staaten und die Regierungen [poleis archai] der Herrscher [dynasteiai], Könige [basileiai] und Tyrannen [tyrannides] Prinzipien (Herrschaften) [archai] genannt«; 6. Künste [technai] und Techniken, vor allem die Grundlagenkünste, auf denen andere aufbauen; 7. das Wovon in der Erkenntnis eines Gegenstandes [pragma], d. h. das Prinzip als Erkenntnisfunktion im Rahmen eines »wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs« 109 und wissenschaftstheoretisch im Rahmen eines syllogistischen Beweisgangs bzw. einer Demonstration in der Form einer unvermittelten Prämisse; 8. sind auch alle Ursachen [aitiai] Prinzipien [archai], sodass auch der Begriff der Ursachen Prinzip als Oberbegriff impliziert, obgleich nicht alle Prinzipien Ursachen sind. Nach dem für Aristoteles charakteristischen Schema der systematischen Vorstellung der mehrfachen Verwendungsweise [pollacho¯ s legetai] bestimmt er, wie später bei der dynamis, auch hier einen grundlegenden begrifflichen ›Kern‹: »Allgemeines Merkmal der Prinzipien in allen Bedeutungen ist, daß es ein Erstes [to pro¯ ton] ist, wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird.« (Met. V 1, 1013a17–19) Ein Prinzip ist damit auch ein Ursprung von etwas: »Das Wesen des Ursprunges ist es also, das erste Woher zu sein, was das deutsche Wort durch seine beiden Teile (Ur = erstes, Sprung = Woher) zum Ausdruck bringt.« 110 Prinzipien sind zu verstehen als Anfang von oder »Ausgang für« etwas. 111 Da sehr vieles von (s)einem Anfang her begriffen wird, ist auch das Bezugsfeld eines Prinzips denkbar weit: »Darum ist sowohl die Natur [physis] Prinzip als auch das Element [stoicheion] und ebenso das Denken [dianoia], der Entschluß [prohaire¯sis], die Wesenheit [ousia] und der Zweck [heneka] [. . .]« (1013a20–21). Prinzipien stehen immer in einem Verhältnis von oder zu einem Ding, zu dem oder von dem sie ausgesagt werden. Sie lassen sich deshalb untergliedern in den Dingen internale oder immanente und zu den Dingen externale Prinzipien (1013a19–20). In der Definition und den anschließenden Explikationen, die Aristoteles zum Begriff des Prinzips gibt, zeichnen sich vier wesentliche Charakteristika ab. Detel (2011), XXXVI. Bröcker (41974), 51. 111 Heidegger (1981), 68. Seidl übersetzt arche ¯ mit ›Grund‹, ebenso Craemer-Ruegenberg. Dieser Terminus führt m. E. zu viele von Aristoteles ablenkende moderne Konnotationen mit sich und sollte daher vermieden werden. Ebenso auch die Übersetzung von kine¯ sis und metabole¯ mit ›Prozess‹, so zu finden in der von Hans Wagner besorgten Physik-Übersetzung der AkademieAusgabe. 109 110

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(i) Ontologische Varianz in der Interpretation der Prinzipien. Erstens deutet sich mit dem Begriff des Prinzips eine Art ontologische Varianz an, d. h., es scheint, als ob einem Prinzip ein je nach Kontext und Interpretationsansatz differierender ontologischer Status attribuiert werden kann. Denn ein Prinzip »heißt [. . .] der immanente Teil, von welchem zuerst die Entstehung ausgeht« (1013a4); diese Stelle deutet auf eine ontologische Seinsweise hin. Ein Prinzip als Erstes und Anfang der Erkenntnis ist andererseits eher als eine erkenntnisfunktionale ›formale‹ bzw. abstrakte Entität zu verstehen. In der AristotelesForschung variiert die Zuschreibung des ontologischen Gehaltes der jeweils thematisierten Prinzipien von der Auslegung von Prinzipien als reale, quasiempirische Dinge bis hin zu rein abstrakten Verstandesbegriffen. So will bspw. Wielands sprachzentrierte Lesart ein Verständnis von Prinzipien bei Aristoteles nahelegen, dass Prinzipien ausschließlich als reine epistemische Hilfsmittel in einer Begründung, also als »Reflexionsbegriffe« 112 oder »Topoi« und damit »ohne gegenständliche und inhaltliche Erkenntnis« deutet. 113 (Allgemein-)ontologische Lesarten verstehen Aristoteles' Prinzipien hingegen als reale Entitäten in der Welt oder essenzielle Dispositionen an Dingen. 114 Angemessener erscheint es vor diesem Hintergrund, den ontologischen Status bzw. das mit ihm verbundene Commitment eines Prinzips im Lichte seines diskursiven und theoretischen Kontextes zu betrachten. Die Prinzipien der (Natur-, der praktischen und herstellenden) Wissenschaften sind, so die hier vertretene Interpretation, als ontologisch gehaltvolle »epistemische Prinzipien« zu verstehen – das Ziel ihres Aufweises ist Naturerklärung. 115 Anders als mit und nach Kant sind die epistemischen Prinzipien bei Aristoteles über eine realistische (nicht 112 In der Definition von Kant haben Begriffe der »Überlegung (reflexio) [. . .] nicht mit Gegenständen selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen«, vielmehr ist die Überlegung »der Zustand des Gemüts, in welchem wir uns zuerst anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können.« (KrV A 260, B 326; vgl. Wieland [21970], 202). 113 Wieland (21970), 206, sowie insb. 52–140, 202–230. 114 Vgl. z. B. Jansen (22016), 38; Liske (1996). Die Frage nach dem epistemologischen und ontologischen Status von Prinzipien wird von Aristoteles selbst mit der 15. Aporie in Buch Beta (II) aufgeworfen: »Außer diesen schwierigen Fragen über die Prinzipien [vgl. 14. und 14. Aporie] muß man auch noch folgende behandeln, nämlich ob die Prinzipien allgemein sind oder in der Weise der Einzeldinge.« (Met. III 6, 1003a6–8) 115 Aichele (2009), 107. Zum Werden des Prinzipienbegriffs bei den Vorsokratikern bis zu Aristoteles vgl. Menn (unv.), Ia3. Menn stellt die naturphilosophische und meta-physische Herkunft des Prinzipienbegriffs heraus: »The concept of an ἀρχή, and the claim to give knowledge about the ἀρχαί, arise from the physicists’ challenge to θεολόγοι.« (Menn [unv.], Ia3, 6). Die StandardInterpretation von Friedrich Solmsen (1960) stellt die ganze Naturphilosophie von Aristoteles in die Tradition der naturphilosophischen Ansätze der ionischen ›Vorsokratiker‹ und Platons, die das thematische und methodische Rahmenwerk der Philosophie Aristoteles’ bilden.

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bloß methodologische) Existenzannahme mit einem sachlichen Gehalt, d. h. mit konkreten Gegenständen und Bewegungen in der Welt, verbunden, und damit gehaltvoller als ein reiner terminus technicus. Die wissenschaftlichen Prinzipien nehmen für Aristoteles Bezug auf die Dinge (ta onta) der Welt (genauer: auf deren Form, eidos, und Wesen, ousia), und sind insofern auch mit ihnen verknüpft. 116 Dahinter steckt ein grundsolider epistemologischer Realismus, der allerdings nicht mit einem Bestreben auf eine allgemeine materielle Ontologie hin verwechselt werden darf. 117 Kurz: Aristoteles' Prinzipien der Meta-Physik – und damit die Prinzipien-Spezies dynamis kata kine¯sin – sind als epistemische Elemente zu verstehen, die zuallererst eine erkenntnissichernde und explanatorische Funktion haben. 118 Als Prinzipien solcher Art sind sie eingebettet in den methodischen Gang vom ›für uns‹ Bekannteren zum ›von Natur aus‹ Deutlicheren und Bekannten. 119 In dieser Form sind die dynamei kata kine¯sin auch Teil einer formalen oder ›theoretischen‹ Ontologie aus Prinzipien und Ursachen, die im Rahmen der Erkenntnisgewinnung und Erklärung des Natürlichseienden der »Physis-Wissenschaft« 120oder »Naturforschung« 121 von Aristoteles aufgestellt wird. 122 Das bedeutet, dass die dynamis einerseits als Prinzip der Meta-Physik mit anderen Prinzipien der Naturforschung und Meta-Physik zusammen zu betrachten ist und andererseits einen Bezug zum realen Bewegungsvollzug eingeht, ohne sich selbst auf den Status einer realontologischen Einheit verpflichten zu müssen. 123 (ii) Relationale Struktur der Prinzipien. Zweitens ist das Prinzip wesentlich relational strukturiert: Ein Prinzip ist immer ein Erstes oder ein Anfang von etwas Bestimmten (dem Prinzipiierten) oder im Hinblick auf etwas Bestimmtes. Vgl. Barnes (2000), 38; Aichele (2009), 144–147; Broadie (2009), 32–33. Das in Buch Lambda (XII) erörterte ›erste Prinzip‹, die reine energeia, kann, im Unterschied zu den Prinzipien der Naturphilosophie und Mathematik, hingegen als ontologisches oder metaphysisches Prinzip im starken Sinne interpretiert werden. Menns Interpretationsunternehmen (unv.) widmet sich im Kern einer argumentativen Begründung dieser Interpretation. Im Rahmen dessen unterscheidet er, wie bspw. auch Ackrill (1985), 160, Prinzipien der Einzelwissenschaften und ewige Prinzipien der Ersten Philosophie (Menn [unv.], Ia3). 118 So auch Barnes: »His [Aristotle’s] scientific endeavours were directed not merely to observing and recording, but above all explaining.« (Barnes [2000], 37). 119 Vgl. Wieland (21970), 69–85. 120 Gasser (2015). ›Physis-Wissenschaft‹ ist eine sehr passende zusammenführende Bezeichnung für Naturphilosophie und Meta-Physik. 121 Aichele (2009). 122 Vgl. ausführlich zur Entwicklung einer ›theoretischen Ontologie‹ des Hylemorphismus als Erweiterung der in der Kategorienschrift formulierten Einzelding-Ontologie (auch ›Substanz‹-Ontologie genannt) Moradi (2011). 123 Hier besteht Gefahr für Verwechslungen oder unsaubere Trennungen von epistemischer Funktion und ontologischer Aussage. 116 117

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Der Bezug kann sich dabei zwischen zwei Teilen innerhalb eines Dings (z. B. als ›Natur‹, d. h. als inneres Prinzip der Bewegung) oder zwischen zwei Entitäten (dem Prinzip oder Prinzipienträger und dem Resultat) entfalten. (iii) Inhärenter Bewegungsbezug von Prinzipien. Drittens hat ein Prinzip einen starken Bezug zum Begriff der Bewegung und zur Figur der Ursächlichkeit von Bewegung. Insofern nämlich ein Prinzip ein Erstes, ein Anfang oder ein ›Grund‹ von einem Ding ist, nimmt es qua Prinzipiierten einen Bezug zur Bewegung auf. Der Bewegungsbezug begründet sich in zweierlei Hinsicht: »Ohne Bewegung kein Woher«, wie es Walter Bröcker pointiert hat. 124 Und insofern das Prinzipiierte ein Natürlichseiendes ist, was in der Regel der Fall ist, steht es in einem unmittelbaren Bewegungsbezug, weil die »natürlichen Gegenstände [ta physei] entweder alle oder zum Teil sich Bewegendes [kinoumena] sind« (Phys. I 1, 185a13, Übers. modifiziert). »Daher bilden das Werden und die Bewegung [. . .] den Leitfaden, an dem die Prinzipien von Dingen herausgearbeitet werden.« 125 Die Frage nach dem Werden und natürlicher Bewegung ist, wir erinnern uns, der spezifische Problemkontext des dynamis-Begriffs, der in der Form der dynamis kata kine¯sin den Bezug selbst exponiert. Die Frage nach der Bewegung, sowohl im engeren als auch im weiteren Sinne als Veränderung und Werden, ist aber genau genommen, wie nun gezeigt, bereits in der Frage nach der Struktur und dem begrifflichen Kern des Prinzipienbegriffs selbst implementiert. 126 Dass sich der Bewegungsbezug nicht nur in Hinblick auf Natürlichseiendes, sondern bspw. auch in mathematischen oder politischen Kontexten anbringt, wird in dem Spektrum der Verwendungsweisen deutlich, das Aristoteles anführt. Auch hierin zeichnet sich ein vermittelter oder unvermittelter Nexus von Bewegung und Prinzip ab. (iv) Transdisziplinäres Einsatzfeld. In dem breiten Einsatzfeld der Verwendungsweisen zeigt sich nun viertens eine weitere, dem Begriff des Prinzips eingeschriebene Varianz: Prinzipien bilden als generelle Erkenntniseinheit transdisziplinär ein Element der Wissensgenese in den theoretischen wie praktischen Wissenschaften, in der Mathematik, der Physik genauso wie in der Politikwissenschaft. Für die vorliegende Untersuchung sind davon zwei Bezüge von besonderer Relevanz: Zum einen das Verhältnis von Ursachen- und Prinzipienbegriff sowie die Konzeption des Prinzipienbegriffs als Herrschaftsbegriff (arche¯ politike¯). Beide, Ursachen- und Herrschaftsbegriff, sind gemäß Aristoteles der Klasse der Prinzipien zugehörig, wodurch sie, im Vokabular der begrifflichen Diagrammatik, in kategorialen Nachbarschaftsverhältnissen zum 124 125 126

Bröcker (41974), 51. Wieland (21970), 111, Herv. i. O. Vgl. ebd.

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Begriff der dynamis stehen. Auf diese spannenden begrifflichen Nachbarschaften wird ausführlicher unter der Komponente ›kategoriale Nachbarschaften‹ (K11) eingegangen. 127

b) ›der Bewegung (kine¯ sis) und Veränderung (metabole¯ )‹

Die agentive dynamis wird von Aristoteles als ein Prinzip kata kine¯sin, d. h. als Prinzip im Hinblick auf Bewegung und Veränderung charakterisiert. Der Bewegungsbezug drückt sich in zweifacher Hinsicht aus: Erstens gehört die dynamis zur Gruppe der Bewegungsprinzipien (arche¯ kine¯seo¯ s, arche¯ metabole¯s). Mit dieser Klassifizierung wird der Bewegungsbezug explizit als solcher hervorgehoben. Und zweitens ist die dynamis qua Prinzip bereits ein ›Ursprung‹, ein Anfang (›das Wovon‹) einer Bewegung und Veränderung, wie bereits erörtert wurde. Der Bewegungsbezug qua Prinzip ist so gesehen immer schon mitgegeben. Außerdem fällt auf, dass es innerhalb des Bewegungsbezugs zwei Begriffe gibt, die etwas ähnliches auszudrücken scheinen: Bewegung (kine¯sis) und Veränderung (metabole¯). Auf letztgenannten Aspekt soll im Anschluss an die Klassifizierung als Bewegungsprinzip eingegangen werden. Das begriffliche Verhältnis von Bewegung und Veränderung. In der Aristoteles-Forschung ist man sich über das konzeptuelle Verhältnis in philologischer und philosophischer Hinsicht uneinig. Einige bewerten kine¯sis, andere metabole¯ als den weiteren Begriff, unter dem der jeweils andere zu subsumieren wäre. Unklar ist zudem, unter welchen Begriff die substanzielle Veränderung im Sinne von Entstehen (genesis) und Vergehen (phthora) fällt. Im Alltagsgriechischen ist metabole¯ das generelle Wort für Wechsel, Umschlag und Veränderung, und bedeutet die Umwandlung von einem Zustand in / zu einem anderen Zustand 128; metabole¯ kann aber auch das substanzielle Werden bzw. ›Werden schlechthin‹ implizieren. Zwar verwendet Aristoteles an einer Stelle, im fünften Buch der Physik 129, den Begriff der kine¯sis in einer restriktiven Weise, sodass es terminologisch Veränderungen gibt, die nicht Bewegungen Vgl. Kap. 6.4.1. Waterlow [Broadie] (1988), 93–99. 129 Buch V der Physik stellt insgesamt ein »Sondertraktat« dar (Craemer-Ruegenberg [1980], 62). In der Aristoteles-Forschung hängt die Uneinigkeit über das begriffliche Verhältnis von Veränderung (»change«) und Bewegung (»motion«, »mouvement«) auch mit der Bewertung von Buch V der Physik als maßgeblich oder eben nicht maßgeblich zusammen. M. E., sollte Physik V nicht über die Bücher I–III gestellt werden. Ich werde daher derjenigen Lesart folgen, die Werden und Vergehen als Bewegung im weiteren Sinne interpretiert und unter dem kine¯ sis-Begriff fasst (vgl. z. B. auch Flashar [2013], 247–249; Höffe [42014], 108–110); Hauptreferenz für diese Lesart ist Phys. III 1, 201a. 127 128

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Die Komponenten der aristotelischen dynamis

sind (Phys. V 1, 225a34–b3, vgl. 229a31). In anderen Texten und Büchern der Physik und Metaphysik wird der Begriff der kine¯sis von Aristoteles aber durchgängig sehr weit gefasst. Er enthält Veränderungen an einem Ding im engeren Sinne als qualifizierte akzidentielle Veränderungen (an etwas) ebenso wie das Entstehen (genesis) und Vergehen (phthoras) eines Dinges überhaupt im Sinne einer Bewegung ›schlechthin‹. 130 De facto arbeitet Aristoteles mit einem von den antiken Naturphilosophen weit verstandenen kine¯sis-Begriff, der mit dem weiten Begriffsumfang der Veränderung / Umwandlung (metabole¯) kongruiert. Zudem räumt Aristoteles dem Terminus kine¯sis in der Physik und Metaphysik konzeptuelle Priorität ein 131, obwohl metabole¯ terminologisch bzw. generisch gesehen der Oberbegriff 132 ist. Der (z. T. additive) Einsatz des an sich weiten Begriffs der Umwandlung / Veränderung dient dann dazu, so erklärt es Flashar, »die Spannweite des Bewegungsbegriffs zu verdeutlichen«. 133 Prinzipientheoretische Erfassung der Bewegung. Um zu verstehen, was es mit einem Bewegungs- und Veränderungsbegriff im weiteren und engeren Sinne auf sich hat, ist ein Blick erforderlich sowohl auf die prinzipielle Struktur von Bewegung als auch auf die Kategorien, also die »Bestimmungsdimension[en]« 134, innerhalb derer sich Veränderung ereignen kann. In dialektischer Auseinandersetzung mit vorgängigen naturphilosophischen und ontologischen Thesen über die bewegungsbegründenden Prinzipien 135 gelangt Aristoteles zu dem Ergebnis, dass die grundlegende Struktur aller Bewegungen, inklusive das Werden von Gegenständen (›substantielles‹ Werden bzw. ›substantielle‹ Entstehungsbewegung), mit einem triadischen Prinzipienmodell erfassbar ist. Hiernach lasse sich Bewegung begreifen als der Umschlag von einer nichtvorhandenen Bestimmung oder »relativen Noch-nicht-Bestimmtheit« (Privation, Mangel, stere¯sis) an Form (∼φ), die den Ausgangspunkt der Veränderung bildet, zu einer spezifischen, angestrebten Zielbestimmung φ (Form, 130 Zur Unterscheidung von ›an sich‹ / ›schlechthin‹ / ›per se‹ / ›ohne weitere Bestimmung‹ (haplo¯ s, kath’ auto) und ›an etwas‹ / akzidentiell / qualifiziert (kata symbebe¯ kos) siehe auch Met. V 7. Die Diskussion über die Einheitlichkeit von Bewegung / Veränderung und Werden ist indessen nicht nur eine konzeptuelle, sondern weist auf eine intensive Diskussion in der vorsokratischen Naturphilosophie zurück. In der Spätschrift Über Werden und Vergehen (Peri geneseo¯ s kai phtoras; lateinisch: De generatione et corruptione, in der vorliegenden Arbeit mit der Sigle Gen. corr. abgekürzt) führt Aristoteles mit der für ihn typischen methodischen Verfahrensweise des dialektischen Exkurses einige zentrale Positionen unter seinen Vorgängern auf, bevor er selbst einen neuen Versuch zur Lösung des »erstaunlichen Problem[s]« (Gen. corr. 317b18) über die Existenzweise von Werden (genesis) unternimmt. 131 Waterlow [Broadie] (1988), 94. 132 Vgl. Höffe (42014), 108; Ross (1998), 46. 133 Flashar (2013), 248. 134 Craemer-Ruegenberg (1980), 73. 135 Vgl. 6.1.4 (K4).

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eidos, morphe¯) an einem dem Umschlag zugrundeliegenden Substrat (hypokeimenon) (Phys. I 5–7, Met. VII 7). 136 Bewegung ist nach dieser ersten strukturalen, prinzipientheoretischen Beschreibung 137 also der Umschlag oder Wechsel von einer nichtvorhandenen (privativen) Bestimmtheit (Privation, ›negatives‹ Prinzip 1) zu einer realisierten Bestimmung (Form, ›positives‹ Prinzip 2) an einer materialen Grundlage (Materie, ›positives‹ Prinzip 3). Die ersten beiden Prinzipien greifen das in der Geschichte des (transkulturellen) Denkens bekannte Schema gegensätzlich organisierter und irreduzibler erster Prinzipien in Form eines Prinzipiendualismus (z. B. Feuer & Erde, Fülle & Leere, Gut & Böse) auf (siehe Phys. I 5, 188a19–30). Bei Aristoteles sind die gegensätzlichen, besser: polaren Prinzipien des (Noch-)Nicht-Seins einer Form / Gestalt (allgemein als ∼φ oder positiv als Gegenteiliges, z. B. schwarz zu weiß) und die Form / Gestalt φ selbst angeordnet als Ausgang- und Endpunkt. Mithilfe der beiden Prinzipien und der Setzung des dritten Prinzips, dem einer Entstehensbewegung Zugrundeliegenden, aber Unvollendeten, dem hypokeimenon, will Aristoteles die prinzipielle Erfassbarkeit aller Bewegungen 138 demonstrieren. 139 Mit genau diesen drei Prinzipien kann Aristoteles schließlich auch eine Antwort auf einen Aspekt des parmenideischen Problems geben, dass etwas nicht ex nihilo entstehen und deshalb eigentlich gar nichts entstehen könne: Immer ist ja schon etwas da, was zugrunde liegt, woraus das Werdende entsteht [ex hou to gignomenon], z. B. die Pflanzen und Tiere aus Samen [spermatos]. Es entsteht das im einfachen Sinne Werdende [gignetai de ta gignomena haplo¯ s] teils durch Umformung, z. B. ein Standbild; teils durch Hinzutun, z. B. Dinge, die wachsen; teils durch Fortnehmen, z. B. wenn aus dem Stein eine Hermesfigur wird; teils durch Zusammenfügung [synthesei], z. B. ein Haus; teils durch Eigenschaftsveränderung [alloio¯ sei], z. B. bei Dingen, die sich in ihrem Stoff [hyle¯n]

Vgl. Höffe (42014), 110; Craemer-Ruegenberg (1980), 63–64. Das Erklärungsmodell mit Prinzipien ist genau genommen noch keine Definition von Bewegung, diese bietet Aristoteles erst in Phys. III 1–3 an. Zu der sinnvollen Unterscheidung von Deskription und Definition von Bewegung siehe Kosman (1969), 48–50, und Brague (1990), 8. 138 Die Untersuchung ist so generell, dass sie nicht nur auf ›natürliche‹ Bewegungen oder ›Naturprozesse‹ begrenzt ist, sondern auch bspw. menschliche Tätigkeiten und Veränderungen umfasst, wie gesund / musikalisch / gebildet werden oder ein Haus bauen. Genau genommen sind es gerade diese Beispiele, die Aristoteles zur besseren Illustration heranzieht (vgl. Bostock [2006b], 2; Brague [1990], 4–8). 139 »Die Behauptung also, die Grundbestandteile seien drei, scheint, wenn man sie mit Hilfe dieser und anderer derartiger Überlegungen nachprüft, einige Vernunft für sich zu haben – wie schon gesagt –, die Ansetzung von mehr als dreien aber nicht mehr.« (Phys. I 6, 189b16–18). 136 137

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wandeln. Alles, was so entsteht [gignomena], entsteht offenkundig von Grundlagen [ex hypokeimeno¯ n] aus. (Phys. I 7, 190b3–10, Herv. i. O.) 140

Man kann die triadische Struktur folgendermaßen an den Beispielen, die Aristoteles gibt, verdeutlichen: Gesundwerden ist eine Bewegung an einem Lebewesen von dem ausgängigen Zustand der Krankheit (= Gegenteil von Gesundheit = ∼φ) oder graduell abgestuft: des Nichtgesundseins hin zum Zustand der Gesundheit (φ). Bildung als Verlaufsform ist eine Bewegung verstanden als Übergang vom Nichtgebildetsein zum Gebildetsein. 141 Dieser Wechsel oder ›Umschlag‹ ereignet sich nun, wie die zitierte Textstelle bereits klarstellt, im Rahmen der ersten vier ›Kategorien‹ (d. h. Bestimmtheits- oder Aussageweisen von einem Gegenstand) und hierin selbstverständlich in beide Richtungen der Bewegung. Bewegung im Rahmen der Kategorien bedeutet also: Die Form (Bestimmtheit, φ), die zunächst noch nicht (∼φ), dann aber nach dem Wechsel vorliegt, kann in vier der zehn von Aristoteles in seiner Kategorienschrift festgesetzten Kategorien ausgesagt werden. 142 Die vier Kategorien sind: Substanz (Was, ousia, tode ti, ti estin), Qualitatives (Wie, poion), Quantitatives (Wie groß, poson) und Ort (Wo, pou) 143; die anderen Kategorien Zeitliches (Wann), Liegen / Lage, Haben, Tun, Erleiden sind ohnehin Aspekte von Bewegung und können ihre Bestimmtheit nicht weiter spezifizieren. Entsprechend der vier Kategorien, hinsichtlich derer sich Bestimmtheit durch einen Umschlag oder graduellen Wechsel realisieren kann, unterscheidet Aristoteles vier Typen von Veränderung: (1) Veränderung hinsichtlich des Was als Entstehen und Vergehen (genesis kai phthora), z. B. eines Lebewesens; (2) Veränderung der Qualität als Veränderung / Umwandlung (alloio¯ sis) eines Gegenstandes, z. B. Gesundwerden oder Warmwerden; (3) Veränderung hinsichtlich der Quantität als Vermehrung und Verminderung (auxe¯sis kai phthisis), z. B. das Wachsen oder Schrumpfen einer Pflanze; 140 Diese Stelle eignet sich nicht nur zur Begründung der Materie-Form-Analyse (Hylemorphismus), wie im Anschluss von Aristoteles angeführt, sondern auch, um die Inklusion des Werdens unter einen weiten Begriff von Bewegung zu stützen. 141 Siehe auch Höffe (42014), 110–111. 142 Craemer-Ruegenberg (1980), 62–73, bietet eine ausführliche Erörterung über das Verhältnis von Kategorien und Bewegungsarten an, auf die ich hier zurückgreife. So lautet ihre prägnante Formulierung, was Kategorien sind: »›Kategorien‹ sind die allgemeinsten Oberbegriffe zu allen möglichen Prädikaten, d. h. zu alledem, was überhaupt über Seiendes ausgesagt werden kann. Zu jedem möglichen Einzelfall eines Vorkommnisses gibt es eine Hierarchie von immer allgemeineren Begriffen. Diese Hierarchie endet in der jeweiligen obersten Gattung, der Kategorie.« (Ebd., 63). 143 »Von Bewegung und Veränderung [kine ¯ seo¯ s kai metabole¯ s] gibt es so viele Form wie von ›seiend‹.« (Phys. III 1, 201a8–9; vgl. Met. XII 1, 1069a) (Übers. modifiziert). Siehe auch Met. XII 2, 1069b9–14.

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(4) Veränderung hinsichtlich des Ortes (topos/phora) (Phys. III 1, 201a11–16, Met. XII 2, 1069b9–14). Während nun der Wechsel / Umschlag in den Bewegungen im engeren Sinne sich zwischen Gegensätzlichem, bspw. nicht-weiß oder schwarz zu weiß und dadurch auch graduell ereignen kann, ist die Entstehungs- und Vergehensbewegung ein übergangsloser Wechsel zwischen den zwei kontradiktorischen Bestimmtheiten nicht-seiend und seiend, sodass hier kein persistierendes Substrat oder Subjekt vorliegen kann. Aus diesem Grunde scheiden viele Interpret:innen die metabole¯ von der der kine¯sis ab, mit der Begründung, dass die kine¯sis ein zugrundeliegendes Substrat bzw. ein Bewegtes (kinoumenon) erfordere. 144 Eine alternative Lesart verbindet beide, metabole¯ und kine¯sis, durch ein erweitertes triadisches Prinzipienmodell, das auch Entstehen und Werden im Sinne einer Veränderung und Bewegung schlechthin zu erfassen vermag. An einigen Stellen scheint Aristoteles der Ortsbewegung, auf die sich auch seit der Neuzeit sämtliche Konzeptionen und Vorstellungen von Bewegung reduzieren, einen Vorrang einzuräumen; elementar für die antike Bewegungskonzeption ist aber vielmehr die skizzierte Breite des Begriffs.

c) ›in einem anderen oder in sich als einem anderen‹

Aktivität / Agentivität der dynamis. Das dritte Element »in einem anderen oder in sich als einem anderen« komplettiert die relationalen Aspekte des Prinzips der Bewegung. Da der primäre Typ von dynamis kata kine¯sin Anfang und Ursprung einer Bewegung im weiteren und engeren Sinne meint und wesentlich für die 144 Siehe z. B. Menn (1994), 97, Fn. 34. In der Aristoteles-Forschung gehen die Interpretationen auseinander, ob sich das Zugrundeliegende in der Bewegung im Entstehen durchhält oder zu etwas / einem anderen werden kann. Nach der orthodoxen Interpretation von Phys. 1 7 (und Met. VII 5–7) erfordern a) alle Bewegungen und Veränderungen ein der Bewegung zugrunde liegendes Substrat (›Materie‹, hyle¯ ), das in der Bewegung die Form φ annimmt, welche zuvor nicht vorlag. In diesem gewordenen Form-Materie-Kompositum, das aus der Perspektive einer prinzipientheoretischen Untersuchung alles lebendig Seiende (= erste Substanzen) der Struktur nach darstellt, ist b) das Zugrundeliegende (hyle, hypokeimenon) immer auch ein persistierendes Substrat (Persistenzthese), das durch Veränderung im Falle des Werdens überhaupt erst (und im Falle der qualifizierten Veränderung eine spezifische) Bestimmtheit erhält – dieses Schema gelte also auch für das Entstehen (gignetai, gignesthai) einer Substanz. (Vgl. Henry [2015], 144–145). Da in diesem Schema die Form φ die Privation von φ (= ∼φ) ersetzt, wird es auch »Replacement Model« genannt (Gill [2004], 4). Die orthodoxe Lesart basiert auf der Annahme einer ›generischen‹ und ›präexistierenden‹ Materie, die als solche in der Bewegung persistiert eine Affinität zu einer bestimmten Formannahme (›Informierung‹) hat; siehe zu Met. VII 7–9 Detel (2009), 332–386, 743; vgl. Frede / Patzig (1988), 104– 165; einführend zu Phys. I 5–7 Ross (51964), 63–66.

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Auslösung oder Erzeugung einer Bewegung ist, wird dieser Typ in der Rezeption als ›aktives‹ Bewegungsprinzip, ›aktives Vermögen‹ (›active power‹, ›causal power‹, ›capacité active‹, ›puissance active‹) bezeichnet. Denn die ›aktive‹ dynamis ist auf ein Produzieren (poiein), eine Produktion (poie¯sis) und generell auf ein spezi sches ›Wirken‹ (energein) in Form einer Bewegung oder Veränderung ausgerichtet. Wirkung, Tätigkeit und Operativität sind die Charakteristika der aktiven dynamis. Deshalb wird die aktive kinetische dynamis auch dynamis tou poiein genannt. 145 Charlotte Witt hat den Vorschlag eingebracht, die dynamis besser als ›agent‹ statt als ›active‹ zu charakterisieren, um so Verwechselungen mit dem Gegenpart ›inaktiv‹ zu vermeiden und den Tätigkeitscharakter noch stärker terminologisch anzuzeigen. Als dergestalt ›agentives‹ Vermögen ist die dynamis in ihrer grundlegenden Verwendungsweise also nicht nur ein Anfang / Erstes einer Bewegung an einem Gegenstand. Die dynamis ist überdies a) ein Vermögen zu einer Aktion oder Tätigkeit, b) das Vermögen zu einer Bewegungserzeugung in einem anderen Gegenstand oder einem von sich anderem Teil. Mit Jonathan Beere lassen sich beide Charakteristika auch so formulieren: »Active powers are connected with change by way of the notion of agency. They are powers to do something to something (poiein), to make something be a certain way. They are to be distinguished from properties that are, as we might put it, mere ›triggers‹ for change.« 146 Eine dynamis kata kine¯sin zeichnet sich also in ihrer primären Verwendungsweise durch ihren agentiven Charakter aus, d. h. durch das Auslösen einer Bewegung bzw. Wirkung in einem anderen (Teil). Das gilt in gleichem Maße für physische, chemische ›Prozesse‹ oder menschliche Bewegungen und Veränderungen. Das Vermögen einer Säure etwas aufzulösen ist konzeptuell und strukturell für Aristoteles von derselben Art wie das Drücken einer Türklinke. Die dynamis steht damit in einem engen Verhältnis zum Begriff der Bewegungsursache (causa ef ciens) 147 einerseits und zu den Begriffen »›Agency‹, ›Ef cacy‹, ›Bringing about‹, ›Production‹« anderseits. 148 Das Tun, die Agentivität der dynamis hat dabei immer ihren Wirkungsort in einem anderen Gegenstand / Subjekt oder anderen Teil eines Ganzen. Relationalität. Die Spezi tät der agentiven dynamis zeichnet sich also gerade dadurch aus, dass sie eine Bewegung in einem anderen Gegenstand oder in einem anderen Teil von sich selbst (»von sich als einem anderen«, he¯ heteron) erzeugt. Sie zeitigt einen Effekt, der als Wirkung in einem anderen Subjekt oder an einem anderen Gegenstand als sich selbst liegt. Dieser Effekt ist das Hervorbringen einer Veränderung oder Bewegung in einem anderen. Die Baukunst ist für Aristoteles 145 146 147 148

Wolf (22020), 10. Beere (2009), 41. Vgl. Kap. 6.4.1 (K11). Broadie (2009), 32.

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ein Paradebeispiel für ein aktives Vermögen zur Veränderung in einem anderen: Sie ist das Vermögen zur Inwerksetzung einer Form, z. B. eines Hauses, in bzw. mit dem vorhandenen Baumaterial, wobei die Form (das Haus) in der Vorstellung der Baumeisterin liegt. 149 Wie aber ist der zweite Zusatz »oder sofern es ein anderes ist« (Met. V 12, 1019a16) zu verstehen? Aristoteles erläutert das so: »[D]ie Baukunst z. B. ist ein Vermögen, welches sich nicht in dem Gebauten ndet; die Heilkunst dagegen, welche ebenfalls ein Vermögen ist, kann sich wohl in dem Geheilten be nden, aber nicht insofern er geheilt ist« (Met. V 12, 1019a16– 18). Der zweite Fall umfasst also solche Fälle, in denen ein aktives Vermögen zur Herbeiführung einer Veränderung und das Ergebnis der Veränderung in ein und demselben Gegenstand bzw. Subjekt liegen, etwa im Falle des sich selbst heilenden Arztes, der seine Heilkunst auf die in ihm be ndliche Krankheit richtet. In diesen Beispielen deutet sich bereits an, was zu einem grundlegenden Strukturmoment der kinetischen dynamis gehört, nämlich dass zu dem bewegungserzeugenden Vermögen immer ein korrelativer und korrespondierender Gegenpart vorliegen muss, damit überhaupt das agentive Vermögen sich in einer Bewegung realisieren kann: keine realisierte Baukunst ohne Baumaterial, keine erfolgreiche medizinische Anwendung ohne prinzipielle Heilungsfähigkeit. Identifiziert man nun die Vermögen mit einem Subjekt oder tätigen Ding, dann ist der Träger des agentiven Vermögens das Agens (to poioun; ›the agent‹) und der Träger des erleidenden / empfangenden Vermögens das Patiens (to paskhon; ›the patient‹). 150 Wir werden darauf gesondert im Rahmen der Komponente des begrifflichen Strukturmoments (K8) zurückkommen.

6.3.2 Phasenraum (K7)

Die Ausrichtung der dynamis-Typen. Unter der vorangehenden Komponente, die Komponente der ersten Begriffsebene (K6), wurde diejenige Begriffsbestimmung ausführlich untersucht, die Aristoteles als den »bestimmenden Begriff [kurios horos]« und den »primären« Typ der kinetischen dynamis quali ziert (Met. V 12, 1020a4, 5). In Met. V 2 und IX 1 sowie 3 zählt Aristoteles weitere Typen bzw. Verwendungsweisen auf, die – so sagt er – auf den primären Typ ausgerichtet sind (pros hen). Methodisch betrachtet wendet Aristoteles am Begriff der dynamis neben der pros hen-Bestimmung die für ihn ebenfalls typische Herangehensweise an, » rst to collect the various senses of a word (like gathering the phenomena in em149 Das bedeutet umgekehrt nicht, dass das zum Häuserbau vorgesehenes Baumaterial (Holz, Lehm) dem Vermögen nach ein Haus sei. 150 Beere (2009), 42.

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pirical inquiry) in order to establish some systematic relationship between them, such as priority and posteriority, or analogy, or synonymy or homonymy [. . .].« 151 Die Systematisierung führt, wie bereits erwähnt, zu einer Anordnung, die sich als begriffliche Operation verstehen lässt, da sich durch die Anordnung und begriffliche Verhältnisbestimmung aus den verschiedenen Verwendungsweisen ein binnenstrukturierter philosophischer Begriff herausschält. Insofern die verschiedenen Verwendungsweisen auf den begrifflichen Kerntyp bezogen sind, fallen sie unter den Begriff der kinetischen dynamis. Aristoteles drückt die Abhängigkeitsbeziehung folgendermaßen aus: [. . .] was aber aufgrund eines Vermögens (›vermögend‹) [kata dynamin] genannt wird, wird stets im Hinblick auf das eine, erste Vermögen so genannt; dies aber ist das Prinzip der Veränderung in einem anderen oder insofern (das zu Verändernde) ein anderes ist [arche¯ metabole¯s en allo¯ i e¯ he¯i allo]. (Met. V 12 1019b35–1020a2, Übers. Szlezák; vgl. IX 1, 1045a9–11)

Die Ausrichtung auf den ersten dynamis-Typ ist im Umkehrschluss nicht mit einer Derivation, einer Ableitung, der weiteren Typen aus dem Kerntyp, dem agentiven Vermögen, gleichzusetzen. Anders als bei Beere sollen die weiteren Typen hier nicht als »derivate usages« bezeichnet werden, sondern als Zuordnung oder Anordnung der weiteren Verwendungsweisen zu der primären Verwendungsweise. 152 Diese Anordnung sämtlicher Typen, das Tableau der kinetischen dynamis, wird durch Klassifizierungen in Met. IX noch weiter ausdifferenziert. Im Rahmen der begrifflichen Diagrammatik entspricht das von Aristoteles präzise eingegrenzte Set an dynamis-Typen dem Phasenraum des dynamis-Begriffs. Im Folgenden wird zunächst das Tableau illustriert, um einen ersten Überblick zu bekommen, anschließend werden die Typen kurz skizziert. Vorangestellt sei dem zunächst noch eine kurze Anmerkung zum Wortfeld rund um das Nomen dynamis. Wortfeld rund um die dynamis kata kine¯sin. Innerhalb des Wortfeldes von dynamis befinden sich im Alltagsgriechischen u. a. folgende Grundelemente: das Verb dunasthai (etw. ›können‹, vermögen), das Substantiv dynamis (im Nominativ: das ›Vermögen‹ / die ›Fähigkeit‹) zu φ (φ steht hier für ein Tätigkeitsverb 153, z. B. erhitzen), sowohl in aktiver als auch in passiver Form, also das ›Vermögen, φ zu tun‹, das ›Vermögen, φ zu erleiden‹, das Adjektiv dynaton (›fähig‹ sein zu φ-en, Cleary (1998), 32. Beere (2009), 42–67. 153 Ausführlicher zu den sprachlichen Ausdrucksvarianten im Wortfeld von dynamis s. Wolf (22020), 12–18. Wolf führt sie hier als »Vermögensausdrücke« ein. Zur prädikationslogischen und modaloperativen Formalisierung siehe Jansen (22016), 20–32. 151 152

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›möglich‹) und dessen Substantivierung to dynaton (das zu φ Vermögendseiende) 154. In Met. V 12 und Met. IX 1, 2 wird das Verb dunasthai nicht gesondert betrachtet und spielt konzeptionell keine Rolle. Aristoteles konzentriert sich vielmehr in erster Linie auf den Ausdruck dynamis und dessen adjektivische Form dynaton sowie auf die jeweiligen Negationsausdrücke adynamia (›Unvermögen‹) und adunaton (›unvermögend‹, ›unfähig‹; ›nicht möglich‹). Für die vorliegende Untersuchung ist nur die nominative Verwendung relevant, die Negationen und adjektivischen Verwendungen bleiben dagegen ausgespart. 155 (1) aktives / ›agentives‹ Vermögen Vermögen zu φ (dynamis tou poiein) »Prinzip der Bewegung und Veränderung in einem anderen oder in demselben, insofern es ein anderes ist« (2) passives / ›patentives‹ Vermögen Vermögen φ zu erleiden / erfahren (dynamis tou paschein) »Prinzip der Veränderung von einem anderen her oder insofern es ein anderes ist« (3) Widerstandsvermögen (dynamis, tou me¯ paschein, hexis) »Prinzip und Beschaffenheit, nicht (zum Schlechteren) verändert oder bewegt zu werden von etwas, das φ kann« (4) Vermögen zu φ auf gute oder richtige Weise (5) Vermögen φ auf gute oder richtige Weise zu erleiden / erfahren (dynamis tou hodi) (6) ›nicht-rationale / natürliche‹ (aktive) Vermögen (dynameis aneu logou)

(7) ›rationale‹ (aktive) Vermögen (dynameis meta logou)

Zustände*: aktiv, wirksam, tätig

inaktiv, latent = ›potenziell‹

* Siehe hierzu K8 (Kap. 6.3.3 b])

Abb. 6 Das Tableau der kinetischen dynamis (dynamis kata kine¯sin) 156

Die Übersetzungen sind als semantisches Orientierungsangebot zu verstehen. Zwischen den Verwendungen als Nomen im Nominativ (dynamis) und den Adjektiven (dynaton) gibt es Korrespondenzen und kleine Verschiebungen, die hier nicht weiter verfolgt werden sollen; stattdessen sei diesbezüglich verwiesen auf Makin (2006), xxii–xxvii und Stevens (2008). Stevens präsentiert ein vollständiges »tableau permettant d’observer la symétrie entre le substantif et l’adjectif, d’une part, les termes positifs et négatifs, d’autre part.« (Stevens [2008], 292). 156 In der Aufzählung orientiere ich mich an den Kommentaren von Jansen (22016), 36; Beere (2009), 61; Seidl (1989), 394–395, und Ross (1953), 318–320, sowie Stevens (2008), 292–296; die Bezeichnungen sind überwiegend übernommen von Wolf (22020), 9–10. 154 155

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Die Bezeichnung für (1) und (2) trifft Aristoteles selbst in Met. IX 1, 1046a19– 20: »dynamis tou poiein kai paskein«. Wie bereits eingeführt werden hier die Adjektive ›agentiv‹ und ›patentiv‹ anstelle der klassischen Begriffspaarung von ›aktiv‹ und ›passiv‹ verwendet, um den Tätigkeitscharakter beider Typen von dynamis kenntlich zu machen. Insbesondere der Term ›passiv‹ konnotiert nur sehr unzulänglich jene Figur, auf die es ankommt, nämlich die Vorstellung, dass das Erleiden von X nur aufgrund eines entsprechenden Vermögens / einer Macht, φ erleiden zu können, basiert. 157 Das ›Patentive‹ verweist ursprünglich auf eine Bewegung, eine Affizierung, die nicht ohne eine bestimmte Voraussetzung im Sinne eines ›Affiziert-werden-Können‹ möglich ist. ›Agentiv‹ und ›patentiv‹ machen damit die Verbindung zum Begriff ›agency‹, zur Tätigkeit und Wirksamkeit, deutlicher als die für diesen Zusammenhang eher unterbestimmten Adjektive ›aktiv‹ und ›passiv‹. Die Typen von dynamis (1) bis (5) bilden im engeren Sinne die Ausdifferenzierung der kinetischen dynamis in Met. V 12. Auf das spezifische Verhältnis von agentiver und patentiver dynamis wird unter der Komponente des Strukturprinzips (K8) noch ausführlich eingegangen. Das Widerstandsvermögen (3) ist so zu verstehen, dass etwas aufgrund seiner Verfassung, seiner materiellen Konstitution und Aufstellung (hexis) das Vermögen oder die Voraussetzungen hat, nicht zerstört zu werden. Die Idee dahinter ist die folgende: »For even that which is destroyed must have been capable of being destroyed. Things are capable sometimes by virtue of having something, sometimes by virtue of being deprived of something.« 158 Die weitere Differenzierung »Vermögen zu φ auf gute oder richtige Weise« (4) und »Vermögen φ auf gute oder richtige Weise zu erleiden / erfahren« (5) bringt eine qualitative Dimension in einer Realisierung von Vermögen zum Ausdruck, die für Aristoteles auch das Vermögen von unbelebten Dingen betrifft; so kann bspw. eine Leier auf gute Weise Töne hervorbringen, wenn sie richtig gespielt wird, oder eben nicht. 159 Die Unterscheidung von nicht-rationalen / natürlichen aktiven Vermögen (6) und auf Vernunft basierenden agentiven Vermögen (7) ist eine weitere Qualifizierung von dynamis, die Aristoteles in Met. IX 3–5 vornimmt. Die zugrundeliegenden Unterscheidungskriterien liegen in der sogenannten Einseitigkeit und Zweiseitigkeit der Realisierung der Vermögen und dem bedingenden Faktor eines Willes bzw. Vorsatzes, aufgrund dessen ein Vermögen realisiert wird. Natürliche Vermögen sind ihren Trägern qua ihrer Konstitution mitgegeben, bspw. das Vermögen von Feuer, die Umgebung zu erhitzen (bis zu einem bestimmten 157 Ursula Wolf (22020), 11, nennt die passiven Vermögen ähnlich zu meinem Bezeichnungsvorschlag ›patente‹ Vermögen. 158 Ross (1981), 319. 159 Stevens (2008), 296.

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Grad). Diese Vermögen sind Vermögen zu genau einer Tätigkeit oder Wirkung. Wenn natürliche Vermögen, die ein korrelatives Verhältnis zueinander haben, aufeinandertreffen, betätigen sie sich notwendig mit dem Ergebnis, dass eine Veränderung in dem patentiven Part stattfindet, z. B. wenn das Vermögen von Feuer zu erhitzen auf das Vermögen des Wassers erhitzt zu werden trifft. Hingegen sind vernunftbasierte Vermögen »teils durch Übung (Gewöhnung) erworben, z. B. das Vermögen des Flötenspiels, teils durch Unterricht, wie das Vermögen der Künste« (Met. IX 5, 1047b31–34). Zu den vernunftbasierten Vermögen zählt Aristoteles Künste (technai) und hervorbringende Wissenschaften (poie¯tikai episte¯mai) wie bspw. die Medizin. Entscheidend ist, dass vernunftbasierte Vermögen nicht notwendigerweise, sondern aufgrund eines Strebens (orexis) oder Vorsatzes (prohaire¯sis) betätigt werden: Die Zusammenkunft einer Flöte mit dem Vermögen eines Subjekts, sie zu spielen, erzeugt nicht notwendig die Tätigkeit des Flötenspielens, sondern bedarf des konkreten Vorsatzes zu der Ausübung des Vermögens zum Flötenspielen. Indem die vernunftbasierten Vermögen nicht nur zu einer spezifischen Tätigkeit befähigen, sondern zu entgegengesetzten Tätigkeiten, sind sie außerdem zweiseitig. Denn anders als das Feuer, das nur erhitzen kann, kann die Medizin Gesundheit und Krankheit erzeugen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist insbesondere das korrelative Verhältnis von agentiver und patentiver dynamis relevant; es wird unter der nachfolgenden diagrammatischen Komponente des Strukturprinzips ausführlich erkundet.

6.3.3 Strukturprinzip: Agentiv-patentiv-Korrelation (K8)

Vorschau. Das Tableau der dynamis hatte bereits eine enge Beziehung zwischen agentiver dynamis und patentiver dynamis angedeutet. In dieser engen Beziehung drückt sich eine für den Begriff der dynamis sehr zentrale Strukturunterscheidung aus, die ihren Hintergrund in der allgemeinen Bewegungsstruktur hat. Um zu verstehen, inwiefern die konzeptuelle Strukturunterscheidung agentiv-patentiv den Begriff der dynamis prägt, seien a) zunächst die zugrundeliegenden begrifflichen Paare von to kinoun, das Bewegende / der Beweger und das Bewegte (kinoumenon) sowie poiein (›aktives‹ Bewirken, machen, produzieren) und paschein (erleiden, bewegt werden) skizziert, um sodann b) das korrelative Zusammenspiel von agentiver und patentiver dynamis in einem Bewegungsvollzug beschreiben zu können. Darin wird sich zeigen, dass die dynamis sowohl vom Konzept der Bewegung und der Erklärung eines realen Bewegungsvollzugs herrührt als auch auf die Definition von Bewegung (kine¯sis) hinführt.

Die Komponenten der aristotelischen dynamis

170

a) Strukturelle Begriffspaare kinoun und kineisthai, poiein und paschein

Die zweiteilige Bewegungsstruktur. In der diagrammatischen Komponente der Elemente der agentiven dynamis kata kine¯sin (K7) haben sich bereits einige Aspekte der Attribuierung kata kine¯sin, also der konzeptuellen Beziehung der dynamis ›in Bezug / in Hinsicht auf Bewegung‹ abgezeichnet. So ist bspw. das zentrale Element der arche¯, das Prinzip, als das ›Von-Woher-Kommende‹ an sich selbst schon ein bewegungsbezüglicher Begriff. Interessant ist aber nun, dass die »Wesensstruktur der Kinesis« 160, d. h., wie Bewegung selbst als Geschehen strukturiert ist, in die zentrale Unterscheidung von agentiver und patentiver dynamis hineinwirkt bzw. jene präfiguriert. Wie ist das zu verstehen? Wir haben bereits Aristoteles' prinzipienwissenschaftliche Erfassung von Werden und Bewegung als gerichteten Umschlag von einer Nichtbestimmtheit (Privation) zu einer Bestimmtheit (Form) an einer oder durch eine materielle Grundlage (Materie) kennengelernt. Der triadischen Strukturierung (Privation, Form, Materie) denkgeschichtlich vorgängig ist die maßgeblich von Platon ausformulierte Konzeption von Bewegung als einer spezifischen Konstellation von »innig« »verklammer[te]n« Bewegungsmomenten oder Bewegungseinheiten. 161 Wie der triadische Zugang, so ist auch die duale Unterscheidung nicht primär phänomenal, sondern als epistemische zu verstehen. Aus konzeptueller Perspektive stellt sich Bewegung als ein »gegenbezügliches Strukturgefüge« 162 aus einem Bewegenden (to kinoun) und einem Bewegten (to kinoumenon) bzw. aus bewegen (kinein) und bewegt werden (kineisthai) dar. Das Bewegende und Bewegte können darin als abstrakte Bewegungsmomente, als distinkte Dinge oder auch als distinkte ontische Einheiten in einem Ding (zum Beispiel in einem Tier oder in einer Pflanze) verstanden werden. In diesem Punkt schließt Aristoteles nun einerseits an Platons Vorstellung der Zweiteiligkeit von Bewegung an 163, zugleich entnimmt er die Zweiteiligkeit auch der Anschauung und dem allgemeinen griechischen Sprachgebrauch. 164 Pape (1956), 336. Fink (1957), 170. 162 Ebd., 176. 163 Die zentrale Referenz für diese Bewegungskonzeption ist das X. Buch von Platons Nomoi. Hier unterscheidet Platon u. a. zehn Bewegungsarten, die aber letztlich alle nach dem beschriebenen zweiteiligen Schema strukturiert sind (Fink [1957], 167). Eugen Fink identifiziert im Rahmen seiner phänomenal-ontologischen Gesamtauslegung des Bewegungsproblems im antiken griechischen Denken die beiden Strukturmomente in der platonischen Konzeption als Bewegungen, näher als ›bewegende‹ und ›bewegte‹ Bewegungen (ebd., 169, vgl. auch 166–180). 164 Wieland weist zurecht darauf hin, dass Aristoteles auch in dieser Schrift seinen methodischen Maximen der Untersuchung des Sprachgebrauchs folge, aus dem sich ein Vorverständnis der Phänomene ablesen lasse. (Wieland [21970], 170). 160 161

Begriffskorpus

171

Die zweiteilige Bewegungsstruktur liegt auch Aristoteles' zentraler Vorstellung zugrunde, dass alle natürlichen Dinge Beweger und Bewegtes sind. Als Bewegtes tragen Dinge den Bewegungsanfang, d. h. ein Prinzip der Bewegung (arche¯ kine¯seo¯ s), entweder in sich selbst oder die Dinge sind Bewegtes, weil sie durch äußere Einwirkung oder Berührung zur Bewegung angestoßen werden. So tragen Lebewesen den Bewegungsanfang in sich selbst aufgrund ihres Wesens, der physis, die zugleich ein Prinzip der Bewegung ist. Hingegen sind künstlich / technisch erzeugte Dinge paradigmatisch solche, die sich nur durch einen äußeren Bewegungsanstoß bewegen (vgl. Phys. II 1, VIII 4). Für Aristoteles gilt die Grundannahme: Alles, was in verändernder Bewegung ist, muß von etwas in Bewegung gebracht werden [kineisthai]. Wenn es denn in sich selbst den Ursprung der Bewegung [arche¯] nicht hat, so ist einleuchtend, daß es von etwas anderem in Bewegung gesetzt wird, – ein anderes (als es) wird (dann) ja das Bewegende sein [. . .]. (Phys. VII 1, 241b34–37, Übers. leicht modifiziert; vgl. VIII 5, 256a2–3)

Auf zweifache Weise bewegen. In Über Werden und Vergehen 165 gibt Aristoteles eine detaillierte Beschreibung davon, wie das Bewegende / der Beweger operiert. Das Bewegende kann demnach in zweifacher Hinsicht bewegen: als Erstes bzw. Prinzip der Bewegung und als Ziel oder Ende der Bewegung. Zudem kann das Bewegende in zwei Modi bewegen. Es kann in der Bewegungsauslösung unbewegt bleiben oder selbst als Bewegtes bewegen (Gen. Corr. I 7, 324a26–28). Im ersten Fall liegt eine Art ›ultimativer‹ Anfang vor, der eine Bewegungskette auslöst, im zweiten Fall sind die Mittelglieder einer Bewegungskette als Bewegendes selbst zugleich bewegt. 166 »Das primär Bewegende (pro¯ ton kinoun) hindert nun nichts, in der Bewegung unbewegt zu sein (bei einigen ist das sogar notwendig), das Letzte hingegen bewegt immer als ein bewegtes.« (Gen. Corr. I 7, 324a30–32; vgl. Phys. VII 1) An dem Beispiel der Arztkunst illustriert sich der Zusammenhang: Die medizinische Praxis bewegt den Kranken auf eine Weise zur Gesundheit, ohne selbst vom Gesundwerdenden bewegt bzw. affiziert zu werden (die Ärztin als Mittlerin der Kunst kann sicherlich bewegt werden, nicht aber die Fertigkeit selbst als bewegende Form) (vgl. Gen. Corr. I 7, 324b2– 3). Der bekannteste und wirkmächtigste erste oder ultimative Bewegungsanfang dürfte jener erste unbewegte Beweger (to pro¯ ton kinoun akine¯ton) sein,

165 Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von Thomas Buchheim, Akademie Ausgabe (2010), identisch abgedruckt in der Meiner Studienausgabe (2011). Textstellen werden mit der Sigle Gen. corr. (für den latinisierten Titel De generatione et corruptione) zitiert. 166 Vgl. Gourinat (2013).

Die Komponenten der aristotelischen dynamis

172

der als der unbewegte Beweger unter dem Namen ›Nous‹ oder ›Gott‹ in die Geschichte des Denkens eingegangen ist. Aber zurück zur Bewegungsstruktur. Das Bewegte in der Bewegung. Bisher wurde festgehalten, dass das Bewegende und das Bewegte die Bewegung konstituieren. Es muss nun aber noch präzisiert werden, worin oder woran sich die Bewegung ereignet. Die Bewegung ist das Gestaltwerden oder das In-Form-Bringen eines Bewegten. Dazu muss das Bewegte prinzipiell für diese Bewegung ausgelegt sein, es muss über ein Prinzip zum Bewegt-werden-Können verfügen. Das Bewegte muss also zur Bewegung fähig sein, damit der Beweger am oder im Bewegten tätig sein kann und somit überhaupt erst eine Bewegung stattfindet: »Bewegung (ist) Zum-ZielBringen [entelecheia] des Bewegtwerdenkönnenden als Bewegbarem; dies geschieht aber durch Berührung mit dem in Veränderung Setzenden« (Phys. III 2, 202a7–9, Übers. Zekl, modifiziert in Anlehnung an Elm 167). Das heißt: Bewegung ereignet sich also genau genommen in oder an dem Bewegten, in der Form, dass das Bewegte eine Einwirkung(sbewegung) durch das Bewegende erfährt oder erleidet. Die Bewegung findet immer in dem Bewegten statt, unabhängig davon, ob das Bewegende auch mitbewegt wird. Tun, Wirken und (Er-)Leiden. Es deutet sich hier bereits an, dass Aristoteles in die zweiteilige Bewegungsstruktur von Bewegen und Bewegtwerden die konzeptuelle Grundfigur von Wirken / Tun (poiein) und Erleiden (paschein) und damit auch die korrelativen Prinzipien und Vermögen zur Bewegung und zum Bewegtwerdenkönnen ›einfaltet‹. Mit ›einfalten‹ sei an dieser Stelle die Integration weiterer Begriffe bzw. Begriffspaare in die Beschreibung von Bewegung gemeint, sodass diese gleichsam vertieft wird. Diese konzeptuelle Verflechtung wird besonders in den Kapiteln I 6–7 von Über Werden und Vergehen deutlich. 168 Hier verweist Aristoteles auf die Parallelität der Gegensatzpaare Bewegendes und Bewegtes, Wirken und (Er-)Leiden: »Doch ist dieselbe Rede beim Wirken und Leiden (poiein kai paschein) anzunehmen, die auch beim Bewegtwerden und Bewegen (kineisthai kai kinein) gilt.« (Gen. corr. I 7, 324a24–26) 169

Elm (2001), 94. Generell sind die Kapitel 5–7 im ersten Buch von Über Werden und Vergehen zentral für Aristoteles’ Theorie und konzeptuelle Erfassung von Bewegung. Diese Stelle, und generell die Schrift Über Werden und Vergehen, wird allerdings eher selten in die Analyse des dynamis-Konzepts eingebracht. Ausnahmen bilden hier z. B. Wolf (22020), 10–12, und King (2008), 335, 343. Damit versteht sich dieses Unterkapitel im Rahmen der diagrammatischen Untersuchung der dynamis kata kine¯ sin auch als Impuls zur Schließung dieses Desiderats. 169 In ihrer vielzitierten und wegweisenden Studie Nature, Change, and Agency in Aristotle’s Physics hat Sarah Broadie (hier noch unter dem Namen Waterlow, 1982) bereits auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Aristoteles’ Bewegungsanalyse und der »agent-patient«-Unterscheidung hingewiesen und diesen in einem langen Kapitel entfaltet (Waterlow [1982], 167 168

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173

Im Hinblick auf seine Theorie der Elemente (stoicheio¯ n) gibt Aristoteles zu bedenken, dass selbst auf dieser elementaren Ebene der Naturvorgänge der Veränderung und Vermischung, bspw. von Wärme und Kälte, immer ein Wirken und Erleiden vorliegt: »Doch ist sicher nicht einmal Sich-Verändern möglich (dynaton), ebenso wenig wie Sich-Trennen und Sich-Zusammenschließen, ohne daß irgendein Wirken und Leiden vonstatten ginge.« (Gen. corr. I 6, 322b9–11) 170 Wo sich Bewegung oder Veränderung notwendig, also nicht bloß durch Zufall oder als Nebeneffekt, ereignet, findet in der Regel ein Prozess des (Ein-)Wirkens und Erleidens statt. Andersherum formuliert sind Wirken und Erleiden als »zwei verschiedene Weisen des ›In-Bewegung-seins‹« zu verstehen: »Das eine ist tuend in Bewegung, das andere leidend in Bewegung«. 171 In der frühen Kategorien-Schrift (Categoriae) bilden Wirken und Leiden oder ›Widerfahren‹ noch zwei eigenständige ›Kategorien‹, d. h. zwei Bestimmtheitsformen des Aussagens: »Ein Tun ist zum Beispiel: schneidet (temnein), zündet an (kaiein). Ein Widerfahren [Erleiden] ist zum Beispiel: wird geschnitten (temnesthai), wird angezündet (kaiesthai).« (Cat. IV 2a3) 172 Deutlich tritt hier bereits eine Paral-

159–203). Für Broadie stellt die Unterscheidung jedoch ein Konzept dar, nicht eine Strukturunterscheidung. Auch ist ihre Analyse als Vorgriff auf das Konzept der Selbstbewegung perspektiviert und nicht auf eine Analyse des dynamis-Begriffs. 170 Die (körperlichen) Elemente, das sind für Aristoteles im Anschluss an Empedokles, Feuer, Luft, Wasser, Erde. Sie werden von ihm auch ›einfache‹ oder ›erste‹ Körper (ta so¯ mata ta prota) genannt (Cael. I 2, 268b28, Gen. corr. 1, 329a28–9) und bestehen aus einer Materie (hyle¯ ) und gegensätzlichen Qualitäten (enantio¯ seis) (»warm – kalt, trocken – naß, schwer – leicht, hart – weich, lehmig – spröde, rauh – glatt, dick – dünn«, Gen. corr. II 1, 329b18–20, 329a24–26). Aus der Perspektive naturwissenschaftlicher Prinzipienforschung bildet die Materie in der Strukturverfasstheit der Elemente das erste, die gegensätzlichen Qualitäten das zweite Prinzip, und die Elemente als solche dann das dritte Prinzip der Erklärung (ebd., 329a27–35). Von den gegensätzlichen Qualitäten bilden nun wiederum die ersten vier, also das Warme, das Kalte, das Trockene und das Feuchte, als ›Grundvermögen‹ (in der Rezeption auch: ›Grundkräfte‹) die zentralen Erklärungskategorien von physikalischen und chemischen Naturvorgängen. Aristoteles versteht sie als reine dynameis, »d. h., sowohl der Träger des Vermögens und das Vermögen als auch das Vermögen und die Aktualisierung des Vermögens fallen zusammen.« (Wolf [22020], 22) Die Grundvermögen entfalten ihre Wirkung als Bewegung – ganz in Übereinstimmung mit der zweiteiligen Bewegungsstruktur – genau dadurch, dass sie teils wirkungsfähig (»aktiv«) (das Warme und das Kalte), teils leidensfähig, bzw. ›patentiv‹ (das Feuchte und das Trockene) sind (Gen. corr. II 2, 329b24–26). Für eine kritische Interpretation des poiein-paschein-Gegensatzes in Bezug auf die Theorie der Elemente siehe Seek (2011), 38–61. 171 Fink (1957), 169, 170. Das Gegensatzpaar Tun und Leiden findet sich, wie wir bereits unter der Komponente des Problemkomplexes der Bewegung (K4) gesehen haben, auch schon in Platons Sophistes (247d8–248e6) für die Bewegungsstruktur des Bewegens und Bewegtwerdens. 172 Dass beide Kategorien, Tun und Leiden, in Aristoteles’ Verständnis zusammen (eine) Bewegung abbilden, zeigt sich auch in einem kurzen Rekurs auf die Kategorien in Buch VII der Metaphysik (Met. VII 4, 1029b25), in der (anstelle der beiden Kategorien) die eine Kategorie Bewegung (kine¯ sis) aufgezählt wird. Für diesen Hinweis siehe Jansen (2005), 469. Aichele (2009), 183, fasst den katego-

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Die Komponenten der aristotelischen dynamis

lelisierung von Bewegen und Einwirken hervor. Laut Aristoteles entspricht sie der tatsächlichen Redeweise, »denn man sagt sowohl, daß das Bewegende etwas wirke als auch, daß das Bewirkende bewege« (Gen. corr. I 6, 323a15–16). Bewegung und Wirkung als Herstellung. Ist nun alles Bewegende als Einwirkendes, jede Bewegung als Einwirkung oder gar Herstellung und Produktion zu verstehen? Nein, vielmehr ist das poiein differenzierter zu betrachten (ebd., 322a16–17). Es kann einerseits ›einwirken‹, ›herstellen‹, ›produzieren‹ bedeuten, wenn das Erleidende durch das Bewegende eine substanzielle Veränderung erfährt. Andererseits gibt es aber auch Bewegungen, in denen das Bewegte keine substanzielle Veränderung erfährt, zum Beispiel bei der Ortsbewegung oder dem Lernen – das poiein und paschein sind hier allenfalls abgeschwächt und akzidentiell zu verstehen (Gen. corr. I 6, Phys. III 3). Das Gegensatzpaar poiein – paschein wird in bestimmten Bewegungen also nicht in einem starken Sinne verstanden. 173 Bewegungen können ihrerseits herstellend und nicht-herstellend sein. 174 Auch ist die Gegensätzlichkeit von Tun und Erleiden nicht zwingend als absolute, sondern eher als polare zu verstehen, d. h., sie bilden Pole eines graduellen Kontinuums – z. B. als erhitzt werden und abgekühlt werden. 175 Obwohl es also Bewegungen ohne ein Erleiden im engeren Sinne gibt (Lernen oder Sehen), bleibt das Strukturprinzip der Zweiheit von poiein und paschein der Bewegungsstruktur wesentlich. Tun / Wirken und Leiden bzw. substantivisch ›Tuendes‹ oder ›Leidendes‹ – oder wie sie seit der Scholastik auch genannt werden: das ›Aktive‹ (agens) und das ›Passive‹ (patiens) – sind in der Bewegung ›verklammert‹ – und zwar so »innig, daß nur ein Unterschied des Richtungssinns übrig bleibt.« 176 Verklammerung durch Berührung. Wie lässt sich die strukturelle Beziehung von Tun und Erleiden als Verklammerung oder ›Interaktion‹ verstehen? Sie wird über das Konzept der Berührung (hapsis) geleistet. Ein Beweger bewegt ein Bewegliches dadurch, dass ersteres letzteres berührt. Mit der Berührung kann eine schwache, starke oder auch keine Form von physischer Wechselwirkung stattfinden. Denn Aristoteles unterscheidet zwischen Berührung im engsten, d. h. physischen, Sinne mit einem Bezug auf bewegbare Körper und

rialen Zusammenhang so zusammen: »Weil sowohl jedes Tun oder Leiden Bewegung darstellt als auch jede Bewegung als bestimmte entweder aktiv oder passiv ist, lassen sich mit Aristoteles die Kategorien des Tuns und Leidens unter den allgemeinen Titel der Bewegung bringen.« 173 Buchheim (2010), 390–391. 174 Gourinat (2013), 114. 175 Jansen (2005), 469; Fritsche (2010), 22, Fn. 26. 176 Fink (1957), 170.

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›Berührung‹ in einem weiten oder übertragenen Sinne, bei der eine unilaterale Wirkung, nicht aber eine Wechselwirkung stattfindet. Im strikten Sinne stellt Berühren eine Form von Kontiguität dar, also »das Zugleichhaben der äußersten Grenzen« von ausgedehnten Körpern, die eine Position in einem Raum (Ort) einnehmen (Gen. corr. I 6, 323a4–5). Diese Form von Berührung ist mechanisch zu verstehen. Im Gegensatz zur neuzeitlichen Naturphilosophie ist Aristoteles aber weit davon entfernt, sämtliche Berührungen in der Bewegung auf mechanische Ein- und Wechselwirkung zu reduzieren. Denn Berührung kann für Aristoteles auch nicht-haptisch und ohne Kontiguität und damit im übertragenen Sinne stattfinden. Wenn bspw. der ewige erste unbewegte Beweger (pro¯ ton kinoun akine¯ton) (›Gott‹) als erste Ursache die Himmelssphären in Bewegung setzt (Phys. VIII 5, VIII 6, 258b12), so bewegt er nicht in einem mechanischen Sinne – er selbst ist als Geist (nous) ›reine Wirklichkeit‹ (energeia) und immateriell –, sondern durch ein ›erotisches‹ Begehrens- und Nachahmungsverhältnis. Das kann man sich so vorstellen: Der unbewegte Beweger affiziert den ersten Himmel (Fixsternsphäre = das erste Bewegt-Bewegende), damit dieser es ihm in seiner Vollkommenheit gleichtut, was übertragen auf den lunaren Bereich ein Sein in ewiger Kreisbewegung bedeutet (vgl. Met. XII 6, 7). 177 Ein anderes Beispiel für eine Berührung im übertragenen Sinne ist die Seele. Sie bewegt über den Willen (orexis), der als erstes Bewegtes den Körper in Bewegung setzt, ohne dass ein mechanisches Druck- und Gegendruckverhältnis vorliegt. 178

177 Der unbewegte Beweger bewegt »wie ein Geliebtes (ho ¯ s ero¯ menon) und durch das (von ihm) Bewegte bewegt es das übrige.« (Met. XII 7, 1072b3–4) Die Instanz eines ersten unbewegten Bewegers wird erforderlich, wenn alles Seiende als in Bewegung befindlich begriffen werden, die Bewegungsverkettung der Dinge untereinander aber nicht in einen regressus infinitum laufen soll. Letztendlich macht die Zweiheit der Bewegungsstruktur die Hypothese eines ultimativen Bewegungsanfangs notwendig, der nur tätig ist, ohne zu erleiden. Der erste Beweger ist daher für Aristoteles ein kosmisches Prinzip logischer Notwendigkeit, kein theologisch-spekulatives Prinzip (vgl. Höffe [42014], 156–162). Ich belasse es an dieser Stelle bei diesen kurzen Hinweisen zu der komplexen Thematik des ersten Bewegers und der ersten Beweger (Himmel), mithin des kosmologischen und theologischen Gottesbegriffs und der kosmologischen Bewegung, und verweise zur Vertiefung auf das Standardwerk von Klaus Oehler (1984) sowie die jüngsten Interpretationen zu Metaphysik Buch Lamda in Horn (2016). Einen präzisen Überblick über sämtliche Sphären des »Seiende[n] in Bewegung« gibt Buchheim (22016), 89–119. 178 Wir können im Hinblick auf die neuzeitliche Naturphilosophie festhalten: So wie Bewegung in vier Arten gedacht und nicht auf Ortsbewegung reduziert wird, ist auch Berührung bei Aristoteles nicht auf eine dominante Form, die der mechanischen Berührung, monopolisiert, sondern je nach Phänomen- und Anwendungsbereich (Bewegungen des Himmels, der Sterne, der Elemente, der Tiere, der Pflanzen, der Seele, der Wahrnehmung) differenziert. Eine ausführliche Bewertung und Nachzeichnung der Idee der Mechanik in der griechischen Naturphilosophie und Hellenistik findet sich bei Berryman (2009).

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Vertiefung der Überlegung zur zweiteiligen Bewegungsstruktur. Bleibt noch ein letzter Aspekt in der Betrachtung der Zweiheit der Bewegungsstruktur, nämlich die Frage, ob in einem Bewegungsvollzug nun eigentlich zwei Bewegungen, eine anstoßende Bewegung und eine Erleidensbewegung, ineinanderfließen oder ob eine Bewegung ein Prozess ist. Aristoteles plädiert nach längerer Diskussion für einen Mittelweg. Die eigentliche Bewegung findet tatsächlich nur an oder in dem Bewegten als phänomenal eine Bewegung statt, dennoch lassen sich auf der Ebene des Begriffs die beiden Bewegungsmomente (aktiv, passiv) als begriffliche Binnendifferenz unterscheiden (einai heteron to¯ logo¯ ) (Phys. III 3, 202b19–22). Wirken und Leiden gehören beide zur Gattung der Bewegung, sie unterscheiden sich aber in ihrem Typus (analytisch formuliert: different in type not in kind). Beide Bewegungstypen sind epistemische Gegenstände, die als »Prädikate von zwei verschiedenen Dingen« bzw. Trägersubjekten zu verstehen sind. 179 Daher kann Aristoteles in Über Werden und Vergehen auch konstatieren, dass »die Notwendigkeit [besteht], daß in einer gewissen Weise das Bewirkende und das Leidende dasselbe sind [sachlich und phänomenal; L. B.], in anderer Weise [begrifflich; L. B.] verschieden und ungleich miteinander.« (Gen. Corr. I 7, 324a3–5) Da Aristoteles hier eine ontologische Perspektivierung mit einer epistemisch-begrifflichen Perspektivierung zusammenführt und an die Bewegungskonzeption anlegt, nenne ich dieses Charakteristikum in der Betrachtung von Bewegung die ›ontisch-epistemische Differenz‹. 180 Bewegungsstruktur und die Prinzipien der Bewegung. Für die meisten Bewegungen gilt also, dass zu einer Bewegung zwei Entitäten, zwei Subjekte oder im Falle einer Selbstbewegung zwei Teile an einem Ding als die konstitutiven Relata einer Bewegung zusammenkommen müssen. Darin ist eine Entität (oder ein Teil) das Bewegende und die andere das Bewegte. Tatsächlich kann aber nicht alles mit allem zusammenwirken und einen Bewegungsvollzug erbringen: Zucker löst sich nicht in einem Meer von Steinen auf, die Ärztin kann nur heilen, was noch gesund werden kann, Papier kann nicht zu einer Statue behauen werden – und auch: die Regierung kann nur in dem Maße herrschen, wie sich das Demos zur Beherrschung eignet. Es verhält sich also in Naturvorgängen, in technischen Anwendungen und in gewisser Weise auch in menschlichen Handlungen vielmehr so, dass »nicht Beliebiges entweder bewirkt oder Beliebiges von Beliebigem erfährt« (Phys. I 5, 188a32–33), sondern nur bestimmte Dinge interagieren. An dieser Stelle kommt nun das Prinzip zur Bewegung als Begriff des (dispositionellen) Vermögens ins Spiel: 179 180

Wolf (22020), 19. Vgl. zu dieser Differenz auch Waterlow [Broadie] (1988), 199–203.

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Da [. . .] nicht Beliebiges zusammenwirkt, sondern nur bestimmte Dinge [. . .], schreibt man einem Gegenstand, sofern er etwas bestimmtes bewirkt oder erleidet, im Unterschied zu anderen, für die das nicht gilt, ein Vermögen [eine bestimmte dynamis] zu diesen Bewegungen [Wirkungsbewegung und Erleidensbewegung] zu, auch dann, wenn die Bewegungen faktisch gerade nicht vollzogen werden. 181

Damit etwas bewegt wird, muss es, so Aristoteles, über ein Vermögen zum Bewegtwerdenkönnen, zum Erleiden, verfügen (= dynamis tou paschein) bzw. ›dem Vermögen nach‹ (dynamei) von einem bestimmten Bewegenden bewegbar sein. Und andersherum muss auch das Bewegende über ein Vermögen zum Bewegenkönnen verfügen, bzw. dem Vermögen nach in oder an einem bestimmten Bewegbaren eine bestimmte Bewegung bewirken können (dynamis tou poien). Die Bewegung selbst ist dann zu verstehen als das korrelative Wirksamwerden (to energein) des Vermögens, bewegt werden zu können (dynamis tou paschein) durch das (ihm gemäße) Wirksam-/Tätigsein des Vermögens bewegen zu können (die energeia kata kine¯sin der dynamis tou poiein). 182 Beide Vermögen »need to work in tandem«, wie es Bodnar bildlich ausdrückt. 183 Bewegung ist damit (wir werfen hier bereits einen Vorausblick in die nachfolgenden Ausführungen) zugleich auch als eine teleologische Verwirklichung, als Tätigkeit und Vollendungsvollzug beider Bewegungsanteile bzw. Bewegungsmomente durch ein ›Anstoßen‹ im physischen und metaphorischen Sinne zu verstehen: Auch die umstrittene (Vorstellung) klärt sich nun, daß die Bewegung sich findet an dem Bewegbaren. Sie ist ja dessen Zum-Ziel-Bringen [entelecheia] mit Hilfe dessen, was den Bewegungsanstoß geben kann; und die Tätigkeit des Bewegung Anstoßenden ist ja keine andere (als eben diese): es muß doch ein Zum-ZielKommen [entelecheian] beider sein. (Phys. III 3, 202a13–16, Übers. leicht modifiziert)

Die komplementäre Zweiheit der Bewegungsanteile und die darin eingefalteten Prinzipien der Bewegung (dynameis) lassen sich mit folgendem Schema zusammenfassen 184: Wolf (22020), 13 (Ergänz. L. B.). Vgl. auch die für die Darstellung und sinnvolle Übersetzung dieser Zusammenhänge hilfreichen Ausführungen von Elm (2001), 89–92. 183 Bodnar (2018), Kap. 3. 184 Das Schema nimmt Anleihen an Walter Bröckers schematischer Darstellung von Bewegung (Bröcker [41974], 62); ausführlich wird der kategoriale Zusammenhang auch bereits von Trendelenburg (1846), 130–140, expliziert. 181

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Die Komponenten der aristotelischen dynamis

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Bewegung (kinēsis)

bewegen (kinein)/ Bewegendes (kinoun)

bewegtwerden (kineisthai))/ Bewegtwerdendes (kinoumenon)

(be-)wirken, herstellen (poiein) Bewirkendes (poiētikon)

erleiden (paschein) Erleidendes (pathētikon)

lat.: agere; ›aktiv‹/›agentiv‹/›agens‹

lat.: patiore; ›passiv‹/›patentiv‹/›patiens‹

dynamis tou poiein

dynamis tou paschein

Abb. 7 Bewegungsstruktur und dynamis-Struktur

Wir werden nun sehen, wie sich dieses konzeptuelle Schema, die Korrelation von poiein – paschein und der Aspekt der Berührung, in die Struktur des philosophischen Begriffs der dynamis kata kine¯sin fortschreibt. Darin folge ich einem Interpretationsansatz, der nicht nur die dynamis insgesamt von der aristotelischen Bewegungskonzeption her betrachtet, sondern speziell auch das zentrale Strukturmoment der Agentiv-patentiv-Unterscheidung aus ihrer originären Stellung in einem Bewegungsvollzug expliziert. 185

b) Agentive und patentive Vermögen in ihrer korrelativen Zusammenwirkung

Programm der Korrelation. Das Tableau der dynamis (K7) und das aufgezeigte Schema zur Bewegungsstruktur haben bereits die beiden wichtigsten Typen von dynamis, nämlich die agentive und die patentive dynamis, als zentrale Teile des Phasenraums des dynamis-Konzepts ausgewiesen. In Buch IX, Kapitel 1 der Metaphysik gibt Aristoteles, nachdem er beide noch einmal vorgestellt hat, eine Zusatzerklärung über den speziellen Zusammenhang von der agentiven und patentiven dynamis. Aus dieser Formulierung ergibt sich auch unmittelbar die Parallelität zur epistemischen und konzeptuellen Zweiheit und sachlichen Einheit der Bewegungsstruktur 186:

185 Vgl. zu einem ähnlichen Interpretationsansatz Aichele (2009), 176–203; Beere (2009), 58; Sentesy (2017). Ich greife nachfolgend Anna Marmodoros (2014, 2018) instruktiven Interpretationsansatz der »mutual activation« auf. Ein gängiger alternativer Interpretationsansatz deutet Bewegung als »gemeinsame Manifestation« beider dynameis, so z. B. Heinemann (2018). 186 Vgl. Phys. III 3, 202a18–21: »daher die Tätigkeit beider [das eine Bewegung Anstoßende und das Bewegbare, L. B.] in ähnlicher Weise eine einzige ist, wie der Abstand ›1 bis 2‹ derselbe ist

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Es ist also offenkundig, daß das Vermögen des Bewirkens und das des Erleidens [dynamis tou poiein kai paschein] in einem gewissen Sinne ein und dasselbe ist (denn vermögend ist etwas sowohl, weil es selbst das Vermögen hat, etwas zu erleiden, als auch, weil ein anderes das Vermögen hat, durch es etwas zu erleiden), in einem gewissem Sinn aber verschieden. Das eine Vermögen ist nämlich im Leidenden (weil es nämlich ein bestimmtes Prinzip hat, und weil auch die Materie [hyle¯n] ein bestimmtes Prinzip ist, erleidet das Leidende etwas und erleidet ein Ding etwas durch ein anderes [. . .]), das andere im Bewirkenden, z. B. das Warme und die Baukunst: das eine Vermögen (sc. das des Erwärmens) ist im Wärmenden, das andere (sc. das des Bauens) im Baukundigen. (Met. IX 1, 1046a19–28, Übers. Szlezák)

Aristoteles beschreibt hier das für das Verständnis der kinetischen dynamis wesentliche Charakteristikum: Agentive und patentive dynamis treten nur zusammen in ihrer Verwirklichung auf – darin bilden sie den Vorgang einer Bewegung bzw. einer ›Machtausübung‹. Ihr Verhältnis zueinander ist komplementär und korrespondierend. In diese ›Ko-Relation‹ der agentiven und patentiven dynamis spielen nun wiederum mehrere Gesichtspunkte hinein, von denen alle direkt an die Aspekte der zweiteiligen Bewegungsstruktur anschließen: (i) die ontologische Abhängigkeit der Prinzipien(träger), (ii) die ontisch-epistemische Differenz, (iii) ihr Vorliegen als ›Konstellation‹ und das Berührungsmoment, (iv) die teleologische Struktur und (v) die Binarität der Zuständlichkeit der dynamis als einerseits vorhandene, aber nicht realisierte und andererseits in Realisierung bzw. in Wirksamkeit begriffene. (i) Ontologische Abhängigkeit. Wir haben bereits im vorherigen Abschnitt gesehen, inwiefern für Aristoteles die agentive und patentive dynamis in die zweiteilige Bewegungskonzeption eingefaltet sind als bedingende, korrelativ zusammenspielende Prinzipien (aus erklärungstheoretischer Perspektive) bzw. Vermögen an den beteiligten Entitäten (aus substanzontologischer Perspektive). In einer Bewegung ›interagieren‹ ein agentives und ein patentives Vermögen, allerdings nicht irgendwelche Bewegungsvermögen, sondern solche, die zueinander komplementär wirken (das Vermögen des Feuers zu erhitzen mit dem Vermögen von Wasser erhitzt zu werden). 187 Die Korrelation der Vermögen leitet sich nun genau genommen aus der Konstellation ihrer Träger in einer Bewegung ab: »the powers in question are correlative active and passive powers,

wie ›2 bis 1‹ oder (das Verhältnis) von ›ansteigend‹ und ›abschüssig‹ (bei einem Weg): das ist ja ein einziger (Sachverhalt), allerdings der Begriff davon ist nicht einer.« 187 Makin (2009), 25–26.

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in virtue of which things play the roles of agent and patient in a change.« 188 Und ein zentrales Moment dieser Korrelation wiederum ist, dass sie von einem Abhängigkeitsverhältnis fundiert ist. Die agentive dynamis bedarf der Wirksamkeit (›Tätigkeit‹ oder ›Aktivität‹ 189) der patentiven dynamis, um wirksam sein zu können und vice versa 190: »[T]ätig sein könnend ist es [das Ding oder Subjekt mit der agentiven dynamis; L. B.] nur in Beziehung auf ein Bewegbares [ein Ding oder Subjekt mit der einer korrespondierenden patentiven dynamis; L. B.]« (Phys. III 3, 202a16–17, Übers. modifiziert). Diese gegenseitige Abhängigkeit lässt sich insofern auch als ›ontologische‹ charakterisieren, da die Vermögens-Träger in einer gewissen Weise ›zugegen‹ sein müssen. 191 Das bedeutet aber nicht, dass die Vermögen überhaupt erst existieren oder epistemisch als Prinzipien aufgerufen werden können, wenn sie zusammen in Verwirklichung begriffen sind. 192 Vielmehr sind sie in ihrer Wirksamkeit, die sich mit Marmodoro auch als gegenseitige ›Aktivierung‹ interpretieren lässt, auf eine komplementäre oder korrespondierende dynamis angewiesen. Agentive und patentive Vermögen sind deshalb korrelativ in actu, nicht aber existentiell-substanziell ko-konstitutiv oder ko-relational. 193 Exkurs: Abhängigkeit und Machtbeziehungen. Auf den politischen Machtbegriff übertragen wird diese Konzeption der Korrelation schnell plausibel, wenn wir für das Vermögende/Agens ›Herrschende:r‹ einsetzen. Eine Herrschende kann ihre Macht nicht ausüben, ohne ein beherrschbares Subjekt vorzufinden: »Das vernunftmäßig Vermögende [z. B. Herrschende:r; L. B.] wird also jedes Mal, falls es danach strebt, das tun, dessen Vermögen es hat, und so, wie es das Vermögen hat. Es hat aber das Vermögen zu tun [nur; L. B.], wenn das Leidensfähige anwesend ist und sich auf bestimmte Weise verhält. Wo nicht, so wird es nicht [herrschend; L. B.] tätig sein können.« (Met. IX 5, 1048a13– 16) Eine konkrete Machtbeziehung vollzieht sich so gesehen also immer nur Beere (2009), 57, Herv. i. O.; vgl. Aichele (2009), 183; Phys. III 3, 202a20. In der angloamerikanischen Literatur wird energein ([be-]wirken) und energeia (Wirksamkeit, Tätigkeit) mit ›activity‹ übersetzt. Tätigkeiten sind Bewegungen, wobei zwischen transitiven (herstellenden) Tätigkeiten (sämtliche Künste) und intransitiven Tätigkeiten (z. B. Sehen, Denken) zu unterscheiden ist. Vgl. dazu Broadie (2010). 190 Vgl. Marmodoro (2014), 13. 191 Vgl. Marmodoro (2018), 16. 192 Dieser Aspekt berührt die Position der Megariker. Eine solche Deutung würde zudem Aristoteles eine Form relationaler Ontologie unterstellen, der zufolge die Relata erst durch die Relationen konstituiert oder aber die Relata selbst Relationen wären. Eine solche Auslegung geht eindeutig an Aristoteles vorbei (siehe ebenso Marmodoro [2018]). 193 In der Aristoteles-Forschung herrscht in diesem Punkt Uneinigkeit. Ich folge der Lesart, die die agentive und patentive dynamis nur auf der Ebene der Wirksamkeit bzw. Realisierung, nicht aber ontologisch korrelativ im Sinne von ko-konstitutiv deuten, vgl. hierzu unterstützend z. B. Gill (1991); Liske (1996), 270–271; Makin (2006), 29–36; Marmodoro (2014), (2018). 188 189

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in actu und korrelativ. Sie liegt im Wirksamsein des agentiven Vermögens zur Veränderung und Gestaltung des Machtsubjekts an einem zur Machtausübung ›fähigen‹ Machtobjekt / Ko-Subjekt. Eine Machtbeziehung besteht aber auch potenziell, wenn ein Subjekt A über das Prinzip zur Veränderung in Subjekt B verfügt, ohne es auszuüben, und Subjekt B überhaupt in der beabsichtigten Weise veränderbar ist. Rufen wir uns nun in Erinnerung, dass eine Bewegung prinzipientheoretisch betrachtet für Aristoteles das Annehmen einer (neuen) Form, Gestalt (eidos, morphe¯) oder ›Bestimmtheit‹ an einer materiellen Grundlage (hyle¯) ist, die sich durch einen bestimmten Mangel (stere¯sis) dieser Form auszeichnet, so lässt sich das Wirksamsein zweier korrespondierender dynameis als ›hylemorphistische‹ Machtausübung verstehen. Machtausübung ist so gesehen die ›Produktion‹ oder eine bestimmte Gestaltung von Subjekten und Objekten, die als solche einer materiellen Grundlage bedürfen. (Wir werden diese begriffliche Struktur wiederfinden in Foucaults Machtbegriff der produktiven, auf Körper gerichtete Macht.) Asymmetrische Abhängigkeit. Ist diese gegenseitige Abhängigkeit von agentiven und patentiven Vermögen (Mächten) nun symmetrisch oder asymmetrisch? An diesem Aspekt der Agentiv-patentiv-Korrelation begegnet uns eine unübersehbare Spannung bei Aristoteles. Einerseits liegt durch die gegenseitige Abhängigkeit der Vermögen in einem Bewegungsvollzug eine symmetrische Beziehung nahe – das komplementäre und interdependente Verhältnis der beteiligten Vermögen zueinander verleitet gerade zu einer Symmetrieannahme. Andererseits misst Aristoteles der agentiven dynamis im Rahmen der pros henBeziehung eine ›fokale Bedeutung‹ 194 bei. 195 Tatsächlich ist das Verhältnis insofern asymmetrisch bestimmt, und zwar mit dem Primat auf Seiten der agentiven dynamis, als dass sich die Wirksamkeit beider immer als Veränderung oder Bewegung des patiens ausdrückt. 196 Die Asymmetrie liegt also schlichtweg »in the fact that the active power is realized in the bearer of the passive powers, producing an effect in what is acted upon.« 197 Die Ko-Tätigkeit als Bewegung »is by and of (but not in) the agent, and in and of (but not by) the patient (202a14–b22).« 198

Siehe hierzu Kap. 6.3.1 (K6) und Kap. 6.3.2 (K7). Vgl. Makin (2006), 22–36. 196 Auch wenn dem patiens und damit der patentiven dynamis damit eine Unabdingbarkeit im Bewegungsvollzug zukommt, erscheint eine Lesart, die daraus eine Asymmetrie im Sinne einer Primordialität der patentiven gegenüber der agentiven dynamis zuschreibt, fehlgeleitet (so etwa zu finden bei Lang [1998]). 197 Marmodoro (2014), 54. 198 Broadie (2010), 206, Herv. i. O. 194

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(ii) Ontisch-epistemische Differenz. Im eingangs angeführten Zitat (Met. IX 1, 1046a19–27) erklärt Aristoteles, dass das agentive und das patentive Vermögen aus einer Perspektive ›eins‹ sind, aus einer anderen Perspektive aber zwei distinkte Prinzipien seien, die nur zusammen wirksam sein können. Die Parallele mit der mehrperspektivischen Betrachtung von Bewegung, die ich die ›ontischepistemische Differenz‹ genannt habe, springt hier ins Auge. So wie die Bewegung in ontologischer Hinsicht eine Bewegung ist, sich aber aus epistemischbegrifflicher Perspektive aus zwei Anteilen konstituiert (Phys. III 3, 202b19–22 und Gen. corr. I 7, 324a3–5), so ist auch eine Machtausübung (mia dynamis) 199 in epistemischer Hinsicht die Wirkung von komplementären Vermögen bzw. die Zusammenkunft zweier (aktivierter) einander korrespondierender Vermögen. 200 Um auf das bekannte Beispiel der medizinischen Praxis zurückzukommen: Das Heilen einer Patientin ist ein Zusammenspiel des Vermögens geheilt werden zu können und der ärztlichen Heilkunst (für Aristoteles eine aktive dynamis); beide Vermögen konvergieren und kongruieren schließlich in der Heilung (als einem Vorgang). Eine Bewegung oder Veränderung ist deshalb auch als eine gegenseitige ›Aktivierung‹ oder ›Ausübung‹ der beiden beteiligten, miteinander korrespondierenden Vermögen bzw. Prinzipien zu verstehen. 201 Legen wir die epistemisch-ontologische Differenz etwas breiter an, so ist Macht, konkreter: eine Machtausübung, immer ein komposites (Bewegungs-)Geschehen, in das einander korrespondierende Machtanteile im Zustand ihrer gegenseitigen Aktivierung einfließen. 202 (iii) Raumzeitliches Setting. Damit kommen wir auch zum dritten Aspekt, denn diese gegenseitige Aktivierung impliziert zugleich auch ein bestimmtes raumzeitliches Setting, in dem das agens und das patiens mit ihrer jeweiligen kontingenten Verfasstheit aufeinandertreffen. Zusammengefasst müssen vier Bedingungen erfüllt sein, damit ein Ding oder Subjekt eine Bewegung in einem anderen auslösen kann: Erstens muss es über das Prinzip zur agentiven Bewegung / Tätigkeit verfügen, d. h., es muss zu einer Bewegung vermögend sein bzw. Träger einer bestimmten dynamis sein. Zweitens muss zugleich und materiell ein anderes Ding oder Subjekt zugegen sein, an dem diese Bewe199 Der Aspekt der ›Einsheit‹ ist zunächst einmal kontraintuitiv und schwer zu verstehen und hat deshalb auch sämtliche Kommentatoren herausgefordert. Beere (2009), 53, Fn. 36, versucht die Rätselhaftigkeit des Einsseins (mia) zum Beispiel mit einer Form von type-Identität zu erklären, konzediert aber zugleich, dass mit dieser Deutung gewichtige Fragen offen bleiben. 200 Analytisch aufgeschlüsselt sagt Aristoteles in der zitierten Passage folgendes: »[A] The active capacity to φ [φ = ein Prädikat; L. B.] and the (passive) capacity to be φ-ed are a single capacity (1046a19–20). [B] The capacity to φ and the capacity to be φ-ed are distinct capacities (1046a22).« (Makin [2006], 29; vgl. Jansen [22016], 50–53; Marmodoro [2014], 47–64). 201 Marmodoro (2018), Makin (2006), 30. 202 Vgl. Marmodoro (2014), 64.

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gung aufgrund eines ihm zukommenden Vermögens zum Erleidenkönnen realisierbar ist. Es muss also eine spezifische Situation »als reale Grundlage« 203 vorliegen, in der eine Art Berührung der bewegungskonstitutiven Relata stattfinden kann. Darin ist drittens die Berührung, wie in den Ausführungen zur allgemeinen Bewegungsstruktur bereits ausgeführt worden ist, sowohl in einem engeren physisch-mechanischen als auch in einem übertragenen Sinne zu verstehen. In einigen Fällen bedarf eine erfolgreiche Interaktion der Vermögen auch eines Mediums, so bspw. beim Lehren von Kommunikationsmitteln und Informationsträgern. 204 Und viertens dürfen keine äußeren Hindernisse vorliegen, die die Konstellation der Zusammenkunft verhindern oder behindern (vgl. Met. IX 5). 205 Während die drei ersten Faktoren in die spezifische Definition eines Vermögens einfließen, ist der letztgenannte Faktor, die externen Umstände einer Berührung oder Nicht-Berührung, nicht Teil der Definition und des Begriffs der dynamis, wie Aristoteles selbst sagt (ebd., 1048a16–21). Macht ist vor diesem Hintergrund die Ko-Relation mindestens zweier korrelativer Vermögen bzw. Machtanteile, die sich in einer bestimmten raumzeitlichen Konstellation begegnen. Dabei kann hier nur angedeutet bleiben, dass eine Bewegung bzw. ein Machtvollzug von einem Netz aus äußeren (konstellativen) Realisationsbedingungen und inneren Konstitutionsbedingungen (der Verfasstheit eines Vermögens und seines Trägers) bedingt ist und damit auch die darin wirkenden dynameis »in einem ganzen Gefüge von notwendig zusammenhängenden Bezügen« 206 betrachtet werden müssen. Wir haben gesehen: agentive und patentive (natürliche) Vermögen treten notwendig in Korrelation und in einem, zu ihrer Aktivierung, notwendig interdependenten Setting auf. Aber – hier vertieft Aristoteles seine charakteristische Unterscheidung zwischen vernunftbasierten und vernunftlosen ›natürlichen‹ Vermögen – bei vernunftbasierten Vermögen führt ein gemeinsames Auftreten nicht notwendig zu ihrer Realisation in Form einer transitiven bzw. herstellenLiske (1996), 252. Liske (1996), 273. Eine medienphilosophische Perspektive würde reklamieren, dass alle Bewegungen und Handlungen medialer Realisationsbedingungen bedürfen. 205 Hier blitzt nachgerade die konzeptuelle Grundlage für Hannah Arendts Beschreibung von Macht auf. Arendt bezieht sich darin auch selbst explizit auf Aristoteles’ dynamis: »Das Wort selbst – die griechische δύναµις, die lateinische ›potentia‹ mit ihren Abwandlungen in modernen Sprachen, die deutsche ›Macht‹ [. . .], – weist deutlich auf den potentiellen Charakter des Phänomens hin. [. . .] Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich zerstreuen.« (Arendt [262013], 252) Aus der Perspektive der konzeptuellen Diagrammatik wiederholt Arendt das Strukturmoment der korrelativen und konstellativen Zusammenkunft von Vermögen (Machtsubjekten) in actu, ohne aber darin die Agentiv-patentiv-Unterscheidung zur Anwendung zu bringen. 206 Tugendhat (52003), 88. 203 204

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den oder intransitiven Tätigkeit. Ein Subjekt, ausgestattet mit einem vernunftmäßigen Vermögen zu einer bestimmten Tätigkeit, erzeugt nicht notwendig in einem anderen Subjekt eine Wirkung nur aufgrund der bloßen (situativen) Anwesenheit des Anderen. Vielmehr realisiert sich das vernunftmäßige Vermögen aufgrund eines Strebens, Vorsatzes, beabsichtigenden Willens (orexis) oder einer Entscheidung (prohaire¯sis), etwas (an / in etwas anderem) zu tun (ebd., 1048a11). Beim vernunftbasierten Vermögen muss also zusätzlich eine willentliche Entscheidung als bedingender Faktor vorliegen, der über die Optionen entscheidet, eine bestimmte Tätigkeit auszuführen oder eben nicht auszuführen. Treffen hingegen die natürlichen Vermögen in einer bestimmten, hindernisfreien Konstellation und mit Berührung aufeinander, startet notwendig (gleichsam ›automatisch‹ wie in einer chemischen Reaktion) ihre Aktivierung als Bewegungsvollzug (Met. IX 5, 1048a5–7). (iv) Ausgerichtetsein der Vermögen. Was bisher mehrfach implizit angesprochen worden ist, schält sich als vierter zentraler Aspekt der Ko-Relation der agentiven und patentiven dynamis heraus. Die Ko-Tätigkeit von agentivem und patentivem Vermögen ist von einer – ihnen inhärierenden – teleologischen Ausrichtung motiviert. Als Bewegungsanfang (Prinzip, arche¯) sind beide dynameis prinzipiell auf ihr Wirksamwerden in einer Bewegung (energeia) bzw. in einem Bewegungsvollzug (entelecheia) als Annahme einer Form an einem Bewegbaren ausgerichtet. Das kata kine¯sin der dynamis (genauso aber auch das kata kine¯sin des Wirksamseins, der energeia) ist so gesehen auch als Charakterisierung aufgrund des Ziels oder Endes zu verstehen. Vereinfacht ausgedrückt ist der Anfang oder das ›Woher‹ einer Bewegung nach dem Bewegungsziel, dem Wohin benannt (Phys. V 1, 224b7–8). 207 Dabei kann das Ziel entweder in der Bewegung selbst im Sinne einer ›intransitiven‹ Aktivität liegen oder außerhalb der Bewegung sein, sodass die Bewegung eine substanzielle Herstellung von einem Ding (Subjekt) oder akzidentielle Veränderung an einem Ding (Subjekt) darstellt (›transitive‹ Bewegung) (Met. IX 8). Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Definition eines konkreten Vermögens zu einer Bewegung aus seiner teleologischen Struktur. Das bedeutet: Eine dynamis zu einer bestimmten Bewegung (dynamis zu φ) definiert sich genau von der spezifischen Bewegung oder Tätigkeit her, in der sie in ihrer Aktivierung wirksam ist, also z. B. die dynamis zu erwärmen von der Erwärmung. 208 Da die konkrete Tätigkeit immer Elm (2001), 93. Vgl. auch Tugendhat (52003), 100, wobei Tugendhat – hier noch ganz der Schüler der Phänomenologie Heideggers – Telos als Präsenz, Anwesenheit deutet. Witt (2008) hat die Zentralität der teleologischen Struktur für die aristotelische dynamis als entscheidendes Differenzmerkmal gegenüber gegenwärtigen causal power(s)-Ansätzen betont. Für eine ausdifferenzierte Betrachtung darüber, inwiefern Aristoteles tatsächlich eine monovalente Definitionsweise verfolgt und darin Pla207 208

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ihrem eigenen Einsatzpunkt bzw. Anfang folgt, ist dem Zielbezug einer dynamis immer auch ein unidirektionaler temporaler Bezug implizit. Denn eine dynamis zeichnet sich immer durch Bezug auf ein Künftiges aus, ihr Telos ist immer eine in der Zukunft liegende Aktivierung, niemals ein Telos, das in der Vergangenheit liegt (Cael. I 12, 283b11–14). 209 Mit anderen Worten kann sich ein Vermögen »nur auf das noch Ausstehende beziehen, das veränderbar, gestaltbar ist, nicht auf das bereits faktisch Eingetretene« und damit nicht mehr Gestaltbzw. Realisierbare.« 210 (v) Zwei Zustände der dynamis, aber keine logische Modalität. Hier zeichnet sich wiederum ein fünfter zentraler Aspekt der dynamis kata kine¯sin ab, der diagrammatisch gesehen zugleich eine weitere Vertiefung des Phasenraums (K7) der dynamis darstellt. Die dynamis kata kine¯sin, insbesondere die agentive und patentive dynamis, kann selbst in zwei Zuständen vorliegen: einerseits als real vorhandenes latentes, inaktives oder (noch) nicht realisiertes Vermögen oder als ›Potentialität‹ zu einer Bewegung und Veränderung und andererseits als ›aktiviertes‹, ›verwirklicht werdendes‹, ›tätiges‹, ›in Wirksamkeit seiendes‹ Vermögen (energeia). 211 Das Vermögen als aktivierbare Potentialität zu einer Bewegung zu verstehen, bedeutet dem Vermögen – im Gegensatz zu einer bloß logischen Möglichkeit – einen Zustand des ›lauernden Könnens‹ 212 (zu einer Bewegung) zuzuschreiben. Beide Zustände von dynamis, Potentialität zu einem Bewegen und Wirksamsein des Bewegungsvermögens (energeia) in einer konkreten Bewegung, können die ›Mächtigkeit‹ einer dynamis ausdrücken: »The powerfulness of a power is either the potentiality to bring about change, or the actuality of bringing about change.« 213

tons Definitionsansatz einer dynamis treu bleibt, wonach diese ausschließlich von ihrer spezifischen Wirksamkeit als Operation her bestimmt wird (siehe Platon, Politeia V, 477c–d5; Politeia I, 352d– 353b), siehe Lefebvre (2003). 209 Vgl. Liske (1996), 276–279. Eine ausführliche Auslegung der zeitlichen Struktur des Werdens und darin des Zusammenwirkens von dynamis und energeia findet sich auch bei Bianchi (2007). 210 Liske (1996), 278, vgl. Met IX 3, 1047a24–26. 211 Eine ausführliche Argumentation ob und inwiefern der Übergang von einem Zustand zum anderen und damit die Zuständlichkeiten selbst binär, graduell oder skalar angelegt sind, hat jüngst Makin (2018) präsentiert. Die beiden Zustände als ›aktiv‹ und ›inaktiv‹ zu beschreiben, wie es Charlotte Witt (2003), 126, (2008), 136, vorschlägt, erscheint mir sehr produktiv. Terminologisch schlage ich im Anschluss an Witt folgende präzisierte Regelung vor: Das Attribut ›aktiv‹ vor einer dynamis hebt auf die Zustandsbeschreibung der dynamis kata kine¯ sin als eine wirksam seiende bzw. aktivierte oder aktivierende dynamis ab, wohingegen das Attribut ›agentiv‹ einen Typ von dynamis im Tableau der dynamis kata kine¯ sin bezeichnet. 212 In der gegenwärtigen analytischen Metaphysik ist der Status von ›dormant (causal) powers‹ ein gewichtiger Diskussionspunkt. 213 Marmodoro (2014), 6, vgl. (2018), 16.

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Zwischenanmerkung zur Übersetzung. Eine pauschale Übersetzung von dynamis mit ›Potentialität‹ oder ›Möglichkeit‹ ist unangemessen, wenn aus dem Kontext nicht klar wird, ob ein nicht-aktiviertes Vermögen oder ein wirksamseiendes, aktiviertes Vermögen adressiert wird. 214 »Wo immer man diese ›Dynamis‹ mit ›Möglichkeit‹ wiedergeben wollte, würde man den Gedankengang entstellen«, hatte bereits Stallmach konstatiert. 215 Für die dynamis kata kine¯sin gilt: Sie hat konzeptuell nichts mit einer modalen Möglichkeit im Sinne einer Possibilität oder Notwendigkeit zu tun. 216 Gleichwohl bereitet aber der Gedanke eines inaktiven Vermögens den Gedanken einer »vermögende[n] Möglichlichkeit« 217 vor. 218 Generell lässt sich beobachten, dass in der Interpretation und Rezeption die Übersetzungen der Begriffe von dynamis und energeia meistens mit komplexen Auslegungsentscheidungen einhergehen, die auf eine je spezifische Kontextualisierung und Beimessung einer spezifischen Funktionalität im Werk Aristoteles' abheben. Interpretationen, die kontext-insensitiv dynamis mit ›Potentialität‹ und energeia mit ›Aktualisierung‹ oder ›Aktualität‹ übersetzen, sind daher ebenso abzulehnen wie Interpretationen, die entweder keine explizierten terminologischen Festlegungen treffen oder verschiedene Termini für dynamis synonym oder austauschbar verwenden. 219 Zusammenfassung und Ausblick. Innerhalb des Tableaus der dynamis kata kine¯sin nimmt die prioritäre Verwendung als agentives Prinzip der Bewegung und die sekundäre Verwendung der dynamis als Prinzip oder Vermögen des Erleidens von etwas eine zentrale Stellung ein. Die Unterscheidung von agentiver und patentiver dynamis bildet darin aber nicht nur eine Binnendifferenz. In De Generatione et Corruptione, den Büchern I–III der Physik und Metaphysik IX 214 Marmodoro (2014), 4, macht daher den plausiblen Vorschlag, dynamis mit »power« zu übersetzen, wenn dynamis auf »causal powers« referiert, und mit »potentiality« zu übersetzen, wenn dynamis in einem nicht aktivierten Zustand beschrieben wird. Analog und mit Beere (2009) bevorzuge ich die Übersetzung von dynamis generell mit Vermögen (Beere: ›capacity‹) und nur im Fall des nicht-aktvierten, ›schlummernden‹ Vermögens mit (vermögensbasierter) ›Potentialität‹. Mit dieser Übersetzungsentscheidung geht jedoch, anders als bei Marmodoro (2014, 2018) und Witt (2008), keine ontologisierende Lesart einher, die Aristoteles eine fundamentale »ontology of powers« unterstellt. 215 Stallmach (1959), 23. So auch Liske (1996), 256; Beere (2009), 156–157. Ebenso wie die genannten Autoren lehne ich es ab, die dynamis kata kine¯ sin in beiden Zuständlichkeiten mit einem modalen Vokabular (›möglich‹/›Möglichkeit‹) zu übersetzen, da die Gefahr besteht, mehr latinisiertes scholastisches oder modernes Denken in die aristotelischen Begriffe hineinzulegen, als zu ihrer Erschließung angemessen ist (ebenso: Beere [2009], 156). Zu einer gegenteiligen Übersetzungsentscheidung kommt Istvan (2011), 147, Fn. 1. 216 Ide (1992). 217 Lucci / Skowronek (2018), 10. 218 Stallmach (1959), 23–24. 219 Letzteres ist bspw. bei Charles (2010) zu finden.

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entwickelt Aristoteles die beiden zentralen Typen der dynamis kata kine¯sin zu einem internen konzeptuellen Strukturmoment des Begriffskorpus der dynamis weiter. Zum einen vertieft die Agentiv-patentiv-Unterscheidung die Bezüglichkeit der dynamis zum Begriff der Bewegung, indem sie die naturphilosophisch vorgestellte Struktur der Bewegung als Bewegen von Bewegbarem in die dynamis selbst hineinträgt. Agentiv und patentiv bzw. Tun (poiein) und Leiden (paschein) sind selbst zwei Kategorien der Bewegung (vgl. Abb. 7). Zum anderen ist die Agentiv-patentiv-Unterscheidung wesentlich mit den Zuständen der dynamis als inaktiv oder latent vorliegendes Vermögen und als aktiviertes, ausgeübtes oder ›verwirklichtes‹ Vermögen verbunden. Beide Aspekte führen wiederum auf zwei weitere konzeptuelle Dimensionen zurück. Erstens bereitet die Binnendifferenzierung und korrelative Struktur von agentiv-patentiv auf die Verwendung der dynamis im Rahmen der Definition von Bewegung in Phys. I– III vor. Zweitens führt die an der Struktur von Bewegung orientierte Binnendifferenz der dynamis kata kine¯sin auf die erweiterte Verwendung des Begriffs der dynamis in Bezug auf das Seiende (Substanz) hin, wie noch zu zeigen sein wird. Die Agentiv-patentiv-Unterscheidung ist für das Konzept der dynamis also eine sehr zentrale Komponente, die sich aus der Grundfigur der Zweiteiligkeit der Bewegung ergibt und zugleich die Bewegungsstruktur um die Korrelation zweier komplementärer Prinzipien bzw. Vermögen erweitert. Die beiden Zuständlichkeiten bringen wiederum den Begriff der dynamis kata kine¯sin in enge Berührung mit dem Begriff des Wirksamseins (energeia kata kine¯sin). 220 Es wird sich im Rahmen des nachfolgenden Untersuchungsaspekts zeigen, wie sich das interne Strukturmoment der Agentiv-patentiv-Korrelation als Scharnier zu einer konzeptuellen Erweiterung der dynamis kata kine¯sin darstellt. Auf dieser Ebene wird die dynamis nicht mehr nur aus der Bewegungsstruktur heraus konfiguriert, sondern erhält eine ›ontologische‹ Funktion und Verwendung, indem sie sich nun auf die Seinsweise einer Substanz (ousia) bezieht (dynamis pros ousian 221) und dabei eine weitere Komplementär-Verklammerung eingeht, nun mit dem Begriff der energeia kat' ousian. Ich fasse diese zweite Erweiterung in Anlehnung an Foucault als eine zweite begriffliche ›Operation‹ auf, da sie der Gesamtkonfiguration des Begriffs der dynamis eine nachhaltige Neuerung in Form einer zweiten Begriffsebene gegeben hat.

In Met. V kam Aristoteles ja noch ganz ohne den Begriff der energeia aus. Aristoteles verwendet diese Bezeichnung selbst nicht, sie ist hier übernommen von Menn (unv.), IIIa2, 2. 220

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6.3.4 Die zweite Begriffsebene: die ›ontologische‹ dynamis (K9)

Die Erweiterung der kinetischen dynamis. Gleich zu Beginn von Metaphysik IX führt Aristoteles aus, dass die kinetische dynamis »zwar die eigentlichste [malista kurio¯ s]« Verwendung von dynamis sei – was die Interpretation der kinetischen dynamis als begriffliche Basisebene stützt –, sie jedoch für die Untersuchung des Seienden als Seiendes »nicht die dienlichste« sei, es mit anderen Worten also eine geeignetere Verwendung / einen passenderen Typ von dynamis für die Erörterung des Seienden gebe, denn »Vermögen [dynamis] und Wirklichkeit [energeia] erstrecken sich weiter [epi pleon] als nur auf das in Bewegung Befindliche [kata kine¯sin].« (Met. IX 1, 1045b35–1046a2) Aus der Perspektive von Met. IX erscheint die dynamis »in einem anderen Sinne [legomen [. . .] hetero¯ s]« (1048a28–30) als dynamis in einem weiteren oder erweiterten Sinne, hingegen die bekannte dynamis kata kine¯sin durch ihr begrenztes Bezugs- und Anwendungsfeld zur der Bewegung und Veränderung als dynamis in einem engeren Sinne. 222 Ausgehend von der bewegungsbezüglichen Konzeption, die selbst auf den alltäglichen Sprachgebrauch und die medizinischphysiologische Verwendung 223 zurückweist, entwickelt Aristoteles eine begriffliche Erweiterung, die sich als zweite begriffliche Operation am Begriff der dynamis verstehen lässt. 224 In der Aristoteles-Forschung wird seit langem über i) den epistemologischen Status (sind es zwei Arten von dynamis, zwei Typen, zwei Bedeutungen, zwei Verwendungen?), ii) über das Verhältnis dieser beiden Formen von dynamis zueinander und iii) über die spezifische Kontextualisierung der Einführung einer (er)weiter(nd)en dynamis und ihre Verbindung zum Begriff der energeia in Met. IX diskutiert: Dient sie der Vollendung und Vertiefung der Ausführungen zur ›Substanz‹ (ousia) in den Büchern Z und H der Metaphysik? Ist sie in sich eigenständig oder eine Vorbereitung auf die Einführung der energeia als (ultimativ) erstes Prinzip und göttliche Substanz in Buch XII (Lamda) der Metaphysik 225? In diesen Diskussionspunkten haben sich zwei große Lesarten hervorgetan: Eine Lesart geht davon aus, dass Aristoteles zwei verschiedene Arten und auch zwei Begriffe von dynamis gegenüberstellt, wobei dem sogenannten ontologischen dynamis-Begriff häufig das Hauptgewicht für seine metaphysische Abhandlung, aber auch generell in Verbindung mit dem Begriff der energeia als ›technisches Begriffspaar‹ beige-

Vgl. Ide (1992). Vgl. Kap. 5.1.1. 224 Das spiegelt sich auch ganz anschaulich an dem Aufbau des Buches The ¯ ta: Die ersten 5 Kapitel widmen sich der dynamis kata kine¯ sin, Kapitel 6 bis 9 der dynamis im erweiterten Sinne. 225 Siehe z. B. Menn (1994), (unv.), Anagnostopoulos (2011). 222 223

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messen wird. 226 Die andere große Lesart vermeidet es, von zwei Arten und Begriffen der dynamis zu sprechen, vielmehr begreift sie die Einführung der zweiten dynamis-Konzeption als Erweiterung oder Vertiefung der kinetischen dynamis, und verfolgt daher einen ›unitarischen‹ Ansatz zur Interpretation des dynamis-Begriffs. Erstere Lesart kann auch als ›diskontinuierliche‹, letztere als ›kontinuierliche‹ Lesart bezeichnet werden. 227 Ich vertrete eine kontinuierliche Lesart, die die Einführung einer anderen ›Verwendung‹ und – ich nenne es: ›Konfiguration‹ von dynamis – als analytisch und diagrammatisch zweite Ebene im Sinne einer ›Erweiterung‹ und ›Transposition‹ des Begriffs der dynamis begreift. Ausblick. Eine zweifache Erweiterung. Im Folgenden soll es darum gehen, die begriffliche Auffaltung oder Erweiterung der dynamis kata kine¯sin zu einer dynamis mit ›ontologischem‹ Bezug und deren komplementären Bezug zum Begriff der energeia als zweite Ebene im dynamis-Begriff schrittweise zu plausibilisieren. Aristoteles führt selbst mit einigem Aufwand zu dieser zweiten Konfiguration von dynamis, die sich, wie er sagt, nicht durch Definition, sondern besser anhand von Beispielen und durch Induktion und Analogie erschließen lasse (Met. IX 6, 1048a35–7). Genau genommen unternimmt Aristoteles zum einen eine Erweiterung der dynamis als Vermögen in Bezug auf ein neues Anwendungsfeld und zum anderen eine Erweiterung in Form eines 226 In dieser Lesart werden die beiden Begriffe als zwei distinkte Arten von dynamis gedeutet und die Differenz terminologisch durch zwei verschiedene Übersetzungen untermalt, z. B. mit ›capacity‹, ›power‹, ›potency‹, ›Vermögen‹ für die dynamis kata kine¯ sin und ›potentiality‹ für die ›ontologische‹ dynamis, die in Met. IX 6 eingeführt wird (siehe z. B. Makin [2006], Witt [2003]). Bezugspunkt dieser Interpretation und terminologischen Strategie ist der grammatikalische Wechsel vom Nominativ (dynamis) zu einer adverbialen Dativkonstruktion dynamei on (»das was dem Vermögen nach oder ›möglich‹ ist«); der Dativ dynamei bezieht sich in Met. IX 6–9 adverbial auf das Verb ›sein‹. Die Dativkonstruktion wird häufig auch mit der ›dienlichen‹ (kre¯ sime¯ oder kre¯ simo¯ tate¯ ) Verwendung von dynamis korreliert, was Anagnostopoulos (2011), 392–395, das »Terminological Principle« dieser Lesart nennt. Seiner Auffassung nach – er bezieht sich hauptsächlich auf Frede (1994) und Makin (2006) als Vertreter einer opponenten Lesart – sei das Terminologische Prinzip häufig mit einer Auffasung von dynamis als Potentilität geknüpft, und in dieser Kopplung die »dominante Interpretation« von Metaphysik IX. Das terminologische Prinzip begegnet einem tatsächlich häufig in lexikalen Überblicksdarstellungen, die die dynamis unstrukturiert mit einem oder unexpliziert mit mehreren Termini übersetzen. 227 Für einen Überblick über die Lesarten vgl. S. 123, Fn. 50. Diskontinuierliche Interpretationen sind meiner Einschätzung heute eher in der Minderzahl; zu finden bei Graham (1987), (1990), Cao (2012). Makin (2006) nimmt eine Mittelposition ein, indem er von zwei »manifestations« der begrifflichen Zuständlichkeiten von potentiality and actuality spricht (ebd., xv). Außerdem lässt sich eine dritte, gegenwärtig aber eher marginale, Lesart ausmachen, die die begriffliche Differenzierung als Abbild einer Entwicklung der aristotelischen Philosophie und ihrer Emanzipation von den Grundzügen der Philosophie Platons interpretiert und daher ›evolutionistische‹ Lesart genannt werden kann (z. B: Gohlke [1943], Graham [1987]), sie neigt eher zu einer diskontinuierlichen Auslegung.

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kategorialen Wechsels des Bezugs. Für das neue Anwendungsfeld gilt, dass das Vermögen zu einer Bewegung bzw. verändernden und herstellenden Tätigkeit nun außerdem als Vermögen zu einer nicht verändernden Tätigkeit konzipiert werden kann, dessen Ziel nicht außerhalb, sondern in der Tätigkeit selbst liegt. 228 Beispiele für solche Tätigkeiten (energeiai), die in ihrer Dauer nicht konstitutiv zu einer (Zustands-)Veränderung an einem anderen und in dem Vermögensträger führen, sind Leben, Nachdenken und Betrachten (deren Effekt gleichwohl sein kann, dass jemand zu einer veränderten Einstellung oder Bewertung gegenüber einer Sache kommt). 229 Diese Form der Erweiterung in Bezug auf die Anwendung dient zugleich zur Kontrastierung mit der zweiten Form von Erweiterung. Die zweite Form von Erweiterung wechselt das Bezugsund Anwendungsfeld kategorial, nämlich von Bewegungen und Tätigkeiten in den Kategorien der Quantität, Qualität, Ort auf die Kategorie von Sein (ousia) selbst. Das Vermögen und vermögendsein (fähig sein) zu φ (dynaton) bezieht sich dann nicht mehr auf eine Tätigkeit oder Bewegung, sondern auf die Existenzweise eines Dinges. So gesehen differenziert sich die Erweiterung (bzw. zweite Begriffsebene) in zwei Erweiterungsmodi, wobei die eine kategorial ist und ich daher von einer weiteren ›Konfiguration‹ von dynamis spreche und die andere eine nicht-kategoriale Bezugserweiterung im Feld der Tätigkeiten darstellt. 230 Schwerpunktmäßig werde ich auf die zweite Erweiterung, die NeuKonfiguration der dynamis, eingehen. 228 Vgl. Gill (2004), 12. Für Beere stellt sich diese Erweiterung von dynamis als Ausweitung von einer Konzeption als ›power‹ zu einer Konzeption als ›capacity‹ dar (Beere [2009], 170). Es ist fraglich, ob diese begriffliche Zuschreibung gewinnbringend für die Interpretation ist, denn die rationalen Vermögen verstehen sich ad hoc eher als Vermögen (capacities) denn als als ›powers‹, obgleich sie für Aristoteles gerade einen Subtyp von ›power‹ darstellen. Es erscheint daher sinnvoller, einerseits von ursächlichen und herstellenden Veränderungsvermögen, die auf eine Wirkung hin ausgerichtet sind, zu sprechen (im Sinne von ›causal powers‹ und ›productive / effective powers‹) und andererseits zwischen verändernden und nicht-verändernden Tätigkeitsvermögen zu unterscheiden. 229 In der Aristoteles-Forschung wurde eine Zeit lang sehr intensiv das begriffliche Verhältnis von kine¯ sis und energeia diskutiert (vgl. z. B. Ackrill [1965]; White [1980]; Liske [1991]; Heinaman [1995]; Gill [2004]), wobei sich die divergierenden Interpretationen insbesondere um die Passage Met. IX 8, 1048b18–35 drehten. Nachdem Myles Burnyeat (2008) herausgearbeitet hat, dass genau diese Passage nicht von Aristoteles stammt, hat diese Diskussion ihre Grundlage verloren. Für einen neuen Anlauf anhand von Passagen in der Physik siehe Anagnostopoulos (2017). 230 Liske (1996), 264–268, unterscheidet deshalb auch analytisch nicht zu unrecht »drei Grundformen des Vermögens«, die Aristoteles in Metaphysik The¯ ta anhand von »drei Grundbedeutungen von energeia« ausdifferenziert. Beeres Interpretation geht in die gleiche Richtung, wenn er zwischen zwei Erweiterungsarten unterscheidet: »there is also another kind of innovation in the use of the term ›dunamis‹, not an expansion of its extension but a new way of using the term. This is what Aristotle means by ›another way‹ in which things are called ›capable‹ (dunaton): using the noun, dunamis to modify the verb ›to be‹, to say that something is in capacity.« (Beere [2009], 170–171, Herv. i. O.).

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Zwei Argumentationsschritte. Die kinetische dynamis gilt es nun von einer physischen, rein bewegungsbezüglichen auf eine ontologische Betrachtungsebene zu transponieren. Dabei helfen die vorangegangenen Ausführungen unter der Komponente (K8) zur Agentiv-patentiv-Unterscheidung. In einem Zwischenschritt zur Erweiterung der dynamis fungiert die Beschreibung und Definition von Bewegung aus Physik III 1–3 als eine Art Relais, da sie durch ihre triadische prinzipientheoretische Erfassung und duale Agentiv-patentiv-Strukturierung die auf die Existenzweise von Einzeldingen zielende, ontologische Perspektivierung des ›dem Vermögen nach-Seienden‹ und des ›der Wirklichkeit nach Seienden‹ vorbereitet. 231 Entsprechend wird zunächst auf die Bewegungsdefinitionen, die Aristoteles in seiner Physik gibt, eingegangen (a), um sodann die kategoriale begriffliche Erweiterung (neue Konfiguration) der dynamis in Met. IX 6–8 zu skizzieren (b).

a) Dynamis in der Definition von Bewegung (Phys. III 1–3)

Das Wirksamsein und die Vollendetheit der dynamis. Bisher wurde festgehalten: Bewegung und Veränderung ist die gegenseitige Aktivierung einer agentiven und einer patentiven dynamis, verstanden als Bewegungsvermögen bzw. Anfänge von Bewegung. Die gegenseitige Aktivierung der korrelativen und korrespondierenden Vermögen lässt sich zugleich als deren Wirksamwerden und -sein auffassen (energein). Dieses Wirksamsein lässt sich substantivisch auch als ›Tätigkeit‹, ›Ausübung‹, ›Wirken‹, im Englischen: ›activity‹, oder eben als ›Bewegen‹ der agentiven dynamis verstehen. 232 Tätigkeit, Aktivität, Wirken 231 Diese Interpretationsstrategie des Rückgriffs auf die Bewegungsdefinition von Aristoteles in Physik III 1–3 als erklärendes »Zwischenglied« zwischen dynamis und energeia in Bezug auf Bewegung und dynamis (und energeia) als Seinskategorie (Elm [2001], 92) findet sich auch bei Heidegger (1981), Tugendhat (52003), Wolf (22020), Liske (1996), Elm (2001), Gill (2004), Aichele (2009), angedeutet bei Beere (2009), 158, 204, und explizit bei Sentesy (2017). Unter diesen orientiere ich mich insbesondere an den sehr schlüssigen Interpretationen von Elm (2001), Aichele (2009) und Beere (2009). Eine alternative Interpretationsstrategie zur Erklärung des Übergangs und Verhältnisses der dynamis kata kine¯ sin zu ihrer erweiterten Verwendung liegt im Rekurs auf die Unterscheidung von dynamis und energeia erster und zweiter Ordnung in De anima II, siehe z. B. Johanson (2012). Auf alternative Interpretationswege ebenso wie auf eine Gesamtbetrachtung von Metaphysik IX kann und soll aus Gründen der Konsistenz nicht weiter eingegangen werden. 232 Elm (2001), 90; Beere (2009), 167; Broadie (2010). Genau wie die Übersetzung der kinetischen dynamis mit ›Potentialität‹ oder ›Möglichkeit‹, so ist auch die (geläufige) Übersetzung der entsprechenden energeia mit dem modal konnotierten Wort ›Aktualisierung‹ (›actualization‹) irreführend, vgl. zur Argumentation z. B. Kostman (1987), Brague (1990), Beere (2009) und Anagnostopoulos (2010). Kosman (1969), 41, argumentiert für die Übersetzung und Deutung von energeia mit »actualizing«. Gegenüber einer Übersetzung mit ›activity‹ ist Brague (1990), 8–9, skeptisch,

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sind darin selbst Ausdrücke für eine Bewegung, weshalb man diese energeia auch analog zur dynamis kata kine¯sin als energeia kata kine¯sin bezeichnen kann. 233 Bewegung wurde in der bisherigen diagrammatischen Untersuchung aus der Perspektive der zusammenspielenden Entitäten und dynameis, und damit prinzipientheoretisch und strukturell 234, betrachtet. Aristoteles präsentiert in der Physik aber nicht nur eine strukturelle Beschreibung von Bewegung, sondern auch eine Definition von Bewegung. In der Definition von Bewegung in Physik III 1–3 235 tritt der Begriff der dynamis in einer gegenüber der dynamis kata kine¯sin aus Metaphysik V 12 veränderten grammatikalischen Form und in enger Verbindung mit dem Begriff der energeia und entelecheia auf. Es wurde bereits davon gesprochen, ohne die darin veränderte Form, besser: Konfiguration der dynamis selbst zu explizieren. Das soll jetzt nachgeholt werden. Bewegung definiert Aristoteles in mehreren Formulierungsanläufen. Eine Definition lautet wie folgt: Bewegung [kine¯sis] ist die Vollendetheit [entelecheia] des dem Vermögen nach Seienden [dynamei ontos], sofern das der Vollendetheit nach Seiende tätig ist [entelecheia on energe¯i], nicht als es selbst, sondern als Bewegbares [kine¯ton]. (Phys. III 1, 201a27–29; Übers. nach Aichele [2009], 193)

Und in allgemeiner Kurzformel ist Bewegung: die Vollendetheit [entelecheia] des Vermögenden als eines Vermögenden [tou dynatou, he¯ dynaton]. (Phys. III 1, 201b4–5; Übers. Aichele [2009], 193)

Die Bewegungsdefinition verlegt den Akzent erstens auf dasjenige, was bewegt wird, also auf dasjenige, an dem sich die Bewegung als Aktivierung des Vermögens, bewegt werden zu können (patentive dynamis), durch eine agentive dynamis vollzieht. Bewegung ist genau diese Aktivität oder ›Aktiviertheit‹ der agentiven dynamis. Die volle Aktivierung wiederum ist zweitens zugleich die ›Vollendetheit‹ eben der patentiven dynamis bzw. des Vermögenden (dynaton). 236 Bewegung wird von Aristoteles, so ließe sich die Definition auf eine weitere Kurzformel bringen, definiert als the »patient's activity of suffering.« 237 wenngleich er ihr eine gewisse Berechtigung zugesteht. Wolf (22020), 27–64, hat vortrefflich gezeigt, wie sich auch die ontologische dynamis konsequent mit ›Vermögen‹ übersetzen lässt. 233 Vgl. Heidegger (1981), 214–224. 234 Vgl. Kap. 6.3.1 b) (K6). 235 Ich greife für diesen Abschnitt unterstützend auf die Übersetzungen von Aichele (2009) zurück. 236 Phänomenologisch formuliert ist Bewegung die Vollendung der in die Präsenz (Wirklichkeit) heraustretenden dynamis zum Bewegtwerdenkönnen. Vgl. Tugendhat (52003), 88–94, Aichele (2009), 194. 237 Anagnostopoulos (2010), 60.

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Aristoteles setzt damit den Begriff der dynamis auch hier wieder in ein korrelatives Verhältnis zu ihrer teleologisch angestrebten Zuständlichkeit als aktivierte dynamis. Ist diese Aktivität (energeia) auf ein Ziel ausgerichtet und darin in Vollendung begriffene Aktivität, liegt Bewegung vor. Aristoteles greift hier zur Illustration wieder auf sein Paradebeispiel des Bauens zurück: Die Vollendung des Vermögens des (Ver-)Baubaren ist die Tätigkeit des Bauens (energeia) selbst; sobald das Haus als telos des Bauens steht, ist wiederum das Bauen als Aktivität vollendet (Phys. III 1, 201a7–11). Darin zeichnet sich bereits die Mehrdeutigkeit des zur dynamis komplementären Begriffs der energeia ab: »Einmal ist der Verwirklichungsvollzug« – oder besser mit Zekl: die »tätige Verwirklichung« –, dann aber auch »das Verwirklichte selbst gemeint«. 238 Mit Elm lässt sich deshalb sagen, dass Bewegung und damit ihre Komponenten der dynamis und energeia »wirklichkeitsbildend« sind: »Dynamis und Energeia sind so auf eine erst sich (in der Bewegung) bildende Wirklichkeit bezogen [. . .].« 239 Bewegung als ein Dazwischen. Während die Bewegungsdefinition noch deutlich von dem Zusammenspiel der korrelativen dynameis bzw. der Agentivpatentiv-Unterscheidung als einer Art Hintergrundfolie strukturiert ist, rückt zugleich auch eine zweite Akzentverschiebung in den Vordergrund. Nicht mehr die Vermögen als Vermögen bzw. Prinzipien, sondern die Vermögensträger als Seiende bilden die tragenden Elemente der Bewegungsdefinition. Der zweite Akzent liegt hier nun also vielmehr auf der Charakterisierung des mit dem Vermögen zur Bewegung ausgestatteten Vermögensträgers als eben einem (zu einer Bewegung) Vermögenden (to dynaton) im Sinne eines Vermögendseienden (dynamei on) oder eines Seienden, das ein Vermögen φ zu sein hat. 240 Die dynamis bezieht sich hierin auf den Gesamtzustand eines Seienden in seinem ›Seiendsein‹. Grammatikalisch wechselt sie aus dem nominativen Substantiv in einen adverbialen Dativ über als ›dem Vermögen nach F[orm]‹ (dynamei F) oder ›dem Vermögen nach F Seiendes‹ (dynamei on). In der Bewegungsdefinition ist das Vermögendseiende ausschließlich mit Bewegung in Bezug gesetzt, es ist das Bewegbare, das Veränderbare, das selbst aktiviert ist. Der Interpretation von Anagnostopoulos folgend sollte die Bewegung in ihrer Definition eben nicht als ›Aktualisierung‹ eines Vermögens, sondern vielmehr als Aktiviertheit und Tätigkeit eines dem Vermögen nach Seienden begriffen werden: »[C]hange is the activity that a potential being engages in precisely because it is a potential being.« 241 Mit dieser Interpretation lässt sich auch der ontologische Elm (2001), 95. Ebd. 240 Anagnostopoulos (2010), 62–64. 241 Ebd., 35. Anagnostopoulos bringt seinen ›activity‹-Interpretationsansatz gegen die langjährige Standardinterpretation (›consensus interpretation‹) in Stellung, die der Bewegungsdefinition 238 239

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Status von Bewegung präzisieren. Dadurch dass eine Bewegung im Sinne einer Veränderung nicht selbst ihr Produkt oder Telos umfasst, also dasjenige, was sie als Produkt oder Bestimmtheit (Form) in einem anderen hervorbringt, sondern jenes immer nur ihr angestrebtes Außen bleibt, ist sie selbst immer nur auf dem Weg zum Wirklichen, zur ›Wirklichkeit‹. 242 Bewegung ist selbst also immer ein Unabgeschlossenes, ein Dazwischen, und ein ›Proto- oder Prä-Wirkliches‹, das seinen Anfang in der auf die Bewegung ausgerichteten dynamis hat. Auf begrifflicher Ebene wird der Begriff der dynamis hier gegenüber dem Tableau der dynamis kata kine¯sin einerseits konzeptuell erweitert, in dem sich die dynamis nun auch auf das Verb ›sein‹ bezieht, andererseits aber noch nicht auf das Seiende als Seiendes (sondern immer noch Seiendes als Bewegtseiendes) angewendet. Dieser Schritt erfolgt explizit in Met. IX 6.

b) Die dynamis und energeia in Bezug auf Substanz (ousia)

Der zweite Erweiterungsschritt, die Neukonfiguration der dynamis, wird seinerseits gleich zu Beginn von Metaphysik IX von Aristoteles eingerahmt als Teil der Untersuchung des Seienden (als solchem) (to on) (Met. IX 1, 1045b27– 35). 243 Um nun diesen Kontext der begrifflichen Erweiterung der dynamis und damit jene selbst zu verstehen, sei zunächst kursorisch vergegenwärtigt, was Aristoteles unter dem Seienden (den Substanzen) und seinem Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Bewegung versteht. zunächst eine Zirkularität insinuieren und dann durch verschiedene Interpretations- und Ergänzungsstrategien zur Auflösung bringen will. Die ganze Diskussion um mögliche Zirkelaspekte und terminologische Schwierigkeiten in der Bewegungsdefinition bleiben hier ausgespart. 242 Die Bewegungsdefinition lässt sich auch auffassen als Vertiefung oder Reformulierung des prinzipientheoretischen Ansatzes von Bewegung in Physik I.7 und I.8 (Bewegung erfasst über die drei Bewegungsprinzipien Form, Materie und Privation). So etwa mit Gill: »In contexts of change an agent conveys to a patient a form that the patient is suited to have but actually lacks. Initially the agent and the patient are unlike because the agent’s active potency (φa) is opposed to the patient’s lack (∼φ). By means of change the agent ›assimilates‹ the patient to itself; the agent imposes on the patient the form that is the goal of its own active potency.« (Gill [2004], 10–11). 243 Die Untersuchung des Seienden als solchem verläuft selbst über mehrere Vorgehensweisen – Dialektik, Demonstration, Induktion, Aporetik und Analogiebildung – und Hauptpfade: die Untersuchung verschiedener Aussageweisen (pollachos legomenon) und kategorialer Bestimmungen des primär Seienden zum einen (das ist die sprachliche und kategoriale Dimension der Erkenntnis des Seienden) und zum anderen die Identifizierung der Prinzipien und Ursachen des wahrnehmbaren Seienden, um ihre allgemeinen, an und in sich invarianten Strukturmerkmale herauszuarbeiten (das ist die formal-ontologische und archai-o-logische Dimension der Untersuchung des Seienden) (vgl. Flashar [2013], 220–221; Menn [unv.], IIIa1). Zum verschränkten Verhältnis von Sprache und Ontologie bei Aristoteles (und Heidegger) siehe Pantoulias (2014).

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Substanzen (ousiai) in Bewegung. Für Aristoteles ist das Seiende das Wirkliche. Im Gegensatz zu Platons Position sind eben nicht Ideen oder abstrakte Formen das im ersten Sinne Seiende, vielmehr bilden für Aristoteles die Einzeldinge – der Stein, das Pferd, der Mensch, Luft und Erde – die Wirklichkeit (Met. VII 16, 1040b). Die paradigmatischen Instanzen und Einheiten des Wirklichen sind für Aristoteles wiederum die lebendigen Organismen. In ihrem Gewordensein, vor allem aber in ihrem Eins- und Einzelsein, ihrer selbstständigen und getrennten Existenz (sie können nicht von etwas anderem ausgesagt werden) bilden sie das primär Seiende. 244 Aristoteles nennt sie deshalb auch (sowohl in der Kategorienschrift als auch in der Metaphysik) »Substanzen« (ousiai): das Wirklichkeit Prinzipiierende und Fundierende. Die Untersuchung von Substanzen bildet in ihrem Durchgang durch die Physik hin zur Theorie der Ersten Prinzipien und Ursachen ein Exemplum für das Untersuchungsfeld der ›Meta-Physik‹, so wie es bereits unter dem diagrammatischen Untersuchungsaspekt des theoretischen Terrains (K5) skizziert wurde. Denn indem nun die Prinzipien und Ursachen dieser Substanzen (= des organischen Natürlichseienden) ergründet werden, erhält man nicht nur Auskunft über die prinzipielle Struktur des Natürlichseienden und seiner ursächlichen Bedingtheit und Bewegtheit (das ist die Perspektivierung der Zweiten Philosophie), sondern zugleich auch Einsicht in die Prinzipien des wahrnehmbaren Wirklichen, »insofern es ist« (und nicht wird). 245 Letztere sollen selbst wiederum auf die Prinzipien der unbewegten (göttlichen) Substanz (= die Ersten Prinzipien; Gott) und die himmlischen Beweger verweisen (das ist die Perspektivierung der Ersten Philosophie). 246 Das, was an den Substanzen (ousiai) selbst ist, sie also in ihrem spezifischen Substanzsein (»Was-es-heißt-dies-zu-sein« von X, to ti e¯n einai 247) (mit-)konstituiert, kann sowohl als Form (eidos) als auch selbst wiederum als ihr Sosein (to ti e¯n einai) (Wesen) aufgefasst werden. 248 So ist bspw. ein Pferd als lebendiges Pferd ein Pferd und gerade in dem Pferdsein als seiner Bestimmung die volle Wirklichkeit: Es bewegt sich nicht mehr auf die ›Pferdheit‹ oder das ›Pferdsein‹ zu, sondern ist es. 249 Wesen (ousia) und Form geben 244 Selbstständigsein und Bestimmtheit, das heißt bestimmende Form (tode ti) zu haben, sind wesentliche Eigenschaften, die den Substanzen zu kommen: »Denn selbstständige Abtrennbarkeit [koriston] und [eine] Bestimmtheit [to tode ti] (das Dies-da) wird am meisten dem Wesen [ousia] zugeschrieben.« (Met. VII 3, 1029a27–28). 245 Buchheim (22016), 66 (Herv. L. B.). 246 Ebd., 65–66. 247 Detel (2009), 177. 248 Ousia, Substanz, wird selbst auf verschiedene Weise ausgesagt, siehe Met. V 8, vgl. VII 3. 249 Dazu Aristoteles: »Denn selbständige Abtrennbarkeit [to ko ¯ riston] und Bestimmtheit (das Dies-da) [to tode ti] wird am meisten der Substanz [ousia] zugeschrieben.« (Met. VII 3, 1029a27– 8; Übers. modifiziert, orientiert an Buchheim [22016], 78) Die komplexe Substanztheorie von Ari-

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der materiellen Basis einer Substanz eine Bestimmtheit, sie sind – ebenso wie Materie (hyle¯) – an sich unbewegte Prinzipien bzw. Ursachen der Substanzen (vgl. Met. VII und VIII). Daraus lassen sich zwei wichtige Gedankenfiguren von Aristoteles' Meta-Physik festhalten: (i) Lebendige Substanzen (Lebewesen) sind als Komposita aus Materie- und Formanteilen begreifbar: Materie (hyle¯) und Form / Gestalt (eidos, morphe¯) bilden zwei Grundprinzipen des Seienden. Dies ist die berühmte Figur des ›Hylemorphismus‹. Die Analyse der Einzeldinge auf ihre Materie und Form wird bereits in der Physik (I und II) eingeführt, in den sogenannten ›Substanzbüchern‹ Metaphysik VII und VIII (einige zählen hierunter auch IX) direkt aufgegriffen und zu einem wesentlichen Bestandteil der meta-physischen Analyse des Seienden als Substanzen weiterentwickelt. 250 (ii) Insofern den an sich bewegten und sich selbst bewegenden Substanzen auch ein Unbewegtes (die Form) inhäriert 251, sind die paradigmatischen Substanzen sowohl mit den Prinzipien der Bewegung als auch mit dem Unbewegten verknüpft – sie verbinden beide Prinzipientypen in sich. 252 Daraus folgt: Mit dem Wirklichen als Seienden verknüpft Aristoteles – in diesem Punkt sehr wohl in der Nachfolge von Platon – ein an sich Unbewegtes (die Form), das zugleich Telos und Bedingung des bewegten Seienden ist. 253 Die für Aristoteles ›klassischen‹ Substanzen, die Lebewesen, zeichnen sich so gesehen eben genau dadurch aus, in einem unaufhörlich sich abwechselnden Fluss von Ruhe (= das Zum-Ziel-Gekommensein, die Form-Annahme) und Bewegung (= der Umschlag, Wechsel von Privation einer Form zur Annahme einer Form), kurz: in Bewegtheit zu sein. Eugen Fink hat diese durchgängige Vitalität des Natürlichseienden, die zugleich als eine Fundierung aller telelogischen Strukturmomente durch Bewegung bei Aristoteles zu verstehen ist 254, pointiert zusammengefasst: stoteles sei hier nur in aller Kürze überflogen im Hinblick darauf, wie sie für das Verständnis der dynamis pros ousian erforderlich ist. Für ausführliche Darstellungen sei verwiesen auf Steinfarth (1991), Witt (1994) und Moradi (2013); eine guten Forschungsüberblick zur Substanzthematik bietet Detel (2009), 203–242. 250 Detel (2009), 150–151. 251 Vgl. zu den verschiedenen Weisen des »In-Seins« bzw. der »Immanenz der Formen« Buchheim (2002). 252 Vgl. Coope (2015). 253 Auf eine gewisse Weise ist alles wahrnehmbare Natürlichseinde auch mit dem Ersten unbewegten Beweger in seiner ewigen Bewegung als logische Grundbedingung aller endlichen Bewegungen, die ousia und energeia der endlichen Substanzen mit der ersten Bewegung des Ersten Bewegers verbunden. Dieser Aspekt ist hier aber nicht weiter relevant; zentrale Referenzstellen dafür sind Phys. VIII und Met. XII. Für eine knappe und pointierte Darstellung hierzu siehe Quarantotto (2015) und Falcon (2015). 254 Aichele (2009), 152–156, weist daher zurecht daraufhin, dass Aristoteles’ Substanzontologie im Grunde als eine Prozessontologie oder »dynamische Ontologie« gelesen werden muss. In seiner Interpretation, die an die Interpretation von Walter Bröcker und Eugen Fink (beide Schüler von

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»Eine Bewegung hebt an aus der Ruhe und endet wieder in Ruhe. Ein Ding ist in Bewegung zwischen zwei Ruhelagen. [. . .] Gleichwohl wissen wir auch immer schon, daß diese abgegrenzten Bewegungen nur Phasen in unabsehbaren Bewegungskontinuen darstellen«. 255 Wenn wir uns die Existenzweise einfacher wie komplexer Organismen vor Augen führen, ist die Konzeption von Lebewesen als durchgängige Regung und Bewegtheit im Ganzen oder in Teilen tatsächlich sehr plausibel. Selbst im Schlaf finden sehr viele Prozesse im Lebewesen statt. Organismen befinden sich naturgemäß unentwegt in einem Unterwegssein. Aus der Perspektive der Ersten Philosophie bildet dieses selbstständige Einzelsein die Wirklichkeit als teleologischen und punktuellen ›Ruhepunkt‹ inmitten der substanziellen und akzidentiellen Bewegungen. Einsatzort der Erweiterung der dynamis. Nachdem Aristoteles in den Büchern VII und VIII in der Metaphysik die Prinzipien, Materie und Form und das Wesen (ousia) vorgestellt und somit eine Dimension der Prinzipien des Seienden erkundet hat, die die strukturelle Integrität des Seienden als unabhängiges Einzelsein absichern, stellt er nun in Buch IX eine weitere Dimension oder Typen von Prinzipien des Seienden vor. Die dazu herangezogenen Begriffe sind bereits aus der Bewegungsbeschreibung und -definition bekannt: dynamis, energeia und entelecheia. 256 Insofern die Bewegungsanalyse ihrerseits den Weg zum Wirklichen legt, überrascht es nicht, dass Aristoteles die hylemorphistische Prinzipienanalyse der Substanz nun in Metaphysik IX mit den Prinzipien der Bewegung zusammenführt, um die Analyse des Seienden durch eine weitere Dimension, nämlich die Dimension der Seinsmodi oder ›Wirklichkeitsgrade‹, zu komplettieren 257: Heidegger) anschließt, liegt den Bewegungskontinuen am Natürlichseienden eine metaphysische Grundbewegung als Bedingung der Möglichkeit der partiellen Bewegungen voraus. 255 Fink (1957), 171. 256 Zugleich hat Aristoteles diese Begriffe bereits im Rahmen der Untersuchung des Seienden in mehrfacher Bedeutung als zusätzliche, auf den Wirklichkeitsstatus zielende Dimension neben der Dimension des Akzidentiellen, der Dimension der Wahrheit und der Dimension der kategorialen Aussageweise (vgl. Met. IV, 1003a33–b18) benannt (Met. VI, 1026a33–b2). 257 Der Übergang von der hylemorphistischen Prinzipienanalyse des Seienden in ihrer Substantialität (Was-Sein) zur, wie ich es zu nennen vorzuschlage, ›zustands- oder wirklichkeitsbezogenen Prinzipienanalyse‹ des Seienden wird über die vorangehenden Substanzbücher hinweg geebnet, indem Aristoteles diese Prinzipien bereits in Met. VII 16 (1041b5, b12) ankündigt und in VIII (insbesondere VIII 6) in Bezug auf das Verhältnis von Materie und Form an einem Materie-FormKomplex (Organismus) anwendet: Materie liege in einem Materie-Form-Komplex dem Vermögen nach seiend und die Form als der Wirklichkeit nach seiend vor (Met. VIII 6, 1045a23–25). Wie stark der Zusammenhang zwischen den Büchern Metaphysik VII, VIII mit IX tatsächlich ist, oder ob und inwieweit Buch IX unabhängig von zentralen ›Substanzbüchern‹ zu betrachten ist, bildet einen gewichtigen und kontroversen Diskussionspunkt in der Forschung. Ich orientiere mich in dieser Hinsicht an den Interpretationen von Beere (2009), 21–23, und Menn (unv.), IIIa1, 2, die

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Da nun das Seiende [to on] einmal als ein Was [to ti] oder ein Qualitatives oder ein Quantitatives, andererseits nach Vermögen (Möglichkeit) und Vollendung (Wirklichkeit) und nach dem Werk [kata dynamin kai entelecheian kai kata to ergon] bezeichnet wird, so wollen wir auch über Vermögen und Vollendung [peri dynameo¯ s kai entelecheias] genauere Bestimmungen geben. (Met. IX 1, 1045b32–35)

Dynamis und energeia, entelecheia werden nun also als Prinzipien näher bestimmt, die Auskunft geben über das Seiende bzw. die Substanzen in ihrer ›Zuständlichkeit‹ im Ganzen oder in ihrer ›Seinsweise‹, ihrem ›Wirklichkeitsgrad‹ oder anders formuliert: dem »Modus des Vorliegens« von Substanzen. 258 Genau genommen kündigt Aristoteles an, die erweiterte Konzeption der dynamis im Rahmen der Erläuterung des erweiterten Begriffs von Wirklichkeit (energeia, entelecheia) einzuführen (Met. IX 1, 1046a2–4). Doch anstatt direkt mit der weiteren Konzeption des bereits in der Bewegungsdefinition in Korrelation gesetzten Begriffspaares dynamis und energeia einzusteigen, nimmt Aristoteles einen ausführlichen Vorlauf über die kinetische dynamis, so wie sie bereits in Met. V 12 vorgestellt worden ist: Und zuerst über Vermögen in der Bedeutung, die zwar die eigentlichste [malista kurio¯ s], aber für unseren gegenwärtigen Zweck nicht die dienlichste [me¯n kre¯sime¯] ist; denn Vermögen und Wirklichkeit erstrecken sich weiter [epi pleon] als nur auf das in Bewegung befindliche [kata kine¯sin]. (Met. IX 1, 1045b35– 1046a2, Übers. leicht modifiziert)

Für viele Interpret:innen hat das für Verwunderung gesorgt. Erinnern wir uns allerdings an Aristoteles' methodische Maxime des Fortschreitens von dem zunächst der Erkenntnis Näheren (das für uns Bekanntere, der Natur aber Fernere) zum der Natur nach Ersteren (dem für uns zunächst Unbekannten) in der Erkenntnis des Seienden 259, dann spiegelt sich in der Vorgehensweise, die Erweiterung der dynamis erst nach den Ausdifferenzierungen der dynamis sowohl eine enge Verbindung zur Untersuchung der abgetrennten und beweglichen Substanzen in VIII und insbesondere zu VII sehen als auch eine Vorbereitung auf die Untersuchung der nicht wahrnehmbaren Substanzen und deren erste Prinzipien in Buch XII (Lamda). 258 Tugendhat (52003), 90. Buchheim nennt es auch ein »Differenzverhältnis [. . .] im natürlich Existierenden«, wobei er dann gerade diese Differenz von dynamis und energeia als das »zweite[] Prinzip« neben der physis als erstes Prinzip der Seinswissenschaft identifiziert (Buchheim [22016], 83–86). 259 Vgl. Kap. 6.2.1 (K3). Während eine didaktische Deutung des Vorgehens und Zusammenhangs beider dynamis-Konzeptionen in Metaphysik The¯ ta in der Rezeption recht verbreitet ist, deuten nur wenige Interpret:innen des aristotelischen dynamis-Begriffs die Vorgehensweise speziell vor dem Hintergrund der methodisch-epistemologischen Maxime, die Aristoteles in der Physik einführt.

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kata kine¯sin in der zweiten Hälfte von Buch The¯ta einzuführen, genau dieses methodische Prinzip der zweischrittigen Verfahrensweise wieder. 260 Erweiterung per Analogie. Die erweiterte Konzeption von dynamis lasse sich, so Aristoteles, nicht durch Definition, sondern besser anhand von Beispielen und durch Induktion und Analogie erschließen (Met. IX 6, 1048a35– 37). Beginnen wir mit den Beispielen, die Aristoteles im Zuge der begrifflichen Erweiterung zur Veranschaulichung von dynamis in Bezug auf ›Sein‹ anführt: Als ›der Möglichkeit [dem Vermögen] nach vorhanden‹ bezeichnen wir [legomen de dynamei] z. B. die Hermesstatue im Holz und die halbe Linie in der ganzen, weil man sie abtrennen könnte, und als einen Wissenschaftler der Möglichkeit nach bezeichnen wir auch den, der gerade nicht mit wissenschaftlicher Betrachtung beschäftigt ist, wenn er fähig (δυνατός, dynatos) ist zu wissenschaftlicher Betrachtung; das jeweils andere bezeichnen wir als ›der Wirklichkeit nach vorhanden‹ [to de energeia]. (Met. IX 6, 1048a32–5, Übers. Szlezák)

Aus den Beispielen zeichnen sich bereits mehrere Aspekte der erweiterten dynamis ab: (i) Als Begriff einer Seinsweise geht sie ein neues begriffliches Korrelationsverhältnis ein, sie steht nun nicht mehr primär mit einer entsprechenden patentiven dynamis, sondern mit dem Begriff der energeia in Korrelation, der nun selbst nicht mehr nur eine Wirksamkeit oder Tätigkeit bezeichnet, sondern auf eine Seinsweise verweist. (ii) Die Seinsweisen ›dem Vermögen nach seiend (dynamei)‹ und ›der Wirklichkeit nach seiend (energeia)‹ sind disjunkt (d. h. es gibt keine weiteren Seinsweisen als diese beiden). 261 (iii) Die Seinsweisen sind in ihrer Korrelation zugleich differenziell, komplementär und kontrastiv. 262 (iv) Dynamei F (φ) (vermögend F, F sein könnend) und dynatos F (φ) (vermögend zu, ein Mögliches) sind zwei mögliche Ausdrucksweisen von dynamis im erweiterten Sinne. Wie bereits angedeutet und in Übereinstimmung mit der diagrammatischen Begriffskomponente der Meta-Physik als mehrstufige prinzipientheoretische Untersuchung (K5) seien hier die Seinsweisen ›der Möglichkeit / dem Vermögen nach seiend‹ oder ›in Möglichkeit‹ ihrerseits epistemologisch als weiterer Typ von Prinzipien zur Erfassung des Seienden und 260 Beere charakterisiert das Vorgehen in zwei Schritten als »indirect strategy«, verbindet damit jedoch nicht das genannte epistemologische Methodenprinzip, sondern das eher didaktische Voranschreiten von Begriffen, die auch im alltäglichen Griechisch verwendet werden zu einer erweiterten, technischen Verwendungsweise (Beere [2009], 23–25). 261 Beere (2009), 172. 262 Ich vermeide es hier, von »Inkompatibilität« zu sprechen. Entscheidender als der Aspekt der (In-)Kompatibilität erscheint mir, mit Buchheim (22016), 85, die Differenz im Wirklichkeitszustand, »sozusagen der Abstand in puncto Sein [. . .]«. Für eine ausführliche Besprechung dieses Aspekts in der Rezeption siehe jüngst Sentesy (2018).

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des Seienden als solchen verstanden. 263 Wirkliches ist selbst immer auf dem Weg zu neuen Bestimmtheiten (Formen, Zuständen) und seiner eigenen Vervollkommnung an und aufgrund seiner materiellen Basis (Materie, Substrat). Der Weg, die Bewegung oder der Prozess zu neuer Bestimmtheit, hat einen Ausgang und einen Anfang, nämlich die arche¯ oder das Vermögen zur Bewegung. Per Analogie lässt sich nun die Bedeutung von ›in Wirklichkeit vorliegen‹ erschließen: Es »verhält sich wie Bewegung zum Vermögen (dynamis)« oder wie »Substanz (ousia) zu einem Stoff (hyle)« (Met. IX 6, 1048a8–9). Über diese Wirklichkeitskonzeption erhalten wir wiederum Auskunft über die erweiterte dynamis-Konzeption. Das Bewegungsprinzip wird nun als Seinsprinzip konzipiert und zwar in der Weise, dass es – aus der Perspektive der Differenz von Seinszuständen – der Ausgang und das Anfängliche des Wirklichseienden ist: ein (zu einer Bestimmtheit, Substanz) »Seinkönnendes« (dynamei on). 264 Das Seinkönnende ist einerseits ein Erleidendes, Bewegbares wie in der Bewegungsdefinition (kinoumenon) und darin zugleich auch immer das eine Form / Bestimmtheit Empfangende. Das Seinkönnende verfügt andererseits auch über das Vermögen F zu sein. In dieser Eigenschaft ist das Seinkönnende bzw. das Vermögen F zu sein dem Prinzip der Materie strukturell ähnlich und macht sich durch Analogie erschließbar: Das dem Vermögen nach Seiende, das Mögliche, ist der Materie, wie sie in der Physik als ein Prinzip der Bewegung und in der Metaphysik als ein Prinzip der hylemorphen Substanz beschrieben wird, analog. Durch die doppelte Analogiebildung macht Aristoteles kenntlich, was der weitere Bezugsrahmen ist. Während die dynamis kata kine¯sin ganz ihrem Namen nach auf Bewegungen und Tätigkeiten und damit auf Proto-Wirkliches (›Nicht-ganz-Wirkliches‹) ausgerichtet ist, richtet sich das Vermögen F zu sein / das dem Vermögen nach F Seiende auf substanzielle Verwirklichung, d. h. auf die Wirklichkeit als primär Seiendes (ousia), aus. Die Verwirklichung des Vermögens F zu sein meint, eine bestimmte Form annehmen zu können, und kommt paradigmatisch der Materie als eben dieses Prinzips, eine Form F annehmen zu können, im Rahmen eines Materie-Form-Komplexes zu. Materie ist dabei zu verstehen als ein immer schon auf eine Bestimmtheit ausgerichtetes Prinzip. So ist bspw. das Baumaterial seinem Vermögen nach auf das Bauen (als Bewegung) und auf das Haus als Gebautes (Substanz) ausgerichtet. Das Vermögen F sein zu können steht also seinerseits in engem Verhältnis mit dem Prinzip der Materie im Sinne eines eine Formbestimmtheit Erleidenden; an

263 ›Möglichkeit F zu sein‹ ist auch in der erweiterten Konzeption nicht logisch oder modaltheoretisch zu verstehen, sondern ›Möglichkeit‹ als insofern zu etwas vermögend. 264 Bröcker (41974), 77.

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einigen Stellen bringt Aristoteles beide Prinzipien sogar zur Deckung (vgl. z. B. Met. VII 7, 1032a20–2). 265 Zusammenfassung: kinetische und ontologische dynamis. Wenn wir uns nun vergegenwärtigen, dass die ousia als wirkliches Einzelding selbst ein Bewegliches und Bewegtes ist, erscheint die erweiterte dynamis mit ihrem Bezug zur ousia dem Bezugsrahmen der kinetischen dynamis weder entgegenstehend noch davon erheblich abstrahiert, sondern eher als epistemische Vertiefung des Begriffs in Bezug auf das Wirklichseiende. 266 In konzeptueller Hinsicht erhält die kinetische dynamis eine neue Bezugs- und Anwendungsebene, nämlich das Seiende als konkrete Substanz (ousia) in Wirklichkeit. Der Begriff der dynamis wird damit neu ›konfiguriert‹. Insofern die erweiterte dynamis auf die Seinsweise und das Seinkönnen von Substanzen bezogen ist, hat sie selbst einen ontologischen Bezugsrahmen, weshalb sie in der Aristoteles-Forschung auch als die ›ontologische dynamis‹ bezeichnet wird. Auf die Bedeutung der erweiternden Konfiguration führt Aristoteles durch Analogiebildung hin: So wie sich die kinetische dynamis auf Bewegung als ihr Telos (und im begrifflichen, zeitlichen und ontologischen Sinne Erstes) bezieht, so bezieht sich die erweiterte dynamis, dem Vermögen nach F zu sein, auf das Seiende in seiner Wirklichkeit. »[D]as Seinkönnende [ist] ein relationales Angelegtsein auf Erfüllung«. 267 Aristoteles nutzt die Analogie, um verschiedene Aspekte des Begriffs der dynamis – die beiden begrifflichen Konfigurationen oder Ebenen – als Aspekte eines gemeinsamen Begriffs zu markieren und zu veranschaulichen, dass die erweiterte Ebene strukturell auf der basalen Ebene (kinetische dynamis) aufbaut. 268 Dabei werden die beiden Konfigurationen im Wesentlichen durch ein Strukturelement zusammengehalten, das bereits aus der Wesensstruktur der Bewegung und der damit verbundenen Korrelation von agentiver und patentiver dynamis bekannt ist: das Strukturmerkmal der Agentiv-patentiv-Unterscheidung, die zwei Einheiten in ein korrelatives Verhältnis setzt. Auch wenn es nicht sofort ins Auge fällt: Das Seinkönnen als Prinzip des Eine-bestimmte-Form-empfangen-Könnens ist eine Erweiterung der patentiven dynamis (dynamis tou paschein), »die wesentlich von der hinter der Einwirkung stehenden Wirklichkeit bestimmt ist. Die Wirklichkeit aber ist

265 Zum Verhältnis von dynamis und Materie (Stoff) siehe auch Gasser (2015), 223. Für eine sehr ausführliche, problematisierende und präzise Darstellung der Einführung und Anwendung der ontologischen dynamis sei auf die Interpretation von Ursula Wolf (22020), 27–64, verwiesen. 266 Ich folge hier weitestgehend der Interpretation von Anagnostopoulos (2011) und Elm (2001). 267 Elm (2001), 97. 268 Vgl. Anagnostopoulos (2011), 416–422; Gill (2004), 11.

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in bestimmter Weise die Fortführung der aktiven Dynamis (tou poiein).« 269 Entsprechend der Erweiterung der dynamis von einem Bewegungsprinzip zu einem Seinsprinzip erweitert Aristoteles auch den Korrespondenzbegriff der energeia in ihrer Verwendung als Wirksamsein und Tätigkeit korrespondierender Vermögen in einem Bewegungsvollzug zur Verwirklichung des Seienden bzw. zum ›Wirklichkeitsvollzug‹ des Einzeldings, der ousia, die ihrerseits als generiertes Einzelding eine Art Werkcharakter aufweist. 270 Mit Bröcker lässt sich schließlich festhalten: Obwohl Aristoteles die erweiterten Konzeptionen von dynamis und energeia »ausdrücklich den auf Bewegung bezogenen Begriffen gegenüber[]stellt, [. . .] haben [sie] ihren Ursprung nichtsdestoweniger ebenfalls in der Analyse des Seienden als bewegtes. Nur von dort aus erhält dieses Begriffspaar überhaupt Sinn.« 271

6.3.5 Epistemologisches und ontologisches Profil (K10)

Der Begriff der dynamis hat ein spannungsvolles epistemologisches und ontologisches Profil. Dies ergibt sich nahezu zwingend aus der doppelten Konfiguration. Mit den beiden Ebenen sind in dem komplexen Begriff der dynamis gleichsam ein epistemologischer Pol, der die kinetische dynamis betrifft und im Bereich der Naturerklärung konfiguriert wird, und ein ontologischer Pol integriert, der zwar auf die kinetische dynamis-Konfiguration zurückweist, deren erste Aufgabe aber die Angabe von Seinsprinzipien ist. Die kinetische Konfiguration und die ontologische Konfiguration adressieren mithin unterschiedliche Prinzipientypen: Die kinetische Konfiguration der dynamis als Prinzip der Bewegung ist in erster Linie Teil des methodischen Forschungsprogramms der Meta-Physik und als solche auf kausale Erkenntnis über die natürlichen Substanzen und deren Bewegungen ausgerichtet. Die ontologische Konfiguration zielt zwar ebenfalls auf eine Erkenntnis von Prinzipien, in diesem Fall aber auf kontextinvariante Prinzipien, d. h. auf die Strukturen alles Seienden (Form, Materie und Seinsmodi). Für den Begriff der dynamis bedeutet dies, dass er mit einer Art ›ontologischer‹ Varianz ausgestattet ist, die von einem naturphilosophischen Erkenntnisprinzip zu einem ontologischen Seins- bzw. Wirklichkeitsprinzip reicht. In der Rezeptionsgeschichte hat diese ontologische Varianz Elm (2001), 96. Elm fasst die Erweiterung im Begriff der energeia sehr gut zusammen: »Man hat hier regelrecht die Bedeutungsübertragung der Energeia vor Augen, von ihr als Wirksamwerden der Dynamis über das Verwirklichen des Telos bis hin zur Wirklichkeit des Verwirklichten als Werk bzw. bestimmt aufgefaßter Vollzugswirklichkeit.« (Elm [2001], 91). 271 Bröcker (41974), 77. 269 270

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ganz unterschiedliche Interpretationsansätze befördert. Eine konsequent epistemologische Lesart findet sich in Wielands Kommentar zur Physik, deutet sie die Prinzipien doch ausschließlich als »Reflexionsbegriffe«. 272 Demgegenüber stehen Lesarten, die in den Prinzipien in Aristoteles' Metaphysik in erster Linie eine allgemeine metaphysische Programmatik umgesetzt sehen wollen und damit die dynamis generell als allgemein-metaphysischen Begriff oder Terminus technicus der Metaphysik deuten. 273 Eine mittlere Position wiederum findet sich in dem Interpretationsansatz der gestuften Prinzipien-Wissenschaft von Stephen Menn, an dem sich auch in der vorliegenden diagrammatischen Untersuchung orientiert wird. 274 Aichele unterstützt ebenfalls die Position, dass es Aristoteles nicht um eine materiale allgemeine Ontologie geht, sondern, wenn überhaupt, um eine formale Ontologie des Natürlichseienden. 275 Die mittlere Position erkennt eine ontologische Varianz von Prinzipien an, interpretiert den dynamis-Begriff aber mit einem deutlichen Akzent auf die meta-physische, epistemologisch orientierte Auslegung mit der Konsequenz, dass die Prinzipien zur Bewegung und Veränderung auch in ihrem Verständnis als ›Vermögen‹ nicht primär als Entitäten der Welt, sondern als Erkenntnis- und Explikationsprinzipien verstanden werden. Angesichts von Aristoteles' erkenntnistheoretischem Realismus sind diese Prinzipien allerdings so zu verstehen, dass sie auf reale Gegenstände in der Welt referieren. Eng mit der ontologischen Varianz ist die viel diskutierte Frage verbunden, ob es mehrere Arten (›kinds‹) oder (ontologisch schwächer) mehrere Typen von Vermögen gibt oder ob die Differenz rein semantischer Natur ist und schlichtweg nur verschiedene Bedeutungen (›meanings‹) voneinander abgegrenzt werden. Beere hat in diesem Zusammenhang zurecht betont, dass eine ontologische Existenzannahme über verschiedene dynameis durchaus zutreffe, dies allerdings gar nicht der (begriffliche!) Punkt sei, um den es Aristoteles in Met. V 12 und IX 1 gehe. 276 Die Unterscheidung von verschiedenen aufeinander bezogenen Vermögen als types der Art ›Prinzip‹ erscheint vor diesem Hintergrund die plausibelste Variante.

Wieland (21970). Vgl. zur ontologischen Varianz in der Interpretation der aristotelischen Prinzipien die Ausführungen zum ›Prinzip‹ in Kap. 6.3.1 a) (K6). 274 Menn (unv.). 275 Aichele (2009), 144–153. 276 Beere (2009), 37. 272 273

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Die Komponenten der aristotelischen dynamis

6.3.6 Zusammenfassung: Der Begriffskorpus der dynamis

Diagrammatisch betrachtet konstituieren die Komponenten des Begriffskorpus eine Art Endo-Konsistenz des Begriffs der dynamis. Für die Endo-Konsistenz sind sowohl das Tableau der kinetischen dynamis als auch ihre Erweiterung zu einer ontologischen Konfiguration prägend. In der Aristoteles-Forschung wird die ›ontologische‹ Anwendungsdimension von einigen Interpreten kurzerhand zum generischen Attribut einer neuen ›Art‹ von dynamis hypostasiert als sogenannte ›ontologische‹ dynamis. Und von vielen Autor:innen wird die Erweiterung der Anwendungsdimension als die eigentliche und einzige konzeptuelle Operation am dynamis-Begriff interpretiert 277, nach der die dynamis mit den Begriffen energeia (›Verwirklichung‹, ›Aktivierung‹) und entelechia (›Vervollkommnung‹, ›Vervollständigung‹) in einer gemeinsamen Ausrichtung auf die ousia (Wesen oder Substanz) hin verknüpft wird. Hier hingegen wurde die erweiterte Anwendungs- bzw. Bezugsdimension als eine zweite konzeptuelle Operation interpretiert, die die kinetische dynamis bruchlos um eine zweite Begriffsebene erweitert (K9). Die erste konzeptuelle Operation besteht in der Aufstellung des Tableaus der dynamis kata kine¯sin mit der Bestimmung eines ›Kerntyps‹, der agentiven dynamis, auf den hin auch die anderen dynamis-Typen ausgerichtet sind (vgl. K6, K7, K8). Damit ist auch klar: Aus begriffsanalytischer Perspektive bildet die dynamis in Bezug auf Bewegung die grundlegende und für den ganzen Begriffskorpus maßgebliche Begriffsebene (K6). Ohne die kinetische dynamis ist auch die ›ontologische‹ dynamis nicht ergründbar. Wie begründet sich diese Interpretation? Die Deutung der dynamis kata kine¯sin als grundlegende Bestimmung und Begriffsebene lässt sich in dreierlei Hinsicht rechtfertigen: Zum einen bezeichnet Aristoteles die dynamis in Bezug auf Bewegung und Veränderung selbst als die ›eigentlichste‹, ›gewöhnlichste‹ (malista kurio¯ s) (Met. IX 1, 1045b36), zum anderen wird die dynamis kata kine¯sin, nicht aber die dynamis in Bezug auf die Substanz (ousia), im Rahmen eines eigenen Eintrags (V 12) im programmatischen Verzeichnis der grundlegenden Begriffe der Metaphysik (Buch Delta) präsentiert. Aristoteles greift die Ausführungen aus dem fünften Buch unter explizitem Rückverweis 278 ausführlich und zum Teil vertiefend in Buch IX wieder auf (Met. IX, 1–5), um dann ein erweitertes Bezugs- und Bedeutungsfeld von dynamis und damit eine weitere begriff277 Was freilich nur funktioniert zu dem Preis, die Begriffsbestimmungen in Met. V als ›vorphilosophisch‹ zu deklarieren, so z. B. bei Berti (2008). 278 »Daß Vermögen [dynamis] und Vermögend-sein [to dynasthai] in mehreren Bedeutungen gebraucht wird, haben wir schon anderen Ortes abgehandelt.« (Met. IX 1, 1046a4–5) In der Aristoteles-Forschung wird der Verweis nahezu einhellig als Verweis auf Met. V 12 verstanden, vgl. z. B. Anagnostopoulos (2011), 390–392; Menn (unv.), IIIa2, 6.

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liche Ebene von dynamis, die dynamis pros ousian, vorzustellen. Die zweiteilige Struktur von Met. IX lässt sich, parallel zu den Strukturen von Phys. VIII und Met. XII 279, als Widerspiegelung und Vollzug der methodischen Maxime interpretieren, von dem für uns Ersten zu dem von Natur aus oder ›sachlich‹ Ersten zu gelangen. 280 Damit lassen sich drittens die zwei Ebenen der dynamis auch als Indiz einer epistemologisch erzeugten und gewichteten Doppelschichtung deuten: Der Basisschicht (der kinetischen dynamis-Konfiguration) wird von Aristoteles in Analogie zum epistemisch Ersten ein Primat für die Begriffsbildung und Schichtung beigemessen, obwohl sie aus einer metaphysischen Lesart als sekundäre oder nicht-bedeutsame präliminäre dynamis erscheinen mag. Sowohl aus epistemologischer als auch aus konzeptueller Perspektive bestimmt Aristoteles die dynamis in Bezug auf Bewegung und Veränderung als den »eigentlichen [bestimmenden] [kurios] Begriff [. . .] von Vermögen« (Met. V 12, 1020a4–5, vgl. IX 1, 1045b36: malista kurio¯ s). Damit ist, so wurde argumentiert, der komplexe Begriffskorpus der dynamis selbst von einer ontologischen Varianz geprägt, wobei durch die begriffliche Priorisierung der kinetischen dynamis auch ein Schwerpunkt auf die mit ihr einher gehenden epistemologische Akzentuierung gelegt wurde (K10). Schließlich ist für den gesamten Begriffskorpus die Unterscheidung und Korrelation von einem agentiven und einem patentiven Part (K8) zentral. Es wurde aufgezeigt, dass der Begriff der dynamis seiner Herkunft nach selbst aus der Bewegt-Bewegenden-Bewegungsstruktur entstammt und sich die platonisch-aristotelische Konzeption von Bewegung sowohl in die Bestimmung der Bewegungsvermögen als korrelativ zusammenspielender Vermögen bzw. Prinzipien als auch in die dynamis als Seinsprinzip hineinzieht.

6.4 Begriffsmilieu II

Im folgenden abschließenden Schritt der Erkundung des Diagramms der dynamis geht es darum, begriffliche Vernetzungen, die der Begriff der dynamis mit weiteren Begriffen über die Begriffe des Begriffskorpus hinaus eingeht, aufzuzeigen. Unterschieden wird dabei zwischen Verhältnissen zwischen Begriffen, die sich als ›Begriffsnetz‹ und ›Verzweigung‹ verstehen lassen, und begrifflichen Beziehungen, die sich eher auf einer kategorialen Ebene ansiedeln und auf grundlegende begriffsstrukturelle Zusammenhänge verweisen. Aus der 279 Vgl. das Methodenideal von Aristoteles im Rahmen der von ihm aufgestellten philosophischen Immanenzebene (K3) und die methodische Dimension der Meta-Physik (K5). 280 Vgl. ebenso Liske (1996), 267; Cleary (1998), 34–35; Menn (unv.), Ia3. Vgl. Kap. 6.2.1 (K3).

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Perspektive der begrifflichen Diagrammatik bilden sie zusammen die ›Nachbarschaftszonen‹ des Begriffs der dynamis, die ihm eine Art exogene Konsistenz verleihen. Das bedeutet: Gerade in der Verzweigung und Verwandtschaft mit anderen Begriffen lässt sich das begriffliche Profil schärfen, aber auch weitere Präzisierungen für seinen Begriffskorpus einholen.

6.4.1 Kategoriale Nachbarschaften (K11)

Nachfolgend sollen zunächst Nachbarschaften erkundet werden, die sich aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik als ›kategoriale‹ Nachbarschaftsverhältnisse deuten lassen.

a) Dynamis, Natur (physis) und technische (künstliche) Herstellung (techne¯ )

Dynamis und physis. Im achten Kapitel von Metaphysik The¯ta, in dem es Aristoteles um den Aufweis der Priorität der Wirklichkeit (energeia) vor dem Vermögen (dynamis) und dem dem Vermögen nach Seienden (dynamei on) geht, gibt er nebenbei in einem Einschub eine wichtige Auskunft über das begriffliche Verhältnis von dynamis zum Begriff von Natur, physis: Nach der oben gegebenen Bestimmung über die verschiedenen Bedeutungen von Früher [proteron] ist offenbar, daß die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen, ich meine hierbei nicht nur als das vorher bestimmte Vermögen [dynameo¯ s], welches als Prinzip bezeichnet wird der Veränderungen in einem anderen, insofern es ein anderers ist [arche¯ metable¯tike¯ en allo¯ i e¯ he¯ allo], sondern überhaupt als jedes Prinzip der Bewegung und Ruhe [arche¯s kine¯tike¯s e¯ statike¯s]. Denn auch die Natur [physis] gehört zu derselben Gattung [genei] wie das Vermögen [dynamei], da sie ein bewegendes Prinzip ist, aber nicht in einem anderen, sondern in einem Ding selbst, insofern es dieses es selbst ist. (Met. IX 8, 1049b4–10; Übers. Seidl, leicht modifiziert)

Dynamis und physis gehören, in der Bestimmung des Aristoteles, derselben Gattung an, sie sind also insofern kategorial benachbart, als sie dieselbe Gattung teilen. Stephen Menn sieht in dem begrifflichen Aufbau des primären Typs von dynamis, der agentiven kinetischen dynamis, gar eine Nachahmung (»mimicking«) der Definition von physis, wie sie Aristoteles bspw. in Phys. II 1, 192b21–22 als zweistelligen Term (physis von einer Sache) beschreibt. 281 Physis 281

Menn (unv.), IIIa2, 5.

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definiert Aristoteles unter anderem als die Natur(beschaffenheit) einer Sache, die wiederum »eine Art Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding [darstellt, L. B.], dem sie im eigentlichen Sinne, an und für sich, nicht nur nebenbei zukommt.« (Phys. II 1, 192b21–22 282) Wenngleich hier die Parallelität im strukturellen Aufbau der Begriffe dynamis und physis offensichtlich ist 283 und die gemeinsame Gattungszugehörigkeit unterstreicht, so ist noch ungeklärt, was die gemeinsame Gattung ist, denn Aristoteles macht sie nicht explizit. Menn kommt zu der gerade angesichts seiner Mimesis-These überraschenden Feststellung, dass diese Gattung die dynamis im weiteren Sinne (»more broadly be called«) sei. 284 Diese Zuordnung, die von weiteren Aristoteles-Kommentatoren geteilt wird, ist aber nicht zwingend. Warum sollte die physis eine Unterart der Gattung ›dynamis‹ sein, dynamis damit zugleich Gattung und Art bzw. Oberbegriff und untergeordneter Begriff? Plausibler ist m. E., dass dynamis und physis beide Prinzipien, genauer Prinzipien der Bewegung und Veränderung sind (arche¯ kine¯seo¯ s, arche¯ metabole¯s), womit auch die übergeordnete Gattung benannt ist. 285 Wir sind auf diese Zuordnung für die dynamis bereits unter der Komponente der Elemente der agentiven dynamis kata kine¯sin (K6) gestoßen. Zu den Prinzipien der Veränderung und Bewegung zählt außerdem die Seele als Form, die als Bewegungsprinzip den Willen und den Körper bewegt, worin der Körper die zur Form gehörige bewegungsfähige Materie bildet. Denkbar wäre nun, dass unter das Genus ›Prinzip der Bewegung‹ auch Prinzipien der passiven Bewegung fallen, tatsächlich aber, so hat Johannes Fritsche aufgezeigt, fallen darunter in den aristotelischen Schriften de facto primär (oder in seiner Interpretation sogar ausschließlich) Prinzipien der aktiven Bewegung, also der ›bewegenden‹ Bewegung, und dies sowohl als verändernde als auch als generative, d. h. Entstehungsbewegung (arche¯ te¯s geneseo¯ s). Physis und dynamis (ebenso Form und Seele) zeigen sich also als Prinzipien der aktiven, bewegen282 Vgl. Phys. II 1, 193a28–30; Met. V 4, 1015a13–25, 17–19. Eine sehr ausführliche Besprechung der verschiedenen Verwendungsweisen von physis findet sich bei Gasser (2015). 283 Graham (1995), 175, sieht in der »close similarity in expression between the respective definientiae of ›nature‹ and ›power‹« einen Hinweis darauf, dass Aristoteles sie als axiale Begriffe der Erklärung aufgespannt hat; als »coordinate notions«, wie Graham sie nennt. 284 Menn (unv.), IIIa2, 5, Fn. 9. Das Verhältnis von dynamis und physis wird in der AristotelesForschung immer wieder gestreift, aber selten explizit ausgearbeitet, auch Menns Zuordnung fällt nur im Rahmen einer Fußnote. Daniel Lefebvre (2018), 453–467, hat der Thematik immerhin einen eigenen Abschnitt gewidmet. Er deutet dynamis im besagten Zusammenhang als 1) Bewegungsprinzip im Allgemeinen, 2) im Speziellen oder »strictu senso« als agentive kinetische dynamis und 3) als physis (456–458). Ähnlich zu Menn und Lefebvre ist die Interpretation von Beere (2009), 286, der »capacity« als Gattung und implizit »power« und »physis« als Arten dieser Gattung setzt. Herzberg (2005), 71, deutet physis und dynamis offener als »zwei kausal relevante Vermögen«; Mansion (1946), 230–233, scheint die Bewegungsursache als gemeinsame Gattung zu identifizieren. 285 Fritsche (2010); Jansen (22016), 301–303.

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den Bewegung; sie können daher, so Fritsche, auch als »Beweger« bezeichnet werden. 286 Den Bewegern kommt immer eine Form von Agentivität (›agency‹) und in Fällen der Erzeugungsbewegung oder des Werdens eine produktive ›agency‹ zu. 287 Das Bewegende ist dann auch ein Bewirkendes (poie¯tikon). 288 In ihrem gemeinsamen Charakteristikum als Bewegungsanfang sind dynamis und physis mit den Worten Heideggers der »Ausgang für und die Verfügung über die Bewegtheit und Ruhe eines Bewegten«. 289 Mit der Prinzipienform ist auch eine Form von Kausalitätserklärung verbunden: dynamis und physis fundieren ihrerseits kausale Erklärungen und können teilweise (nicht immer!) mit einer Bewegungsursache (causa efficiens) identifiziert werden. 290 Heben wir nun aber auf den Unterschied von physis und dynamis ab, so zeichnet sich mit Kelsey folgendes Bild: Während das Subjekt der physis als Beweger bzw. Prinzip der Bewegung das Natürlichseiende (physei on) selbst ist, ist das Subjekt der Bewegung der agentiven dynamis ein anderes oder dasselbe, insofern es ein anderes ist. 291 Aus der Perspektive der Prinzipienwissenschaft erklären das Natur- und das Vermögensprinzip unterschiedliche Aspekte mit verschiedenen Determinationsgraden: Das Prinzip der Natur erklärt ein Verhalten, eine Bewegung eines Lebewesens oder Dings aufgrund seines Wesens (ousia), eben dieses bestimmte Naturding zu sein (Natur hier im weitesten Sinne). Mit der Angabe seines Wesens erklärt das physis-Prinzip hinreichend das Verhalten oder Erleiden eines Dings. Hingegen erfüllt die Angabe von Vermögensprinzipien einen notwendigen, nicht aber hinreichenden Erklärungsanteil einer Bewegung oder Handlung, die ein Ding / Subjekt in Verbund mit einem anderen Ding / Subjekt vollzieht. Denn um eine tatsächliche oder aktuell vorliegende Bewegung zu erklären, bedarf es, wie wir bereits unter K8 (das Strukturprinzip der Agentiv-patentiv-Unterscheidung) gesehen haben, weiterer Realisationsbedingungen, die in einer hinreichenden Erklärung mit 286 Fritsche (2010), 10–11. Dass auch die Form als ein Prinzip der Bewegung betrachtet werden kann, hat Kelsey (2015) ausführlich in Bezug auf Physik II 1 gezeigt. 287 Vgl. Bianchi (2012), 17. 288 Jansen (2005), 469. Vgl. Kap. 6.2.3 (K8). 289 Heidegger (2013), 246, vgl. 261, 298. 290 Bodnar (2018), Kap. 1, 3. Während Bodnar für eine restringierte Identifikation von physis und internaler (Bewegungs-)Ursache plädiert, setzt Johansen physis und Ursache in ein Ausdrucksund Identitätsverhältnis zueinander: »Nature as a principle of change is said in four ways, as formal, material, efficient and final causes« und »We can best understand nature as an inner principle of change in the sense that it is the cause of change in something because of what that thing is.« (Johansen [2016], 456, 457) Da sich natürliche Dinge für Aristoteles auch spontan oder unbeabsichtigt (per accidens) durch äußere Bewegungsursachen bewegen können und dennoch wesenhaft natürlich Dinge sind, macht die schlichte Identifikationsthese noch unplausibler; vgl. hierzu Stavrianeas (2015), 54–60; Heinemann (2018), 19–23. 291 Kelsey (2003), 79.

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angegeben werden müssen, wie bspw. das Vorhandensein korrelativer Vermögen, das Nichtvorhandensein von Hinderungsfaktoren für einen Bewegungsvollzug oder bei rationalen Vermögen das Vorliegen eines Handlungswillens oder Vorsatzes. 292 Dynamis, physis und techne¯. Während nun einerseits dynamis und physis zwei Prinzipien der Bewegung sind, unterscheidet Aristoteles zudem vier Arten von Bewegung (kine¯sis) 293 und innerhalb der Bewegungsart der Entstehungsbewegung bzw. des substanziellen Werdens (genesis) wiederum drei Typen: i) natürliches Werden ›von Natur aus‹, d. h. aufgrund der physis von Naturdingen, ii) Werden durch Kunstfertigkeit (techne¯) und iii) spontanes oder zufälliges Werden (dia tyche¯n, apo tautomatou) (Met. VII 7, 1032a13–14; Prot. B11). 294 Von besonderem Interesse ist für unsere Untersuchung der Zusammenhang von dynamis und techne¯, die strukturverwandt, aber nicht deckungsgleich sind. Die Kunstfertigkeit, techne¯, bezeichnet an sich eine Wissensform, nämlich das Wissen über die zielgeleitete Herstellung (poie¯sis) von Dingen (Artefakten) oder Zuständen (z. B. Gesundheit); sie wird der Praxis als nicht-poietologische Tätigkeit entgegengestellt. 295 In ihrem generativen Charakter verhält sich die Kunstfertigkeit (techne¯) strukturanalog zur Natur als Prinzip der generativen Bewegung. Auf der Grundlage dieser Prämisse liefert Aristoteles in Anlehnung an Demokrit die für die Geschichte des Denkens zentrale und populäre Beschreibung, dass die Technik die Natur nachahme (nicht aber umgekehrt, wie einige technizistische Interpretationen behaupten). 296 Indem Aristoteles physis und techne¯ strukturanalog denkt, ist es ihm zum einen möglich, natürliche Vorgänge und Bewegungen durch poietische Herstellungen zu illustrieren, die der Anschauung deutlich näher sind. Andersherum formuliert funktionieren die vielen technischen Beispiele in der Physik und Metaphysik, die z. T. auch im Rahmen der Erkundung der Komponenten des Begriffskorpus der dynamis aufgegriffen wurden, genau deshalb zur didaktischen Hinführung an Vgl. Menn (unv.), IIIa2; Bodnar (2018), Kap. 1; Waterlow (1982), 3–5; Wolf (22020), 21–22. Vgl. Kap. 6.2.2 (K4). 294 Aristoteles erörtert die verschiedenen Typen des Entstehens in den vermutlich ursprünglich separaten Kapiteln Met. VII 7–9 und im Protreptikus (B 11 bis B 17); siehe hierzu auch Horn (2005). 295 Vgl. zur für das aristotelische Denken zentralen Unterscheidung von Handlung und Herstellung (praxis und poie¯ sis) den wegweisenden Aufsatz von Ebert (1976), sowie natürlich Hannah Arendts Weiterführung in ihrer Vita activa. Die Unterscheidung formuliert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik (NE 1140b 3–7). 296 Der locus classicus findet sich in Phys. II 2, 194b21–22: »techne ¯ n mimeitai te¯ n physin«. Ich folge in der Interpretation des Verhältnisses von physis und techne¯ der Lesart von Höffe (42014), 113, und Happ (1971). Diese Lesart nimmt die Natur zum Ausgang der Analogie. Die konträre, ebenfalls weit verbreitete Lesart unterstellt Aristoteles, dass er sein Naturverständnis nach dem ›Modell‹ der künstlichen Herstellung (»craft«) begreife; vgl. z. B. Broadie (1987). 292

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die Entstehungsbewegungen an Substanzen und ihre Verfassung als Kompositum aus Materie und Form, weil das natürlich Seiende und das künstlich Seiende strukturell ähnlich sind. Neben der didaktischen Funktion ermöglicht die Strukturanalogie aber auch das Natürlichseiende (physei on) und Künstlichseiende (techne¯ on) sowie die entsprechenden Entstehungsformen durch ihre Differenz in den für sie hinreichenden Erklärungs- und Seinsprinzipien und Ursachen zu präzisieren: Das Natürlichseiende zeichnet sich maßgeblich durch ein ›internales‹ Prinzip der Bewegung und einer Zielgerichtetheit aus, während künstlich Seiendes überhaupt erst durch ein ›externales‹ Prinzip der Bewegung als ein Werk oder Produkt (ergon) derselben entsteht. Wie die dynamis setzt auch die techne¯ eine Bewegung oder Veränderung in einem anderen Ding oder Subjekt in Gang. Beide, agentive dynamis als rationales Vermögen und techne¯, sind also auf eine Hervorbringung (poie¯sis) ausgerichtet; beide sind poietisch oder ›produktiv‹ strukturiert – das beschreibt ihre enge kategoriale Beziehung zueinander. Während aber die dynamis ein Erklärungsprinzip im Sinne eines Vermögens zu einer bestimmten Bewegung ist, ist die techne¯ einerseits eine Wissens- und Tätigkeitsform, die sich von den anderen Tätigkeitsarten des »nichtherstellenden Handelns« (praxis), der nichttransitiven Tätigkeiten (Sehen, Denken) und der Veränderungserfahrung (pathe¯sis) abgrenzt. 297 Techne¯ ist andererseits auch eine konkrete Ursache von herstellender Bewegung. Und genau darin besteht nun wiederum die über die kategoriale Nachbarschaft hinausgehende begriffliche Beziehung zwischen dynamis und techne¯: Die künstliche Herstellung baut auf einem Vermögen der Bewegungserzeugung, genauer: der rationalen agentiven dynamis, auf und verbindet es mit der Form des anvisierten Produkts, das in das andere Subjekt oder Objekt übertragen werden soll. Die übertragende Instanz ist die Techniker:in (technite¯s, techto¯ n), die Ärztin, die über die Form der Gesundheit in ihrer Seele verfügt und sie aufgrund ihres Wissens und rationalen Vermögens in der Patient:in hervorzubringen vermag. 298 Agentive dynamis und techne¯ stehen in der Erklärung einer Herstellungsbewegung also in einem sehr engen Verhältnis, ohne deckungsgleich zu sein. Ursula Wolf hat dieses Verhältnis pointiert zusammengefasst: Sie [die techne¯] ist damit keine dynamis in dem Sinn, daß sie selbst eine arche kineseos en allo ist, daß sie beim Zusammenkommen mit dem Träger eines bestimmten passiven Vermögens eine bestimmte Wirkung hervorrufen würde. Andererseits ist gerade sie die prote arche der Veränderung, nämlich insofern, Jansen (2005), 469. »Durch Kunst [apo techne¯ s] aber entsteht dasjenige, dessen Form in der Seele vorhanden ist. Form [eidos] nenne ich das Sosein eines jeden Dinges [to ti e¯ n einai] und sein erstes Wesen [pro¯ te¯ n ousian].« Met. VII 7, 1032a32–b2. 297 298

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als die poiesis, die konkrete Bewegursache, das Ergebnis davon ist, daß der technites ein bestimmtes Ziel, z. B. die Gesundheit, erreichen will und kann. [. . .] Die techne als dynamis wird daher so wirksam, daß sie von einer Veränderung als telos (gewollter) und eidos (gewußter) ausgehend zum Vorsatz der Betätigung oder, wenn man alle anderen Bedingungen als gegeben voraussetzt, zur Betätigung eines aktiven Vermögens zu einem physikalischen Bewirken führt, welches dann erst die betreffende Veränderung bewirkt. 299

Diese begriffliche Strukturähnlichkeit und explanatorische Verbindung macht deutlich, warum sich politische und soziale Begriffe von Macht, die ein agentives und produktives Moment mit sich führen, so treffend in technischen Begriffen oder Metaphern ausdrückbar sind. Technik ist Macht. Aber auch umgekehrt gilt: Technik stützt sich auf Bewegungsanfänge oder Vermögen und setzt an etwas konkret oder sehr vermittelt Materiellem an, dem sie eine Bestimmung, eine Form, aufprägt. Diagrammatisch sind die Begriffe der dynamis und der künstlichen Herstellung über zwei Nachbarschaftszonen verbunden: über die Strukturähnlichkeit als externaler Bewegungsursprung und vermittelt über den ebenso strukturähnlichen Begriff der physis, der derselben Gattung angehört wie die dynamis.

b) Dynamis als Prinzip (arche¯ ) und Ursache (aitios / aitia)

Prinzipien und Ursachen: zwei Elemente des Wissens. In der Erkundung der Komponenten des Begriffskorpus, hier vor allem der Elemente der agentiven dynamis (K6, K7), und in den vorangegangenen Ausführungen wurde gezeigt, dass der Begriff der dynamis zur Gattung der Bewegungsprinzipien (arche¯ tes kine¯seo¯ s) gehört und generell als Prinzip eine Erklärungsfunktion im Rahmen von meta-physischen Erklärungen (K5) annimmt. Wissen von einem Gegenstand oder Gegenstandsbereich zu erlangen, bedeutet für Aristoteles, wir erinnern uns, die »Prinzipien (archai), Ursachen (aitiai) und Elemente (stoicheia)« derselben zu erkennen (Phys. I 1, 184a10–12). Die Prinzipien wiederum haben ebenso wie die Ursachen einen epistemischen Charakter, sie sind Gegenstände der Erkenntnis. Für Aristoteles verweisen diese Prinzipien und Ursachen aber immer auch auf ontische Gegenstände oder Gegenstandsaspekte, insofern haben sie auch eine metaphysische und ontologische Dimension (wie das Ding an sich bei Kant als positives Noumenon). Dies gilt nicht nur für die Untersuchungen der Physis-Wissenschaften (Zweite Philosophie), sondern auch für 299

Wolf (22020), 21–22 (Herv. u. Umschrift i. O.).

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Untersuchungen, die auf das »Seiende insofern es Seiendes ist« zielen (Erste Philosophie). Prinzipien und Ursachen sind vor dem wissensbegrifflichen Hintergrund also über ihre gemeinsame erkenntnisleitende Funktion kategorial benachbart. Die häufige Verwendung beider Terme in der Koppelung »Prinzipien und Ursachen« weist zudem darauf hin, dass sie einander nahestehen, aber nicht synonym sind. In den meta-physischen Grundbegriffsklärungen in Buch Delta der Metaphysik gibt Aristoteles eine Bestimmung des konzeptuellen Verhältnisses als Oberbegriff (Prinzip) und Unterbegriff (Ursache). Prinzip als wissenschaftstheoretischer Begriff ist zunächst dasjenige, wovon man in der Erkenntnis eines Gegenstandes ausgeht, denn auch dies wird Prinzip des Gegenstandes genannt; z. B. die Voraussetzungen (Prämissen) der Beweise. In gleich vielen Bedeutungen wird auch der Begriff Ursache gebraucht; denn alle Ursachen sind Prinzipien [panta gar ta aitia archai]. (Met. V 1, 1013a14–16)

Die Angabe von Ursachen kommt also erkenntnistheoretisch der Angabe von Prinzipien gleich, denn Ursachen sind Prinzipien, nicht aber sind alle Prinzipien zwingend Ursachen. Während also die Prinzipien den Ausgang- und Einsatzpunkt von Gegenstandserkenntnis markieren, ist die Fragen nach den Ursachen noch nach einer anderen Dimension hin ausgerichtet, nämlich auf die Frage nach dem Warum und Weshalb einer Veränderung und Bewegung, die für Aristoteles von großer Bedeutung ist. Denn »die wissenschaftliche Erklärung gegebener Fakten (die Aristoteles Demonstration, apodeixis) nennt, läuft darauf hinaus, Ursachen (aitiai) für die Fakten zu ermitteln.« 300 Das, was für Aristoteles Ursachen sind, ist nicht zu verwechseln mit der modernen Konzeption von Ursachen als kausale Vorgängigkeit einer Wirkung, eines Effekts unter Subsumption eines Naturgesetzes. 301 Indem aristotelische Ursachen Antworten auf die Frage nach dem Warum einer Veränderung geben, »benennen sie die notwendigen und, zusammen genommen, auch hinreichenden Bedingungen für jede (natürliche oder technische) Veränderung.« 302 Aristotelische Ursachen fungieren als »die zentralen Erklärungsparameter« einer natürlichen Bewegung, d. h. für Aristoteles in erster Linie Bewegung der paradigmatischen Einheiten, den lebendigen Substanzen (Pflanzen, Tiere, Menschen); dabei definieren die Ursachen die »Klärungsaufgabe« einer speziellen (Natur-)Wissenschaft, um zwei Formulierungen von Buchheim aufzugreifen. 303 Ursachen zielen auf die Angabe der »inneren und äußeren Faktoren, die das Geschehnis 300 301 302 303

Detel (2011), XXVIII. Ebd., XXVIII–XXIX. Höffe (22014), 116. Buchheim (22016), 70, Herv. i. O.

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eines Wechsels an einem zugrundeliegenden Etwas bedingen und auslösen.« 304 Diese Erklärungsparameter 305 sind in der lateinisierten Form die causa materialis, causa formalis, causa efficiens und causa finalis. 306 Wichtig ist zunächst festzuhalten: Die Ursachen haben, genauso wie Prinzipien, eine explanatorische Funktion, sind weder als ontologische Entitäten zu betrachten noch als Kausalitätskonzeption im modernen Sinne 307, obgleich sie auf etwas verweisen, was als reale Verursachung verstanden werden kann. Die Ursachentypen sind, wie auch die wissenschaftlichen Prinzipien, in ihrer Konturierung originär auf Bewegungen des Natürlichseienden bzw. von Organismen (primäre Substanzen) als Träger der Wirklichkeit bezogen. Die natürlichen Bewegungen sind nun selbst teleologisch auf die Annahme einer Bestimmung, einer Form, hin ausgerichtet. Damit präfiguriert die teleologische Struktur der Bewegung selbst wiederum das aristotelische Modell oder Schema der explanatorischen Kausalität als Zusammenspiel der vier Ursachentypen. Aristoteles hat somit ein Modell von Kausalität entworfen, das auf das selbstbewegende bewegte Natürlichseiende angepasst ist, das sich zugleich aber auch zum Modell für Kausalität an sich entwickelte. Sarah Broadie nennt dieses Kausalitätsmodell treffend das »purposive agency model of causal explanation« 308, welches in der frühen Neuzeit vom mechanistischen Modell der aneinanderstoßenden Billardkugeln als paradigmatisches und imaginativ hoch wirksames Modell von Kausalität abgelöst wurde. 309 Für die diagrammatische Untersuchung der begrifflichen Nachbarschaft von kinetischer dynamis und aitia lohnt es sich vor diesem Hintergrund noch einmal, das Verhältnis von Bewegungsanfang und Bewegungsursache zu vertiefen. Bewegungsanfang und Bewegungsursache. Für den Begriff der dynamis ist schnell ersichtlich, dass er als Prinzip bzw. ›Ursprung von Bewegung‹ auch die 304 Craemer-Ruegenberg (1980), 41. Broadie macht darauf aufmerksam, dass Aristoteles das Vier-Ursachentypen-Schema »not to absolutely everything in the natural world, but to all organic systems« bzw. deren Bewegungen anwendet (Broadie [2009], 30). 305 Vgl. Kap. 6.2.1 (K3). Aristoteles nennt vier Erklärungsparameter bzw. Hauptklassen von Weshalb / Warum-Fragen, weshalb seine Ausführungen zu den Ursachen auch als »Vier-UrsachenLehre« in die Geschichte des Denkens eingegangen sind. Sie wird in drei Passagen entfaltet: Phys. II 3, Met. I, Met. V 2. Für eine Einführung in die interpretativen Schwierigkeiten, inwiefern die aitiai eine epistemische und metaphysische Dimension haben, ob sie ein Konzept der Erklärung oder der Metaphysik sind und welche Trends sich in der Interpretation dieser Schwierigkeiten herausgebildet haben, siehe Stein (2011). 306 Die latinisierten Bezeichnungsformen und damit auch Reduktionen gehen zurück auf Alexander von Aphrodisias (De Fato), Aristoteles selber verwendet den Ausdruck »Wirkursache« (poie¯ tikon aition) nicht; vgl. Gourinats erhellende Untersuchung (2013), 91–93. 307 Vgl. Moravszik (1975). 308 Broadie (2009), 32. 309 Ebd., 30.

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Rolle einer bestimmten Ursache, nämlich der Bewegungsursache, im Rahmen einer Erklärung annehmen kann. Aristoteles selbst nennt die Bewegungsursache auch genauso: »der Anfang, von wo aus die Bewegung beginnt« (hothen he¯ arche¯ te¯s metabole¯s) 310, von Zekl übersetzt mit »der anfängliche Anstoß zu Wandel«. Ausgang einer Veränderung zu sein, ist, was wir heute gewöhnlich mit Ursächlichkeit oder ›Kausalität‹ verbinden. Wenn etwas ursächlich als das Woher einer Bewegung bestimmt wird, koinzidiert die Ursache mit der dynamis dieser Bewegung. Dynamis hat dann in diesem bestimmten Sinne einen kausalen Nexus, denn die Angabe einer spezifischen dynamis, bspw. der Kunst zu heilen, verweist auf »the fundamental component operative in the change«. 311 Die operative Komponente, also der Bewegungsanfang selbst, ist so gesehen auch ›kausal aktiv‹. Das Prinzip der Bewegung und die Ursache der Bewegung können damit »koinzidieren«, ohne identisch zu sein, wie Ross treffend bemerkt. 312 Da eine dynamis immer nach ihrer Zielverwirklichung bzw. ihrer Wirkung benannt ist (Heilkunst als Kunst, Heilung zu erzeugen, die Macht zu erhitzen, zu versammeln etc.), ist sie aus der Perspektive der Ursachenbetrachtung auch »synonym« mit dem verursachten Effekt. 313 Allerdings bringt die latinisierte Form »Wirkursache« (causa efficiens) eine Konnotationsverschiebung von Anfang und Ziel der Bewegung auf die Bewirkungswirkung mit sich. 314 Tuozzo hat treffend analysiert, dass die lateinisierte Form causa efficiens insbesondere zwei Eigenschaften der aristotelischen Bewegungsursache verschleiert: »(1) the efficient cause is identified in directional terms: it is where the change comes from; and (2) the efficient cause is importantly first: it is where the beginning of the change comes from.« 315 Noch komplizierter wird es nun, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Aristoteles Kausalität immer mehrdimensional entlang der vier Erklärungsparameter bzw. Ursachentypen denkt und Verursachungen stets in Verursachungsketten mit einem ersten Beweger vorstellt, der über intermediäre kausale Elemente bewegt, die selbst wiederum unmittelbar über Kontaktierung bewegen. Paradigmatisch für solche Ursachenketten ist die natürliche Genesis und die sie nachahmende künstliche Herstellung, weshalb Aristoteles die vier Ursachentypen auch anhand der Herstellung einer Bronzestatue exemplifiziert. Die Zusammenkunft der vier Ursachentypen ernst zu nehmen, bedeutet zum einen, dass die Angabe der Bewegungsursache als causa efficiens niemals allein 310 311 312 313 314 315

Phys. II 3, 194b29, Met. I 3, 983a30, vgl. Met. II 2, 994a5, Gen Corr. I 7, 324b14. Bodnar (2018), Kap. 3. Ross (1984), 291. Bodnar (2018), Kap. 3. Vgl. Gourinat (2013). Tuozzo (2014), 25, Herv. i. O.

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hinreichend eine Bewegung und Veränderung erklären kann. Es bedeutet zum anderen aber auch, dass die Bewegungsursache, und damit auch die dynamis, durch ihre kategoriale Nachbarschaft eng mit den drei anderen Ursachentypen verzahnt sind. Besonders eng ist die Bewegungsursache mit der Form- und Finalursache verbunden, sie fallen sogar oft, wie Aristoteles sagt, de facto »in eins zusammen« (Phys. II 7, 198a25–26). Damit ist einerseits gemeint, dass auch die Form- und Finalursache eine Art bewegende oder ›kausal aktive‹ Kraft hat 316, andererseits können sich die Ursachen einer Bewegung an einem Individuum ›versammeln‹. So ist bspw. die herstellende Handwerkerin selbst die direkte und selbstbewegte Bewegungsursache in einer Herstellungsbewegung, indem sie zugleich Trägerin der dynamis (z. B. ein Haus zu bauen) und Übermittlerin der Form eines Hauses (Formursache) ist, und zusätzlich über die Idee verfügt, zu welchem Zweck das Haus (Zweckursache) gebaut werden soll. 317 Man kann daher auch, wie es Tuozzo vorschlägt, zwischen einer Bewegungsursache in einem weiten und engen Sinne unterscheiden. 318 Die Bewegungsursache in einem engen Sinne wäre dann, von wo aus eine (komplexe) Bewegung zuerst beginnt, was oft mit einem unbewegten Beweger korreliert, und eine Bewegungsursache in einem weiten Sinne umfasst sowohl die ersten Bewegungsausgänge als auch intermediäre Beweger. Dynamis und Kausalität. In der Aristoteles-Literatur ist der Zusammenhang von dynamis und Kausalität bisher eher ungenügend theoretisch und konzeptuell durchdrungen; auch hier kann nur ein rudimentärer Versuch über den konzeptuellen Zusammenhang gegeben werden. Ohne die Schwierigkeiten der Ursachenlehre unnötig weiter zu vertiefen, lässt sich festhalten werden: Weder ist der Begriff der dynamis an sich dem Konzept der Ursache zugehörig noch mit demselben identisch. Die Angabe einer dynamis kann aber mit der Angabe einer Bewegungsursache und dem damit verbundenen Ursachengeflecht zusammenfallen. Insofern weist die dynamis »eine kausale Dimension« auf, wie Jansen die kinetischen Vermögen charakterisiert. 319 Bewegungen, deren Anfang eine dynamis bildet, sind immer auch kausal, das heißt hinsichtlich verschiedener Wirkungsdimensionen erklärbar. In der vorliegenden Interpretation werden dynamis und Kausalität also eher vorsichtig zueinander in Beziehung gesetzt, da der primäre Zusammenhang der der Bewegung ist. In der Forschung gibt es mindestens einen weiteren Ansatz, 316 Vgl. hierzu ausführlich Gourinat (2013), der zwischen produktiver, wirksamer (»efficiente«) Bewegung und nicht-produktiver Bewegung genau unterscheidet und sie den Ursachentypen zuordnet; ähnlich bereits Moravcsik (1975). 317 Bodnar (2018), Kap. 3. 318 Tuozzo (2014), 26–28. 319 Jansen (22016), Überschr. Kap. 2.

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Kausalität in der Umgebung der dynamis zu verorten. Dieser Ansatz setzt dynamis und Ursächlichkeit deutlich offensiver in Verbindung miteinander, indem er Aristoteles' kine¯sis selbst als Verursachung oder kausales Geschehen begreift. Für William Charlton bspw. ist die kausale Tätigkeit »the actual coming about of the change in the patient.« 320 Die Bewegungsursache wird dann direkt mit der Hervorbringung einer Bewegung in dem Erleidenden assoziiert. 321 Komplementär dazu versteht Anna Marmodoro »causation« bei Aristoteles als die Aktivierungsleistung der agentiven dynamis: »In a nutshell, causation is the fulfilment of an agent's causal powers in what is acted upon.« 322 Wie auch immer man die Gleichsetzung von Bewegung und Verursachung bewertet, die gegenwärtig häufig anzutreffende Übersetzung von dynamis mit ›causal power(s)‹ ist an sich erklärungs- und präzisionsbedürftig und keineswegs apriori legitimiert, weil immer die Gefahr besteht, dass mit der Attribution ›kausal‹ moderne nichtaristotelische Konzeptionen von ›Ursache‹ untergeschoben werden. 323

c) Dynamis, dynasteia, arche¯ und kratos als politische Herrschaft (Regierung)

Dynamis als politischer Terminus. Wie nun bereits in mehreren Komponenten aufgezeigt, ist der philosophische Begriff der dynamis der Gattung der Prinzipien der Bewegung zugehörig und in ihrer Bestimmung ist die dynamis wesentlich ein Prinzip der Ersten und Zweiten Philosophie bzw. ihrer Übergangsregion, der Meta-Physik. Ein Prinzip bezieht sich qua seiner Eigenschaft als Ausgang und Erstes von etwas immer schon auf Bewegtes im Sinne eines Natürlichseienden. Inwiefern ist die dynamis nun ein Begriff der politischen Sphäre? Der Terminus dynamis wurde von Thukydides als Ausdruck einer (besonderen) physischen oder materiellen Stärke verwendet, deren Effekt sich auf dem Spielfeld der militärischen Politik äußert, so also dynamis als Ausdruck der individual-körperlichen Stärke eines Regenten, der kollektiv-körperlichen und militärischen Stärke eines Staates und der ›Kraft‹ und Fähigkeit zur Einflussnahme einer Polis in einer außenpolitischen Konstellation. Bei Thukydides hatte der Terminus dynamis also insofern eine politische Verwendungsweise und ›Bedeutung‹, als er zur Beschreibung einer Position und eines militärischen Potenzials auf der Bühne der inter-staatlichen Beziehungen verwendet wurde. »›Dynamis‹ bezeichnet hier die politische Macht, wie [sie] sich aus der

320 321 322 323

Charlton (1987), 286, Herv. i. O. Diese Interpretation ist auch bei Gill zu finden, vgl. Gill (1980). Marmodoro (2013), 221; vgl. Marmodoro (2014). Vgl. Witt (2008).

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Bündelung der im Krieg zur Verfügung stehenden Machtressourcen, die ein Staat im außenpolitischen Kampf zum Einsatz bringen kann, ergibt.« 324 Das Wort dynamis bleibt in der Verwendung in politikwissenschaftlichen Texten der Antike auffallend unbestimmt. Seine Verwendungsweise entstammt der griechischen Alltagssprache und dem militärischen Vokabular. Die dynamis hat hier also nicht den Rang eines theoretisch oder methodisch eingeholten Begriffs der Wissenschaft der Politik. dynasteia. Deutlich häufigere und systematische Verwendung hingegen findet der Begriff der dynasteia, auch Aristoteles greift ihn in der Nikomachischen Ethik und Politik mehrfach auf. 325 Wie John Walsh herausgearbeitet hat, verwendet Aristoteles das Wort dynasteia auf zweifache Weise: einerseits eher generell in der Bedeutung von Einfluss bzw. Einflussnehmenkönnen und Herrschaft (im Englischen: »›power‹, ›lordship‹, ›domination‹«, andererseits eher systematisch zur Bezeichnung einer bestimmten Form von Oligarchie. 326 Dynasteia im Sinne von Einfluss verwendet Aristoteles vor allem in der Nikomachischen Ethik. Häufig tritt dynasteia hier zur Verdeutlichung und Akzentsetzung in der Koppelung mit Reichtum (ho ploutos) und im Kontext von Ehre erlangen und Glück und Unglück haben auf. Als Beispiel diene folgende Passage: Der Stolze hat es also, wie gesagt, in erster Linie mit der Ehre [timas] zu tun; er wird sich aber auch im Hinblick auf Reichtum, Macht [peri plouton kai dynasteian] und jedes Glück und Unglück, was immer geschehen mag, maßvoll verhalten und wird sich weder, wenn er Glück hat, überaus freuen, noch im Unglück überaus traurig sein. Nicht einmal der Ehre gegenüber, die ja das Größte ist, tut er das, Macht und Reichtum [dynasteiai kai ploutos] sind nämlich wegen der Ehre erstrebenswert. (NE IV 7, 1124a13–18)

Aristoteles zielt in dieser weiten Verwendungsweise von dynasteia zumeist auf eine Charakterisierung und Typisierung von vortrefflichen und klugen oder weniger tugendreichen Verhaltensweisen derjenigen ab, die den Staat oder die Gemeinschaft durch ihren Einfluss leiten: »die Reichen [ploutousi], die Herrscher [archas] und die Mächtigen [dynasteias]« (NE VIII 1, 1155a6). In der Politik hingegen hat der Begriff der dynasteia eine systematische bzw. klassiStockhammer (2009), 65; vgl. 62–66. Es ist auffällig, dass dieser Begriff in der Aristoteles-Rezeption relativ wenig untersucht wurde. Zur Schließung dieser Forschungslücke trägt der Beitrag von John Walsh (2014) bei, außerdem zur dynasteia generell in der griechischen Antike Bearzot (2003, 2013) und Martin (1979). Die Übersetzungen aus der Nikomachischen Ethik sind der neu vorgelegten Übertragung von Gernot Krapinger übernommen, die Übersetzungen aus der Politik folgen Schütrumpf. 326 Walsh (2014), 168. 324 325

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fizierende Bedeutung. Im vierten Buch der Politik macht Aristoteles eine Typologie über vier Formen von Oligarchien auf, je nach Stellung und Herrschaftsweise der Oligarchen (vgl. Pol. IV 5, 1292b4–6). Die vierte Form, welche einer Tyrannei oder Monarchie ähnlich ist, ohne aber mit ihnen identisch zu sein, meint eine »enge[] Oligarchie« 327, also Herrschaft von wenigen Magistraten, deren Ämter vererbt werden und die über dem Gesetz stehen, sodass die Magistrate herrschen, nicht aber das Gesetz. Mit anderen Worten ist dynasteia die extremste oder exzessivste Form der Machtausübung einer herrschen Gruppe neben der Tyrannei (Pol. IV 5, 1292b4–10). 328 Damit stellt die dynasteia, vom Maßstab einer Morphologie der Demokratie aus, die schlechteste Form, ja nahezu die pervertierte Form der Oligarchie selbst dar. Walsh deutet Aristoteles' Typologie als ein Argument über den schlechtest möglichen Entwicklungsweg, den eine Demokratie nehmen kann, »where democracies fail under stress and become oligarchies, dunasteia is the ultimate failure of democracy.« 329 Im antiken griechischen Denken steht dynasteia damit für eine Form absoluter persönlicher Macht und willkürlicher Herrschaftsausübung; im Lateinischen entsprechen ihr am ehesten die Begriffe der potestas und auctoritas. 330 Aristoteles hat die dynasteia systematisch in seine Typologie der Regierungsformen integriert und zum Mahnmal einer Demokratie gemacht. In einem weniger pejorativen Sinne verweist dynasteia aber auch auf eine hegemoniale Stellung oder, insbesondere bei dem griechischen Historiker Polybios (ca. 200– 120 v. Chr.), auf eine Hegemonie, die sich durch beständige Kontrolle über ein Herrschaftsgebiet auszeichnet. 331 Die dynasteia als Hegemonialstellung über ein Territorium kann dann »auch einen gleichsam vorstaatlichen Zustand bezeichnen [. . .], [der] also nicht erst Reaktion auf eine bestehende politische Ordnung ist«. 332 Arche¯. Während die dynasteia in der Typologie von Herrschaftsformen bei Aristoteles eine systematische Verwendung hat, verhält es sich anders mit dem Begriff der arche¯, der dem philosophischen Begriff der dynamis in seiner Basisschicht als ein zentrales begriffliches Element Endo-Konsistenz verleiht. Denn arche¯ hat explizit auch eine Verwendungsweise im Kontext der Analyse der Polis-Gemeinschaft, nämlich im Sinne von power over oder Regierung. Die ein offizielles Amt bekleidenden Regierenden, zum Beispiel die Magistrate, werMeier (1979), 214. Vgl. Walsh (2014), 168–174. 329 Ebd., 173. 330 Ebd., 168. 331 Bearzot (2013). Wir werden in der diagrammatischen Untersuchung von Foucaults Machtbegriff noch einmal explizit auf die dynasteia zurückkommen, vgl. Kap. 8.5.1 (K11). 332 Martin (1979), 229. 327 328

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den genauso wie die Ämter selbst als archai bezeichnet. 333 Im Lexikon der meta-physischen Basisbegriffe skizziert Aristoteles als fünfte von sieben Verwendungsweisen von arche¯ folgende, explizit politische Verwendungsweise, in der auch der Bewegungsbezug deutlich erhalten bleibt: Ferner heißt Prinzip dasjenige, nach dessen Entschlusse das Bewegte sich bewegt und das Sich-Verändernde sich verändert; in diesem Sinne werden die Ämter in den Staaten [poleis] und die Regierungen der Herrscher [dynasteiai], Könige [basileiai] und Tyrannen [tyrannides] Prinzipien (Herrschaften) [archai] genannt [. . .]. (Met. V 1, 1013a10–13)

Das Verb archo¯ (ἄρχω) heißt (an)lenken, (an)führen, (an)leiten, kommandieren. 334 Das entsprechende Substantiv der arche¯ lässt sich daher auch regierungslogisch verstehen als Steuerung von Bewegungsflüssen und Bewegungsoptionen (der Polis). Obgleich in der griechischen Terminologie noch keine trennscharfe Unterscheidung der Begriffe ›Macht‹, ›Herrschaft‹ und ›Regierung‹ vorhanden ist, kommt die Verwendungsweise bei Aristoteles am ehesten dem Begriff der Regierung nahe, denn er setzt die politische arche¯ (politike¯ arche¯) der (unbeschränkten) häuslichen Herrschaft (despotia) gegenüber. 335 Insofern nun aber auch Handlungen in ihrer Grundstruktur Bewegungen sind, bilden die Herrschaft und die Regierung die hintergründige Struktur, den Rahmen und die Wirklichkeit (energeia) von individueller und gemeinschaftlicher Handlung, gewissermaßen als ›Meta-Handlung‹ und ›Meta-Bewegung‹. Aus der Struktur der Meta-Handlung lässt sich wiederum eine Parallelität und Verbindung zur vernunftbasierten kinetischen dynamis herausstellen: Herrschaft ausüben ist das Vermögen, Ursache von Handlungen (als spezifische Form von Bewegungen) und Abbrüchen von Bewegungen anderer zu sein. Georg Zenkert hat diesen begriffsstrukturellen Zusammenhang luzide herausgearbeitet: Handlungsmöglichkeiten gründen also bereits im Falle elementaren Handelns auf einer Wirklichkeit, die als Herrschaft über die Verhältnisse verstanden wird. Handeln können heißt letztlich, die Situation zu meistern und Ursache zu sein für Veränderungen. Diese Struktur bildet auch das Grundmodell für die Kompetenz politischer Herrschaft. Der Begriff der ἀρχή im engeren Sinne steht für

Vgl. im LSJ den Eintrag zu ἀρχή. Vgl. im LSJ den Eintrag zu ἄρχω. 335 Meier (1978), 2. Meier rekurriert hier auf Dolf Sternbergs Unterscheidung von Herrschaft und Regierung, der sich wiederum auf Thomas von Aquin beruft. Für Aristoteles und die weitere machtbegriffliche Entwicklung scheint mir diese Theorieentscheidung eminent; auch Foucault wird daran, zumindest meiner Interpretation nach, anknüpfen. 333 334

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diejenige Macht der Initiative, die sich im politischen Maßstab als Prinzip der Herrschaft erweist, sofern Handlung zur Ursache des Handelns anderer wird. 336

Formen der Herrschaft. Zugespitzt formuliert heißt Herrschaft ausüben mit Aristoteles über Handlungsanfänge verfügen. Und insofern es für Aristoteles verschiedene Handlungskontexte, personale Konstellationen und Grade des praktischen Vernunftbesitzes gibt, will Aristoteles – gegen die Positionen seiner Vorgänger – verschiedene Arten von Herrschenden (archonta) und Beherrschten (archomena) unterscheiden. Die Herrschaftsform und -weise unterscheidet sich für Aristoteles qualitativ zwischen Staatsmann (politikon), König (basilikon), Haushaltvorsteher (oikonomikon) und Herr als Gebieter über Sklaven (despotikon), wobei die Gemeinschaft als »Staat« (polis), die staatliche Gemeinschaft (koino¯ nia he politike¯), die »oberste Herrschaft über alle (Gemeinschaften) [kurio¯ tate¯] ausübt« (Pol. I 1, 1252a3–8). Bereits im Rahmen der Oikonomie zeichnet sich eine qualitative Differenz in dem Herrschaftstypus ab, »denn auf eine andere Weise herrscht der Freie über den Sklaven und das Männliche über das Weibliche und der Vater über das Kind« (Pol. I 13, 1260a9– 10). Die Logik der Herrschaftskonstellation bemisst sich für Aristoteles nach dem zugeschriebenen naturgemäßen Grad des Vernunftbesitzes und der damit verbundenen »charakterlichen Qualität«, also der naturgemäßen Eignung, ein vornehmes und gutes Leben zu führen, die sich als jeweilige Ausprägung in der Seele ausdrückt. Grundsätzlich herrscht der (am meisten) vernunftbegabte über den (eher) vernunftlosen Seelenteil und in Entsprechung dieser Komplementaritätsvorstellung ermisst sich Intensität und Umfang der Beherrschung des Sklaven, der Frau und des Kindes durch den freien Mann (Pol. I. 13, 1259b18–1260a18). 337 Der Beherrschende oder Regierende (archonton) muss, da er den Haushalt zu einem guten Ergebnis führen soll, die Tugenden bis zur Vollendung aufweisen, »denn jede Handlung [der Mitglieder im Haus; L. B.] ist schlechthin als Leistung dessen anzusehen, der die leitende Planung ausübt, die leitende Planung liegt aber bei der Vernunft [logos architekto¯ n]« (Pol. I 13, 1260a18–19). Das »Herrschaftsprinzip« bildet für Aristoteles die Natur des Menschen und ist sein »natürlicher Status« in der Gemeinschaft als mehr oder weniger unfreier oder freier Mensch. Kratos. Für den Begriff der Herrschaft im Sinne von ›Autorität‹ und ›Souveränität‹, ›might‹, ›strength‹ 338, gibt es im es Griechischen neben der arche¯ den Terminus kratos, der sich gerade als Suffix zur Bezeichnung von HerrschaftsZenkert (2004), 66. Simon Weber hat die Binnendifferenzierung von Herrschaftsformen jüngst unter dem Titel der »aristotelischen Differenzthese« zusammengefasst (Weber [2017], 152–155). 338 Vgl. den Eintrag zu kratos im LSJ. 336 337

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formen (Plutokratie, Demokratie, Autokratie) bis heute sichtbar erhalten hat. Kratos wird von Aristoteles ausschließlich in der Regierungsanalyse verwendet. Macht als meta-physisches Erklärungsprinzip und die Analyse der Regierungsund Herrschaftsformen im Sinne von ›Kratien‹ sind bei Aristoteles also konzeptuell und in der Theoriebildung getrennt. 339 Zusammenfassung. Dynasteia, arche¯ und kratos sind Termini der politischen Theorie von Herrschaft, souveräner Macht und Autorität, sie gehören aber nicht dem Machtbegriff im Ausgang der dynamis (und latinisiert: potentia) an. Die dynasteia entspricht am ehesten der lateinischen potestas, meint im weiteren Sinne Herrschaft(sausübung) und Einflussnahme und bezeichnet bei Aristoteles auch eine spezifische Form von Oligarchie, in der die Herrschenden über das Gesetz hinweg herrschen. Für Aristoteles sind die Begriffe der Macht, einerseits der dynamis, die ein genuin meta-physischer Begriff ist, und anderseits der dynasteia in der Verwendung eines systematischen Begriffes der politischen Wissenschaft, konzeptuell getrennt. Dagegen stehen die Begriffe der Regierung (arche¯, archai) und der dynamis als gleichermaßen bewegungsbezügliche Begriffe in einem engen kategorialen Verhältnis zueinander. Genau genommen kann die dynamis als Subtyp von arche¯ verstanden werden, da die dynamis der Meta-Physik eine bestimmte Bewegungsanfänglichkeit (arche¯) – und wenn man Handlung als spezifische Form von Bewegung betrachtet, so auch einen Handlungsausgang – darstellt. Als Subtyp der arche¯ ist die dynamis kategorial mit den anderen Typen von arche¯ verbunden, so eben auch die arche¯ in der Verwendung von politischer Regierung und Herrschaftsausübung, was für Aristoteles eine Steuerung der individuellen und kollektiven Bewegungen (bzw. des Handlungsvollzugs) darstellt.

6.4.2 Begriffliche Verzweigungen (K12) a) Dynamis – bia (Gewalt) – ischys (Kraft)

Das Übersetzungsproblem und die Termini der Idee der Kraft. In der vorliegenden Untersuchung wird dynamis bevorzugt nicht oder wenn dann mit ›Vermögen‹ (im Sinne der englischen ›capacity‹) oder ›Prinzip der Bewegung‹ übersetzt. Warum eine Übersetzung mit modallogisch konnotierten Termini wie ›Möglichkeit‹ oder ›Potentialität‹ oder ›Possibilität‹ ohne nähere Explikation der Übersetzungsentscheidung inadäquat ist, habe ich in den Erkundun-

339

Vgl. Walter (1964), 351; Lichtblau (1980), 586; Chédin (1994), 22; Röttgers (1990), 42.

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gen des Begriffskorpus der dynamis zu plausibilisieren versucht. 340 Offen ist bisher geblieben, warum erstens auch eine pauschale Übersetzung mit ›Kraft‹ abzulehnen ist, wie sie bspw. prominent Heidegger in seinem Seminar »Interpretationen aus der antiken Philosophie« im Sommersemester 1931 341 ins Feld geführt hat, und zweitens wie sich das Verhältnis zu den Begriffen von Kraft (ischys) und Gewalt, Zwang (bia) gestaltet. Betrachten wir zunächst das Übersetzungsproblem. Die Idee und das Wort der ›Kraft‹ ist seit der frühen Neuzeit und der Dominanz eines mechanischen Imaginären und Weltmodells überwiegend mit einer quantifizierbaren Größe mechanischer Bewirkung im Sinne von (An-) Stoß und Druck assoziiert. 342 Die Konnotation der externalen Anstoßleistung stellt aus griechisch-antiker Perspektive eine Verengung auf einen mechanischen Theorie- und Vorstellungsgehalt dar, der zwar auch in der dynamis als natürlichem Vermögen der einfachen Körper enthalten ist 343, aber eben nur einen Aspekt darstellt und nicht die Komplexität als Prinzip der Bewegung und Bewegung im vierfachen Sinne abzubilden vermag. Auch Hegel und Arthur Peck hatten deshalb von einer Übersetzung von dynamis mit Kraft abgeraten. 344 Umgekehrt formuliert trifft der Terminus Kraft zwar einen Aspekt des Begriffs der kinetischen dynamis, beschneidet ihn aber zugleich auf eine Größe der Mechanik und Physiologie. Insofern dieser mechanische Aspekt in dem Begriff der dynamis integriert ist, ohne ihn freilich auszufüllen, kommt es vor, dass Aristoteles an einigen Stellen dynamis tatsächlich zur Bezeichnung und im Sinne einer komparativen und intensivierbaren körperlichen Kraft zu Bewegung und Widerstand (ischys) verwendet, nämlich genau dann, wenn es ihm um die Analyse dieses korporalen und mechanischen Aspekts geht. 345 Während der Begriff der dynamis bereits für sich durch sein Tableau und seine beiden Schichten sehr komplex ist und weite Anwendungsfelder einschließt, gilt dies auch für das, was Lefebvre Vgl. insbesondere in den Kapitel 6.3.3 (K8) und 6.3.4 (K9). Das Manuskript zum Seminar mit dem Titel »Interpretationen aus der antiken Philosophie/Aristoteles, Metaphysik Θ« ist als Band 33 der Heidegger Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1925–1944, veröffentlicht worden, hier allerdings unter dem Titel »Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft«. Die Übersetzungsentscheidung von Heidegger dürfte politische und theoriepolitische Hintergründe gehabt haben, zum Beispiel dass sich der Begriff der Kraft für eine Theorie der Entscheidungskraft des (deutschen) Volkes mobilisieren ließe. 342 Gasser (2015), 217, Fn. 182. 343 Dies wurde unter dem Aspekt der Berührung agentiver und patentiver Vermögen erkundet, vgl. Kap. 6.3.3 (K8) und Kap. 6.3.4 (K9). 344 Hegel (2003), 154, Peck (1942), liv–lv; vgl. Lefebvre (2018), 30, Fn. 1. 345 Vgl. Lefebvre (2018), 501–502, 509–511. Lefebvre hat dem begrifflichen Verhältnis von dynamis und Kraft (»force«) eine ausführliche Studie im Rahmen seiner großen Monografie zur dynamis gewidmet (Ebd., 501–46); hier sollen und können nur Auszüge davon aufgegriffen werden. 340 341

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»l'idée de force« nennt. 346 Die Idee von Kraft bringt sich zwar, so Lefebvre, mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung und Orientierung in den Termini dynamis, bia, ischys und rho¯ me¯ (militärische Stärke) zum Ausdruck, ohne aber zu reklamieren, dass der Begriff dynamis in der Idee und dem Terminus Kraft aufgeht 347: »La dynamis n'est ni une force ni une spontanéité mais une capacité en vue d'une fin«. 348 Ich folge dieser Deutung, denn sie macht erstmalig ein Angebot für eine systematische Verhältnisbestimmung der Termini mit Kraftbezug untereinander. Aus begrifflich-diagrammatischer Perspektive nimmt der Begriff der dynamis Anteil an der Idee der Kraft, die selbst ein begriffliches Netz ausfaltet. Dadurch verleihen sich die dynamis und die Idee der Kraft gegenseitig konzeptuelle Konsistenz. Wie aber ist nun die begriffliche Relation und Differenz im Rahmen des Begriffsnetzes der Kraft zu verstehen? Die Logik der Kraft. Lefebvres Analyse zufolge ist die Idee der Kraft von einer »Logik der Kraft« gekennzeichnet. Die Logik der Kraft setzt sich aus drei konstitutiven Elementen zusammen: erstens der notwendigen Präsenz einer zu einer bestimmten Kraft widerständigen Kraft; zweitens wird eine Kraft, sei sie körperlicher oder seelischer Art, ausgeübt und darin auch geübt (»s'entraîne et s'exerce«); drittens ist die Intensität einer Kraftausübung abhängig von der Intensität ihrer spezifischen Gegenkraft. 349 Es ist schnell ersichtlich, dass der Begriff der dynamis nicht von der Logik der Kraft fundiert ist, denn die dynamis ist weder als kinetisches noch als ontologisches Prinzip eine intensivierbare Einheit oder Größe. In den Termini der Gewalt oder des Zwangs (bia) und der Kraft im Sinne von Stärke (ischys) bilden sich hingegen die Logik der Kraft und ihre Steigerungscharakteristiken ab. Aristoteles konzeptualisiert bia im Register des Notwendigen (anankaion) als das »Erzwungene [to biaion] und [. . .] Zwang [bia], d. h. dasjenige, welches uns gegen unsere eigene Neigung und unseren Entschluß bindet und hemmt« (Met. V 5, 1015a26–27). Umgekehrt unterliegt die Ausübung von Zwang immer auch einer Motivation, aus der heraus diese oder jene Tätigkeit / Tat erfolgt (1015a30–31). Zwang wird von Umständen, einer Person oder Naturgewalt auf eine (andere) Person ausgeübt, die durch die externale oder internale Einwirkung an ihrem freiwilligen HanEbd., 502. Ebd. 348 Ebd., 500. Ähnlich betrachtet auch Clare Connor in ihrer Studie Force from Nietzsche to Derrida (2010) Kraft (»force«) als Idee, die sich in transversalen Anwendungsgebieten in Begriffen ausformuliert, die sich durch eine fokale Bedeutung zusammenbringen lassen. Für Connor bezeichnet Kraft »a dynamic intensity or potency which might or might not turn to have effects in the world, or a capacity, whether enacted or not, to move, change, effect, cause or actualize.« (Connor [2010], 8). 349 Lefebvre (2018), 506. 346 347

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deln gehindert wird. Ihr wird durch den Eingriff auf ihr Handlungsvermögen die Widerstandskraft geraubt: Unfreiwillig ist nach gängiger Meinung das, was unter Zwang oder Unwissenheit geschieht. Erzwungen ist, was seinen Ursprung außerhalb hat [arche¯ exo¯ then], wo der Handelnde oder Erleidende nichts dazu beiträgt, wenn etwa der Sturm jemanden irgendwo hin entführt oder Menschen, die jemanden in ihrer Gewalt haben. (NE III 1, 1109b36–1110a4, Übers. leicht modifiziert)

Zwang wird also ausgeübt, wenn einem Menschen das Vermögen zu einer bestimmten Bewegung oder Tätigkeit oder Seinsweise nivelliert oder effektiv unterbunden wird. Zwang und Gewalt sind das Gegenteil von erstens einer freiwilligen Handlung und zweitens der Ausübung einer dynamis oder dem Ausleben einer individuellen Natur (physis). »[Β]ία exprime donc l'idée d'un effet non-naturel; il se trouve du côté de la force qui produit un choc, de nature physique ou logique, sur les âmes ou les corps, en particulier en tant qu'ils sont eux-mêmes dotés d'un principe de mouvement propre.« 350 Während Gewalt und Zwang sowohl auf die Seele als auch auf die physische Konstitution eines Menschen ausgeübt werden können, indem bestimmte Vermögen und Bewegungsprinzipien ausgehebelt werden, bezieht sich ischys primär auf die körperlich-muskuläre Stärke, einen anderen oder seinen eigenen Körper auf bestimmte Weise zu bewegen. Damit steht der Begriff der ischys dem der dynamis strukturell sehr nahe, genau genommen bezeichnet die Kraft oder Kräftigkeit eine bestimmte Weise der Verfügung über und Ausübung von einem kinetischen Vermögen. Im ersten Buch der Rhetorik beschreibt Aristoteles im Zusammenhang der Ausführungen zur Vortrefflichkeit eines durch sportliche Tätigkeiten trainierten Körpers diesen Zusammenhang klar 351: Kraft ist das Vermögen [ischys esti dynamis], etwas anderes nach Belieben zu bewegen [heteron kinein], dies aber geschieht notwendig durch Ziehen, Stoßen, Heben, Drücken oder Pressen, so dass der Starke durch alle oder einige dieser Tätigkeiten stark [ischyros] ist.« (Rhet. I 5, 1361b15–18, Übers. leicht modifiziert)

Darüber hinaus kann Kraft im Sinne von ›Kräftigkeit‹, je nach Intensität, eine Gewalteinwirkung ›bemessen‹, umgekehrt lässt sich aber auch eine Krafteinwirkung als Gewaltausübung beschreiben. 352 Zusammenfassung. Gewalt (bia), Kraft (ischys) und Macht / Vermögen (dynamis) stehen in einem Beziehungsgeflecht zueinander, das sich durch Opposi350 351 352

Lefebvre (2018), 503. Vgl. ebd., 504–506. Ebd., 503.

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tion (Gewalt – Macht) und Bezugnahme (Kraft / Kräftigkeit – Macht; Gewalt – Kraft) auszeichnet. Aus begrifflich-diagrammatischer Perspektive unterstützen die spezifischen Beziehungen zum Begriff der dynamis denselben in der Ausbildung seiner Endo-Konsistenz. Durch eine Inverhältnissetzung, wie sie hier kursorisch vorgeführt wurde, können die Relationen und Differenzen der Begriffe zueinander und damit deren jeweilige Grenzen präzisiert werden. Das Begriffsnetz um die Idee der Kraft zeigt eine einschlägige Relevanz für die politische Theorie und zeigt durch den inhärenten Bezug aller drei Begriffe auf Bewegung deren meta-physische und naturphilosophische Verwurzelung an.

b) Bezugsbegriffe der Bewegung

Das Begriffsnetz des Bewegungsbegriffs. Der Begriff der dynamis ist in seiner Basisschicht direkt und auch in seiner erweiterten Konfiguration ein Begriff der natürlichen Bewegung. Mit dem Begriff der Bewegung sind nun wiederum weitere Begriffe der Naturphilosophie und Meta-Physik verflochten, sodass der Begriff der dynamis auch mit dem begrifflichen Netz rund um den Bewegungsbegriff (kine¯sis, metabole¯) verbunden ist. Aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik ist von Interesse, welche Begriffe Aristoteles als Elemente des Begriffsnetzes der Bewegung bestimmt, anordnet und in ihren Konzeptionen verschränkt. Für Aristoteles sind das die Begriffe der Kontinuität (›Zusammengesetzes‹, ›Zusammenhängendes‹), des Unbegrenzten, des Ortes (Raum), der Leere und der Zeit: Wenn wir unsere Bestimmungen bezüglich von Bewegung [kine¯sis] getroffen haben, ist zu versuchen, auf gleiche Weise das durchzugehen, was sich daran anschließt: Verändernde Bewegung scheint in den Bereich des Zusammenhängenden [synecho¯ n] zu gehören, in dem Begriff ›zusammenhängend‹ erscheint allererst (die Bestimmung) ›unbegrenzt‹; wenn man nämlich ›zusammenhängend‹ bestimmt, tritt nebenbei ein, daß man oftmals den Begriff ›unbegrenzt‹ mitbenutzt, denn ›unbegrenzt teilbar‹ – das ist eben ›zusammenhängend‹. Zudem, ohne die Begriffe ›Ort‹, ›leer‹ und ›Zeit‹ kann Bewegung nicht sein. Es ist also klar, daß deswegen und wegen der Tatsache, daß diese Begriffe für alles gemeinsam und allgemein sind, ihre Untersuchung durchzuführen ist, und zwar indem man jeden einzelnen von ihnen vornimmt [. . .]. (Phys. III 1, 200b15–24, Übers. leicht modifiziert) 353

353 Alle Übersetzungen aus der Physik sind wie gehabt, wenn nicht anderes angegeben, von Zekl (Meiner-Ausgabe) übernommen.

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Diese Begriffe des »Körper-Raum-Zeit-Prozeß-Geflecht[s]«, wie es Zekl nennt, sind konstitutiv aufeinander bezogen, das bedeutet, dass ein Begriff aus diesem Begriffsnetz in seiner Bestimmung die Bestimmung eines anderen innerhalb des Begriffsgefüges mitbestimmt. 354 Indem ein Begriff einen anderen implizieren kann, bedeutet dies für eine begriffliche Analyse, dass ein einzelner Begriff (hier: der Bewegung) nur hinreichend in seinem Begriffsgefüge untersucht werden kann. 355 Da Bewegung der zentrale Begriff zur Kennzeichnung des Natürlichseienden ist, ist das Begriffsnetz der Bewegung zugleich auch das spezifische Begriffsnetz der Untersuchung des Naturbegriffs. Wir werden nun Begriff für Begriff kursorisch abschreiten, um einen Überblick über das Begriffsnetz der Bewegung zu erlangen. Die Reihenfolge orientiert sich an jener, die Aristoteles selbst zur Untersuchung der Begriffe in der Physik als Untersuchungsrahmenwerk und Grundlagenwissenschaft einer Untersuchung des Natürlichseienden vorgelegt hat. Kontinuität, Kontinuum. Nachdem Aristoteles im dritten Buch der Physik zunächst in mehreren Varianten eine Definition von Bewegung gegeben hat, kommt er unverzüglich auf die Bedingung der Existenz von Bewegung überhaupt zu sprechen (Phys. III 4–8): dass es nämlich begrenzte Körper gibt, die sich notwendig aus Endlichem zusammensetzen. Diesen Zusammenhang der Teile, der durch einen Zusammenhalt durch Berührung der Teile abgesichert ist, nennt Aristoteles Kontinuität (syneches). Kontinuität als Eigenschaft setzt sich genauer aus drei Aspekten zusammen: i) »zusammenhängend« (syneches) – darunter versteht Aristoteles, dass etwas »teilbar ist, in je immer wieder Teilbares« (Phys. VI 2, 232b24–25) –, ii) einander berührend (haptomenon) und iii) aneinandergereiht (ephexe¯s) (Phys. V 3, 226b34–227a13, VI 1, 231a21– 24). Für Aristoteles ist Kontinuität die Voraussetzung und Grundeigenschaft sowohl von Körpern als auch von deren Bewegung, des Raums / der Größe (megethos) und der Zeit der körperlichen Bewegung. Es ist daher zutreffend, Kontinuität als den »wohl fundamentalsten Begriff« von Aristoteles' Naturphilosophie zu charakterisieren. 356 Die Feststellung der »Kontinuitätsstruktur« als Voraussetzung von Bewegung, Raum und Zeit ist Gegenstand derselben naturphilosophischen Untersuchung (Phys. VI 1, 231b18–19). 357 Wichtig ist dabei, den Zusammenhalt als Verschmelzung und Überlappung der Grenzen (perai) der vorgestellten gleichartigen Teile der ontischen Einheiten, die im Falle der Bewegung die Zuständlichkeiten, Formen und Teloi sind, zu verstehen: »Die Verschmelzung der Grenzen ergibt erst den spezifischen Zusam354 355 356 357

Zekl (1988), XXV. Edel (1969), 59. Corcilius (2011), 82. Wieland (21970), 279.

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menhalt des Kontinuierlichen.« 358 Aristoteles konzeptualisiert das Kontinuum damit nicht als Aneinanderreihung diskreter Einheiten mit ihren Grenzen, bspw. von Raumpunkten auf einer Linie und Zeitpunkten als ›Jetzte‹ (an) einer Bewegung (Phys. IV 12, 220a18–21), sondern als Fließkontinuum. Mit dieser Begriffskonzeption kann Aristoteles auch der zenonschen Argumentation, dass sich Bewegung aus realen Teilen (etwa wie beim Daumenkino) zusammensetze und damit an sich diskontinuierlich und im Grunde irreal sei, eine irreduzibel kontinuierliche und homogene Bewegungskonzeption entgegenhalten, die der Bewegung einen gewissen Wirklichkeitsstatus zuerkennt. 359 Der Begriff der Kontinuität grundiert damit die Begriffe von Bewegung, Ort und Zeit, und rekurriert selbst auf den Begriff des Unendlichen (apeiron), unendlich im Sinne von ›immer weiter teilbar‹. Indem der Begriff der Kontinuität den Begriff der Bewegung und seine Bezugsbegriffe grundiert und damit eine metaphysische Grundfolie der zusammenhängenden Bewegungen und Bewegtheiten aufspannt, fundiert er Aristoteles' Substanzlehre und damit auch den Begriff der dynamis. Vermögen zur Bewegung wirken immer in einem Kontinuum und sie wirken kontinuierlich – entweder aufgrund kontinuierlicher Berührung im Falle natürlicher Vermögen oder aufgrund kontinuierlicher Entscheidungen und intentionaler Akte. Unbegrenztheit / Unendlichkeit. Natürliche Körper sind in sich kontinuierlich und begrenzt. Unbegrenzte sinnlich wahrnehmbare Körper sind existenzlogisch ausgeschlossen, denn Körper zeichnen sich gerade durch eine Grenze, eine Umgrenzung aus, die sich durch Bewegung verändert. Das Unbegrenzte (apeiron) ist nun, anders als bspw. Demokrit und Anaxagoras behauptet haben, kein Anfangsgrund (arche¯) und Grundstoff des Alls und des Seins, denn das Unbegrenzte existiert nur wie Bewegung selbst an einem Körper – und zwar als Mögliches des Verstandes, der sich Größe und Anzahl als Maßstab nimmt (Phys. III 6). Das Unbegrenzte selbst ist unerkennbar (agno¯ ston) und nicht bestimmt (aoriston) (Phys. III 6, 207b25, 31). 360 Es ist vielmehr als potenziell körperassoziierte Eigenschaft eine Denkmöglichkeit, nämlich die Möglichkeit (dynamis), in Gedanken eine unendliche fortlaufende Teilung oder ein sukzessives Anwachsen und Zusammensetzen eines Begrenzten bzw. Zusammengesetzten durchzuführen, was das Natürlichseiende, ob als Element oder FormMaterie-Kompositum, immer ist. Unendlichkeit ist damit ein »analytischer Verfahrensbegriff«, das Unendliche und Unbegrenzte existiert »nur im Modus Buchheim (22016), 96. Höffe (42014), 122. Aristoteles antwortet mit seiner Konzeption von Zeit, Bewegung und dem Zusammengesetzten auf die Paradoxien der Zeit von Zenon. Für die begrifflich-diagrammatische Untersuchung kann dieser Diskussionspunkt ausgespart bleiben. 360 Höffe (42014), 123. 358 359

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der Möglichkeit«, als dynamei apeiron, als Potentialität 361 – und sie ist, zumindest im Rahmen der Untersuchung der sinnlich wahrnehmbaren Substanzen, beschränkt auf das, »wozu es immer ein Äußeres gibt« (Phys. III 6, 207a1–2). In der Weise, wie der Verstand diese Teilung vornimmt oder andeutet, ist die Tätigkeit des Teilens Wirklichkeit; insofern aber diese gedankliche Tätigkeit nie an ein Ende kommt, ist sie immer in der Sphäre des Möglichen (dynamei). 362 Ort, Raum. Neben dem Unbegrenzten am Begrenzten stellt der Raum, der bei Aristoteles besser als Ort (topos) zu verstehen ist, ein zweites konstitutives Bezugssystem zur Bewegung dar: Ohne Raum keine Bewegung. Die wichtigste und die »allgemeinste und gebräuchlichste Art« (malista kai kyrio¯ tate¯) von Bewegung ist zugleich auch die Ortsbewegung (Phys. IV 1, 208a31–2). Der Ort ist nun für Aristoteles »weder Form [eidos] noch Stoff [hyle¯] noch eine Art Ausdehnung [diaste¯ma], als stets vorhandene und unterschiedene neben der des Gegenstandes, der den Platz wechselt« (Phys. IV 4, 212a3–5), sondern »die Grenze des umfassenden Körpers [. . .]. Mit ›umfasster Körper‹ [periechomenon so¯ ma] meine ich einen, der bewegbar im Sinne der Ortsveränderung [kine¯sis kata phoran] ist.« (Ebd., 212a6–7, vgl. 212a20-21) Man kann sich also als Ort von Wasser sehr gut das Glas, eine Wanne oder ein Flussbett und die umgebende Luft vorstellen. 363 Für Aristoteles ist der Raum also nicht geometrisch und das Außen aller Dinge, sondern bezieht sich, selbst unbeweglich, als Grenze einer Körperoberfläche auf körperlich Seiendes, das zur Bewegung fähig ist (Phys. IV 6, 212b 28–29). 364 Indem der Ort als unmittelbare, an einen Körper anschmiegende Grenze konzipiert wird, unternimmt Aristoteles den Versuch, Ort ganz ohne das Konzept eines vorgängigen sich selbsterhaltenden Raumes zu verstehen. 365 Edward Hussey bemerkt jedoch treffend: »Space might still be needed as a metaphysical guarantee that spatially extended bodies, locomotion, and spatial relationships will continue to be possible – but, in so far as it is needed in this role, Aristotle does have a ›space‹« 366. Dieser implizite Raumbegriff wird zwar nicht in der Abhandlung zum topos-Begriff einführt, aber quasi durch die These, dass es keine räumliche Leere geben kann, eingelöst. Zekl (1987), XXXVII. Wieland (21970), 298. Aristoteles scheint in dieser frühen Abhandlung für das Unbegrenzte einen dynamis-Begriff aus dem Tableau der kinetischen dynamis zu verwenden. Wieland ist dem Zusammenhang von dynamis und dem Unendlichkeitsproblem ausführlich nachgegangen, siehe ebd., 292–301. 363 Höffe (42014), 125. 364 In der Aristoteles-Forschung gilt der Ortsbegriff von Aristoteles als inkonsistent und gescheitert im Hinblick auf eine Erklärung von Ortsbewegung. Für eine neuerliche Widerlegung eines Rettungsversuchs von Aristoteles’ Ort-Konzeption siehe Bostock (2006a). 365 Hussey (1983), xxviii. 366 Ebd., xxix. 361 362

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Leere (Vakuum). Die von verschiedenen Naturphilosophen vertretene Vorstellung seiner Zeit ist, dass Leere der Ort sei, an dem nichts, also auch kein Körper ist (Phys. VI 7, 213b31). Für Aristoteles hingegen gibt es keine »räumliche Ausdehnung, verschieden von den Körpern, [. . .] weder als etwas Abtrennbares noch tatsächlich vorkommend« (Phys. IV 6, 213a31–33), d. h. weder als reine Form noch realiter. Der Begriff der Leere (kenon) schließt direkt an Aristoteles' Begriff des Ortes an. Denn wenn nun alle Körper an einem Ort sind oder von einem Ort aus aufbrechen, um einen anderen einzunehmen, kann es keinen unbesetzten Zwischenraum zwischen den Orten geben. An dieser Stelle erweist sich Aristoteles einmal mehr als materialistischer, genauer: ›hyletischer‹ Denker, der den ganzen Kosmos von einem (wenn auch ideellen) Grundstoff (hyle¯) ausgefüllt sieht, der seinerseits der Möglichkeit nach sämtliche Formen und Formstufungen annehmen kann (vgl. Phys. IV 9, 217b21–26). Zeit. Wir sind bereits im Kontext der Untersuchung der Bewegungsstruktur und Bewegungsdefinition darauf gestoßen, dass der dynamis sowohl in der kinetischen Konfiguration als auch in der ontologischen eine Gerichtetheit auf die Tätigkeit und Wirklichkeit inhäriert, die sich als immanente Zukunftsgerichtetheit ausdrückt. Dabei ist die dynamis »aber [. . .] nicht schlechthin die Zukunft, sondern gleichsam das, was von der Zukunft jetzt schon da ist, also in gewissem Sinne gerade die Gegenwart der Zukunft«, die sich in der Wirklichkeit einer Bewegung zeigt, wie Carl Friedrich von Weizsäcker ganz zutreffend den Zusammenhang von dynamis, Bewegung und Zeit analysiert hat. 367 Wie aber konzipiert Aristoteles Zeit (chronos)? Einsichtig erscheint, dass Zeit und Bewegung, chronos und kine¯sis, eng mit einander in Beziehung stehen, denn einerseits vollzieht sich Bewegung in (einer) Zeit und Bewegung und Zeit werden zugleich wahrgenommen (Phys. IV 11, 219a3–4), andererseits ist Zeit an der Bewegung, d. h. ein Epiphänomen der Bewegung in dem wahrnehmenden Geist (ebd., 219a2–3). 368 Insofern Bewegung als in sich homogen im Sinne eines fortlaufenden Zusammengesetzten (syneches) begriffen wird, gilt dies auch für die Zeit (Phys. VI 2, 232b20–4), die mit der Bewegung ›mitläuft‹ bzw. von ihr ontologisch abhängig ist. 369 Das ›Mitlaufen‹ bringt nun ein »Früher« (to proteron) und »Später« (to hysteron) zum Ausdruck. Und so kommt Aristoteles zu der Definition, dass Zeit »die Maßzahl [arithmos] von Bewegung hinsichtlich des Früher und Später«, also »eine Art Zahl [arithmos]« ist, die der Bewegung eignet (Phys. VI 11, 219b1–2, Übers. modifiziert). Zeit ist »Gezähltes«, orientiert an der räumlich-metrischen Spanne von ›vorangehend‹ und ›nachfolgend‹. 370 367 368 369 370

Weizsäcker (1993), 438; vgl. 433. Ebd., 433; vgl. Höffe (42014), 125–126. Bostock (2006c), 151. Weizsäcker (1993), 433.

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Daher ist Zeit nur insofern an der Bewegung beteiligt, als eine Zählung stattfindet. Ob die Zählung zwingend eines wahrnehmenden und zählenden Subjekts (bzw. einer tätigen Seele) bedarf oder die Zählung auch kosmologisch als Kreisbewegung des ersten Himmels betrachtet werden kann, ist in der AristotelesForschung umstritten. 371

6.5 Diagramm der dynamis

Nachdem nun sämtliche Komponenten der aristotelischen dynamis erkundet worden sind, können ihre materialen Bestimmungen bzw. Charakteristika in dem begrifflichen Diagramm zusammengetragen werden. Die zugrundliegende Interpretationsthese war, dass sich der Begriff der dynamis bei Aristoteles durch eine mehrfache Bezogenheit zum Begriff der natürlichen Bewegung (kine¯sis, metabole¯) auszeichnet. Gemäß der hier vorgestellten Interpretation bildet die dynamis in Bezug auf Bewegung (dynamis kata kine¯sin) die Basisebene des dynamis-Begriffs (K6). In der basalen Bestimmung als Prinzip der Veränderung oder Bewegung in einem anderen oder in sich selbst, insofern es ein anderes ist, konstituiert sich die kinetische dynamis in mehreren Komponenten mit einem direkten oder indirekten Bezug zur Bewegung wie folgt: (i) durch das Element des ›Prinzips‹ (arche¯) in der Basisebene (K6), das an sich bereits ›Ausgang‹ einer Bewegung und zugleich Ausgang von Erkenntnis (K3, K2) meint; (ii) durch den direkten Bezug zur natürlichen Bewegung über die spezifische Bezogenheit des Prinzips der / zur Bewegung (K6, K5), (iii) und damit auch durch den vermittelten, nachbarschaftlichen Bezug zu den Bezugsystemen des Bewegungsbegriffs: Raum, Zeit, Kontinuität (K12); (iv) durch die Ausdifferenzierung des Prinzips im Sinne u. a. von ›Vermögen zur Bewegung‹ (agentive dynamis), ›Vermögen, bewegt zu werden‹ (patentive dynamis) und ›Vermögen, nicht bewegt zu werden‹ (hexis) (K7); (v) durch das Differenzierungs- und Strukturprinzip der Agentiv-patentivKorrelation, das seinerseits von der dualen Struktur der antiken Vorstellung von Bewegung herrührt (K8); (vi) durch den Problemkomplex der Existenz und Definition von Bewegung (K4), auf den die Konstruktion der ontologisch konfigurierten dynamis (K9) direkt antwortet. Der enge Bezug zu einem weiten Begriff der Bewegung, der sowohl das ontische Werden (genesis) von Dingen und Lebewesen als auch die natürliche Bewegung 371

Höffe (42014), 126–127.

= Intensive Verbindungslinien

Historischgeografisches Milieu K1: Athen um 500 v. Chr.

Abb. 8 Das Diagramm der dynamis

K11: archē, aitiai, technē, physis

Kategoriale Nachbarschaften

Epistemologisches & ontolog. Profil K10: wissenschaftstheoretisch bis ontologisch

Strukturprinzip K8: Agentivpatentiv-Korrelation

Theoretisches Terrain K5: Meta-Physik

Begriffliche Verzweigung K12: Bezugssysteme der Bewegung: Raum, Zeit, Kontinuität

Zweite Ebene des Begriffskorpus K9: ontologische Konfiguration: ‚dem Vermögen nach F seiend‘

Phasenraum K7: Tableau der dynamis: agentiv, patentive, natürliche, rationale dynamis, hexis

Basisebene des Begriffskorpus K6: kinetische Konfiguration: Prinzip/Vermögen der Bewegung in einem anderen

Metatheoretische Ebene K3: Wissen als Ursachen- und Prinzipienwissenschaft

K4: Problem der Bewegung

Problemkomplex

Wissenskulturelles Milieu K2: Mythos zum Logos

Diagramm der dynamis 231

232

Die Komponenten der aristotelischen dynamis

in Raum und Zeit sowie die qualitative und quantitative Veränderung umfasst, macht den Begriff der dynamis selbst zu einem Begriff in und zwischen Naturphilosophie und Metaphysik. Der diskursive Übergangsbereich von Naturphilosophie und Physik / Biologie zu Metaphysik und allgemeiner Ontologie wurde als ›Meta-Physik‹ (K5) herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund lässt sich die dynamis als Begriff der Bewegung und der Meta-Physik charakterisieren. Die kinetische dynamis bereitet wiederum begriffsstrukturell und erkenntnistheoretisch die Verwendungsweise als ontologisches Vermögen (das Vermögen F zu sein) vor (K9, K10). Die Analytik der begrifflichen Diagrammatik im Modus der horizontalen Analyse ermöglichte es, die vielfältigen Bewegungsbezüge und Strukturmomente der dynamis systematisch zu beleuchten. In der Zeichnung des begrifflichen Diagramms illustrieren die Linien die Verbindungen und die Intensität der Verbindungen der Komponenten im signierten Begriff der dynamis zueinander (vgl. Abb. 8). Es gilt nun zu untersuchen, wie sich die begrifflichen Diagramme der Machtbegriffe von Hobbes und Foucault vor dem Hintergrund der aristotelischen dynamis gestalten.

7. Hobbes’ Machtbegriff

7.1 Zugang zu Hobbes’ Machtbegriff

Kontinuitäts- und Diskontinuitätsthese. Für die diagrammatische Untersuchung des hobbesschen Machtbegriffs sind zwei große Diskussionen relevant, die sich in der neueren Hobbes-Rezeption herausgebildet haben. Dies ist zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Hobbes' Naturphilosophie und der Staatsphilosophie bzw. politischen Theorie. Zum anderen ist das Verhältnis von Hobbes zu Aristoteles Gegenstand interpretativer Diskussionen. Erstere Thematik betrifft die Frage nach dem Systemcharakter von Hobbes' Philosophie. Gemäß der sogenannten »Warrender-Taylor-These« 1 seien Natur- und Staatsphilosophie unabhängig voneinander zu betrachten, da beide Philosophien diskontinuierlich zueinander angelegt seien. 2 Diese Lesart vertritt also eine These der Diskontinuität zwischen Natur- und Staatsphilosophie. Dem gegenüber steht die Position, dass Hobbes' Natur- und Staatsphilosophie in einem philosophischen System arrangiert sind und damit auch in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinander stehen. Das Kontinuitätsverhältnis wird dabei unterschiedlich bestimmt. Eine Version dieser Position versteht das kontinuierliche Verhältnis als Fundierungsverhältnis: Die Naturphilosophie fundiere auf eine näher zu bestimmende Weise die Staatsphilosophie. Meine Interpretation schließt sich der Kontinuitätsthese an und verbindet sie mit einer ›schwachen‹ Systemthese, d. h., Natur- und Staatsphilosophie stehen in einem sowohl theoretischen als auch begrifflichen Kontinuitätsverhältnis zueinander. Die Kontinuität zeichnet sich jedoch nicht, wie eine ›starke‹ Systemthese behaupten würde, durch ein Deduktions- oder Determinierungsverhältnis aus, in welchem bspw. die politischen Prinzipien aus der materialistischen Physik deduziert wären 3, sondern durch einen Zusammenhang der methodischen und Williamson (1969). Spragens (1973), 29. 3 Watkins (1973), 5–6. Greenleaf hat (1969) in einem einflussreichen Aufsatz die Interpretationslandschaft der Hobbes-Rezeption aufgezeichnet. Er macht drei große Lesarten aus, in die bis heute viele Interpretationen eingeordnet werden können: die »traditional case«-Interpretation oder auch »orthodoxe« Lesart, z. B. Peters (1956), Mcpherson (1962), Goldsmith (1966); die »natural law case«-Interpretation, z. B. Taylor (1938), Warrender (1957); Skinner (2008), sowie die »individualist or nominalist«-Lesart, z. B. Strauss (2001), Oakeshott (1946/1975), Watkins (1973) (Greenleaf [1969], 1 2

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Hobbes’ Machtbegriff

begrifflichen Fundierung und Präfiguration. 4 Die Charakterisierung als System ist dabei nicht als deduktive und hierarchische Theoriearchitektur zu verstehen (das wäre ein ›starker‹ Systembegriff), sondern als Zusammengehörigkeit der philosophischen Disziplinen auf der Basis einer gemeinsamen Fundierung oder Anleitung. 5 Oakeshott hat bspw. diese Zusammengehörigkeit über die gemeinsame Teilhabe der Disziplinen an der Konzeption von Philosophie als Denken von kausalen Verhältnissen interpretiert. Ihm zufolge durchziehe die »continous application of a doctrine about the nature of philosophy« die Disziplinen bei Hobbes gleichsam wie ein Ariadnefaden. 6 In der hier vertretenen Interpretation gestaltet sich die Fundierung der Staatsphilosophie als begriffliche Präfiguration: Die Staatsphilosophie und deren zentrale Begriffe sind von der Ersten Philosophie« vorgeprägt, die bei Hobbes einen Grenzbereich der 9, 13, 17, Herv. i. O.). Greenleaf hat die Lesart, die ich hier als Kontinuitätsthese bezeichne, als »traditional« oder »orthodox interpretation« charakterisiert. Was ich hier als ›Diskontinuitätsthese‹ bezeichne, nennt Greenleaf die »natural law case«-These. Die hier vorgelegte Interpretation lässt sich mit Greenleaf als eine der traditionellen Lesart nahestehende Interpretation verstehen. Für Willms hingegen stellt sich die diskontinuierliche Lesart, mit der er u. a. Strauss und Oakeshott verbindet, als »traditionelle Interpretation« dar (Willms [1962], 97). 4 Eine begrifflich-kontinuierliche Lesart findet sich auch bei Frost (2008), Zarka (1996), Foisneau (1992), Röttgers (1990), Read (1991), explizit bei Spragens (1973), Polansky / Torell (1990) und und tendenziell bei Lupoli (2001), Rudolph (1986), Ball (1975). Auffällig ist an der HobbesRezeption, dass insbesondere in Interpretationen, die eine Anthropologie aus Hobbes’ Werken rekonstruieren und diese als (alleiniges) Fundament (anstelle der konzeptuellen und methodologischen Grundlegungen aus der Logik und Ersten Philosophie) der politischen Wissenschaft bzw. Staatsphilosophie auslegen, der Machtbegriff nahezu entkoppelt von der Grundlegung in der Ersten Philosophie und in subjektivistischem Vokabular dargestellt wird, vgl. z. B. Kersting (2006). Eine ähnliche Beobachtung macht auch Samantha Frost (2008), 136: »[T]he common impression of Hobbes’s description of power comes from a reading that does not give enough weight – if it gives any at all – to his materialist metaphysics and to the accounts of causation, power, and action that it entails.« Auch wird häufig mit Hobbes’ politischer Theorie pejorativ das Bild eines machtgierigen, blutrünstigen Individuums im Streit mit anderen machtgierigen Individuen oder einem über- und allmächtigen Herrscher assoziiert, ohne den Machtbegriff hinter der Theorie des Naturzustandes und des Leviathans in seiner Struktur und Herkunft zu analysieren (vgl. Frost [2008], 133). Eine formale Version der Systemthese ließe sich mit Dienstag so formulieren: »Hobbes’ science only controls the form of his political theory, and rather less the specific content.« (Dienstag [2009], 702). Weitere Lesarten der Kontinuitätsthese sehen den systematischen Zusammenhalt in unterschiedlichen Elementen, von ihnen seien vier der bekanntesten benannt: Oakeshott ([1957], xix) sieht Hobbes’ Natur- und Staatsphilosophie verbunden über einen »single ›passionate thought‹ that pervades its parts«: die Konzeption von Philosophie »as reasoning«, Watkins in einem »system of ideas« als »critical second-order philosophical inquiry« (Watkins [1955], 125, Herv. i. O.), Sorell (1996) über ein »scheme of science«, Dorothea Krook (1956) schließlich über einen durchdringenden Nominalismus. Vgl. auch ausführlich zur »Systemfrage« im Werk von Hobbes Wolf (1969), 14–96. 5 Vgl. Oakeshott (1957), xix. 6 Oakeshott (1957), xix; vgl. Willms (1962), 96.

Zugang zu Hobbes’ Machtbegriff

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Naturphilosophie darstellt. 7 Damit wird ein enger Zusammenhang zwischen Erster Philosophie, Philosophiekonzeption und den Einzelwissenschaften / philosophischen Subdisziplinen konstatiert und Hobbes' eigener systematischer Anspruch ernst genommen. 8 Fußend auf der Arbeitsprämisse der begrifflichen Differenz zwischen Macht als Prinzip der Bewegung, Vermögen und Fähigkeit (potentia) und Macht als Souveränität, Autorität oder Verfügungsgewalt (potestas) betont die hier ge7 Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf De Corpore (1655) (= Corp.) in der von Karl Schuhmann kritisch editierten lateinischen Fassung (1999) und seiner deutschen Übertragung (1997). Schuhmann verzeichnet die Originalpaginierung aus den Opera Latina, die ich übernehme. Außerdem arbeitet die diagrammatische Untersuchung mit Stellen aus der englischen und lateinischen Fassung des Leviathan (= Lev.), herausgegeben von Noel Malcolm (2012) und in der deutschen Übertragung von Jutta Schlösser (1996); ergänzt durch Passagen aus der lateinischen Fassung von De Cive (= Cive) (in der Edition von Howard Warrender) und De Homine (= Hom.) in der deutschen Übertragung von Lothar R. Waas (2017). Zusätzlich werden der Text Thomas White’s De Mundo Examined (kurz: De Mundo) (= DM) in der von Jean Jacqout und Harold Witmore Jones herausgegebenen und ins Englische übertragenen Fassung sowie einige kleinere Texte von Hobbes referenziert. Bei einigen Texten, die nicht in neuerer Edition vorliegen, wird auf die lateinische Originalversion in der von John Bohn herausgegebenen (1839–1845) und von William Molesworth besorgten Ausgabe Opera Latina (= OL) und / oder in der von Molesworth herausgegebenen Gesamtausgabe English Works (= EW) verwiesen, jeweils unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl. Die Zitierung erfolgt generell und wo möglich nach Kapitel (römisch), Abschnitt (arabisch) und Seitenangabe der deutschen Ausgabe, z. B. Corp. I.1, 15. Wenn nicht anders angegeben, sind alle Hervorhebungen aus dem Original übernommen und werden hier aufgrund der Vielzahl nicht als solche markiert. Der Lesbarkeit halber wird primär auf die deutsche Übertragung zurückgegriffen, in Fällen, in denen zur Verdeutlichung eines konzeptuellen und substantiellen Aspekts auf die englische oder lateinische Fassung zusätzlich herangezogen wird, erfolgt eine doppelte Zitierung, z. B. Corp. I.1, 15/lt. OL I, 1. Die Zitate aus den lateinischen und englischen Ausgaben werden, wenn nicht anders angegeben, in der originalen Orthografie übernommen (z. B. Leerzeichen vor Doppelpunkt und Semikolon, Kursivierung, Nicht-Kursivierung). 8 Diese Lesart findet sich auch in den Interpretationen von Tönnies (1896), Riedel (1969), Watkins (1973), Peters (1956), Zarka (1987, 1990, 1996), Sorell (1996), Frost (2008), Jesseph (2016b), Leijenhorst (1998, 2002). Vor allem auf die Auslegungen von Zarka, Leijenhorst und Frost werde ich nachfolgend wiederholt dankbar zurückgreifen. Hobbes hat explizit seine philosophischen Schriften De Cive, Leviathan und De Corpore und die darin behandelten Themen als »Abteilungen« eines philosophisches System bzw. als »unified philosophy« (Goldsmith [1966], xv) geplant, mit der Ersten Philosophie und Physik als erste Abteilung, der Untersuchung der menschlichen Natur (Anthropologie) als zweite Abteilung und der »Erforschung des Rechts des Staates und der Pflichten der Bürger« als dritte Abteilung (Cive, Vorrede, 13, 17–18, Herv. i. O.; vgl. Corp. VI.7). Obgleich Hobbes später merkte und anerkannte, dass es für die Staatsphilosophie nicht unbedingt der Kenntnis der Ersten Philosophie und Anthropologie bedürfe, da die Staatsphilosophie »sich auf eigene, durch Erfahrung bewährte Grundsätze stützte« (Cive, Vorrede, 18, Herv. i. O.), erkennt er letztlich zwei methodische Wege an, um zu den zentralen Einsichten der Staatsphilosophie zu gelangen: im synthetisch fortschreitenden Durchgang durch das System, mit dem Ausgangspunkt in der Konzeption von Philosophie (Logik und Erste Philosophie), und beginnend bei der Konzeption des Staates und analytisch rückschreitend zu seinen Ausgangspunkten, den »Gemütsbewegungen« der Menschen (Corp. VI.7, 83); vgl. dazu auch Nerney (1985).

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wählte begrifflich-kontinuierliche Lesart, dass auch bei Hobbes potentia und potestas semantisch und begrifflich voneinander zu trennen sind; zugleich macht sie aber auch ein interpretatives Angebot, wie potentia und potestas in ihrem theoretischen Verhältnis zueinander bestimmt werden können (vgl. K9).

7.2 Denkmilieu

Die Konzeption von Macht von Thomas Hobbes (1588–1679) entstammt einer historischen und kulturellen Epoche der Geschichte Europas und Nordamerikas, die häufig, je nach Periodisierung und Epochalisierungsbegriff, als ›Zeitalter der (radikalen) Aufklärung‹ 9, als ›Neuzeit‹, ›frühe Neuzeit‹ oder ›Frühmoderne‹ charakterisiert wird. Das Frankreich, England, Italien, Deutschland, Spanien und die Niederlande dieser Epoche bilden mit den jeweiligen territorialen, aber auch überterritorialen sozial-, kultur- und geistesgeschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen das Milieu der Philosophie und damit auch der Begriffsentwicklungen. Für die Darstellung des Denkmilieus gilt es einige Achsen und epochale Kristallisationspunkte aufzuzeigen, die in dem weiten Feld des Denkmilieus die Konzeptionen von Macht ›hintergründig‹, d. h. aus der »Gesamtbewegung« 10 des Denkens – oder mit Foucault: von der tiefen Ebene einer ›Episteme‹ 11 – mitkonfiguriert haben. 12 Dabei geht es also nicht um eine ›Gesamtdarstellung‹ eines historisch-sozialen und intellektuellen Zeitraums oder um die Nachzeichnung eines Denkraumes 13, sondern vielmehr um eine Skizzierung derjenigen Achsen und Topoi im Denkmilieu, die in Hinblick auf die weiteren diagrammatischen Komponenten relevant sind.

9 Zur Beschreibung der Dekade 1650–1750 unter dem philosophiegeschichtlichen und historischen Programmtitel der »radikalen Aufklärung (radical enlightenment)« oder »Radikalaufklärung« siehe Margaret C. Jacob (22006); Israel (2001). 10 Cassirer (2006), 13. 11 Vgl. Foucault (1974), (1981). 12 Für eine auf Thomas Hobbes angelegte, aber auch hinreichend allgemeine Beschreibung der Milieubereiche des 17. Jahrhunderts in Europa vgl. auch die enumerative Skizze von Ferdinand Tönnies (1896), 75–111. 13 Siehe zur Problematik von Gesamtdarstellungen gegenüber einer »erzählenden Geschichtsschreibung« Mittelstraß (1970), 8–9.

Denkmilieu

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7.2.1 Das historisch-geographische Milieu (K1)

Die Mitte des 17. Jahrhunderts 14 ist geprägt von Kämpfen um Herrschaft, Regierung und politische Macht. In England lassen sich drei politische und soziale Schauplätze herausstellen. 15 Zum einen herrschte ein Streit zwischen Parlament und Krone (Stuartkönigtum), der in einem Sieg der Befürworter der Einrichtung einer republikanischen, auf Bürgerrechten basierenden Ordnung mündete. Zwischenzeitlich unter dem Lordprotektor Oliver Cromwell (1653–58) beschränkt, gelang es dem Parlament in der Glorious Revolution (1688/89) durch die Bill of Rights (1689) einen Sieg zu behaupten. 16 Armeen auf Seiten des Königs Karl I. hatten gegen ein vom Parlament eingesetztes Heer gekämpft, welches wiederum Unterstützung von der Armee des calvinistischen Schottlands bekam. Dem Streit um die Umfänge und Durchsetzung von bürgerlichen und politischen Rechten und um die politische und staatliche Souveränität zwischen Republikanern und Monarchisten ging ein konfessioneller Bürgerkrieg in den 1640ern voraus, der einerseits ein »hermeneutischer« und theologischer Kampf »um die Auslegung der Heiligen Schrift« war, der zwischen Anglikanern, Katholiken, Presbyterianern und ›Independenten‹ geführt wurde, und sich andererseits in den politischen Kampf um die Regierungsform durch politisch-konfessionelle Allianzbildungen einfädelte. 17 Und schließlich begann sich ein dritter Kampfplatz, nämlich auf der Ebene der Gesellschaftsformation, abzuzeichnen: Eine aufstrebende bürgerliche Gesellschaft begehrte gegen die feudalen Strukturen, »die Reichgewordenen« gegen die »Reichgewesenen«, auf. 18 Kriegsgeschehen. Unterdessen brach sich die konfessionelle Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten und deren Spiegelung in den religiösen Ausrichtungen der König- und Fürstentümer auf dem Kontinent im Dreißigjährigen Krieg (1618–1638) Bahn und konnte erst im Westfälischen Frieden nach vierjährigen Verhandlungen zum Stillstand gebracht werden. Das raum14 Das 17. Jahrhundert ist in seiner Vielfältigkeit und Rasanz von Entwicklungen auf verschiedenen Ebenen schwer unter das Format eines homogenisierenden Epochenbegriffs zu subsummieren. Obwohl Hobbes’ denkerische und publizierende Schaffenszeit einen erstaunlich langen Zeitraum umspannt, beginnend in den späten 1620er Jahren mit einer Thukydides-Übersetzung (1629) und endend in den 1670ern, ist sein Denken doch in der Ausrichtung und inneren Orientierung ein Denken, das sich um die Jahrhundertmitte auskristallisiert. Entsprechend ist das Denkmilieu, in das er hineinstoß und in das er hineinwirkte, unter der gedehnten Bezeichnung ›Mitte des 17. Jahrhunderts‹ besser gefasst als unter der gröberen Bezeichnung »Philosophie / Politisches Denken / Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts«. Zumal Hobbes eben ein Zeitgenosse Descartes und Galileis war, aber nicht mehr in Berührung mit den Schriften Newtons kam. 15 Vgl. Ottmann (2006), 266–267. 16 Ebd., 266. 17 Ebd., 267. 18 Klenner (1996), XIV.

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zeitliche Milieu der Philosophie von Hobbes war also geprägt von den konfessionellen und theologischen Kämpfen (oder deren Nachhall), die sich mit den politischen Kämpfen um territoriale Ansprüche und die Gestaltung der Staats- und Regierungsformen verschränkten. Gerade für Hobbes, aber auch für andere non-konformistische Denker wie Spinoza bedeutete dieses konfessionell-politische Kriegsmilieu ein Schreiben unter dem drohenden Verdikt einer inquisitorischen Verfolgung – die Anklage Galileo Galileis hing noch wie ein Damoklesschwert über ihren publizistischen Tätigkeiten. Und dies auch, obwohl sich insgesamt ein Substitutionsprozess an den kulturellen und gesellschaftlichen Autoritätspositionen vollzog, bei dem die kirchliche Autorität zunehmend durch die Autorität der Wissenschaft und die Autoritäten weltlicher Staatsgebilde abgelöst wurde. 19 Strukturelle Veränderungen der Gesellschaft. Das Milieu zeichnete sich durch eine Multiplikation von tiefgreifenden Veränderungen und Neuerungen aus. Auf mehreren Gebieten der Technik, des Handwerks, der Infrastruktur, der Landwirtschaft und des wissenschaftlichen Instrumentariums veränderten Erfindungen die materiellen Produktions-, Lebens- und Erkenntnisbedingungen nachhaltig. Sie führten geradewegs zu revolutionären ›Entdeckungen‹ in den Naturwissenschaften 20 und zu ökonomischen wie militärischen Effizienzsteigerungen einerseits, aber auch zur Evolution von Regierungs- und Machttechnologien 21 andererseits. Die multiplen Kampfplätze und technischwissenschaftlichen Entwicklungen forderten wiederum nicht nur deren philosophische Reflexion ein; Philosophie und Wissenschaft fanden sich selbst in ihren traditionellen Grundlagen herausgefordert, hier in erster Linie die aristotelische Physik und Metaphysik, und die Methoden der Theoriebildung. Unter den Programmtiteln der ›Neuen Wissenschaft‹ und der ›Neuen Philosophie‹ nahmen sie mit Erfolg den Kampf gegen das Dogma der Theologie und dessen Prädominanz scholastischer Lehren auf. 22 Bereits von der renaissancehumanistischen Kritik an der spätscholastischen Philosophie und dem scholastischen Wissenschaftsverständnis eingeleitet, installierte sich ein grundlegen-

Vgl. Russell (62003), 499–502. Um nur einige Beispiele zu nennen: Mikroskop (1590), Fernrohr (1608), Thermometer, Barometer, Luftpumpe, Magneten, Blutkreislauf, Spermatozoen, Protozoen, Logarithmen, analytische Geometrie, Entwässerungs- und Drainagesysteme; vgl. Russell (62003), 544; Wolf (1959). 21 Vgl. zur Geschichte der Gouvernementalität im 17. und 18. Jahrhundert Foucault (32014). 22 Zur Veränderung der Theologie angesichts der naturwissenschaftlichen und technischen Neuerungen im 16. und 17. Jahrhundert siehe Greyerz (2010). Die Termini ›Scholastik‹ oder ›scholastisch‹ werden hier in nicht-pejorativer Weise verwendet, sondern zur Bezeichnung einer spezifischen Phase und Konfiguration der akademischen Philosophie, die vom 13. bis zum 17. Jahrhundert reichte (vgl. Leijenhorst [2002], 7, Fn. 24). 19 20

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der Wandel in der »Kultur[] der Erkenntnis und des Wissens«. 23 Dieser Wandel kristallisierte sich zum einen in neuen Begriffen von Philosophie, Wissenschaft und Methode überhaupt heraus, zum anderen aber auch in einer neuen Ausrichtung der wissenschaftlichen und denkerischen Tätigkeit auf die Anwendbarkeit des Wissens zum Zwecke der Naturbeherrschung und des menschlichen ›Fortschritts‹. 24 Wissenschaft und Philosophie wurden zu einer »humane[n] Dienstfunktion« 25, der Mensch strebte durch sie zu einem »vollendeten Selbstbesitz«. 26

7.2.2 Das wissenskulturelle Milieu (K2)

Vernetzte und hoch produktive Wissenschaften. Institutionell und wissenspolitisch betrachtet zeichnet sich das Europa in der Mitte des 17. Jahrhunderts 27 durch ein hohes Maß an Konnektivität im ökonomischen und intellektuellen Austausch aus. Hobbes steht darin mit seinem weitverzweigten Netz an Korrespondenzen und vermittelnden Kontaktpersonen sowie seinen Aufenthalten in London, Paris, Florenz nicht nur exemplarisch für die intensive intellektuelle Vernetzung und Mobilität im 17. Jahrhundert 28, zugleich bildet er selbst eine Art Knotenpunkt verschiedener, aus dem 15. und 16. Jahrhundert ragender Denkschulen, Denkweisen und Abkehrbemühungen eines platonisch oder humanistisch geprägten Anti-Aristotelismus gegenüber der traditionell gelehrten aristotelisch-scholastischen Universitätsphilosophie averroistischer oder thomistischer Prägung. Um einen Eindruck zu gewinnen sei hier ein kleiner Ausschnitt der intellektuellen Vernetzung, deren Möglichkeitsbedingung ein Charakteristikum des historischen Milieus war, gegeben: Hobbes, Sohn eines Geistlichen, dem ein zweifelhafter Ruf vorauseilte, studierte zunächst am Magdalen Hall College in Oxford (1602–08) und verpflichtete sich zu einem Dienst als Erzieher und Tutor, der bis an sein Lebensende andauern sollte, bei der Familie Cavendish, die mit William Cavendish (1590–1628) Sandkühler (2002), 18. Francis Bacon (1561–1626), weniger Philosoph denn Wissenschaftspolitiker, gab dieser Ausrichtung mit seiner Formel ›Wissen ist Macht‹ nicht nur populären Ausdruck, sondern verknüpfte die Idee einer ›Neuen Wissenschaft‹ mit der Idee einer fortschreitenden Entwicklung. 25 Blumenberg (2015c), 129. 26 Ebd., 128. 27 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts ereignet sich eine äußerst rasante Entwicklung beginnend mit den Keplerschen Gesetzen um 1605 und endend mit den ersten Traktaten Leibniz’ und der Entfaltung der Newtonschen Mechanik. 28 Siehe die akribische und ausführliche Auflistung der persönlichen Kontakte von Hobbes durch Noel Malcolm (1994). 23 24

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den zweiten Earl von Devonshire stellte. 29 Diese auskömmliche Anstellung brachte ihm nicht nur die Bekanntschaft mit seinerzeit führenden Politikern im englischen Parlament, sie ermöglichte ihm vor allem auch drei mehrjährige Aufenthalte auf dem europäischen Festland, die ›Grand Tours‹ (1610– 14, 1629–30, 1634–36); von der Exilzeit in Frankreich 1640–52 abgesehen. 30 War er zunächst in den 1620ern noch Sekretär vom Lordkanzler und Philosophen Francis Bacon (1561–1626), trat er in den 1630ern in Paris mit dem Theologen und Mathematiker Marin Mersenne (1588–1648) in freundschaftlichem Kontakt und wurde Teil von dessen Korrespondenznetzwerk (Mersennes' ›Zirkel‹), dem unter anderen auch der Pierre Gassendi 31 (1592–1655), die Mathematiker Blaise Pascal (1623–62) und Pierre de Fermat (1607–65) und der niederländische Astronom und Mathematiker Christiaan Huygens (1629– 95) angehörten. 32 Mersenne war es auch, der Hobbes eine Manuskriptversion von Descartes' Meditationes de Prima Philosophia (11641, 21642) übermittelte und sich für die Publikation von Hobbes' Einwänden im Anhang der Meditationes stark machte. Bei einem Aufenthalt in Florenz schloss Hobbes mit Galileo Galilei (1564–1642) Freundschaft. 33 Eine lange und tiefe Freundschaft verband ihn zudem mit dem von ihm um seine Leistung und unerschrockene Forschung bewunderten Arzt und Physiologen William Harvey (1578–1657) und mit Pierre Gassendi. 34 Bereits dieser kurze Aufriss der intellektuellen Korrespondenz- und Austauschbeziehungen von Hobbes zu den erfinderischen und schöpferischen Zeitgenossen aus den Bereichen der Naturwissenschaften, Mathematik, Theologie und Philosophie lässt die Beschreibung des 17. Jahrhunderts als »Century of the Genius« 35 und damit des intellektuellen Milieus auf unpathetische Weise plausibel erscheinen, war es doch ein Milieu, das sich der Intensivierung der Neuschöpfung und der Abkehr von traditionellen, institutionell verfestigten Denkwegen verschrieb. In der Verdichtung des intellektuellen Austausches brachte sich der Wille zu einem Neuen Denken und 29 Zum biografischen Werdegang von Hobbes siehe Aubrey (1898); Tönnies (1886), 1–71; Malcolm (2002), 1–26; sowie die autobiografische Schrift in lateinischer Verform Vita Carmine expressa (1671) (OL I, lxxxi–xcix). 30 Ottmann (2006), 267. 31 Zum Verhältnis von Hobbes und Gassendi siehe Schuhmann (2004). 32 Vgl. zur Verbindung von Hobbes und den Mitgliedern des Mersenner Zirkels Skinner (2002), 308–323; Jackson (2007), 80–83. 33 Aubrey (1898), 366. 34 Ebd., 298–299. In der Widmung zu seinem philosophischen Hauptwerk De Corpore (1655) führt Hobbes die herausragenden Leistungen seiner Freunde Galileo, Harvey, Gassendi und Mersenne auf ihren jeweiligen Fachgebieten an (Corp., Widmung, 4–5) – um sich dann, nicht gerade bescheiden, in die Reihe der großen Entdecker auf dem Gebiet der Staatsphilosophie einzureihen (ebd., 5). 35 Whitehead (1946), 49–70.

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zu einer Neuen Wissenschaft, ja zu einer »naturwissenschaftliche[n] und philosophische[n] Revolution« zum Ausdruck, die »die innerste Struktur unseres Denkens« verändern sollte. 36 Die neue Grundlegung ließ zunächst die metaphysisch-göttliche Ordnung (den kosmos und die ordo) zerbrechen, indem sie die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums hob, um anstelle dessen den Ausgang der Welt und des Wissens, d. h. die Weltschöpfung, im Menschen selbst zu finden: »Die von Kopernikus angezeigte kosmische Exzentrität wird wettgemacht durch die Selbsteinsetzung des Menschen in die Mitte seiner Welt.« 37 Die vom kirchlichen Dogma sanktionierte und verwaltete ordo wurde zu Grabe getragen und von einer neuen epistemisch-anthropozentrischen und politisierten Ordnungsvorstellung abgelöst. War der Mensch in der Zeit der Früh- und Hochscholastik noch in die von Gott und als Vollendung (perfectio, ens perfectissimum) und gemäß seiner absoluten Macht (potentia absoluta) geschaffenen Welt als ihr Mittelpunkt eingefügt, sollte es für ihn nun darum gehen, »[d]ie Urwahl der Wirklichkeit von Grund auf zu wiederholen« – was selbst wiederum »nur eine Frage realer Macht zu sein« schien. 38 In der normativen episteme wurden »Macht, Akkumulation von Energie, Potenzierung der Arbeit [. . .] erst heimlich, dann offen die Höchstwerte der Epoche«. 39 Man kann diesen Vorgang als ›Revolution‹ im Denken und des Denkens (Koyré), als ideelle und ideologische Umwendung (Blumenberg), als ›Bruch‹ im »positive[n] Unbewusste[n] des Wissens« (Foucault) 40 und Auftauchen neuer ›Empirizitäten‹ auf der Ebene der episteme 41, als neue wissenskulturelle Rahmung (Sandkühler) oder eben auch als Etablierung eines neuen ›Bild des Denkens‹ bezeichnen, das fortan die Seinsweise und Intentionalität des Denkens koordinierte und ausrichtete. Paradigmatischer Shift und pragmatische Ausrichtung der Metaphysik. Wie bereits angedeutet, stellten die Entwicklungen in den Naturwissenschaften, v. a. in der Astronomie 42, Physik und in der reinen Mathematik, sodann auch in der Biologie und Medizin, und ihre direkten Anwendungen in der Entwicklung neuer Techniken und Apparaturen im Labor und in der Lebensgestaltung in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung für die Philosophie dar. Dies betraf Koyré (22008), 12, 7 (Herv. L. B.). Blumenberg (2015b), 69, Herv. i. O. 38 Ebd., 8, Herv. i. O. 39 Ebd. 40 Foucault (1974), 11, Herv. i. O. 41 Vgl. zur archäologischen Beschreibung der Veränderungen in den vorwissenschaftlichen Koordinaten des Denkens Foucault (1974), (1981). 42 Vgl. Koyré (22008) zu der Bedeutung der Inventionen auf dem Gebiete der Astronomie und Kosmologie und deren Relevanz für die Herausbildung eines neuen mathematisierten Weltmodells, das die Grundlage des modernen Weltbildes werden sollte. 36 37

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zunächst ihre in der Scholastik prioritäre Aufgabenstellung als Lehre vom Sein und Seienden, d. h. als Lehre von den Strukturen der Wirklichkeit. Mit dem methodischen Zweifel und der Neubegründung der Metaphysik als »einem wesentlichen Teil der Theorie des Erkennens« 43 hat die Philosophie des Descartes einen »Paradigmenwechsel« in der Konzeption von Philosophie, maßgeblich in der Metaphysik und Ontologie, eingeleitet. 44 Ging es vorher darum, die Seins- und Weltordnung im Sinne der kirchlichen Dogmatik argumentativ zu durchdringen und abzusichern, so steht nun die Reflexion der Wirklichkeitserkenntnis als neuer Aufgabenbereich im Fokus. Die nun epistemologisch akzentuierte Metaphysik von Descartes 45, die zu einem wichtigen Bezugspunkt von Hobbes – generell von sämtlicher neuzeitlicher und moderner Philosophie – werden sollte, verschrieb sich der Ausgangsfrage, »wie es möglich sei, etwas von der denkunabhängigen Wirklichkeit zu erfassen, wenn dem Subjekt immer nur Vorstellungsinhalte unmittelbar bekannt sind«. 46 Die Frage nach der Möglichkeit von Erfahrungserkenntnis und dem Grad ihrer Sicherheit und Gültigkeit (certitudo modi procendendi) war einerseits unmittelbar darauf ausgelegt, die (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisse mit einer gesicherten metaphysischen Grundlegung auszustatten 47 und mit einer Theorie der Erkenntnis abzusichern. Andererseits und vermittelt verpflichtete sich die Metaphysik oder Erste Philosophie dem pragmatischen Anspruch, »den Menschen zu einer vernünftigen Weltorientierung« in einer Welt der Meinungen und Röd (22009), 19. Schnädelbach (1991), 58–68. 45 Der methodische Zweifel führt Descartes zu einer neuen Konzeption der Ersten Philosophie: Nicht mehr die Frage nach den Prinzipien des Seins, sondern nach den Prinzipien der menschlichen Erkenntnis bildet den Fragefokus und die Fragerichtung der Ersten Philosophie, die seit der griechischen Antike paradigmatisch von der Ontologie bedient wurde (Schnädelbach [1991], 61). Schädelbach nennt die diskursiven Ereignisse in der Philosophie des 17. Jahrhunderts deshalb auch einen Wechsel von einem ontologischen zu einem »mentalistischen Paradigma« (ebd., 58–68), was als erkenntnistheoretisches Paradigma zu verstehen ist. 46 Röd (22009), 33. Kondyle ¯ s verbindet den philosophischen Paradigmenwechsel bzw. die kämpferische (»polemische«) »Loslösung der Denktätigkeit vom vorherigen ontologisch-metaphysischen Rahmen« mit dem Auftreten des neuzeitlichen Rationalismus »als [neue] weltanschauliche Grundhaltung« (Kondyle¯ s [2002], 44). Präziser wäre es vermutlich, von einer Verschiebung von einer ontologischen hin zu einer epistemologisch orientierten Metaphysik zu sprechen, innerhalb derer wiederum die weltanschaulichen und wissenschaftstheoretischen Positionen des Rationalismus und Empirismus auftauchen. Schädelbach geht so weit, von einem Unmöglich-Werden der Ontologie als Erste Philosophie zu sprechen: »Ontologisches Philosophieren wird unmöglich, wenn es erst einmal fundamental bezweifelt ist, daß Erkenntnis des wahren Seins gelingen kann.« (Schnädelbach [1991], 59). Mit dem derzeitigen transdisziplinären ›turn to ontology‹ dürften wir so gesehen die Aufhebung der Unmöglichkeit erleben. 47 Vgl. zur metaphysischen Grundlegung der Wissenschaften das Standardwerk von E. A. Burtt (2003) sowie Kant (1977). 43 44

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Täuschungen, ja »zu einer Selbstständigkeit und Autonomie« zu verhelfen. 48 Die Philosophie als Metaphysik erhielt also ein neues framing in doppelter Hinsicht: Wurde Metaphysik zuvor im Lichte einer aristotelisch-scholastischen Theologie zu ihrem Selbstzweck geführt, wurde sie nun zum Zwecke der epistemologischen und ontologischen Grundlegung der Naturwissenschaften sowie »im Lichte moralischer Bedürfnisse und Postulate« 49 entworfen. Um aber der doppelten Anforderung und dem doppelten Selbstanspruch gerecht werden zu können, war die Philosophie nun auch hinsichtlich ihrer eigenen methodischen und theoretischen Grundlegung und ihrem traditionellen konzeptuellen Setting herausgefordert. Methodologie in der Philosophie und Wissenschaft. Mit der Neuausrichtung der Metaphysik weg von einem Primat der theologischen certitudo obiecti (Seinsgrund) hin zu der certitudo modi procendendi (Erkenntnisgrund) zu Beginn des 17. Jahrhunderts ereignete sich auch die Aufwertung der Frage nach der Methodologie in Philosophie und Naturwissenschaft. 50 Bevorzugte und gesetzte Methode der scholastischen Philosophie war die an Aristoteles angelegte Syllogistik und Wissenschaftstheorie (vor allem der Zweiten Analytiken), die für die Erklärung eines Geschehens nach den ersten Ursachen und Prinzipien der Veränderung an einem Ding (einer Substanz) fragt. 51 Sie bot auch den methodischen Rahmen der bis dato möglichen Naturwissenschaften und garantierte damit den Verbleib menschlicher Erkenntnis in dem ihm zugestandenen Erfahrungshorizont innerhalb der göttlichen Ordnung. In der aristotelisch-peripatetischen Metaphysik und Physik baute die Erklärung physikalischer Veränderungsvorgänge, insofern sie die Veränderungen von (lebendigen) Körpern oder höherstufigen Gegenständen betreffen, noch auf den konzeptuellen Grundpfeilern des hylemorphen Grundschemas auf. Nun wurde durch Bartuschat (1990), 88. Kondyle¯ s (2002), 11. 50 Im folgenden Abschnitt beziehe ich mich hauptsächlich auf die Studien von Kondyle ¯ s (1990), (2002) und Menn (1998). Kondyle¯ s diagnostiziert in dem Werk Galileis eine besondere Zusammenführung und »begriffliche Herauskristallisierung« des Paradigmenwechsel in der Philosophie bzw. Ersten Philosophie und des damit verbundenen Primats auf die certitudo modi procendendi (Kondyle¯ s [1990], 176). Anders als viele wissenschaftsgeschichtliche Darstellungen und erst recht Skizzierungen vermuten lassen, war zur Mitte des 17. Jahrhunderts die »mögliche Form der Naturerkenntnis nicht eindeutig festgelegt« (Böhme / van den Daele / Krohn [1977], 8). Verschiedene Varianten existierten parallel, »darunter die mechanische Philosophie, die empiristische ›experimental philosophy‹ und programmatische Strömungen, die mit dem ›Neuen Lernen‹ pädagogische, soziale und politische Ziele verbinden«, worauf Böhme / van den Daele / Krohn prägnant hingewiesen haben (ebd.). Gemäß der methodologischen Entscheidung, die jeweiligen Komponenten im Hinblick auf die folgenden Komponenten zu präsentieren, wird nachfolgend nur die Erkenntnisform näher vorgestellt, die Hobbes selbst befürwortet, d. h. hier konkret die mechanische Philosophie. 51 Vgl. zu Aristoteles’ Wissensbegriff Kap. 6.2.1 (K3). 48 49

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die Reduktion der qualitativen auf formalisierbare Eigenschaften eine Grundbedingung für die Mathematisierung (mos geometricus) und Mechanisierung (mos mechanicus) in den Erklärungsweisen für Naturprozesse gelegt, die das Novum in der Grundlegung der modernen Naturwissenschaften, aber auch der modernen Natur- und Wirklichkeitskonzeption bildete. Die Rolle der Mathematik und Logizität der Natur. Der Mathematik 52 wurde von Aristoteles der Rang einer theoretischen Wissenschaft neben der Physik und der Ersten Philosophie (oder Theologie) beigemessen, von allen dreien besitzt sie das höchste Maß an Erkenntnisgewissheit. 53 Die Doktrin der Applizierbarkeit der Mathematik auf die (naturwissenschaftlichen) Einzelwissenschaften, allen voran die Physik, und somit das mathematische Methodenideal insgesamt blieb jedoch bis ins 16. Jahrhundert hinein aus mehreren Gründen versperrt. Erst mit der Annahme (oder dem »Glauben«, wie es Whitehead formuliert) einer logisch strukturierten Ordnung in der Natur, die aufgrund ihrer Logizität dem rationalen, logisch verfahrenden Verstand zugänglich ist, sich also »rational erfassen lässt« 54, konnte das Naturseiende in den Rang des Intelligiblen und methodisch Erfassbaren aufsteigen. 55 Die Vorstellung der Logizität der Natur hängt darin eng mit dem Aufstieg des Rationalismus zusammen. Der Rationalismus stellt im Kern eine »Anwendung der Logik auf die Welt« dar, und insofern sich die Maßgabe der logischen Folgerichtigkeit in ihrer Anwendung auf die physische Welt als Kausalitätsprinzip und in ihrer Anschauung in die Form einer geometrischen Gesetzmäßigkeit übersetzt, werden eine logifizierte Natur und Welt eine dem Kausalitätskonzept und der Geometrie unterworfene Natur und Welt. 56 52 Das Wissensfeld, das hier bisher pauschal ›Mathematik‹ genannt wird, erlebte in dem Denkmilieu um die Mitte des 17. Jahrhunderts selbst eine rasante Entwicklung und Ausdifferenzierung: Descartes entdeckte die Analytische Geometrie, die die Euklidische Geometrie ›algebraisierte‹, um 1670 veröffentlichte John Wallis das Grundlagenwerk zur Rationalen Mechanik Mechanica, sive de motu und nur wenige Jahre später stellten Leibniz und Newton Infinitesimalkalküle auf. 53 Vgl. Kap. 6.2.1 (K3). Exemplarisch für diese Position ist Descartes’ Orientierung an der Geometrie (und wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, stand auch Hobbes dem in nichts nach): »[I]ch bedachte, dass unter all denen, die zuvor nach der Wahrheit in den Wissenschaften gesucht haben, es die Mathematiker allein waren, die einige Beweise gefunden hatten« (Descartes [2012], 41). 54 Kondyle ¯ s (1990), 149. 55 Whitehead hat die bemerkenswerte These aufgestellt, dass der »Glaube« an eine geordnete Natur oder die Idee der »Order of Nature« denkstrukturell aus dem Fatumsgedanken der griechischen Komödie hervorgegangen sei: »The pilgrim fathers of the scientific imagination as it exists today, are the great tragedians of ancient Athens, Aeschylus, Sophocles, Euripides. Their vision of fate, remorseless and indifferent, urging a tragic incident to its inevitable issue, is the vision possessed by science. Fate in Greek Tragedy becomes the order of nature in modern thought« (Whitehead [1946], 12, vgl. 49, 63). 56 Wohlers (2005), XXXII–IV, XLIII. Vgl. Whiteheads spitzzüngige Definition von Rationalismus: »By rationalism I mean the belief that the avenue to truth was predominantly through a meta-

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In methodischer Hinsicht zeitigte und bedingte die »programmatische Verbindung von Mathematik und Physik« 57 zugleich sowohl die Aufwertung der Mathematik als Methode und Modell gesicherter Erkenntnis als auch die Aufwertung der Natur und mit ihr der Disziplin der Physik bzw., was im 17. Jahrhundert noch nicht geschieden war, der Naturphilosophie. Die Naturphilosophie, seit Aristoteles traditionell die Zweite Philosophie, rückte dadurch bis zu einer Zone der Ununterscheidbarkeit in den Bereich der Ersten Philosophie, der Metaphysik, vor. Es bedurfte fortan einer metaphilosophischen Bestimmung, die eine Differenz zwischen Physik / Naturphilosophie und allgemeiner Metaphysik und Ontologie setzt. 58 Im Zuge der Logifizierung der Natur wurde die Mechanik zum paradigmatischen Modell der Naturerklärung. 59 Die Maschine wird zum »Strukturmodell der abendländischen Ontologie und Epistemologie erhoben« 60, womit zugleich auch die Metakategorie der Kausalität und mit ihr die Kategorien der Notwendigkeit und des Determinismus in der Physik und Metaphysik an Bedeutung gewannen. 61 Zu deren Plausibilisierung mussten allerdings die Grundbegriffe des Körpers und der Natur selbst transformiert und der Begriff der Materie homogenisiert werden: Der Begriff des Körpers wurde ›physikalisiert‹ und zu einem »operationale[n] Begriff«, der »es erlaubt, etwas allein unter quantitativen Bedingungen Hergestelltes als Natur zu betrachten.« 62 Die Natur wird damit nicht mehr als an sich Stehendes befragt, sondern im Hinblick auf »die konkreten Möglichkeiten gesellschaftlichen Herstellungshandelns an ihr«. 63 Der Begriff der Natur sollte fortan auf »ein System quantitativ fassbarer Abhängigkeiten« verweisen, das den Anspruch erhebt, natürliche Bewegungen und Abläufe durch die spezifischen »Wirklichkeitsausschnitte« der Experimentalanordnungen repräsentieren zu können. 64 In den Begriffen und Prämissen des mechanischen Erklärungsmodells reflektiert sich wiederum eine »radikale Änderung« in der (Erkenntnis-)»Einstellung gegenüber der Welt«: Nicht mehr die Frage nach dem Wesen der Dinge, sondern »die reduzierte Frage nach dem äuphysical analysis of things, which would thereby determine how things acted and functioned.« (Whitehead [1946], 49). 57 Kondyle ¯ s (2002), 98. 58 Vgl. zu diesem Aspekt in Bezug auf Descartes Wohlers (2005), XLV–XLVIII. 59 Die mechanische Denkweise war Ergebnis und Erzeuger der machina mundi-Vorstellung, die den imaginären Ausfluss einer Ideologisierung der »Identifikation von phýsei on und téchne¯ on« (Gloy [1995], 162) darstellte. 60 Kondyle ¯ s (1990), 162–163. 61 Vgl. Paty (2004). 62 Thielmann (2008), 217. 63 Ebd., 216. 64 Ebd., 217.

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ßeren Verhältnis der Gegenstände zu einander bzw. der Teile eines Gegenstandes untereinander« leitete das Erkenntnisinteresse. 65 Vor diesem Hintergrund erscheint die Aufwertung der Mathematik zu einem allgemeinen methodischen Instrumentarium oder Modell für sämtliche wissenschaftliche Methodik unter dem Titel einer mathesis universalis 66 nahezu als logische Konsequenz. Insbesondere aufgrund ihrer veranschaulichenden Kraft und aufgrund ihrer axiomatisch-deduktiven Beweisführung kommt der Euklidischen Geometrie hier eine besondere Bedeutung zu. Ist mit der mathesis universalis auf wissenschaftsphilosophischer Ebene vor allem die methodologische Orientierung an der Mathematik als Modell der Wissenschaftlichkeit gemeint, so steht die mathesis auf diskursarchäologischer Ebene für die Modifikation der »ganze[n] episteme der abendländischen Kultur in ihren fundamentalen Dispositionen«. 67 Das Denkmilieu um die Mitte des 17. Jahrhunderts war in seiner gesamten Wissenskultur oder episteme angeleitet von der mathesis »als universale Wissenschaft des Maßes und der Ordnung« 68, sodass, so Foucault, die Modelle von Maschine, Mechanismus und Mathematik selbst nur Ausdruck eben dieser Suche nach einer mathesis waren. 69 Begriffsbildungen als Abarbeiten an Aristoteles. Trotz der anti-aristotelischen Kräfte im 16. Jahrhundert der Renaissance-Philosophie, namentlich der humanistischen Bewegung mit ihren Anleihen im antiken Skeptizismus, und trotz des aufblühenden Stoizismus, Epikureismus (bekannte Vertreter waren Lepsius und Gassendi) und des rehabilitierten Platonismus 70 lässt sich für das Denkmilieu folgendes konstatieren: »The moderns [Vertreter der Neuzeit; L. B.] were part of an intellectual setting steeped in Aristotelianism. However much they may have striven to cast aside two thousand years of Aristotelianism, they were obviously forced to formulate their alternatives in terms comprehensible to those standing within in that tradition.« 71 Diese aristotelische Verankerung schlug sich somit auch in der Begriffsbildung im 17. Jahrhundert nieder, sie war immer noch aristotelisch (in der Form des späten Aristotelismus im 16. und 17. Jahrhundert) und aristotelisch-scholastisch (in den Schulen des Thomas von Aquin, der Jesuiten, Calvinisten, Lutheraner, in der Schule von Padua) geprägt. Leijenhorst führt hier das Argument der terminologischen Gloy (1995), 172–173. Descartes formulierte als einer der ersten das Konzept und den Anspruch der mathesis universalis. 67 Foucault (1974), 87. 68 Ebd., 90. 69 Vgl. ebd., 89–91. 70 Vgl. ausführlich dazu Menn (1998), 47–67. 71 Leijenhorst (2002), 3. 65 66

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Verständigung an, weist aber auch darauf hin, dass nicht nur die Diskursivität, sondern auch das pädagogische Milieu der Denker nicht zu vernachlässigen ist. Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibniz haben alle, gemäß dem damaligen curriculativen Standard der Universitäten, ein mehrjähriges Studium der Texte von Aristoteles absolviert. 72 Kritik an und Abkehr von der aristotelischen Philosophie oder ihren scholastischen Versionen war weit mehr als nur ein philosophischer Einwand, denn insofern die aristotelische Philosophie die christliche Theologie (unter)stützte, »an attack on this philosophy might be taken as an attack on the foundations of theology«. 73 Deshalb waren die Kritiker:innen auch angehalten, streng zwischen aristotelischer Grundlage und der Kritik an den »moral and religious effects« der vermittelten Form der Scholastik zu unterscheiden. 74 Nicht aber nur institutionelle und wissenschaftskommunikative Gründe beförderten eine intensive Bezugnahme zur aristotelischen Philosophie, es fehlte auch schlichtweg ein alternatives konzeptuelles Setting. Daraus ergab sich ein ambivalentes, begriffliche Hybridisierungen beförderndes Milieu, aus dem heraus Hobbes seine Philosophie und Begriffe schuf. 75 Er konnte ein ganzes Set an aristotelischen Kategorien und Begriffen als Ausgangsmaterial heranziehen und dadurch in den von Aristoteles eingesetzten konzeptuellen Bahnen verbleiben, ohne sich selbst substanziell der aristotelischen Philosophie verschreiben zu müssen. Anders formuliert: Die Philosophie der Neuzeit konnte nicht-aristotelische Philosophien erschaffen und doch auf das konzeptuelle und kategoriale Gerüst des Aristoteles angewiesen sein. 76 Zusammenfassung. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verpflichtete sich die Philosophie zunehmend auf eine Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, die insbesondere die Physik theoretisch und metaphysisch profilierte, womit sie sich zugleich in eine Konvergenz mit den ideellen und ontologischen Grundlagen der Mechanik setzte. Damit entwickelte sich wiederum nicht nur eine mechanische Naturphilosophie, sondern – auf allgemeinerer Ebene – ein Philosophietypus, der sich an einer mechanischen und materialistischen Denkweise orientierte. Das Denkmilieu um die Mitte des 17. Jahrhunderts ist, mit Deleuze und Guattari gesprochen, ein Konstruktionsraum mechanisch und materialistisch konfigurierter (signierter) Immanenzebenen. Dieser Konstruktionsraum verschreibt sich der Novität und Neu(be)gründung, bleibt aber in seinem Vollzug in einer oszillierenden Schwebe zwischen begrifflichem Traditionsbestand und begrifflichem Wagemut. Diese inhärente Spannung zwischen 72 73 74 75 76

Ebd., 2. Menn (1998), 35. Ebd. Vgl. Menn (1998), 38; Burtt (2003). Vgl. Brett (2010), 72; Spragens (1973).

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einem Willen zum Wissen und einer tiefen Demut gegenüber Gott, zwischen übersättigter Abkehrbekundung und tiefer Verbundenheit zu dem Wissensbegriff und Set an Basis-Begriffen und Kategorien des Aristoteles bildet ein weiteres Charakteristikum des empirisch-transzendentalen Feldes bzw. Denkmilieus von Hobbes. Vergleich und Ausblick. Interessant ist abschließend ein Vergleich von den ersten beiden begrifflichen Komponenten der dynamis und Hobbes' Machtbegriff, zeichnet sich hier doch eine gewichtige Parallele ab: Sowohl das wissenskulturelle Milieu der dynamis als auch das wissenskulturelle Milieu des hobbesschen Machtbegriffs ist geprägt von der philosophischen Ambition und Programmatik einer Neu-/Be-/Gründung der Physik bzw. Naturphilosophie und Metaphysik. Die Machtbegriffsbildung fällt in das diskursive Terrain der Aushandlung des Verhältnisses von Naturphilosophie, Erster Philosophie und den anderen philosophischen Disziplinen. Sie ist ebenso wie bei Aristoteles eng mit der Konzeption von Wissen und Philosophie als Prinzipienwissenschaft verbunden. Aus dem epistemologisch gerahmten Format von Naturphilosophie und Metaphysik bei Hobbes lässt sich zudem bereits erahnen, dass sein Machtbegriff nicht in dem theoretischen Terrain einer allgemeinen Ontologie konstruiert worden ist, sondern auf einem Diskursfeld, das sich – ähnlich wie bei Aristoteles – am besten als Meta-Physik charakterisieren lässt. 77 Für das Folgende gilt es nun, die ersten Komponenten des Begriffsmilieus (K3–K5) zu erkunden und schließlich in den Begriffskorpus des hobbesschen Machtbegriffs vorzudringen.

7.3 Begriffsmilieu I

Nachdem das Denkmilieu in den für die Machtbegriffsbildung zentralen Bereichen und Achsen skizziert wurde, sollen nun zunächst der erste Bereich des Begriffsmilieus, die Metatheorie (K3), dann der Problemkomplex (K4) und schließlich das theoretische Terrain der Begriffsbildung (K5) skizziert werden. 78

Vgl. Kap. 6.2.3 (K5). Die ersten beiden Komponenten stimmen mit dem überein, was Wolfgang Kersting in seiner Einführung zur politischen Philosophie von Hobbes als »[d]ie methodologischen und philosophischen Grundlagen seiner wissenschaftlichen Politik« bezeichnet, d. h. »die Wissenschaftlichkeit verbürgende Methode«, der »Erkenntnisbegriff« und sein »Systemideal« (Kersting [2016], 41–65, hier: 49). 77 78

Begriffsmilieu I

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7.3.1 Metatheoretische Rahmung (K3)

Hobbes' philosophische Tätigkeit ist, wie insgesamt das Denkmilieu, davon geprägt, der Wissenschaft und Philosophie ein neues Format zu geben. Das bedeutet, dass die Begriffe Philosophie und Wissenschaft selbst zur Disposition stehen. Die Konzeption eines Begriffs von Philosophie, Wissenschaft und wissenschaftlicher Methode bildet also einen wesentlichen Teil des Erkenntnisinteresses und des methodologischen Ideals selbst. Hobbes macht es uns in der Explikation und Anordnung der metatheoretischen Rahmung relativ einfach, da er innerhalb seines philosophischen Hauptwerkes, der dreiteiligen Elemente der Philosophie (Elementa Philosophiae), in dem systematisch ersten, in der Publikation jedoch letzten Teil, De Corpore, gleich zu Beginn unter dem Titel »Berechnung oder Logik« die Komponenten einer Ersten Philosophie entwirft und auch als solche deklariert. Die Erste Philosophie liegt, wie bei Aristoteles, den philosophischen Disziplinen und deren Begriffsbildungen voraus. 79 Was Hobbes hier anbietet, ist also nicht weniger als ein kurzes philosophiephilosophisches oder metaphilosophisches Traktat, das sich formal an die Stelle eines Organons zu seinem philosophischen System situiert.

a) Hobbes’ politische Metaphilosophie

›Falsche Philosophie‹. Begonnen sei zunächst mit einer Annäherung ex negativo an die hobbessche Konzeption von Philosophie, aus der sehr deutlich hervorgeht, gegen welche Arten von Philosophie sich Hobbes mit seiner eigenen Definition von Philosophie richtet. Für Hobbes ist die Anlage zur Ausübung der Philosophie im Menschen als Fähigkeit zur »natürlichen Vernunft [Ratio naturalis]« (Corp. I.1, 15/lt., OL I, 1) angeboren. Doch die natürliche Vernunft kann, so schildert es Hobbes im Leviathan, auf mehrfache Weise »falsch« verwendet werden, sodass verschiedene Formen ›falscher‹ Philosophie und »Scheinphilosophie [vain philosophy]« (Lev. XLVI) auftreten können. ›Falsche Philosophie‹ charakterisiert sich z. B. dadurch, dass sie entweder falsch ausgeübt wird, indem sie die Existenz oder eine falsche Existenzweise von abstrakten Entitäten behauptet (z. B. von Engeln und substantiellen Formen) (ebd., 564–568) oder indem sie sich der kirchlichen oder universitären Dogmatik unterordnet und anpasst (ebd., 562–563, 572–573). 80 So sei das Studium der Philosophie des Aristoteles in der universitären Praxis ihrer Totalisierung und Verabsolutie79 80

Vgl. auch die Aufzählung der sieben »Ursachen der Widersinnigkeit« in Lev. V, 36–37.

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rung als alleinig anerkannte philosophische Grundlage Dogmatik, und damit nicht mehr »eigentlich Philosophie (deren Natur nicht von Autoren abhängt), sondern Aristotelie.« (Ebd., 563) Nicht falsch, aber auch nicht zur Wahrheit führend ist über dies hinaus die Verwendung von neu geschaffenen Begriffen, insbesondere von lateinischen Neologismen 81 und allgemein die ausschließliche Verwendung der lateinischen Sprache, die nicht nur die Gehalte der Begriffe (absichtlich) im Unklaren lässt, sondern auch den öffentlichen Diskurs abwehrt (Lev. XLVI, 576, vgl. IV, 30–31). Die zu seiner Zeit gegenwärtige Philosophie sieht Hobbes also auf der Ebene der rhetorischen Darstellung und Argumentation, hinsichtlich des methodischen Vorgehens und des metaphysischen und ontologischen Entwurfs als auch unter dem Verdikt der kirchlichen und theologischen Autorität in ihrer »richtigen« Ausführung verhindert. Sie ist mit anderen Worten keine Philosophie oder keine Philosophie im wahren Sinne, weil sie sprachlich, theologisch, politisch korrumpiert ist. Hobbes war damit ein durch und durch politischer Philosoph und das durchaus in dem deleuzeschen Sinne, dass ihm die politische Qualität, die Politizität und auch Instrumentalität von Philosophie im Allgemeinen und von Ontologie, Epistemologie und Naturphilosophie im Besonderen bewusst war. 82 Denn auf das metaphilosophische Kapitel XLVI im Leviathan, das die rechtsgründigen Quellen der Falschheit und Gefährlichkeit der dogmatisch verfahrenden Philosophie entfaltet, folgt im direkten Anschluss (Kap. XLVII) eine gnadenlose Abrechnung mit der politischen und theologischen Funktionalisierung der Philosophie – die Funktionalisierung sei genau eine missliche und falsche philosophische Praxis. Diese »Aristotelie«, d. h. die falsche Auslegung und Anwendung der Terminologie und der Lehren des Aristoteles, die von dem römisch-katholischen und presbyterianischen Klerus diktiert werde, sei nichts anderes als eine verdeckte Strategie zur Sicherung theologischer und geistlicher Autorität (Lev. XLVI, 563, vgl. 566, 580, 582). 83 Gewissermaßen als schlechte Form theoretischer Politik habe die scholastische Theologie es vermocht, ein »Königreich der Finsternis« (XLVII) zu instituieren, das nicht der Philosophie und Wissenschaft, der Grundlegung und Erlangung gesicherter Erkenntnis, sondern – ganz weltlich – der Sicherung ihrer eigenen Herrschaft diene. Richte man aber die Frage nach Hobbes dürfte hier auf Beispiele der scholastischen Theologie wie qualia, quidditas abzielen. Ähnlich ist auch Baruzzis Diagnose, Hobbes schreibe »nicht neben der Ontologie noch eine politische Philosophie«, sondern Ontologie und Philosophie erhielten »einen politischen Grundzug« (Baruzzi [1997], 95). Das aber ist nicht »die Revolution der Hobbes’schen Philosophie«, wie Baruzzi (ebd.) meint, sondern, wie Hobbes erkennt, Merkmal aller Philosophie. 83 Das berühmte Kapitel XLVI (»Von der Finsternis durch Scheinphilosophie und mythische Überlieferungen«) im Leviathan ist ein seltenes und für die Zeit äußerst erstaunliches Dokument philosophischer Anklage. Dewey konstatierte nicht zu unrecht: »There is not to be found in all English literature a stranger performance than this chapter.« (Dewey [1982], 34–35). 81

82

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dem »cui bono?« auf die vom besagten Klerus angeordneten Lehren, könne man die usurpatorische Intention entlarven, die auf die »souveräne Macht über das Volk« (ebd., 580, vgl. 578–588) und den schlichten Erhalt der »geistlichen Souveränität« abziele (ebd., 580). Das »Kingdome of Darknesse« ist Hobbes' Name für eine Form von illegitimer, demagogischer Philosophie, die die kirchliche Souveränität konsolidiert. Sie ziehe ihre Macht aus verschiedenen Strängen der Verdunklung oder, modern ausgedrückt, aus Strategien der ›Verblendung‹. Charakteristisch für die philosophische Verdunklung bzw. Verfehlung ist eine zu theologischen Zwecken instrumentalisierte und mit der Bibel hybridisierte Lektüre der aristotelischen Physik und Metaphysik, aus der eine irrige, aber politisch höchst wirksame Lehre der »abstrakte[n] Wesenheiten und substantielle[n] Formen« (ebd., 564) hervorgehe. ›Richtige Philosophie‹. Wie verfährt dagegen eine ›richtige‹ Philosophie oder ›Gegen-Philosophie‹? Eine Gegen-Philosophie muss für Hobbes zuallererst auf der Ebene der Konzeption von Philosophie und Wissen ansetzen. Von hier aus kann sie überhaupt erst aus der theologischen Verflechtung herausgelöst werden 84, um dem eigentlichen Sinn und Zweck von Philosophie gerecht zu werden: nicht der kirchlichen Herrschaft, sondern dem »Wohl der Menschheit« (Lev. V, 39) zu dienen. 85 Hobbes geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er in der richtigen Philosophie selbst die garantierende Kraft für Frieden und Sicherheit, aber auch umgekehrt in der falschen Philosophie die Wurzel von Krieg sieht. 86 Richtige Philosophie ist die Wissenschaft der Bedingung der Möglichkeit von Frieden, und Frieden die Bedingung der Möglichkeit des »Wohls der Menschheit«: »Vernunft ist die Gangart, Vermehrung der Wissenschaft der Weg und das Wohl der Menschheit [the Benefit of man-kind] das Ziel.« (Lev. V, 84 Alternativ mit Heidegger formuliert ging es Hobbes um das Aufbrechen des »onto-theologischen« Formats der Metaphysik (womit auch deutlich wird, dass Heideggers Geschichtserzählung der Metaphysik als Verfangenheit in diesem Format nur funktioniert, weil sie Hobbes auslässt). 85 Shapin / Schaffer haben in ihrer wissenssoziologischen Studie Leviathan and the Air-Pump diesen theoriepolitischen Aspekt von Hobbes hervorragend (und auf in der Forschungsliteratur seltene Weise) erfasst und dargestellt, vgl. insbesondere die Kapitel »Leviathan’s Political Ontology« und »Leviathan’s Political Epistemology« (Shapin / Schaffer [1985], 92–109). Es wäre weiter zu überlegen, wie fern oder nahe die Verknüpfung von Philosophie mit dem abstrakten Menschheitswohl der Vorstellung gesellschaftlicher Eudaimonie bei Aristoteles steht. 86 Vgl. Corp. I.6, 7. Hobbes behauptet, dass die technischen Entwicklungen, die eine Gesellschaft zu ihrer Verbesserung der Lebensumstände hervorzubringen vermag, auf das Vorhandensein oder den Ausbildungsgrad von Wissenschaft als »Wissenschaft [. . .] fürs Wirkenkönnen« (Corp. I.6, 20) und die Philosophie zurückzuführen sei: »Die größten Annehmlichkeiten des Menschengeschlechts nun sind die Künste, und zwar die der Messung der Körper sowie ihrer Bewegungen [. . .]. Die Ursache all dieser nützlichen Einrichtungen ist also die Philosophie. [. . .] Die Wurzel alles Unheils aber, das durch menschliches Eingreifen vermieden werden kann, ist der Krieg, vor allem aber der Bürgerkrieg.« (Corp. I.7, 21).

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39/engl., 74). Die Zweckbestimmung von Philosophie hat für Hobbes, ganz in Kongruenz mit ihrem Denkmilieu, ihren »Rechtsgrund« in der »Sicherung des menschlichen Lebens und [der] Steigerung der menschlichen Macht« 87 gegenüber den Gewalten der Naturphänomene. Aus der knappen Annäherung ex nihilo kündigt sich erstens an, dass die Philosophie in der Verwirklichung ihrer eigenen Bedingung, der natürlichen menschlichen Vernunft, zu suchen ist, »welche voll Eifer über alle geschaffenen Dinge hinfliegt und die Wahrheit über ihre Ordnung, Ursachen und Wirkungen rückberichtet.« (Corp., An den Leser, 9) Und zweitens kündigt sich an, dass Hobbes mit seiner Konzeption von Philosophie den bisherigen Fehlern und Missbräuchen theoriepolitisch, nämlich in der Form einer Philosophie als Wissenschaft und Grundlage aller Wissenschaften zugleich, entgegentreten will: »Ohne Rückgriff auf eine strittige Moral, allein mit Mitteln einer wissenschaftlichen Philosophie will Hobbes Politik machen.« 88

b) Konzeption von Philosophie und Wissenschaft

Welche Konzeption von Philosophie bietet Hobbes an, die der Philosophie den Weg zur wahren Weisheit, aber auch zu einer Denkungsart zu ebnen vermag, die Frieden und Sicherheit gewährleistet? 89 Die programmatische Argumentation lässt sich in groben Zügen folgendermaßen nachzeichnen: Die Philosophie muss methodisch verfahren, um Anspruch auf Wahrheit erheben und zur Weisheit führen zu können. Eine methodische Vorgehensweise ist für Hobbes, ganz den rationalistischen Zügen seines Denkmilieu gemäß, eine an der Mathematik orientierte Vorgehensweise, die in der strengen Schlussfolgerung qua Berechnung der Argumentationselemente besteht. 90 Die reife Definition 91, die Strauss (2001), 49 (Herv i. O.,). Höffe (2010), 14. 89 Es geht Hobbes im Grunde also um eine notwendige Korrektur der Praxis der Philosophie, insbesondere der Subdisziplin der Metaphysik, die am besten mit einer klaren Definition und Programmatik derselben beginnt: »[S]o mache ich mich nun daran, mittels der wahrhaften und ordentlich der Reihe nach aufgestellten Grundlagen der Physik jene Empusa, die Metaphysik, aufzuscheuchen und zu verjagen, nicht indem ich sie bekämpfe, sondern indem ich Licht in die Sache bringe.« (Corp., Widmung, 7). 90 Vgl. 7.2.2 (K2). 91 Hobbes hat die Definition von Philosophie im Laufe seiner Publikationen und jeweiligen Ausgaben beständig modifiziert. Die früheren Versionen waren noch ganz in der Bahn des Substanz-Akzidenz-Schemas in der Form eines Körper-Eigenschaften-Komplexes (vgl. Lev. XLVI). Erst später, in den Fassungen von 1655 (lt.) und 1668 (engl.) von De Corpore wurde das SubstanzAkzidenz-Schema durch die Einführung physikalischer Kausalursachen als Leitkategorie ersetzt. Zur 87 88

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Hobbes in seiner metaphilosophischen Einführung in De Corpore von Philosophie gibt, illustriert diesen Aspekt und geht darüber hinaus: Philosophie ist die durch richtiges Schlußfolgern [per rectam ratiocinationem] gewonnene Erkenntnis der Wirkungen bzw. Phänomene im Ausgang vom Begriff [ex conceptis] ihrer Ursachen bzw. Erzeugungsweisen, und umgekehrt von möglichen Erzeugungsweisen im Ausgang von der Erkenntnis der Wirkungen. (Corp. I.2, 16/lt., OL 1, 2) 92

Hobbes' Philosophiekonzeption weist eine Reihe von zentralen Charakteristika auf. Sie zeichnet sich durch (i) eine logifizierte, szientifizierte und erkenntnistheoretische Rahmengebung aus, die (ii) zum einen eng mit einer sprachphilosophischen Komponente in Verbindung steht und die zum anderen (iii) die Kategorie der physikalischen Kausalität zur Maßgabe der Erfassung nimmt, wobei (iv) Kausalität selbst wiederum genetisch-kinetisch und poietisch ausgerichtet modelliert ist. Hobbes' Konzeption von Philosophie erhält zudem (v) eine Präzisierung durch begriffliche Abgrenzung zu nichtwissenschaftlichem Wissen und Glauben und (vi) durch eine allgemeine Funktionalisierung des Diskurses der Philosophie. Die letzten Elemente sind bereits skizziert worden, weshalb der Fokus nun auf die ersten drei gelegt werden soll. Rahmengebung (i). Die erkenntnistheoretische Rahmung von Hobbes' Konzeption von Philosophie wirkt, wenn man hier Philosophie mit Metaphysik gleichsetzt, wie eine prototypische kantische Antwort auf die Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist: nämlich als Lehre von der richtigen Erkenntnisweise, die zugleich der Möglichkeit gesicherter Erkenntnis und dem Bereich des Erkennbaren eine Beschränkung auferlegt. Für Hobbes ist diejenige Philosophie, die wissenschaftlich verfährt, die ›wahre Philosophie‹, denn sie »bindet die Möglichkeit von Erkenntnis an die Verfügbarkeit der Erzeugungsbedingungen ihres Gegenstandes«. 93 Ein erzeugter Gegenstand setzt sich aus erkenntnistheoretischer Perspektive aus Materie (oder Material) und Form zusammen – auch hier bleibt Hobbes Aristoteles durch sein formales Festhalten am Hylemorphismus in der Grundstruktur treu. Dabei ist genau nur dasjenige Ding intelligibel und überhaupt Gegenstand der Philosophie, dessen konzeptuellen Veränderung der hobbesschen Definitionen von Philosophie und Wissenschaft, vgl. z. B. Schuhmann (1997), XLIIf.; Malcolm (2002), 152–155. 92 Vgl. die ähnliche Definition im Methodenkapitel Corp. VI.1, 75/lt., 57: »Philosophie ist die durch richtigen Vernunftgebrauch gewonnene Erkenntnis der Phänomene bzw. auftretenden Wirkungen im Ausgang vom Begriff ihrer möglichen Hervorbringungs- und Erzeugungsweise [ex concepta productione sive generatione] und der tatsächlichen oder doch möglichen Hervorbringungsweise im Ausgang vom Begriff einer auftretenden Wirkung.« 93 Kersting (1988), 128.

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Erzeugung von seinen Elementen aus geschlussfolgert bzw. berechnet werden kann. Die Schlussfolgerung bildet als logische Operation nicht nur das wesentliche Charakteristikum der ausgebildeten, d. h. »durch Fleiß erworben[en]« Vernunft (Lev. V, 37), sie stellt auch höherstufig – in der Anwendung der Vernunft – das Wesensmoment von Wissenschaft und Philosophie dar. Was aber versteht Hobbes unter »Schlussfolgerung« (ratiocinationem)? Das Ziehen von Schlüssen gleicht für Hobbes einer Art Berechnung (computatio) nach den Rechenarten der Addition und Subtraktion. In der Berechnung sind die zu verrechnenden Elemente gleichsam wie in einem klassischen dreiteiligen Syllogismus (Ober-, Unter-, und Mittelbegriff, bzw. propositio major, propositio minor und conclusio) angeordnet. Der klassische Syllogismus dient also als Modell der logischen Rechenoperation der Vernunft. 94 Gegenstand der Berechnung werden nicht nur Dinge und Zahlen, »[v]ielmehr können auch Größen, Körper, Bewegungen, Zeiten, Qualitätsabstufungen, Handlungen, Begriffe, Proportionen, Reden, Namen (und darin sind alle Zweige der Philosophie inbegriffen) zu ihresgleichen hinzugesetzt oder davon weggenommen werden.« (Corp. I.3, 18; vgl. Lev. V) Demgemäß besteht bspw. die Schlussfolgerung im Feld der Logik aus einer an Komplexität zunehmenden Addition von Worten zu Sätzen und von Sätzen zu einem Syllogismus, der in Addition mit anderen Syllogismen eine Demonstration ergibt. Strukturähnlich würden die Staatsphilosophen (oder Politikwissenschaftler) »Verträge [in Syllogismen übertragen; L. B.], um die Pflichten der Menschen zu finden, und Juristen Gesetze und Fakten [addieren; L. B.], um herauszufinden, was bei den Handlungen von Privatpersonen recht und unrecht ist« (Lev. V, 33). Die Schlussfolgerung stellt bei Hobbes also die grundlegende Struktur von Wissenserzeugung dar, in der die zur wissenschaftlichen Betrachtung fähigen und legitimen Gegenstände (= die zerlegbaren und zusammensetzbaren Dinge) nach dem Modell einer Rechenoperation oder eines Syllogismus eingefügt werden können (vgl. Lev. IV, 29). Zugleich ist die syllogistische Vorgehensweise das Grundelement »des philosophischen Voranschreitens [progressionis philosophicae] unter Vorwärtsbewegung« (Corp. III.20, 56/lt., 41) 95, die Hobbes den »Gang der Philosophie« nennt (Corp. IV.13, 65). Begriffsanalyse (ii). In der als Rechenoperation konzeptualisierten Schlussfolgerung nimmt die Sprache eine zentrale Stellung als Bedingung der Möglichkeit des Zählens von abstrahierten Einheiten ein (vgl. Hom. X.3, 365, Lev. IV, 94 Vgl. ausführlich und anhand vieler Beispiele die Ausführungen zur Logik im engeren Sinne das Kapitel IV, »Der Schluß« (De Syllogismo), in De Corpore. 95 In der Weise wie Hobbes hier Philosophie konzeptualisiert ist Philosophie natürlich noch gänzlich undialektisch im hegelschen Sinne, ragt aber dennoch nominell in das Herz der Hegelschen Philosophie hinein.

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29). Die Sprache ist in der nominalistischen Konzeption von Hobbes das Medium und Ausdrucksmittel von ›Namen‹, die wiederum als »Zeichen für die Gedanken [. . .][,] nicht als Zeichen für die Dinge selber« (Corp. II.5, 29) 96 die Verkettung von Gedanken und die logische ›Verrechnung‹ von Einheiten qua ihrer Namen überhaupt erst möglich machen. 97 Beim Erwerb und in der Darstellung von wissenschaftlichem und philosophischem Wissen geht es dann darum, Ursache- und Wirkungsverhältnisse als Schlussfolgerungen in beide Richtungen, von den Ursachen zu den Wirkungen (kompositorisch oder ›synthetisch‹) oder von dem Wirkungsspektrum zu den Ursachen und Ausgangselementen (resolutiv oder ›analytisch‹) vom Begriff aus (ex conceptis) zu reformulieren (Corp. VI.6). Wenn Sprache die anthropologische Bedingung der Möglichkeit eines rationalen – d. h. bei Hobbes: berechnenden – Vernunftgebrauchs darstellt, so ›deanthropologisiert‹ sich die Sprache auf der Ebene der Philosophie und tritt in einen »postsprachlichen« Modus, wie es Martine Pécharman herausgearbeitet hat: »In Hobbes's view [. . .] philosophy as a science merely develops reason as the postlinguistic faculty of universal knowledge.« 98 Die Methoden der Schlussfolgerung, Begriffsanalyse und Begriffskonstruktion 99 fließen bei Hobbes in eigentümlicher Weise zusammen: Methodische Erkenntnisgewinnung, richtiger Vernunftgebrauch basiert auf Begriffsanalyse und Begriffssynthese, auf der Analyse komplexer Begriffe durch Abstraktion und Isolation der begrifflichen Teilelemente einerseits und ihrer methodisch geleiteten, konstruktiven Verknüpfung andererseits. 100 96 Hobbes vertritt einen gemäßigten Nominalismus, der eine Form der Verbindung zwischen Namen und Benanntem nicht negiert (vgl. Lev. II.6), ja sogar die Ursache für die Namen und Begriffe von Dingen in dem »Vermögen«, der »Tätigkeit oder Beschaffenheit des erfaßten Dings« selbst sieht (Corp. III.3, 46). 97 Die Bezeichnung »Name (name)« für die Grundeinheit der rationalen Schlussfolgerung übernimmt Hobbes vermutlich aus dem ockhamschen Nominalismus, den er, zu mindestens in der terminologischen Darstellung, auch bei dem von ihm bewunderten Galilei antrifft (vgl. zu Galileis Verhältnis zum Nominalismus Mittelstraß [1970], 193–203), wenngleich er nicht darauf verweist und stattdessen die Namen aus der römischen Buchhaltung heranzieht, in der die einzelnen Posten in den Berechnungen (rationes) nomina genannt wurden (Lev. IV, 29). Hobbes vermengt in seiner »Logik« also beide semantischen ›Namens-Linien‹. Vgl. zur Sprache als Ermöglichungsbedingung von Wissenschaft auch EL.V sowie Jesseph (1996), 96–100, und zur Funktion der Sprache als Bedingung von Gesellschaft und politischer Souveränität Watkins (1973), 99–118. 98 Pécharman (2016), 37. 99 In der Hobbes-Rezeption droht der Aspekt der Begriffsanalyse gerade in den politisch-theoretischen Studien häufig unter (Über-)Betonung einer materialistischen Ontologie und Metaphysik oder unter einem pauschalen Verweis auf »Hobbes’ Nominalismus« verloren zu gehen. Meines Erachtens zu vorschnell wird dann bspw. der Begriff von Ursachen mit (ontischen) physischen bzw. physikalischen Ursachen und Wirkungen selbst gleichgesetzt (vgl. Kap. 7.3.2, 7.3.3). Für eine konzept- und sprachbetonte Lesart siehe Zarka (1987). 100 Kersting (2016), 52.

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Kausalität, Wissensbegriff und die Methode der Philosophie (iii). Hobbes ist kein Verfechter der zu seiner Zeit aufkommenden experimentellen Naturwissenschaften. Der Weg zu einer gesicherten (und reproduzierbaren) Erkenntnis liegt für ihn in einer rationalen begriffsanalytischen und kausalitätsfokussierten Erkenntnisweise. 101 Wie lässt sich die philosophische Begriffsanalyse im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Ursachen- und Wirkungsverhältnisse verstehen? In dem Kapitel »Methode (De Methodo)« gibt Hobbes hierzu eine aufschlussreiche alternative Version seiner Definition der Philosophie, die sich mit derjenigen der Wissenschaft deckt: Philosophie ist die durch richtigen Vernunftgebrauch gewonnene Erkenntnis der Phänomene bzw. auftretenden Wirkungen im Ausgang vom Begriff ihrer möglichen Hervorbringungs- oder Erzeugungsweise und der tatsächlichen oder doch möglichen Hervorbringungsweise im Ausgang vom Begriff einer auftretenden Wirkung. Die Methode des Philosophierens ist also die möglichst bündige Untersuchung von Wirkungen aufgrund der Kenntnis ihrer Ursachen oder von Ursachen aufgrund der Kenntnis ihrer Wirkungen. [. . .] Wissenschaft bezieht sich also auf τò διότι [das Warum] oder die Ursachen [. . .]. (Corp. VI.1, 75)

Philosophie und Wissenschaft sind für Hobbes also strukturell parallel angelegte und methodisch angeleitete Ursachenerforschung, die »vom Bekannten zum Unbekannten fortschreitet« (Corp. VI.1, 76). Die Erkenntnis eines Dinges ist die Erkenntnis der das Ding hervorbringenden Ursachen. Hobbes' Ursachenforschung wiederholt damit unverkennbar den Wissensbegriff von Aristoteles, der die Erkenntnis eines Gegenstandes in der Erkenntnis seiner Prinzipien sieht. 102 Sind die Ursachen eines Phänomens bzw. eines Wirkungskomplexes nicht bekannt, so gilt es, sie in den Komponenten eines Zusammengesetzten (denn bei Hobbes ist jedes Ding ein erzeugtes Kompositum) aufzufinden und umgekehrt. Sind die Ursachen bereits bekannt, nicht aber das volle Wirkungsspektrum, so gilt es, die einzelnen möglichen und tatsächlichen Wirkungen, die von einem Ursachenbündel in den Komponenten ausgehen können, zu ergründen. Die Komponenten eines Teils sind für Hobbes aber nicht die (materiellen) Bestandteile eines Dings, sondern dessen essenzielle Eigenschaften, die in ihrer Gesamtheit die Natur eines Dings / Gegenstands kennzeichnen. Sowohl die Einzelteile eines Dings als auch die Natur eines Dinges – für Hobbes ist das die 101 Hobbes hat gegenüber seinem Zeitgenossen und experimentell orientierten Wissenschaftler Robert Boyle eine antipodische, wissenschaftstheoretisch ›konventionelle‹ Position eingenommen, die die Möglichkeit von gesichertem Wissen über Naturprozesse aus Versuchsanordnungen ausschlug. Die sich daraus ergebende Diskussion ist unter dem Titel ›Boyle-Hobbes-Debatte‹ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen. Vgl. dazu Shapin / Schafffer (1985). 102 Jesseph (1996), 86–87. Vgl. Kap. 6.2.1 (K3).

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Gesamtheit der möglichen Ausgänge von Wirkungen, also die Gesamtheit von Wirkursachen (causa efficiens) – sind der menschlichen Erkenntnis eher unbekannt und müssen daher erst analytisch erschlossen werden. An diesem Punkt referiert Hobbes abermals wissenschaftstheoretisch auf Aristoteles, indem er das von Aristoteles angeführte wissenschaftstheoretische Prinzip der relationalen Unterscheidung von Verstandes- und Gegenstandsnähe aufgreift. 103 Er gibt ihm allerdings eine begriffsanalytische Wendung, denn Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis ist für Hobbes nicht die Natur eines Dinges bzw. Körpers, nicht das (ontologische) Wesen des Dinges, sondern es sind diejenigen nominellen Aspekte, die sich ein Einzelding mit anderen als deren Gemeinsames kategorial und akzidentiell teilt. Das kategorial Gemeinsame nennt Hobbes zwar »Universalien«, die Universalien nehmen in seinem Wissensbegriff aber die Rolle von »Prinzipien« ein. 104 Die Universalien bilden gewissermaßen die epistemischen Konstitutionsprinzipien der Natur eines Dinges. Umgekehrt formuliert können die Prinzipien eines Dinges bei Hobbes durch Zergliederung in der Vernunft (nicht experimentell) aufgezeigt werden. Die Prinzipien korrelieren mit den Ursachen der Erzeugung und der Konstitution eines Dinges. Wissenschaft – hier alternativ vorschlagsweise der ›wissenschaftliche Modus‹ von Philosophie 105 genannt – zergliedert also die Phänomene in die Ursachen Vgl. Aristoteles, Phys. I.1, 184a19–26, Met. VI.1, 1025b2–18. Vgl. Corp. II.9, VI.4. 105 Das metaphilosophische Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie bleibt in der HobbesRezeption als metaphilosophische Position oftmals unexpliziert; einige Autor:innen neigen zu einer Gleichsetzung (z. B. in Ansätzen Kersting [1988], [2016]), andere setzen Wissenschaft und Philosophie in Opposition (z. B. Oakeshott [1957]). Ich schlage stattdessen vor, zwei ›Modi‹ der Philosophie als vernünftige Praxis zu unterscheiden. Auf dem Boden der Philosophie wäre zu unterscheiden zwischen einem ›grundlagentheoretischen Modus‹, den Hobbes »Philosophie als Wissenschaft schlechthin« nennt, und analog zu Aristoteles’ Seiendem als solchem die Ursachen der Universalien als solche untersucht; und einem ›wissenschaftlichen Modus‹ der Philosophie, der die Ursacheund Wirkungsverhältnisse durch Begriffsanalyse herauszuarbeiten bestrebt ist. Diese Unterscheidung orientiert sich an dem Denkmilieu um die Mitte des 17. Jahrhunderts, in dem die moderne Scheidung von Wissenschaft und Philosophie noch nicht ausgereift war, sie nimmt ihren Rückhalt aber auch aus dem Umstand, dass Hobbes (und seine Zeit) einer Tradition von Philosophiebegriff anhing, in dem Naturwissenschaft (bzw. Physik) als Zweite Philosophie immer schon zur Philosophie gehört und in die Erste Philosophie einwirken kann (vgl. dazu Kap. 6.2.3). Jürgen Mittelstraß hat eindrücklich daran erinnert, dass es in dieser Philosophiekonzeption weder eine Autonomie noch eine »partielle Abhängigkeit« des »philosophischen Denkens« gegenüber einem »physikalischen Denken« geben kann: »Neuzeitliches Denken ist vielmehr seinem eigenen Selbstverständnis nach, und dabei nicht nur einem älteren Philosophiebegriff folgend, immer beides, Physik (d. h. exakte Naturwissenschaft) und Philosophie«, und also »Physik nur eine andere Art, Philosophie zu treiben.« (Mittelstraß [1970], 7) Die disziplinäre Ausdifferenzierung von Philosophie und (Natur-)Wissenschaft beginnt sich tatsächlich erst kurz nach Hobbes’ hauptsächlicher intellektueller Schaffenszeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu entwickeln; vgl. dazu Böhme (1977). Zum Verhältnis von Philosophie und Physik ausführlich Kap. 7.2 (K2). 103

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ihrer Einzelteile, was in einem ersten Schritt die Zergliederung in Einzelteile und in einem zweiten Schritt die Identifikation der Universalien der Einzelteile impliziert, um daraus Kenntnis über die Wirkungen und Wirkungsmöglichkeiten zu erschließen. Im wissenschaftlichen Modus der Philosophie kann dann, gemäß seiner »kausal-genetischen Erklärung[sstruktur]« 106, jeder Körper erkannt werden, »bei dem sich irgendeine Erzeugungsweise begreifen und mit dem sich, wenn man ihn unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, eine Vergleichung vornehmen läßt; oder alles, bei dem Zusammensetzung und Zergliederung statthat, also jeder Körper, bei dem sich verstehen läßt, dass er erzeugt wird oder irgendwelche Eigenschaften hat.« (Corp. I.8, 23) Vorländer bringt daher Hobbes' Philosophiekonzeption auf die zuspitzende Formel, dass Philosophie (im wissenschaftlichen Modus) »Körperlehre« sei. 107 Die Philosophie als »Wissenschaft schlechthin« (Corp. IV, 77) geht darin einen Schritt weiter, indem sie die Ursachen der Universalien der Teile eines Körpers zu ergründen sucht. 108 Dies gelingt ihr nicht durch Zergliederung, vielmehr werden die Ursachen der Universalien »als von sich aus oder, wie man sagt, der Natur bekannt« (Corp. VI.5, 79) induktiv aufgefunden. In der induktiven Erforschung tritt Philosophie dann gewissermaßen in einem ›grundlagentheoretischen Modus‹ auf.

c) Hobbes’ allgemeine Bewegungshypothese

Bewegung und Erkenntnis. In der induktiven Bestimmung dessen, was als Ursache aufgefunden werden kann bzw. was als gegeben und notwendig wahr bestimmt wird, trifft die methodische Konzeption der Philosophie und der wissenschaftlichen Erkenntnis auf ein methodologisch notwendiges metaphysisches Fundament. 109 Bei Hobbes ist dies eine Art epistemologisch orientierte Metaphysik der Bewegung, denn Hobbes setzt, was zunächst überraschen Kersting (1988), 128. Vorländer (1990), 42, Herv. i. O.; vgl. Jesseph (2016), 128, und ähnlich auch Feuerbach ([1976], 84): Die Philosophie bei Hobbes sei als »bloße Körperlehre« konzipiert. 108 »Was aber diejenigen anbelangt, die Wissenschaft schlechthin zu erwerben suchen (die in möglichst umfassender Erkenntnis der Ursachen aller Dinge besteht), so ist es für sie unumgänglich – da die Ursachen aller Einzeldinge sich aus den Ursachen der Universalien oder des Einfachen zusammensetzen –, die Ursachen der Universalien bzw. derjenigen Akzidenzien, die allen Körpern, d. h. aller Materie gemeinsam sind, eher zu erkennen als die der Einzeldinge, d. h. der Akzidenzien, durch welche sich das eine Ding vom andern unterscheidet.« (Corp. VI.4, 77–78) 109 Jede Erkenntnis- und keine Wissenstheorie bedarf wenigstens eines minimalen bzw. schwachen metaphysischen oder ontologischen Committments – und sei sie nur im Modus einer theoretischen oder methodologischen Ontologie (wie etwa das Ding an sich bei Kant in einer metho106 107

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mag, Bewegung als »die universale und einzige Ursache« aller Universalien (Corp. VI.5, 79) und damit auch als das Warum (τò διότι) der Erkenntnis. Wie ist das zu verstehen? Bewegung wird zunächst nach dem Modell der natürlichen Bewegung im Raum »als stetiges Verlassen des einen Ortes und Erreichen eines andern« definiert (Corp. VI.13, 89, vgl. VIII.10). Wie Galilei geht es auch Hobbes dabei nicht um eine Bestimmung des Wesens von Bewegung (was noch die aristotelische Thematik und Streitpunkt in der Scholastik war) 110, sondern um das Bewegte bzw. das Natürlichseiende. Hinter der Bewegung in der Welt steht, anders als noch in der aristotelischen und cartesianischen Physik, bei Hobbes jedoch kein Erster (unbewegter) Beweger des Natürlichseienden, keine erste oder göttliche Ursache (›Gott‹, nous, eine materia prima). Das Natürlichseiende bedarf für Hobbes also weder in metaphysischer noch in epistemologischer Hinsicht einer transzendenten Bewegungsveranlassung in der Form eines vorgelagerten Prinzips. Vielmehr stellt die Welt als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis eine Welt in Bewegung und eine Gesamtheit der immanent bewegt-bewegenden Körper dar. Im naturphilosophischen Teil von De Corpore macht Hobbes deutlich, dass es für ihn kein Jenseits von Bewegung geben kann: »Denn so wahr es ist, daß nichts sich selber bewegt, so wahr ist auch, daß nichts sich bewegt außer durch etwas Bewegtes.« (Corp. XXVI.1, 270) In der Weise, wie das Phänomen und das Konzept von Bewegung schlechthin als Vorausgesetztes und Unhintergehbares von Hobbes postuliert wird 111, übernimmt Bewegung allerdings in epistemologischer Hinsicht die Funktion eines ultimativen und »quasi-transzendentalphilosophischen« Konstituens der Gegenstände (der Schlussfolgerung). 112 Hobbes macht damit eine Setzung, die Bewegung selbst anstelle eines Prinzips der Bewegung als ultimatives Erklärungsprinzip und als konzeptuelle Grundlage setzt. 113 In logischer und theoriearchitektonischer Hinsicht erfüllt Bewegung damit die Funktion eines nicht weiter explizierten metaphysischen Grundes der Universalien der Einzelteile

dologischen Lesart der Zwei-Aspekte-Interpretation). Und umgekehrt kommt auch keine Ontologie ohne eine Epistemologie aus. 110 Vgl. Mittelstraß (1970), 196–197. 111 Vgl. Riedel (1969), 427. 112 Kersting (1988), 134. Bewegung wird dabei nur in einem weiten Sinne auf eine Form von Gesetzmäßigkeiten verpflichtet, die, wie geometrische Theoreme, allgemeine und notwendige Wahrheit und a priori Gültigkeit beanspruchen können (Garber [2016], 120; Jesseph [2006], 120). 113 Vgl. ausführlich Brandt (1927), 242–292. Hobbes geht es nicht primär um die Aufstellung von »laws of motion«, auch wenn seine Konzeption von Bewegung von gesetzesartigen rationalen Prinzipien der inertia oder Persistenz der Bewegung und des Prinzips der Bewegungsänderung durch Kontakt der bewegten Körper ausgeht (Jesseph [2006]; vgl. Garber [2016], 120–121).

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sowie der Zusammensetzung sämtlicher Gegenstände und ihrer partikularen Bewegungen 114: Denn nicht nur die Mannigfaltigkeit aller Figuren hat ihren Ursprung in der Mannigfaltigkeit der Bewegungen, durch die sie konstruiert werden – und für Bewegung ist keine andere Ursache denkbar als wiederum Bewegung –, sondern auch die mannigfaltigen sinnlich wahrgenommenen Dinge, wie Farben, Töne, Geschmäcke usw. haben keine andere Ursache als Bewegung, die teils in den einwirkenden Gegenständen, teils im sinnlich wahrnehmbaren Wesen verborgen liegt; das aber so, daß, obwohl die Beschaffenheit dieser Bewegung nur durch Schlußfolgern erkannt werden kann, dennoch klar ist, daß hier jedenfalls Bewegung im Spiel ist. (Corp. VI.5, 79, vgl. VI.6)

Bewegung bildet damit das Hauptelement einer schwachen bzw. methodologischen Ontologie, die aufgrund des allgemeinen erkenntnistheoretisch ausgerichteten Erkenntnisrahmens bei Hobbes nicht mit einer starken materiellen Ontologie verwechselt werden sollte. Das Seiende ist in der hobbesschen methodologischen Ontologie, wie allgemein in der mechanischen Philosophie, Bewegung. Und insofern Bewegung auf ein Substrat angewiesen ist, ist das Seiende genau genommen Körperliches in Bewegung. So gesehen räumt Hobbes der Bewegung zwar absolute explanatorische Priorität ein – sie ist der Grund aller Ursachen –, doch wird die absolute Stellung der Bewegung durch die Angewiesenheit auf ein körperliches Substrat auf der Ebene der Ontologie relativiert. 115 Körper sind in Hobbes' Verständnis stets aus bewegten oder beweglichen Teilen zusammengesetzte Entitäten, die in ihrer Zusammensetzung immer das Produkt einer Erzeugung oder Herstellung darstellen, wobei Erzeugung als natürliche oder künstliche Erzeugungsbewegung, als genesis oder poiesis, verstanden werden muss. Aus einer ›techno-logischen‹ Lesart heraus kann man dann sagen: Jedes physei on wird von Hobbes als techne¯ on begriffen. Daraus ergibt sich mit der Formulierung von Wolfgang Kersting zum einen »eine Technisierung, 114 Oder wie Riedel es zuspitzt: Hobbes gebe dem Konzept der Bewegung »eine metaphysische oder, wenn man so will, dogmatische Deutung« (Riedel [1969], 427, Herv. L. B.). Die ›dogmatische‹ Setzung der Bewegung als letzten Grund ist aber nicht eine ontologische im klassisch ontologischen Sinne, sondern primär methodologisch motiviert als Prinzip des zureichenden Grundes zu verstehen, vgl. ähnlich Garber (2016), 112; Spragens (1973), 62. 115 Vgl. Lupoli [2001], 91. Lupoli stellt an dieser Stelle die Möglichkeit einer reinen Ontologie der Bewegung selbst infrage, wenn Bewegung noch an Materie gebunden und spatial konzeptualisiert wird und somit keine Wirklichkeit außerhalb der materiellen habe. Bewegung habe »even if it is the unique object of science [. . .], in fact has no reality outside the matter that is in motion: there is motion only in that there is a body in motion. The absolute cognitive priority that motion in act aquires, as it is the sole explicative principle, is counterbalanced by its complete, so to speak ›deontologization‹ (i. e. loss of any ontological status)« (Ebd., Herv. i. O.).

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eine Poetisierung des Wissensbegriffs«. 116 Zum anderen lässt sich ein epistemologisch-ontologischer »Bedingungszusammenhang« 117 aufzeigen, der eine naturphilosophisch basierte methodologische »›matter-in-motion‹-Ontologie [. . .] mit dem Hobbesschen Philosophiebegriff und der generativen Erkenntniskonzeption strukturell« 118 zusammenführt. Im ›grundlagentheoretischen‹ Modus der Philosophie, der bei Hobbes unter dem Titel »Erste Philosophie« firmiert, geht es dann im Anschluss an die Setzung der Bewegung als Ursache aller Ursachen genau darum, den Rahmen der Ausgangs- und Grundbegriffe wie Körper, Materie, Raum, Zeit etc. für alle weiteren wissenschaftlichen Untersuchung anzulegen. Vor diesem Hintergrund sind die Grundbegriffe in Hobbes' Erster Philosophie nicht nur als solche kategorial gesetzt, sondern werden im Lichte ihrer eigenen Voraussetzung, der Bewegung, definitorisch bestimmt (vgl. Corp. VI.5). 119 Es sei hier 116 Kersting (2016), 128–129. Ich teile diesen reduktiven Fokus auf das Technische, ähnlich wie in der Interpretation von Aristoteles, bei Hobbes nicht. Auf dem ersten Blick ähnlich zur Technikfokussierten Interpretation von Erzeugung ist die Lesart, die den Körper bei Hobbes als Maschine deutet. Während aber in der technischen genesis-Vorstellung der Akzent auf der Erzeugungsbewegung liegt, legt die Maschinenidee den Akzent auf die Tätigkeit der Erzeugung und das intentionale Machen. So interpretiert bspw. Baruzzi (1973) aus einem phänomenologischen Horizont Hobbes’ De Corpore als Philosophie, in der die Maschine die Funktion des »Interpretationshorizont[s] und -prinzip[s]« der körperhaften Welt einnimmt (Baruzzi [1973], 46–58, hier: 58). 117 Kersting (2016), 134. 118 Ebd., 135. 119 In derjenigen Lesart, der hier gefolgt wird, ist für Hobbes die Bewegung das allen Dingen, auch den Begriffen von Körper und Materie Vorausliegende, ich nenne sie deshalb ›kinetische‹ Lesart. Ihr zufolge erscheint es treffender, den hobbesschen Philosophietypus als materiellen ›Kinetismus‹, ›kinetischen Materialismus – oder am besten noch mit Frithiof Brandt als »Philosophie der Bewegung«, und Hobbes als »motionalist« (Brandt [1927], 379) zu charakterisieren. Da die Kinetik allgemein als Unterart der Mechanik aufgefasst wird, ist dies genau genommen eine mechanischkinetische Lesart. Die kinetische Lesart findet sich u. a. bei Lasswitz (1890), 207–242, Brandt (1927), Burtt (2003), 126–134, Spragens (1973), Walton (1974), Jesseph (2006), Pietarinen (2009), tendenziell bei Peters (1956), 86–97. Eng mit der mechanisch-kinetischen Lesart verwandt und insgesamt sehr verbreitet ist die mechanistische Lesart, die Hobbes‹ Position oder Philosophie als ›mechanistischen Materialismus‹ interpretiert, vgl. z. B. Esfeld (1995), Machamer (2014). Auffällig ist in der Rezeption auch eine bisweilen pauschale und unspezifizierte Einordnung als ›Materialismus‹ (oder auch Nominalismus), sie gleicht eher der Vergabe eines Etiketts, das gerade in historischen Darstellungen häufig viel zu voreilig und pauschal der Hobbes’schen Philosophie attribuiert wird. Außerdem geht mit der bloßen Klassifizierung als ›Materialismus‹ in den Fällen eine Auslegung des Körpers und Körperlichen oder des Konzepts der Materie als Grundeinheit einher, mit dem Effekt, dass die Fundamental- und Zentralstellung der Bewegung übersehen wird. Werden Körper und Materie als dem Konzept der Bewegung vorrangige Konzepte ausgelegt, kann man auch von einer ›korporalen‹ oder ›korporalistischen‹ Materialismus-Interpretation sprechen. Sie prädiziert dem Konzept des Körpers die quasimetaphysische Funktion der Substanz und des Subjekts und verwechselt damit, aus der Perspektive der kinetischen Lesart, die Grundidee oder Kategorie (Bewegung) mit dem Gegenstand der Erkenntnis (Körper) überhaupt. Beispielhaft für die ›korporal-materialistische‹

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vorgeschlagen, die methodologisch-ontologische Position der Vorgängigkeit der Bewegung Hobbes' fortan als ›allgemeine Hypothese der Bewegung‹ zu bezeichnen. 120 Die allgemeine Bewegungshypothese hat weitestreichende Konsequenzen für die Philosophie und Begriffsbildung bei Hobbes: »In his scheme of things motion is the only cause, and because all of philosophy involves reasoning about causes, he is committed to the thesis that motion is the ultimate explanatory concept.« 121 Auf der begrifflichen Ebene erhalten durch die allgemeine Bewegungshypothese sämtliche Grundbegriffe bzw. Definitionen einen Bezug zum Begriff der Bewegung bzw. eine ›kinetische Konfiguration‹. Zusammenfassung. Hobbes hat eine Philosophie als Wissenschaft vorgelegt, die sich als »philosophy in an almost Aristotelian sense« begreifen lässt, d. h. als »explanation of the phenomena of the world that is ultimately grounded in first causes.« 122 Damit vertritt Hobbes eine Wissens- und Wissenschaftskonzeption, die das aristotelische Verständnis von Wissenschaft als Wissenschaft der für die Untersuchungsgegenstände konstitutiven Prinzipien und Ursachen wieder-holt. Nur sind die ersten Ursachen für Hobbes keine transzendenten Prinzipien oder immanente Formen, sondern in einer ultimativen immanenten Ursache, der Bewegung, aufgehoben. Dass Bewegung in methodologischer und metaphysischer Hinsicht den Schlüssel zur Erkenntnis der Natur und einen zentralen begrifflichen Referenzpunkt darstellt, konnte strukturell ebenso bereits für Aristoteles' Naturphilosophie und Meta-Physik festgestellt werden. Hobbes folgt in dem diagrammatischen Aspekt der Metatheorie offensichtlich Lesart ist die Auslegung von Ulrich Weiß (1980), der Hobbes’ Konzept des Körpers als »Grundbegriff schlechthin« deutet, und den Körper als »das Selbstständige, durch und in sich selbst Stehende, jeglichem Seienden Voraus- und Zugrundeliegende« liest (Weiß [1980], 42, 43). Weitere korporalmaterialistische Interpetationen finden sich u. a. bei Höffe ([2010], 18–19, 110), Gert (2001), Bertman (1991). Alternativ zum kinetischen und korporalistischen Materialismus schlägt Samantha Frost ([2008], 6) eine Art »variegated materialism« vor. Eine dritte Lesart ist die ›maschinale‹ Lesart, die Hobbes’ Denken »sub specie machinae« setzt und dabei die Kategorie des Körpers ausschließlich durch das Modell der Maschine liest, vgl. hierzu Baruzzi ([1973], 46–58, [1997]), Kraynak (1990). Alle Lesarten bis auf die maschinale treffen ein wahres Moment in der Philosophie von Hobbes, doch erscheint es mir unangemessen, Hobbes auf einen dieser Aspekte unspezifiziert zu reduzieren. Diese Auffassung vertreten (meinen Zugang unterstützend) auch Arp (2002) und Sprinborg ([2016], 817–23). Greenleaf (1969) macht in seiner Übersichtsdarstellung zur Rezeptionslage hingegen keine Unterscheidung zwischen diesen vier Lesarten, bei ihm firmieren alle vier Lesarten (viel zu pauschal) unter dem »orthodoxen« oder »traditionellen Interpretationstyp«, der Hobbes als Materialisten und wissenschaftlichen Naturalisten ausweist. 120 In der Hobbes-Forschung wird alternativ auch von Hobbes’ »general theory of motion« oder »Idee der Bewegung« oder »Doktrin« oder »Paradigma« der Bewegung als Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie gesprochen, vgl. z. B. Brandt (1927), Watkins ([1955], 318), Peters (1956), Spragens ([1973], 62). 121 Jesseph (2006), 119. 122 Garber (2016), 113.

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Aristoteles' umfassender Kinetik. Denn ähnlich wie bei Aristoteles berühren sich strukturell Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Meta-Physik an einem bestimmten Punkt 123, nämlich in der apriorischen Bestimmung der unvermittelten Prämisse oder Hypothese der Bewegung. Bereits über die metatheoretische Komponente ist Hobbes' Machtbegriff damit sowohl mit einer erkenntnisfundierenden Theorie der Bewegung als auch mit dem Kausalitätsbegriff verschränkt.

7.3.2 Problemkomplex (K4)

Die Suche nach der ›richtigen‹ Philosophie. Gemäß der begrifflichen Diagrammatik bildet der Problemkomplex eine Komponente des Machtbegriffs, auf den die Gestalt und Bildung von Hobbes' Machtbegriffskorpus Antwort gibt. Der begriffsbildende Problemkomplex ist nun bei Hobbes, anders als bei Aristoteles, nicht die Intelligibilität von natürlicher Bewegung, sondern die Frage nach der Form von vernunftgeleiteter und dadurch friedensbereitender Philosophie und Wissenschaft überhaupt. Die Komponente des Problemkomplexes steht daher in engem Zusammenhang mit Hobbes' Metaphilosophie bzw. den Elementen der metatheoretischen Rahmung (K3). Das Problem der Form friedenssichernden (›richtigen‹) Denkens leitet, wie bereits angedeutet, die gesamte Philosophie von Hobbes in ihrer Konstruktionsweise an und prägt dadurch auch die konkrete Begriffsbildung. Politizität der Philosophie. Die große Problemlage, die sich in und aus dieser politisch-philosophischen Verflechtung für Hobbes abzeichnet, ist, dass sich die politische Wirksamkeit der Philosophie bis in die Anfangsgründe des größten »Unheils« der Menschheit, dem Krieg im Allgemeinen und dem Bürgerkrieg im Besonderen, hineinzieht, ja zu dessen eigentlichem »Grund« selbst potenziert: »Grund des Bürgerkriegs ist [. . .], daß man die Ursachen von Krieg und Frieden nicht kennt, und daß es nur sehr wenige gibt, die ihre Pflichten, dank derer der Friede gedeiht und erhalten bleibt – die also die wahre Richtschnur der Lebensführung gelernt haben. Die Erkenntnis dieser Richtschnur aber ist Moralphilosophie.« (Corp. I.7, 21–22) Für Hobbes bilden also eine defiziente Moralphilosophie oder Theologie und eine dem (römischen und presbyterianischen) Klerus ausgelieferte oder sich anbiedernde (Schul-)Philosophie letztendlich der Grund und »die Ursache allen Streits und Mordens« (Cive, Vorrede, 12) – u. a. des konkreten Bürgerkriegs in England 124, vor dem 123 124

Vgl. Detel (2011), XLVII. Vgl. Kap. 7.2.1 (K1).

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er sich noch vor der Publikation von De Cive ins Exil nach Paris zu flüchten gezwungen sah. Hobbes zieht daraus den Umkehrschluss, im Medium der Philosophie selbst eine Bedingung der Möglichkeit von Frieden und normativer wie materieller Sicherheit und Ordnung finden zu können. So wie eine falsche Philosophie im Allgemeinen und eine falsche Ontologie sowie eine falsch ausgeführte Staats- und Moralphilosophie im Besonderen herrschaftssichernd wirken und zugleich die Saat für Unsicherheit und Bürgerkrieg in sich tragen, so liegt in einer richtigen Philosophie, insbesondre in einer methodisch angeleiteten Staatsphilosophie, der Keim für die Abwehr des Krieges und des Ausgangs aus dem selbst verschuldeten Zustand von Unsicherheit und gesellschaftlichem Chaos. 125 Richtige Philosophie hat also durch die Bereitstellung und Praxis eines konzisen schlussfolgernden und dadurch nicht korrumpierbaren Denkens in vermittelter Weise den Zweck, für die Sicherung oder Herstellung des Friedens notwendig beizutragen. Mehr noch: Methodisch angeleitete Philosophie ist für Hobbes selbst bereits »pazifistisch« – darin zeigt sich sein nahezu utopischer »Methodenoptimismus«. 126 Da also das Problem des Bürgerkriegs und der normativen und materiellen Unsicherheit in der Gesellschaft durch eine falsche oder ausbleibende Leitlinie in Philosophie und Wissenschaft verursacht werde, es gewissermaßen ein philosophieinduziertes Problem sei, identifiziert Hobbes konsequenterweise dessen Lösung in einer transformierenden Korrektur der schuldigen Philosophie und Wissenschaft selbst, indem sie in den Stand versetzt werden, gesichertes Wissen im Allgemeinen und substanzielle Lehren zur Erzeugung von Frieden und Sicherheit im Besonderen zu proliferieren. Während die allgemeine Philosophie (die Wissenschaftstheorie der Logik und die Erste Philosophie) die Mittel in Form einer syllogistischen und demonstrativen Methode und einer theoretischen Ontologie bereitstellt und darin auch rein philosophieimmanente Probleme 127 behandeln kann, obliegt es der Staatsphilosophie sich gegenständlich mit dem Problem, wie soziale und politische Ordnung möglich und welche Regierungsform dazu notwendig ist, zu beschäftigen. Die Staatsphi125 Hobbes greift in seiner Konzeption einer ›richtigen‹ Basis für eine ›wahre‹ Philosophie selbst wiederholt auf die Metaphorik des Aus- und Einsäens zurück, vgl. z. B. die Stelle: »Da ich nun bisher an ihre übrigen Teile eine gleiche Mühe noch nicht gewendet sah, fasse ich den Entschluß, nach Vermögen die wenigen ersten Elemente der gesamten Philosophie auseinanderzusetzen, gewissermaßen als eine Art Saatkörner, aus denen, wie mir dünkt, die unverfälschte und wahre Philosophie nach und nach hervorwachsen kann.« (Corp. I.1, 16) 126 Kersting (1988), 127. Ähnlich auch Peters ([1956], 48): »Perhaps his basic delusion, which he shared with so many others, was just this belief in the efficacy of method.« 127 Wie bspw. die Probleme der Wahrnehmung (sensation) und Vorstellung, aber auch Probleme in der Wissenschaft der Optik, die Hobbes mit seinen wissenschaftlichen Theorien behandelte (gar zu lösen glaubte).

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losophie ist deshalb auch für Hobbes qua ihres Gegenstandes »die bedeutendste der Wissenschaften« (Cive, Vorrede, 10). Das Richtige auf richtige Weise lehrend ist die Staatsphilosophie von unmittelbarem Nutzen für den Frieden, sie kann nachgerade zu einer »Friedenswissenschaft« werden 128: Ihren Nutzen [der Staatsphilosophie], wenn sie recht gelehrt wird, das heißt, wenn sie aus wahren Grundsätzen durch klare Schlußfolgerungen abgeleitet wird, erkennt man dann am besten, wenn man sich den Schaden vor Augen hält, der sich für das Menschengeschlecht aus einer falschen und geschwätzigen Befassung damit ergibt. [. . .] So groß also wie diese Schäden sind, so groß ist der Nutzen einer Lehre von den Pflichten, die gründlich vorgenommen wird. (Cive, Vorrede, 10– 11, vgl. 12)

Frieden und Ordnung haben dabei ihr Telos in der je zukünftigen Zeit, sie sind für Hobbes das in der Gegenwart Anzustrebende. 129 In der Hobbes-Rezeption ist es gängig, das Problem der sozialen und politischen Ordnung als Anlass und Movens seiner politischen Philosophie zu betrachten 130; dabei wird allerdings nicht selten, gerade in politikwissenschaftlichen Darstellungen und in diskontinuierlichen Lesarten bezüglich des hobbesschen Systemgedankens, vernachlässigt, dass Hobbes die Lösung des Problems nicht nur in den substanziellen Lehren der Moral- und Staatsphilosophie sieht, sondern eben auch tieferliegend auf der Ebene der methodischen Form und konzeptuellen Grundlegung einer politischen Philosophie und Theorie situiert. 131 Hobbes stellt sich nicht nur die Frage nach einer adäquaten Theorie der Regierung und Legitimation von Herrschaft, sondern eben auch die Frage, wie eine Philosophie und Wissenschaft aufgestellt sein und voranschreiten muss und wie ihre Grundbegriffe definiert sein müssen, um als Bedingung der Möglichkeit von Sicherheit und Frieden fungieren zu können. Die methodische Vision besteht darin, durch ein methodisch gesichertes und damit in seiner Wahrheit abgesichertes Wissen von der Ebene der Theorie aus Sicherheit in der Gesellschaft zu ermöglichen. Hobbes' Zielvorstellung liegt in der Formel: »There must be a rational reconstruction of civil society which goes down to Kersting (1988), 127. Zum »temporal frame for thinking about the ethical value of actions« im Rahmen des »pursuit of peace« siehe Frost (2008), 114–118. 130 Vgl. z. B. Williams (2019), Shapin / Schaffer (1985) für gewinnbringende kontinuierliche Lesarten. 131 Obwohl sie nicht müde wird, die Zentralität von Hobbes’ »materialist metaphysics« zu betonen, lässt auch Samantha Fox’ Interpretation (2008) die Rolle der Logik, Ersten Philosophie und Naturphilosophie für das Primat des Friedens unterbeleuchtet. Fox situiert den ethisch-politischen Einsatz des »pursuit of ethical injunction« (ebd., 114) letztendlich auch nur in den Wissensbereichen der Ethik, Politikwissenschaft und Staatsphilosophie (vgl. ebd., 106–132). 128 129

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first principles«. 132 Rekonstruktion meint zunächst Analyse, Rückgang auf die grundlegenden Elemente und deren Ursachen, um dann in der argumentativen Demonstration bzw. Kompositionsphase die Facetten der Gefahren für den Krieg als mögliche Wirkungen der Ursachen transparent zu machen. 133 Zusammenfassung. Der Problemkomplex der Suche nach der ›richtigen‹ Philosophie, auf den die Begriffsbildung der potentia bei Hobbes antwortet, zeichnet sich dadurch aus, dass er die theoretische Aufgabe und den Anspruch einer wissenschaftlichen im Gegensatz zu einer metaphysischen Begriffsbildung formuliert und das Feld dieser Begriffsbildung im Diskurs der Wissenschaftstheorie oder einer Ersten Philosophie situiert. Wenn auch auf unterschiedliche Weise, nimmt die Frage nach der Bewegung sowohl bei Aristoteles als auch bei Hobbes eine grundierende Funktion in der gesuchten Form wissenschaftlicher Begriffsbildung ein. Deshalb kann weder Aristoteles' dynamis noch Hobbes' Machtbegriff als potentia ohne den spezifischen begrifflichen Bezug zur Bewegung gänzlich erfasst werden.

7.3.3 Theoretisches Terrain (K5)

Wenn es nun darum geht, das theoretische Terrain der Begriffsschöpfung bzw. Formulierung des Machtbegriffs (potentia) in der hobbesschen Philosophie zu lokalisieren, so wird die Lokalisierung begründend verfahren müssen. Denn Hobbes' Machtbegriff wird in seiner Basisschicht nicht – wie viele politikwissenschaftliche Rezeptionen nahezu apriorisch annehmen – im Rahmen seiner Anthropologie oder Staatsphilosophie formuliert, sondern in jenem theoretischen Feld, das Hobbes »Erste Philosophie« (»The First Grounds of Philosophy«, »Philosophia Prima«) nennt. Die Erste Philosophie bildet konzeptionell nach der Logik den zweiten von vier Teilen von De Corpore. Der Machtbegriff als potentia wird damit bei Hobbes ähnlich wie die dynamis bei Aristoteles auf der Schnittstelle und Übergangszone von grundlegender Naturphilosophie (Physik) und Metaphysik bestimmt, die bereits als Meta-Physik 134 vorgestellt worden ist. Um diese Interpretation zu plausibilisieren, werden im Folgenden zunächst der Ort und die Funktion der Ersten Philosophie skizziert, da sich Peters (1956), 46. Vgl. Dewey (1982), 32: »The question of the scientific character of morals and politics is, then, a question of the possibility of enduring social security and safety – ›peace.‹« Arno Bammé bringt die Verknüpfung von wissenschaftlicher Methode und Staat ähnlich präzise auf den Punkt: »Darum geht es Hobbes: mittels Wissenschaft im Konstrukt des Staates einen gesellschaftlichen Rahmen zu schaffen, der dem Menschen Halt und Sicherheit gibt.« (Bammé [2017], 175). 134 Vgl. Kap. 6.2.3 (K5). 132 133

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hieraus der Zugriff auf den Machtbegriff in zweifacher Hinsicht plausibilisieren lässt: aufgrund der Theoriearchitektonik des hobbesschen ›Systems‹ und aufgrund seiner Klassifizierung als allgemeiner und darin auch grundlegender Begriff. Danach soll die Struktur der Ersten Philosophie skizziert und der Theorietypus der Ersten Philosophie näher ausgewiesen werden. Ort der Ersten Philosophie. Hobbes' Entwurf einer Ersten Philosophie antwortet auf seine Frage nach der Konstruktion einer ›richtigen‹, d. h. zu Wahrheit und Frieden führenden Philosophie. Die Erste Philosophie steht damit im engen Zusammenhang mit der Konzeption von Wissenschaft und Philosophie bzw. dem metaphilosophischen und methodologischen Horizont (vgl. K3 und K4), den Hobbes unter dem Titel ›Logik‹ entfaltet. Andersherum formuliert nimmt die Logik als Organon der Philosophie in der hobbesschen Systematik ihren inhaltlichen Fortgang in der Ersten Philosophie. Hobbes präsentiert die Erste Philosophie mal als ersten, grundlegenden Teil der Naturphilosophie, mal als separates und eigenständiges Theorieformat. 135 Wichtig ist zunächst einmal festzuhalten: Beide, Logik und Erste Philosophie, liegen (zumindest gemäß einer schwach ›systematischen‹ Lesart und der Funktionsbeschreibung von Hobbes folgend) den Einzelwissenschaften bzw. den weiteren Hauptteilen der Naturphilosophie und der Staatsphilosophie als deren methodologisches und konzeptuelles Fundament vorauf. Fundierungsfunktion. Wie ist die Funktion der methodologischen und begrifflichen Fundierung zu verstehen? In Kapitel I.6 (»Methode«) der Logik in De Corpore skizziert Hobbes, wie bereits unter den Aspekten der Philosophiekonzeption und des Methodenideals (K3) erkundet, den mehrschrittigen, analytisch-synthetischen Weg der Philosophie in ihrem Modus als grundlegende Wissenschaft. 136 Den epistemologischen Ausgangspunkt bilden Dinge und Phänomene in der Form von sinnlichen »Erscheinungsbildern [phantasmata sensûs et imaginationis]« bzw. Vorstellungen der Einbildungskraft (Corp. VI.1, 76/lt., OL I, 59), deren Ursachen in ihren Universalien analytisch aufzufinden sind. Hobbes restringiert die möglichen Ursachen auf genau eine Ursache, nämlich Bewegung. Diese philosophische Position wurde bereits als die allgemeine Bewegungshypothese von Hobbes erklärt. 137 Nach der analytischen Vorarbeit, die sich für Hobbes auf die Setzung bzw. apriorischen Auffindung der »universale[n] und einzige[n] Ursache« als Bewegung (Corp. VI, 79) beschränkt, beginnt die konstruktive philosophische Arbeit mit der Be135 Auf diese Oszillation wird in der systemarchitektonischen Einordnung abschließend noch einmal zurückgekommen. 136 Walton (1974), 34; vgl. Sorell (1996), 48–49. 137 Vgl. Kap. 7.3.1 (K3).

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stimmung der ersten Prinzipien und den Definitionen der Universalien. 138 Unter Definitionen versteht Hobbes »nichts anderes als Erläuterungen unserer einfachsten Begriffe« (Corp. VI.6, 79, vgl. I.14). Dabei unterscheidet Hobbes zweierlei Gattungen von Begriffen: Definitionen oder Begriffserläuterungen, die in ihren Begriffsworten auf nicht selbst verursachte (erste) Dinge referieren, so etwa Körper, Materie, Ausdehnung, Bewegung schlechthin, und Definitionen, die sich auf verursachte und erzeugte und damit konkrete, spezifizierbare und in irgendeiner Form (ver)messbare Dinge beziehen (Corp. VI.13, 89). Die »universalsten Definitionen«, und damit die grundlegenden Begriffe anzugeben, zu bestimmen und zu erläutern, ist nun genau die Aufgabe »jene[s] Teil[s] der Philosophie [. . .], den man Erste Philosophie nennt« (Corp. VI.17, 95, vgl. DM I.1). 139 Die Erste Philosophie hat damit die doppelte Funktion, erstens die programmatische und theoriepolitische Forderung einer wahren bzw. richtigen Philosophie einzulösen, die sich für Hobbes durch Rationalität und eine angemessene theoretische Ontologie auszeichnet. 140 Dies setzt Hobbes um, indem seine Erste Philosophie »[t]hanks to the theory that existence is corporeal existence and to the reduction of all real causality to motion [. . .] transforms the categories of traditional metaphysics into categories of physics.« 141 Zweitens hat die Erste Philosophie bei Hobbes die metatheoretisch instituierte Funktion der Ermöglichung einer konzeptuellen Grundlegung durch klare Definitionen der Ausgangs- oder Hintergrundbegriffe für die Begriffe und Demonstrationen in den Einzelwissenschaften. 142 Im Leviathan macht Hobbes die epistemischnormative Funktion der Ersten Philosophie für sämtliche philosophische Disziplinen und Wissenschaften deutlich: Es gibt eine gewisse philosophia prima, von der alle andere Philosophie abhängen sollte, und sie besteht hauptsächlich in der richtigen Begrenzung der Bedeutung solcher Bezeichnungen und Namen, die am allgemeinsten sind. Diese Begrenzungen dienen dazu, Doppeldeutigkeit und Wortverdrehung bei der Beweisführung zu vermeiden, und werden gewöhnlich Definitionen genannt. (Lev. XLVI, 563–564) 138 Vgl. Jesseph (2016b), 120. Siehe auch die parallel geführten Stellen zum mehrschrittigen Vorgehen, das sich in der systemlogischen Norm als Abfolge von den Disziplinen der Logik bis zur Staatswissenschaft ausdrückt, in Corp., An den Leser, VI.6, 7 und 17. 139 Definitionen nehmen für Hobbes im Rahmen einer Beweisführung den Rang und die Funktion erster Prinzipien oder »erster Sätze« ein, die selbst nicht (weiter) beweisbar sind. Sie sind selbst definiert als Sätze, »de[r]en Prädikat, wo dies möglich ist, das Subjekt zergliedert, und wo dies nicht möglich ist, ein Beispiel für es angibt.« (Corp. VI.14, 92). 140 Eine angemessene theoretische Ontologie schließt für Hobbes die Existenz immaterieller / nichtkörperlicher Substanzen und substanzieller Formen aus. 141 Zarka (1996), 73. 142 Vgl. ebd., 64.

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In De Mundo findet sich eine ähnliche Formulierung: Now, philosophy is the science of general theorems, or of all the universals (the truth of which can be demonstrated by natural reason) to do with material of any kind. The first part of philosophy, and the basis of all the other parts, is the science where theorems concerning the attributes of being at large are demonstrated, and this science is called Philosophia prima. (DM I.1; engl., 23)

Die Erste Philosophie ist demnach derjenige Ort in dem philosophischen System von Hobbes, in welchem in Komplementarität zum metaphilosophischen und methodologischen Teil (der Logik) mittels der Definitionen ein theoretisch-ontologischer und begrifflicher Grundrahmen gelegt wird, der für alle Subdisziplinen Geltung beanspruchen soll. Sie nimmt also die Funktion der allgemeinen konzeptuellen Grundlegung ein, was nicht bedeutet, dass sie ein Deduktionsverhältnis oder ein prinzipielles Determinierungsverhältnis für die Prinzipien und Argumentationen der Einzelwissenschaften/-philosophien eröffnet. Vielmehr sollen alle philosophischen Unternehmungen qua ihrer Wissenschaftlichkeit und im Lichte des hobbesschen Systemanspruches ihren konzeptuellen Ausgang in demjenigen Part der Philosophie nehmen, der gerade darauf ausgelegt ist, der philosophischen Praxis ›transregional‹, d. h. über sämtliche Wissensbereiche hinweg, eine definitorische und konzeptuelle Basis zu ermöglichen. 143 Die Funktion der begrifflichen Fundierung dient dabei nicht nur der methodischen Stringenz und Kohärenz, sondern soll gleichermaßen auch einem öffentlichen Nachvollzug der Demonstration 144 der Staatsphilosophie und Moralphilosophie Vorschub leisten. Sie stellt sich in Hobbes' System insgesamt also als metatheoretische bzw. prinzipienkonstruktive Norm dar. Das jedenfalls legen auch die Sollens-Formulierungen in den angeführten Stellen aus dem Leviathan und De Mundo nahe. Wird diese Norm, die zugleich als Garant für Wissenschaftlichkeit fungiert, eingelöst, erhalten die Definitionen bzw. Prinzipien und Begriffe, aber auch die regionalen wissenschaftlichen Ontologien der Einzelwissenschaften von den Bestimmungen der Ersten Philo-

143 Zarka (1990), 16. Zarka hat eine publikationschronologisch unterfütterte Interpretation vorgelegt: »Sa rédaction partielle dès 1638–1639, la permanence de ses thèses majeures et son caractère transrégional dans l’organisation du savoir permettent de donner une assise factuelle forte à l’effort théorique qui vise à en montrer le caractère fondateur par rapport à l’ensemble de la doctrine, et en particulier par rapport à l’éthique« (ebd.). 144 Shapin und Schaffer haben auf die Verbindung zwischen Begriffsbestimmung und ›öffentlich‹-intellektueller Adressierung von Hobbes’ De Corpore hingewiesen. Vor dem Hintergrund der bewussten Politizität von Metaphysik und naturphilosophischen Begriffen fungieren die Begriffsbestimmungen als »social acts of agreement« (Shapin / Schaffer [1985], 334).

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sophie eine Art begriffliche Präfiguration oder ein grounding. 145 Denn auch wenn in der Staatsphilosophie und Wissenschaft der Politik (anders als in der Moralphilosophie, die von Hobbes weitaus ›physikalischer‹ gedacht wird) die Auffindung der ersten Prinzipien ohne den Rückgang auf die ersten Prinzipien der Geometrie und Physik durch eine ›eigenständige‹ Analyse der Phänomene bzw. des sinnlich Gegebenen sowie durch Introspektion der inneren affektiven und Gemütsbewegungen möglich ist 146, so sollten doch diese ersten Prinzipien der Staatsphilosophie und Politikwissenschaft ihrerseits konzeptuell grundiert sein durch die Prinzipien bzw. Definitionen der Ersten Philosophie. 147 Damit sind die Prinzipien und Theoreme der Staatsphilosophie weder aus der Physik / Naturphilosophie deduziert noch vollständig autonom 148, sondern vielmehr in einer Kontinuitätsbeziehung im weiteren Sinne zu den Begriffen der Ersten Philosophie aufzufassen. Fundierung und begriffliche Kontinuität. Die eingangs angesprochene schwach kontinuierliche Lesart der hobbesschen Systematik lässt sich damit nicht nur über den Zusammenhang des geteilten methodischen Ideals in allen Wissenschaften, sondern auch über ein (angestrebtes) vermitteltes begriffliches Kontinuierungs- und Grundierungsverhältnis erhärten. In der Ersten Philosophie werden der begriffliche Rahmen und das begriffliche Material bereitgestellt, von denen aus die Bestimmungsarbeit in den Einzelwissenschaften aufgenommen werden soll. Die Begriffsbestimmungen selbst erfolgen aufgrund der allgemeinen Bewegungshypothese im Lichte des Begriffs der Bewegung und sind damit naturphilosophisch orientiert. 149 Zarka hat vorgeschlagen, die begriffliche und theoretisch-ontologische Grundierung in verschiedene Grade oder Modi auszudifferenzieren. So unterscheidet er zwischen vier Modi der begrifflichen und theoretischen Grundierung, die zugleich »help[] to indicate under some definitive headings exactly what the scope and limits of the first 145 Zarka beschreibt den Zusammenhang zwischen Logik und Begriffsbestimmung im Durchgang durch die Erste Philosophie so: »Cette détermination [der grundlegenden Begriffe; L. B.] est réalisée par le passage d’une métaphysique de l’être à une philosophie première du corps, dont la possibilité est ouverte par la logique.« (Zarka [1990], 17, vgl. 22). 146 Vgl. Kap. 7.3.2 (K4); Corp. VI.7; Cive, Vorrede, 18: »[I]ch sah, daß er [der dritte Teil der Elemente der Philosophie; L. B.] der vorangegangen Teile nicht bedurfte, da er sich auf eigene, durch Erfahrung bewährte Grundsätze stützte.« 147 Auf diesen normativ-epistemischen Zusammenhang hat auch Zarka aufmerksam gemacht: »Even if immediate experience is able to reveal the principles of politics, these principles themselves can find an ultimate grounding only by being referred to the concepts of first philosophy.« (Zarka [1996], 74). 148 Zarka (1996), 74. 149 Vgl. Jesseph (2006). Kürzlich hat Arno Bammé (2017) an die Zentralität und Relevanz der Begriffsbestimmungen (insbesondere des Körpers) in der Ersten Philosophie für die politische Philosophie von Hobbes erinnert.

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philosophy are.« 150 Mit Zarka lässt sich das begriffliche Verhältnis zwischen Erster Philosophie und Politik und Ethik analytisch präzisieren und je nach Konzept fassen als a) Transposition von Begriffen, b) Komplettierung von Begriffen der Ersten Philosophie in der Politik und Ethik, c) eine Diskontinuität sowie d) eine Umkehrung (»inversion«, »overturn«) zwischen Begriffen der Ersten Philosophie und der philosophia civilis. 151 Ähnlich gelagert, nun aber vor einem kuhnschen wissenschaftstheoretischen Hintergrund, bietet Thomas A. Spragens eine Interpretation des konzeptuellen Verhältnisses in Hobbes als »analogical permeation« an: »That is, conceptual patterns and models developed to deal with natural phenomena became prisms through which he perceived human and political phenomena.« 152 Dabei stellt das »root-paradigm« der inerten Bewegung das konzeptuelle ›Prisma‹, durch das die Begriffsbildung der politischen bzw. der Staatsphilosophie zu betrachten ist. 153 Der begriffliche Aufbau des hobbesschen Machtbegriffs ist genau vor diesem begrifflichen Fundierungs- und Kontinuitätsverhältnis zwischen Erster Philosophie und Staatsphilosophie zu betrachten. Ausgangspunkt und Begriffe der Ersten Philosophie. Nachdem die begriffliche Fundierungsfunktion der Ersten Philosophie als das theoretische Terrain bzw. champ fondateur der Begriffsschöpfung des Machtbegriffs bzw. der Basisschicht ausgewiesen werden konnte, gilt es nun das theoretische Terrain über den Ort und die Fundierungsfunktion hinaus weiter zu erkunden, da auch die Struktur und inhaltliche Ausrichtung des theoretischen Terrains die Begriffsbildung prägen. Wie ist die Erste Philosophie selbst strukturiert und grundiert? Welchen Theorietypus bildet sie aus? Die Erste Philosophie beginnt ähnlich wie die Philosophia Prima von Descartes 154 mit einem ontologischen Gedankenexperiment der Privation 155, »d. h., von einer ersonnenen Aufhebung des Weltalls aus« (Corp. VII.1, 99). Von hier aus will Hobbes zu jenen epistemischen Grundkategorien der Vorstellung gelangen, die als »AkzidenZarka (1996), 75. Ebd., 75–77. Auf diese Systematik wird in den Komponenten des Begriffskorpus des Machtbegriffs noch einmal zurückgegriffen. 152 Spragens (1973), 7. 153 Ebd., 70. Ich betrachte Spragens paradigmentheoretische Interpretation des konzeptuellen Verhältnisses als sinnvolle Ergänzung zu der von Zarka vorgeschlagenen Typologie. 154 Ausführlicher zu den Strukturähnlichkeiten und Differenzen zwischen der Prima Philosophia von Hobbes und der Ersten Philosophie von Descartes siehe Garber (2016), 114–121; Jesseph (2006), 125–129. 155 Manfred Riedel (1969) hat die parallele Struktur des ontologischen Privationsgedanken, der Suche nach dem Anfang des Politischen, der civitas und der Bewegungsstruktur (»Bewegung ist die stetige Privation eines Orts und das Erreichen eines anderen«, Corp. XV.1, 178) akribisch herausgearbeitet. 150 151

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zien« in einer jeden Vorstellung von Dingen (in) der Welt (= den Körpern) unhintergehbar die Vorstellungsweise einrahmen – es sind dies die Akzidenzien von Raum (Ort) und Zeit. 156 Hobbes greift mit der Hypothese der annihilatio mundi rhetorisch geschickt auf eine Gedankenfigur der Lutherischen Orthodoxie 157 zurück – dies allerdings nicht um Raum und Zeit metaphysischrealistisch aufzuladen (wie bei etwa Gassendis realistischem Raumbegriff), sondern im Gegenteil, um sie als Begriffe der Erkenntnistheorie zu identifizieren und zugleich in ihrer begrifflichen Konzeption naturphilosophisch-kinetisch zu bestimmen. 158 Akzidenzien, ein zentraler Begriff in der Ersten Philosophie, definiert Hobbes in Anlehnung an Aristoteles' Kategorien als »die Art und Weise [. . .], wie ein Körper begriffen wird.« (Corp. VIII.2, 110) Die Akzidenzien von Raum und Zeit werden, und das ist wiederum ein anti-transzendentalphilosophischer und materialistischer Aspekt hobbesscher Erkenntnistheorie, von dem Körper selbst ausgehend in der Wahrnehmung und Repräsentation des menschlichen Subjekts erzeugt, sie dürfen daher nicht als kantische Anschauungsform mitverstanden werden. 159 Sind die subjektiv konstituierten Akzidenzien oder »Attribute« von den Dingen in der Vorstellung qua Privation des unterstellten Substrats bzw. Subiectums herausgeschält, kann die Privation wieder zurückgenommen und das zuvor nur unterstellte Subiectum, der Körper, re-ontologisiert und als vom Denken und Wahrnehmen Unabhängiges, selbstständig Subsistierendes, und einen Raumausschnitt Einnehmendes definiert werden (Corp. VIII.1–3). Da ein Körper der hobbesschen allgemeinen Bewegungshypothese gemäß selbst immer nur in Bewegung oder anteilig von seinen Teilen bewegt gedacht werden kann, impliziert die Erläuterung des Körper-Begriffs auch den Begriff und die Definition von Bewegung und deren Variationen (Geschwindigkeit, Größe = »Kraft«). Das umfasst die Definitionen von körperlichen Relationen (Berührung und Kontinuität) sowie von Formund Materieaspekten der körperlichen Substanz. Sodann bestimmt Hobbes die Begriffe der Operationalität von Körpern in Bewegung (Ursache und Wirkung, Wirken und Leiden (Corp. IX), Potenz (potentia) und Akt (Corp. X), dem ein 156 Es geht Hobbes hier um nicht weniger als eine Simulation der biblischen Genesis auf der Ebene des Begriffs – und damit um die konstruktive Einlösung der philosophieprogrammatischen Forderung nach »einer der Erschaffung der Dinge selber entsprechenden Methode« (Corp., An den Leser, 9), die zugleich den Weg aus der Dunkelheit in »das Licht der Vernunft« (ebd., 10) ermöglicht. Es wäre nicht übertrieben zu behaupten, Hobbes betrachtete sich selbst als einen wichtigen Akteur der Vernunftwerdung. 157 Vgl. ausführlicher zur Figur der annihilatio mundi und Luthers theologischem Reformprogramm Holtz (1993), 166–169. 158 Vgl. ausführlicher zur Bestimmung von Raum und Zeit mithilfe der Figur der annihilatio mundi Riedel (1969); Zarka (1990); Magnard (1990); Leijenhorst (2002), 105–109. 159 Vgl. dazu ähnlich Jesseph (2016), 135–138.

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weiteres Set an Begriffen – »Selbiges und Verschiedenes« (Corp. XI), »Quantität« (Corp. XII), »Analogismus« (Corp. XIII), »Gerade, Kurve, Winkel und Figur« (Corp. XV) – folgt. Gerade die letzten Definitionen leiten semantisch sichtbar auf den der Ersten Philosophie folgenden Teil von De Corpore über, die Geometrie als Bewegungslehre (»Verhältnisse von Bewegungen und Größen«). Struktur der Ersten Philosophie. Zusammengefasst ist die Erste Philosophie bei Hobbes aus fünf operationalen Teilen aufgebaut: Zunächst (i) die Herausarbeitung zwischen subjektiv und objektiv konstituierten Attributen des Seienden (bzw. zwischen ›ersten‹ und ›zweiten‹ Qualitäten), (ii) die Konturierung des korporal-kinetischen Seienden schlechthin, seiner Attribute und Seinsweisen, (iii) die Konturierung eines kinetisch-kausal geschlossenen Systems des Körperlichseienden, in dem nur reine Notwendigkeit und Aktualität real ist, (iv) die Deontologisierung des Prinzips der Individuation und schließlich (v) eine bewegungstheoretisch reformulierte Einführung in die Basiselemente der (euklidischen) Geometrie. 160 Die in den ersten drei Teilen der Ersten Philosophie behandelten Begriffe reflektieren in ihrer Auswahl sowohl den basisbegrifflichen Katalog der Physik und Metaphysik von Aristoteles, insbesondere des fünften Buch der Metaphysik, als auch die Begriffskataloge in den darauf aufbauenden scholastischen Entwürfen, Anleitungen und Kommentaren zu einer philosophia prima. 161 Hobbes greift hier expressis verbis eine Reihe von Begriffen aus der Physik und Metaphysik auf, um sie dann allerdings theoretisch-ontologisch zu transformieren oder durch ›mechanische‹ Begriffe zu ersetzen. 162 Was Hobbes hier als Neuerung präsentiert, ist auf struktureller Ebene die paarweise Anordnung von Begriffen und auf semantischer Ebene die ›Re-Physikalisierung‹ einer Reihe von in der Scholastik ›metaphysizierten‹, aber originär hauptsächlich der Naturphilosophie des Aristoteles entlehnten Begriffen. 163 Leijenhorst nennt diese philosophische Unternehmung auch »the mechanisation of Aristotelianism«, wobei ›mechanisch‹ hier in einem weiten Sinne als Ausrichtung der Begriffe auf die Leitbegriffe der Mechanik, Körper, 160 Ich habe hier die vorgeschlagene Einteilung der Ersten Philosophie von Zarka übernommen und um einen fünften Teil ergänzt. Zarka hat in seinem Aufsatz zur Ersten Philosophie bei Hobbes »four operations« im Hinblick auf die Sektionen VII–IX unterschieden, in denen sich Hobbes jeweils einem Begriffspaar widmet: »The definitions of these five pairs of concepts [space / time, body / accident, cause / effect, power / act, identity / difference; L. B.] involves four operations: the working out of a distinction between a subjective and an objective order, the working out of a distinction between being and the ways of being, the establishment of a deterministic system, and the dismantling of a metaphysical principle of individuation.« (Zarka [1996], 65, vgl. 64–73). 161 Vgl. Jesseph (2006), 127; Leijenhorst (2002), 5. 162 Vgl. Zarka (1990), 73. Hierzu mehr in der Komponente der begrifflichen Basisebene (K6) in Kap. 7.4.1. 163 Vgl. Zarka (1996), 73; Jesseph (2006), 127.

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Bewegung, Ursache und Wirkung zu verstehen ist. 164 Inwiefern sich Hobbes in der Definition seiner der Auswahl nach aristotelischen Begriffe im Rahmen seiner Ersten Philosophie auf die Postulate der Physik Galileos verpflichtete oder speziell jene zur wesentlichen Grundlage nahm, ist in der Hobbes-Literatur umstritten 165 und soll auch hier nicht weiter behandelt werden. Stattdessen soll nachfolgend der Theorietypus der hobbesschen philosophia prima näher bestimmt werden. Theorietypus der Meta-Physik und Verbindung zu Aristoteles. Grundsätzlich setzt sich Hobbes in der Konzeption seiner Ersten Philosophie als allgemeine Prinzipien- und Grundlegungswissenschaft und hinsichtlich des spezifischen Begriffssets, das den Gegenstand der Ersten Philosophie bildet, in ein enges, affirmatives Verhältnis zu Aristoteles. Hobbes schätzt Aristoteles' Ansatz, mit einem größtenteils naturphilosophisch gerahmten Set an Basisbegriffen ein philosophisches Forschungsprogramm zu grundieren. 166 Auch wenn Hobbes die aristotelisch-scholastische Metaphysik ablehnt, findet er doch in Aristoteles' originärem Vorgehen der Auswahl und systematischen Bestimmung von Grundbegriffen für die Philosophie und Wissenschaften ein Modell, das er nicht scheut, für sein eigenes metaphysikkritisches philosophisches Programm zu übernehmen. Indem diese der Form nach aristotelischen Begriffe den Gegenstand seiner Ersten Philosophie bilden, entkoppelt Hobbes die seinerzeit dominierende Identifikation von Erster Philosophie mit (allgemeiner) Metaphysik. Hobbes greift somit Ideen und Philosopheme von Aristoteles auf, die er für eine ›richtige‹ Philosophie nützlich hält, und verwirft jene Elemente und Interpretationen, die er für unbrauchbar hält. Auf diese Weise wieder-holt Hobbes den Theorietypus und das begriffliche Setting der Ersten Philosophie aus der Physik und Metaphysik von Aristoteles, gibt ihr aber in der WiederHolung eine eigene philosophische Prägung auf. Interessanterweise bleibt Hobbes gerade durch seine ambivalente Beziehung zu Aristoteles dialogfähig mit der zeitgenössischen Scholastik. Die scholastische Interpretation von Aristoteles bildet auch den zentralen Gegenstand von Hobbes' Kritik an der zeitgenössischen Philosophie seiner Zeit. Die scholastische Metaphysik verfahre nämlich, so lautet im Kern Hobbes' Kritik, in Leijenhorst (2002), 6. Vgl. für eine Interpretation, die Hobbes sehr eng mit Galileo in Verbindung setzt, insbesondere in Bezug auf die Skizzierung seiner Ersten Philosophie in De Motu, Paganini (2010) und dazu wiederum kritisch Foisneau (2011) und Garber (2016), 106–113. 166 Jesseph bemerkt treffend: »[T]here is no fundamental distinction between first philosophy and natural philosophy. Indeed, it would be fair to say that Hobbes’s first philosophy is founded on concepts traditionally assigned to natural philosophy.« (Jesseph [2006], 125) Dieser Punkt wird im nachfolgenden Abschnitt noch einmal systematisch behandelt. 164 165

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dreifacher Hinsicht einseitig mit Aristoteles' Physik und Metaphysik: (i) durch eine Hypostasierung der aristotelischen Bücher, die unter dem publikationstechnischen Titel ta meta ta physika firmieren, zu der prioritären philosophischen Disziplin ›Metaphysik‹, (ii) durch eine Reduktion der Ersten Philosophie auf eine spezifische Form von Metaphysik, und schließlich (iii) durch ein Restringieren des Gegenstandbereichs der Ersten Philosophie auf transzendente Substanzen und Formen. Die Aristoteliker missverstünden, so Hobbes, im Grunde ihren eigenen Meister, wenn sie ihm eine Doktrin der super- oder transphysischen Substanz insinuieren. 167 Denn kurz formuliert wird das Meta in der Metaphysik aus Hobbes' Perspektive (und das ganz zurecht) seit dem Mittelalter vereinseitigt und dadurch um seine Ambiguität beschnitten. Das Meta könne nämlich, darauf weist Hobbes hin, auch schlichtweg in einem nicht transzendierend-transzendenten Sinne auf die nach der Physik geschriebenen oder bibliothekarisch nach den Physikbüchern eingeordneten oder didaktisch auf der Physik aufbauend zu studierenden Lehren referieren (vgl. Lev. XLVI, 564; DM IX.16; engl., 111–112). Und schließlich hatte ja auch Aristoteles selbst bereits darauf hingewiesen, dass die Existenz einer ersten ›metaphysischen‹, nicht sinnlich wahrnehmbaren, abtrennbaren und unbeweglichen (choriston kai akine¯ton) ewigen Substanz(gattung), und damit der Gegenstandsbereich einer Ersten Philosophie als Philosophie (Met. VI.1, 1026a10–13) der ersten (göttlichen) Substanz, selbst gar nicht gesichert sei, und im negativen Fall die Physik die erste Wissenschaft bzw. Philosophie (pro¯ te¯ philosophia) wäre (Met. VI.1, 1026a 29–31). Ohne diese Stelle explizit zu erwähnen, referiert Hobbes m. E. auf ein systematisches Programm und Wissensfeld, das im AristotlesKapitel mit Höffe als ›Meta-Physik‹ im Sinne einer auf die naturphilosophischen und im fünften Buch der Metaphysik behandelten Begriffe aufbauenden, nicht-transzendenten ›Fundamentalphilosophie‹ ausgewiesen wurde. 168 Aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik erscheint es plausibel, dass auch Hobbes eine derartige Meta-Physik im Sinne einer über die Physik in andere Wissenschaften hinausweisenden, naturphilosophisch und begrifflich basierten Grundlegungswissenschaft als Vorbild für sein eigenes Konzept der Ersten Philosophie heranzog. Wie Leijenhorst 169 ausführlich dargelegt hat und wie auch aus den vorangehenden Ausführungen deutlich geworden sein sollte, schließt Hobbes im Hinblick auf die Struktur, das methodologische Format als Prinzipien- und als Grundlegungswissenschaft (allgemein für sämtliche philosophische Disziplinen und speziell für die Physik) sowie hinsichtlich der Aus167 168 169

Leijenhorst (2002), 18. Vgl. Kap. 6.2.3 (K5) bei Aristoteles. Leijenhorst (1998), 19–58, (2002), 17–55.

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wahl der Begriffe seiner Philosophia Prima direkt an die in Aristoteles' Physik und Metaphysik ausgefaltete ›Fundamentalphilosophie‹ an. 170 Profil von Hobbes' Meta-Physik. Während bei Aristoteles diese Meta-Physik aber substanz- und prozessontologisch grundiert ist und auch auf die Untersuchung von Substanzialität, allgemeinen Seinsprinzipien und ersten Ursachen ausgreifen kann und damit auf eine gegenüber der Naturphilosophie anders gelagerte Wissenschaft prinzipiell geöffnet bleibt, ist Hobbes' philosophia prima als Meta-Physik radikal anti-metaphysisch. Hobbes' Meta-Physik lehnt eine metaphysica generalis ab, die ihren Gegenstandsbereich in einem Transzendenten (substantielle Formen, ein erster unbewegter Beweger) setzt. 171 Daher lässt sich Hobbes' philosophia prima auch treffender als physica generalis charakterisieren, die anstelle des Seienden als solchen Bewegung schlechthin und Körper in Bewegung als allgemein gültigen und alleinigen Gegenstandsbereich postuliert. 172 Dem traditionell regionalen Gegenstandsbereich der Naturphilosophie wächst damit in theoriebildender Hinsicht eine allgemeine Bedeutung zu, da sie zum systematischen Rang und zur Funktion einer allgemeinen Ontologie ausgreift. Diese allgemeine Ontologie zielt bei Hobbes nicht auf eine transzendente oder immanente Frage der Existenz und des Seienden an sich, sondern auf eine verallgemeinerte theoretische (oder ›formale‹) Ontologie des Körperlichen, die ihren Grund, ihre Kategorien und Begriffe an den Prinzipien der physis, verstanden als Körper, ausmisst. 173 Dabei ist die in Hobbes' Erster Philosophie in der Form einer physica generalis implizierte Ontologie zwar kategorial von der Naturwissenschaft (Physik) vorbereitet, methodologisch unterscheidet sie sich jedoch von der Physik im Sinne einer Gesetzmäßigkeiten und Theorien aufstellenden Einzelwissenschaft durch ihre Operationsweise als Vollzug »in sprachlicher Definition«, d. h. ihr Fortschreiten im »Modus der Begriffsbestimmung«. 174 Dass der Gegenstandsbereich der Naturphilosophie eine Globalisierung erfahren wird, kündigt sich bereits in dem Begriff von Philosophie als meVgl. Leijenhorst (1998), 17, 57; Garber (2016), 113. Zusammengefasst folgt Hobbes Aristoteles in seiner Konzeption der Ersten Philosophie sowohl strukturell als auch terminologisch und konzeptuell, nicht aber ontologisch, vgl. Lemetti (2009), 150. Lemetti charakterisiert auch, ähnlich zu meiner Interpretation, Hobbes’ Erste Philosophie als »Meta-Physik« (ebd.). Generell sollte Hobbes’ Verhältnis zu Aristoteles differenziert nach Disziplinen und Texten bewertet werden, schließlich fällt auch Hobbes selbst bei genauer Hinsicht – trotz z. T. gegenteilig anmutender Rhetorik – kein Generalurteil über Aristoteles, sondern äußert sich differenzierend. So bleiben bspw. Aristoteles’ Rhetorik und Geschichte der Tiere von Hobbes’ Kritik ausgeschlossen, vgl. Lev. XLVI, 562 sowie Strauss (2001), 47–59. 172 Zu dieser Interpretation ausführlicher Leijenhorst (1998), 38–43, (2002), 34–37; siehe auch Kap. 7.3.1 (K3). 173 179 Vgl. Leijenhorst (1998), 17, 57; Garber (2016), 113. 174 Wohlers (2005), LXI, LVI. 170 171

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thodisch angeleitete Wissenschaft von der ursächlichen Entstehung von Körpern und ihren Eigenschaften an, den Hobbes in der »Logik« gibt. 175 So gesehen ist auch Hobbes' Erste Philosophie eine »meta-physische Wissenschaft« 176, die gemäß der hobbesschen Wissenschaftstheorie (»Logik«) eine Wissenschaft von Körpern beinhaltet und über logische, post-linguistische Beschreibungen des Korporalseienden qua Prinzipien und Definitionen verfährt. 177 Hobbes nimmt also in der Position der Ersten Philosophie eine Substitution des Theorietypus vor, indem er die metaphysica generalis (verstanden als allgemeine Ontologie) durch eine physica generalis ersetzt. Die Gattung des Physischen, bei Hobbes das Korporale, nimmt die Reichweite des vormals allgemeinen Metaphysischen ein, die damit letztlich auch für Hobbes noch formaler Orientierungspunkt bleibt. Damit ist die hobbessche Erste Philosophie als physica generalis von einem »Bedürfnis nach [. . .] Grundlegung« 178 getragen. In der Ausgestaltung der Ersten Philosophie als physica generalis bzw. Meta-Physik folgt Hobbes' philosophia prima sehr genau dem Denkmilieu seiner Zeit, das in verschiedenen Anläufen und Entwürfen die Unterscheidung von Erster und Zweiter Philosophie, traditionell von Metaphysik und Naturphilosophie / Physik, metaphilosophisch zur Disposition stellte. 179 Diagrammatisch formuliert zeichnet sich in diesem strukturellen Aspekt eine intensive Verbindung zwischen wissenskultureller Rahmengebung (Denkmilieu) und theoriekonfigurativer Entscheidung ab. Ähnlich wie bspw. Descartes' Programm einer Ersten Philosophie sucht auch Hobbes' philosophia prima nach einer Philosophiekonzeption, die PhiloVgl. Baruzzi (1997), 85. Wohlers (2005), LX, LXII. 177 Obgleich in ontologischer Hinsicht grundverschieden, ein Substanzdualismus (-pluralismus) dort und ein materialistisch-kinetischer Monismus hier, lassen sich die beiden Entwürfe Erster Philosophie von Descartes und Hobbes doch parallel beschreiben und auf den Begriff der »MetaPhysik« bringen. Christian Wohlers macht (ohne auf Hobbes zu verweisen) in der Einführung zu seiner Übersetzung der Prinzipien der Philosophie für Descartes genau das, vgl. Wohlers (2005), LII– LXII, insb. LXII. 178 Vollrath (1962), 259. 179 Vgl. die Ausführungen in Kap. 7.2.2 (K2). Die Verhältnisbestimmung zwischen Erster und Zweiter(en) Philosophie(n) und insbesondere zwischen Metaphysik und Physik ist im Grunde ein Dauerthema in der Geschichte der Philosophie und Bestandteil von sämtlichen systemphilosophischen Entwürfen. Sie scheint sich aber immer gerade in Zeiten von paradigmatischen Verschiebungen in den Einzelwissenschaften oder in der Metaphysik neu zu entflammen. Nach den Systementwürfen von Descartes, Hobbes und Leibniz wird die Frage prominent von Kant aktualisiert, der das Verhältnis von Metaphysik und Physik in zwei Anläufen mit je unterschiedlichem Ergebnis verhandelt: In den Metaphysischen Anfangsgründen (1786) entscheidet er sich für eine strikte Trennung und in seinem Opus postumum (1799) für eine Lösung, die der Einteilung der Naturphilosophie in einen grundlegenden Teil (in der Form einer ›Meta-Physik‹) und einen empirischen Teil (Physik im engeren Sinne) von Aristoteles und Hobbes nicht unähnlich ist. Vgl. zu dem Problem der Verhältnissetzung bei Kant unter dem Titel »›bridging problem‹« Ducheyne (2011), 22–32. 175 176

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sophie im Grunde »jenseits des Unterschieds zwischen Physik und Metaphysik an[]siedelt« 180 und darin weder reduktiv in einer (regionalen Ontologie der) Physik noch sprachunvermittelt in einer Wissenschaft des Transzendenten und Allgemeinen aufgeht. 181 Erstaunlich häufig wird in der Hobbes-Forschung die Parallelisierung von physica generalis und allgemeiner Metaphysik (metaphysica generalis oder Ontologie) mit einer Transformation der Metaphysik identifiziert und folglich Hobbes' Erste Philosophie als »Metaphysik« verstanden. 182 Angemessener und ob der Differenzierungen angebrachter erscheint aber eine Bezeichnung der hobbesschen Ersten Philosophie als Meta-Physik. Zusammenfassung. Formal firmiert das theoretische Terrain von Hobbes' Machtbegriff (potentia) unter dem Titel ›Erste Philosophie‹. Dieses Feld habe ich in mehrfacher Hinsicht, als Theorietypus, Wissensbereich und Funktion, als Meta-Physik charakterisiert. In ihren wesentlichen Dimensionen lässt sich die Meta-Physik von Hobbes beschreiben (1) als physica generalis, die, ohne transzendente Ursachen, Formen oder Substanzen zu postulieren, de facto auf eine allgemeine Ontologie ausgreift, (2) als eine allgemeine transregionale Grundlegungswissenschaft im Sinne einer Wissenschaft von den allgemeinen Prinzipien und Definitionen 183, die auch aufgrund ihrer Gründungsfunktion ›Fundamentalphilosophie‹ genannt werden kann 184, (3) als differentiell von der Physik her bestimmbare Grundlegungswissenschaft der Physik selbst. Je nachdem, ob die Betonung eher auf dem Meta oder eher auf der Physik liegt, kann die Erste Philosophie als Meta-Physik dann sowohl als erster Teil der Naturphilosophie (also im ›grundlegenden Modus‹) (vgl. Corp. VII.1) oder als unabhängige Domäne der Philosophie (ähnlich der Logik) betrachtet werden. 185 Die Meta-Physik, das theoretische Terrain der potentia, ist damit sowohl Naturphilosophie als auch ein zugleich allen Wissenschaften vorgeordneter Wissensbereich und konzeptueller Konfigurationsort. Damit liegt eine wesentliche Wieder-Holung von Aristoteles' Meta-Physik in der Komponente des theoretischen Terrains vor. Sowohl die dynamis als auch die potentia von Hobbes haben ihren champ fondateur in einem diskursiven und theoretischen Feld, das sich am treffendsten als Meta-Physik charakterisieren lässt. Obgleich beide Meta-Physiken unterschiedliche Merkmale in der Ausgestaltung aufweisen, stimmen sie doch in Wohlers (2005), LII. Die Reduktionsthese findet sich z. B. bei Weiß (1980), 41–42. 182 So z. B. auch Frost (2008), Peters (1956), Spragens (1973). 183 Gethmann / Keller (1972), 726. Siehe dazu auch Leijenhorst (1998), 43–58, (2002), 39–55. 184 Vgl. dazu auch Weiß (1980), 42, der darauf hinweist, dass »die Physik nun die gründende Funktion der Metaphysik übernommen hat. Das Zweite [Körper] ist in der Begründungsordnung des Systems ein Erstes.« 185 Vgl. ausführlicher zu den unterschiedlichen Einteilungen der Wissenschaften bei Hobbes in Bezug auf die Erste Philosophie Sorell (1996), 48–51, und Kap. 7.3.2 (K4). 180 181

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dem Kernanliegen, begriffliche Bestimmungen für sämtliche Wissenschaften bereitzustellen, überein. Beide Meta-Physiken stehen zudem in einem engen Verhältnis zum Begriff der Bewegung: bei Aristoteles insofern das Problem der Intelligibilität und Definition von Bewegung seine gesamte Naturphilosophie anleitet und infolgedessen auch die Metaphysik, bei Hobbes insofern seine allgemeine Bewegungshypothese den Kern seines metatheoretischen Horizontes und die Folie der Begriffsbildung in der Ersten Philosophie bildet.

7.3.4 Zwischenfazit

Die ausführlichen Beschreibungen der ersten Komponenten des Denk- und Begriffsmilieus rechtfertigen sich vor dem Hintergrund, dass sie einerseits die Komponenten des Begriffsinneren des Machtbegriffs bei Hobbes besonders ausgeprägt präfigurieren, andererseits darin genau in einem affirmativem, z. T. wieder-holenden Verhältnis zu begrifflichen Komponenten der aristotelischen dynamis und zum Bewegungsdenken stehen. Hobbes' methodologische Rekonzeptionalisierung der Philosophie ist von der Vorstellung getragen, durch stringent analytisch-synthetisch erzeugtes Wissen und durch begriffliche Reflexion zu gesichertem Wissen zu gelangen, das die Grundlage für eine friedliche Gesellschaft zu gewährleisten vermag. Sämtliche Begriffsbildung soll ihren Ausgang in dem von der Ersten Philosophie bereitgestellten Begriffskanon nehmen (K5). Die Begriffsbildung, auch die Bildung des Machtbegriffs, antwortet auf das Problem der Konzeption einer methodologisch angeleiteten, nicht-metaphysischen Philosophie (K3, K4). Die Erste Philosophie bildet daher auch das theoretische Terrain des Machtbegriffs als potentia. Dieses lässt sich als Meta-Physik charakterisieren (K5), die sich in den Leitkategorien von Bewegung und Körper der mechanischen Philosophie bewegt (K3). 186 Das methodologische Ideal orientiert sich an der für sein Denkmilieu typischen Idee der mathesis universalis im Sinne eines transdisziplinär geltenden mathematischen Methodenideals (K2). Damit ist die begriffliche Komponente der wissenskulturellen Rahmung (K2) aufs Engste mit dem metaphilosophischen Horizont (K3–K5) verbunden. So gesehen stellt die Hobbes'sche Philosophie ein philosophisches Programm dar, in dem sich das Denkmilieu (K1, K2) methodologisch und metatheoretisch exemplarisch zum Ausdruck bringt. Prägendes Charakteristikum des Denkmilieus und von

186

Was nicht damit gleichzusetzen ist, ihn als »mechanistischen« Denker zu lesen.

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Hobbes' Philosophie und Wissenschaft ist wiederum die »double relation de référence et d'opposition« gegenüber der Philosophie von Aristoteles. 187 Ausblick. Aus der spezifischen Programmatik des theoretischen Terrains (K5) lassen sich erste Konsequenzen für den Begriff der potentia erahnen: eine naturphilosophische, bewegungsbezogene Vorprägung – darin liegt alles in allem, trotz der Eliminierung einer substanzontologischen Grundierung, eine deutliche Reminiszenz an aristotelische Begriffe der Meta-Physik 188 – und eine konzeptuelle Verbindung der potentia der Ersten Philosophie zur potentia (bzw. den beiden potentia) der politischen Theorie und Staatsphilosophie. Die Verbindung der verschiedenen potentia gestaltet sich aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik als Schichtung bzw. Anordnung von mehreren Ebenen im signierten Machtbegriff von Hobbes. Diese Deutung legitimiert sich formal durch die Grundlegungsfunktion, die Hobbes, wie gezeigt, der Ersten Philosophie zuweist (K5), sie legitimiert sich aber auch schlichtweg dadurch, dass Hobbes dem Machtbegriff (hier: potentia, griech.: dynamis) zusammen mit dem Begriff des ›Aktes‹ (actus, griech.: energeia) ein eigenes Kapitel in der Ersten Philosophie (Corp. X) widmet. Macht und Akt bilden somit einen Gegenstand der grundlegenden definitorischen Konstruktionsarbeit der Ersten Philosophie und tauchen nicht erst und allein in der Anthropologie, Staatsphilosophie und politischen Theorie auf. Wie sich der Machtbegriff in seinem aus Begriffskomponenten und Elementen zusammengesetzten ›Begriffsinneren‹ gestaltet, und inwiefern sich in den Ebenen der potentia die dynamis kata kine¯sin wieder-holt, ist Gegenstand des nächsten Abschnittes zum Begriffskorpus (K6–K10).

7.4 Begriffskorpus

Der Durchgang durch die bisherigen begrifflichen Komponenten des Begriffsäußeren sollte auf ein vertieftes Verständnis von Hobbes' Konzeption von Macht hinführen, die nun im Begriffskorpus weiter erkundet werden soll. Aufbauend auf der begriffstheoretischen These, dass ein signierter Begriff in verschiedener Weise durch systematische Konstruktion oder durch theoretische und konzeptuelle Entwicklung geschichtet und binnendifferenziert sein kann, Zarka (1987), 12. Foisneau konstatiert, dass Hobbes’ Aufgriff von Aristoteles’ dynamis-Begriff als potentia eigentlich keinen Mehrwert für ihn hat, wenn er nicht gar der mechanisch-kinetischen Konzeption von Hobbes’ Physik zu widersprechen droht: »Il apparaît donc que c’est uniquement dans le mouvement de la reprise de sa pensée, que Hobbes introduit le terme de potentia en physique, par l’effet d’une réminiscence aristotélicienne, que toute sa physique contredit.« (Foisneau [1992], 86). 187 188

Begriffskorpus

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und im Lichte der bereits gegebenen Begründung, dass der hobbessche Machtbegriff auch aus systemphilosophischer Perspektive als aus mehreren Ebenen geschichtet zu begreifen ist (K5), werden nachfolgend die Basisschicht und ihre Elemente (potentia) (K6), die Typen der potentia (K7), das Strukturprinzip der Aktiv-passiv-Unterscheidung (K8) und dann die sich hierin bereits ankündigenden Ebenen (K9) und das epistemologische und ontologische Profil (K10) erkundet. Dabei werden die begrifflichen Bestimmungen der potentia des »Power and Act«-Kapitels in De Corpore (›meta-physische‹ potentia) und in der politischen Theorie und Staatsphilosophie (›anthropologische‹ und ›politische‹ potentia) als drei Ebenen bzw. Schichten des Machtbegriffs unterschieden (vgl. Abb. 9). Die Schichten stehen darin wiederum in einem näher zu bestimmenden Kontinuitätsverhältnis (K9). meta-physische potentia ‘

menschlich-individuelle potentia ‘ ‘

potentia des Souveräns

potestas

Abb. 9 Die drei Ebenen des hobbesschen Machtbegriffs

7.4.1 Erste Ebene: Macht als Ursache und Bewegung (meta-physische potentia) (K6)

Potentia als Grundbegriff der Ersten Philosophie. Wenn es darum geht, den Machtbegriff von Hobbes umfassend zu untersuchen, kann dies gemäß der hier vertretenen kontinuierlichen Lesart nicht ohne Berücksichtigung der Ersten Philosophie erfolgen, da jene im hobbesschen System eine Form der generellen theoretischen und begrifflichen Grundlegung reklamiert. Ein Blick in den Textabschnitt der Philosophie prima in De Corpore (= Teil II) verrät, was auch die Verständniserklärungen zur Philosophia prima im Leviathan und De Mundo ankündigen: Hobbes reiht den Begriff der Macht (power, potentia) unter den Basis-Begriffen ein. Für Hobbes ist der Machtbegriff also einer von jenen Begriffen, mit denen sich die generellen Attribute des Seienden erfassen lassen (Corp. II.10). Nun stellt sich für Hobbes das Seiende, wie bereits aufgezeigt, als Körperliches in Bewegung dar, das es methodisch angeleitet und definitorisch zu erfassen gilt. Unter den ersten Prinzipien oder Sätzen zum Verständnis und zur Erklärung des Seienden im Allgemeinen zählt Hobbes »die Definitionen von Körper, Zeit, Ort, Materie, Form, Wesen, Gegenstand, Substanz, Akzidens,

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Macht, Akt, endlich, unendlich, Quantität, Qualität, Bewegung, Handlung, Gemütsbewegung und verschiedenen anderen«, hier in der Fassung im Leviathan (Lev. XLVI, 564, Herv. L. B.). Die Auflistung bzw. Auswahl der Grundbegriffe variiert zwischen der Endform in De Corpore und den vorgängigen Versionen im Leviathan und De Mundo. In letzterem zählt Hobbes mit expliziter Referenz auf die Physik und Metaphysik des Aristoteles die Definitionen von »essence, matter, form, quantity, the finite, the infinite, quality, cause, effect, motion, space, time, place, vacuum, unity [unum], number, and all the other notions which Aristotle discusses« (DM I.1; engl., 23) auf. Da die Erste Philosophie in De Corpore als Meta-Physik ausgewiesen wurde 189, wird fortan die dort verhandelte potentia ›meta-physische‹ potentia genannt. Die meta-physische potentia bildet die Basisschicht von Hobbes' Machtbegriff (potentia), ihre Bestimmung wirkt, so wird sich zeigen, in die weiteren Ebenen des anthropologischen und politischen Machtbegriff hinein. Wenn nun die Basisschicht erkundet wird, sei daran erinnert, dass letztendlich der gesamte Begriff von Macht bei Hobbes immer nur im Lichte seiner allgemeinen Bewegungshypothese einerseits und seiner Konzeption von Philosophie als Wissenschaft von den Ursachen und Wirkungen her vollständig verständlich wird. 190 Dieser Umstand drückt sich in einer eigentümlichen Begriffsbestimmung der meta-physischen potentia aus, die sich nach einem Prinzip der ›differenziellen begrifflichen Identität‹, wie ich es zu nennen vorschlage, in drei Schritten aufbaut. Entsprechend ist der nachfolgende Abschnitt in drei Unterabschnitte gegliedert, in denen zunächst das Prinzip der Identitätssetzung (= formales Element der meta-physischen potentia) (a) und dann die (materialen) differenziellen Identitätssetzungen von potentia mit Ursache, Wirkung (b), Bewegung und Wirklichkeit (c) herausgearbeitet werden.

a) Formale Begriffsbestimmung: das Prinzip der differenziellen Identität

Im zehnten Kapitel von De Corpore, das in der englischen Version den Titel »Power and Act« und in der lateinischen Version den Titel »De Potentia et Actu« trägt, gibt Hobbes eine Begriffsbestimmung von potentia durch Herstellung einer Korrespondenzbeziehung zu den Begriffen der Ursache und Wirkung. In der engen Inbeziehungsetzung von Ursache und Macht, Wirkung und Akt zeichnet sich Hobbes' zentrale begriffliche Operation am Machtbegriff ab. Vgl. Kap. 7.3.3 (K5). Diagrammatisch formuliert reflektiert sich in den Komponenten des Begriffskorpus das transzendentale Feld des Denkmilieus und der ersten Komponenten des Begriffsmilieus. 189 190

Begriffskorpus

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Wie ist das zu verstehen? Hobbes greift die in der Scholastik metaphysisch überhöhten Begriffe von Potenz und Akt, die das latinisierte Nachfolgepaar der aristotelischen Begriffspaarung von dynamei on und energeia bilden, auf und überführt sie in die kausale Terminologie der seiner Naturphilosophie 191: Der Ursache und Wirkung [behandelt in Kapitel IX; L. B.] entsprechen Vermögen 192 und Akt [Causae atque effectui respondent potentia et actus./ Correspondent to cause and effect, are power and act (. . .)]. Ja, ersteres und letzteres sind sogar der Sache nach dasselbe, wenngleich man sie aufgrund unterschiedlicher Betrachtungsweise mit verschiedenen Namen belegt hat. (Corp. X.1, 132–133/lt., OL I, 113/engl., EW I, 127)

Ursache und Macht (oder ›Vermögen‹) sind, so Hobbes, dasselbe. Der Begriff der Macht als potentia wird also durch den Begriff der Ursache, oder präziser: durch die Kausalitätsbegriffe von Ursache und Wirkung, bestimmt. Damit wird der Begriff der Macht (des Vermögens) selbst zu einem Begriff, der auf einen Kausalzusammenhang verweist. 193 Während bei Aristoteles die Kategorie der Kausalität in einem kategorialen Nachbarschaftsverhältnis zur dynamis kata kine¯sin steht 194, transponiert Hobbes den Begriff der Ursache in den machtbegrifflichen Korpus: Ursache wird nun zu einem zentralen Element der Basisschicht des Machtbegriff selbst. 195 Das Korrespondenzverhältnis mit den Begriffen von Ursache und Wirkung ist genau genommen ein Verhältnis der partiellen oder perspektivischen Identität oder »Synonymie« 196, denn Hobbes sagt, dass Macht und Ursache, aber auch Wirkung und Akt, in einer Hinsicht de facto und realiter »der Sache nach dasselbe« (Corp. X.1, 132) sind, in anderer Hinsicht jedoch nicht.

191 Die kausalbegriffliche Grundierung des Machtbegriffs betrachtet Kurt Röttgers (1990), 192, als »Schwäche von Hobbes’ Machtbegriff«, weil er der Geschichte des Machtbegriffs insofern eine schwere Hypothek aufgebürdet habe, als mit dem kausalen Machtbegriff »das Interpretationsschema von Ursache und Wirkung im Hinblick auf Macht dominant gesetzt« worden sei. 192 Schuhmann übersetzt potentia mit dem scholastisch geprägten Begriff der »Potenz«. Da der Potenz-Begriff hier weder der Sache nach zutreffend ist (denn Potenz ist ein metaphysischer und ontologischer Begriff), noch Hobbes ihn in seiner englischen Version »Concerning Body« verwendet – er verwendet strikt ›power‹ und nicht ›potency‹ oder ›potentiality‹ –, modifiziere ich die Übersetzungen von Schuhmann in Bezug auf potentia, indem ich nachfolgend potentia konsequent mit »Macht« oder »Vermögen« oder der Doppelung »Macht / Vermögen« übersetze. 193 Vgl. Röttgers (1990), 186. 194 Vgl. Kap. 6.4.1 (K11). 195 Aus der Perspektive der vertikalen Diagrammatik (Begriffsgeschichte) setzt der signierte Machtbegriff von Hobbes damit fortan den Begriff von Macht (potentia/power) in ein Korrespondenzverhältnis mit den Begriffen von Ursache und Wirkung. 196 Foisneau (1992), 87–89.

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Die Hinsichten entspringen der Betrachtung, der consideratio, die wiederum auf eine temporale Struktur verweist, die an Ursache und Macht in der sprachlichen Verwendung angelegt wird: »[V]on Ursache spricht man in Hinblick auf die schon hervorgebrachte Wirkung, von Macht / Vermögen aber in Hinblick auf dieselbe, noch hervorzubringende Wirkung; so daß ›Ursache‹ das Vergangene, ›Macht / Vermögen‹ das Zukünftige berücksichtigt.« (Corp. X.1, 133) Die Differenz in zeitlicher Hinsicht macht also aus der sachlichen Identität eine perspektivische Identität von Ursache und Macht. 197 Ursache wird sprachlich mit einem retrospektiv ausgerichteten Kausalnexus verbunden, Macht mit einem prospektiven Kausalnexus. 198 Mit der temporalen Differenz sind zwei verschiedene Funktionen verbunden: in der Verwendung des Begriffs der Ursache reflektiert sich (der Anspruch auf) eine Erklärung eines Ereignisses, während mit dem Vermögensbegriff eher prognostisch auf ein mögliches zukünftiges Ereignis hingewiesen wird. 199 Daher lässt sich zunächst festhalten, dass sich das Verhältnis von Machtbegriff und Ursachenbegriff durch eine faktische Nicht-Unterscheidbarkeit kennzeichnet, die durch eine temporale Perspektivierung aufgehoben werden kann. Auf diese Weise treten Ursache und Macht von einer Unterscheidbarkeit realiter in eine begriffliche Differenz, sodass der Begriff der Macht überhaupt erst bestimmt werden kann – und zwar durch den Begriff der Ursache. Die begriffliche Identität lässt sich so gesehen auch als ›differentielle Identität‹ von zwei (oder mehr) Begriffen charakterisieren, wobei sich der Identitätsaspekt aus der Kongruenz des Referenzierten und der Differenzaspekt aus der begrifflich-temporalen Bestimmung ergibt. Das Prinzip der ›differentiellen Identität‹ von Begriffen stellt nun einerseits ein formales Bestimmungsprinzip der potentia dar. Zugleich führt es, als heuristisches Prinzip angelegt, zu weiteren differentiellen Identitätsverhältnissen, die die metaphysische potentia bei Hobbes eingeht. Die differenziellen Identitäten kennzeichnen sich durch zwei Charakteristika: Erstens zeigen sie an, dass Begriffe in Bezug auf ihre Referenzen sachlich konvergieren, sich aber durch Perspektivwechsel begrifflich differenzieren lassen. Zweitens führen die differentiellen Identitäten von Begriffen seriell aneinander gereiht zu einer begrifflich-diffe197 In der Hobbes-Literatur wird das Verhältnis von Ursache und Macht zumeist als Äquivalenz- oder Identitätsbeziehung interpretiert (vgl. z. B. Brandt [1927], 288–289, Foisneau [1992], 87– 89, Leijenhorst [2002], 207, Altini ([2010], 245). Ein metaphorologischer Zugriff auf das UrsacheMachtverhältnis versteht das begriffliche Verhältnis als ein kausales Model oder Bild von Macht, »where causality is in turn viewed through the imagery of contiguous motions or pushes and pulls«, bei dem der Machtbegriff einer »metaphorical redescription« unterzogen wird (Ball [1975], 213, 214). Vgl. grundlegend dazu Blumenbergs Deutung der Begriffsbildung auf der Folie einer Hintergrundmetaphorik (1998). 198 Vgl. Frost (2008), 136. 199 Röttgers (1990), 185.

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rentiellen ›Identitätskette‹ mit dem (erwartbaren) Ergebnis, dass der Begriff Macht über die Begriffe der Ursache und der Wirkung auf den Begriff der Bewegung führt. Diese Identitätskette verzeichnet nicht nur die Elemente, die die Basisebene des Machtbegriffs bilden, sie bringt auch die machtbegriffliche Basisebene der meta-physischen potentia auf eine Formel: Macht / Vermögen (potentia) = Ursache = Wirkung = Bewegung = Akt / Wirklichkeit (actus) Nachdem das perspektivisch-differenzielle Identitätsverhältnis als wesentliches formales Element der Bestimmung der Basisebene des hobbesschen Machtbegriffs bzw. der meta-physischen potentia herausgearbeitet worden ist, gilt es nun die materialen Identitätssetzungen weiter zu erkunden.

b) Erste materiale Begriffsbestimmung: Macht = Ursache = Wirkung

Wirken und Leiden. Hobbes' Begriff der Ursache bestimmt sich sowohl von dem Begriffspaar Körper und Akzidens (Corp. VIII) als auch von den Begriffen der Wirkung und des Erleidens her. Alle vier Begriffe nehmen, wie sich zeigen wird, ihren begrifflichen Ausgang in den aristotelischen Begriffen von Substanz, Akzidens, poiein, paskein, energeia und der Aufgliederung der Ursache in vier Ursachentypen. Die grundlegende Prämisse der Kausalitätsvorstellung von Hobbes ist, dass sich Ursache- und Wirkungszusammenhänge in der Zusammenkunft von zwei (oder mehr) Körpern ereignen, die in ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenkunft (bzw. im typisch mechanischen Vokabular: ›Zusammen-Stoß‹) eine Art Komplementarität in ihren Eigenschaften (»Akzidenzien«) in Form von Wirkungsfähigkeit und Erleidensfähigkeit aufbringen: Man spricht vom Wirken [agere] eines Körpers auf einen andern, wenn er darin ein Akzidens entweder erzeugt oder zerstört. Und von seinem Leiden [pati] von seiten eines andern, wenn durch jenen in ihm selber ein Akzidens erzeugt und zerstört wird. So heißt ein Körper, der einen andern Körper fortstößt und dadurch in ihm Bewegung bewirkt, wirkend [agens], der andere aber, in dem durch diesen Stoß Bewegung erzeugt wird, leidend [patiens]. [. . .] Das im Leidenden erzeugte Akzidens wird die Wirkung [effectus] genannt. (Corp. IX.1, 126/lt., OL I, 106–107)

Im deutschen Verb ›erzeugen‹ aber auch in den Substantiven des ›Wirkenden‹ und ›Leidenden‹ bleiben die genetisch-techno-logische und deterministische Konnotation des hobbesschen Kausalitätskonzepts, aber auch das Struktur-

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prinzip der Agentiv-patentiv-Korrelation etwas verdeckt. Es lohnt sich daher, einen Blick in die englische Terminologie zu werfen, die die kausalen Begriffsdimensionen des Lateinischen und damit auch Griechischen besser konserviert als das Deutsche. Im Englischen liest sich die zitierte Stelle nämlich folgendermaßen: A body is said to work upon or act, that is to say, do something to another body, when it either generates or destroys some accident in it : and the body in which an accident is generated or destroyed is said to suffer, that is, to have something done to it by another body ; as when one body by putting forwards another body generates motion in it, it is called the agent ; and the body in which motion is so generated, is called the Patient [. . .]. That accident, which is generated in the patient, is called the effect. (Corp. IX.3, EW I, 120)

Der agentive Teil und der patentive Teil einer kausalen Veränderung werden im Englischen deutlich sichtbar. Offensichtlich ist damit auch, dass sich Hobbes an der griechisch-antiken Vorstellung der Zweiteiligkeit von natürlicher Bewegung orientiert. Vollständige Ursache und Teilursachen. Über die Beschreibung der Wirkung gelangt Hobbes, dem methodischen Prinzip der Analyse oder resultio gemäß, dann zum Begriff der Ursache. Die Ursache wird von Hobbes kompositorisch, d. h. zusammengesetzt aus unterschiedlichen Anteilen und unter dem Notwendigkeitskriterium der vollständigen Anwesenheit der Anteile konzipiert. Dazu unterscheidet Hobbes methodisch zwischen notwendigen Teilursachen und hinreichenden Teilursachen und »vollständigen Ursachen« oder »Ursachen schlechthin« (causa simpliciter, causa integra; »entire cause«; Corp. VIII.1– 3), die sich aus dem vollständigen Vorliegen der Teilursachen herausbilden. Die causa integra definiert Hobbes gewissermaßen umgekehrt kontrafaktisch von ihrer Wirkung her als »die Gesamtheit all der Akzidenzien [. . .], bei deren Unterstellung es unbegreiflich ist, daß die Wirkung nicht erfolgt« (Corp. IX.7, 130). 200 Denn nur eine vollständige Ursache bringt notwendig eine (ihre) Wirkung hervor und auch umgekehrt gilt, »daß eine jede überhaupt je hervorgebrachte Wirkung von einer notwendigen Ursache hervorgebracht wurde.« (Corp. IX.5, 128) 201 Die Wirkung vollzieht sich also notwendig und zeitgleich 200 Vgl. Corp. IX.3, 127: »Das Akzidens des Wirkenden oder auch des Leidenden, ohne welches die Wirkung nicht hervorgebracht werden kann, heißt die Ursache sine qua non und bedingt notwendig sowie zur Hervorbringung der Wirkung erforderlich.« 201 Die logische und modale Unterscheidung von causa totalis und causa partialis sowie der Terminus der causa integra sind klassische Begriffsfiguren und Topoi der aristotelischen Scholastik, die Hobbes nun in sein Konzept von Verursachung einbaut. Vgl. dazu ausführlicher Leijenhorst (2002), 204–5, Pécharman (1990), 6–62, Zarka (1987), 200–203).

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zur Komplettierung der Ursache bzw. der Vervollständigung der zur Hervorbringung der Wirkung notwendigen und hinreichenden ursächlichen Bedingungen (bzw. Gesamtheiten an Akzidenzien im leidenden und im wirkenden Körper): »[I]m selben Augenblick, in dem die Ursache vollständig wird, [ist] die Wirkung auch schon hervorgebracht« (Corp. IX.5, 128). 202 Zusätzlich greift Hobbes auf die vier Ursachentypen des Aristoteles zurück, um die Teilursachen weiter zu spezifizieren. Für Hobbes stellen sich die jeweiligen akzidentiellen Anteile in der Realisierung eines Ursache-Wirkungszusammenhangs auf Seiten des Leidenden als »Materialursache [causa materialis]« und auf Seiten des Wirkenden als »Wirkursache [causa [. . .] efficiens]« dar (Corp. IX.4, 127/lt., OL I, 108). Die Wirk- und Materialursachen bilden entsprechend des Komplementaritätspostulats die »Teilursachen« einer »vollständig[en]« Ursache (Corp. IX.4, 127–128). Die vollständige Ursache bringt wiederum notwendig und simultan ihre Wirkung(en) hervor. In der These der Simultanität von vollständiger Ursache und Wirkung waltet ein radikaler Aktualismus: nur das Erwirkte, das Hervorgebrachte ist (überhaupt). Dass nur das Erzeugte Gegenstand der Erkenntnis werden kann, haben wir bereits in der Konzeption von Philosophie gesehen. 203 Hervorbringen, Produzieren, Erwirken sind für Hobbes spezifische Bewegungen eines Körpers in seinem Verhältnis zu einem anderen Körper oder mehreren Körpern in einem Raum. Hier findet also eine Form von lokaler Bewegung statt. Ereignet sich das Hervorbingen, Erwirken zwischen Teilen innerhalb eines oder an einem Körper, verändert sich folglich dieser Körper (bzw. seine Akzidenzien): »Steht dies fest«, und hier schließt Hobbes sich dezidiert dem aristotelischen Verständnis von (qualitativer) Veränderung als Bewegung an, »so ist Veränderung notwendigerweise nichts anderes als Bewegung der Teile des sich ändernden Körpers« (Corp. IX.9, 131, vgl. IX.7). Die Ursachen und Aristoteles' dynamis. In der bisherigen begrifflichen Analyse sind mehrere Reminiszenzen an aristotelische Begriffe aufgefallen. Zum Verhältnis von Hobbes' Ursachenbegriff und der aristotelischen dynamis lassen sich insbesondere drei zentrale Aspekte festhalten. Erstens hat Hobbes aus den vier aristotelischen Ursachentypen formal zwei konserviert, die Material- und die Wirkursache. Hobbes hat also, wenngleich sein Kausalitätskonzept den mechanischen Leitvorstellungen seiner Zeit folgt, keine Radikalverengung auf die causa efficiens vollzogen. 204 Zweitens dezentralisiert er die Ursache, da sich die 202 Hobbes’ Kausalitätskonzeption, wonach eine Ursache ihre Wirkung(en) mit »absolute or logical necessity« hervorbringt, ist ganz typisch für die Wissenskultur der frühen Neuzeit (Lin [2014], 165). 203 Vgl. Kap. 7.3.1 b) (K3). 204 Genau genommen eliminiert Hobbes keine der Ursachentypen als Erklärungsprinzipien, sondern reduziert im Rahmen seiner Meta-Physik und Naturphilosophie die Formal- und Finalursa-

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Ursache erst in der Zusammenkunft voneinander entsprechenden agentiven und patentiven Akzidenzkomplexen (bzw. Teilursuchen) als vollständige Ursache und damit in ihrer Wirkung realisieren kann. In dieser Kausalkonzeption müssen mehrere (mindestens zwei) Akzidenzien bzw. Körper als Anteilsgeber der Teilursachen zusammentreffen oder ›interagieren‹. Eine vollständige Ursache ist also das Produkt einer Versammlung von notwendigen und hinreichenden agentiven und patentiven Bedingungsfaktoren für ein Ereignis oder Tätigkeit (actus). Was Hobbes in De Corpore im Rahmen seiner Meta-Physik präsentiert, lässt sich daher mit Leijenhorst auch treffend als »agient-patient framework of causality« bezeichnen. 205 Hierin gibt es epistemologisch und ontologisch betrachtet weder aktive oder patentive Körper als solche noch Wirkund Materialursachen als solche. Das Agentive und Patentive sind bei Hobbes vielmehr als analytische Attributionen zu verstehen, die an einem Phänomen, das als Kausalzusammenhang identifiziert wird, angelegt werden. Anders formuliert: Das Wirkende und Leidende können weder a priori als solche begriffen werden noch sind sie als solche metaphysische Einheiten, sondern sie gehen erst durch ihre ko-konstitutive Situation hervor und müssen darin über eine Art Passfähigkeit oder Affinität zueinander verfügen. 206 Und drittens wird in das Kausalitätskonzept der Begriff der (absoluten und nicht nur hypothetischen) Notwendigkeit eingegliedert; absolute und hypothetische Begriffe waren in der Scholastik zwar benachbart, jedoch noch nicht in den Begriffskorpus der Kausalität integriert. 207 In der These des notwendigen Zusammengreifens eines agentiven und patentiven Parts, die Hobbes Teilursachen nennt, repliziert sich sowohl das kinetisch-dynamische Strukturprinzip der Aufteilung in agentive und patentive che auf den Begriff der Wirkursache und räumt der Finalursache in der Betrachtung der sinnlichen Wahrnehmung und Willensausprägung (vgl. Hom, XI. 2) eine Berechtigung als Erklärungsprinzip ein (»Vom Begehren und Vermeiden, vom Erfreulichen und Unangenehmen und von deren Ursachen«), vgl. dazu Corp. XI.2; Decam Phys., EW VII, 82–83. In der Hobbes-Literatur wird häufig, gerade in der mechanistischen Lesart, über den differenzierten konservativen Aufgriff der vier Ursachentypen von Hobbes hinweggesehen; vgl. dazu auch Walton (1974), 37–38, und ausführlich Riedel (1969). 205 Leijenhorst (2002), 203. 206 Bei Leijenhorst deutet sich in diesem Aspekt eine substanzlogische Lesart an, die die Akzidenzien quasi als den Körpern inhärierende Dispositionen versteht: »Agents and patients do not generate effects because they are agents and patients simpliciter. Rather an agent produces an effect in the patient on account of certain accidents inherent in both.« (Leijenhorst [2002], 203) Tatsächlich liegt eine substanzontologische Grundierung noch in Hobbes’ Frühschrift, von Tönnies und seither »Short Tract« genannt, vor; jene ist aber in der Spätschrift De Corpore durch eine nominalistische, theoretisch-ontologische Grundierung substituiert worden; vgl. zum Short Tract (ST) die Ausführungen weiter unten im Kapitel. 207 Leijenhorst (2002), 206. Zu den Binnendifferenzierungen im Notwendigkeitsbegriff bei Hobbes siehe ausführlich Leijenhorst (1996), 431–436.

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Anteile einer Bewegung oder Tätigkeit als auch das Prinzip der notwendigen Zusammenkunft dieser Anteile zu ihrer jeweiligen Wirksamkeit. Das Wirken basiert also auf der Korrelation von agentiven und patentiven Teilursachen, sodass »das Wirkende seine bestimmte Wirkung im Leidenden entsprechend dem bestimmten Modus bzw. bestimmten Akzidens oder den bestimmten Akzidenzien hervorbringt, mit denen sowohl es selber als auch das Leidende ausgestattet ist« (Corp. IX.3, 126–127). Dabei parallelisiert Hobbes die Materialursache mit der patentiven dynamis und die Wirkursache mit der agentiven dynamis von Aristoteles. 208 Nachdem der letzte Schritt der Identitätssetzung im nachfolgenden Abschnitt c) aufgezeigt worden sein wird, werden wir uns unter dem diagrammatischen Aspekt des Strukturprinzips (K8) anschauen, wie Hobbes die Binnendifferenzierungen in seinem Ursachenbegriff auf die Bestimmung seines Begriffs der potentia appliziert.

c) Zweite materiale Begriffsbestimmung: Macht = Ursache = Wirkung = Bewegung = Wirklichkeit

In der relativ frühen Schrift Tractatus Opticus (1644) postuliert Hobbes in den einleitenden »Hypothesen«, dass letztendlich jede Handlung, jedes Ereignis, jede Wirkung und jedes Erleiden selbst eine (lokale) Bewegung sei: Omnis actio est motus localis in agente, sicut et omnis passio est motus localis in patiente. Agentis nomine intelligo corpus, cujus motu producitur effectus in alio corpore ; patientis, in quo motus aliquis ab alio corpore generatur. (OL V, 217) 209

Die allgemeine Bewegungshypothese aus De Corpore findet sich hier bereits exemplarisch formuliert. Interessant ist aber zudem das Verhältnis von Wirken und Bewegen. Wirken heißt dasjenige zu bewegen, das selbst bewegbar ist, und erleiden meint, bewegt zu werden von einem Bewegendem. Die Interaktion eines wirkenden und eines leidenden Körpers ist in ihrer Komplementarität die berührende Bewegung des einen Körpers auf die Bewegung des anderen Körpers. Für Hobbes sind nun alle Körper gemäß dem Prinzip der Inertia stets in Bewegung (vgl. Corp. IX.7, 130). Ruhe ist vor dem Hintergrund der allgemeinen Bewegungshypothese ein Grenzzustand von Bewegung, der durch Vgl. Kap. 6.3.3 c) (K8). Eine ausführliche Deutung des Tractatus Opticus gibt Alain E. Shapiro (1973). Da mir keine Übersetzung zugänglich war, sei hier die lateinische Fassung aus den Opera Latina (= OL) zitiert. 208 209

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die Konstellation einer einwirkenden Bewegung und einer in demselben Maße (mit der gleichen Geschwindigkeit oder Kraft) entgegentretenden Gegenbewegung erzeugt wird. 210 In logischer Konsequenz befinden sich alle Körper in einer stetigen und ununterbrochenen Bewegtheit – jeder Körper (und innerhalb der lebendigen Körper: dessen Teile) ist je nach konstellativer Position agentiv-bewegend (agens) oder patentiv-bewegt (›patiens‹). 211 Von dieser Konzeption einer unaufhörlichen Bewegung zwischen Körpern und von Körpern ausgehend, lässt sich ein tief eingelassener, kinetisch fundierter Determinismus und Aktualismus bei Hobbes ablesen: In einer unendlichen Verkettung aller Ereignisse, verstanden als körperliche Interaktionen, gibt es zum einen kein Außerhalb, zum anderen ist jeder Körper de facto sowohl wirkend als auch erleidend, ohne dass es einen ultimativen Bewegungsanfang gibt. 212 Agentive Vermögen / Macht als Bewegungen. Bisher wurde nachgezeichnet, wie Hobbes Ursachen und Wirkungen als Bewegungen identifiziert. Da nun agentive Vermögen für Hobbes strukturell mit Wirkursachen konvergieren, erscheint es konsequent, auch agentive Vermögen als Bewegung zu betrachten. Und genau diese Schlussfolgerung bzw. konsistente Applikation der allgemeinen Bewegungshypothese führt Hobbes in dem zehnten Kapitel zu Vermögen / Macht und Akt in De Copore auch aus: In the 9th article of the preceeding chapter, I have shewn that the efficient cause of all motion and mutation consists in the motion of the agent, or agents ; and in the first article of this chapter, that the power of the agent is the same thing with the efficient cause. From whence it may be understood, that all active power consists in motion also ; and that power is not a certain accident, which differs from all acts, but is, indeed, an act, namely, motion, which is therefore called power, because another act shall be produced by it afterwards. (Corp. X.6, engl., EW I, 131)

Macht ist somit nicht mehr das Prinzip als Anfang von Bewegung und Veränderung, das etwas in einem anderen erzeugt, sondern Macht ist selbst Bewegung und Bewegung ist – kinetische – Wirklichkeit. Der Begriff der potentia wird somit von Hobbes in ein Konzept transformiert, das sich einerseits der aristotelisch-substanzontologischen, teleologischen und ousia-logischen Grundierung Vgl. zum begrifflichen Verhältnis von Bewegung und Ruhe Kap. 7.5.1 (K8). Frost (2008), 137. 212 Vgl. dazu Frost (2008), 137: »[W]e must think about specific acts not simply in terms of their immediate causes and immediate intended effects but rather in terms of the chains of causal antecedents as well the ›long chaynes of consequences‹ that continue to unfold after a particular act can be said to have taken place. For a body to be only an agent, it would have to a first cause, which according to Hobbes is a speculative inference to which we sometimes give the name ›God‹.« 210 211

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entledigt hat, andererseits an dem Strukturprinzip der Agentiv-patentiv-Differenz festhält. Das wiederum ist insofern konzeptgeschichtlich konsistent, da diese spezifische Differenz selbst eine ist, die der bewegt-bewegenden (kinesthai-kinoumenon) Struktur der Bewegung als kine¯sis entstammt. Die potentia erhält bei Hobbes eine »kinetisch-aktualistische« Grundierung, die die dynamische Konzeptualisierung ablöst: »There is no room for any potency, inclination, force or vital action in a universe whose events are only and exclusively motions in act.« 213 Macht als Bewegung und Wirklichkeit. Der Aktualismus fordert ein, dass es keine nur möglichen und nicht aktualisierten Vermögen bzw. ›Möglichkeiten‹ geben kann. Analog zur vollständigen Ursache konzipiert Hobbes auch die Vermögen als Teil-Vermögen, die sich zu einem vollen Vermögen ›vervollständigen‹. Liegt eine ›volle‹ Vermögenskonstellation vor, wird dieses Vermögen notwendig ausgeübt und bildet die Wirklichkeit: »›having a power‹ entails ›exercising a power‹ in the conditions actually obtaining«. 214 Das volle Vermögen ist wiederum der Akt, die Wirklichkeit selbst. Denn wenn ein Vermögen in dem Moment seiner Vervollständigung als potentia integra, d. h. der Zusammenkunft der potentia activa und notwendigen und hinreichenden potentia passiva, simultan und notwendigerweise zu seiner Verwirklichung bzw. einem Akt oder Ereignis führt, dann ist der Akt ontologisch nicht mehr von der potentia integra zu trennen. 215 Analog zur Gleichsetzung von Ursache und Wirkung ebnet Hobbes also »die ontologische Unterscheidung zwischen Akt und Potenz völlig ein[].« 216 In umgekehrter Darstellung wird die ontologische Nivellierung besonders deutlich: Ohne potentia integra gibt es schlichtweg keine Wirklichkeit, kein Ereignis – und auch keine Partialvermögen. Man könnte jetzt versucht sein, in Hobbes' Konzeption von potentia und actus eine megarische Position 217 zu sehen, die unter dem Hinweis der Existenz von Wirklichkeit / Tätigkeit als totale Wirklichkeit auf eine Eliminierung der Vermögen als zulässige oder notwendige konzeptuelle oder ontologische Entitäten zwischen dem Seienden und dem Nicht-Seienden hinausläuft. Tatsächlich aber stehen sich die argumentativen Hintergründe der Megariker und von Hobbes diametral entgegen, sodass Hobbes zwar eine aktualistische Position und Konzeption von Macht / Vermögen attestiert werden kann, nicht aber eine megarische Form des Aktualismus. Denn während die megarische Schule aus Gründen ihrer logischen Argumentation die Existenz von Veränderung und Bewegung, ähnlich wie Parmenides 213 214 215 216 217

Lupoli (2001), 90, Herv. i. O. Benn (1972), 193. Vgl. Leijenhorst (2002), 207. Weiß (1980), 51; vgl. Riedel (1969), 426–427. Vgl. Kap. 6.2.2.

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und Zenon, ablehnen musste, entstammt Hobbes' Konzeption von Vermögen / Macht/potentia aus dem Horizont seiner allgemeinen Bewegungshypothese, der zufolge nichts ohne – und letztlich jede Ursache und potentia – Bewegung ist. 218 Folglich wird die Wirklichkeit auch nicht, wie noch bei Aristoteles, durch eine zielorientierte Tätigkeit und Aktivität (energeia) definiert, sondern durch Wirkung, »die, wenn sie einmal eingetreten ist, stets als Produkt notwendiger Ursachen verstanden werden muß.« 219 Was es also heißt, dass potentia Bewegung (motion) ist, lässt sich im Rahmen des heuristischen Prinzips der differentiellen Identität als eine weitere Schleife rekonstruieren, die Hobbes im begrifflichen Kontext von Ursache und Vermögen knüpft. Wenn nun die agentive potentia bzw. »active power« selbst eine Bewegung ist, wie verhält es sich mit der Macht des patiens, der passiven Macht? Benn hat darauf hingewiesen, dass anders als die Identifikation von active power mit Bewegung die Gleichsetzung von passive power mit Bewegung bei Hobbes nicht explizit zu finden ist. Der Status von patentiven Vermögen sei unklar, klar ist jedoch, dass ihr hinreichender Charakter als gesichert gelten kann: »[I]t may be enough to say that passive powers are those accidents whatever they may be that are sufficient for the effect, given a fitting agent.« 220 Damit gesteht Benn den patentiven Vermögen bei Hobbes eine unsichere, wenn auch notwendige analytische Existenz zu. Zusammenfassung. Die Begriffsebene der meta-physischen potentia, die die Basisebene des hobbesschen Machtbegriff bildet, verbindet im Modus der differentiellen Identität Ursache, Wirkung, Bewegung und Wirklichkeit mithilfe des Strukturprinzips der Agentiv-patentiv-Unterscheidung und der Doktrin der Notwendigkeit des Kausalnexus. Darin wiederum ist die agentive potentia nicht nur mit der causa efficiens, sondern auch mit einer bewegenden Bewegung gleichzusetzen. Hobbes versucht die Theoriefigur des Prinzips als Anfang durch eine in sich schon bewegte Bewegung, die Bewegungen in anderen Entitäten veranlasst, zu ersetzen. Der Bewegungsanfang wird dadurch zu einem Grenzbegriff. 221 Während bei Aristoteles die Ursache der Bewegung (causa efficiens) und das Prinzip der Bewegung (arche¯ kine¯seo¯ s, dynamis kata kine¯sin) noch in kategorialer Nachbarschaft stehen, also nicht deckungsgleich konzipiert werden, transferiert Hobbes' Begriff der meta-physischen potentia den Ursachenbegriff in den Begriffskorpus derselben. Der wird hingegen aus dem Begriffskorpus ausgelagert. Wie noch zu sehen sein wird, geht der Bewegungs218 Vgl. die anders gelagerte Argumentation zum Verhältnis von Hobbes und den Megarikern von Foisneau (1992), 87–88. 219 Riedel (1969), 427. 220 Benn (1972), 191, Herv. i. O. 221 Walton (1974), 37.

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anfang in dem neuen Begriff des conatus auf und steht damit in enger kategorialer Nachbarschaft mit der meta-physischen potentia. 222 Zentral für Hobbes' Begriffsbildung ist Folgendes: Macht / Vermögen erhält eine perspektivische Identität mit dem Begriff der Ursache. Obgleich hier zu bedenken ist, dass der aristotelische aitiai-Begriff (»Ursachen«) nicht deckungsgleich mit der neuzeitlichen causa efficiens ist, da die Ursächlichkeit von Bewegung in der Antike weiter gefasst ist als eine streng mechanische körperbezogene Kausalursache, gilt für Hobbes, dass die Konzeptualisierung der meta-physischen potentia insgesamt »the Aristotelian formal model of efficient causality« folgt. 223 Hobbes' Erste Philosophie, die das theoretische Terrain der meta-physischen potentia bildet, ist zwar an der Mathematisierung und der Mechanisierung der Naturphilosophie bzw. Physik und Philosophie orientiert, adaptiert die Strömungen aber nicht mit der Radikalität etwa von Descartes und La Mettrie. So ist erklärbar, dass Hobbes' potentia sowohl eine neuzeitlich-mechanische, d. h. eine auf Ursachen und Wirkungen fokussierte, als auch eine aristotelische Prägung hat.

7.4.2 Phasenraum der Basisebene: Typen der meta-physischen potentia (K7)

Wirken und Leiden als begriffsleitende Unterscheidung. Unter dem Aspekt des Phasenraums sollen nun systematisch die Typen von Ursache und Macht / Vermögen herausgestellt werden, die sich bereits aus der differenziellen Identität von Ursache, Wirkung, Macht / Vermögen und Bewegung abgezeichnet haben. Hierzu ist es hilfreich, sich noch einmal die Unterscheidung von Wirken und Leiden mit einem ausführlichen Zitat (das wir bereits kennen) vor Augen zu führen: Man spricht vom Wirken [agere] eines Körpers auf einen andern, wenn er darin ein Akzidens entweder erzeugt oder zerstört. Und von seinem Leiden [pati] von seiten eines andern, wenn durch jenen in ihm selber ein Akzidens erzeugt und zerstört wird. So heißt ein Körper, der einen andern Körper fortstößt und dadurch in ihm Bewegung bewirkt, wirkend [agens], der andere aber, in dem durch diesen Stoß Bewegung erzeugt wird, leidend [patiens]. [. . .] Das im Leidenden erzeugte Akzidens wird die Wirkung [effectus] genannt. (Corp. IX.1, 126/lt., OL I, 106–107)

Für die begriffliche Verschmelzung von Ursache und Vermögen ist, wie bereits gesehen, die Unterscheidung von wirkenden und leidenden, agentiven und pa222

Vgl. zum Begriff des conatus in der Komponente der kategorialen Nachbarschaft Kap. 7.5.1

c) (K11). 223

Leijenhorst (2002), 211; dagegen Riedel (1969), 427.

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tentiven Anteilen in einem Kausalzusammenhang zentral. 224 Eine Ursache oder Macht / Vermögen ist wirklich, d. h, ist genau dann real, wenn die notwendigen Anteile, d. h. Typen von Teil-(Ursachen) und Teil-(Vermögen), zusammen vorliegen. Damit bildet die Gesamtheit der wirkenden Akzidenzien in der retrospektiv orientierten Terminologie der Ursache die Wirkursache. In prospektiver Betrachtungsweise entspricht der Wirkursache das »Vermögen« (potentia) des Wirkenden, eine Wirkung zu erzeugen. Dieses Wirkungsvermögen ist für Hobbes das aktive/agentive Vermögen (potentia activa; active power): »Die Macht / das Vermögen des Wirkenden pflegt man aber die aktive zu nennen./ Potentia autem agentis activa dici solet./ Also, the power of the agent is that which is commonly called active power.« (Corp. X.1, 133/lt., OL I, 113/engl., EW I, 128) Konsequenterweise wird die komplementäre Materialursache in temporaler Perspektivverschiebung zum patentiven Vermögen: »Die Macht / das Vermögen des Leidenden (die man gemeinhin auch ›passives Vermögen‹ nennt) und die Materialursache sind also dasselbe./ Idem igitur est potentia patientis (quae et potentia passiva vulgo dicitur) et causa materialis.« (Ebd., 133 [Übers. leicht modifiziert]/lt., OL I, 114). Und schließlich bilden analog zur Konvergenz von Wirk- und Materialursache (causa efficiens und causa materialis) in der vollständigen Ursache (causa integra) das Vermögen / die Macht des Wirkenden und das Vermögen / die Macht des Leidenden als agentives und patentives Vermögen das »vollständige« Vermögen / die »volle« Macht (potentia integra oder plena) (Corp. X.1) (vgl. Abb. 10). Ebenso wie die causa integra ist auch die potentia integra sowohl durch eine starke Relationalität konzeptuell konstituiert als auch einer ontologischen Notwendigkeit verpflichtet. Gleichwie wir gezeigt haben, daß Wirk- und Materialursache für sich genommen nur Teile der vollständigen Ursache sind und die Wirkung nur hervorbringen, wenn sie miteinander verbunden sind, so sind auch aktive und passive Macht / Vermögen nur Teile der vollen und vollständigen Macht / des Vermögens [potentia activa et passiva partes tantum sunt potentiae plenae, et integrae], und der Akt [actus] kann aus ihnen nur hervorgehen, wenn sie miteinander verbunden [conjunctis] sind. (Corp. X.3, 134/lt., OL I, 114)

Denn wie für die Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, so gilt auch für die Vermögen, dass sie nicht apriori als solche vor dem Eintritt in einen VermögenAkt-Zusammenhang vorhanden sind, sondern erst im Aufeinandertreffen, in der mittelbaren oder unmittelbaren ›interaktiven‹

224 Ähnlich wie Aristoteles trifft Hobbes hier eine begriffliche Bestimmung mit Verweis auf die Verwendungsweisen im (alltäglichen) Sprachgebrauch.

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Wirkursache

Materialursache

(causa efficiens)

(causa materialis)

modal: Teilursachen (causae sine qua non)

vollständige, volle Ursache (causa integra)

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aktives (agentives) Vermögen

passives (patentives) Vermögen

(potentia activa)

(potentia patientis/passiva)

modal: Teilvermögen (potentia sine qua non)



vollständiges, volles Vermögen (potentia plena/integra)

Abb. 10 Phasenraum der meta-physischen potentia (= Basisebene des hobbesschen Machtbegriffs)

Begegnung als agentive und passive Vermögen (powers) analytisch identifiziert werden können. Und dasselbe gilt ebenso auf der (meta-)physischen Ebene von Tätigkeit und Ereignis, die gemäß Hobbes' theoretischer body / matter-in-motion-Ontologie in De Corpore anhand der Bewegung von Körpern analysiert werden müssen: Agentive und patentive Körper sind als solche nur analytisch in ihrem (kausalen) Verbund identifizierbar. Craig Walton hat diesen zentralen Aspekt in der analytischen Stufenfolge pointiert formuliert: »Technically, there are no powers or causes per se; each term is meaningful from a particular standpoint, ›power‹ looking from actuality ahead in time, ›cause‹ looking from actuality backward in time. It takes more than one body to be in act; bodies ›are‹ only when interacting or in motion.« 225 Hobbes hat seine allgemeine Bewegungshypothese und differentielle Identität von agentiven und patentiven Vermögen bzw. Macht und Bewegung erst allmählich entwickelt. So spricht Hobbes in der Frühschrift Short Tract (deren Autorenschaft bis heute nicht als restlos gesichert gilt) noch von den dynamischen Prinzipien »power to move« oder »power to be moved« 226, die exakt der agentiven und patentiven dynamis kata kine¯sin entsprechen. Im Tractatus Opticus und in De Corpore transformiert Hobbes schließlich das dynamische Prinzip in die rein kinetisch-mechanischen Konzeptionen von Ursache und Vermögen: »That which in the agent has power to move, is now motion itself [. . .] the processes of nature are considered as actual acts of motion.« 227 Systematisches Schema des Phasenraums der meta-physischen potentia. Zusammengenommen lässt sich nun ein Phasenraum der potentia mit zwei per225 Walton (1974), 37, Herv. i. O. Vgl. ähnlich die ebenso präzise Analyse von Samantha Frost (2008), 136–140. 226 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 7.5.2 (K10). 227 Brandt (1927), 122.

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spektivischen, differentiell-identischen Strängen (die Spalten im Schema) ausmachen, der um eine modale Perspektivierung (untere Zeile) ergänzt wird.

7.4.3 Strukturprinzip: Agentiv-patentiv-Zusammenkunft (K8)

Zusammenkunft von Wirken und (Er-)Leiden. Der Unterscheidung von Wirken und Leiden kommt, wie bereits expliziert worden ist, eine tragende Rolle in der begrifflichen Binnenunterscheidung des Ursachen- und Machtbegriffs zu. Dahinter steht die bewegungsbegriffliche Unterscheidung von bewegen und bewegt werden. Für eine vollständige Ursache bzw. Macht / Vermögen ist es in der hobbesschen Konzeption erforderlich, dass einander komplementäre aktive bzw. agentive und passive bzw. patentive Anteile (potentia) zusammentreffen, damit – simultan – eine Wirkung bzw. ein Akt erzeugt werden kann. Die Unterscheidung von aktiv und passiv (bzw. agentiv und patentiv) ist damit ein Strukturprinzip der meta-physischen potentia. Hobbes' potentia wieder-holt somit nicht nur das antike bewegungsbezogene Prinzip von poiein (machen, bewirken, erzeugen) und paskein (erleiden). Mit der Zweiteiligkeit von Bewegung, Ursache und Vermögen / Macht wieder-holt Hobbes in seiner potentiaKonzeption auch zwei grundsätzliche Aspekte, die bereits von Aristoteles ausformuliert wurden: zum einen die Figur und Bedingung der komplementären Zusammenkunft, in der eine Form von Berührung stattfindet, zum anderen, und darauf aufbauend, die theoretische Figur der Komposition und der Aggregation in der Verwirklichung der potentia plena. Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn er konditional formuliert wird: Bedingung der (analytischen) Existenz von potentia als potentia integra und plena und damit eines Ergeignisses bzw. eines Aktes ist die Zusammenkunft einer agentiven mit einer patentiven potentia: And as it is manifest, as I have shewn, that the efficient and material causes are severally and by themselves parts only of an entire cause, and cannot produce any effect but by being joined together, so also power, active and passive, are parts only of plenary and entire power ; nor, except they be joined, can any act proceed from them ; and therefore these powers [. . .] are but conditional, namely, the agent has power, if it be applied to a patient ; and the patient has power, if it be applied to an agent ; otherwise neither of them have power [. . .]. (Corp. X.3, EW I, 129)

Macht ist somit für Hobbes sowohl in der philosophia naturalis als auch in der philosophia civilis nicht ein Gut, eine Ressource, ein Attribut eines Subjekts, sondern eine situative Zusammenkunft der sie konstituierenden Anteile (Fä-

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higkeiten, natürliche und instrumentelle Partialmächte/-vermögen). Treffen die konstituierenden Anteile einer möglichen Macht aufeinander, wird gleichsam ›automatisch‹ das Kompositum (meta-physischer und natürlich-menschlicher) Macht real. Deshalb ist der Machtbegriff bei Hobbes auch nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der ›agency‹ im Sinne einer individuellen intrinsischen oder propositionalen Handlungsfähigkeit, sondern eher als Effekt heterogener Vermögensanteile zu verstehen. 228 Berührung von Bewegungen. Die Bedingung der komplementären Zusammenkunft von aktiver und passiver potentia für die Realisierung von Macht / Vermögen (›volle‹ potentia) als Akt bzw. Bewegung basiert gemäß der allgemeinen Bewegungshypothese auf der Prämisse, dass die (Teil-)Vermögen und Akte / Ereignisse selbst als (Mikro-)Bewegungen zu begreifen sind, die eine Form von Berührung eingehen. In De Corpore postuliert Hobbes dazu: »Die Ursache einer Bewegung kann einzig in einem berührenden und bewegten Körper liegen.« (Corp. IX.7, 129) Dies wiederum impliziert eine notwendige Form von spatialer Kontiguität von in der Kausalsituation koinzidenten Akzidenzkomplexen (Teilursachen) und interagierenden Körpern. Hierin liegt unbezweifelbar ein kausalmechanisches Moment, das von Hobbes aber, wie bereits auch von Aristoteles, nicht verabsolutiert wird, denn neben der direkten Berührung (Anstoß, Impuls) zweier Körper lässt Hobbes auch eine Mediatisierung der Berührung über Zwischenglieder zu. 229 In begrifflicher Hinsicht sind an der Berührung zwei Aspekte entscheidend: dass sie von Hobbes als ›interkinetisches‹ Ereignis vorgestellt wird und dadurch immer auch ein körperliches Ereignis der Bewegungserzeugung darstellt. Das bedeutet, dass in dem Zusammentreffen eines agentiven Körpers (agens) mit einem erleidenden Körper (patiens) die Bewegung des ersten nicht auf den zweiten Körper übertragen wird, sondern ersterer eine Bewegung in letzterem erzeugt: »Bewegt beispielsweise die Bewegung der Hand die Feder, so geht die Bewegung der Hand nicht auf die Feder über – sonst käme nämlich die Hand während des Schreibvorgangs zum Stillstand –, sondern sie erzeugt in der Feder eine neue, ihr eigene Bewegung.« (Corp. VIII.21, 123) 230 Die Bewegung des aktiven Körpers bewirkt also eine Bewegung oder Veränderung in einem anderen Körper in der Situation ihrer 228 Hobbes’ kompositionelle Machtkonzeption ist damit letztendlich sehr nahe an der Vorstellung von Macht in der der Akteur-Netzwerk-Theorie in den Science and Technology Studies. 229 Das mechanische Moment der direkten Berührung dürfte Auslöser für die vielen mechanistisch-reduktiven Lesarten von Hobbes sein. ›Berührend‹ sind für Hobbes »diejenigen [Körper], zwischen denen sich kein anderer Raum befindet.« (Corp. VIII.9, 115) Vgl. zur Berührungskonzeption bei Aristoteles (hapsis), der Hobbes in seinem Begriff der Berührung weit gehend folgt, Kap. 6.3.3 (K8). 230 Hobbes folgt in der Ablehnung des Übertragungsmodells von Kausalität, d. h., dass in einem kausalen Zusammenhang ein Akzidenz von einem Körper auf einen anderen übertragen wird, ganz der aristotelisch-scholastischen Vorstellung seines Denkmilieus, vgl. Leijenhorst (1996), 431.

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Zusammenkunft. Deshalb lässt sich die Bewegung des aktiven Körpers auch als »kausale Bewegung« charakterisieren 231, also als Bewegung, die im Sinne der causa efficiens etwas hervorbringt, produziert, erzeugt. 232 Während bei der aristotelischen dynamis das Bewegungsbewirkende ein Prinzip (nicht eine Ursache) der Bewegung ist und die Bewegung auch in demselben Körper stattfinden kann (wir erinnern uns: die dynamis kata kine¯sin ist das Prinzip der Veränderung und Bewegung des einen in einem anderen, oder in demselben, insofern es ein anderes ist 233), ist das Bewegungsverursachende bei Hobbes selbst eine Bewegung und diese liegt – in der Form einer Ursache – immer »in einem außer ihm [dem bewegten Körper; L. B.] befindlichen Körper« (Corp. IX.7, 130). Mit der kausalen Konzeption von Bewegung führt Hobbes damit auch ein zwingend externales Moment in die Konzeption von Macht ein: Macht ereignet sich in der Zusammenkunft verschiedener Körper. Zusammenkunft als Komposition. Macht/potentia wird von Hobbes als notwendige Zusammenkunft von Aggregaten heterogener Akzidenzien (= Teilvermögen) konzipiert. Legen wir den Fokus jetzt weniger auf die Berührung und mehr auf die Zusammenkunft als Aggregation von bedingenden Anteilen, lässt sich die potentia plena als eine Art ›Aggregatzustand‹ einer spezifischen Zusammenkunft von verteilten Partialursachen verstehen, die als Akzidenzien an verschiedenen Körpern wirksam sind. 234 Hobbes meta-physische potentia ist daher für Samantha Frost »rather a situation in which a body finds itself« oder eine »particular configuration of numerous causal factors in a given context«. 235 Das Strukturprinzip von Macht führt aus dieser Perspektive in eine kompositionsförmige Situation und Konfiguration von Anteilen. Genau genommen ist Macht bei Hobbes eine Situation der Bewegung, und zwar eine Situation, deren bedingende Anteile eine sich ergänzende Komposition eingehen. Mit Hobbes' Betonung der komplementären, nicht-asymmetrischen Zusammenkunft von potentia activa und potentia patientis in der potentia plena hat das agentive Vermögen jenen dynamisch-agentiven Charakter verloren, der durch die aristotelische dynamis kata kine¯sin inauguriert wurde und dem in der Denkgeschichte lange Zeit (bis heute) eine primordiale Stellung und Funktion Vgl. Frost (2008), 139. Nach wie vor ist die begriffliche Bestimmung des Verhältnisses von Ursache und Bewegung ein zentrales Thema in der Handlungstheorie und Wissenschaftstheorie; vgl. aus der Perspektive der Handlungstheorie Keil (22015), und der Wissenschaftstheorie Charlton (1983). 233 Vgl. Kap. 6.3.1 (K6). 234 Hier wird besonders deutlich, dass die potentia in De Corpore weder dispositional-modal als Möglichkeit noch als scholastische Potentialität oder Potenz oder im modernen Sinne kontrafaktisch-konditional konzeptualisiert ist (vgl. Benn [1972], 186–190; Altini [2010], 245–246). 235 Frost (2008), 139 (Herv. L. B.). 231 232

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zugekommen ist. 236 Macht wie Bewegungen sind für Hobbes durch Ausbleiben bzw. Nichtvorhandensein der Komposition schlichtweg inexistent. 237 Zusammenfassung. Mit der Begriffsfigur der ›vollständigen‹ Macht / Vermögen (potentia) in Hobbes' Machtbegriff wird das bewegungsbezogene Agentivpatentiv-Strukturprinzip und mit ihm das Prinzip der ›Komposition‹ und ›Zusammenkunft‹ von korrelativen Bewegungen und Vermögen aus der dynamis kata kine¯sin nahezu wortgleich material wieder-holt.

7.4.4 Weitere Begriffsebenen: die Macht des Individuums und die Macht des Souveräns (K9)

Die grundlegende Interpretationsthese der hier vorgelegten Interpretation lautet, dass sich Hobbes' Machtkonzept aus drei Ebenen zusammensetzt, die in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinanderstehen. Ich nenne diese Ebenen die meta-physische potentia (siehe K6), die menschliche potentia (potentia als Fähigkeit, Vermögen) und die politische potentia; letztere lässt sich auch beschreiben als die Potentia des Souveräns. 238 Mit Zarka lässt sich das kontinuierliche begriffliche Verhältnis in den Modi »transposition«, »completion«, »discontinuity« und »inversion« analysieren. 239 Spragens deutet es als »analogische Durchdringung«, wobei die Begriffe der Naturphilosophie Analogate oder »Prismen« für die Bildung der politischen Begriffe darstellen. 240 Das Ver236 Vgl. ausführlicher zur zentralen Stellung der active power »in the sense of being self-causing and self-operating« (Pietarinen / Viljanen [2009a], 5) in der Geschichte der westlich-europäischen Philosophiegeschichte Pietarinen / Viljanen (2009b). 237 Macht als Komposition zu konzipieren ist eine Begriffsfigur, die sich auch bei Leibniz und Spinoza findet. Dessen Herkunft in dem griechisch-antiken Bewegungsdenken wird häufig übersehen. Vgl. zum spannenden Verhältnis von Macht und Komposition bzw. »assemblage« bei Spinoza und Deleuze und Guattari Ruddick (2012). 238 Frost (2008), 133–172, unterscheidet ähnlich zwischen einer »philosophischen«, einer »individuellen« und einer Machtkonzeption der Menge sowie der Macht des Souveräns. Auch bei Foisneau (1992), 87–91, findet sich eine dreiteilige Interpretation des Machtbegriffs: »potentia sive causa«, »potentia sive facultas«, »potentia sive excessus«. Benn unterscheidet in seinem wichtigen Aufsatz »Hobbes on Power« hingegen fünf Kontexte, in denen die potentia bei Hobbes begrifflich formuliert wird: »[i] the account of natural power that we find in De Corpore [hier: die meta-physische potentia, L. B.]; [ii] the account of human faculties of body and mind, for instance in Human Nature [hier: die menschliche Macht/potentia, L. B.]; [iii] the account of the relation of power and will, in the polemics of Liberty and Necessity [hier angesprochen in K12; L. B.]; [iv] and the accounts of power as means to desired ends [hier in der zweiten Ebene der potentia; L B.], [v] and of social power that is compounded’ of the powers of the other men, to be found in Leviathan and elsewhere. [hier: die Macht des Souverän; L. B.]« (Benn [1972], 184, Herv. i. O.). 239 Zarka (1996), 74–77. 240 Spragens (1973), 7; vgl. Sarasohn (1985), 363.

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hältnis zwischen der ersten Ebene und den anderen beiden Ebenen der potentia charakterisiert Zarka als »completion«, d. h., die potentia der Ersten Philosophie sei unvollständig, erst die ethische und politische Reformulierung, die neue Elemente in den Begriff bringt, führe den Begriff zu einer Art Vollständigkeit. 241 Die vorliegende Interpretation verzichtet darauf, sich auf diesen normativ-teleologischen Akzent der Vervollständigung zu verpflichten, und versucht stattdessen, die beiden weiteren Ebenen für sich und in ihrem Verhältnis zur Basisschicht unter dem Aspekt der Wieder-Holung einzelner Elemente zu skizzieren. 242 Das kontinuierliche Verhältnis zwischen den Ebenen eines Begriffs lässt sich also, ähnlich wie das Verhältnis zwischen signierten Machtbegriffen, über die Perspektive der internen Wieder-Holungen von Komponenten der Basisschicht in den beiden anderen Ebenen präzisieren. Da in Hobbes' Staatsphilosophie und politischer Theorie der Begriff der potestas im Sinne von Herrschaft und Autorität eine wesentliche Rolle spielt, soll abschließend auch auf das begriffliche Verhältnis von potentia und potestas eingegangen werden.

a) Die natürliche Macht (potentia) des Menschen

Menschliche Fähigkeiten als Vermögen. Gemäß dem methodischen Prinzip der Resolution, d. h. des analytischen Rückgangs auf die basalen Bestandteile, beginnt die philosophia civilis bei Hobbes mit der Analyse der Charakteristika des ursprünglichen Elements der Gemeinschaft, dem Menschen. 243 Die menschliche Natur (»human nature«) ist Teil von »THE FUNDAMENTAL ELEMENTS OF POLICY«, so verdeutlicht es auch der Titel des ersten Teils der frühen Schriftensammlung Tripos in Three Discourses von 1640. 244 Für Hobbes ist die menschliche Natur, wie er es dort, aber auch nahezu wortgleich in den Elements of Law 245, beschreibt, Zarka (1996), 75–76, vgl. ähnlich: Röttgers (1990), 186. Foisneau charakterisiert das Verhältnis zwischen meta-physischer potentia und der potentia des Menschen metaphorisch als Anwendungsverhältnis, der Begriff der potentia des Menschen »est dans le droit fil de la définition métaphysique de potentia.« (Foisneau [1992], 89) 243 Hobbes nimmt, argumentativ parallel zu Aristoteles’ Politik, das Individuum zum Ausgangspunkt der Analyse der Genese des Gemeinwesens. 244 Der Aufsatz trägt den vollständigen Titel »Human nature, or the fundamental elements of policy. Being a discovery of the faculties, acts, and passions of the soul of man, from their original causes, according to such philosophical principles, as are not commonly known or asserted«. 245 Elements of Law ist der Kurztitel für die Schrift The Elements of Law, Natural and Politic (1640). Zitiert wird hier nach der von Ferdinand Tönnies vorgelegten und von M. M. Goldsmith überarbeiteten Ausgabe (1969) mit der Sigle EL und der Angabe des Abschnitts in römischen Zahlen (z. B. I), des Kapitels und des Kapitelabschnitts in arabischen Zahlen, gefolgt von der Seitenangabe. 241 242

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the sum of his natural faculties and powers, as the faculties of nutrition, motion, generation, sense, reason &c. These powers we do unanimously call natural, and are contained in the definition of man, under these words, animal and rational. (EW IV, 2, vgl. EL I.1.4, 2)

In der Gleichsetzung von natürlichen Fähigkeiten mit natürlichen Vermögen (potentia) zeigt sich erneut, wie nahe Hobbes in seinen früheren Schriften noch an einem dispositionalen Verständnis von Vermögen ist. 246 Die natürlichen Fähigkeiten (facultas) des Menschen (oder von Lebewesen) sind dabei gleichzusetzen mit dessen Vermögen zu etwas und das Aggregat der natürlichen Vermögen entspricht der natürlichen Macht (potentia, power) eines Menschen. Nachfolgend soll zunächst skizziert werden, welche Vermögen des Menschen Hobbes unterscheidet und in welchem Verhältnis diese zu der begrifflichen Basisebene der meta-physischen potentia stehen. Natürliche Vermögen. Hobbes unterscheidet gemäß der Grundunterscheidung von tierlich und rational die natürlichen Fähigkeiten bzw. Vermögen (»Naturall Power«, »Potentia Naturalis«) in körperliche und geistige Fähigkeiten (»faculties of the body, and faculties of the mind«) (EL I.1.4, 5, 2). Körperliche Fähigkeiten sind – ganz nach aristotelischem Vorbild der ›Seelenvermögen‹ – Fähigkeiten zur Ernährung (oder allgemeiner: Verstoffwechslung) (»power nutritive«), zur Bewegung (»power motive«) und zur Erzeugung bzw. Fortpflanzung (»power generative«) (EL I.1.6, 2). Die geistigen Fähigkeiten unterteilt Hobbes wiederum in kognitiv-imaginative Vermögen (»cognitive or imagnitive or conceptive power«) und motivationale Vermögen (»motive powers«) zur Vorstellung, zur Auffassung und zum Begreifen, die zusammen in ein – physiologisch und mechanisch konzipiertes – Vermögen zur Erkenntnis der Dinge münden (»the power of knowing or conveiving«) (EL I.5–8, 2, I.8.4, 34). Das Erkenntnisvermögen bezieht sich auf die Repräsentationen der Gegenstände im Verstand: »This imagery and representations of the qualities of things without us is that we call our cognition, imagination, ideas, notice, Hervorhebungen durch Kapitälchen und Kursivierung werden stets vom Original übernommen und deshalb nicht extra ausgewiesen. Den Elements hat Tönnies die Kurzschrift »A Short Tract on first principles« als Appendix I angehangen. Die Autorschaft dieser Schrift war lange in der HobbesForschung umstritten und ist auch bis heute nicht eindeutig entschieden, doch spricht sich der Großteil der Lehrmeinung heute für eine Authentizität der Autorenschaft aus. Vgl. zu dieser Diskussion überblicksartig (2002), 104–145). 246 Benn merkt hierzu kritisch an: »I suspect that, [. . .] Hobbes thought he had offered an account of the corresponding faculties without employing dispositional or subjunctive conditional propositions. But this can clearly not be the case; for one needs to use subjunctive conditionals just as much to explicate the ›fittingness of an organ‹ or the ›aptitude of spirits to flow‹, as to explicate ›the faculty of a man to perceive[‹]« (Benn [1972], 197–198).

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conception, or knowledge of them. And the faculty, or power, by which we are capable of such knowledge, is that I here call power cognitive, or conceptive, the power of knowing or conceiving.« (EL I.8, 2) Im Leviathan hingegen nimmt Hobbes eine begriffliche Verschiebung vor, denn hier unterscheidet er natürliche oder »ursprüngliche« (»Originall«) und instrumentelle Macht / Vermögen (»Instrumentall Power [potentia instrumentalis]«) eines Menschen. Die natürliche Macht eines Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass natürliche Fähigkeiten in einer »vortrefflichen« Komposition vorliegen, »as extraordinary Strength, Forme, Prudence, Arts, Eloquence, Liberality, Nobility« (Lev. X, engl., 132). Damit unternimmt Hobbes im Leviathan auch eine Akzentverschiebung vom Plural zum Singular: »Die Macht eines Menschen (allgemein aufgefaßt) [. . .] ist entweder natürlich oder mitwirkend« (Lev. X, 69). Von instrumenteller Art sind jene Vermögen eines Menschen, die jene natürlichen oder durch Zufall erworbenen Vermögen gleich einem Mittel oder Instrument zur Vermehrung verhelfen. Hobbes nennt als Beispiele »Riches, Reputation, Friends, and the secret working of God, which men call Good Luck« (Lev. X, engl., 132; vgl. EL I.8, 34). Man kann diese Vermögen oder Macht auch als derivativ oder als »secondary powers« bezeichnen, wie es Sandra Field vorgeschlagen hat. 247 Sie sind in dem Sinne derivativ Macht zu nennen, da sie ihren Bezugspunkt in den prioritären natürlichen Vermögen haben, die den eigentlichen Gehalt und Umfang der Macht eines Menschen ausmachen. 248 Konzeptuell haben die instrumentellen Vermögen jedoch nichts mit dem potentia-Begriff gemein, sie werden aber auf einer sozialtheoretischen Ebene mit dem Begriff der Macht assoziiert. Referenzpunkt für Macht als »die Macht eines Menschen« ist für Hobbes hingegen die mit der meta-physischen potentia verbundene potentia als natürliches Vermögen. Soziale Relationalität der natürlichen Macht. In De Cive führt Hobbes die natürlichen Fähigkeiten wiederum auf vier »Dinge [genera]« zurück »Körperkraft, Erfahrung, Vernunft, Leidenschaft [Bodily strength, Experience, Reason, Passion]« (Cive I.1, 27/engl., 41). Diese vier »Dinge« oder Prinzipien sind, wie sich bereits aus den vorangegangen begrifflichen Elementen der meta-physischen potentia erahnen lässt, mechanisch-kinetisch grundiert. Interessant ist nun, dass die vier Prinzipien nicht nur als erste Prinzipien zur Untersuchung der Natur des Menschen gesetzt werden, sondern an sich bereits auf einen sozialen Begründungszusammenhang weisen. Denn für Hobbes gilt: Sind diese Prinzipien einmal gesetzt, »wird als erstes darzulegen sein, wie die mit solchen Fähigkeiten [Gaben] ausgestatteten Menschen einander gegenüber eingestellt 247 248

Field (2014), 62–63. Vgl. ebd.

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sind und ob und durch welche Fähigkeit sie von Natur aus zur Gesellschaft geeignet und fähig sind, sich vor wechselseitiger Gewalt zu bewahren.« (Cive I.I, 27–28) Da sich die zugrunde liegenden vier Prinzipien in ihrer Konzeption originär auf das Soziale beziehen, weisen auch die durch sie begründeten Fähigkeiten bzw. Vermögen von Hobbes immer schon eine sozialtheoretische und politikbegründende Ausrichtung auf. Damit plausibilisiert sich auch, warum Hobbes die natürlichen Fähigkeiten als die Fundamente der polity betrachtet. Die Natur eines Menschen ist die Summe seiner Fähigkeiten bzw. Vermögen. Die Summe der Fähigkeiten bildet wiederum zugleich die Macht eines Menschen, die immer nur relational, d. h. durch ein soziales Beziehungsgefüge konstituiert ist. Auf diesen Aspekt hat vor allem Samantha Frost in ihrer HobbesLektüre aufmerksam gemacht: »And what is remarkable about those faculties or qualities is that their power lies in their social effects. That is, when Hobbes describes the various natural powers [. . .], they turn out to be those qualities of body and mind that dispose people well to one another and incline them to association, friendship and assistance«. 249 Die natürlichen Fähigkeiten zeichnen sich für Hobbes also durch eine relationale Wirksamkeit aus. Doch wie ist diese soziale Relationalität der natürlichen Fähigkeiten zu verstehen? In ihrer Summe bzw. als Aggregat konstituieren sie ›die Macht‹ des Individuums gerade dadurch, dass sie, getreu der kompositionellen Struktur der plenaren potentia, auf komplentäre Passionen von anderen Individuen angewiesen sind: »[A]n individual's natural powers solicit and work with the passive powers of others, appealing to their sense of possibility and their aspiration to succeed in what they do in such a way that those others become the agents of the individual's action.« 250 Die Macht eines Menschen ist also immer auch seine komplette oder volle Macht (»plenary power«), ›voll‹ in dem Sinne, dass sie sich aus den agentiven Vermögen des Handlungssubjekts und den komplementären patentiven Vermögen seiner interaktiven Bezugsindividuen zusammensetzt. Dadurch dass die natürlichen Fähigkeiten die Leidenschaften, Affinitäten und Affekte der Mitindividuen als Materialursachen bzw. patentive Vermögen benötigen, liegt in diesen auch ein limitierender Faktor des Maßes der Macht eines Individuums. Die Macht eines Individuums entspricht nämlich genau dem Ausmaß der von ihm realisierten natürlichen Vermögen und instrumentellen Macht, wobei letztere in der hier unterstützten Lesart von Frost verstanden werden können als »the array of conditions that earn an individual the assistance and obedience of others in his or her projects and undertakings.« 251 Die natürlichen und instrumentellen Fähigkeiten sind daher sowohl konditional als auch nach dem Agentiv249 250 251

Frost (2008), 144. Ebd. Ebd., 145.

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patentiv-Strukturprinzip, und dadurch immer schon relational, konzipiert. Zugleich kann in der Gleichsetzung von natürlichen Fähigkeiten mit der Natur und Macht eines Menschen das von der meta-physischen potentia bekannte Kausalschema, das die potentia/Vermögen als zukünftige Ursache einer notwendigen Wirkung setzt, identifiziert werden – und damit auch die ihm eigene temporale Struktur der Zukunftsausrichtung. In Elements of Law bringt Hobbes diesen Zusammenhang formelhaft zum Ausdruck: »Wherefore all conception of future, is conception of power able to produce something.« (EL I.8.3, 34) Die Macht des Individuums und Kausalität. Der Kontext von Hobbes' Definition von Zukunft als Macht et vice versa ist die Theorie der individuellen sinnlichen Wahrnehmung, die unmittelbar mit einer Theorie des individuellen Strebens in einer kollektiv auf die Zukunft verpflichteten Sozialsphäre verbunden wird. Die zuletzt zitierte Stelle geht nämlich folgendermaßen weiter: »Wherefore all conception of future, is conception of power able to produce something; whosoever therefore expecteth pleasure to come, must conceive withal some power in himself by which the same may be attained.« (Ebd.) Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch die temporal strukturierte Definition von Macht, die Hobbes zu Beginn des berühmten Kapitels X im Leviathan gibt: The power [potentia] of a Man, (to take it Universally,) is his present means, to obtain some future apparent Good. And is either Originall [Naturalis], or Instrumentall [Instrumentalis]. (Lev. X, engl., 132/lt., 133)

Die Macht eines Menschen ist die gegenwärtige und aktuale Gesamtheit seiner Mittel, d. h. seiner Fähigkeiten und der situativen Bedingungen, die Vermögen zur Erlangung des zukünftig Guten und Zuträglichen komplementieren und dadurch umsetzen zu können. 252 Das darin verborgene Kausalschema lässt sich mit James H. Read so formulieren: »Power on the human level could be regarded as an effective cause of the ›apparent‹ good one seeks.« 253 In der Hobbes-Forschung wurden das Agentiv-patentiv-Strukturprinzip und das Kausalschema von Ursache und Wirkung gelegentlich als Null-Summen-Bedingungen von Macht interpretiert. Aus einer spieltheoretischen Perspektive ist das Handeln von Individuum A die ›Ursache‹ des Handelns von Individuum B, das die ›Wirkung‹ von A ist. Individuum A trägt die agentive Macht, Individuum B die entsprechende patentive Macht – oder ist je nach Lesart nur der bloße 252 Vgl. mit Blick auf das Prinzip der Komposition heterogener Anteile auch Hindess (1996), 24: »Power refers to a heterogeneous collection of attributes and possessions that need have little in common – except for the fact that they might be useful in the pursuit of some human purpose to other.« 253 Read (1991), 513.

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›Effekt‹. 254 Eine reduktive Lesart unterstellt Hobbes einen Formalismus und eine Uni-Direktionalität in der Machtkonstellation, die von Hobbes jedoch weitaus komplexer gedacht wird. 255 In den situativen Handlungsbedingungen sind die anerkannten, evaluierten oder symbolischen 256 patentiven und agentiven Vermögen der Mitmenschen ein Hauptfaktor des Handlungsvermögens – d. h. für Hobbes immer auch des Bewegungserhalts eines Menschen: »Indeed, it is through his [Hobbes'] analysis of the material, intersubjective, and temporal aspects of perception that he explains how the pursuit of power, conceived as the conditions for action, produces and is the product of complex social and symbolic formations.« 257 Die Macht eines Menschen ist also eine in sich komplexe situative Konstellation, sie ist darin aber zugleich auf etwas gerichtet, das die Konstellation und damit die Macht selbst konserviert und dadurch weitere Handlungen ermöglicht. Macht ist also für sich genommen »nicht Selbstzweck, jedoch ist Machtstreben notwendig selbstreferentiell.« 258 Natürliche Macht und das Streben nach dem Guten. Das, worauf Macht zielt, ist zunächst einmal der bare Selbsterhalt im kollektiven Kampf um Ressourcen, zugleich aber auch das Streben nach einem guten und gelungenen Leben. Der natürliche Machtbegriff wird dadurch um ein Quasi-Telos erweitert: Das Vermögen zur Bewegung und Handlung ist gerichtet auf ein Gut, nämlich auf das für das Individuum unmittelbar zukünftig Zuträgliche. 259 Das zukünftig Zuträgliche hat für Hobbes allerdings niemals den Status einer Transzendentalie, eines universal gültigen höchsten Guts (summum bonum). Eine transzendente Existenz des Guten oder eines Ideals muss Hobbes auch vor dem Hintergrund seiner Meta-Physik bzw. physica generalis klar verneinen. 260 Vielmehr liegt das Gute oder die Glückseligkeit auf der Wirkungsseite der kausal konfigurierten Macht eines Menschen inmitten eines Gefüges aus menschlichen Leidenschaften und Bestrebungen, die die patentive potentia oder Materialursache bilden. Im Naturzustand, also in dem noch nicht vergesellschafteten Zustand ohne Herrschafts- und Rechtsinstanz, ist das Gute schwer zu erwirken, denn hier treten die oppositionellen individuellen Mächte der Mitmenschen als LimitaVgl. z. B. Kersting (2016), 97–100. Vgl. Read (1991), 513. 256 Auch der Anschein oder »Ruf von Macht ist Macht« fügt Hobbes an, »denn er bringt Ergebenheit jener mit sich, die des Schutzes bedürfen« (Lev. X, 69, vgl. EL I.8.5). Der Ruf von Macht ist eher symbolisch und bedarf der Evaluation der Individuen, als Affirmation der Macht wirkt der Ruf aber auch machtsteigernd und ist deshalb eine Art instrumentelle Macht. 257 Frost (2008), 141, vgl. 145–156. 258 Kersting (2016), 94. 259 Vgl. Zarka (1998), 76. 260 Für Hobbes steht fest: »Denn es gibt kein solches finis ultimus (letztes Ziel) oder summum bonum (höchstes Gut), wie es in den Büchern der Moralphilosophen erwähnt wird.« (Lev. XI, 80). 254 255

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tionen der je einzelnen Macht eines Menschen auf. Die natürlichen Mächte stehen deshalb in einem Wettkampf, bei dem derjenige mit der meisten oder effektivsten Macht obsiegt. Dies bedeutet, die agentiven und patentiven Vermögen (Bestreben und Leidenschaften) der anderen zur Grundlage der eigenen Macht zu machen. »And because the power of one man resisteth and hindereth the effects of the power of another: power simply is no more, but the excess of the power of one above the other.« (EL I.8.4, 34) Neben dem Limitationsfaktor sticht an dieser Stelle ein bekanntes Strukturprinzip aus der meta-physischen potentia hervor: die differentielle Identität von Ursache und Wirkung, von Vermögen / Macht und Handlung. Denn in dem Augenblick, in dem die Macht eines Menschen vollständig ist, ist auch seine Handlung eingeleitet. 261 Die Vermögensanteile (bzw. Partialursachen) akkumulieren und komplementieren sich um ein Subjekt herum durch dessen Bezug auf die patentiven Vermögen der Mitmenschen, ohne dass es selbst zu einem substanziellen Träger der Vermögen oder vollen Macht geriert. Macht, Handlung und Individuum. Dass Macht bzw. potentia für Hobbes in der menschlichen Handlungssphäre immer nur ein situatives, wenngleich notwendiges Resultat einer bestimmten Aggregation von agentiv und patentiv strukturierten Macht- bzw. Vermögensanteilen und Beziehungen ist, und Menschen keine nukleusartigen Machtträger und somit Bewegungsfänge sind, ist ein Ausdruck der kinetischen Fundierung von Hobbes' gesamter Philosophie. So wie die meta-physische potentia nicht (mehr) ein Prinzip der Bewegung in einem anderen ist, sondern die Bewegung und Bewegtheit der anteiligen Entitäten selbst, so ist die potentia der Handlungssphäre ebenfalls ein Aggregat und damit »product of relations of interdependence«. 262 Handlungen ereignen sich immer im Zwischenraum der Menschen zueinander, ihrer Bestrebungen (active powers) und Leidenschaften (passions, passive powers) und in der Beziehung des Individuums zum Gemeinwesen bzw. Kollektiv. 263 Samantha Frost ist daher zuzustimmen, dass »Hobbes's account of power effects a double displacement of the individual« »as the unit of analysis in thinking about action and politics«. 264 Das Individuum ist in seiner theoretischen Bestimmung, zumindest in der Lesart von Frost 265, nicht mehr die Kerneinheit der gesamten Analyse des Staates. Demgegenüber steht Hobbes' Vorgehen und Argumentation der Resolution, Das wiederum ist der (befremdliche) Determinismus in Hobbes’ Konzeption von Macht. Ebd. 263 Frost (2008), 156. 264 Ebd. 265 Die Hobbes-Lektüre von Rosamond Rhodes (1994) geht, wie Frost selbst anerkennt, bereits in eine ähnliche Richtung, betont aber, aus Frosts Perspektive, zu stark das Kollektiv anstelle der Beziehung »between the individual and the collective« (Frost [2008], 156, Herv. i. O.; vgl. 156 Fn. 17). 261 262

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wonach das Individuum, oder genauer: seine Wahrnehmung (sense) und seine Interaktion mit der Umwelt, formal-analytisch immer als Ausgangspunkt seiner verschiedenen Varianten von Staatsphilosophie und politischer Theorie gesetzt wird. 266 Das Individuum bei Hobbes ist jedoch radikal formuliert ein Knotenpunkt in jenen kinetisch-kausalen Bezüglichkeiten und Ereignissen der Bewegungserzeugnis und Bewegungshinderung, die die soziale Handlungssphäre bilden. Die Macht und Handlungsfähigkeit der Individuen sind somit immer relational, die Individuen mithin selbst relational konstituiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich bei Hobbes kein strenger methodologischer Individualismus, sondern ein starker Relationalismus identifizieren: Weder ist Macht eine Ressource oder ein essenzielles Attribut eines Menschen 267, noch ist das Subjekt ein autonomes Substrat und ontologischer Träger von Akzidenzien. Vielmehr ist individuelle Macht/potentia eine transindividuelle relationale Konstellation, derer es für die Konstitution von Macht bedarf. Zusammenfassung und Steigerungslogik der Macht. In der zweiten Ebene der potentia wieder-holen sich somit die Strukturelemente der heterogenen Zusammenkunft (Aggregation, Kompositum) von (nur analytisch differenzierbaren) Macht-›Anteilen‹ (in Äquivalenz zu den Partialursachen), das agentiv-patentive Strukturprinzip sowie das temporale Kausalschema aus der Basisebene der potentia. 268 In ihrem Aufgriff werden die Elemente der meta-physischen potentia aber nicht nur wieder-holt, sondern zugleich auch modifiziert. So hat die Zusammenkunft der Machtanteile nun nicht mehr nur eine notwendige und aggregative Facette, sondern auch einen quantitativen und kumulativen Akzent 269: Je mehr Machtmittel und Fähigkeiten ein Mensch hat oder je intensiver eine Fähigkeit von ihm ausgeprägt ist, desto größer ist die Macht eines Menschen im Vergleich zu der Macht eines anderen Menschen und desto größer sind seine eigenen Handlungsoptionen. »Macht existiert«, so könnte man es mit Kersting formulieren, zwar nicht nur, aber vor allem auch »im Modus des Komparativs, im Modus der Mehr-als-Andere«. 270 Die Mächte des Menschen sind komparabel und darin zugleich auch kompetitiv 271: »Power is simply no more, but the excess of the power of one above that another. For equal powers opposed, destroy one another; and such their opposition is called contention.« (EL I.1.8.4, 34) 272 Daraus ergibt sich für den Menschen im Naturzustand ein 266 267 268 269 270 271 272

Vgl. Adler (2018), 86–87. Dazu auch Kersting (2016), 100–103. Vgl. Hindess (1996), 24. Hindess (1996), 25. Kersting (2016), 98. Polansky / Torrell (1990), 10–11. Foisneau (1992), 90–91, leitet die Verwendung von Macht als Ausübung (»excess«) bei Hob-

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impliziter Imperativ zur Steigerungslogik, um einer möglichen zukünftigen Limitierung der eigenen Macht durch die Macht anderer entgegenzutreten bzw. zuvorzukommen. Vor diesem Hintergrund postuliert Hobbes »a generall inclination of all mankind, a perpetuall and restlesse desire of Power after power [Potentiam unam post aliam], that ceaseth onely in Death.« (Lev. XI, engl. 150/lt., 151) Die Steigerungslogik resultiert für Hobbes nicht aus einer anthropologisch veranlagten Gier oder einem Drang, sein Leben zu ›intensivieren‹, sondern aus der kompositionellen und temporalen Logik der potentia als Macht des Menschen, die sich als eine aktuelle situative Zusammenkunft der Partialvermögen ereignet und deren Dauer bzw. zukünftiges Bestehen in einer Welt in permanenter Bewegung nicht gesichert ist. 273 Die These der Steigerungslogik der Macht der Individuen in Antizipation der Machtlevel der Mitmenschen ist bei Hobbes ein wesentlicher architektonischer Bestandteil seiner Theorie des Gesellschaftsvertrags, die hier nicht weiter vertieft wird. Wichtig im Rahmen der begrifflichen Untersuchung ist, dass die natürliche potentia auf die Notwendigkeit einer rationalen Zusammenkunft der individuellen Mächte auf einer höheren Ebene weist. In dieser höheren, gesellschaftlichen Ebene zeichnet sich eine dritte Ebene im Machtbegriff ab, die Macht (potentia) des Souveräns.

b) Die Macht (potentia) des Souveräns

Die Macht des Souveräns. Nachdem Hobbes die »Macht eines Menschen« bestimmt und ausdifferenziert hat, fährt er im zehnten Kapitel des Leviathans fort, diejenige Macht konzeptuell zu bestimmen, die als ›politische Macht‹ bekannt ist. Die politische Macht geht gemäß der hobbesschen Theorie der Macht direkt aus den individuellen Mächten der Menschen hervor: The Greatest of humane Powers [Humanarum Potentiarum maxima], is that which is compounded of the Powers of most men [ex potentiis plurimorum], united by consent, in one person, Naturall, or Civill, that has the use of all their bes aus einer groben Mathematik der Proportion ab. Diese Form der Geometrisierung von Macht würde in der Tat zu Hobbes’ methodischer Orientierung an der Geometrie und der allgemeinen Bewegungsthese, die sich immer auf Bewegung in extensio bezieht (motus localis) bezieht, passen. 273 Macpherson sieht die soziale Relationalität der menschlichen Macht durch das »Eigentumsmarktmodell« präfiguriert: »[D]as Eigentumsmarktmodell erlaubt den nach größeren Annehmlichkeiten strebenden Individuen, die natürlichen Fähigkeiten der anderen zu ihrem Nutzen einzusetzen. [. . .] Die mit ihrem Standard Zufriedenen können diesen nicht halten, ohne nach mehr Macht zu streben, d. h. ohne danach zu streben, sich einen größeren Teil der Macht anderer zu übertragen, um den zunehmenden Machtumfang, der ihnen durch die Wettbewerbsanstrengung anderer verloren geht, wettzumachen.« (Macpherson [21980], 74).

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Powers [Potentiae omnium] depending on his will; such as is the Power of a Common-wealth: Or depending on the wills of each particular; such as is the Power of a Faction, or of divers factions leagued. (Lev. X, engl., 132/lt., 133)

Die größte Macht des Menschen ist die gemeinsame und vereinte Macht (»common Power«, Potentia communis). Die vereinte Macht bringt sich in der Errichtung eines Gemeinwesens zum Ausdruck. Dabei erfolgt die Aggregation der individuellen Mächte und ihr Fortbestand nun unter einem ganz spezifischen Modus, nämlich dem Modus der kollektiven Unterwerfung im Medium einer vertraglichen Vereinbarung (»agreement«, »covenant«). Während die aggregative Vereinbarung im rationalen Wesen des Menschen begründet und dadurch ›natürlich‹ ist, ist der Bund selbst instrumentell und dadurch ›künstlich‹ (Lev. XVII). Die Aggregation der Individualmächte besteht für Hobbes in einem Übertragen eben jener Individualmächte auf eine Person oder eine Versammlung, verbunden mit einer Unterwerfung des Willens und des Urteilens des Einzelnen. Oder andersherum formuliert: »überträgt doch der, der seinen Willen dem Willen eines anderen unterwirft, diesem anderen das Recht auf seine Kräfte und Fähigkeiten.« (Cive V.VIII, 97) Das Übertragen ist dabei prozedural und in actu und nicht instantan und einmalig zu verstehen. Auf diese Weise konstituiert sich mit der Ermächtigung einer Person, dem »großen Leviathan« zugleich ein Gemeinwesen, eine civitas: The only way to erect such a Common Power [Potentiam constituendi], [. . .] is, to conferre all their power and strength [Potentiam & Vim] upon one Man, or upon one Assembly of men, that may reduce all their Wills, by plurality of voices, unto one Will [. . .]; and every one to owne, and acknowledge himselfe to be Author or whatsoever he that so beareth their Person, shall Act, or cause to be Acted, in those things which concerne the Common Peace and Safetie; and therein to submit their Wills, every one to his Will, and their Judgements, to his Judgement. (Lev. XVII, engl. 260/lt., 261)

Die Errichtung einer gemeinsamen Macht hat den Zweck, den Frieden der Vertragspartner untereinander zu sichern und die Verteidigung vor äußeren Feinden zu gewährleisten (Lev. XVIII). In Hobbes' Theorie der Macht des Souveräns – nicht zu verwechseln mit ›souveräner Macht‹ (summa potestas) – perspektiviert sich die Macht als potentia communis und potentia constituendi von der Entstehung in der kollektiven Übertragung der Individualmächte her und beruht folgerichtig auf dem Begriff der potentia. Meine Interpretation des dreifach geschichteten und in sich kontinuierlichen Machtbegriffs bei Hobbes lässt sich erhärten, wenn in der potentia auf der Ebene des Gemeinwesens und der Politik Komponenten bzw. Struktur-

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prinzipien identifiziert werden können, die sich als Wieder-Holungen aus der ersten und zweiten Begriffsschicht deuten lassen. Tatsächlich begegnen in der Macht des Souveräns als potentia communis begriffliche Strukturelemente aus der meta-physischen potentia und der potentia des Menschen: Die ›Macht des Souveräns‹ (potentia) weist im Unterschied zur ›souveränen Macht‹ (potestas) auf den Aspekt der Aggregation der Individualmächte zu einer gemeinsamen Macht im Sinne der potentia plena. Denn die Macht des Souveräns ist das temporale Resultat der Aggregation der Individualmächte bzw. der agentiven und patentiven Machtanteile, die sich als Zusammenkunft und kollektive Übertragung gestaltet. Zugleich ist die Macht des Souveräns und mit ihr der Staat (das Gemeinwesen) nach dem Prinzip der differenziellen Identität von Vermögen und Akt zu verstehen. Denn wenn man den Akt als die Souveränität des Herrschenden, also als potestas begreift, fallen in gewisser Hinsicht potentia und potestas zusammen. Carlo Altini hat den Zusammenhang treffend im Lichte legitimitätstheoretischer Prämissen formuliert: The state is the highest and noblest realization of man's potentia, in the form of potestas. [. . .] The state, therefore, presents itself as the act of human might [. . .]. As such, the state is – at one and the same time – the pre-eminent legitimate power that can be realized, the strongest coercive force and the highest legal authority (potestas, imperium, auctoritas), because it is the most extraordinary realization of human might. For this reason, in Hobbesian theory, potentia and potestas are both intelligible [. . .]. 274

Die Macht des Souveräns existiert also immer auch nur insofern und solange, wie die Individuen ihrer natürlichen Macht nicht beraubt sind, schließlich benötigen die Individuen ihre natürliche Macht, um sie überhaupt übertragen und damit die Macht des Souveräns konstituieren zu können.

c) Potentia und Potestas in Hobbes’ politischer Theorie

Die Macht des Souveräns als potestas. Mit der Macht des Souveräns als konstituierendem Aspekt von politischer Macht sind bei Hobbes noch weitere Aspekte in seiner Staatsphilosophie assoziiert, nämlich die Aspekte von Herrschaft, Beherrschung, Steuerung und Souveränität qua Autorität. Hobbes stellt den Vorgang der Machtübertragung und dessen Resultat neben der willentlichen Entscheidung, die auf der Rationalität des Einzelnen beruht, auf das Standbein des Rechts. Rechtstheoretisch betrachtet basiert die Errichtung der gemeinsa274

Altini (2010), 235–236, Herv. i. O.

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men Macht auf der gegenseitigen quasi-vertraglichen und totalen Zusicherung der machtübertragenden und damit prinzipiell vulnerablen Individuen, dass auch wirklich alle ihre Macht übertragen und damit alle die Handlungen des Leviathans autorisieren (Lev. XVII). 275 Auf diese Weise werden die einzelnen Individuen zu einer »Multitude [. . .] united in one Person.« (ebd.; engl., 260) Diese Person kann aus verschiedenen moralischen, politischen und theologischen Perspektiven betrachtet werden, weshalb Hobbes auch entsprechend verschiedene Bezeichnungen verwendet: » l e v i at h a n« und »der sterbliche Gott«, »Souverän« [» s ov e r a i g n e«, Summam] oder »souveräne Macht« [Soveraigne Power, Potestas] (Lev. XVII, 145/engl., 260, 262/lt., 261, 263). Alle drei weisen auf jeweils partikulare Aspekte der gemeinsamen Macht: ›Leviathan‹ auf das nicht-transzendente Äquivalent zur allmächtigen göttlichen Macht (omnipotentia dei), ›der Souverän‹ auf die absolute Bündelung der Macht in einer durch einen vertraglichen Zusammenschluss eingesetzten Person und Versammlung mit seinem konstitutiven Gegen-Part, dem Untertanen (»subiect«), und die ›souveräne Macht‹ (potestas) auf durch gewaltmäßig bzw. gewalttätig und kriegerisch errichtete Herrschaft oder durch rechtmäßige Autorisation errichtete Macht. Entscheidend für die diagrammatische Analyse ist, dass Hobbes zur Bezeichnung der souveränen Macht im Lateinischen konsequent auf das Begriffsfeld der potestas wechselt. Potestas ist nicht mit der Dimension der Aggregation der Individualmächte zu verwechseln. 276 Anders als einige Kommentatoren behaupten, bleibt Hobbes in seiner Begriffsverwendung stringent und kohärent, denn er verwendet potestas immer dann für Macht / Power, wenn es ihm um den juridischen Aspekt der vertraglichen Konstitution eines Gemeinwesens und der damit verbundenen Instituierung eines Repräsentanten, also um die Aspekte der herrschaftlichen Steuerung (command, summum imperium, summum potestas) oder der (häuslichen) Beherrschung und Gewalt (dominum) geht. 277 Das fünfte Kapitel im Cive erweist sich in dieser Hinsicht 275 Adler (2018), 92, hat deshalb auch zurecht darauf hingewiesen, dass in der Errichtung der gemeinsamen Macht bzw. Souveränität nicht ein Vertrag zwischen den Individuen und dem Souverän, sondern zwischen allen Mitgliedern des gegründeten Gemeinwesen »als eine Vereinigung ihrer Willen« geschlossen wird. Vgl. dazu Lev. XVIII, 148: »Es ist offensichtlich, daß der, welcher zum Souverän gemacht wird, keinen Vertrag mit seinen Untertanen im voraus abschließt [. . .].« 276 Carlo Altini (2010) vertritt beispielsweise eine diametral entgegengesetzte Interpretation, die Hobbes eine »confusion« von potentia und potestas und schließlich eine Reduktion der potentia auf eine potestas insinuiert. Altini bietet in Fußnote 7 eine ausführliche Übersicht zur Forschungsliteratur zu den Begriffen »power«, potentia und potestas bei Hobbes, dabei untergliedert er die Literaturverweise nach »theological and ontological aspects«, »anthropological«, »philosophicalpolitical aspects of the concept of power« (Ebd., 249–250). 277 Foisneau bietet dazu eine vortreffliche kurze Ausarbeitung auf der Basis der begriffsgeschichtlichen These, dass potentia und potestas »radikal unterschiedlich« sind. Allerdings fasst er

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als Schlüsselpassage. Hier schreibt Hobbes in dezidierter begrifflicher Ausdifferenzierung: Die gemeinsame Macht (potentia communis) der Mitglieder des Gemeinwesens (›Bürger‹) errichtet und setzt ein die höchste Macht [summam potestatem] oder höchste Gewalt [sive summum imperium] [Souveränität] oder Staatsgewalt [dominium] [. . .]. Diese Macht [Potestas] und dieses Recht zu herrschen [jus imperandi] besteht darin, daß jeder einzelne Bürger seine ganze Macht [potentiam] und Stärke [vim] auf jenen Menschen oder jene Versammlung übertragen hat. (Cive V.XI, 98/lt., OL II, 215)

Deutlich wird hier, dass potestas dem Begriffsfeld von Herrschaft und Autorität (griechisch: kratos) entstammt (vgl. Cive VII.V) und in der Konzeption von Hobbes die Wirkung oder der Effekt einer sie erzeugenden Handlung bzw. Ursache ist. Diese erzeugende Handlung ist die kollektive Unterwerfung der Individuen unter den Willen der höchsten Macht; jene Unterwerfung impliziert damit zugleich auch die Entstehung eines Gemeinwesens bzw. Staates (civitas). Man beachte: Die höchste Macht (summa potestas) und die Entstehung des Staates werden damit in Kohärenz mit der Konzeption von Philosophie als Wissenschaft der Ursachen und Wirkungen erklärt, nämlich als ein von der natürlichen Macht der Individuen qua Unterwerfung erzeugter Zustand. Dies gilt jedenfalls für die Entstehung eines natürlichen Staates. Denn erfolgt die kollektive Unterwerfung einzig aus dem Bestreben der Individuen nach Selbsterhalt und ohne oktroyierten Zwang (bspw. im Zuge einer Kriegsniederlage), so ist für Hobbes die natürliche Macht der Individuen (potentia naturali) »der natürliche Ursprung des Staates [civitatis origo naturalis]« (Cive V.XII, 99/lt., OL II, 215). Ein solchermaßen durch rationale Unterwerfung ›verursachter‹ Staat ist für Hobbes ein ›natürlicher‹ Staat. Hingegen ist ein durch »Beratung und Einsetzung [consilio et constitutione]« erzeugter Staat ein institutionalisierter oder auch ›politischer‹ Staat (ebd.). Die Macht des Souveräns (potentia) und die souveräne Herrschaft (potestas) sind damit einerseits für Hobbes ähnlich perspektivisch verschieden wie die begriffliche Differenz von Ursache / Vermögen und Wirkung / Wirklichkeit / Akt und andererseits über die begriffliche Analogisierung zum gekoppelten Begriffspaar von potentia und actus (dynamis und energeia, entelecheia) in einem engen konzeptuellen Bezug der differenziellen Identität gesetzt. Hobbes bringt die Facetten der Macht, die ich als ›Aspekte‹ von Macht auf der Ebene der Machttheorie bezeichne, als Synonyme zu potestas (»Potestas sive autoritas«, »Potestas sive imperium«, »autoritas sive dominium«) (Foisneau [1992], 91–94, 102); vgl. ähnlich auch Lothar Waas zur Übersetzung von summa potestas, die deutlich seltener vorkommt als die Termini summum imperium und dominum »für ein und denselben Sachverhalt« (Waas [2017], Fn. 90, 429).

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im Cive den Unterschied zwischen der potentia des Souveräns, verstanden als sein komplettes Vermögen zur Herrschaft (plenary power), und der Herrschaft des Souveräns als realisiertes, ausgeführtes Vermögen zur Herrschaft dann auch genau getreu dem Begriffspaar potentia – potestas zum Ausdruck: For Government [imperium], is the power [potentia], the administration of it, is the act [actus]: now the power [potentia] in all kind of government is equall; the acts only differ, that is to say the actions, and motions of a common-weale, as they flow from the deliberations of many, or few, of skilfull, or impertinent men. (Cive X.XVI, engl., 139/lt., OL II, 276)

Die Instanz der Potestas hat damit eine doppelte Funktion: nach innen den Mitgliedern des Gemeinwesens Frieden zuzusichern und nach außen das Gemeinwesen gegen Angriffe zu verteidigen (Lev. XVIII). In diesem Sinne ist potestas eine Form von Souveränität des Staates nach innen und außen, wobei »the internal dimension of sovereignty, the absolute power of the state over the body politic« oder einer »[s]upreme authority within a territority« gleichkommt. 278 Potentia und Potestas bilden somit die beiden in sich differenten Grundbegriffe einer komplexen, vieldimensionalen Theorie von Macht, die das ganze Spektrum von der natürlichen Macht der Individuen über die Beherrschung von Individuen bis hin zur rechtlichen (De-)Legitimation von politischer Macht umfasst. Diese komplexe Theorie der Macht bildet sich genau genommen aus zwei Theorien der Macht, einer Theorie der potentia, die das Vermögen zur Regierung eines Souveräns skizziert, und einer Theorie der potestas, die die juridisch konstituierte Herrschaft erörtert. 279 Beide Theoriestränge werden auf einer begrifflichen Ebene über das Vermögen-Akt-Begriffsschema verbunden, denn potentia und potestas stehen wie potentia und actus in einem Wirkungsund Realisierungsverhältnis zu einander. Die potestas als autoritäres legales Handeln und souveränes Regieren bedarf zu ihrer eigenen Instituierung der Realisierung einer Macht- bzw. Vermögensgrundlage; diese besteht in der gemeinsamen und übertragenen Macht der Bürger. Die übertragene Macht im Zustand ihrer Ausübung wirkt dann zugleich als Aufhebung oder Limitation der durch allgemeine Ressourcenknappheit evozierten Steigerungslogik der natürlichen individuellen Mächte der Menschen. Herrschaft (potestas) hat den Zweck, die gegenläufig gerichteten individuellen Strebebewegungen der Menschen und ihre natürlichen Mächte auf eine friedvolle Ordnung auszurichten. Auf diese Weise lässt sich Hobbes' Konzeption von Herrschaft als StrukturaPhilpott (2016), Kap. 1. So auch Foisneau (1992), 102, Herv. i. O.): »[. . .] on trouve chez Hobbes deux philosophies du pouvoir, à savoir une philosophie de la potentia et une philosophie de la potestas.« 278 279

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tionsinstanz verstehen – oder, wie es John Dunn formuliert hat, als eine Art Medizin gegen einen agressiven Wettstreit um ein Mehr an Macht: »Hobbes's remedy for the ravages wreaked by power was the construction of a far deeper, far more more coherent, and far more effective structure of power, with the overarching right (the potestas), peremptory duty, but also the overwhelming weight of force to end those ravages for ever.« 280 Vor diesem Hintergrund sollte die konzeptuelle und analytische Differenz zwischen potentia und potestas nicht durch eine Gleichsetzung oder Reduktion nivelliert werden. Fazit. Will man also Hobbes' politische Theorie als komplexe und doppelte Theorie von Macht rekonstruieren, sollten die begrifflichen Grundlagen der potentia und potestas in ihrer Differenz und in ihrem Zusammenspiel gleichermaßen in den Blick genommen werden. Hobbes' politische Theorie ist nicht nur »principally about potestas« 281, sondern ebenso sehr eine Theorie von potentia als notwendige Bedingung von potestas.

7.4.5 Epistemologisches und ontologisches Profil (K10)

Meta-physische potentia als explanatorischer Begriff. Der Begriff der meta-physischen potentia erfüllt im Kontext der Ersten Philosophie eine definitorische und begriffliche Grundlegungsfunktion. Zugleich erhält er durch seine enge Verbindung mit dem ursachenbasierten Wissensbegriff, wonach Wissen die Erkenntnis von Ursachen meint, eine explanatorische Funktion: Auf ein bestimmtes Vermögen hinzuweisen, bedeutet prospektiv eine Erklärung für eine bestimmte Veränderung von Bewegungen anzugeben. Ursachen wie Vermögen (potentia) sind damit für Hobbes, ähnlich wie die aitiai und dynameis bei Aristoteles, in erster Linie Begriffe der Erklärung und Erklärungsprinzipien für Veränderungen, Ereignisse und Handlungen (für den natürlichen wie humanen Bereich). Damit gilt auch: Ursachen und Vermögen sind, zumindest in der späten Fassung von De Corpore, weder apriori als dispositionale Eigenschaften von Substanzen oder Subjekten noch als freischwebende, trägerlose ontologische Entitäten aufzufassen. Die Begriffe von Ursache und Wirkung, Vermögen und Akt gehen bei Hobbes in Konkordanz mit seiner epistemologisch-begrifflich gerahmten philosophischen Meta-Ebene im Allgemeinen und dem theoretischen Terrain der philosophia prima als Meta-Physik. Alle vier Begriffe konzipiert Hobbes nominalistisch als diskursive Namen und anfängliche, primordiale Definitionen (»Universalien«), die nicht korrelativ auf eine Einheit des Seienden bzw. 280 281

Dunn (2011), 172. Ebd., 161.

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Wirklichen referieren. 282 »Hobbes' Nominalismus«, so fasst es Grit Schorch im Anschluss an Krook zusammen, »entspricht einer propositionalen Logik, die per definitionem kein Urteil über oder Bekenntnis zu non-linguistischen Fakten und Angelegenheiten enthält.« 283 Für Hobbes haben weder moralische und soziale Werte noch Ursachen und Vermögen einen ontologisch realistischen Status, vielmehr sind sie linguistisch-diskursive Einheiten. Und dennoch sind mit der hobbesschen Konzeption der potentia zwei zentrale ontologische Entscheidungen verbunden; nennen wir sie die Entscheidungen der ›ontologischen Depotenzierung‹ 284 und ›ontologischen Nivellierung‹. Letztere ist bereits unter dem Aspekt der Bestimmung der ersten Ebene des Machtbegriffs (K6) als Nivellierung des Unterschieds von Vermögen und Wirklichkeit beschrieben worden. 285 Erstere, die ontologische Depotenzierung, verweist auf eine Verschiebung der ontologischen Grundierung in der Entwicklung der hobbesschen Philosophie(konzeption), die zugleich eine De-Dynamisierung und Desubstantialisierung und damit Loslösung von der aristotelischen Substanzontologie bedeutet. In der frühen Schrift mit dem Kurztitel »A Short Tract on first principles« ist noch eine nahezu ›klassische‹ substanzontologische Konfiguration von Vermögen vorhanden. Im ersten Abschnitt geht Hobbes auf der Grundlage eines Substanz-Akzidenz-Schemas von Vermögensträgern und dynamischen Prinzipien der Bewegung als ontologischen Grundeinheiten aus. Direkt nach dem einleitenden Prinzip der Inertia 286 postuliert Hobbes: 3. Agent is that which hath power to move. 4. Patient is that which hath power to be moved. [. . .] 9. Whatsoever moveth another, moveth it either by active power inherent in it self, or by motion received from another. (ST I.1, engl., 193)

In den »Konklusionen« heißt es dann weiter: 6. Whatsoever is Agent or Patient, is Substance. For seeing Active and Passive power are inherent accidents [. . .] – because they have no being without those things, whose powers they are – and the uttmost subject of those powers is the Vgl. Krook (1956), 5. Schorch (2012), 241. 284 Ähnlich spricht Lupoli im Zusammenhang mit dem hobbesschen Begriff der Bewegung von einer »›deontologization‹«, versteht darunter allerdings etwas radikaler »the loss of any ontological status« (Lupoli [1991], 91). 285 Vgl. Kap. 7.4.1 (K6). 286 Das Prinzip der Inertia wird von Hobbes so definiert: »1. That, whereto nothing is added, and from which nothing is taken, remaines in the same state it was. 2. That which is no way touch’d by another, hath nothing added to nor taken from it.« (ST I.1, engl., 193). 282

283

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Agent and the Patient : it followes [. . .] that the Agent and the Patient are Substances. 7. Every Agent working produceth Motion in the Patient. For (by the 3 Prin.) Agent is that which hath power to move. This power is eyther in Act, or not [. . .]; if it be in Act, then the Patient is moved. [. . .] The Action of the Agent is the Motion of the Patient. 8. The Agent that moveth by Active Power originally in it self, applyed to the Patient, shall always move it. (ST I, Concl., engl., 195)

Von den materialen Bestimmungen der Vermögen / Macht als ontische Akzidenzien von Trägersubstanzen (agens oder patiens) hat Hobbes in der MetaPhysik in De Corpore (1655) dann gänzlich abgesehen. Das Substanz-AkzidenzSchema wird, wie bereits skizziert 287, zwar noch formal aufgegriffen, nun aber in ein nominalistisches Körper-Akzidenz-Schema transformiert. 288 In De Corpore wird, wie ebenfalls bereits gesehen, die aristotelisch-dynamische Konzeption von potentia entschieden aufgegeben zugunsten einer nicht-dynamischen Konzeption. 289 Zwar gibt es auch hier noch agens und patiens, d. h. agentive (wirkende) und patentive (erleidende) Körper, die zu solchen durch ihre jeweilige partiale agentive und patentive potentia werden. Körper werden aber nicht mehr als Substrate gedacht, denen wesensmäßig Dispositionen oder Vermögen inhärieren. Inwiefern lässt sich dennoch von einem körperlichen Vermögen sprechen, einem ›Vermögen eines Körpers‹? Benn hat die Antwort zu dieser Frage sehr treffend formuliert: »[T]o ascribe a power to a body is to ascribe to it an accident with a future (not a hypothetical and possibly counterfactual) role as cause [. . .]. So a potential power would be a power to be a power, which for Hobbes would mean the cause of a thing's being a cause, at some future date.« 290 Darin zeichnen sich zwei weitere eminente Merkmale der meta-physischen potentia in der Konzeption von Hobbes ab: Erstens ist Macht eben nicht besitzbar, schon gar nicht eine Form von Potenz oder Potentialität von einem Individuum, sondern zum einen das Ergebnis der notwendigen Zusammenkunft von heterogenen Partialmächten/-vermögen und zum anderen die Bedingung von Handlung bzw. Tätigkeit und Ereignis (»action«). 291 Zweitens verwirft Hobbes das bis dato mit der Begriffskopplung Macht / Vermögen und Wirkung / Akt / Vgl. Kap. 7.4.1 (K6). Für eine ausführliche Besprechung des Short Tracts nach wie vor Brandt (1927), 9–85, 102. 289 Brandt meint daher zurecht, dass sich die ontologische und begriffliche Verschiebung »from obscure dynamism to pure mechanics« vom Short Tract zu De Corpore am Beispiel der verschiedenen Konzeptionen des Machtbegriffs besonders deutlich zeigt (Brandt [1927], 289). 290 Benn (1972), 189. 291 Frost (2008), 10–11. 287 288

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Ereignis verbundene ontologische Implikat der Seinsmodalität (›Potentialität‹ und ›Aktualität‹). Stattdessen fungiert das Begriffspaar »power – act« ontologisch nivelliert als Konzeption von Kausalität, die nicht ontologisch-realistisch, sondern epistemisch bzw. begrifflich gerahmt und temporal strukturiert ist. 292 Theoretische Ontologie als Grundlage. Ganz auf der Linie der Denkströmungen seiner Zeit geht es auch Hobbes nicht um eine Ontologie im Sinne einer Lehre vom Sein oder einer Beschreibung des ›furniture of the world‹. Seine ontologischen Verpflichtungen sind schwach und eher methodologisch (ähnlich dem Status des Dings an sich bei Kant) zu betrachten. In der hier vorgelegten Interpretation erscheint es daher legitim und angemessen, von einer ›theoretischen‹ oder ›methodologischen‹ Ontologie zu sprechen. Hobbes das Programm einer beherzten Metaphysik zu insinuieren, beruht so gesehen auf einem Missverständnis, das die grundsätzlich sprachbasierte epistemo-logische Rahmung der Elemente der Philosophie vernachlässigt. 293 Eine ontologisierende Interpretation neigt dazu, die mit der unvermittelten Prämisse oder auch ›Postulat der Bewegung‹ eingegangene metaphysische Existenzannahme mit einer ontologischen oder metaphysischen Doktrin über die Strukturen der Wirklichkeit zu verwechseln und verkennt die epistemologische Rahmung des Postulats der Bewegung – zumindest an der Stelle der Logik und Philosophiekonzeption. Insofern schließt sich die hier vorgeschlagene Interpretation der Lesart von Oakeshott an. Oakeshott hat m. E. zu Recht darauf hingewiesen, dass »Hobbes's philosophy lies in the conception of the nature of philosophical knowledge, and not in any doctrine about the world.« 294 Dieser ›epistemologischen‹ oder ›begriffsbetonten‹ Lesart zufolge ist Hobbes' Philosophie niemals »anything other than conditional knowledge, knowledge of hypothetical generations and conclusions about the names of things, not about the nature of things«. 295 Zusammenfassung. Indem der Machtbegriff bzw. die meta-physische potentia sehr eng mit dem kausalen Wissensbegriff (K3) und einem meta-physischen 292 Vgl. Foisneau (1992), 87. In seiner Kontroverse mit dem Bischof von Bramhall gibt Hobbes seine Begriffsbestimmung von potentia in Ablehnung von »potentiality« zu verstehen: »He denies potentiality and power to be all one, and says I little understand what potentiality is. He ought therefore in this place to have defined what potentiality is : for I understand it to be the same with potentia, which is in English power.« (An Answer to Bishop Bramhall’s Book, called ›The Catching of the Leviathan‹, EW IV, 299). 293 Vgl. ähnlich auch Arp (2002), 3–8. Eine ›bloß‹ methodologische und theoretisch implizite Ontologie ist gleichwohl in sich spannungsgeladen und verleitet nahezu chronisch zu einer Inflationierung der grundlegenden Thesen zu Bewegung und Körper zu einer allgemeinen oder regionalen Metaphysik (vgl. zur Spannung oder »Ambivalenz bei Hobbes« Mittelstraß [1970], 198). 294 Oakeshott (1957), xxvi–xvii. 295 Ebd. Daraus eine strikte Opposition zwischen Philosophie und Wissenschaft bei Hobbes abzuleiten, scheint hingegen an Hobbes’ wissenschaftlicher Philosophiekonzeption vorbeizugehen.

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Theoriekontext (champ fondateur) (K5) verbunden ist, die ihrerseits strukturell dem prinzipienbasierten Wissensbegriff und der Meta-Physik von Aristoteles ähneln, gestalten sich auch die Komponenten des epistemologischen und ontologischen Profils und der begrifflichen Basis-Ebene (K6) ähnlich. Die metaphysische potentia ist wie die dynamis kata kine¯sin in erster Linie ein explanatorischer Grundbegriff, der eine theoretische (›schwache‹) ontologische Grundierung aufweist, nicht aber selbst einen Begriff einer allgemeinen revisionären Metaphysik bzw. Ontologie darstellt; dieses Theorieformat lehnt Hobbes ab. In der Komponente des epistemologischen und ontologischen Profils liegt insofern also eine formale Wieder-Holung vor. Und ähnlich wie bei Aristoteles ist die ontologische Grundierung mit einer zugleich methodologischen und metaphysischen Existenzthese von Bewegung assoziiert: Bewegung ist intelligibel und daher sind es auch die Dinge in (ihrer Erzeugung-)Bewegung. Während allerdings bei Aristoteles die dynamis in ihrer zweiten Ebene, der sogenannten ›ontologischen‹ dynamis als dynamei on in Verbindung mit der energeia und entelecheia in den Bereich einer allgemeinen Ontologie als Theorie der Wirklichkeit (von Form-Materie-Komplexen) vordringt, verhandelt Hobbes eine Theorie der Wirklichkeit bereits in seiner Meta-Physik in dem Format einer physica generalis. Die Funktion einer allgemeinen Ontologie wird in Hobbes' System also bereits von der physica generalis erfüllt. Das hat den Effekt, dass die potentia sowohl mit einer physischen Akzentuierung als agentive und patentive potentia als auch mit einer allgemein-ontologischen Akzentuierung in differentieller Identität zum actus bestimmt wird. Hobbes' potentia benötigt folglich auch keine zweite ›ontologische Konfiguration‹ (wie bei Aristoteles) und nimmt nicht die Stellung einer ›Potentialität‹ ein. Stattdessen wird die potentia auf zwei weiteren Ebenen ausgebaut, die hier als ›menschliche‹ Konfiguration und ›politische‹ Konfiguration beschrieben wurden.

7.4.6 Zusammenfassung zum Begriffskorpus

Die meta-physische potentia als Basisschicht des Machtbegriffs zeichnet sich durch einen Begriffskorpus aus, der sich aus den Begriffen der Ursache, Wirkung, Wirklichkeit und Notwendigkeit sowie den Strukturprinzipien der Agentiv-patentiv-Unterscheidung und einer temporalen Ausrichtung zusammensetzt (K6, K7, K8). Sämtliche dieser Begriffselemente – bis auf den Begriff der Notwendigkeit – verweisen wiederum auf den Begriff der Bewegung, der selbst das zentrale Element des Begriffskorpus der potentia bildet (K6). In dem Begriff der meta-physischen potentia reflektiert sich somit auch ganz anschaulich die Persistenz der allgemeinen Bewegungshypothese (K3) und ihre Wirkkraft in

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den Bereich der Begriffsbildung. Als Ausdrucksverhältnis 296 formuliert ließe sich sagen: Der Begriff der meta-physischen potentia ist ein konzeptueller Ausdruck der allgemeinen Bewegungshypothese, die als Monismus ein Transzendierungs- und Ontologisierungsverbot jenseits der Bewegung impliziert. Das bedeutet wiederum, dass die potentia selbst nicht mehr als akzidentielles internales (oder external-göttliches) aktives Prinzip, als selbstständiger Bewegungsanfang oder Potentialität konzipiert werden kann, sondern in differentieller Identität zur causa efficiens auftritt. Potentia als potentia plena ist durch eine methodologische (oder auch ›formale‹) Ontologie der Bewegung grundiert, die Körper als die für die Bewegung notwendige Substrate setzt (K9). Die metaphysische potentia ist damit ein kinetischer Begriff, der die begriffskorporale Verbindung des kata kine¯sin der aristotelischen dynamis insofern radikalisiert, als die (plenare und agentive) potentia nicht mehr ein Prinzip der Bewegung ist, sondern durch eine konzeptuelle Differenzkette über die Begriffe der Ursache und Wirkung selbst mit Bewegung identifiziert werden kann (K6). Gemäß der hier vorgelegten Interpretation bildet diese Konzeptualisierung von Macht / Vermögen/potentia in De Corpore bzw. der Meta-Physik von Hobbes die Basisschicht seines mehrschichtigen Machtbegriffs, wobei die Ebenen in einem kontinuierlichen Verhältnis zueinanderstehen (K10). Das kontinuierliche Verhältnis zwischen den Ebenen lässt sich wiederum mithilfe des diagrammatischen Schemas der Wieder-Holung von einzelnen Elementen innerhalb von Komponenten präzisieren. Sowohl die zweite Ebene der menschlichen potentia als auch schließlich die dritte Ebene der potentia des Souveräns weisen Elemente aus der meta-physischen potentia auf: das Prinzip der ›aggregativen‹ bzw. kompositionellen Zusammenkunft von mehreren Anteilen zur Verwirklichung von Macht (bzw. der ›vollen‹ Macht), die Ausrichtung auf die Zukunft, die differenzielle Identität von Macht und Akt bzw. Macht und Bewegung und Wirklichkeit. Schließlich ist noch festhalten, dass sich über die Komponenten des Begriffskorpus in der hier vorgeschlagenen Deutung die an das hobbessche Werk angelegte ›schwache‹ systematische Zusammenhangthese und transdisziplinäre Kontinuität gleichermaßen exemplifizieren wie erhärten lässt. Hobbes' Begriff der potentia durchzieht ähnlich wie der im nächsten Abschnitt vorgestellte Begriff des conatus die Disziplinen und theoretischen Bereiche und nimmt darin eine jeweilige Konfiguration an. In ihrer transdisziplinären Einsetzung (Erste Philosophie, Naturphilosophie, Staatsphilosophie) erweist sich die potentia ausgehend von ihrer meta-physischen Konzeption einmal mehr als begrifflicher Nachfolger der aristotelischen dynamis kata kine¯sin.

296

Spragens (1973) würde es vermutlich als konzeptuelles Analogieverhältnis formulieren.

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7.5 Begriffsmilieu II

Nachdem der erste Teil des Begriffsmilieus (K3, K4, K5) und der Begriffskorpus (K6–K10) in seinen drei Ebenen unter besonderer Berücksichtigung der Basisschicht der meta-physischen potentia beleuchtet worden sind, ist nun eine heuristische Schneise freigelegt, um den Machtbegriff als potentia in seinen kategorialen Nachbarschaftszonen (K11) und seiner begrifflichen Vernetzung (K12) zu erkunden. Die begrifflichen und kategorialen Verzweigungen und Nachbarschaften verleihen dem Begriffskorpus eine Art begriffliche ›Exo-Konsistenz‹. Jede Ebene des Machtbegriffs hat in ihrer Schöpfung wiederum je eigene begriffliche Verzweigungen und bildet sich in Ko-Konstitution mit anderen Begriffen aus. Ich beschränke mich hier jeweils auf zentrale Elemente in den Komponenten des Begriffsmilieus des mehrschichtigen Machtbegriffs. Zunächst soll unter den kategorialen Nachbarschaftszonen das Verhältnis der potentia zum Begriff des ›Bestrebens‹ (endeavour, conatus) beleuchtet werden. Mit dem Begriff des conatus hat Hobbes einen für die Neuzeit und Moderne zentralen Begriff geschaffen, der insbesondere von Spinoza und Leibniz rezipiert worden ist (K11). Conatus und potentia bilden mit dem Begriff der Freiheit (liberty) ein trianguläres Verhältnis, das kurz umrissen werden soll (K12). Abschließend wird das Begriffsnetz der Bewegung als das spezifische Begriffsnetz der meta-physischen potentia (K12) vorgestellt.

7.5.1 Kategoriale Nachbarschaft: potentia und conatus (K11)

Interpretationen des conatus-Begriffs. Für einige Hobbes-Interpret:innen stellt der Machtbegriff (power) das zentrale Konzept in der Philosophie von Hobbes dar, für andere der Begriff des Strebens (endeavour, conatus 297). Beide Interpretationen haben auf ihre Weise recht, und das, ohne sich zu widersprechen, denn, so die hier vertretene Interpretation, Macht (potentia) und conatus können als kategorial verwandt begriffen werden. Ihr Einsatz erfolgt bei Hobbes jedoch in verschiedenen Wissens- und Theoriefeldern bzw. Kontexten, was ein Grund dafür sein könnte, dass ihr enges begriffliches Verhältnis häufig unterbeleuchtet geblieben ist. In Bezug auf den conatus-Begriff begegnen in der Hobbes-Forschung drei auffällige Interpretationen: (i) Eine Interpretationslinie argumentiert für prioritäre Anwendungsfelder bzw. Ziel- oder Kernkon-

297 Der Terminus stammt vom lateinischen Verb ›con-ire‹, streben, das wiederum auf das griechische ὁρµή (horme¯ ) zurückführt.

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texte des Begriffs oder der Idee des conatus 298 in der Philosophie von Hobbes. (ii) Eine andere Interpretationslinie ist eher werkgeschichtlich orientiert und versucht die Entwicklung über strukturelle Vorformen 299 zu rekonstruieren; (iii) in einer dritten Interpretationslinie dient das in diversen Kontexten eingesetzte conatus-Konzept als Indiz oder Argument für eine schwach-kontinuierliche Systematizität in Hobbes' Philosophie. 300 In der nachfolgenden Skizzierung des conatus wird ein Mittelweg angestrebt: Es soll darum gehen, in aller Kürze Struktur und Funktion des Begriffs in verschiedenen Wissensfeldern und deren Verknüpfung zu beleuchten. 301 Ähnlich wie der Begriff der potentia lässt sich auch der Begriff des conatus als geschichtet betrachten, wobei sich die Basisebene auf zwei zueinander komplementären Wissensfeldern, die Naturphilosophie und Physik sowie die Psychologie, aufspannt; die duale Basisschicht selbst ist wiederum in sich durch die kinetische Grundierung und kontinuierliche Systematik der hobbesschen Philosophie verklammert.

a) Hintergrund und Konzeption des conatus

Hintergrund der begrifflichen Konstruktion des conatus. Hobbes' Begriffskonstruktion des conatus ist aus einer doppelten Bewegung heraus zu verstehen. Zum einen konzeptualisiert Hobbes das Streben, den conatus, eines Körpers aus der Ablehnung scholastischer Kräfte, Potentialitäten und Possibilitäten. Kritik an der dynamisch grundierten aristotelisch-scholastischen conatus-Vorstellung äußerte Hobbes sowohl in den Schriften Short Tract, Elements of Law, De Mundo und im Tractatus Opticus I und II 302 als auch in offener Diskussion mit Descartes. 303 Insbesondere richtet sich das conatus-Konzept gegen den Begriff der teleologisch strukturierten potentia ad motum im Sinne einer Potentialität und Tendenz der Dinge, zur Erdmitte zu streben (DM X.11, engl., 94, 125, vgl. 118–120). Zum anderen konstruiert Hobbes den conatus-Begriff als dezidiertes Gegenkonzept zum cartesischen Konzept der Inklination, der selbstwirksamen Tendenz zur Bewegung, wobei die Tendenz, so Descartes, selbst von der Bewegung getrennt sei als »conatus ad motum«. 304 Im Tractatus Z. B. Riedel (1969). Exemplarisch hierfür Brandt (1927). 300 Z. B. Jesseph (2016), Pietarinen (2001, 2009), Bertman (1991). 301 Ähnlich geht auch Barnouw (1992) in seiner Überblicksdarstellung »Le vocabulaire du conatus« vor, weshalb sie eine gute Orientierung für dieses Unterkapitel geboten hat. 302 Die beiden gleichnamigen Schriften stammen aus den Jahren 1640 (I) und 1644 (II). 303 Ausführlicher zur Absetzung von Descartes siehe Pietarinen (2001), 72–77, (2009), 187–189; Brandt (1927), 301–305. 304 Descartes (2005), 56–58. 298 299

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Opticus I macht Hobbes seine Position und den Unterschied zu Descartes' conatus als Tendenz-Konzept besonders deutlich: »Here we disagree: for what he [Descartes; L. B.] calls tendency or action, I call motion, what he distinghuises from motion, I want to call motion« 305. Außerdem tritt das conatus-Konzept bei Hobbes aus der Suche nach einem alternativen explanativen Begriff hervor, d. h. einem »richtig definierten« Prinzip der natürlichen und kognitiv-mentalen Bewegung. 306 »Richtig definiert« meint für Hobbes der Form nach ein Prinzip, ein ›Quasi- oder Proto-Prinzip‹ 307, d. h. nicht ein von der Bewegung separiertes, transzendentes Prinzip, sondern eine Art Anfang von Bewegung in der Bewegung selbst. Dieses Proto-Prinzip ist selbst kinetisch grundiert und zu verstehen als ein in sich selbst beweglicher, bewegter und bewegender Anfang von Bewegung. Der gesuchte Begriff des Bewegungsanfangs, der Hobbes' allgemeine Bewegungshypothese so herausfordert, zugleich aber unabwendbar für sie ist, ist damit sowohl phronomisch als auch dynamisch motiviert. 308 Wie bereits in den Ausführungen zum Begriffskorpus der meta-physischen potentia skizziert wurde, steht Hobbes in seiner Frühschrift Short Tract (1630) noch mit einem Bein tief in der scholastischen Terminologie und versteht das aktive Vermögen (potentia activa) als dispositionalen Begriff. Mit dem anderen Bein setzt er jedoch bereits in ein Feld über, das sich von aktiven Vermögen und Kräften als ontologische Eigenschaften eines Körpers verabschiedet und alle Wirklichkeit als Wirksamkeit bzw. aktuale lokale Bewegung bestimmt. Und so versucht Hobbes im Short Tract, vorsichtig und im Gewand der für seine Zeitgenoss:innen gewohnten Terminologie, eine Transformation des Begriffs der potentia activa einzuleiten. Frühe Konzeption des conatus in der Theorie der Wahrnehmung und des Willens. Der conatus ist hier noch nicht ausformuliert, die Struktur seiner Konzeption zeichnet sich aber bereits in der Auseinandersetzung mit Instinkten (»animal spirits«), sinnlicher Wahrnehmung und Gemütsbewegungen bzw. Affekten ab – also aus neuzeitlicher Perspektive in einem Anwendungsbereich der Physik. 309 Hobbes versteht sinnliche Wahrnehmung hier noch (vermeintlich) ganz in aristotelisch-scholastischer Weise: »Sense (sensus) is a passive power 305 Hobbes hat sich in mehreren Texten mit der physikalischen Disziplin der Optik beschäftigt, der hier zitierte Text »Tractatus Opticus« (I) ist in den von Molesworth editierten Opera Latina im fünften Band aufgenommen. Die englische Übersetzung stammt von Pietarinen (2009), 188. 306 Leijenhorst (2002), 196. 307 Bernstein (1980), 25 charakterisiert den conatus-Begriff als »proto-force concept[]«. 308 Brandt (1927), 296. 309 Ich folge hier der Interpretation von Brandt (1927), 300–302, die, von Leijenhorst (2002), 198–200 aufgegriffen, die zitierte Stelle im Short Tract als begriffsstrukturelle Vorform des conatusKonzepts betrachtet. Für Barnouw (1992), 115 hingegen fällt die Herkunft des conatus-Begriffs erst mit seiner erstmaligen terminologischen Explikation in den Elements of Law zusammen.

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of the Animal Spirits, to be moved by the species of an externall obiect suppos'd to be present.« (ST III, Concl. 7, 208) Objekte der Wahrnehmung und des Willens, auf die sich Wahrnehmung und Willen intentional richten, besitzen das agentive Vermögen, die entsprechenden Sinne, hier konzipiert als patentive Vermögen, zu affizieren. Die intentionale Gerichtetheit, so würde man es heute phänomenologisch ausdrücken, wird in der Neuzeit je nach Qualität als appetitus (oder cupido), ›Begehren‹ (desire) und aversio bezeichnet. Ein paradigmatisches Objekt des Begehrens ist das Gute, welches das agentive Vermögen hat, das Gemüt zu affizieren, d. h. zu bewegen. Das Gute ist für Hobbes also das agens der Gemütsbewegung. 310 Die Bewegungsvorgänge werden von Hobbes mechanisch konzipiert: »The Act of Appetite is a Motion of the Animal Spirits towards the obiect that moveth them.« (ST III, Concl. 8, 209). Das Objekt des Begehrens bringt als causa efficiens die Gemütsbewegung des Begehrens (oder im Falle des Schlechten, malum, die Abneigung) hervor. Begehren und Aversion sind also die Wirkungen der agentiv wirksamen Objekte der Wahrnehmung und der Überlegung (understanding) im Subjekt. Dabei sind zwei Aspekte besonders bemerkenswert: Erstens sind Begehren und Aversion für Hobbes nicht Ausdruck eines Willens, der sich gezielt und agentiv auf etwas richtet, sondern genau umgekehrt: Gemüt und Willen erhalten ihren Inhalt aus einer externalen Bewegungsursache, dem Objekts des Begehrens und der Aversion (DM XXXVII.4, engl., 447). »Was im Wollen oder Begehren bewegt«, so hat es Riedel pointiert formuliert, »ist nicht das Wollen oder Begehren, sondern das begehrte Objekt.« 311 Der Wille selbst ist somit das letzte Begehren in einer Überlegungskette (deliberation), die sich aus konkurrierenden oder verstärkenden Begehren und Aversionen zusammensetzt: »Will therefore is the last Appetite in Deliberating.« (Lev. VI, engl., 92). Für eine ethische Perspektive auf das menschliche Handeln hat diese appetitus/aversio-Konzeption die gravierende Konsequenz, dass sich bei Hobbes »das zentrale Verhältnis von patiens

310 Im siebten Abschnitt der Konklusionen entfaltet Hobbes das Argument anhand der Attraktivität und Affizierungsleistung des Guten. »Good is to every thing, that which hath active power to attract it locally. Whatsoever is Good is desiderable; and whatsoever is desiderable is Good; and whatsoever is actually desir’d, supposeth actuall sense or actuall understanding ; but actuall sense and Understanding are local motions of the Animal Spirits [. . .]. Therefore whatsoever is actually desir’d, supposeth motion in the Animal Spirits, by the obiects, immediately or mediately. [. . .] Therefore it is Agent; and because that which is desired is Bonum, therefore Bonum is the Agent ; and because Bonum is desirable therefore every Bonum may be Agent in this motion.« (ST III, Concl. 7, 208) Hobbes wähnt sich hiermit noch ganz auf seiten der scholastischen Schulphilosophie, hatte sie aber »tatsächlich schon« durch die Umkehrung von Subjekt und Objekt der Strebebewegung »unterlaufen« (Riedel [1969], 428). 311 Riedel (1969), 428.

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und agens umdreht. Der Handelnde, der ein Gut begehrt, ist das patiens, das begehrte Gut das agens.« 312 Der sinnliche Wahrnehmungsakt ist für Hobbes also, ebenso auch das Verstehen, selbst eine kleine reale lokale und gerichtete Bewegung mit einem dezidierten Anfang – nicht bloß eine Bewegung im metaphorischen Sinne, wie es die Scholastiker annahmen. Die Figur der Gemütsbewegung ist also einerseits noch eng, wenn auch invers, mit dem klassischen Verständnis von agentiver und patentiver potentia verbunden: das Objekt des Begehrens ist zugleich das agens der Gemütsbewegung der Affizierung, da es über das agentive Vermögen verfügt, dieselbe hervorzubringen. Zugleich zeichnet sich hier eine Figur der kleinen, selbst nicht sichtbaren, gerichteten (›strebenden‹) Bewegung ab, die in etwas ihren Anfang nimmt, ohne dass jedoch der Anfang als solcher extrapoliert oder transzendiert ist. In Elements of Law (1640), zehn Jahre nach Verfassen des Short Tract, führt Hobbes den Terminus des ›endeavours‹ zur Beschreibung einer gerichteten Bewegung ein; auch hier wieder im Kontext der psycho-physiologisch konzipierten Gemütsbewegungen: This motion, in which consisteth pleasure or pain, is also a solicitation or provocation either to draw near to the thing that pleaseth, or to retire from the thing that displeaseth. And this solicitation is the endeavour or internal beginning of animal motion, which when the object delighteth, is called Appetite ; when it displeaseth, it is called Aversion [. . .]. (EL I.7.2, 28)

Hier ist eine begriffliche Verschiebung zu beobachten: Begehren und Aversion sind nun nicht mehr nur in sich lokale Bewegungen, sondern das Ansuchen (»solicitation«), die Neigung oder die Tendenz zur (lokalen) Bewegung innerhalb derselben. 313 Das Streben (endeavour, conatus) ist damit explizit der in einer Gemütsbewegung von einem externen Objekt evozierte innere oder ›innenseitige‹, nicht sichtbare Bewegungsanfang einer gerichteten Bewegung. 314 In De Homine und im Leviathan wird der innere Bewegungsanfang nicht mehr nur von einem kontingenten Objekt evoziert; das Objekt kann selbst eine reine Vorstellung von bspw. gut oder böse sein, die als agens die Begehrensund Aversionsbewegung hervorbringt (Hom. XII.1, Lev. VI.). 315 Parallel zur Aufhebung der ontologischen Differenz von Ursache und Wirkung, potentia Riedel (1969), 428. Vgl. Watkins (1973), 94. 314 Im Leviathan definiert Hobbes ›endeavour‹ als kleine, nicht sichtbare Bewegungsanfänge im menschlichen Körper: »These small beginnings of Motion, within the body of Man, before they appear in walking, speaking, striking, and other visible actions, are commonly called endeavour [Conatus]«(Lev. VI, engl. 78/lt., 79). 315 Ausführlich zu dieser Verschiebung siehe Rudolph (1991). 312 313

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und actus, ist auch der conatus immer schon eine aktuale Bewegung, »eine Art Elementarbewegung der inneren Teile des bewegten Körpers, Bewegung in unendlich [bzw. unsichtbar; L. B.] kleiner Strecke«, wie es Riedel treffend herausgestellt hat. 316 Conatus und Bewegung sind also ähnlich wie Macht und Bewegung in begrifflicher Hinsicht differenziell identisch. 317 Stellung des Conatus in der Bewegungsphilosophie. Der conatus ist als innerer Bewegungsanfang konzeptuell elementar für die Möglichkeit von Naturerklärung, denn Hobbes' Bewegungshypothese bzw. ›Bewegungslehre‹ sucht eine Antwort auf die Frage: »Wie kann die Wirkung von Körpern aufeinander in Bezug auf Abänderung ihrer Bewegung begrifflich dargestellt werden?« 318 Dabei soll Bewegung in der Form einer causa efficiens die Rolle eines zureichenden Grundes und damit eines ultimativen Konzepts der Erklärung einnehmen 319 – ohne allerdings die Form eines klassischen Prinzips, eines kausalen Anfangs, anzunehmen, der die Doktrin der allgemeinen (und infiniten) Bewegung ontologisch und epistemologisch unter- und dadurch aufbrechen würde. Damit ist jedoch ein epistemologischer und methodologischer Anspruch assoziiert, den ein purer (lokaler) Kinetismus, in dem power und act differentiell identisch mit Bewegung in actu sind, nicht einzulösen vermag. 320 Was Hobbes also benötigt, ist ein Begriff, der einerseits, um explanatorisch plausibel einsetzbar sein zu können, eine dynamische Akzentuierung zulässt und so etwas wie einen kausalen Quasi-Bewegungsanfang, ein aktives Prinzip (active power) ›in sich selbst‹, zu konzipieren vermag, der andererseits aber auch mit der allgemeinen Bewegungshypothese konsistent bleibt und also selbst kinetisch grundiert ist und sich nicht zu einem ruhenden Anfang oder Telos transzendiert oder ontologisiert. Die Schöpfung des Begriffs des conatus 321 soll genau diesen Doppelanspruch einlösen und siedelt sich damit in unmittelbarer kategorialer Nachbarschaft zur meta-physischen potentia (activa) und zum Begriff

Riedel (1969), 430; vgl. DM XXXVII.4, Corp. XV.7. Im Decameron Physiologicum (EW VII, 87) wird dieser Aspekt besonders deutlich: »In all motion, as in all quantity, you must take the beginning of your reckoning from the least supposed motion. And this I call the first endeavour of the movent ; which endeavour, how weak soever, is also motion.« 318 Lasswitz (1890), 212. 319 Zarka (1987), 204. 320 Vgl. Jesseph (2006), 150–152. Brandt sieht gerade auch im Tractatus Opticus die Forcierung von mechanischen Kategorien mit einer »decided tendency towards pure kinetics« (Brandt [1927], 121). 321 Hobbes hat das Konzept des conatus nicht ›erfunden‹, er hat es jedoch gegenüber zeitgenössischen Verwendungen und Einsätzen systematisiert (Barnouw [1992], 122) und in seiner Konzeption mit markanten Komponenten unterlegt. 316 317

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der Bewegung und seiner Verzweigung an. 322 In einer seiner finalen Fassungen, im dritten Teil von De Corpore, definiert Hobbes conatus (von Schuhmann als »Bewegungsanfang« übersetzt) schließlich als Bewegung durch einen Raum- und Zeitabschnitt hindurch [. . .], die kleiner sind als jeder gegebene, d. h. als jeder bestimmte bzw. durch Darstellung oder eine Zahl angebbare, also Bewegung durch einen Punkt und in einem Augenblick./ Conatum esse motum [. . .] per punctum et in instanti./ I define endeavour to be motion made in less space and time than can be given ; that is, less than can be determined or assigned by exposition or number ; that is, motion made through the length of a point, and in an instant or point of time. (Corp. XV.2, 179/lt., OL I, 177/engl., EW I, 206)

Der conatus-Begriff wird in dieser Definition zu einem Ermöglichungskonzept eines radikalen Bewegungsmonismus, der auf agentielle und kausale Kräfte verzichtet. Damit nimmt der conatus-Begriff in Hobbes' Philosophie der Bewegung – so ließe es sich mit Kant sagen – die Funktion einer Prädikabilie ein, d. h. einer aus der Kategorie der Kausalität abgeleiteten apriorischen Denknotwendigkeit. 323 Der conatus substituiert letztlich die Prädikabilie der Kraft oder potentia activa durch die Prädikabilie des nicht internal verursachenden Bewegungsanfangs und der nicht teleologischen Bewegungsrichtung. Dabei stellt sich der conatus als abstraktes (Proto-)Prinzip und Charakteristikum einer gerichteten Bewegung überhaupt dar, das in anthropologischen, politischen und physikalischen Kontexten konkretisiert wird. Conatus in der Naturerklärung. In der naturphilosophischen conatus-Konzeption versteht Hobbes den Kausalbegriff als Fortführung der Kausalbegriffe von Ursache und Wirkung, potentia und actus. 324 Entsprechend verpflichtet sich der conatus-Begriff hier auf eine Explanationskraft im kausalmechanischen Schema. Er soll den relationalen lokalen Anfang und das Ende und 322 Ähnlich hat Jesseph kürzlich das Konzept des conatus verortet: »[I]t is the appeal to conatus that ultimately grounds all of his causal explanations.« (Jesseph [2016a], 83) Dass der conatusBegriff die Rolle einer kausal wirksamen »active power« einnimmt, die Hobbes’ potentia activa nicht aufbringt (aufbringen kann), hat auch bereits Pietarinen (2001, 2009) aufgezeigt. Laut Pietarinen reserviert Hobbes allein Gott die Rolle, über eine initiale produktive Macht zu verfügen (ebd.). 323 Kant unterscheidet zwischen reinen Verstandesbegriffen (Kategorien) und reinen, aber aus den Kategorien abgeleiteten Verstandesbegriffen, die er Prädikabilien nennt. Zur Kategorie der Kausalität zählt er bspw. die Prädikabilien der Kraft, der Handlung, des Leidens (KrV, B 108). 324 Hobbes führt die geometrisch-naturphilosophische conatus-Definition in Kapitel XV, dem ersten Kapitel des dritten Teils »Verhältnisse von Bewegungen und Größen« in De Corpore ein, nachdem er systematisch die bereits im Rahmen der Ersten Philosophie geleisteten für die Geometrie notwendigen Definitionen rekapituliert hat: »Ein Teil der Ausgangspunkte dieses Wissenszweiges, die in Kapitel VIII und IX schon erläutert worden sind, sei an dieser Stelle zusammengetragen, um dem, der von hier aus weitergehen will, das Licht aus größerer Nähe zu spenden.« (Corp. XV.1, 178).

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damit die Struktur einer Bewegung und ihr Verhältnis zu anderen Bewegungen (und conatu¯ s) plausibilisieren, ohne Anfang und Ende zu hypostasieren. Damit soll der conatus in der hobbesschen Bewegungslehre ermöglichen, dass sie auf nicht-kinetische Bewegungsanfänge, z. B. durch substantielle Formen, Gattungen, nichtkörperliche Substanzen, Qualitäten, Sympathie und Antipathie, Gegensatzkräfte [antiperistasis], eigene Macht / eigenes Vermögen, und generell auf Selbstbewegung, d. h. Bewegung aus sich selbst heraus, verzichten kann. Bewegungen sind für Hobbes – ähnlich wie für Aristoteles – nicht bloß Veränderungen im Raum (motus localis), sondern wirken selbst auch erzeugend, produktiv. Eine Bewegung eines Körpers oder Körperteils A (agens) erzeugt in der Berührung eine neue Bewegung in einem Körper(-teil) B (patiens). Die Produktivität besteht in der Aggregierung notwendig komplementärer agentiver und patentiver Vermögen oder, kausal perspektiviert, aus dem Zusammengreifen von materialen und effizienten Teilursachen. Conatus, causa efficiens und agentive und patentive Vermögen (active power und passive power) sind somit differentiell identisch. 325 Sie bilden verschiedene Modi von produktiver Bewegung. Bewegungen sind unter Anwendung des conatus-Begriffs nun selbst bewegte externale Bewegungsursachen, deren internaler conatus die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit bestimmt, die beide solange gelten, bis der bewegte Körper in der Bewegungsform eines Stoßes oder eines Zuges auf einen zweiten bewegten Körper trifft (Corp. XV.4). In dem Zusammentreffen, der Berührung zweier bewegter Körper kann die Bewegung von Körper A als bewegende Bewegung, als Impuls wirken. Ein Impuls wiederum ist, genauso wie ein Widerstand, quantifizierbar. Impuls und Widerstand sind für Hobbes die quantifizierbaren Modi des Bewegungsanfangs. Ersterer definiert sich als »die Quantität bzw. Geschwindigkeit des Bewegungsansatzes selber«, letzterer als »der Bewegungsansatz des einen [beweglichen Körpers] [. . .], der dem des andern völlig oder teilweise entgegengesetzt ist.« (Corp. XV.2, 180, 181). Resultiert aus den Bewegungsmodi von Impuls und Widerstand eine Ortsveränderung eines Körpers oder eines Teils von ihm, so haben die Körper in asymmetrischer Weise Druck aufeinander ausgeübt. Druck ist allgemein diejenige Berührungssituation, »wenn der Bewegungsansatz des einen dazu führt, daß das andere oder ein Teil des andern vom Platz weicht« (Corp. XV.2, 182). In der Berührung zweier beweglicher Körper kann es daher zu einer Erzeugung von Bewegung in langsameren oder ruhenden Körper kommen oder zu einer Änderung der Bewegungsgeschwindigkeit oder Bewegungsrichtung von einem oder beiden Körpern. Druck und conatus verhalten sich derivativ zueinander: Der 325

Vgl. Pietarinen (2009), 193; Walton (1974), 38.

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gerichtete Bewegungsanfang ist die Grundlage und Bedingung der Möglichkeit des Zusammentreffens von beweglichen Körpern, mithin von Vorgängen der Druckausübung und Veränderung. Von dieser konzeptuellen Basis aus erschließt sich dann auch noch einmal der Begriff der Kraft neu. Hobbes definiert Kraft nun als »den entweder mit sich selber oder mit der Größe des bewegenden Dings vervielfältigten Impuls, wodurch der bewegende Körper auf einen ihm widerstehenden mehr oder weniger einwirkt« (Corp. XV.2, 182). Der conatusBegriff steht somit, wie die Begriffsdefinitionen der Geometrie bzw. kinetischen Mechanik nahelegen, in engster Nachbarschaft zu dem Begriffsensemble aus Geschwindigkeit, Impuls, Widerstand, Druck und Kraft. Es erscheint nun lohnend, den Blick auf das begriffliche Verhältnis von conatus zum Begriff der Freiheit (liberty) zu werfen. Denn Hobbes' Freiheitsbegriff ist tief in dem skizzierten kausal-kinetischen Begriffsnetz der angewandten conatus-Begriffe eingewurzelt.

b) Conatus, Freiheit, Recht und staatliche Macht

Der conatus-Begriff und die Definition des Menschen. Conatus ist für Hobbes ein Begriff der Bewegung, er ist zugleich aber auch der Name eines Axioms, in der Hobbes-Literatur gelegentlich ›conatus-Prinzip‹ genannt. Als Axiom tritt es in Übereinstimmung mit dem Prinzip oder ›Gesetz‹ im weiteren Sinne der Persistenz von Bewegung (Inertia) auf, 326 d. h. als Prinzip des Strebens nach Selbsterhalt. Das conatus-Axiom verpflichtet Hobbes' Naturphilosophie auf einen Aktualismus: Wenn nur der bewegte und bewegende Körper ein wirkender und nur der wirkende Körper ein aktualer Körper ist, ist letztendlich vor der bewegungsmonistischen Folie nur dasjenige existent, das in Bewegung ist. Was bedeutet das conatus-Axiom nun übertragen auf die menschliche Handlungssphäre? Es erscheint insgesamt legitim und plausibel, das Verhältnis zwischen meta-physischem und physikalischem Bewegungsgesetz und gesellschafts- und staatstheoretischem Naturgesetz in Hobbes' Elemente der Philosophie einerseits als konzeptuell parallelisiert, anderseits aber auch etwas stärker als durch die allgemeine Bewegungshypothese in der konzeptuellen Ausgestaltung präfiguriert zu betrachten. Die begriffliche Präfiguration zeichnet sich vor allem in den Definitionen ab, die Hobbes in der philosophia civilis gibt. In ihnen bildet sich parallel zu den Begriffsnetzen von conatus – Impuls – Kraft – Widerstand und conatus – Bestreben – Aversion – potentia ein drittes Begriffsnetz aus, das den conatus-Begriff mit den Begriffen von Freiheit, Recht und staat326

Pietarinen (2009), 205.

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licher Macht bzw. der Macht des Leviathans verknüpft. Der Mensch ist darin in seinem Begriff der doppelten Existenzweise, als natürlicher Körper und Teil des politischen Körpers, Relais und Angelpunkt von naturphilosophischen und staatsphilosophischen Begriffsnetzen, d. h. von den disziplinären Diskursen der philosophia naturalis und philosophia civilis: Da der Mensch nicht nur ein natürlicher Körper ist, sondern auch ein Teil des Staates oder (wie ich es nenne) des politischen Körpers, mußte er als beides betrachtet werden: als Mensch und als Bürger, das heißt die ersten Grundsätze der Physik mußten mit denjenigen der Politik verbunden werden, die schwierigsten mit den einfachsten. (Hom., Widm., 351)

Der Begriff des Menschen bildet, wie bereits in den Komponenten des Begriffskorpus gezeigt, in seiner Funktion als analytische Grundeinheit den Anfangshorizont der politischen Philosophie, er ist darin zugleich begriffliche wie methodische Erfordernis. Und entsprechend beginnt Hobbes seine politische Theorie bzw. Staatsphilosophie in jeder Fassung mit der definitorischen Untersuchung der Basis einer möglichen Gesellschaft. Für Hobbes ist der Mensch ein mit natürlichen Kräften und Verstandesfähigkeiten (forces, faculties, powers) ausgestattetes, rational eingestelltes, todesfurchtsames Wesen. Der Mensch im Naturzustand und seine Freiheit(en). Im Naturzustand, d. h. im »Zustand der Menschen außerhalb der Gesellschaft« (Cive I, vgl. Lev. I– XVI), sind Menschen Wettbewerber um knappe Güter – Wettbewerber, die immer schon den Kampfplatz betreten haben, auf dem sich erst »im Kampf« entscheidet, wer der Stärkere ist (Cive I.VI, 35). Auf dem Kampfplatz um materielle und immaterielle Güter (Glück) begegnen sich Menschen unter der Geltung des Naturrechts (ius naturale). Das Naturrecht zeichnet sich durch ein zentrales materiales Recht auf Durchsetzung der individuellen rationalen Interessen aus. In dieser Form identifiziert Hobbes das Naturrecht mit der Freiheit, die jeder Mensch besitzt, seine eigene Macht nach Belieben zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, zu gebrauchen und folglich alles zu tun, was er nach seiner eigenen Urteilskraft und Vernunft als das hierfür geeignetste Mittel ansieht. (Lev. XIV, 107)

Im Cive bringt Hobbes die Definition des Naturrechts auf die Formel von Recht als »die Freiheit von jedermann, seine natürlichen Fähigkeiten gemäß der rechten Vernunft zu gebrauchen.« (Cive I.VII, 35–36) Das Naturrecht nimmt also seinen Ausgang in der Bestrebung eines jeden Menschen nach Selbsterhaltung, indem er »sein Leben und seine Glieder so gut zu schützen sucht, wie er nur kann.« (Cive I.VII, 36) Der Selbsterhalt des Menschen bedeutet, dass seine körperlichen Fähigkeiten und Kräfte (powers) in ihrem Bewegungscharakter nicht

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eingeschränkt werden. Die Selbsterhaltung ist mithin zugleich der Zweck des Naturrechts, das durch die Freiheit als Recht auf Selbsterhaltung zugesichert ist. Aus dem Zweck resultiere, so Hobbes, eine weitere Freiheit, nämlich die Freiheit zur Wahl des geeigneten Mittels (Corp. I.VIII–X). Kinetisch formuliert ist das Streben nach Selbsterhalt einerseits selbst die natürliche innere Bewegung und Bewegtheit des Menschen, andererseits ist es diejenige Bewegung des Menschen, die ihm die Ausübung seiner Vermögen zusichern soll. Das Naturrecht als Freiheit verstanden zielt also auf die Bewegungsfreiheit des Menschen, den Erhalt des menschlichen Körpers in seiner physischen Bewegung – und damit in seiner Fähigkeit, Dinge (Bewegungen) zu verursachen, zu verändern, zu erzeugen. Das Naturrecht soll einen Zustand der Existenz bedingen, in dem die Freiheit real gegeben ist, ungehindert aktive Vermögen auszuüben und in eine plenare Machtkonstellation einführen zu können (vgl. Lev. XXI). Der Begriff des Naturrechts basiert daher zum einen auf dem Begriff oder Prinzip des conatus, zum anderen auf einem generellen und negativen Begriff von Freiheit, der selbst wiederum vom Begriff der Bewegung fundiert ist. Hobbes' Begriff von Freiheit. Freiheit (liberty, freedom) definiert Hobbes im Leviathan als »Abwesenheit äußerer Hindernisse« (»the absence of externall Impediments«), die auch als ›Widerstand‹ (opposition) zusammengefasst werden können (Lev. XIV, 107/engl., 198, XXI). Erscheint diese Definition bereits sehr weit gefasst, mutet die frühere Definition von Freiheit im Cive als »Abwesenheit von Hindernissen« im Cive (IX.8) als weitestmöglich an. 327 Tatsächlich zieht Hobbes auf grundlegender Ebene keine Trennungslinie zwischen den Bewegungsfähigkeiten von natürlichen nicht-lebendigen, tierlichen und menschlichen Körpern. Körper werden, ohne Unterschied ihrer Existenzform, unter dem Gesichtspunkt der Realisierung und Hinderung ihrer Bewegungen und Tätigkeiten betrachtet: »Liberty or Freedome [. . .] may be applyed no lesse to Irrationall, and Inanimate creatures, than to Rationell.« (Lev. XXI, engl., 324) Freiheit ist so verstanden die reale Möglichkeit der Menschen und Dinge, »sich so zu bewegen, wie sie es ohne jene äußeren Hindernisse tun würden.« (Lev. XXI, 177) Diese physisch-physiologische Freiheitskonzeption setzt direkt auf der Begriffsebene des conatus als nicht wahrnehmbarer Bewegungsanfang und Bewegungsrichtung an: Wird eine Konstellation aus conatus A durch eine andere Konstellation von conatus B, die als Widerstand zu A auftritt, gehemmt, verschoben oder zum Bewegungsabbruch gezwungen, ist der Körper von A in seiner Freiheit, d. h. in seiner Freiheit zu ungehemmter Bewegung, beschränkt. Eine Freiheitsbeschränkung auf der basalen Ebene ist somit immer auch mit 327 Die Bedeutung dieser Verschiebung in der Begriffsdefinition von Freiheit hat Hood ausführlich untersucht und als »the most important change which he [Hobbes] ever made in his moral and civil philosophy« bewertet (Hood [1967], 150).

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einer Kollision von Bewegungen verbunden, und damit mit einem »contest of powers, or of endeavors in opposite directions.« 328 Das Subjekt des Hindernisses ist auf dieser generellen Ebene der körperliche conatus 329 und die konkrete Aktivität eines Körpers, die wiederum von der plenaren und agentiven Macht von Körpern in einer Aggregat-Situation bedingt ist. Der Zusammenhang von Vermögen / Macht und Freiheit wird darin einerseits über den Begriff des conatus arrangiert, andererseits liegt der Definition von Freiheit selbst ein dynamischer Begriff von Macht / power zugrunde. 330 Denn wie Hood scharf beobachtet hat, definiert Hobbes Freiheit derivativ und negativ über die Abwesenheit externaler Beschränkungen, beschreibt Freiheit aber zugleich positiv »in terms of the power whose exercise is subject to impediment. The motions which are subject to impediment are actions; and action is always according to extent of the power of the agent.« 331 Vertiefung des Freiheitsbegriffs: Freiheit, Wille und Macht. Zwei Aspekte sind für die nähere Betrachtung des Freiheitsbegriffs in seiner Struktur und in seinen Schichten sowohl in der Hobbes-Literatur als auch in der Diskussion um Freiheitsbegriffe generell virulent. Erstens: was zählt eigentlich als Hindernis oder Widerstand (bei Hobbes: körperliche Gegen-Bewegungen, agentive und patentive Vermögen) und was genau kann Subjekt des Widerstandes sein? Wie Eric Nelson zurecht angemerkt hat, ist die Beschränkung dessen, was auf basaler Ebene als Widerstand oder Hindernis zählt, eine normative Aussage, die eine politisch wirksame Implikation für die Konzeption spezifisch menschlicher Freiheit nach sich zieht. 332 Denn ein freier Mensch (für Hobbes: alle vernunftbegabten Lebewesen) ist in diesem basalen Sinne erst einmal nur ein bewegungsfreier, d. h. ein nicht eingesperrter Mensch, und ein unfreier Mensch ist eben ein durch externe Instanzen (Objekte, Bewegungen) in seiner körperlichen Fortbewegung gehemmter oder verhinderter Mensch (Lev. XXI). 333 Die physisch-physiologische Bestimmung des Begriffs von Freiheit (liberty) ist nun, wie Hobbes selbst sagt, die Grundbedeutung oder allgemeine Verwendungsweise. Wird der Begriff der Freiheit in einem engeren Sinne auf den vergesellschafteten Menschen angewendet, dann ist das Subjekt des Impediments nicht mehr nur der physische conatus, sondern vielmehr der Wille des Bernstein (1980), 34–35; vgl. Polansky / Torell (1990), 9–11. Hood (1967), 153. 330 Vgl. Hood (1967), Polansky / Torell (1990). 331 Hood (1967), 150. 332 Nelson (2005), 64. 333 Liegen die Hinderungsgründe hingegen in dem Ding oder Menschen selbst, bspw. wenn ein Mensch krank ist und deshalb im Bett bleiben muss, ist er nicht unfrei, sondern es fehlt ihm (aktuell) die Fähigkeit, sich zu bewegen. Ein dispositionaler Mangel an Bewegungsfähigkeit ist für Hobbes also nicht in jedem Fall als Mangel an Freiheit zu betrachten (vgl. Lev. XXI, 177). 328 329

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Menschen, mithin der conatus als Begehren (appetite), Deliberation und freiwillige Bewegung. 334 Ein freier Mensch ist, »wer nicht daran gehindert wird, Dinge nach seinem Willen zu tun, zu denen er aufgrund seiner Kraft und seines Verstandes fähig ist« (Lev. XXI, 177). Da der Wille selbst eingefügt ist in eine Bewegungskette aus Gedanken und aus dem Widerspiel von Begehren und Aversion entsteht, kann er an sich nicht frei oder unfrei sein. Der Wille ist das Resultat dieses Widerspiels von appetitus und passion (Affektion), die letzte Bewegung der Deliberation. Deshalb ist nicht der Wille frei, vielmehr ist die Bewegung, die er erzeugt, nämlich als Bestreben, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu erreichen, frei, wenn das Bestreben des Willens ungehindert in einem realisierten Handlungsvermögen umgesetzt werden kann (vgl. ebd., 178). Hobbes definiert hier Willen als »Willensnotwendigkeit«, die kompatibel ist mit Handlungs- oder »Aktionsfreiheit« 335, welche immer auch die Freiheit ist, etwas zu unterlassen. Am deutlichsten wird der Aspekt des Unterlassens von Handeln 336 in einer Formel, die Hobbes in The Questions concerning liberty, necessity and Chance gibt: »For it cannot be conceived that there is any liberty greater than for a man to do what he will, and to forbear what he will.« (EW V, 249, vgl. 37–38) Handlung, wir erinnern uns, ist wiederum die notwendige Zusammenkunft agentiver und patentiver Vermögen: »When a man wills to do power is plenary; and the act is produced in the same instant. There can be no interval between power and act, between cause and effect. Liberty here ends with its exercise; since there was no impediment the man was free to do or to forbear and exercised this liberty by doing«. 337 Der Wille basiert also auf einer potentia plena, der aktualen Macht / dem Vermögen, etwas zu tun: »[I]n those things that have will, the action is according to the whole power, will and all« 334 Entsprechend lassen sich auch zwei Arten von Hindernissen unterscheiden, solche die »i) die Bewegung unbedingt (absolut) einschränken und ii) solche[], die dies bedingt tun« (Reiske [2015], 80). Auf die Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Bewegung hebt Watkins in seiner Untersuchung des hobbesschen Freiheitsbegriffs ab, vgl. Watkins (21973), 85–98, und dazu Sarasohn (1985), 376. David van Mill unterscheidet »two kinds of negative freedom«, Freiheit körperlicher Art und Freiheit in a »realm based on volition« (van Mill [1995], 444–446); er plädiert insgesamt für ein komplexeres Verständnis von Hobbes’ Freiheitsbegriff, das häufig auf ein rein negatives Freiheitskonzept reduziert wird. Allerdings sieht van Mill in der Komplexität zugleich ein Indiz von Vermengung und Inkonsistenz. Darauf hat wiederum John D. Harman (1997) mit einem Rettungsversuch geantwortet. In dieser Diskussion spiegelt sich ein sehr typisches Rezeptionsphänomen in der Literatur zu Hobbes wider: eine fragmentierende Interpretation wirft Hobbes Widersprüchlichkeit und Unklarheit in Bezug auf ein Konzept vor, woraufhin eine harmonisierende Lesart die aufgestellten Brüche kittet oder diesen weitestgehend zu entgehen bestrebt ist. 335 Weiß (1980), 102. 336 Auch Skinner (1990) hat darauf hingewiesen, dass eben keine Freiheit vorliegt, wenn der Handelnde, sich nicht auch für ein Unterlassen der Handlung hätte entscheiden können. 337 Hood (1967), 152.

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(EW V, 246). 338 Freiheit zu etwas und Macht / Vermögen zu etwas (im Sinne der zweiten Begriffsschicht von potentia: potentia als bestimmte menschliche Vermögen, Fähigkeiten zu etwas) sind daher auch nicht gleichzusetzen, sondern eher so zu verstehen, dass Macht ein notwendiges und Wille ein hinreichendes Kriterium für Freiheit in der gesellschaftlichen Handlungssphäre darstellen 339: The question, therefore, is not whether a man be a free agent, that is to say, whether he can write or forbear, speak or to be silent, according to his will ; but whether the will to write, and the will to forbear, come upon him according to his will, or according to any thing else in his own power. I acknowledge this liberty, that I can do if I will : but to say, I can will if I will, I take to be an absurd speech. (EW V, 38–39)

Und noch einmal ähnlich an anderer Stelle: It is one thing to say a man hath liberty to do what he will, and another thing to say he hath power to do what he will. A man is bound, would say readily he hath not the liberty to walk ; but he will not say he wants the power. But the sick man will say he wants the power to walk, but not the liberty. (EW V, 265) 340

Wogegen Hobbes sich mit seiner Konzeption von liberty explizit wehrt, ist der scholastische Ansatz, der power und freedom gleichsetzt, indem er Freiheit als metaphysisches Vermögen und das metaphysische Vermögen als causa efficiens im Handelnden betrachtet. 341 Da der Gegenstand der Einschränkung in Hobbes' liberty-Konzeption nicht der Wille, sondern das Vermögen / die Fähigkeit etwas zu tun oder zu unterlassen ist, sind für Hobbes Freiheit und Furcht und Freiheit und Zwang vereinbar. Wie ist das Argument zu verstehen? Wenn ein Mensch aus Furcht vor der Strafe bei einer nicht gesetzeskonformen Handlung seine strafbare Handlung unterlässt, deckt sich der Wille, nicht bestraft zu werden, mit dem Vermögen, eine illegale Handlung zu unterlassen: to compel someone's will is only to cause him to have a will or desire to other than the will or desire for the sake of which he would otherwise have acted. When such a person acts, it will still be because he possesses the will or desire to act in precisely the way in which he acts. It follows that, even if the cause of his will is fear, the actions he performs out of fear will still be free actions. 342 Vgl. Pink (2016), 187. Vgl. Polansky / Torell (1990), 17. 340 Vgl. zum Verhältnis von »Power, Will, and Freedom« auch ausführlich Benn (1972), 199–206. 341 Ausführlicher dazu Pink (2016), 172–176. 342 Skinner (1990), 136; vgl. Lev. XXI. In der hier referierten Interpretation von Skinner stellt Furcht keine mögliche Form von Hindernis dar, das die Freiheit einzuschränken vermag, vgl. kritisch dazu Reiske (2015). 338 339

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Hobbes’ Machtbegriff

Freiheit und die Macht des Souverän. Für Hobbes gilt nicht nur im Naturzustand, sondern auch im Zustand der Vergesellschaftung das (erste) Naturgesetz (lex naturalis), d. h. die individuelle Verpflichtung, qua Einsicht der Vernunft nach Frieden zu streben (Lev. XIV). An das lex naturalis ist somit auch der Souverän gebunden. Im Gemeinwesen übertragen die Individuen dem Leviathan das Recht, sie zu regieren, das Regieren wiederum zielt auf die Willen der Einzelnen, d. h. auf ihre Bestrebungen (endeavours, conatu¯ s), nicht auf ihre natürlichen Vermögen und Fähigkeiten. Die Macht (potentia) des Souveräns zeichnet sich also durch das Recht und das Vermögen aus, die Willen der Einzelnen zum Friedenserhalt zu führen und zu formen, weil sie zuvor freiwillig »ihren Willen seinem Willen und ihr Urteil seinem Urteil« unterworfen haben (Lev. XVII, 145). 343 Denn durch diese Ermächtigung, die er von jedem einzelnen im Gemeinwesen erhält, steht ihm so viel verliehene Macht und Stärke [tantam Potentiiam & tantarum Virium] zur Verfügung, daß er durch den Schrecken vor ihr befähigt wird, den Willen aller auf Frieden daheim und auf gegenseitige Hilfe gegen ihre auswärtigen Feinde zu lenken. (Lev. XVII, 145/lt., 261)

Die Macht des Souveräns greift also nicht auf der Ebene der natürlichen Freiheit der Menschen, sie stellt an sich auch keine Beschränkung der Menschen in ihrer natürlichen Bewegtheit und in ihren Bewegungen dar. Vielmehr limitieren die Unterwerfung und die Folgsamkeit die Freiheit des Menschen als Unterworfenen, als Subjekt, sie beschränken also seine soziale Freiheit (»civil liberty«), die darin besteht, verschiedene Handlungsoptionen zu haben und real wahrnehmen zu können (Cive IX.8., engl., 111). Die Unterwerfung und der Gehorsam betreffen jedoch nicht die natürliche und naturrechtliche Freiheit, seinen Bestrebungen (conatu¯ s) zu folgen und nach Belieben Gebrauch von seinen Vermögen und Fähigkeiten zu machen 344: »[I]n this sense all slaves and subjetcs are free who are not in bonds or in prison.« (Cive IX.8, engl., 111) Hobbes begründet den Zustand der Freiheit einerseits bewegungsrelatio343 Pietarinen schlägt vor, den Zusammenhang zwischen Naturgesetzen in der philosophia civilis, Individuum und den Gesetzen der Bewegung als Parallelisierung zu deuten: »I propose that the laws of nature in the Hobbesian science of politics are seen as laws governing the behaviour of rational people, in the same sense as the laws of motion govern the behaviour of inanimate bodies. They are derived from the general conatus principle and guide the striving of rational people to reach peace that will best guarantee the preservation of one’s nature.« (Pietarinen [2009], 205, Herv. i. O.) Er folgt in seiner Interpretation einer aus meiner Sicht unterstützenswerten schwach kontinuierlichen Lesart, die den Zusammenhang zwischen Natur- und Staatsphilosophie über den Begriff des conatus legt und auf davon abgeleitete Parallelisierungen hinweist, ohne eine direkte Ableitung zu insinuieren. 344 Vgl. Skinner (1990), 138; Pietarinen (2009), 203.

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nal und proportional zum faktischen räumlichen Bewegungsspielraum (»Every man has more or less liberty as he has more or less space in which to move«, ebd.), andererseits mit dem freiwilligen Akt der ursprünglichen Einwilligung. Der Akt der Unterwerfung gründet auf einer vernunftbasierten freien und freiwilligen Handlung und berührt an sich nicht die natürliche Freiheit: »[D]ie Zustimmung eines Untertans zur souveränen Macht [ist] in den Worten enthalten: Ich gebe ihm für alle seine Handlungen Ermächtigung oder nehme sie auf mich, worin keinerlei Einschränkung seiner früheren natürlichen Freiheit liegt.« (Lev. XXI, 184) 345 Es verhält sich vielmehr so, dass eine Beschränkung der natürlichen Freiheit die individuellen Vermögen (powers, potentia) beschränken würde, die selbst wiederum, durch Übertragung, die Grundlage der Potentia des Souveräns darstellen. Würde der Souverän die natürliche Freiheit der Subjekte entziehen, entzöge er sich also zugleich die eigene Macht (potestas). 346

7.5.2 Begriffliche Verzweigung der potentia: die Bezugsbegriffe der Bewegung (K12)

Potentia und Bewegung sind, wie in der Untersuchung des Begriffskorpus' aufgezeigt, konzeptuell auf das Engste verbunden. Diagrammatisch formuliert verleiht der Begriff der Bewegung der potentia Endo-Konsistenz. 347 Da der Begriff der Bewegung selbst mit anderen ihm ko-konstitutiven Begriffen vernetzt ist, konstituieren auch jene bewegungsbezogenen Begriffe das Begriffsmilieu der meta-physischen potentia mit. Als Elemente des Begriffsmilieus verleihen sie der potentia, wie auch die ersten Komponenten des Begriffsmilieus (K3– K5), eine Form von Exo-Konstistenz. Nun sind bei Hobbes aufgrund der kinetischen Grundierung aller Basisbegriffe der philosophia prima bzw. MetaPhysik, im Grunde sämtliche naturphilosophischen Basisbegriffe, direkt oder über weitere Begriffe mit dem Begriff der Bewegung verbunden – er ist »the be-

345 Zusammengefasst stellen also weder Zwang, Furcht noch eine Verpflichtung an sich für Hobbes eine Freiheitseinschränkung da, vielmehr liegt in jeder reagierenden Handlung eine Freiwilligkeit: »Denn im Akt unserer Unterwerfung liegt sowohl unsere Verpflichtung wie auch unsere Freiheit, die deshalb mit Beweisgründen daraus hergeleitet werden müssen. Es gibt nämlich keine Verpflichtung, die nicht aus einer eigenen Handlung eines Menschen entsteht; denn alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei.« (Lev. XXI, 183) 346 Vgl. Polansky / Torell (1990), 16. 347 Es wäre zu diskutieren, ob die These einer begrifflichen Endo-Konstienz oder die These eines modellhaften Analogats, das der Bewegungsbegriff für andere Begriffe darstellt (Spragens [1973]), eine ›stärkere‹ Form der (Ver-)Bindung attestiert.

Hobbes’ Machtbegriff

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all and end-all« 348 in Hobbes' Philosophie. Dennoch lässt sich ein Set an Begriffen identifizieren, das als Begriffsnetz der Bewegung im engeren Sinne (und damit im Diskurs der Naturphilosophie / Physik) ausgewiesen werden kann. Das Begriffsnetz der Bewegung im engeren Sinne bildet sich aus den Begriffen Körper, Ort und Raum, Zeit, Ruhe, Geschwindigkeit, Größe und Kraft, wobei die einzelnen Begriffsdefinitionen auch als Konsequenzen der Definition von Bewegung betrachtet werden können. 349 Hobbes benennt jene direkten Bezugsbegriffe, parallel zu Aristoteles in der Physik 350, in dem einleitenden Abschnitt der »Bewegungslehre« bzw. Geometrie, dem dritten Teil von De Corpore (»Verhältnisse von Bewegungen und Größen / De Natura, Proprietatibus, et variis Considerationibus Motûs et Conatûs« 351), der als naturphilosophische Fortführung der philosophia prima oder auch als Bindeglied zwischen Erster Philosophie und der anwendungsorientierten Physik im vierten Teil von De Corpore verstanden werden kann. 352 Hier, zu Beginn der Geometrie oder »Bewegungslehre«, wiederholt Hobbes die für jene Bewegungslehre zentralen, bereits definitorisch bestimmten Begriffe und ›Gesetze‹ der Bewegung aus der philosophia prima. 353 Der physikalische Begriff der Bewegung in seiner Verzweigung. Beginnen wir zur Erinnerung mit der Bestimmung des physikalischen Begriffs von Bewegung (motus, motion) selbst. Bewegung wird von Hobbes auf den Begriff der lokalen Bewegung reduziert, alle Bewegung ist lokale Bewegung, d. h. »das stetige Verlassen« (Corp. VIII.10, 116) oder »die stetige Privation eines Orts und das Erreichen eines anderen« (Corp. XV.1, 178). Damit setzt Hobbes jene Bewegungsart, die von Aristoteles bereits prioritär gesetzt wurde 354, absolut bzw. re-

Brandt (1927), 245. Vgl. Zarka (1987), 204. 350 Vgl. Kap. 6.4.2 b) (K12). 351 Die deutsche Übertragung der Kapitelüberschrift ist aus begriffsanalytischer Sicht verschleiernd und unpräzise gegenüber dem lateinischen Original, in dem die zentralen Begriffe der Bewegung und des conatus expressis verbis genannt werden. 352 Hobbes selbst verklammert den dritten Teil von De Corpore mit dem zweiten Teil, indem er explizit auf Kapitel VIII (»Körper und Akzidenz«) und IX (»Ursache und Wirkung«) rückverweist, siehe Corp. XV.1, 178. Eine präzise Kurzfassung der Begriffsdefinitionen aus dem zweiten und dritten Teil von De Corpore findet sich auch im zweiten Teil der Dialogschrift Decameron Physiologicum (EW VII.II). 353 Formal gesehen unternimmt Hobbes im dritten Teil den Versuch einer kinematischen Mechanik, deren Charakteristikum es ist, ohne das Erklärungsprinzip der Kraft und Ursache auszukommen. Ich beschränke mich hier auf die Darstellung der bewegungsbezüglichen Begriffe und lasse die Operationalisierung der Begriffe in Verhältnisaussagen (z. B. Bewegungsgesetze) weitgehend außen vor. 354 Vgl. Phys. IV.1 208b31–32. 348 349

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stringiert sämtliche Bewegungen auf den Begriff aktualer lokaler Bewegung. 355 Die Bestimmung des Bewegungsbegriffs ist auf den Begriff des Ortes (locus) angewiesen: Ort ist ein »Teil des Raums« (ebd.), nämlich derjenige Teil, der durch die dreidimensionale Größe bzw. Ausdehnung eines Körpers eingenommen wird (Corp. VIII.5). In der Definition des Ortes zeigt sich eine essenzielle Verzahnung von Ort und Körperbegriff. Denn der Körper wird von Hobbes nicht, wie später in der neuzeitlichen und modernen Physik, massetheoretisch, sondern allein geometrisch konzeptualisiert: Körper ist das auch außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung mit einem ›realen‹ Raumabschnitt zusammenfallend Subsistierende (vgl. Corp. VIII.1). Ein Körper ist also real existierende Ausdehnung an einem Ort im ›realen‹ (nicht imaginären) Raum und zugleich Teil des vorgestellten Raumes. 356 Das Ausmaß der Ausdehnung im ›realen‹ Raum wiederum ist die Größe (magnitudo) eines Körpers (Corp. VIII.4). Der Raum ist für Hobbes zuallererst ein epistemisches Element der Wahrnehmung und Vorstellung bzw. Repräsentation und nicht eine ontologische Entität, wie sie die populäre Raum-als-Container-Vorstellung insinuiert. 357 Raum ist für Hobbes ein »Phantasma« 358, d. h. ein »Erscheinungsbild eines bestehenden Dings, sofern es besteht« (Corp. VII.2, 101). 359 Während der Raum also imaginär bzw. ideal konzipiert ist, bedarf die Bewegung eines realen Körpers, der das Substrat der Bewegung bildet. Bewegung ist damit ein allgemeines universales Akzidenz, das alle Körper teilen. Bewegung und Größe sind zusammen die »in höchstem Maße gemeinsamen Akzidenzien der Körper« (Corp. XV.1, 177). Gemäß der Lokalisierung von Bewegung erstreckt sich Bewegung (an einem Körper) von einem Ort zu einem anderen in einem Raum. Bewegung kann definitorisch nicht an einem Ort stattfinden, sondern ist immer ein Zurücklegen eines bewegten Körpers bzw. Dings in einem Raum »von dem Ort weg, an dem es sich befindet, zu einem Ort hin, an dem es sich nicht befindet« (Corp. VIII.11, 117). In diesem ›Zurücklegen‹ oder Passieren von Raumteilen spannt sich die Zeit als Dreidimensionalität von Vergangenheit, Präsenz und Zukunft auf (Corp. XV.1, 178). Insofern lässt sich die lokale Bewegung immer auch zeitlich 355 Vgl. dazu auch Weiß (1980), 44–47, der zurecht darauf hinweist, dass sich in der begrifflichen Reduktion der Bewegung auf eine der vier aristotelisch-griechischen Bewegungsarten »die Absetzung von der traditionellen Metaphysik widerspiegelt« und die Bewegung einem geometrischphronomischen (bzw. kinetischen) Ansatz übereignet (ebd., 45; vgl. Zarka [1987], 204). 356 Vgl. Lasswitz (1890), 210. 357 Hobbes macht eine methodologisch wichtige Unterscheidung zwischen dem, »was manche den ›realen Raum‹ nennen« (Corp. VIII.4, 112) und dem Raum der Vorstellung (›imaginärer‹ Raum). 358 Slowik (2014), 74. 359 Man beachte die Klarstellung in Corp. VIII.5, 112: »Der Raum (mit welchem Ausdruck ich immer den imaginären meine), der mit der Größe irgendeines Körpers zusammenfällt, heißt der Ort dieses Körpers, der Körper selber aber wird dann lokalisiert genannt.«

Hobbes’ Machtbegriff

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perspektivieren, nämlich als »ein Vorher und Nachher bzw. eine Aufeinanderfolge« (Corp. VII.3, 103). Zeit ist damit wie Raum eine ideale Größe, die in der Repräsentation des sich bewegenden Körpers in der Wahrnehmung (sense perception) erzeugt wird. In der Begriffsbestimmung von Zeit schließt Hobbes zweimal explizit an die aristotelische Bestimmung von Zeit als »Maß« oder »Zahl der Bewegung nach dem Vorher und Nachher« an (Corp. VII.3, 103, XV.1; vgl. Phys. IV 11, 219b1–2). Hobbes sieht seine Begriffsdefinition sowohl mit der Alltagssprache als auch mit der aristotelischen Konzeption in Übereinstimmung: »Eine solche Vorstellung [von einem bewegten Körper; L. B.] bzw. ein solches Erscheinungsbild nenne ich die Zeit, womit ich weder vom gemeinen Sprachgebrauch der Leute noch auch von Aristoteles' Definition viel abweiche.« (Corp. VII.3, 102) Für Hobbes ist der Grundzustand eines Körpers Bewegung, ein Körper – oder bei einem organischen Körper: Teile des Körpers – sind ständig in einer Verkettung von Bewegtwerden unter äußerlichem Bewegungsimpuls und Bewegen, von Ursache und Wirkung und Vermögen / Macht und Akt(ion) involviert. Oder andersherum formuliert: »Der Kausalitätsspielraum der Körper reduziert sich auf ihre Interaktion, die durch die Linearität der Bewegungsanstöße determiniert ist.« 360 Körper sind dadurch stets in einer wirkursächlichen Berührungskette verbunden, und jeder Körper in einer Berührungskonstellation ist sowohl bewegungsempfangend, also bewegt, als auch bewegungserzeugend, also bewegend: »Denn so wahr es ist, daß nichts sich selber bewegt, so wahr ist es auch, daß nichts sich bewegt außer durch etwas Bewegtes.« (Corp. XXVI.13, 270, vgl. IX.7) Bewegung wird generell, einem impliziten Prinzip der Inertia folgend 361, als »stetiger« (kontinuierlicher) und »permanenter Prozeß unterstellt, der sich, einmal in Gang gesetzt, ad infinitum fortsetzt.« 362 Nichtbewegung, also Ruhe, ist daher weder Ausgang noch Ende einer Bewegung, sondern ein zur Bewegung kontradiktorischer Zustand eines Körpers (Corp. IX.7). Auch Ruhe unterliegt ihrerseits dem universalen Prinzip der Inertia (Corp. VIII.19, XV.1). Bewegung und Ruhe können durch ihre kontradiktorische Verhältnisbestimmung nicht in einem relationalen Verhältnis stehen: Bewegung interagiert gewissermaßen Riedel (1969), 426. Für einige Interpretatoren ist das von Hobbes selbst nicht explizierte, aber supponierte Prinzip der Inertia oder ›Trägheit‹ eines von zwei ›Gesetzen‹ der Bewegung im weiteren Sinne. Das zweite ›Bewegungsgesetz‹ in Hobbes’ kinetischer Mechanik ist das Prinzip der Bewegung / Wirkung durch Berührung eines angrenzenden Körpers, vgl. z. B. Jesseph (2006); Gorham (2014), 82, Fn. 6. Hobbes selbst weist in Decameron Physiologicum drei Axiome der Bewegung aus, vgl. Decam. Phys., EW VII, 85–86. 362 Der Satz der inerten und infiniten Bewegung findet sich auch im Leviathan: »Wenn ein Körper einmal in Bewegung ist, bewegt er sich (falls ihn nicht etwas anderes hindert) ewig« (Lev. II, 11). 360 361

Diagramm von Hobbes’ Machtbegriff

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immer mit Bewegung (bzw. bewegte Körper mit anderen bewegten Körpern), sodass Ruhe in Form einer substantiellen Form oder eines Telos weder eine Bewegung verursachen kann noch auf eine Bewegung(sbahn) ursächlich ›einwirken‹ kann (vgl. ebd.). 363 Ruhe kann aus sich gegenläufigen und in ihrer Gegenläufigkeit und Größe ausbremsenden Bewegungen resultieren. Kennzeichnend für einen ruhenden Körper ist grundsätzlich, dass er »sich eine Zeitlang am selben Ort befindet.« (Corp. XV.1, 178; vgl. VIII.11, 19) Damit erhält Ruhe, analog zur Bewegung, eine räumlich und zeitlich konfigurierte Definition. Zugleich ist Ruhe für Hobbes immer nur ein temporärer Zustand, der von den Modi der Bewegung eingerahmt ist und darin selbst nie ursächlich wirksam werden kann. Das Axiom der nicht kausal wirksamen Ruhe bürgt somit auch für die konsistente Durchführung seiner allgemeinen Bewegungsdoktrin bzw. eines kinetischen Aktualismus und aktualistischen Kinetismus. Zusammenfassung. Die meta-physische potentia ist über den naturphilosophischen Begriff der Bewegung mit weiteren naturphilosophischen Grundbegriffen, v. a. Ort, Raum, Zeit, Ruhe, verzweigt. Hierin wieder-holt sich eine begriffliche Konstellation aus der Naturphilosophie des Aristoteles. Denn bereits bei Aristoteles verleihen die genannten Begriffe dem Begriff der Bewegung ExoKonsistenz. Der Begriff der Bewegung wiederum ist direkter Bezugspunkt der dynamis kata kine¯sin. In der Skizzierung der begrifflichen Verzeigung konnte der Begriff der Bewegung, Hobbes' theoretisches und begriffliches Zentrum, selbst noch einmal eine abschließende Präzisierung erfahren.

7.6 Diagramm von Hobbes’ Machtbegriff

Potentia und potestas. Die diagrammatische Untersuchung folgte der untersuchungsleitenden Prämisse, Hobbes' potentia und potestas zunächst aus heuristischen Gründen voneinander abgegrenzt zu untersuchen. Die heuristische Abgrenzung erfolgte zum einen, um den Blick auf die bisher unterbeleuchtete potentia zu lenken, zum anderen, um präziser die theoretische Verknüpfung, die Hobbes zwischen potentia und potestas aufspannt, aufzeigen zu können. Mit Foisneau wurde davon ausgegangen, dass potentia und potestas zwei hete363 Weiß (1980), 46, Herv. i. O.; vgl. Spragens (1973), 58–63; Corp. VIII. 19, IX.7, XV.7. Vgl. dazu außerdem Hobbes’ berühmten Satz, Bewegung »streite[]« mit »Gegenbewegung«, »nicht aber Ruhe« mit Bewegung [pugnat cum motu motus adversus, quies non pugnat] (so wie es Descartes annahm) (Corp. IX.7, 131/lt., OL I, 98). In Kap. XV wiederholt Hobbes das Charakterstikum der wirkungslosen, resultathaften Ruhe: »Es ist also klar, daß Ruhe nichts hervorbringt und jeder Wirkungsmacht ermangelt; daß aber ausschließlich Bewegung sowohl dem, was ruht, Bewegung verleiht als auch dem, was sich bewegt, sie entzieht.« (Corp. XV.3, 183).

Hobbes’ Machtbegriff

340

rogenen konzeptuellen Feldern entstammen; 364 ein Umstand, von dem die terminologische Differenz im Lateinischen als Translation von dynamis (potentia) und to kratos (Herrschaft, potestas) noch zu zeugen weiß. Auch Hobbes selbst leitet in De Cive den Begriff der Herrschaft (potestas) begriffsgeschichtlich und auch theoretisch von dem griechischen Begriff to kratos und nicht von der potentia her (Cive VII.5). In der hier vorgelegten Interpretation wurde an dieser terminologischen Trennung festgehalten, zugleich aber auch ein Vorschlag vorlegt, der die potentia und potestas auf der Ebene der Theorie von Macht in Verbindung setzt, ohne in eine konzeptuelle Vermengung oder Reduktion zu gleiten (K9). Der Machtbegriff von Hobbes wurde als Begriff der potentia mit drei Ebenen gedeutet. Diese Ebenen werden gebildet aus der meta-physischen potentia, der menschlichen Macht (Macht als natürliche Fähigkeiten des Menschen) und der Macht des Souveräns (als potentia und in differenzieller Identität zur potestas) (K6-K9). Dabei lag ein Schwerpunkt auf der Darstellung der meta-physischen potentia (K6-K7) und der Darlegung der begrifflichen Kontinuität zwischen den Ebenen der potentia (K9). Generell gilt: In der Hobbes-Rezeption ist die begrifflich-kontinuierliche Lesart bisher keine dominante Position, jedoch zählen einige anerkannte Hobbes-Expert:innen wie z. B. Yves Charles Zarka und Samantha Frost zu ihren Vertreter:innen. 365 Gerade in politikwissenschaftlichen Zugriffen wird die Begriffsebene der meta-physischen potentia im hobbesschen Machtbegriff selten systematisch adressiert oder gar als grundlegende erörtert. Ein Grund hierfür dürfte sicherlich in der fehlenden Durchdringung oder Ablehnung der konzeptuellen Grundlegungsfunktion der Ersten Philosophie bzw. einer Tendenz zu einer (stark) diskontinuierlichen Lesart liegen. 366 Hobbes und Aristoteles. Aus vertikal-diagrammatischer Perspektive ist das Verhältnis von Hobbes' Begriffsbildungen zu jenen des Aristoteles primärer Gegenstand. Generell ist das Verhältnis von Hobbes zu Aristoteles äußerst spannungsgeladen. Hobbes wurde gemäß einem in seinen zeitlichen Bildungsumständen typischen Curriculum in Philosophie ausgebildet, das Aristoteles als unübertroffenen ›Meister‹ oder schlichtweg ›den Philosophen‹ nennt. Ob Logik, Rhetorik, Physik, Metaphysik, Ethik oder Politik: Hobbes war vermutlich mit allen damals verfügbaren und kanonisierten Texten von Aristoteles sehr vertraut gewesen. Im Laufe seiner eigenen Schaffenszeit fand jedoch eine markante Absetzungsbewegung in der Philosophie von Hobbes gegenüber AriFoisneau (1992), 84. Zarka (1990) und Spragens (1973) und andere sprechen selbst allerdings nicht explizit von ›Ebenen‹ oder ›Schichten‹ in einem Begriff, sondern von Begriffen in verschiedenen Kontexten. 366 Ein exemplarisches Beispiel für eine diskontinuierliche Lesart in Bezug auf Hobbes’ Machtbegriff findet sich in dem Standard-Aufsatz von S. I. Benn (1972). 364 365

Diagramm von Hobbes’ Machtbegriff

341

stoteles statt. Eine in der Hobbes-Forschung weitreichend geteilte Bewertung zum Verhältnis von Hobbes und Aristoteles lässt sich mit der pointierten Bewertung von Annabel Brett folgendermaßen illustrieren: »Hobbes was in no sense an ›Aristotelian‹, even if his philosophy has substantial debts to Aristotelianism.« 367 Doch auch wenn sich die Theorieentwürfe von Hobbes materiell nicht auf Theorien der Politik oder der Natur von Aristoteles stützen, weite Strecke geradezu »unAristotelian« 368 sind, übernimmt Hobbes' Denken doch erheblich, wie die diagrammatische Untersuchung aufzeigen konnte, Aristoteles' Formen und Auswahl der Theorie- und Begriffsbildung sowie in inhaltlicher Hinsicht die Zentralstellung der natürlichen Bewegung für alle Theorie- und Begriffsbildung. Diese Adaptions- bzw. Wieder-Holungsbeziehung ließ sich paradigmatisch am fundamentalen Bewegungsbezug des hobbesschen Machtbegriffs (potentia) aufzeigen. Damit kann auch Sorells Anlayse unterstützt werden, wonach Hobbes »borrows from it [the Aristotelian tradition; L. B.] extensively and certainly could not have formulated his own civil science without it«. 369 Die vorgelegte diagrammatische Interpretation vertritt prinzipiell eine Lesart, die Hobbes in einem ambivalenten, aber doch kontinuierlichen Verhältnis zu Aristoteles liest, was insbesondere für die Naturphilosophie und Konzeption der Ersten Philosophie zutrifft. 370 Nachdem sämtliche Komponenten untersucht worden sind, können nun die Ergebnisse sowohl in horizontal-diagrammatischer als auch in vertikal-diagrammatischer Hinsicht (Wieder-Holungen von Elementen aus der dynamis) in dem begrifflichen Diagramm eingetragen werden (siehe Abb. 11). 371

Brett (2010), 72. Sorell (1999), 364. Sorell differenziert treffend zwischen »pro-Aristotelian«, »anti-Aristotelian« und »unAristotelian« Passagen bei Hobbes (ebd.). 369 Sorell (1999), 378. 370 Vgl. ähnlich Spragens (1973), Leijenhorst (1998, 2002). 371 Vgl. das formale Diagramm (Abb. 3, S. XX) sowie das materiale Diagramm von Aristoteles’ dynamis (Abb. 8, S. 231). 367 368

K1: Mitte 17. Jh. Westeuropa, Bürgerkrieg in GB

Historisch-geografisches Milieu

Metatheoretische Ebene

Phasenraum

K8: aktiv-passiv (Wirken und Erleiden)

Strukturprinzip

K12: Begriffsnetz der natürlichen Bewegung

K11: Macht (potentia) & conatus; Macht, conatus und Freiheit

Abb. 11 Diagramm zu Hobbes' Machtbegriff

Begriffliche Verzweigung

K9: natürliche Macht als Fähigkeiten, die Macht (potentia) des Souverän

Kategoriale Nachbarschaften

K10: methodologisch orientierter Machtbegriff

Epistemologisches & ontolog. Profil

K6: meta-physische potentia = Ursache = Wirkung = Akt= Bewegung

champ fondateur

= Komponente, in der sich Elemente aus der dynamis des Aristoteles wiederholen

= Komponente, in der sich Elemente aus einer anderen Komponente der dynamis des Aristoteles wiederholen

= Intensive Verbindungslinien

Wissenskulturelles Milieu K2: Wissenskultur: Abkehr von aristotelischer Scholastik, zugleich Verbleib in aristotelischen Denkbahnen, mechanische Naturphilosophie, Mathematisierung der Naturwissenschaft (Ideal der mathesis universalis)

K5: Erste Philosophie als physica generalis/Meta-Physik

Zweite & dritte Ebene d. Begriffskorpus

K7: potentia activa, potentia passiva, potentia plena

Basisebene des Begriffskorpus

K3: Philosophie als FriedensWissenschaft, allg. Bewegungshypothese

K4: Problem der richtigen Philosophie

Problemkomplex

342 Hobbes’ Machtbegriff

8. Foucaults Machtbegriff

Ich interessiere mich nicht für das Bewegungslose, für das, was durch das Schillern der Erscheinungen hindurch gleich bleibt, sondern für das Ereignis. [. . .] Aber auch hier war Nietzsche der Erste, glaube ich, der die Philosophie als diejenige Aktivität definiert hat, die zu einem Wissen über das führt, was sich ereignet, und zwar jetzt. Mit anderen Worten, wir werden von Prozessen, Bewegungen, Kräften durchdrungen; diese Prozesse und Kräfte kennen wir nicht, und die Rolle des Philosophen besteht darin, diese Kräfte bzw. die Wirklichkeit zu diagnostizieren. (DE III / 234, 721–722)

8.1 Zugang zu Foucaults Machtbegriff

Ziel der Interpretation. Über Foucaults Machtbegriff(e) sind mittlerweile eine unüberblickbare Anzahl an Studien, monographisch, in Sammelbänden und in Zeitschriften publiziert worden. Eine Hochphase der Auseinandersetzung mit der foucaultschen Machtanalytik und dem Machtbegriff lässt sich für den Zeitraum Ende der 1990er bis Mitte der 2000er beobachten. Bei der enormen Quantität, aber auch Qualität an Foucault-Kommentaren gibt es kaum noch signifikante Lücken, die von Foucault verwendeten Begrifflichkeiten scheinen rund herum ausgeleuchtet zu sein. 1 Angesichts dessen kann sich auch die vorliegende Interpretation nicht zur Aufgabe machen, eine wesentlich neue Ausleuchtung zu präsentieren, vielmehr nimmt sie sich zum Ziel, im Rahmen einer umfänglichen Untersuchung der Komponenten des foucaultschen 1 Weitere monografische Studien stehen beinahe an der Schwelle des Rechtfertigungsdrucks. So hat Gregg Lambert seinen jüngst veröffentlichten (Frühjahr 2020) Kommentar mit den Fragen begonnen »Why write another book on Foucault? Why now? And for whom?«, da, so sein treffendes Bild, »the numerous existing commentaries on ›Foucault‹ are like tiny grains of sand that have accumulated into massive dunes in a vast desert.« (Lambert [2020], 1) Lamberts Studie konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur mehr kursorisch aufgenommen, nicht aber inhaltlich eingearbeitet werden. Auf den ersten Blick scheint es aber einige Berührungspunkte und grundlegende Gemeinsamkeiten zu geben, zunächst das prinzipielle Anliegen, Foucaults Verbindung mit griechisch-antiker Terminologie (den Elementen Euklids, dem Begriff der techne¯ , hier der techne¯ des Wissens) aufzuarbeiten. Außerdem geht es Lambert darum, ein »conceptual diagram« ([2020], 114) von Foucaults Machtbegriff zu zeichnen, wobei dieser Terminus nicht methodologisch aufgearbeitet ist, sondern lediglich so etwas wie ›Übersicht‹ zu meinen scheint.

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Foucaults Machtbegriff

Machtbegriffs die bisher unterbeleuchteten Bezüglichkeiten zwischen Genealogie, Machtbegriff und einem Denken der Bewegung einerseits, und zwischen der aristotelischen dynamis (samt ihrer Nachbarbegriffe der arche¯, dynasteia und der Kraft) und Foucaults Machtkonzeption andererseits herauszuarbeiten. Darin hilft uns der heuristische Ansatz der begrifflichen Diagrammatik, die Bezüge systematisch entlang der vorbestimmten zwölf diagrammatischen Gesichtspunkte zu extrapolieren. Foucaults Referenzen auf die dynamis. Foucault selbst verwendet und referiert auf den Begriff der dynamis explizit in zwei Zusammenhängen. Im ersten Verwendungskontext gibt Foucault im Rahmen eines Vortrags an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro mit dem Titel »Die Wahrheit und die juristischen Formen« (1973) einige Erläuterungen zu seinem Ansatz der Genealogie im Anschluss an Nietzsche (DE II / 139). 2 Nietzsches Genealogie helfe, die »Geschichte der Wahrheit« in ihrer Verschränkung mit einer Geschichte der Macht zu analysieren. Dabei ziele eine solche Analyse ebenso wenig wie die Forschungen von Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus auf eine Analyse der Strukturen, sondern sei vielmehr als eine »Dynastieforschung«, eine »δύναµις δυναστεία [dynamis dynasteia]« im Sinne einer historischen Untersuchung der den politischen und ökonomischen Verhältnissen zugrunde liegenden »Machtverhältnisse[n]« zu begreifen (DE II / 139, 687). 3 Im zweiten Verwendungskontext identifiziert Foucault in seiner Vorlesung Die Regierung des Selbst und der anderen (1982–1983) 4 am Collège de France das »Problem der dynamis (von der Gewalt, von der ausgeübten Macht, der Machtausübung)« als Implikat des in der attischen Demokratie reziproken Bedingungsverhältnisses von Demokratie und Praktiken des Wahrsprechens (parrhesia) (RSA, 200–210, hier: 203) in der Weise, wie es in den Texten von Polybios und Euripides nahegelegt werde. Foucault greift auf die politische dynamis und die kategorial verwandte dynasteia methodologisch und inhaltlich zurück, um die »Dynamik« und »Bewegung« im politischen Handeln in der Polis zu verdeutlichen (RSA, 204). Hier werden nicht nur Foucaults profunde Kenntnisse des Altgriechischen (bzw.

2 Nachfolgend werden die Textstellen aus den Monografien und Vorlesungsbänden unter Angabe der jeweiligen Sigle zitiert (z. B. ÜS, 91); Texte aus den Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (Sigle: DE) werden unter Angabe der Bandnummer (I bis IV), der von den Herausgebern vergebenen Zählung der Texte (/Nr.) sowie der Seitenangabe zitiert (z. B. DE III / 195, 270). Bei Verweisen auf einen gesamten Text, entfällt die Seitennummer; in Fällen, in denen das französische Original wichtige, durch die Übersetzung in das Deutsche schwer einholbare Aspekte verdeutlicht, wird dieses mit entsprechender Seitenzahl mitangegeben. 3 Vgl. hierzu ausführlicher in Kap. 8.4.1 b) (K6). 4 Fortan zitiert mit der Sigle RSA.

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seine klassische schulphilosophische Ausbildung) 5, sondern auch seine Kenntnis der Begriffe der dynamis und dynasteia im sowohl vorphilosophischen Sinn als auch in den Konzeptionen von Platon und Aristoteles deutlich. Was allerdings bezüglich der dynamis bei Foucault fehlt, ist ein direkter Verweis auf oder eine Auseinandersetzung mit der dynamis in der begrifflichen Bestimmung von Aristoteles im fünften und neunten Buch der Metaphysik, obwohl angenommen werden kann, dass Foucault Aristoteles' Metaphysik gelesen hat. Aufgabe der hier vorgelegten Interpretation ist es daher umso mehr, Wieder-Holungen von Elementen und begrifflichen Komponenten der aristotelischen dynamis systematisch herauszuarbeiten. Rezeption bisher: Foucaults Machtbegriff und die dynamis. Foucault selbst gibt für seine Machtkonzeption im Grunde nur eine Quelle an: Nietzsches Willen zur Macht. In der Foucault-Rezeption ist Foucaults Machtbegriff bisher vereinzelt in begriffsgeschichtlicher Hinsicht, zumeist über die Mittelstation der potentia Spinozas, mit der dynamis von Aristoteles in Verbindung gebracht worden. So hat bspw. Martin Saar Foucaults Machtkonzeption in einer »›kleinen‹ Traditionslinie« verortet, »die von Aristoteles über Spinoza und Nietzsche zu Foucault« mit der weiteren »›kleinen‹ Linie Aristoteles / Spinoza / Arendt [. . .] neben der traditionsmächtigeren Linie Aristoteles / Hobbes / Weber« verläuft. 6 Diese kleine Traditionslinie, die von der dynamis zu Foucaults Machtbegriff führt, sei von der Vorstellung von »Macht als Kausalwirkung«, als Wirk- und Widerstandskraft sowie von Macht als Vermögen und Potentialität geprägt. 7 Damit ist der Versuch verbunden, Foucaults Machtkonzeption begriffsgeschichtlich einzuholen – ein Unternehmen, das in der FoucaultRezeption lange Zeit ein notorisches Desiderat geblieben ist. Während diese 5 Der Weggefährte Foucaults Didier Eribon schildert in seiner Foucault-Biographie, dass sich Foucault in seiner ersten (unerfolgreichen) mündlichen Prüfung zur Aufnahme an der École normale supérieure in Paris »in langen Erörterungen über die Hypothesen im Parmenides« von Platon verzettelte (Eribon [1999], 70). 6 Saar (2007), 246, 243, vgl. 234–246; Saar (2013), 163–168. 7 Saar (2007), 237, 235–238; vgl. ebenso Gehring (2004), 109–110. Sehr ähnlich bereits Röttgers (1990), 50, 54, und kürzlich Kerstin Andermann: »Trotz seiner Ablehnung einer Theorie und damit auch einer Philosophie der Macht findet sich bei ihm [Foucault, L. B.] aber eine durchaus schwerwiegende Bezugnahme auf das Machtdenken einer Tradition, die sich begriffsgeschichtlich vom aristotelischen Begriff der dynamis über den Begriff der potentia bis zu Nietzsches Wendung vom Willen zur Macht als einer metaphysischen Kraft rekonstruieren lässt.« (Andermann [2019], 111, Herv. i. O.) Auch Schneider (2004a), 171–204, zieht eine machtbegriffsgeschichtliche Linie von Spinozas potentia über Nietzsche zu Foucault, geht darin allerdings nicht auf Aristoteles’ dynamis zurück. Dagegen kritisiert Rehmann (2019) die häufig unterstellte Kontinuität zwischen Spinozas potentia agendi und Nietzsches Willen zur Macht. Wie weiter unten ausgeführt, folge ich dem Ansatz, Friedrich Nietzsche als zentralen philosophischen und begrifflichen Bezugspunkt für Foucault anzusetzen.

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Foucaults Machtbegriff

machtbegriffsgeschichtliche Einordnung einen ersten wichtigen Beitrag zum Verständnis von Foucaults begrifflichen Ressourcen bietet, bleibt die Berücksichtigung der Binnendifferenzierungen in der aristotelischen dynamis ein Desiderat. In der Konsequenz ist bisher auch noch keine systematische und analytisch präzisere Verhältnisbestimmung von Aristoteles' dynamis und Foucaults Machtkonzeption unternommen worden. 8 Auch bleibt der theoretische Status von Foucaults Machtbegriff im Lichte der Herkunft in der dynamis unklar: Inwiefern lässt sich Foucaults Machtbegriff als physischer oder als meta-physischer Machtbegriff begreifen? Genau an diesem Desiderat setzt die vorliegende diagrammatische Interpretation an, indem sie einen Beitrag zur Erforschung der machtbegriffsgeschichtlichen Ressourcen in Foucaults Machtbegriff bietet und dabei auf das Konzept der ›Meta-Physik‹ als Diskursfeld zwischen Naturphilosophie und Metaphysik zurückgreift. Herausforderungen in der Rezeption. I: Differenz zwischen historischem Material und Begriffsbildung. Die Foucault-Lektüre, insbesondere zum Machtbegriff, wartet mit einigen erheblichen Herausforderungen auf. Zwei dieser Herausforderungen sollen zunächst skizziert und der hier gewählte Zugang markiert werden. 9 Eine erste Herausforderung bildet die Unterscheidung zwischen dem methodischen Rahmen der Machtanalytik, dem ihr zugrundeliegenden Machtbegriff und der Machthistoriographie. Nicht selten wird die historische Machtform oder der Machttyp der von Foucault so betitelten ›Disziplinarmacht‹ mit dem seiner Machtanalytik zugrundeliegenden Machtbegriff verwechselt oder eine hybride Form von Machtbegriff und Charakteristika der Disziplinarmacht als der Machtbegriff von Foucault präsentiert. Eine weitere, tiefer liegende interpretative Schwierigkeit liegt darin, dass die vermeintlich abstrakten Machtbegrifflichkeiten selbst wiederum eine historische und empirische Informiertheit aufweisen. So werden viele Begriffe, die Foucault im Rahmen seiner Machtanalytik aufruft, bspw. die Begriffe »Kräfteverhältnisse«, »Kampf«, »Krieg«, als »Erkenntnis- und Analyseprinzip politischer Macht [principe d'intelligibilité et d'analyse du pouvoir politique]« eingeführt (VG, 31; frz., 21). Als solche sind sie aber nicht nur rein methodologische Begriffe – wie man vermuten könnte –, sondern tragen immer auch einen historischen Konnex, d. h. sie tauchen zu einer bestimmten Zeit diskursiv auf und haben eine 8 Standardreferenz sowohl bei Saar als auch bei Andermann ist die Machtbegriffsgeschichte von Röttgers (1990). Vgl. zu Röttgers dynamis-Interpretation (1990), Kap. 2.2. 9 Angesichts der schieren Masse an Publikationen über Foucaults Machtbegriff wird in diesem Teil der Arbeit weitestgehend darauf verzichtet, zu jeder begrifflichen Komponente Debatten- und Diskussionslager abzubilden. Stattdessen habe ich mich für die Strategie entschieden, in erster Linie selektiv Anschlüsse für die hier vorgelegte Interpretation zu kennzeichnen und an gegebener Stelle ergänzende unterstützende Literaturhinweise anzubringen.

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historische Evidenz, bevor sie von Foucault methodologisch als Analysebegriffe eingesetzt werden. 10 Das wissenschaftstheoretische Prinzip der Modellierung von Analysegegenständen wird also von Foucault selbst noch einmal historisch eingeholt. Viele Begriffe der Machtanalytik sind daher eine Art ›DublettenBegriffe‹: Sie haben eine methodologisch abstrahierte und eine empirische, historisch verwurzelte Seite. 11 Die gesamte Interpretation, insbesondere des Begriffskorpus', ist getragen von der Prämisse, dass sich erstens bei Foucault tatsächlich ein systematischer Machtbegriff, und zwar mit zwei Ebenen, herausarbeiten lässt (vs. die These, Foucault habe keinen oder disjunktiv verschiedene Machtbegriffe vertreten 12), und zweitens dieser Machtbegriff in einem komplexen Verhältnis zur Konstruktion von historischen Machtformen steht. Das bedeutet einerseits Machthistoriografie, d. h., die Ergebnisse von Foucaults Machtanalytik und den ihr zugrunde liegenden Machtbegriff soweit es geht heuristisch zu trennen, um die Komponenten des Begriffskorpus' des Machtbegriffs herausarbeiten zu können 13. Andererseits gilt aber auch, die Rekurrenz der Begriffsbildung zum historischen Material und zur Gegenwart stets mitzudenken. Es gilt also zu unterscheiden zwischen den Merkmalen von historischen Machtformen, die Foucault in ihren Funktions- und Wirkweisen in einem bestimmten historischen Kontext in einer bestimmten Gesellschaft, die durch diese Machtform geprägt ist, rekonstruiert (so vor allem in In Verteidigung der Gesellschaft, Überwachen und Strafen und der Geschichte der Gouvernementalität I) und der Konzeption von Macht selbst, die sich in verschiedenen historischen Formen zum Ausdruck bringt. Foucaults Machtbegriff »operiert sowohl auf einer generellen systematischen Ebene als auch auf einer spezifischen historischen Ebene«. 14 Obwohl beide Operationsebenen in einem engen Verhältnis zueinander stehen, sollten sie begriffsanalytisch nicht vermengt werden. Mit Kusch lassen 10 In einem Gespräch merkt Foucault an, dass das gewählte Vokabular von »Kräfteverhältnisse[n]« und »das Wort ›Kampf‹« »sehr stark gebraucht« werde, ohne dass die Worte als solche »als erste und letzte Erklärung für die Analyse von Machtverhältnissen dienen [. . .] können.« (DE III / 195, 270–271). 11 Die Bezeichnung und Charakterisierung als ›Dubletten-Begriffe‹ ist angelehnt an Foucaults terminologisch produktive Bezeichnung der »empirisch-transzendentale[n] Dublette«, die der ›Mensch‹ als zugleich vorausgesetzte Instanz der Erkenntnis (in Kants Kritik der reinen Vernunft die »ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption«, KrV B 132–136) und Gegenstand des physiologisch-funktionalen und sozial eingebetteten Bedingungsapparats der Erkenntnis seit dem Beginn der von Foucault als ›Klassik‹ bezeichneten Epoche einnimmt (OD, 385). 12 Ich danke Andreas Anter für den Hinweis, dass die Arbeitsthese, dass es möglich und begründet sei, einen Machtbegriff aus Foucaults Texten herauszuarbeiten, in der Foucault-Rezeption noch relativ jung ist und erst allmählich immer mehr Anhänger:innen findet. 13 Vgl. zu dieser Herausforderung u. a. auch Detel (2006), 28, Fn. 34. 14 Saar (2007), 206.

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sich genau genommen analytisch vier Dimensionen der Untersuchung von Macht bei Foucault unterscheiden 15: neben dem bereits erwähnten zugrundliegenden Machtbegriff und der historischen Machtanalytik die Methodologie zur Untersuchung von Macht, für die bei Foucault der Ansatz der Genealogie steht, sowie die politische Kritik von Macht. Im Rahmen der diagrammatischen Begriffsuntersuchung werden insbesondere die ersten drei Dimensionen behandelt. Hier stoßen wir auf eine weitere Herausforderung: In der Bestimmung der Komponenten und Elemente des foucaultschen Machtbegriffs wird häufig (erfolgsarm) versucht, die Komplexität des foucaultschen Machtbegriffs und die beiden Operationsebenen durch eine eher lose Auflistung von Begriffselementen und -charakteristika einzuholen. 16 Dagegen versucht die vorgelegte Interpretation, die Elemente und Dimensionen von Foucaults Machtbegriff systematisch und begriffstheoretisch fundiert – in einem heuristischen Sinne: rigoros – als mitunter sehr komplexe Komponenten seines Machtbegriffs zu rekonstruieren und in Beziehung zueinander zu setzen. 17 Herausforderungen in der Rezeption. II: Kontinuität versus Diskontinuität. Foucault hat in der Zeit seiner Vorlesungen am Collège de France jährlich in den Annuaire des Collège Bericht und damit in gewisser Weise auch Rechenschaft über Gegenstand, Fortgang und Ziel seiner aktuellen Forschung gegeben. Darüber hinaus resümierte er häufig in den ersten Sitzungen der Vorlesungen die vorgenommenen, zurückgelegten, z. T. umwegigen Untersuchungsschritte. Unter dem Titel der »methodischen Vorbemerkungen« oder »Vorannahmen« hat Foucault zudem in seinen Texten und Vorlesungen sein Vorgehen und Kusch (1991), 177. Repräsentativ sei hier verwiesen auf die dennoch wertvollen Analysen von Foucaults Machtbegriff von Hans Herbert Kögler (1994) und Marc-Christian Jäger (2008). Kögler unternimmt den Versuch, den Begriff »moderne[r] Macht« »in sieben wesentlichen Definitionsmerkmalen« zu umreißen (Kögler [1994], 91, 89–99). Dazu identifiziert er: Körperbezug, Netzhaftigkeit, relationalen Charakter (= Macht als soziale Beziehung), Dezentralität, Produktivität, Bezug zum Individuum und zu Individuation sowie die Konstitution von Wissen. Diese Elemente sind aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik in erster Linie Elemente des Begriffskorpus (vgl. K6, Kap. 8.4.1). Auch Kögler unterläuft die Differenz von historischer Machtform und Machtbegriff, da er die sieben Charakteristika im Wesentlichen mit den Charakteristika der »modernen Macht« gleichsetzt, Foucault selbst aber immer nur von Disziplinarmacht und Klassik spricht, selten von ›Moderne‹. Jäger (2008) gibt einen sehr ausführlichen und akribisch referenzierten Überblick über die Charakteristika von Foucaults Machtbegriff. Martin Kusch meint eine dreizehnteilige »Definition« von Macht bei Foucault rekonstruieren zu können; dieser Katalog an Definienda operiert allerdings mit vielen Begrifflichkeiten (z. B. »maintenance of privileges«, »accumulation of profits«, »degree of institutionalization«), die m. E. an Foucaults Machtbegriff und Machtdenken vorbeigehen (Kusch [1991], 122–123). 17 Für eine solche Interpretation erweisen sich die Lesarten von Gilles Deleuze (1987), Petra Gehring (2004), Norbert Axel Richter ([2005], 97–146) und Martin Saar (2003b, 2007, 2008a, 2008b, 2013) als äußerst gewinnbringend. 15 16

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die eingeschlagenen »Verschiebungen« (eindrücklich: RSA, 13–21) methodologisch angezeigt und reflektiert. Diese Verschiebungen sollten nicht als ›Brüche‹, ›Verwerfungen‹ oder Markierungen von Anfängen und Enden einer ›Phase‹, sondern vielmehr als Verschiebungen in der Akzentuierung oder Beleuchtung eines Gegenstandfeldes, und somit als Modifikation, Vertiefung oder Neubewertung eines Problems und seiner diskursiven oder begrifflichen Situation betrachtet werden. Im großformatigen Stil hat Foucault auch einige Male retrospektiv seine Forschungsfragen und -themen in »Dimensionen« oder »Achsen« anzuordnen versucht (vgl. z. B. SW 2, 9–21; RSA, 14–20). Man darf darin durchaus Akte der Selbstverständigung oder auch das Angebot zu einer konstruktiven Orientierung über seine Forschungen für seine Zuhörer:innen und Leser:innen sehen. In der Vorlesung Regierung des Selbst und der anderen konzediert Foucault in einem Nebensatz, dass solche Rekonstruktionen und Anordnungen immer auch mit einer »willkürlich[en]« Systematisierung und narrativen ›Glättung‹ der Vielzahl seiner intrinsisch motivierten Forschungsprojekte einhergehe (RSA, 20). 18 Mit anderen Worten: Die Anordnungen sind zugleich immer auch strategische Narrationen (und auch: Sinnfabrikationen) über die zurückgelegten Untersuchungswege inklusive ihrer methodischen und begrifflichen Verschiebungen. 19 Strategische Narration, Selbsterklärung und Selbstverständigung gehen in diesen zahlreichen Ordnungsdarstellungen fließend ineinander über. Angesichts dessen ist die Forschung zum einen gut beraten, den foucaultschen Achsen, so plausibel sie zunächst scheinen mögen, wenn überhaupt, dann nur ein relativiertes Gewicht beizumessen. Zum anderen sollte die Foucault-Rezeption die stetigen (Weiter-)Entwicklungen oder Verschiebungen mitbedenken und in Konsequenz dessen den Interpretationskompromiss eingehen, sich auf bestimmte Wegstrecken zu konzentrieren und dies transparent zu halten. So warnt Arnold I. Davidson bspw. zurecht: »Wer versucht, Foucaults Position zu bestimmen, muß sich also in höchstem Maße bewußt sein, von welchem Punkt in dessen Entwicklung er seine Charakterisierung ableitet.« 20 Die Analytik der begrifflichen Diagrammatik versucht beide Empfehlungen zu befolgen, indem sie bei Foucault einen Machtbegriff herausarbeitet, der sich aus zwei Ebenen oder ›Schichten‹ zusammensetzt, wobei die 18 Da Foucault m. E. an dieser Stelle sehr exemplarisch seine Art der Fortbewegung im Grenzgebiet von Historie und Philosophie schildert, sei sie hier noch einmal in Gänze wiedergegeben: »Nachdem ich diese drei Dimensionen [Veridiktion, Macht und Regierung, Pragmatik des Selbst; L. B.] ein wenig erforscht hatte, stellte sich natürlich im Laufe jeder dieser Untersuchungen – die ich übrigens etwas willkürlich systematisiere, weil ich sie im nachhinein glätte – heraus, daß ich eine Reihe von Dingen beiseite gelassen hatte, die mir aber gleichwohl interessant zu sein schienen und möglicherweise neue Probleme aufwarfen.« (RSA, 20). 19 Schneider (2004a), 23; Kammler (2014), 10–11. 20 Davidson (2003), 192.

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Ebenen die Verschiebung von der Machtkonzeption als Matrix aus verschiedenen Elementen zur Machtkonzeption als Regierung abbilden. Entsprechend wird eine – in der Foucault-Rezeption mittlerweile weit verbreitete – kontinuierliche Lesart gewählt, die begriffliche und methodische Modifikationen, Verschiebungen und Wiederaufnahmen eher als kontinuierliche Arbeit und Auseinandersetzung betrachtet denn als Abkehr oder gänzliches Verlassen von gelegten oder betretenen Pfaden. 21 Herausforderungen in der Rezeption. III: Kraft- und Machtbegriff. In der hier vorgeschlagenen Interpretation bilden Nietzsches Wille-zur-Macht-Lehre auf der Seite der philosophiegeschichtlichen Denkressourcen und die genealogischen Untersuchungen von konkreten historischen Formen und Milieus der Macht auf der ›empirischen‹ Seite die wesentlichen Ressourcen für die Konstruktion des foucaultschen Machtbegriffs. Auf der empirischen Seite sind insbesondere Foucaults Untersuchung der Psychiatrie als neu entstehender Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts und als Anstalt (Die Macht der Psychiatrie, Vorlesung am Collège de France 1973–1974 22), das Gefängnis und die Diskurse und Praktiken der Strafe und der Strafjustiz (Überwachen und Strafen, frz. 1975 23) sowie die Sexualität im 17. bis 19. Jahrhundert (Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, frz. 1976 24) prägend in der Entwicklung seiner Machtkonzeption. Eine weitere interpretationsleitende Prämisse ist, zunächst heuristisch eine Differenz zwischen Kraftbegriff und Machtbegriff anzulegen, um dann das begriffliche Verhältnis beider zueinander präzise bestimmen zu können. In der Foucault-Rezeption wird in der Regel Macht mit Kräfteverhältnissen gleichgesetzt oder sogar synonym verwendet. Der Einsatzpunkt der vorgeschlagenen Interpretation geht hingegen, wie auch bereits bei Aristoteles und Hobbes, von einem Verhältnis der begrifflichen Nähe und Differenz von Macht- und Kraftbegriff aus. Die spezifische Herausforderung der Herausarbeitung der Meta-Physik in Foucaults Machtbegriff besteht also auch darin, das Verhältnis von Kraft- und Machtbegriff zu präzisieren. Insgesamt dürfte die hier vorgeschlagene Interpretation über die nahezu erschöpfenden Interpretationen und Ausdeutungen von Petra Gehring und von Martin Saar, denen sie viel verdankt, kaum hinausgehen. 25 Sie nimmt aber an einigen Stellen Ak21 Kürzlich hat Sarasin die These einer »tiefgreifenden Wende« in Foucaults Denk- und Untersuchungswegen für die Jahre 1977–1979 präsentiert (Sarasin [2019b], 9). Dagegen für eine kontinuierliche Lesart siehe Vogelmann (2017), 3–5. Entschieden abgelehnt hatte bereits Petra Gehring (2004), 10–11, die Einteilung und Einordnung »nach Phasen oder Orientierungsmustern wie ›früh‹/›mittel‹/›spät‹« (ebd., 11). 22 Fortan zitiert mit der Sigle MP. 23 Fortan zitiert mit der Sigle ÜS. 24 Fortan zitiert mit der Sigle SW 1. 25 Gehring (2004); Saar (2007), 204–246.

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zentverschiebungen vor und forciert einen strukturalen Interpretationsansatz, der womöglich Foucault eine Analytizität aufbürdet, die er selbst zwar nicht in dieser Rigorosität angelegt hat, die aber genau dadurch jene theoretischen und konzeptuellen Vermengungen umgehen will, die Foucault selbst in vielen Gesprächen und vielen Anläufen über seine Machtkonzeption auszuräumen versuchte. Philosophischer Zugang: Foucault als diskursiver Randgänger. Die vorliegende Interpretation wählt einen Zugang zu Foucault, der ihn primär als einen Randgänger der Philosophie betrachtet; als einen Denker, der sich – ähnlich wie Derrida, später Butler und Latour und andere poststrukturalistische Denker:innen – auf dem gemeinsamen Rand von Philosophie und angrenzenden disziplinären Diskursen bewegt und jene (traditionell formulierten) Grenzen auch konstruktiv zu verschieben bereit ist. Aus dieser Perspektive bearbeitet und erschafft Foucault Zonen des gleitendenden Übergangs und der Ununterscheidbarkeit zwischen Philosophie, Geschichte und politischer Theorie. Unter den vielen Selbstbeschreibungen und Kartierungen des eigenen Forschungshandelns ließe sich Foucaults diskursive Arbeit und Programmatik auf die transdisziplinäre Formel einer »historische[n] Analyse der [. . .] Politik[en] der Wahrheit« (DE II / 139, 683) bringen, die sich als kritische Theorie oder als »lebendige Philosophie« und »Philosophie[] in Aktion« (DE IV / 285, 136) begreift. Als ein Randgänger der Philosophie und der Historie, der die epistemischen und sozialen Praktiken im Lichte ihrer machtvollen Gewordenheit und Politizität versteht, greift Foucault auf begriffliche und schematische Ressourcen der Philosophiegeschichte zurück, die selbst wiederum in gewissen Traditionen und Trajektorien stehen. Für den foucaultschen Machtbegriff ist es hilfreich, im Hinblick auf sein Verhältnis zur aristotelischen dynamis einen philosophiegeschichtlichen Brücken- oder Bezugspunkt einzuschalten, über den die Trajektorie der dynamis bis zu Foucault zu ziehen ist. Dieser Bezugspunkt ist, wie bereits häufig und zurecht rekonstruiert, und von Foucault selbst markiert, Friedrich Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht. 26 Denn ist die Lehre vom Willen zur Macht als dynamische Philosophie des Werdens in groben Zügen einmal nachvollzogen, fällt es auch leichter, die inhaltliche Interpretationsthese eines engen Bezugs von Machtbegriff, Kraftbegriff und Bewegungskonzept bei Foucault herauszuarbeiten und zu plausibilisieren. Entsprechend wird die diagrammatische Erkundung einen relativ ausführlichen Exkurs in Nietzsches Lehre vom Willen der Macht integrieren. 27 26 Für einen frühen Aufschlag für eine intensive Diskussion um das Verhältnis von Nietzsche und Foucault siehe die Studie von Geiß (1993). 27 Vgl. Kap. 8.3.3 (K5)

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8.2 Denkmilieu 8.2.1 Das historisch-geographische Milieu (K1)

Michel Foucault ist am 15. Oktober 1926 in Poitiers, der Hauptstadt des französischen Départements Vienne, geboren worden und am 25. Juni 1984 in Paris verstorben. Diese biographischen Daten dienen als temporale Eingrenzung des historisch-geographischen Milieus. Das Frankreich der 1920er bis 1940er Jahre steht, wie sämtliche zu der Zeit verbliebenen Groß- und Mittelmächte, in der Erbschaft des ›langen 19. Jahrhunderts‹ 28 und der Verarbeitung des Ersten Weltkrieges. Mit dem Ersten Weltkrieg nimmt ein Zeitalter Gestalt an, das sich aus der Verschränkung des 19. und 20. Jahrhunderts aufsteigend als ein Zeitalter der Katastrophen entpuppen wird. 29 Eine »neue Phase von Kolonialisierung und Dekolonialisierung« folgt auf die »Ablösung der europäischen Pentarchie, [. . .] jener Staatenordnung also, die mit Großbritannien, Frankreich, Russland, der Habsburgmonarchie und Preußen / Deutschland seit dem 18. Jahrhundert die internationalen Beziehungen bestimmt hatte.« 30 Frankreich wird der letzten seiner afrikanischen Kolonien, Algerien, erst 1962 nach einem achtjährigen Unabhängigkeitskrieg die staatliche Souveränität zuerkennen. Der bis zuletzt großkolonial auftretende Staat Frankreich hatte gerade zwei Jahrzehnte zurückliegend noch eine Serie aus Niederlage (1940), Aufteilung, Besetzung, Kollaboration und Widerstand (1940 bis 1944 durch Deutschland) erlebt, aus der er schließlich, eingebunden in einem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland, als Siegermacht hervorgegangen ist. Parallel zu dem Aufgeben, Intensivieren, Reaktivieren und dann doch Auflösen der großen Kolonialreiche als europäisch verankerte und global umspannende Imperien tritt mit dem Auftauchen des kommunistischen Modells als Alternativmodell zur westlichen Demokratie im Zuge der Oktoberrevolution 1917 in Russland eine globale Polarisierung und Aufteilung der Staaten und Gesellschaften zutage, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zu einem Kalten Krieg zwischen ›den Systemen‹ kristallisiert. Innerhalb der neuen, nun systemisch geleiteten Aufteilung der Welt gründet Frankreich 1957 mit seinem ehemaligen ›Erzfeind‹ Deutschland und Belgien, den Niederlanden, Italien und Luxemburg, abgesichert über die Römischen Verträge, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Die äußeren Grenzen und das westliche Europa sind mit der Unterstützung 28 Für eine komprimierte Profilzeichnung des ›langen 19. Jahrhunderts‹ siehe Bauer (2017), vgl. auch Leonhard (2018), 9–28. 29 Leonhard (2018), 28; Hobsbawm (92009), 37–281. 30 Leonhard (2018), 19.

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der Bündnismacht USA befriedet. Im Inneren, aber zugleich mit einer transnationalen Friedensprotest- und Kriegsdynamik verwoben, erleben Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland 1968 »die größte Protestmobilisierung seit der Nachkriegszeit« 31, aus der nicht nur eine Reihe von sozialen Bewegungen, sondern eine ganze Generation erwächst. In diesem Zuge stellen die »außerparlamentarische Opposition« (Rudi Dutschke) und der Aufbau von Gegen-Öffentlichkeiten nicht nur »Bewegung[en] im gesellschaftlichen Raum« dar, sondern sie stellen die Konzeptionalisierung des gesellschaftlichen Raumes und die Konstitution der Gesellschaft selbst zur Disposition. 32 Es ist damit auch die Zeit einer Neuen Linken, der engagierten Intellektuellen und – abstrakt formuliert – der Aushandlung eines neuen Verhältnisses von Theorie und Praxis. Die Neue Linke und die Protestbewegungen verschreiben sich dem Diskurs einer radikalen Abkehr von einer kulturellen Linearität der Gesellschaft: »Die Erfahrung des Krieges hatte uns«, so fasst Foucault eine geteilte Motivation der Engagierten seiner Zeit zusammen, »die Notwendigkeit und die Dringlichkeit einer Gesellschaft bewiesen, die radikal verschieden wäre von jener, in der wir lebten.« (DE IV / 281, 61) 33 Dahinter liegt das Anliegen einer fundamentalen Kritik der politischen und gesellschaftlichen Zustände und Prozesse, das sich im Feld der Theorie als Suche nach neuen Theoriesprachen, Analyseinstrumenten und Begriffen zum Ausdruck brachte. Vor diesem Hintergrund erscheint Foucaults doppelte Arbeit am Begriff der Macht ganz und gar als ›zeitgemäß‹.

8.2.2 Das wissenskulturelle Milieu (K2)

Das wissenskulturelle Milieu der Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich – unter der Maßgabe einer nur sehr kursorischen Orientierung – auf die Formel der Neuverhandlung von Anschauung und Begriff, Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis, Subjektivem und Objektivem bringen. Diese Neuverhandlungen waren ihrerseits angetrieben durch einzelwissenschaftliche Erkenntnisse, allen voran in der Mathematik und Physik, die in ihrer Rahmung nicht ohne die kritische Theorie der Erkenntnis (Transzendentalphilosophie) von Kant zu verstehen sind. Wir werden zunächst auf die fundamentalen Verschiebungen und Neukonfigurationen von wissenschaftlichen Feldern schauen, sodann kurz einen Blick auf Gilcher-Holtey (1998), 533. Maurer (2019), 359, Herv. i. O. 33 Dafür steht nach wie vor exemplarisch das von Deleuze und Foucault geführte Gespräch, das 1972 unter dem Namen »Les intellectuels et le pouvoir« in der Zeitschrift »L’Arc« publiziert wurde. Vgl. die Übertragungen ins Deutsche von Hans-Dieter Gondek in DE II / 106, 382–393, und von Walter Seitter in Deleuze / Foucault (1977). 31

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die wissenschaftlich-technologischen Neuerungen werfen und schließlich einige Kraft- und Kampflinien im Feld der Philosophie skizzieren, insofern sie für das Denken von Foucault relevant sind. Für den ersten Teil erweisen sich die zeitdiagnostischen Beobachtungen und Analysen von Gaston Bachelard (1884–1962) als dankbare Ressource. Zugleich stellen sie selbst einen wesentlichen Referenzpunkt für Foucaults Entwicklung der Archäologie des Wissens dar. 34 Grundlagenwechsel in den Naturwissenschaften. Auf dem Feld der Mathematik und Physik waren Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch das Aufkommen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik rasante Entwicklungen zu verzeichnen. Sie brachten eminente Verschiebungen auf der Ebene der (ihrerseits vorausgesetzten) Grundbegriffe der Materie, Form, Substanz in Richtung einer Abstraktion der Begriffe von jeglicher Anschauung und Erfahrung mit sich. Diese weitreichende Formalisierung bringt sich, so Bachelard, als eine große Negationsbewegung zum Ausdruck, wobei mit Negation weder eine Nivellierung noch eine Revidierung oder Umkehrung gemeint ist, sondern vielmehr eine »echte Erweiterung« und »tiefgreifende Neuheit« in den begrifflichen und axiomatischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Disziplin aufgrund einer methodischen und methodologischen Neuheit. 35 Grob und nominal zusammengefasst ereignen sich Verschiebungen bzw. Erweiterungen von – der newtonschen Mechanik zu einer nicht-newtonschen Mechanik in den Formen einer relativitätsbasierten Physik von Raum und Zeit und einer quantentheoretischen Re-Konzeptualisierung von Materialität und Wirkung auf der Ebene der Mikrophysik 36; – der euklidschen Geometrie (auf die noch Kant seine transzendentale Ästhetik aufbaute) zu einer nicht-euklidschen Geometrie auf dem Feld der Mathematik, die sich bereits mit der Veränderung des Begriffs der Geraden in einer Ebene in den 1830er anbahnte 37; Vgl. zum Verhältnis von Bachelard und Foucault Balke (2014). Bachelard (1978), 13, 14. Die Negationen in z. B. ›nicht-euklidisch‹, ›nicht-newtonisch‹ baut Bachelard zu einer wissenschaftsphilosophischen »Philosophie des Nein« aus, in der die wissenschaftliche Erweiterungsverschiebung mit einer Veränderung der Erfahrung im Rahmen einer Phänomenologie des wissenschaftlichen Geistes verbunden ist: »Vor allem muss man sich darüber im Klaren sein, daß die neue Erfahrung nein zur alten Erfahrung sagt, denn ohne dies handelt es sich ganz eindeutig nicht um eine neue Erfahrung. Aber dieses Nein ist niemals endgültig für einen Geist, der seine Prinzipien in einen dialektischen Prozeß zu bringen vermag, der es versteht, in sich selbst neue Arten der Evidenz zu begründen und ein Erklärungsinventar zu bereichern, ohne etwas zu privilegieren, was als natürliches Erklärungsinventar geeignet erschiene, alles zu erklären« (Bachelard [1978], 24, Herv. i. O.). 36 Ebd., 45–134. 37 Ebd., 24–44. 34 35

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– der substanzialistischen Chemie, die lange eine unreflektierte, naiv-realistische Substanzkategorie zugrunde legte und sich in der Lavoirsier'schen Nomenklatur manifestierte, zu einer energetisierten, nicht-lavoirsierschen Chemie 38; – einer aristotelisch figurierten Logik zu einer polyvalenten nicht-aristotelischen Logik 39; – einer cartesischen Epistemologie, die ein stabiles Objekt und ein ebenso monolithisches Subjekt als Pole der (wissenschaftlichen) Erfahrung setzte, zu einer nicht-cartesischen Epistemologie, in der alle (wissenschaftliche) Erfahrung über eine methodisch angeleitete Erzeugung der Gegenstände und ihrer »künstliche[n] und komplexe[n] Wahrheiten« verläuft. 40 Die Erweiterungen reflektieren allesamt zwei fundamentale methodologische Einsichten, die wiederum eine veränderte wissenschaftliche Ontologie und Metaphysik nach sich ziehen: zum einen die Eigenschaft der Historizität wissenschaftlicher Erkenntnis, zum anderen den Erzeugungscharakter wissenschaftlicher Tatsachen und Wahrheiten. Beides wiederum erfordert eine veränderte – genauer: erweiterte – Konzeption von Realität und wissenschaftlichem Realismus. Das Rationale ist nun nicht mehr das reine Denken als Erkennen des Objektiven, sondern Realisierung; das Reale wird prozessualisiert und technisiert, der wissenschaftliche Realismus wird zu einem »technischen Realismus«. 41 Eine zentrale Rolle für die Re-Konzeptualisierung von Realität spielten die Erkenntnisse auf der Ebene der Mikrophysik durch jene Experimental- und mathematischen Gleichungssysteme, die mit den Arbeiten von Erwin Schrödinger, Niels Bohr, Max Planck, Werner Heisenberg und Max Born verbunden sind. Der Analyse von Bachelard inhaltlich ähnlich, aber mit einem lebensweltlich-phänomenologischen Argument, charakterisierte Husserl bereits 1936 unter dem Titel »Die Krisis der europäischen Wissenschaften« die Formalisierung in den Naturwissenschaften als »Technisierung«, die in eine »Sinnentlehrung«

Ebd., 67–110. Ebd., 123–153. 40 Ebd., 170, vgl. 16–19. Der Grundgedanke ist folgender: Alle untersuchten Phänomene der Wissenschaft, alle »wissenschaftliche Realität« und »wissenschaftlichen Tatsachen« sind als solche durch methodisch angeleitete Beobachtungen und erst recht im Kontext des Experiments durch die Beobachtungsinstrumente Erzeugtes, Produziertes. Insofern die Beobachtungen auf Instrumenten basieren und die Instrumente »nichts anderes als materialisierte Theorien« darstellen, werden die Phänomene »in die Gußform der Instrumente« bzw. der Theorien gegossen; wissenschaftliche Beobachtung als Form der Erfahrung (»Phänomenologie«) ist daher, so Bachelard, »ihrem Wesen nach Phänomenotechnik« (ebd., 18). 41 Ebd., 7–23, hier: 11. 38 39

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der Wissenschaften führe, d. h. in eine Abkoppelung von der originären Verwurzelung der Wissenschaft in der Lebenswelt. 42 Wissenschaft und Technik. Der ›technische Realismus‹ zeigte sich nicht nur als Realismuskonzeption, sondern auch als Programmatik der Anwendung in der Konstruktion technowissenschaftlicher Apparaturen, Kriegswaffen und Kommunikationssysteme. Letztere sind getragen von dem mathematisch-informatisch-biologischen Unternehmen der ›Kybernetik‹ und der Computerisierung von Rechenoperationen. Mit der Kybernetik und der ihr verwandten ›Systemtheorie‹ avancieren Begriffe der Steuerung, Regelung, Beobachtung, Kommunikation und Kopplung zu transversalen paradigmatischen Begriffen in den Sozialwissenschaften und den sich formierenden Medienwissenschaften. Das Technische, Technologische und Mediale gerieren zum eigenen Forschungsgegenstand, sowohl im Hinblick auf ihre Folgen, ihre politisch-rechtliche Regulation, als Treiber oder Determinanten der Gesellschaft oder hinsichtlich der ihnen eigenen metaphysischen Implikationen. Philosophie und (Wissens-)Geschichte. Die sich formierende ›französische‹ Philosophie dieser Zeit lässt sich mit Hegel als auf den Begriff gebrachter Ausdruck ihrer Umbruchs-Zeit verstehen. Denn im Feld der Historischen Epistemologie, Wissen(schaft)sgeschichte und Wissenschaftsphilosophie entwickelte sich ein bedeutsamer Strang, der die Umbrüche in den Naturwissenschaften seit der frühen Neuzeit theoretisch einzuholen bemüht war. Hier können exemplarisch die Arbeiten von Gaston Bachelard, Alexandre Kojève sowie Georges Canguilhem 43, Foucaults Lehrer und Gutachter seiner Thèse, angeführt werden. Die wissenschaftsgeschichtliche und historisch-epistemologische Fokussierung auf Umbrüche, Transformationen des Wissens und ›Paradigmenwechsel‹ (Kuhn) fand ihr Pendant in der Disziplin der (allgemeinen) Geschichte in der Programmatik der Gruppe um die Zeitschrift Annales, eine von Lucien Fabvre und Marc Bloch 1929 gegründete Zeitschrift. Die Annales, sowohl Synonym für eine ›Schule‹, ein Autor:innen-Kollektiv, ein methodologisches »Projekt« und eine spezifische »Verknüpfung von Theorie und Praxis« 44, versuchte Husserl (2012). Canghuilhems Position als Knoten- und Referenzpunkt nahezu aller bedeutend werden den Nachwuchsphilosoph:innen der 1960er lässt sich kaum überbewerten, vgl. Erdur (2013). Eine ähnlich zentrale Bedeutung für das politische Denken der 1960er und 1970er sollten die Auseinandersetzungen mit dem Marxismus und die Marx-Lektüren von Luis Althusser (Für Marx, Kapital lesen, zusammen mit Étienne Balibar, beide 1965) einnehmen. Auf seine Beziehung zu Bachelard befragt, antwortete Foucault, dass er sich nicht als dessen Schüler bezeichnen würde, er aber »[a]uf dem Gebiet der Wissenschaftsphilosophie« »am meisten« von Canguilhem beeinflusst gewesen sei (DE IV / 281, 70). Zum Verhältnis von Foucault und Canguilhem als einem »dialogue continu« siehe Lamy (2014), hier: 119. 44 Vgl. Schöttler (2015), 18; Burguière (2006). 42 43

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durch Integration von sozialwissenschaftlichen Methoden Geschichte als Folge von Serien und Diskontinuitäten zu beschreiben. Das Annales-Projekt wendete sich damit von dem vorherrschenden geschichtswissenschaftlichen Ansatz ab, Beschreibungen und Erklärungen ausschließlich über Akteurshandeln, Institutionen und Ereignisse aufzustellen. Der nun gewählte transdisziplinäre Fokus auf Diskontinuität sollte allerdings nicht mit einem Aufgeben der Kategorie der Kontinuität verwechselt werden, vielmehr ging es um eine methodologische Neubestimmung von historischer und begrifflicher Kontinuität und Diskontinuität überhaupt. Die institutionelle Philosophie war von den 1930ern bis um 1960 von der breiten Rezeption der »Drei H« – Hegel, Hussel, Heidegger – und den großformatigen Denkansätzen der Hegel'schen Subjektphilosophie, der Phänomenologie und des Existenzialismus geprägt. 45 Foucault beschreibt die Situation der Philosophie dieser Zeit als einen »stark phänomenologisch und existentialistisch geprägte[n] Hegelianismus, in dessen Mittelpunkt das Thema des unglücklichen Bewusstseins stand.« (DE IV / 281, 60) 46 Für die nachfolgende Generation an Philosoph:innen und Denker:innen um Foucault, Deleuze, Derrida sollte es demgegenüber genau darum gehen, »Hegel zu entkommen« (ODis, 45), denn das Subjekt und seine metaphysischen und phänomenologischen Grundlegungen waren zum Problem geworden. 47 Die Kategorien des Subjekts und des Bewusstseins wurden dann auch jene Dreh- und Angelpunkte, um die sich, rückgreifend auf die Trias Marx, Nietzsche, Freud, eine große transdisziplinäre Dezentrierungsbewegung ereignete. 48 Mit der Dezentrierung und Dekonstruktion des Subjekts stellte sich auf einer ontologischen wie epistemologischen Ebene die Frage nach dem Verhältnis von Identität und Differenz. Auf einer Ebene, die man die methodologische Einstellung nennen könnte, brach sich die neue Weise und Praxis der Philosophie in einem dem Modus von »Antiautoritarismus, Antisystematik und Antihermeneutik« Bahn. 49 Für Descombes (1981), 11, Herv. i. O.; vgl. DE IV / 281, 60–61. Für die aufblühende Hegel-Rezeption nach Ende des zweiten Weltkriegs war die Übersetzung von Hegels Phänomenologie des Geistes durch Jean Hyppolite maßgeblich, sowie die Vorlesungen und die Thèse von Hyppolite (1947). Auch Foucault besuchte die Kurse von Hyppolite im Zuge seiner Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung in die École Normale in der Rue d’Ulm in Paris und sollte später nicht öffentliche Reminiszenzen an seinen Lehrer scheuen, siehe ODis, 45–49. Vgl. zur Rolle Hyppolites in der französischen Philosophie der Nachkriegsjahre auch Eribon (1999), 41–50. 47 Nahezu poetisch fasst Foucault den Kampf mit der Hegel’schen Philosophie: »Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.« (ODis, 45) 48 Vgl. Descombes (1981), 11–12. 49 Boutin (2015), 3. 45 46

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diese Neuverhandlung der Form und Weise Philosophie zu betreiben, dienten die Verschiebungen in den umliegenden Disziplinen – die differenztheoretische Linguistik (Saussure), die strukturalistische Psychoanalyse (Lacan), die neuen Paradigmen und Theorien in der Physik, Mathematik und Biologie – und die (experimentelle) Literatur als begriffliche, theoretische und performative Ressourcen. Darin nimmt, sowohl was den »Abbau einiger in der Tradition verankerter philosophischer Begriffe« als auch was »den Aufbau einer neuen Konzeption der Machtverhältnisse« 50 und eine metaphysikkritische Grundhaltung betrifft, für einen Großteil der literarisch, philosophisch und historisch Engagierten Nietzsches Werk eine Zentralstellung ein. 51 Zusammenfassung. Insgesamt ist das wissenskulturelle Milieu von mehreren deflationären Bewegungen, der Desubstanzialisierung, Deontologisierung und Dezentrierung des Individuums und der wissenschaftlichen Gegenstände, geprägt. In der wissenskulturellen Komponente zeichnen sich daraus bereits wesentliche Inhalte für das Begriffsmilieu und den Begriffskorpus von Foucaults Machtbegriff ab: eine Zentralstellung der Kategorie des Subjekts, philosophische Gegenbewegungen, für die Nietzsche einen geteilten Referenzpunkt bildet, Orientierungen und Integrationen von begrifflichen Innovationen aus anderen, bevorzugt naturwissenschaftlichen Disziplinen bzw. Wissensfeldern.

8.3 Begriffsmilieu I 8.3.1 Metatheoretische Rahmung (K3)

Erkenntnisinteresse. Mit Foucault wird häufig ein »anti-systematische[r] Gestus« 52 verbunden. Diese Charakterisierung ist insofern zutreffend, als es Foucault nicht um den Entwurf einer Großtheorie im Sinne bspw. einer luhmannschen Systemtheorie, einer Metaphysik oder eines deduktiv aufgebauten Thesen- und Methodenkonvolut geht. Eine systematische Vorgehensweise und damit ›Systematizität‹ kann Foucault hingegen sehr wohl zugeschrieben werden, wenn darunter ein zielgeleitetes Aufschließen der Konstitutions- und Entstehungsbedingungen der untersuchten Gegenstände verstanden wird, das sich zudem auf ein Set an – gleichwohl aus den empirischen Gegenständen (Diskursen, Diskursbedingungen, Praktiken, Mechanismen) entwickelten – ›meNigro (2017), 186, Herv. i. O. Vgl. die wertvolle Textzusammenstellung von Werner Hamacher Nietzsche aus Frankreich (2007), die Texte zu Nietzsche aus den 1950er bis 1980er Jahren u. a. von Georges Bataille, Pierre Klossowski, Michel Foucault, Jacques Derrida und Philippe Lacoue-Labarthe versammelt. 52 Leanza (2010), 131. 50 51

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thodischen Leitlinien‹ (Foucault nennt sie gern ›Vorkehrungen‹) stützt. Häufig wird übersehen, dass Foucault seine Analysen an Leitlinien ausrichtet, die das methodische Kondensat ganz im weiten griechischen Sinne des Wortes als methodos (µέθοδος) verstehen, d. h. als Linien zum ›Abschreiten‹, ›Nachgehen‹, ›Voranschreiten‹. Dieses Fortschreiten ist allerdings nicht eine Fortbewegung im Denken, obwohl er sich in die »Geschichte der Denksysteme« 53 hineinbohrt, sondern eine Fortbewegung im Archiv, genauer: in den Archiven der Wissenschaften, der Literatur und Malerei. Foucaults Erkenntnisinteresse lässt sich so gesehen als ›methodisch-narrativ‹ charakterisieren. Seine Untersuchungen stellen den »Versuch einer Kartierung, de[n] Versuch einer Neuordnung, – oder auch: ein Erzählversuch« dar. 54 Das narrative Erkenntnisinteresse spiegelt sich auch in Foucaults metatheoretischer Grundoperation wider. Sie besteht darin, zuallererst die Sphäre der Theoriekonstruktion weitestgehend, aber niemals in Gänze, zu verlassen, um das Feld der empirischen Untersuchungen aufzusuchen und von dort aus materialgeleitete Analyseraster und Modelle zu entwickeln. Auf diese Weise unterwandert Foucault mit theoriepolitischer Verve das Erkenntnisformat der totalisierenden und universalisierenden Theorie und substituiert es durch historische Untersuchungen der Entstehung, Herkunft und Genese von Dingen. Archäologie. Für Foucault bilden sowohl die Bewegungen der Entstehung, die präfigurativen und konstitutiven Bezüge, Kräfte und Wirkungen von Dingen, Praktiken und Aussagen, als auch die konkreten Gewordenheiten, die positiven Gegenstände bzw. ›Positivitäten‹ 55 seiner ›empirischen‹ historischen Untersuchungen. 56 Aus dieser Untersuchungsperspektive sind weder die Gegenstände der Erkenntnis noch die der wissenschaftlichen Untersuchung als solche gegeben oder vorab determiniert, sondern von und in einer historischsozialen Konstellation in einem epistemisch-politischen Feld (mit)konstituiert. Foucaults ›empirische‹, materialgeleiteten Untersuchungen im Archiv zeichnen sich ihrerseits selbst immer durch einen selektiven Zugriff aus. Diese »Probebohrungen« (SW 1, 7, Vorwort) im stets immanent, nicht fundamental gedachten ›Untergründigen‹ führt Foucault zunächst unter der eher wissens53 So lautet die eigens für Foucault geschaffene Denomination des von Canguilhem übernommenen Lehrstuhls am Collège de France (1970–1984). 54 Gehring (2004), 155. 55 In archäologischer Hinsicht sind Positivitäten »das, wovon ausgehend kohärente (oder nicht kohärente) Propositionen gebaut, mehr oder weniger genaue Beschreibungen entwickelt, Verifizierungen vollzogen und Theorien entfaltet werden.« (AW, 258). 56 Foucault ging es nicht, wie fälschlicherweise häufig behauptet wird, um Bedingungen der Möglichkeit, sondern um Bedingungen der Existenz des Auf- und Abtauchens von Aussagen, Dingen, Praktiken. Das ist, wenn man so will, Foucaults historische Positivierung von Kants transzendentaler Blickrichtung.

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geschichtlichen Rahmung einer ›Archäologie‹ und später auch in der sozialanalytischen Rahmung der ›Genealogie‹ durch. 57 Die Archäologie verortet Foucault in einer Disziplin, die er als »Epistemographie« zu bezeichnen vorschlägt, worunter er die »Beschreibung der Diskurse, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als wissenschaftliche Diskurse funktionierten und institutionalisiert waren« versteht (DE II / 76, 35, Herv. i. O.). Innerhalb der Epistemographie unterscheidet Foucault nun vier Ebenen, für die er jeweils auch exemplarische Vertreter:innen ausmacht: (i) eine »epistenomische Ebene«, die die internen Normierungen einer wissenschaftlichen Disziplin untersucht, was Michel Serres am Beispiel der Mathematik gezeigt habe; (ii) eine »epistemokritisch[e]« Ebene, die die Validierungsverfahren und damit die Wahrheitsfähigkeit von wissenschaftlichen Aussagen überprüft, hier verortet Foucault das Unternehmen von François Dagognet; (iii) eine »epistemologisch[e]« Ebene, die »die Analyse der theoretischen Strukturen eines wissenschaftlichen Diskurses, die Analyse des begrifflichen Materials, die Analyse der Anwendungsfelder und der Gebrauchsregeln dieser Begriffe« unternimmt, so bspw. Canguilhems Untersuchung zur Geschichte des Reflexbegriffs; und schließlich (iv) eine Ebene, die Foucault unbenannt lässt, die aber im Grunde auf seine Archäologie referiert. Die ›epistemographische‹ Archäologie macht sich zur Aufgabe, ›unterhalb‹ der geltenden Normen, Validierungsverfahren, Begriffsbildungen und -verwendungen und ›unterhalb‹ der wissenschaftlichen disziplinären Diskurse »die Transformationen der Wissensfelder« selbst zu untersuchen. 58 Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive lässt sich Foucaults Erkenntniseinstellung formal als eine Art praxeologischer epistemographisch und sozial orientierter Konstruktionismus verstehen. Denn die Diskurse bilden in seiner Konzeption eine Gesamtheit von regelhaften anonymen, nicht personalen Praktiken, wobei ein Diskurs als Praxis je »eigene[] Formen der Verkettung und der Abfolge besitzt.« (AW, 241) 59 Foucaults praxeologischer Konstruktionismus ist in materialer Hinsicht mit einem Anti-Fundamentalismus und einem »Primat der Kontingenz« 60, d. h. einem ausbleibenden Gründungsprinzip (z. B. das menschliche Subjekt, die Vernunft) und der geschichtsphilosophischen Minimalthese der Nicht-Notwendigkeit des historischen Verlaufs bzw. sozialen Werdens, verbunden. 57 Vgl. zur inhaltlichen Beschreibung der Archäologie Kap. 8.3.2 (K4) und der Genealogie Kap. 8.3.3 (K5). 58 Ebd., 35–36, Herv. i. O.; vgl. Davidson (2003). 59 Ulrich Johannes Schneider bringt es folgendermaßen auf den Punkt: »Diskurse sind Praktiken, Praktiken sind diskursiv: Das ist die conditio moderna, welcher Foucault mit seiner Forschungsmethode ›Archäologie‹ gerecht werden wollte« (Schneider [2003], 222, Herv. i. O.). 60 Struwe (2019), 146.

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Wissen, Erkenntnis, Wahrheit und wissenschaftliche Praxis. Mithilfe der vorangegangenen Ausführungen zur Erkenntniseinstellung werden auch die spezifischen Konzeptionen plausibel, die Foucault von Wissen, Erkenntnis, Wahrheit und wissenschaftlicher Praxis entwickelt und die seine gesamten Untersuchungen prägen. Wichtig ist zunächst einmal die Unterscheidung von Wissen und Erkenntnis, deren Verhältnis zueinander Foucault als Bedingungsverhältnis qualifiziert: Wissen ist für Foucault die Existenzbedingung für wissenschaftliche, d. h. wahrheitsfähige Erkenntnis. 61 Unter Wissen versteht Foucault in einer archäologischen Akzentuierung die Menge derjenigen »Elemente« – Begriffe, Gegenstände, formale Kriterien der Wahrheit und Wissenschaftlichkeit –, die von einer diskursiven Praxis regelmäßig gebildet und für die Konstitution einer Wissenschaft unerläßlich sind (AW, 259). In pragmatisch-kritischer Hinsicht versteht Foucault Wissen als einen »Prozess, der es gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig das Objekt zu konstruieren.« (DE IV / 281, 71) Nicht alles Wissen muss in Wissenschaften aufgehen, jedoch kann es Wissen nicht »ohne definierte diskursive Praxis« (AW, 260) geben. So wie also Wissen für Foucault immer diskursiv ist, d. h. durch einen spezifischen Korpus an Aussagen und Regeln bestimmt, so ist auch Erkenntnis von einem spezifischen Wissen bestimmt bzw. bedingt. Aber anders als das Wissen ist Erkenntnis an ein Subjekt als dessen »Arbeit« rückgebunden: »Erkenntnis ist die Arbeit, die es erlaubt, die erkennbaren Objekte zu vermehren, ihre Erkennbarkeit zu entwickeln, ihre Rationalität zu verstehen, bei der jedoch das forschende Subjekt fest und unverändert bleibt.« (DE IV / 281, 71) Wissensgenese und Erkenntnisarbeit laufen wiederum in der wissenschaftlichen Praxis zusammen, die in den Wissensprozessen den Ort und Rahmen der Erkenntnis festlegt. Denn unter wissenschaftlicher Praxis versteht Foucault »eine bestimmte Art, Diskurse zu regeln und zu konstruieren, die einen bestimmten Objektbereich definieren und zugleich den Platz des idealen Subjekts festlegen, das diese Objekte erkennen soll und kann« (ebd., 84). Zusammengefasst bedeutet die Analyse von Wissen, Diskursen und Erkenntnis für Foucault, nach der Konstituierung von Subjekten und Objekten einerseits und der Relation von Subjekten und (Wissens-)Objekten andererseits zu fragen. Der Fokus auf die Konstituierung von Subjekten und Objekten ist wiederum von einer zugrundeliegenden Vorstellung der Prozessförmigkeit bzw. Bewegungsförmigkeit derselben getragen. Dass in der Konstituierungsanalyse die Fäden bei Foucault am Ende immer auf die Frage oder das Problem des Subjekts zulaufen, werden wir unter dem 61 Vogelmann (2017), 6. Gegen diese Interpretation argumentiert Schneider (2003), 222, dass es Foucault nicht um Bedingungen ginge, sondern dass Foucault »nach Bezügen und Verknüpfungen« frage. Die Bezüge sind m. E. bei Foucault tatsächlich nicht als harte Bedingungen im Sinne physikalischer Determinanten, jedoch als bedingende Bezüglichkeiten zu verstehen.

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Gesichtspunkt des Problemkomplexes näher erkunden, auf den die Bildung des Machtbegriffs antwortet (K4). Zunächst sei noch weiter Foucaults methodologisches Setting erkundet. Methodologie und Kartographie. In Foucaults Konzeption von Wissen und wissenschaftlicher Praxis, aber auch in seinen eigenen methodischen Leitlinien, reflektiert sich ein bestimmtes methodologisches Verständnis oder auch eine implizite Konzeption von ›Systematizität‹, die sich in der historischen Typisierung von Wissenskonzeptionen von Hoyningen-Huene 62 genau verorten lässt. Hoyningen-Huene macht vier Phasen in der Geschichte der Wissenskonzeptionen aus. So hat sich in der frühen Neuzeit, zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die Vorstellung eines weitgehend geteilten Methodenideals und einer philosophischen Konzeption von Wissenschaft als ein bestimmtes, regelgeleitetes deduktives und induktives Vorgehen installiert (Phase 2 der Wissenskonzeptionen). 63 Die Anwendung einer solchermaßen konzipierten »wissenschaftlichen Methode« führe zu einer spezifischen Art wissenschaftlichen Wissens. 64 Die methodologische Vorstellung des methodisch erreichbaren, gesicherten Wissens hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den bereits beschriebenen Umbrüchen in den Naturwissenschaften zu derjenigen Vorstellung verschoben, dass es in den Naturwissenschaften und der Mathematik weder eine kategoriale Wahrheit noch ein gesichertes Wissen gebe, Wissen und Wahrheit also vielmehr immer historisch bedingt seien (Phase 3 der Wissenskonzeptionen). Und schließlich habe sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts transdisziplinär die Konzeption eines hypothetischen und falsifizierbaren Wissens durchgesetzt (Phase 4 der Wissenskonzeptionen). 65 Foucault steht in methodologischer Hinsicht genau an diesem Schwellenpunkt von der dritten zur vierten Phase der Wissenskonzeptionen. Er gibt seiner Vorgehensweise durch besagte Leitüberlegungen oder Vorannahmen einerseits Systematizität und einen regelund hypothesengeleiteten Rahmen, der ihm als eine Art Wegführung, Okular und zugleich Konstituens durch das Feld der Positivitäten dient. 66 Andererseits aber entwickelt er aus dem Material überhaupt erst induktiv, in einem Wechselspiel aus Leitüberlegung und lokaler, regionaler Modellbildung, jene Analyseraster, die einen Teil der Wegführung ausmachen und damit auch als Instrumente der Intelligibilisierung fungieren. Die Gegenstände geben, wenn Vgl. Hoyningen-Huene (2008), (2013). Hoyningen-Huene (2013), 3–6. Auf diese Phase wurde bereits in dem wissenskulturellen Milieu von Hobbes eingegangen, vgl. Kap. 7.2.2 (K2). 64 Ebd., 3–4. 65 Ebd., 5–6. 66 Mit der ostentativen Verwendung von methodologischer Terminologie wollte sich Foucault vermutlich auch eine breite Dialogfähigkeit seiner eher idiosynkratischen Ansätze sichern. 62 63

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man so will, die Marschroute vor. Vor diesem Hintergrund lassen sich seine Untersuchungen auch als groß angelegte, auf eine nahezu versessene Detailschärfe abstellende Kartografie-Arbeit verstehen, die die feldartigen Untergründe, die »bebenden Sockel« aus Aussagen (Archäologie) und Kräfteverhältnissen (Genealogie), archivarisch re-konstruiert und in ihren Ausmaßen zugleich streng abgesteckt und historisch kartiert. 67 Diese kartografische Arbeit, die in ihrem Abschreiten immer auch Anordnungen trifft, ist an sich nicht wiederholbar, worauf Gehring als eine der wenigen zu Recht hingewiesen hat. 68 Methode und Kritik. Foucaults Kartographien sind immer auch als kritische Interventionen in die Gegenwart intendiert. 69 Denn was Foucault einmal über sein Buch Histoire de la Folie erklärend anführt, lässt sich auch verallgemeinernd für seine Untersuchungen sagen: Sie dienen als »Lesart der Wirklichkeit [. . .], die einen Wahrheitseffekt auslöst, der dann seinerseits als Instrument in möglichen Kämpfen eingesetzt werden kann« (DE III / 238, 793). Ihm gehe es darum, »eine Realitätsschicht [zu] entziffern, damit die Kraftlinien und die wunden Punkte deutlich werden, die Punkte möglichen Widerstands und möglicher Angriffe, die gebahnten und die zurückgelegten Wege« (ebd.). Foucault will daher seine eigenen zurückgelegten Wege auch als Wegbereitungen weiterer Widerstände verstanden wissen. In dem für das Foucault-Verständnis zentralen Vortrag »Was ist Kritik?« (1978) verknüpft Foucault die Elemente der kartografischen Wegbereitungen als Eröffnung von Widerständen auf der Ebene der Diskurse – hier unter dem Titel des »Ereignishaftmachens« – mit der Analytik der Macht und der philosophischen »Haltung« der Kritik zu der Formel, Kritik sei »die Kunst nicht auf diese Weise regiert zu werden« (WK, 12). Für diese Konzeption von Kritik, die historische Wissensgenese und Machtanalytik elementar verschränkt, bedarf es einer spezifischen »historisch-philosophische[n] Praktik« (ebd., 26), die weder in der Philosophie noch in der Geschichte gänzlich aufgeht, sondern in einem Zwischenbereich ihre Wege sucht, aufbaut und abschreitet. Dabei werden der Philosophie »empirische Gehalte«, der Histo67 Vor diesem Hintergrund ist auch Deleuzes Charakterisierung von Foucault als »neuer Archivar« (Archäologie) und als »neuer Kartograph« (Genealogie) zu verstehen (Deleuze [1987]). 68 Gehring (2004), 155; vgl. Ewald (1990), 91. 69 Exemplarisch charakterisiert Foucault die Geschichte des Gefängnisses, die er in Überwachen und Strafen vorlegt, nicht als »Rekonstruktion des Gesamtphänomens« (ÜS, 43, Fn. 23), sondern als eine »Geschichte der Gegenwart« der Strafe (ebd., 43). »Die berühmte Formel von der ›Geschichte der Gegenwart‹«, präzisiert Martin Saar, meint genau das: »Diese Geschichten sind einschlägig, treffend und nicht nur Geschichte, weil sie die Vorgeschichte ›unserer‹ Gegenwart, unserer Überzeugungen und unserer Normen sind«; die Geschichten der Gegenwart sind solche Geschichten, die »[e]ffektiv und wirkungsmächtig« für die Gegenwart sind (Saar [2003b], 164). Es sind Geschichten von Ereignissen und Diskursen, deren Trajektorien in der Gegenwart eine Nachdrücklichkeit zeichnen

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rie die philosophischen Probleme des Subjekts und der Wahrheit zugespielt (WK, 26–27). 70 Im Rahmen dieser ›historisch-philosophischen‹ Praktik erhalten die Begriffe Wissen und Macht eine »methodologische Funktion« (ebd., 32). Macht und Wissen werden zu »Analyseraster[n]« (ebd., 33) eines, disziplinär betrachtet, kritischen Grenzganges. Dieser kritische Grenzgang wiederum entspringt als historisch-philosophische Praktik einem Gestus, oder wie Foucault sagt: einem »philosophische[n] ethos« der Moderne, das sich als aufklärerische »Grenzhaltung« charakterisieren lässt (DE IV / 339, 702, Herv. i. O.; vgl. WK, 48). Foucault stellt sich damit selber in die kantische Tradition des kritischen Denkens, das dem europäischen Projekt der Aufklärung folgt. 71 Zusammenfassung. Unter dem Gesichtspunkt der metatheoretischen Grundlagen haben wir erkundet, welche Erkenntniseinstellung, methodologische Grundstellung und Wissenskonzeption Foucaults Untersuchungen anleiten. Foucaults Untersuchungen lassen sich im Kern als Konstituierungsanalysen 72 verstehen, die mit einem wissenschaftstheoretischen Konstruktionismus und Antifundamentalismus korrelieren. In diesen Konstituierungsanalysen fungieren die Begriffe von Macht und Wissen als zentrale Analyseraster. Damit wird auch klar, was nicht in Foucaults anvisiertem oder überhaupt bearbeiteten Themenbereich und Theorieformat liegt: Foucault ist weder bestrebt, eine Theorie der Gesellschaft oder Macht, noch eine Metaphysik oder allgemeine Ontologie der Welt oder des Sozialen zu entwerfen. Foucaults Grundmodus ist derjenige der Analyse am historischen Material. Sein methodologischer Rahmen verpflichtet sich also mehr auf eine Empirie-Geleitetheit denn auf eine Theorie-Basis. Insgesamt zeichnen sich Foucaults Untersuchungen und Modi der Untersuchung, die er Archäologie und Genealogie nennt, durch eine Form von Systematizität aus, die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nach sogar typisch war, nämlich der Betonung der Historizität von wissenschaft70 Darin drückt sich wiederum eine Art metaphilosophische Politik und Praxis aus. In diesem Sinne skizziert Foucault auch die Aktivität der Philosophie: »Die Verschiebung und Transformation des Denkrahmens, die Veränderung der überkommenen Werte, die ganzen Bemühungen, anders zu denken, zu handeln und zu sein – all das ist Philosophie.« (DE IV / 285, 136) Vgl. zur metaphilosophischen Politik am Beispiel von Bruno Latours philosophisch-anthropologischen Grenzgängen Buhr (2019). 71 Der Titel »Was ist Kritik?«, mit dem das Manuskript zum Vortrag in der deutschen Übertragung und Publikation im Merve Verlag 1992 versehen wurde, stammt nicht von Foucault. Die Herausgeber von Dits et Ecrits haben den Text nicht aufgenommen, da er aus ihrer Sicht einen nicht von Foucault autorisierten Text darstellt. Auf Französisch erschien er 1990 im Bulletin de la Société française de philosophie unter dem Titel »Qu’est-ce que la critique? (critique et Aufklärung)«, siehe zu den Hintergründen der Textpublikation zur Kritik und Aufklärung ausführlich Geuss (2003), 145, Fn. 2. 72 Ich danke André Brodocz für den Hinweis, dass der bewegungsorientierte Term »Konstituierungsanalyse« Foucaults Methode besser erfasst als »Konstitutionsanalyse«.

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lichem Wissen und der Geltung und Produktion von Wahrheit. Foucaults Machtbegriff sind durch die metatheoretische Rahmung zwei fundamentale Aspekte eingeprägt: zum einen die methodologische Rahmung als Begriff der historisch-philosophischen Analyse, zum anderen die kritische und politische Rahmung und Motivation, mit den Untersuchungen der Konstituierungsprozesse, und damit der kontingenten Gewordenheit von Dingen und Diskursen, den Blick für das Anders-Möglichsein der Gegenwart und das Anders-Möglichwerden der Zukunft zu schärfen.

8.3.2 Problemkomplex (K4)

Der ausgängige Fragekomplex. Als das grundlegende Problem, auf das die Bildung des foucaultschen Machtbegriffs antwortet, identifiziert der hier vorgelegte Interpretationsansatz jenen großen Fragekomplex, der seinen Ausgang in zweien der bekannten Fragen Kants nimmt: »Was kann ich wissen?« und »Was ist der Mensch?«. Genealogisch gewendet werden diese Fragen zu: ›Auf welche Weise wird ein Mensch zum Subjekt‹?, ›Woher rührt die Unterwerfung des Menschen zum Subjekt?‹ und ›Welche Kräfte erstreiten die Wahrheit über den Menschen?‹ (DE IV / 306, 269–270). Im Aufgriff der Frage nach dem Subjekt ist Foucault, wie bereits angedeutet 73, ganz Kind seiner philosophisch-diskursiven Zeit. Der Problemkomplex des menschlichen Subjekts bildet den fil conducteur seiner Analysen und Erkundungen. 74 Für Foucault geht es darum, im Anschluss an Nietzsche die Frage nach dem Menschen als Subjekt jenseits einer metaphysischen und anthropologischen Bestimmung oder Funktionszuweisung zu stellen. 75 Die Ablehnung der metaphysischen Bestimmung bedeutet, Vgl. Kap. 8.2.2 (K2). Für die Studien Die Ordnung der Dinge und Überwachen und Strafen identifiziert Carine Mercier »[l]e projet d’une histoire des conditions de possibilité de l’apparition des sciences humaines au XIXe siècle« als Leitfaden (Mercier [2004], 1). Die wissenschaftszentrierte Deutung vernachlässigt m. E., dass es Foucault in den historischen Analysen letztlich um die Konstitution und diskursive Positionen von Subjekten in Relation zu den Wissensobjekten geht, die Wissensfelder und disziplinären Diskurse also als Konstituierungskontexte und -bedingungen des Auftauchens neuer Subjektformen untersucht werden. 75 Vgl. für ähnliche Interpretationsansätze, die die Gesamtheit des foucaultschen Denkens auf das Leitthema der Frage nach dem Menschen bzw. dem menschlichen Subjekt bringen, z. B. FinkEitel (1989), 9, Kögler (1994), Saar (2007). Dieser Interpretationsansatz findet Unterstützung in den Erklärungen, die Foucault in einer Gesprächsreihe mit Hubert Dreyfus und Paul Rabinow Anfang der 1980er zu seinen Untersuchungen gibt. Jene vielzitierten Ausführungen sind 1982 unter dem Titel »The Subject and Power« erschienen und unter dem Titel »Subjekt und Macht« teilweise in den Dits et Ecrits (Schriften) aufgenommen worden. Foucault unternimmt hier eine seiner anordnenden Retrospektiven auf zurückgelegte Untersuchungswege. Es sei ihm in den vergangenen zwanzig 73 74

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das menschliche Subjekt nicht als Prinzip, fundierenden Grund oder Anfang der Erkenntnis, des Sinns und des Wissens zu befragen; und die Frage nach dem Subjekt jenseits einer anthropologischen Bestimmung zu stellen bedeutet, den Menschen nicht als Träger universaler und essentieller Eigenschaften oder Konstanten vorauszusetzen. Ist die metaphysische und anthropologisch-empirische Perspektive einmal abgelegt, kann der Mensch als historisch Gewordenes, als Fabriziertes und Geformtes adressiert und analysiert werden. Worauf Foucault also abhebt und was seine ganze Aufmerksamkeit anzieht und immer wieder in ungeplante thematische Regionen führt, sind die historischen Formationen, Formen und Formumwandlungen des Menschen als Subjekt. Damit verbunden ist die Frage, inwiefern der Mensch als Subjekt in historischen Konstellationen und Praktiken der Wahrheits- und Wertzuschreibung eingebunden ist. In immer wieder neuen Anläufen erschließt sich Foucault neue Fragedimensionen nach dem Menschen und der (historischen) Wahrheit über den Menschen als Gegenstand von Konfigurationen, Formungsprozessen und ›Effekten‹ von formativen, poietischen und hoch dynamischen epistemisch-sozialen und materialen Kräften und Praktiken. Dabei nimmt er »Verschiebungen« (SW 2, 12) auf drei Ebenen vor: thematisch(-historisch), methodisch und begrifflich-analytisch. In thematischer Hinsicht durchwandert und kartiert Foucault die historischen Gegenstandsbereiche Wahnsinn und Vernunft, die medizinische Praxis und das Auftauchen der psychiatrischen Praxis und Episteme, Diskursformationen der Humanwissenschaften, diskursive Veridiktionen (Wahrsprechen), Wahrheitsspiele, das Auf- und Abtauchen von Disziplinar- und Strafsystemen, die Geschichte des Begehrens und der Sexualität als Erfahrung, Regierung, Staatlichkeit, die Geschichte des Selbst und der Selbsttechnologien. Foucault bevorzugt in den 1960ern zunächst Themen, also Diskurse und Praktiken, die im 16. bis 19. Jahrhundert verortet sind, bevor er sich ab den 1970ern vermehrt auch griechisch-antiken und römisch-antiken Texten zuwendet. Mit den Gegenstandsbereichen verschiebt sich auch Foucaults prioritärer methodischer Modus von der ›Archäologie‹ (in der Rezeption häufig auch ›Diskursanalyse‹ genannt) zur ›Genealogie‹, die wiederum Verschiebungen und Neuerungen in den Analysekonzepten und »Begriffsrastern« 76 notwendig macht. Die inJahren primär um »eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur«, um »die Objektivierungsformen [. . .], die den Menschen zum Subjekt machen« gegangen (DE IV / 306, 269). Dabei sei, so habe er bald erkannt, »das Problem der Macht« in der Erforschung der Subjektivierungsformen von zentraler Bedeutung, ihm habe aber zunächst eine geeignete Konzeption von Macht gefehlt, die für »die Erforschung der Objektivierung des Subjekts« hilfreich gewesen wäre (ebd., 270). 76 Vogelmann (2017), 5.

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haltlichen Verschiebungen bzw. jeweils neu veranschlagten »Achsen« in der Untersuchung 77 der Frage nach dem Menschen als Subjekt bilden spezifisch akzentuierte Frage- und Gegenstandsdimensionen ab, die sich Foucault in seinen Explorationen durch die historischen Formen der Subjektivierung und der Subjektivität erarbeitet und damit in gewisser Weise methodisch ›aufgeschichtet‹ hat. Auch wenn Foucault die Fragedimensionen zum Subjekt mit ihren jeweiligen methodischen Zugängen im Nachhinein nicht als unabhängige Forschungsprogramme verstanden wissen will, sondern als komplementäres methodisches Konvolut 78, ist es aus begrifflich-diagrammatischer Perspektive entscheidend, das spezifische Moment in dem Problemkomplex zu identifizieren, auf den hin der Begriff der Macht ins Spiel kommt und virulent wird. Die archäologische Fragedimension. Aus wissenshistorischer und diskursanalytischer Perspektive stellt Foucault die Frage nach dem Subjekt zunächst als Frage nach dem Menschen als Objekt in einer spezifischen wissensgeschichtlichen und wissenschaftlichen Diskursbildung. In Die Ordnung der Dinge zeigt Foucault, wie ›der Mensch‹ in der Moderne (für Foucault: die ›Klassik‹) zum gegenständlichen Paradigma geworden ist, um das sich eine Reihe von entsprechenden ›Sciences humaines‹, also ›Wissenschaften vom Menschen‹ 79 herausgebildet haben. Ihnen gemein ist, dass sie den Menschen sowohl aus einer empirischen Perspektive betrachten als auch unhinterfragt als Prinzip der Erkenntnis überhaupt setzen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von der »empirisch- transzendentale[n] Dublette« (OD, 384, vgl. 384–389), die die Arbeitsgrundlage der aufkommenden Wissenschaften des Menschen bilden. 80 Genauer geht es hier um die Formationen eines spezifischen wissenschaftlichen Wissens, das in einer historischen Abfolge ausgehend von der Renaissance des 15. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert je spezifische diszipli77 Siehe hierzu insbesondere die späte Rekapitulation über das eigene Vorgehen und die zurückgelegten Wegstrecken und nicht geplanten, aber dann doch notwendig gewordenen Wegerweiterungen, die Foucault in der Einleitung von Sexualität und Wahrheit II. Der Gebrauch der Lüste formuliert (SW 2, 9–21). 78 »Indem ich von Archäologie, von Strategie und von Genealogie spreche, meine ich nicht drei Niveaus, die nacheinander und auseinander zu entwickeln sind: Vielmehr will ich drei simultane Dimensionen ein und derselben Analyse charakterisieren: drei Dimensionen, die gerade in ihrer Simultanität erfassen lassen sollten, was es an Positivem gibt.« (WK, 39) In »Was ist Kritik?« nennt Foucault neben der Genealogie und Archäologie noch die »Strategie«, was in diesem Kontext ein anderes Wort für ›Kritik‹ ist. Da Foucaults Untersuchungen insgesamt der Tradition der kritischen Theorie folgen, kann die Dreiteilung hier als singuläre rhetorische Extrapolation Foucaults gedeutet werden. 79 Sehr passend ist hier auch die Übersetzung von Walter Seitter mit »Menschenwissenschaften«, siehe Seitter (2012), vgl. hierzu auch Gehring (2015), 193–197. 80 Diesen Gedanken hat Foucault bereits in der Einführung in Kants Anthropologie (2010), 111, verfolgt, vgl. dazu auch Sarasin (52012), 78–91.

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näre Diskurse zur Konstituierung des Menschen und seiner Erzeugnisse (die Ökonomie) als Einheit und Gegenstand der Erkenntnis hervorgebracht hat. Foucault interessiert, wie das Subjekt als sprechendes Subjekt in den sprachlichen Wissenschaften, als arbeitendes und herstellendes Subjekt in den auftauchenden ökonomischen Wissenschaften und schließlich als biologisches Faktum in der entstehenden Biologie objektiviert wird (DE IV / 306, 269–270). Diese wissenschaftlichen Diskurse sind nun selbst, so beschreibt es die archäologische Perspektive (oder ›Dimension‹), epistemographische Einheiten, die von einem geschichteten Ganzen des Wissens (oder der »Aussagensysteme«), dem »Archiv« hervorgebracht, formiert und strukturiert werden. In dem Archiv, d. h. in der Gesamtheit »der tatsächlich geäußerten Diskurse« (DE I / 66, 981), sind historisch spezifische »Formationssysteme«, d. h. »komplexe[] Bündel von Beziehungen [wirksam; L. B.][. . .], die als Regel funktionieren« (AW, 108). Die Formationssysteme erbringen die Formierungsarbeit der Subjektivierung, indem sie die Praxis, die Begriffe, die wahrheitsfähigen Aussagen und Methoden eines Diskurses entsprechend ihrer Regeln rahmen und strukturieren. Die Formationssysteme der Diskurse sind nun von einer historisch spezifischen, transdiskursiven Existenzgrundlage, der »Episteme«, konstituiert und präfiguriert. 81 Diskurse, die in ihnen wirksamen Formationssysteme und die zugrundeliegende Episteme werden von einem selbst wiederum »transformierbare[n] Ganze[n]« angeordnet und zusammengehalten. Dieses Ganze nennt Foucault aufgrund seiner transzendentalen Stellung das »historische[] Apriori« (AW, 185, 182, Herv. i. O.). Durch das historische Apriori und die historischen Episteme dringt »[e]ine tiefe Historizität [. . .] in das Herz der Dinge ein, isoliert sie und definiert sie in ihrer eigenen Kohärenz, erlegt ihnen Ordnungsformen auf, die durch die Kontinuität der Zeit impliziert sind« (OD, 26). Dabei haben die formativen Elemente des Archivs nicht die Funktion und den Status von ersten Ursachen und Ursprüngen – das wäre das Feld und die Aufgabe der Metaphysik –, wohl aber stellen sie »relative Anfänge« (archai) der Konfiguration von Diskursen und Wissensgehalten dar (DE I / 66, 981). 82 81 Episteme definiert Foucault als »die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht werden; den Modus, nach dem in jeder dieser diskursiven Formationen die Übergänge zur Epistemologisierung, zur Wissenschaftlichkeit und zur Formalisierung stattfinden und sich vollziehen« (AW, 272–273). 82 Foucault stellt in einem Gespräch mit J.-J. Brochier nochmals klar, dass sich sein Verständnis von Archäologie von dem Verständnis der Archäologie als Rückgang auf die ersten Prinzipien (archai) des Kosmos in der Konzeption des griechischen Denkens absetzt (es sei hier an Stephen Menns Deutung von Aristoteles’ Metaphysik als Archäologie in genau diesem Sinne erinnert), sich zugleich aber auch von der geologischen »Idee der Ausgrabungen« und Freilegungen abgrenzen

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Die Archäologie bietet nun – ähnlich wie die begriffliche Diagrammatik – zwei Analysemodi: die horizontale Analyse (diese betrifft die Anordnung der Diskurse, ihre wahrheitsfähigen Aussagen und die Episteme in einem historischen Apriori) und die vertikale Analyse (diese betrifft die formativen epistemologischen Elemente des Archivs im historischen Wandel). In der archäologischen Analyse geht es also einerseits um die Untersuchung der Existenzbedingungen und Formationssysteme von Diskursen, Begriffen und Aussagesystemen, andererseits um ein Aufzeigen, Definieren und Beschreiben der historischen Transformation der Wissensformationen am Maßstab der Diskontinuität. 83 Foucault stellt in der Archäologie (noch) nicht die Frage nach den Ursprüngen und Faktoren des Wandels, nicht nach den revolutionären und gegenrevolutionären Kräften, die auf die brüchige Geschichte des Wissens einwirken, wohl aber die Frage nach einer präzisen Konturierung der Transformation in den Strukturen des Wissens. Das Subjekt soll, so ließe sich grosso modo die archäologische Fragedimension zusammenfassen, als Gegenstand der Wissenschaften und damit hinsichtlich der historischen Abfolge seiner Formationen in der Dimension des Wissens fruchtbar problematisiert werden. Und zugleich kann eine Geschichte des modernen Wissens geschrieben werden, die nicht auf »ein absolutes Subjekt der Geschichte [abhebt; L. B.], das die Geschichte macht, das deren Kontinuität sicherstellt, das Autor und Garant dieser Kontinuität ist« (DE I / 66, 984). Der methodische Einsatz des Machtbegriffs. So fruchtbar die archäologische Fragedimension für die Analyse der Geschichte der Wissenschaften des Menschen ist, eignen der archäologischen Fragedimension auch spezifische, durchaus intendierte Limitierungen, von denen eine ganz zentral ist 84: Die Archäologie vermag Veränderungen der historischen Apriori und der Episteme festzustellen, aber nicht die Ursachen, Motivatoren oder Herkünfte der Verwill (DE I / 66, 981–982). Tatsächlich greift Foucault, was er an dieser Stelle nicht sagt, die Idee einer philosophischen Archäologie von Kant auf, die jener in seinen Lose[n] Blätter[n] und in der Kritik der reinen Vernunft angedeutet hat; vgl. hierzu Schneider (2004b). In diesem Sinne lässt sich auch das Zitat des Herzens der Dinge als Antwort auf die Idee metaphysischer Ursprünge verstehen, die Kant ebenfalls als ›Vernünfteln der Vernunft‹ längst deflationiert hat. 83 Oder, wie Foucault sein Unternehmen der Archäologie selbst zusammenfasst: »Ich habe versucht, Transformationen zu definieren, zu zeigen, von welchem regulären System aus Entdeckungen, Erfindungen, Perspektivwechsel, theoretische Umwälzungen stattfinden können.« (DE I / 66, 989) Eine hermeneutische Lesart der foucaultschen Archäologie findet sich bei Kögler (1994). 84 Dass eine Fragedimension Grenzen hat bzw. sich durch eine spezifische ›Reichweite‹ auszeichnet und darin auch explanatorisch limitiert ist, liegt in der Natur der Sache. Die Grenzen als Scheitern darzustellen, wie es nicht selten in der Foucault-Rezeption getan wird, ist daher eine unangemessene Deutung. Für eine ausführlichere Präsentation und Diskussion der Grenzen der foucaultschen Archäologie sei hier auf Kögler (1994), 60–68, verwiesen.

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änderungen und Transformationen zu explizieren oder zu erklären. 85 Damit erwächst die Frage nach den Instanzen, Dynamiken oder Faktoren, die eine Veränderung in den Formationsbedingungen der Diskurse bewirken, gleichsam zwingend als Desiderat aus den Grenzen der archäologischen Fragedimension. So jedenfalls hat es Foucault Anfang der 1970er Jahre auch selbst eingeschätzt. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Ordnung der Dinge von 1974 reflektiert Foucault die Grenzen der Archäologie und kündigt bereits den nächsten methodischen Schritt an: »Ich ließ also in diesem Buch die Frage nach den Ursachen beiseite, und entschied mich statt dessen, mich darauf zu beschränken, die Transformationen selbst zu beschreiben, wobei ich davon ausging, daß dies ein notwendiger Schritt sei« (OD, 14, Vorwort). Um also die Ursachen, Veränderungen – das ›Außen‹ – in den Wissenssystemen und damit auch in den epistemischen Subjektformationen in den Blick zu bekommen, bedarf es eines anderen Konzepts und begrifflichen Rasters und eines anderen methodischen Blickrahmens als den, den die Archäologie anbietet. Foucault hat somit schließlich nach einer anderen Methode gesucht, wobei Methode, wie bereits beschrieben 86, am besten in einem weiten Sinne als ein angeleitetes Vorgehen zu verstehen ist, das nicht auf eine universale Erklärung abhebt, sondern auf eine Explikation, eine analytisch-konstruktive Beschreibung oder Narration. 87 Diesen anderen Blickrahmen hat Foucault in dem philosophisch-historischen Ansatz der ›Genealogie‹ von Nietzsche gefunden, dessen Zentralkonzepte des Willens zur Wahrheit und des Willens zur Macht den Einsatz des Machtbegriffs als Analysebegriff mit sich zieht. 88 Zusammenfassung und Ausblick. Unter dem diagrammatischen Gesichtspunkt des konstruktiven Problemkomplexes, der die Bildung einer bestimmten Begriffskonzeption von Macht evoziert, wurde für Foucault das Problem des Subjekts identifiziert. Die Einführung und die Konzeption des Machtbegriffs 85 Es wundert nicht, dass Foucault ein anderes historisch-transzendentales Unternehmen, nämlich die Theorie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer, begrüßte; zeigt sie doch eine gewisse Parallelität in der analytischen Stoßrichtung im Ausgang von Kant zu Foucaults eigenem archäologischen Ansatz auf. In einer Rezension zu Cassirers Die Philosophie der Aufklärung (1932) anlässlich von deren Übertragung ins Französische fasst Foucault lakonisch zusammen: »Kant hatte gefragt, wie Wissenschaft möglich ist; Cassirer fragt, wie dieser Kantianismus möglich ist, dem wir möglicherweise immer noch verhaftet sind.« (DE I / 40, 705) Einer der wenigen, die auf die spannende Verbindungslinie Kant – Cassirer – Foucault eingehen, ist Sarasin (52012), 102–104. 86 Vgl. Kap. 8.3.1 (K3). 87 Larry Shiner deutet die Genealogie durch ihren Einsatz gegen universale Objektivitäten und Wahrheiten auch als Foucaults »Anti-Methode«: »His method is an anti-method in the sense that it seeks to free us from the illusion that an apolitical method is possible.«(Shiner [1982], 386). 88 In seiner Vorlesung am Collège de France Über den Willen zum Wissen (Leçons sur la volonté de savoir) von 1970/71 führt Foucault in die Genealogie und in die ›Lehre‹ vom Willen zur Macht ein; ich verwende ›Theorie‹ und ›Lehre‹ hier synonym.

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gestaltet sich bei Foucault als eine Antwort auf das Desiderat der explikativen Grenzen der archäologischen Fragedimension in Bezug auf das Problem des Subjekts. Der Machtbegriff bzw. die spezifische Konzeption von Macht, die Foucault erarbeiten wird, erfolgt im Rahmen einer für ihn notwendig erscheinenden methodischen Verschiebung von der archäologischen zur genealogischen Befragung des Menschen als Subjekt. Für die Bildung von Foucaults Machtbegriff sind nun zwei Aspekte zentral: Erstens kann als theoretisches Terrain oder champ fondateur der methodische Ansatz der ›Genealogie‹ bestimmt werden. Die Genealogie ist ihrerseits, wie unter der nachfolgenden diagrammatischen Komponente (K5) aufgezeigt wird, maßgeblich von Nietzsches Genealogie der Moral präfiguriert. 89 Zweitens zeichnet sich hier bereits ab, dass der Machtbegriff von Foucault die Konfiguration eines methodischen Konzepts hat. 90

8.3.3 Theoretisches Terrain: der Wille zum Wissen und (seine) Genealogie (K5)

In der diagrammatischen Untersuchung konnte bereits unter der Komponente des begriffsbildenden Problemkomplexes des Subjekts (K4) die über die Archäologie hinausgehende Fragedimension der ›Genealogie‹ als theoretisches Terrain bzw. champ fondateur des foucaultschen Machtbegriffs identifiziert werden. Was unter dem Untersuchungsprogramm der ›Genealogie‹ zu verstehen ist, soll nun vertieft werden. Theorie und methodischer Ansatz. Unter dem Titel ›Genealogie‹ versucht Foucault diejenigen historischen Kräfte zu erfassen, die die epistemischen Transformationen des Subjekts bewirken; sie bleiben im methodischen Modus der Archäologie noch unterbeleuchtet. Mit der Genealogie rücken soziale und politische Praktiken der Subjektformation als ›Subjektivierung‹ und sujetissement in das Blickfeld. Wie aber können diese theoretisch angeleitet untersucht werden? In Nietzsches Lehre des Willens zur Macht findet Foucault einen theoretischen Ansatz zur Explikation der Transformationen von Wissen und Erkenntnisinhalten. Die neue Fragedimension eröffnet sich für Foucault in doppelter Hinsicht: Zum einen auf einer theoretischen und gegenständlichen Ebene, zum anderen auf der Ebene der Untersuchung, die die Wirkweise und die Effekte des Willens zur Macht nachzeichnet – ein Ansatz, den Foucault mit Nietzsche ›Genealogie‹ 89 Philosophiegeschichtlich und systematisch formuliert: Mit der Grenze der Archäologie endet auch das von Kant bestellte und von Foucault historisch gewendete Feld apriorischer und transzendentaler Fragedimensionen des Wissens. Es übernimmt Nietzsche; dies aber gleichwohl auf einem von der Anthropologie Kants bestellten Feld der Frage nach dem Menschen. 90 Genau genommen kündigt sich ein methodischer Machtbegriff bereits unter dem metatheoretischen Gesichtspunkt (K3) an.

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nennt und zugleich auch seine ›Analytik der Macht‹ bezeichnet. Da Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht für die theoretische und begriffliche Konstruktion von Foucaults Machtbegriff und dem methodischen Ansatz der Genealogie von grundlegender Bedeutung ist, gebührt ihr eine eingehende Skizzierung. Nachfolgend soll daher zunächst mit einer Darstellung und Interpretation der Lehre vom Willen bei Nietzsche in ihrer Relevanz für Foucault begonnen werden. Dies wird einen relativ großen Raum in der Erkundung der Komponente des theoretischen Terrains einnehmen, da hier auch eine Tiefenbohrung in Bezug auf die dynamisRezeption durch Nietzsche vorgenommen wird. In der rekonstruktiven Darstellung der Lehre vom Willen zur Macht, die bei Nietzsche nur fragmentarisch ausgearbeitet ist, erweisen sich diejenigen Arbeiten als besonders hilfreich, die das Werden und den Willen zur Macht unter den Gesichtspunkten des Problems der Bewegung oder des Kraftbegriffs deuten. Eine derartige Nietzsche-Interpretation bemüht sich, der grundlegendenden Rolle der naturphilosophischen Elemente im Denken und insbesondere in der Kulturphilosophie von Friedrich Nietzsche Rechnung zu tragen; sie wurde maßgeblich von Alwin Mittasch (1952) angestoßen und vorbereitet. 91 In der Kurzdarstellung der Lehre des Willens zur Macht erprobe ich skizzenhaft eine Auslegung derselben als meta-physische Theorie der Veränderung und Bewegung, die sich, wenn auch mit vielen Momenten der Transformation und Modifikation, in die Problemstellung der Frage nach der Bewegung von Aristoteles einfügt und mit dem Begriff der aristotelischen dynamis, sowohl in der kinetischen als auch in der ontologischen Konfiguration, enggeführt werden kann. Die meta-physische Auslegung der Nietzsche'schen Lehre vom Willen zur Macht stellt wiederum die konzeptuelle Basis bereit, um in den weiteren Begriffskomponenten meta-physische Elemente und damit WiederHolungen und Residuen der aristotelischen dynamis kata kine¯sin im foucaultschen Machtbegriff zu sondieren.

a) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als meta-physische Theorie des Werdens und ihr Verhältnis zu Aristoteles’ dynamis

Eine neue Auslegung des Bewegungsproblems. Nietzsche hat unter dem Programmtitel »Der Wille zur Macht« ein großes Unternehmen vor Augen. Er strebt damit nicht weniger an als den »Versuch einer neuen Auslegung al91 Hier rekurriere ich insbesondere auf die in dieser Tradition stehenden aufschlussreichen Nietzsche-Studien von Gilles Deleuze (2008 [1962]), Günter Abel (1984), Volker Gerhardt (1996), Wolfgang Müller-Lauter (1999) und Martin Saar (2007, 2008a, 2008b).

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les Geschehens« (eKGWB/NF-1885, 39 [1], KSA 11, 619). 92 Mit ›Geschehen‹ meint Nietzsche alle Vorgänge der Bewegung und Veränderung, was dem weiten Begriff der kine¯sis als Werden und Vergehen, Wachsen und Schrumpfen, qualitativer Veränderung und Ortsbewegung entspricht. In erster Linie interessiert ihn aber unter den Prozessen des Geschehens das Werden und Entstehen von etwas, die genesis. Nietzsche hebt mit der Theorie des Willens zur Macht auf eine Theorie der Wirklichkeit ab, die von drei Grundannahmen getragen ist: i) Die Vollzüge des Werdens als Übergang und Umschlag bilden die (volle) Wirklichkeit; ii) das, was ist, die Wirklichkeit, ist stets Erzeugtes und Gewordenes; iii) die ontische Wirklichkeit, das Erzeugte, ist selbst wiederum immer zugleich ein perspektivisch durch Interpretation Erzeugtes, wobei das Interpretieren als Sinn-Setzen eine Dimension des Willens selbst ist. 93 Damit lässt sich zunächst festhalten: Nietzsche widmet sich, wie einst Aristoteles, dem seit der griechischen Naturphilosophie zentralen, aber selten direkt adressierten Problem der Intelligibilität und Seinsweise von Veränderung und Werden. Das Problem des Werdens kann sich für Nietzsche nun aber nur so stellen, dass sowohl die Grundkategorien des metaphysischen Denkens – Substanz, Erste Prinzipien und Ursachen – als Fundamente des Denkens und der Theoriebildung als auch die neuzeitliche ontologische und epistemologische Präferenz für eine mechanistisch modellierte Kausalität 94 überwunden werden müssen. In dem Fragment mit dem Untertitel » Wille zur Macht principiell. Kritik des Begriffs ›Ursache‹« von 1888 skizziert Nietzsche in Anspielung, Aufgriff und Kritik humescher, kantischer und schopenhauerscher Elemente des Begriffs und der Denkkategorie der ›Kausalität‹, dass die bisherigen Konzeptionen von Kausalität auf falschen konzeptuellen und ontologischen Hintergrundannahmen beruhten. Weder gebe es einen »Causalitäts-Sinn« (Kant) noch eine causa efficiens oder causa finalis (Hobbes, Aristoteles) in der Kon92 Quellengrundlage für die Zitationen von Nietzsche ist die von Nietzsche Source bereit gestellte und von Paolo D’Iorio editierte »Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe« (eKGWB), die auf den von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebenen kritischen Gesamtausgaben (Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Berlin / New York, NY: de Gruyter, 1967 ff. und Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, Berlin / New York: de Gruyter, 1975 ff.) basiert. Darin steht NF für Nachgelassene Fragmente unter Angabe des Jahres und der Fragmentnummer, der Fragmentgruppe sowie des Eintrags des Abschnitts in eckigen Klammern. Da es immer noch geläufig ist, nach der Kritischen Studienausgabe (KSA) zu zitieren, ebenfalls von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegeben, wird zusätzlich, wo möglich, auf die Seitenzahl KSA verwiesen. Alle Nietzsche-Zitate werden nachfolgend so weit wie möglich in den für ihn typischen Hervorhebungen und Schriftgestaltung der Sperrung, Auslassung und Interpunktion wiedergegeben, die Kennzeichnung der Hervorhebung entfällt dadurch. 93 Vgl. die hervorragende Zusammenfassung des Programms der »neuen Auslegung alles Geschehens« im Vorwort von Abel (1984), V – VIII. 94 Siehe die Komponente des wissenskulturellen Milieus bei Hobbes, Kap. 7.2.2 (K2).

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zeption eines » Vermögen[s] zu wirken«. Und schließlich sind Begriffe von Ursache und Wirkung gänzlich unbrauchbar, weil an Dinghaftigkeit, Subjektivität, Intentionalität und Instinkt überschüssig (eGWB NF 1888, 14 [98], KSA 13, 275). Bewegung und Kausalität sind die zu problematisierenden Begriffe, nicht Ursache und Wirkung. Dass Bewegung einen garantierten Wirklichkeitsstatus hat, ist für Nietzsche wie für Aristoteles eine programmatische Hypothese. Nietzsche will das Werden und die Veränderung von Dingen aber anders als in den bisherigen konzeptuellen Trajektorien der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte denken. Es geht ihm darum, eine andere Lösung für das Schema der Ursächlichkeit von Bewegung zu finden als den Rückgriff auf Erste Prinzipien, transzendentale Subjektivität oder physikalische Modelle kausalmechanischer Kausalität in den Begriffen von Ursache und Wirkung, die notwendig immer eine Form von ontologischem, epistemologischem und explanatorischem Reduktionismus mit sich bringen (vgl. eGWB/NF 1888, 14 [98], KSA 13, 274–276). Damit stellt sich die drängende Frage: Wenn sich alles bewegt, alles erzeugt oder geworden ist, aber keine transzendente singularisierte Erklärgröße, kein Gott, kein Erster Beweger mehr angenommen und kein Prinzip mehr substanziiert werden soll, wie lässt sich Veränderung und Werden denken? Wie lässt sich Bewegung nicht-ursächlich konzipieren und vorstellen? Was treibt die Erzeugungsbewegung selbst an? Wie ist der Anfang von Bewegung zu denken? Gerade die Behandlung der Frage nach dem Bewegungsanfang bildet den Ankerpunkt für eine jede Theorie der Wirklichkeit, und damit auch den unbequemen Prüfstein der neuen (gesuchten) Lehre: »Unter allen Fragen, die die Bewegung betreffen, giebt es keine lästigere als die Frage nach dem Anfang der Bewegung; wenn man sich nämlich alle übrigen Bewegungen als Folgen und Wirkungen denken darf, so müßte doch immer die erste uranfängliche erklärt werden« (eKGWB/PHG-15 05/04/1873, KSA 1, 859). 95 Aber die Frage nach dem kausalen Anfang, nun desubstantialisierend reformuliert als Anfänglichkeit von Bewegung, als Frage nach der Herkunft und des Von-Woher-Kommens eines Werdens und einer Veränderung, erscheint Nietzsche unausweichlich für eine »neue Auslegung« der Wirklichkeit. Die Herausforderung der Eleaten bzw. des Parmenides 96 muss nach dem Reduktionismus und Externalismus des neuzeitlichen und modernen Programms der mechanischen Kausalität noch einmal neu aufgenommen werden. Auf diese Problemstellung findet Nietzsche 95 Der Kontext dieser Äußerung ist eine wunderbare Darstellung der Antwort des Anaxagoras auf die eleatische Herausforderung in Bezug auf das Problem der Bewegung. Vgl. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (= PHG), § 11–19, abgeschlossen ca. am 05. 04. 1873. 96 Vgl. Kap. 6.2.2 (K4).

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in langer und unvollendeter Suche eine Lösung in der rudimentär gebliebenen Lehre vom Willen zur Macht: Ich brauche den Ausgangspunkt »Wille zur Macht« als Ursprung der Bewegung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt sein – nicht verursacht. . . Ich brauche Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich greift. . . (eKGWB/NF-1888, 14 [98], KSA 13, 274).

Und so fügt sich auch, dass die Einführung zur programmatischen Ankündigung » Wille zur Macht principiell« die Überschrift »Kritik des Begriffs Ursache« trägt. Nietzsches Antwort, oder vielleicht besser ›Kniff‹, den Begriff der Ursache und des einen metaphysischen Prinzips bzw. Bewegungsanfanges zu umgehen, liegt in der Einführung eines pluralisierten, defragmentierten Prinzips, dem »Willen zur Macht«, an der Stelle einer punktuellen, uniformen Ursache (die causa efficiens der Neuzeit oder der Erste Beweger des Aristoteles). 97 Genauer genommen ist der Wille zur Macht selbst, wie wir gleich noch sehen werden, ein Gewordenes aus einer Vielheit von Willen, die selbst wiederum als dynamische Kräfte aufzufassen sind. Der Wille zur Macht kann als eine »spezielle Art von ›Prinzip‹« verstanden werden, das den uniformen metaphysischen (ersten) Prinzipien als deren Konstituens noch vorausliegt. 98 In methodologischer Hinsicht erweist sich der Wille zur Macht damit als »explanatory concept«. 99 Da der Wille zur Macht von Nietzsche auf eine Explikation der Wirklichkeit der gewordenen Dinge (Leben, Werte) abzielt und somit scheinbar einen Totalitätsanspruch auf sich zieht, ist dem Willen zur Macht häufig – allen voran von Heidegger und so auch ihm folgend Gerhardt – ein allgemein-metaphysischer Status zugesprochen worden 100. Allerdings hebt Nietzsche gar nicht auf die kontextinvariante Wirklichkeit (und ihrer Strukturen) als solche bzw. schlechthin ab, sondern auf die Prozesse und die vielen Anfänglichkeiten der Genese von Wirklichkeit und, wenn man so will, auf ›Wirklichkeitseffekte‹. Es ist daher m. E. treffender, den Begriff des Willens zur Macht als naturphilosophisch-ästhetischen Begriff und in seinem Ausgriff auf die (ganze) Wirklichkeit durchaus auch als metaphysisch modellierten Begriff zu verstehen, nicht aber als Begriff der Metaphysik oder der Ontologie. 101 Jene 97 Hobbes’ Konzept für einen nicht-mechanischen, krypto-dynamischen Bewegungsanfang war, wir erinnern uns, das Konzept des conatus, vgl. Kap. 7.5.1 (K11). 98 Aydin (2007), 27. 99 Saar (2008b), 303. 100 Heidegger (1996), 656; Gerhardt (1996), 294–296. 101 Siehe ähnlich die Interpretation von Müller-Lauter (1999), 39–42, die sich ebenfalls gegen eine Deutung des Willens zur Macht als metaphysisches Prinzip ausspricht.

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sind Theorieformate, die Nietzsche gerade in ihrer klassischen prinzipienbasierten Form zu überwinden beabsichtigte. 102 Wille zum Wissen und Aristoteles' dynamis. Wie die Gedankenbewegung deutlich macht, folgt Nietzsche mit seinem Konzept des Willens zur Macht den traditionellen Bahnen der Ideen einer Bewegungsanfänglichkeit und Kausalität im weitesten Sinne, ohne aber auf ein transzendentes oder auch ein kausalmechanisches Prinzip verengt zu sein. Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen: In seiner Suche nach einer Theorie des Willens zur Macht begibt sich Nietzsche nun in die Nähe des Begriffs der aristotelischen dynamis kata kine¯sin. Obwohl er den Terminus dynamis nur zweimal explizit erwähnt, scheint er doch eine zentrale Referenz darzustellen. Die erste Erwähnung findet sie im Rahmen eines wissenschaftstheoretischen Kommentars zum Scheitern des mechanistischen Kausalitätsparadigmas im 19. Jahrhundert, in dem Nietzsche eine Wiederkehr eines dynamischen Denkens in der Physik und einen Fokus auf Beschreibungen statt Erklärungen prophezeit: – man hat den Glauben an das Erklären-können selber verloren und giebt mit sauertöpfischer Miene zu, daß Beschreiben und nicht Erklären, daß die dynamische Welt-Auslegung, mit ihrer Leugnung des ›leeren Raumes‹, der KlümpchenAtome, in Kurzem über die Physiker Gewalt haben wird: wobei man freilich zur Dynamis noch eine innere Qualität – – – (eKGWB NF-1885, 36 [34], KSA 11, 564–565; Herv. L. B.).

Man kann diese Stelle so deuten, dass Nietzsche seinen Willen zur Macht in enger kategorialer Nachbarschaft oder gar Kollaboration mit dem aristotelischen Prinzip der Bewegung, der dynamis, versteht. Bei der zweiten Erwähnung im Rahmen eines Exzerpts zur Studie »Die Arten der Naturnothwendigkeit« (1882) von Otto Liebmann, die den dynamis-Begriff gegen eine kantische Nivellierung verteidigt, scheint Nietzsche die kinetische dynamis sogar als einen Aspekt des Willens zur Macht zu identifizieren 103: Dynamis ›reale Tendenz zur Aktion‹, noch gehemmt, die sich zu aktualisiren versucht – ›Wille zur Macht‹ ›Spannkraft‹ ›angesammelte und aufgespeicherte Bewegungstendenz‹ (eKGWB NF-1887, [92], KSA 12, 387; Herv. L. B.).

102 Mit Strawson (1987), 9, ließe sich präzisieren: Nietzsche ging es um die Überwindung revisionärer Metaphysik. 103 Vgl. Gerhardt (1996), 207–211.

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Volker Gerhardt hat als einer der wenigen Nietzsche-Kommentatoren nach Heidegger auf die Engführung von aristotelischer dynamis und Willen zur Macht und deren Parallelität im Problemkontext der Bewegung hingewiesen: »Nietzsche ist in diesem Punkt [dem in actu-Charakter der dynamis; L. B.] dem dynamis-Begriff des Aristoteles am nächsten. So wie es in dessen Physik um ein adäquates Verständnis der wirklichen Bewegung geht, so ist ihm darum zu tun, der Tatsache des Werdens philosophisch Rechnung zu tragen.« 104 Gerhardt sieht ganz zurecht im Willen zur Macht die Begriffe der dynamis, der potentia und der realen Möglichkeit widerscheinen. 105 Dabei ist der Wille zur Macht, wie die dynamis, als Begriff der Explikation, nicht aber als ontologische Einheit zu verstehen. Der Vorzug der dynamis liegt für Nietzsche darin, dass sie zum einen eine Bewegungsanfänglichkeit immanent, d. h. als reale Möglichkeit zu Bewegung, erfasst, ohne in eine mechanische Ursache-WirkungsBeziehung aufzugehen, zum anderen einer Wirklichkeitskonzeption auf dem Grunde einer immerwährenden Bewegtheit und Werdensbewegung zuarbeitet. 106 Nietzsches Deutung der dynamis kommt hier auch Hobbes' Begriff des conatus als bewegungsimmanenter Bewegungsanfang sehr nahe. 107 Der konzeptuelle Zusammenhang von Wille zur Macht und Aristoteles' dynamis kann hier freilich nur angedeutet bleiben. 108 Mit Volker Gerhardt erscheint es aber durchaus plausibel, dass Nietzsche in der dynamis eine wichtige Anleihe für seinen Willen zur Macht genommen hat. 109 Es gilt nun, die Lehre vom oder der Willen zur Macht sowohl in einigen im Hinblick auf Foucaults Nietzsche-Lektüre zentralen Elementen des Konzepts Gerhardt (1996), 313 vgl. 314, 37–39, 207–221, Herv. i. O.; Gerhardt (2011), 354. Gerhardt (1996), 208. 106 Im Hinblick auf das Problem der Intelligibilität von Bewegung steht Nietzsche in direkter Nachfolge zu Aristoteles. Was Nietzsches Rückgriff auf einen Kraftbegriff und das Denken in Kategorien der Immanenz betrifft, verläuft die »Problemlinie« von Nietzsche über Leibniz’ Dynamik und Monadologie und Spinozas immanente potentia zu Aristoteles (Abel [1984], 5–28). Umgekehrt formuliert bildet die Kette Aristoteles – Leibniz / Spinoza – Nietzsche ( – Deleuze, – Foucault) ein Denken der Bewegung in Kategorien von Macht und Kraft (vgl. Abel [1984], 9) mit den »wichtige[n] Etappen derjenigen Entwicklung [. . .], die schließlich auf eine vollständige Immanentisierung und Endogenisierung der Welt und der Geschehensprozesse hinausläuft« (ebd., 7). 107 Vgl. Kap. 7.5.1 b) (K11). 108 Die Durcharbeitung des konzeptuellen Zusammenhangs von dynamis und Willen zum Wissen steht meines Kenntnisstandes bis heute aus. Anmerkungen dazu finden sich u. a. in Heideggers Nietzsche-Vorlesung (Heidegger [1996], 55–65), bei Abel (1984), 6–13, Gerhardt (1996), 37–39, 323– 314, und Aydin (2007), 32–33, 42. Vgl. auch jüngst Cilione (2018) zur Differenzierung zwischen Nietzsches ›Kraftbegriff‹ und der dynamis. 109 Gerhardts konsequent anthropologisierende und anthropomorphisierende Lesart, wonach die Begriffe von Macht und Kraft alleinig aus der »Innenerfahrung des Menschen« (Gerhardt [1996], 210) stammen würden, muss und sollte man allerdings nicht miteinkaufen. 104 105

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des Willens zum Wissen zu skizzieren als auch dieselben mit einigen Komponenten der dynamis kursorisch in Verbindung zu bringen. Der Wille zur Macht: Schopenhauers Vorlage. In der Entwicklung seiner Lehre vom Willen zur Macht setzt Nietzsche in Bezug auf den Willensbegriff zunächst bei Schopenhauers Willens-Metaphysik an. Die Konzeption des Willens ist bereits bei Schopenhauer mit der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Kausalität verbunden, der Willensbegriff erwächst hier nachgerade aus einer Thematisierung der Kausalität. Darin unterscheidet Schopenhauer drei Formen von Kausalität in Äquivalenz zu der Unterscheidung des Seienden in die drei Kategorien des unorganischen Körperlichen, des Pflanzlichen und des Tierlichen. Kausalität drückt sich in diesen Kategorien charakteristisch aus »als Ursache im engsten Sinne des Worts, oder als Reiz, oder als Motivation«. 110 Tierliche Lebewesen reagieren auf Objekte, die sie als solche wahrgenommen oder erkannt haben. Indem sie qua ihrer Wahrnehmung und Vorstellung auf ein Objekt reagieren, bildet das Objekt das Motiv im Sinne eines Anlasses zur Bewegung, »wobei dem nunmehr vorhandenen Selbstwußtseyn die innere bewegende Kraft, deren einzelne Aeußerung durch das Motiv hervorgerufen wird, als dasjenige sich kund giebt, was wir mit dem Wort Wille bezeichnen.« 111 Diese Vorstellung vom Willen wird nun von Schopenhauer zu einem wesentlichen Attribut sämtlicher Naturdinge erweitert als etwas, »was eigentlich dem Motiv die Kraft zu wirken ertheilt«, als »die geheime Sprungfeder der durch dasselbe [das Motiv] hervorgerufenen Bewegung.« 112 Während für Schopenhauer der Wille das Wesensmerkmal aller Dinge im Sinne eines metaphysischen Willens zum Dasein, zum Leben und zum Erhalt des eigenen Daseins in der Welt meint und darin mit der Substanz Spinozas vergleichbar ist, pluralisiert Nietzsche diesen einen Willen zu einer Vielheit an Willen, die dem Lebendigen immanent sind. So jedenfalls bringt Nietzsche seine Lehre vom Willen im Zarathustra gegenüber Schopenhauer in Stellung. »Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille [so Schopenhauer; L. B.]: aber nicht Wille zum Leben, sondern [. . .] Wille zur Macht!« (eKGWB-ZA II, KSA 4, 149, vgl. KSA 5, 27) 113 Wie aber der Wille zum Leben oder Dasein von einem Willen zur Macht prozessiert wird, so gilt dasselbe für den »Willen zur Wahrheit«, dem zu folgen 110 Schopenhauer (2006), 387, vgl. 387–390, Herv. i. O. Die ›Objektivationsstufen‹ des Willens und ihre Formen der Kausalität finden sich schön zusammengefasst in Schopenhauers »Preisschrift über die Freiheit des Willen« (1839), auf die ich mich hier beziehe. Auf die Textstelle bei Schopenhauer bin ich durch Günter Abels ausführliche Darstellung über den Zusammenhang von Schopenhauers Metaphysik des Willens und der Entwicklung zur Lehre vom Willen zur Macht bei Nietzsche im Lichte der Kausalitätsthematik aufmerksam geworden, vgl. Abel (1984), 63–72. 111 Ebd., 390. 112 Ebd., 391. 113 Die Sigle ZA-II steht für das zweite Buch von Also sprach Zarathustra.

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sich die Philosophie zu ihrer Geschäftsgrundlage nimmt. Auch dieser Wille ist nur eine Form von Willen, die sich der Wille zur Macht zu seinem Behuf nimmt (KSA 4, 148). Wir können mit Abel festhalten: »Jedes Geschehen, vom bewußten Denken und Handeln bis in den äußersten Bereich des Anorganischen wird von Nietzsche als Willen-zur-Macht-Geschehen und eben darin als Lebendigkeit charakterisiert.« 114 Damit ist sowohl die globale Reichweite von Nietzsches Lehre vom Willen als auch ihre naturphilosophische Grundierung angezeigt. Der Wille zur Macht als Kräftegeschehen. Wie aber ist der Wille zur Macht strukturiert? Welche Tätigkeitsmodi zeichnen ihn aus? Hier ist die Charakterisierung als Vielheit wesentlich und grundlegend. Denn die Vielheit der Willen ist durchaus als eine doppelte zu verstehen: sowohl ist der Wille zur Macht selbst eine Beziehung aus einzelnen heterogenen Willen als auch ein Wille in sich ein »Beziehungsgeflecht« von aufeinander bezogenen ›Kräften‹. 115 Diese Kräfte bilden den Willen, während er sie zugleich zusammenfügt und auf etwas hin konfiguriert. Nietzsche greift in seinem Kraftbegriff verschiedene Aspekte von Kraftbegriffen aus den Naturwissenschaften und der Physiologie seiner Zeit auf und assoziiert sie mit dem spezifischen Willen zur Macht. 116 Die physikalisch-mechanische Kräfte-Konzeption der Neuzeit, die Kräfte als äußere Wirkimpulse begreift, erweitert Nietzsche um die Dimension eines ›Innenlebens‹ bzw. um innere Bewegungsmomente und damit um eine Dynamik, die die Willen zur Macht auszeichnet. Der neuzeitliche Begriff der Kraft 117 wird somit von Nietzsche wieder mit seiner aristotelischen Wurzel der dynamis als innerer Bewegungsanfang rekonziliert 118: Der siegreiche Begriff ›Kraft‹, mit dem unsere Physiker Gott aus der Welt geschafft haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ›Willen zur Macht‹, d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die ›Wirkung in die Ferne‹ aus ihren Principien nicht los: ebensowenig eine abstoßende Kraft Abel (1984), 64, Herv. i. O. Ebd., 65. 116 Nietzsche hat die naturwissenschaftlichen Diskussionen seiner Zeit aufmerksam mitverfolgt und als Ressourcen für seine Begriffsbildung verwendet. Siehe dazu ausführlich Mittasch (1952) sowie die Beiträge in Babich / Cohen (1999) und Heit / Heller (2014). 117 Nietzsche hat die Schriften des Jesuiten Roger Joseph Boscovich (1711–1787) sehr aufmerksam und affirmativ gelesen. Da jener hinsichtlich der Zentralisierung des Kraftbegriffs über Newton und Leibniz hinausgeht, erwies Nietzsche ihm hohe Anerkennung »dafür, die Kraft endgültig an die Stelle der Materie gesetzt zu haben« (Starobinski [2003], 45, vgl. Fn. 71). 118 Gerhardt (1996), 200–217, inbes. 212. 114

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(oder anziehende) Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ›Erscheinungen‹, alle ›Gesetze‹ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. Am Thier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle. (eKGWB/NF-1885, 36 [31], KSA 11, 563)

Deleuze hat in seiner Monografie Nietzsche und die Philosophie (frz. 1962, dt. 1976/2008) eine wichtige, das Konzept der Kraft zentrierende Interpretation vorgelegt, die auch für Foucault in den 1970er Jahren einen zentralen Zugang zu Nietzsche eröffnet haben dürfte. Deleuze erklärt den Begriff des Willens zur Macht über ein Differential von Macht im Willen: »Die Macht ist das genetische und differentielle Element im Willen.« 119 Damit erhält die Macht – ähnlich wie die agentive dynamis und potentia activa – die Qualität schaffend, schöpfend, setzend zu wirken. Das bedeutet nun zweierlei: Zum einen ist »Macht [. . .] das, was im Willen will«, zum anderen bestimmt Macht die Verhältnisse der Kräfte zueinander, denn sie stehen ja nicht in einem blinden, sondern in einem strategischen Spiel in Konfrontation (oder Bündnis) zueinander. 120 Macht »qualifiziert die in Beziehung stehenden Kräfte« als entweder aktive oder reaktive Kräftekonglomerate, die ein Wille im Rahmen eines dynamischen Veränderungsgeschehen darstellt. 121 Dass die Macht die Kräfte überhaupt qualifizieren kann, liegt an ihren Vermögen, qualifiziert, das heißt auch: bewegt werden zu können. Ein Wille tritt erst einmal in der Form einer patentiven dynamis auf: als Vermögen, (von der Macht) affiziert zu werden. Daher erklärt Nietzsche: »[D]er Wille zur Macht [ist] nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt. . .« (eKGWB/NF-1888, 14 [79], KSA 13, 259). Auf einer basalen Ebene der Individuation differenziert Nietzsche die Kräfte und Willen also durchaus nach dem Strukturprinzip der agentiven und patentiven dynamis: beide Kräftetypen stehen in Korrelation und sind nur im gemeinsamen Zugegensein wirksam. Anders als bei Aristoteles liegt der Schwerpunkt in der abhängigen und asymmetrischen Beziehung agentiver und patentiver Vermögen bzw. Kräfte bei Nietzsche jedoch auf der patentiven Seite, die von Nietzsche mit Reaktivität und Widerständigkeit assoziiert wird. 122 Auf der Interaktionsebene dieser Kräfte setzt Nietzsche damit die Logik der Kraft an, wie sie Daniel Lefebvre Deleuze (2008), 93. Ebd, Herv. i. O. 121 Ebd. 122 Vgl. Toymentsevs (2010) Analyse zum Verhältnis von aktiven und reaktiven Kräften bei Nietzsche, Deleuze und Foucault. 119 120

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beschrieben hat 123: Kräfte interagieren durch Aktion und Reaktion, sie sind widerstreitend, einander wider-stehend und erweisen sich darin als steigerbar oder (ab)schwächbar und treten stets nur und überhaupt erst im Wechselspiel auf. Ingo Christians hat dieses Wechselspiel der Kräfte bei Nietzsche auch als Verhältnis zwischen polar strukturierten Kräften, als »Kräftepolarität« interpretiert und ausdifferenziert. Die Polarität der Kräfte meint »zum einen [. . .] [ein] spannungsvolles Wechselspiel der Kräfte (jede Kraft wirkt stets auf eine andere Kraft, die ihrerseits auf die erste Kraft zurückwirkt), zum anderen [. . .] [die] zweifache Qualität einer Kraftwirkung, als Attraktions- und Repulsionskraft (jede Kraft zieht andere Kräfte an und stößt sie gleichzeitig ab).« 124 Den widerstreitenden Interaktionsmodus der Logik der Kraft erweitert Nietzsche nun um eine weitere Dimension, das Differenzprinzip der Rangfolge. Dieses vertieft die kinetische Agentiv-patentiv-Unterscheidung, wird darin aber mit der aktiv-reaktiven Logik der Kraftidee enggeführt und zugleich mit einem Wirksamkeitsmodus in den Kategorien von Herrschaft als ›befehlen‹ und ›gehorchen‹ verbunden: »›Gehorchen‹ wie ›Befehlen‹ sind Formen des Kampfspiels« (eKGWB/NF-1885, 36 [22], KSA 11, 561), sagt Nietzsche. Das bedeutet: Kräfte sind höhere oder niedere Kräfte. Höhere Kräfte sind agentiv-produktiv durch Aneignung und Beherrschung der unterlegenen Kräfte, niedere Kräfte gehorchen oder bringen die höheren Kräfte zur Spaltung und weisen dadurch auch eine Art relationale Agentivität auf. 125 Für Nietzsche stellt das organische Leben »eine dauernde Form von Prozeß der Kraftfeststellungen [dar], wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen« (eKGWB/NF-1885, 36 [22], KSA 11, 560). Mit Deleuze lässt sich bei Nietzsche die folgende »Typologie« oder Tableau der Kräfte als Mächte extrahieren: Vgl. Kap. 6.3.2 a). Christians (2011), 265. Christians referiert hier auf eine Stelle, in der Nietzsche sehr affirmativ Heraklits Philosophie des Werdens rekonstruiert: »Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegengesetzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu einander hin.« (eKGWB/PHG-5, KSA 1, 824–825) Die Figur einer Grundkraft, die in sich entzweit und damit ein Spiel der Kräfte entfaltet, ist auch die Grundlage für Deleuzes Interpretation des differentiellen Elements der Macht und Leibniz’ Konzeption der vis primitiva, die sich in die vis activa und vis passiva teilt, vgl. Leibniz (2017), Specimen Dynamicum. 125 Vgl. Deleuze (2008), 70. 123

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1. aktive Kraft, Macht zu wirken oder zu befehlen; 2. reaktive Kraft, Macht zu gehorchen oder zum Wirken gebracht zu werden; 3. entwickelte reaktive Kraft, Macht zu spalten, zu trennen, abzusondern; 4. reaktiv gewordene aktive Kraft, Macht, getrennt zu werden, sich gegen sich selbst zu kehren. 126

Ziehen wir das Tableau der kinetischen dynamis als Folie zur Ausdifferenzierung der Kräftetypen heran, so findet bei Nietzsche vor allem eine Kombination und Erweiterung von dem agentiven Vermögen, dem patentiven Vermögen affiziert zu werden und dem Vermögen, keine Veränderung zu erfahren, dem Widerstandsvermögen, statt. Das patentive oder ›passive‹ Vermögen fällt für Nietzsche mit der Reaktionskraft und dem Verstandesvermögen in eins. 127 So heißt es in einem Nachlassfragment von 1886 explizit: Was ist »passiv«? widerstehen und reagiren. Gehemmt sein in der vorwärtsgreifenden Bewegung: also ein Handeln des Widerstandes und der Reaktion Was ist »aktiv«? nach Macht ausgreifend (eKGWB/NF-1886, 5 [64], KSA 12, 209)

Die Konzeption des Willens zur Macht mithilfe des Begriffsreservoirs, das der naturphilosophische Begriff der Kraft zusammen mit den Kategorien der Herrschaft bietet, ist nun, wie bereits angekündigt, nur eine Seite der Medaille, denn Nietzsche verschränkt die Beschreibung des Machtwillen als Kräfteverhältnis mit einer ästhetischen Dimension, ästhetisch in dem dreifachen Sinne als Wahrnehmung, Sinnsetzung und Formengenese. Denn die Wirklichkeit, die Bewegungen und Veränderungen sind für Nietzsche nicht nur Ausdruck eines physis-Geschehens, sondern als solche immer auch schon Ausdruck eines interpretierenden und poietischen Vermögenskomplexes, das dem Natürlichen eignet: »Es geht um eine Freisetzung des Ästhetischen im und am Lebendigen und damit in und an den Dingen selbst.« 128 Im Lichte der Idee einer physisch-ästhetischen Verschränkung lässt sich auch die Frage verstehen, die Nietzsche sich als, wie wir durchaus sagen können, untersuchungsleitende Frage stellt: »Wie weit reicht die Kunst hinab in das Wesen der Kraft?« (eKGWB/NF-1885, 2 [128], KSA 12, 128). Daraus wird die Doppelperspektivierung, die Nietzsche anstrebt, deutlich: das Werden in einer physisch-genetischen und in seiner ästhetisch-poietisch-schöpferischen Dimension zu beleuchten. Dies bedeutet 126 Deleuze (2008), 70–71. Deleuze hat diese Typologie aus Nietzsches Zur Genealogie der Moral herausgearbeitet. 127 Connors (2010), 26, deutet dagegen die aktiv-reaktiv-Unterscheidung als interne Verdopplung der aktiven Kraft. 128 Abel (1984), 72, Herv. i. O.

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zweierlei: Zum einen ist die ästhetische Dimension im Sinne der poie¯sis und aisthesis bei Nietzsche, wie bei Aristoteles, in der physis und ihrer Wissenschaft, der Naturphilosophie, verwurzelt, zum anderen ist entsprechend dieser physisch-politisch-ästhetischen Wirklichkeitskonzeption eine »Willen-zurMacht-Physik mit einer Willen-zur-Macht-Ästhetik« verschränkt. 129 Der Wille zur Macht als poietisches Geschehen. Die ästhetische Dimension der Willen zur Macht drückt sich erstens als eine basale Interpretation aus. Die Interpretation in diesem weiten Sinne meint eine ontische Grundtätigkeit und den Bezugsmodus in der Interpretation: etwas interpretiert immer etwas anderes. In Nietzsches Vorstellung eignet die Grundtätigkeit und der permanente Bezugsmodus allem Lebendigen in seinem Verhältnis zu seiner Umwelt. 130 Der Wille zur Macht interpretirt: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt. Darin gleich – – In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden. (Der organische Prozeß setzt fortwährendes Interpretiren voraus. (eKGWB/NF-1885, 2 [148], KSA 12, 139–140)

Der Wille zur Macht als Instanz der Veränderung und Bewegung ist die Grundvoraussetzung für jede Entstehungsbewegung und damit auch von Organisation, Strukturierung und Anordnung im prozessualen Sinne – vom organischen Gebilde über die Konstitution des menschlichen Subjekts bis zur gesellschaftlichen Formation. Das Interpretieren ist neben der Kraftrelation ein Ausdruck oder eine »Form« des Willens zur Macht, die eine schöpferische Bewegung beschreibt, und in diesem Sinne ist Interpretieren selbst eine Art Werden, als » Prozeß« und »Affekt« (eKGWB/NF-1885,2 [151], KSA 12, 140). Mit dem Interpretieren korreliert ein Perspektivieren – alles ist und erscheint perspektivisch. 131 Durch das Interpretieren schafft der Wille zur Macht Veränderung in der Form von Dingen, er schafft und formiert grundlegende Begriffe, Werte und 129 Abel (1984), 73, Herv. i. O. Volker Gerhardt (1996) deutet das Ästhetische in einem engeren Sinne als Werkschöpfung und setzt das Werk als Analogat zur physis. Wir sehen hier, wie sich die große Diskussion um die Beziehung von physis und techne¯ bei Aristoteles bis in die Interpretation von Nietzsches Willen-zur-Macht durchzieht. 130 Nietzsches weiter, nahezu organischer Interpretationsbegriff dürfte dem noch jungen Konzept der ›embodied cognition‹ der Kognitionswissenschaften gar nicht so fern liegen. 131 In der Vorbemerkung zu Jenseits von Gut und Böse (JGB) charakterisiert Nietzsche daher auch »das Perspektivische« als die »Grundbedingung alles Lebens« (JGB, Vorrede, KSA 5, 12); jeder Bezugnahme, auch der der Kräfte zueinander, inhäriert eine Differenz in Perspektiven und Richtungen. Anders könnten sich auch keine Kräfteverhältnisse herausbilden.

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Dinge: »Zweck und Mittel«, »Ursache und Wirkung«, »Subjekt und Objekt«, »Thun und Leiden«, »›Ding an sich‹ und ›Erscheinung‹« (eKGWB/NF-1885, 2 [147], KSA 12, 139). Und er schafft Formen und verändert Formen, ja der Wille zur Macht »manifestiert sich in Formen« 132 des Organischen, Sozialen, Politischen, Moralischen. Der Wille zur Macht ist also nicht nur eine Vielheit in sich, sondern bringt sich auch in einer Vielheit und Vielfalt an Formen der Natur und Kultur zum Ausdruck. 133 Auf diese Weise skizziert Nietzsche eine Art pluralen Monismus oder monistischen Pluralismus der Macht 134, eine Position, der es abgeht, in eine Homogenisierung der Wirklichkeit aufzugehen. 135 Die Formierung erweist sich als Aufrücken, Aufzwängen, als »Herr über etwas werden«. Dieser Grundzug des Interpretierens verlängert sich in die Grundfunktionen der Sprache und des sprachlichen Weltbezugs: Bezeichnen, Benennen und Charakterisieren sind Tätigkeiten der Setzung, der » Sinn-Setzung« aus einer bestimmten Perspektive – Bedeutungen, Tatbestände, das So-Sein von etwas ist für Nietzsche immer durch die Tätigkeit, den Prozess des Sinn-Setzens Produziertes (eKGWB/NF-1885, 2 [149], KSA 12, 140). Der Sinn von etwas wird damit selbst zu einem Prozess: Sinn ist als ein Sinngeschehen zu verstehen, das in einem Machtgeschehen gründet. 136 Zugleich ist das Sinn- als Machtgeschehen ein epistemisches wie ontologisches Individuationsgeschehen: zum einen indem sich der Wille zur Macht in der Formierung, im Arrangement und im Verschwinden von Formen selbst individualisiert bzw. den Formen inhäriert, zum anderen indem der Wille zur Macht »constitutes in a fundamental way what a thing is.« 137 Der Wille zur Macht als Meta-Physik. In der Literatur wird Nietzsche oft – Heidegger folgend – eine »Metaphysik des Willens zur Macht« oder eine »Ontologie der Kräfte« zugeschrieben. 138 Nietzsches Unternehmen einer Theorie aller Bewegungen bzw. der Willen zur Macht wäre m. E. aber am treffendsten weder als Metaphysik noch als Physik oder Naturphilosophie zu charakterisieren, sondern als Meta-Physik, die sich, ähnlich wie bei Aristoteles, aufspannt in der Übergangszone von und zwischen den Polen der Naturphilosophie und Han (2005), 42. Saar (2008a), 464. Vgl. Saar (2007), 112–125, (2008a), 457–464. Saar hat vorgeschlagen, die Formen der Macht bei Nietzsche angelehnt an die psychoanalytische Dreiteilung des Realen, Symbolischen und Imaginären in drei Typen oder Dimensionen von Macht zu unterteilen. Dieses »three-dimensional model of power« (Saar [2008a], 460) vermag die unterschiedlichsten Ausprägungen und ›Formtypen‹ gemeinsam als Manifestationen des Willens zur Macht zu begreifen. 134 Vgl. Saar (2008a), 464. 135 Aydin (2007), 28. 136 Vgl. Han (2005), 41. 137 Aydin (2007), 26, 29. 138 Z. B. Fujita (2013). 132 133

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der Metaphysik. Die Naturphilosophie steht hier in einem engen Austauschverhältnis mit den Modellen, Theorien und Begriffen der Naturwissenschaften, und die Metaphysik wäre nicht so sehr im Design einer allgemeinen Ontologie, revisionären Metaphysik oder Theorie der Ersten Prinzipien und Ursachen zu verstehen, sondern vielmehr als ein Theorietypus, der bestimmte, historisch zugeschriebene konzeptuelle und theoretische Ansprüche und Probleme verfolgt, wie bspw. ein Begriff von allgemeiner Individuation, das Problem des Werdens und Vergehens, den ontologische Status von Wirklichkeit, von Kausalität oder auch von ahistorischen Ordnungsdynamiken, die nach einer totalitären Explikation ausgreifen und darin einer allgemeinen Metaphysik formal ähnlich sind. 139 Nietzsches Meta-Physik ist dann auch durchaus als grundierender und immanenter Diskurs zu verstehen, der anderen Diskursen eine konzeptuelle Hintergrundfolie verleiht und Begriffsbildungen präfiguriert. Der physis-Pol dieses Diskurses umgreift bei Nietzsche, ganz in Anlehnung an den weiten, noch nicht von der Moderne in ein Aufspaltungsverhältnis von Kultur und Natur 140 überführten Begriff, sowohl die Begriffe des Lebens und des Lebendigen als auch der Kultur und der Ästhetik. Die Kultur erweist sich als Vollendung der Natur: »So entschleiert sich [. . .] der Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen.« (eKGWB/HL-10, KSA 1, 334) Als übergreifende Klammer dienen Nietzsche Bewegungsbegriffe der Schöpfung und des Werdens in einem weiten, natürliche und kulturelle Bereiche umfassenden Verständnis der platonischen und aristotelischen genesis und poie¯sis, sowie ein Begriff der Kraft, der sowohl physische als auch geistige und soziale Aspekt und Modellierungen in sich vereint. Genealogie. Soweit nun der problembezogene Einsatzpunkt und der Erklärhorizont der Lehre des Willens zur Macht skizziert worden ist, kann auf den methodischen Ansatz der ›Genealogie‹ eingegangen werden, deren theoretische Basis die Lehre des Willens zur Macht liefert. Das, was Nietzsche als ›Genealogie‹ bezeichnet, ist knapp zusammengefasst das Aufsuchen und narrative Rekonstruieren von spezifischen Ausdrucksformen und Wirkungsorten des 139 Gerhardt diskutiert die Frage nach dem metaphysischen Gehalt und Bodensatz von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ausführlich, allerdings nicht unter dem Spektrum von Naturphilosophie und klassischer Metaphysik, sondern von Metaphysik, Postmetaphysik und Metaphysikkritik (Gerhardt [1996], 283–296). Er argumentiert gegen Heideggers Position, Nietzsches Philosophie als traditionelle Metaphysik auszulegen (ebd., 295) und bemerkt treffend, dass aber »[w]ie alle Philosophie zuvor [. . .] auch das von ihm angekündigte Philosophieren wesentlich von der metaphysischen Frage [nach der Wirklichkeit] angetrieben« wird (ebd., 291, Herv. i. O.). 140 Oder, wie Bruno Latour sagen würde, »Reinigung« der Wissenskultur der Moderne, vgl. Latour (62017). Zum physis- als Kulturbegriff siehe Caysa (2011).

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Willens zur Macht. Die Genealogie folgt den Willens- und Kräftekonstellationen in bestimmten historischen Zeiträumen, um die historische Herkunft und Gewordenheit einer Form (eines Dinges, Subjekts, Gefühls, einer Deutung) und eines moralischen und ideellen Wertes, einer Wertschätzung und eines Wertekomplexes sichtbar zu machen. »Genealogie meint zugleich den Wert der Herkunft und die Herkunft der Werte«, wie es Deleuze lakonisch ausdrückt. 141 Genealogie in diesem normativen Sinne zu betreiben, meint die systematische ›De-Mystifizierung‹ und ›De-Metaphysizierung‹ von Werten, Formen und Prinzipien. In der Herkunftssuche verfährt die Genealogie schöpferisch 142: das In-das-Licht-Bringen einer spezifischen Gewordenheit eines vermeintlich metaphysisch-universalen oder apriorisch geltenden Wertes oder einer Form weist selbst ein wesentlich konstruktives Moment auf. Die Genealogie ist damit dreierlei zugleich: Erstens ein methodischer Ansatz der Explanation im weiteren Sinne, mit dem Ziel, die Bahnen der Werte, Ideen, Praktiken, Gefühle (vor allem: des Ressentiments!) und Begriffe von ihrer Herkunft aus und wiederum das diskursive und praktische Terrain dieser Herkunft aufzuspüren, das Nietzsche einmal »Ursprungsheerd« und »Ursprungsstätte« nennt. 143 Darin verfährt die Genealogie zweitens zugleich transdiskursiv und transliterarisch. Ihr Vorgehen und die Darstellung ihrer Herkunftssuche ist zugleich philosophischanalytisch und historisch, indem sie die dynamischen Kraft- und Willensformationen identifiziert, die die Genese, die Entstehung und die Transformationen von Werten und Formen ausgelöst haben, und sie operiert im Medium der Narration und der Dramatisierung. Man kann Nietzsches Genealogie am besten mit Martin Saar verstehen als »quasi-historiographical sort of writing or reading« und damit als »one form or genre of explaining something by referring it to the ›conditions and circumstances‹ in which it emerged and established itself, i. e., its history and to the powers and forces that were and are at work in it.« 144 Und schließlich ist die Genealogie Nietzsches ein kritisches Unternehmen, ein denkerisches Programm, das sich in einer Ununterscheidbarkeitszone zwischen Geschichte, Philosophie und Kritik bewegt. Der Gegenstand der kritischen Untersuchung ist – und hier schließt sich der Kreis zum philosophischen Deleuze (2008), 6. Ebd., 7. 143 Tatsächlich verwendet Nietzsche diese beiden Termini jeweils nur einmal in einem Fragment und in einem Brief, siehe eKGWB/NF-1885, 2 [23], KSA 12, 76 (»Ursprungsheerd der religiösen Genialität«) und eKGWB/BVN-1884, 522 – Brief an Heinrich Köselitz: 25/07/1884 (»Auch sollten wir, mein geliebter Freund, uns hier, im heiligen Sils, der Ursprungsstätte des Zarathustrismus, für nächsten Sommer wiederzusehen versprechen!«). Häufiger verwendet er dagegen den später auch von Foucault aufgegriffenen Terminus »Enstehungsherd« (zweimal, beide Male in Genealogie der Moral) und »Entstehungsherde« (dreimal). 144 Saar (2008a), 454, Herv. i. O.; vgl. Saar (2008b). 141 142

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Problem des Subjekts – zuallererst das menschliche Subjekt und damit die Werte, Moralität und Politizität in seiner sozialen und ideellen Formung. 145 Explizit wendet Nietzsche die genealogische Kritik auf die Herkunft und das Gewordensein moralischer Werte an, um durch das Schreiben ihrer kontingenten Entstehungsgeschichte die Möglichkeit ihrer Umwertung aufzuzeigen. 146 Die genealogische Kritik kann sich jedoch in ihrer Konsequenz weiter ausgreifend richten auf sämtliche »concepts, institutions and practices in so far as they can be said to influence and determine human conduct by tapping into subject's self-understanding and self-relation. Genealogy, in other words, is basically and generally concerned with historical objects that reflexively ›interact‹ with human subjects.« 147 Zusammenfassung. Mit der vorgelegten Skizzierung von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht und ihrem korrespondierenden methodischen Ansatz der Genealogie haben wir eine notwendige Vorerkundung geleistet, um sowohl das theoretische Terrain der Begriffsschöpfung des foucaultschen Machtbegriffs als auch dessen begriffskorporale Komponenten besser zu verstehen. Da Foucault in seinem Aufgriff von Nietzsches Lehre vom Wissen zur Macht dem genealogischen Zugang einerseits sehr eng verbunden bleibt, andererseits aber auch für ein eigenes Untersuchungsvorhaben modifiziert und weiterentwickelt, spreche ich auch von der ›Adaption‹ der Genealogie durch Foucault. 148

b) Foucaults Adaption: Vom Willen zum Wissen und Genealogie

Vom Willen zur Macht zum Willen zum Wissen zur Macht. Rekapitulieren wir kurz das Problem, auf das die Begriffsbildung des Machtbegriffs bei Foucault antwortet. Im Lichte der Grenzen der Archäologie ist ein methodisches Vor145 Ich folge hier der von Martin Saar vorgelegten Interpretation von Nietzsches Genealogie als subjekt-bezogenes Unternehmen der Kritik, das sich über die drei genannten Merkmale trefflich charakterisieren lässt, ausführlich dargestellt in Saar (2007), 97–157, und in komprimierten Versionen u. a. in Saar (2002, 2003b, 2008a, 2008b). Eine vergleichbare Interpretation hat Michael Clifford (2001) vorgelegt: Er identifiziert »three domains of Genealogy«: »The Subject of Political Discourse«, »Power and the Political Subject« und »Political Subjektivation and Self-Formation«. 146 Dazu heißt es in der Vorrede zur Genealogie der Moral (GM) ganz präzise: »[W]ir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift)« (eKGWB/GM-Vorrede-6, KSA 5, 253). 147 Saar (2008b), 302. 148 Vgl. ähnlich Saar (2007). In dem Terminus der Adaption schwingen hier bewusst sowohl eine biologische als auch literaturwissenschaftliche Konnotation mit.

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gehen und eine theoretische Grundlage gesucht, mit der es möglich ist, die durch die archäologische Fragedimension herausgearbeiteten Bruchstellen und Verschiebungen im Wissenssystem und in den wissenschaftlichen Diskursen im weitesten Sinne zu ›erklären‹. Wonach Foucault also sucht, ist ein ›Hinter‹ dem diskursiven Transformationsgeschehen, ja an der »Außenseite der Erkenntnis« (WW, 46) Wirksames. Dafür wird Foucault die Produktivität ›des Außen‹ der Diskurse die sozialen und politischen Praktiken zu erschließen, in welche die Diskurs- und Wissensgenese eingebettet ist. Das Außen der Diskurse ist dem Wissen zugleich immanent als auch peripher, es strukturiert und verleiht für eine gewisse Zeit einen Wahrheitswert. Das Außen der Diskurse bildet eine Art ›praxeologisch-transzendentale‹ Figur, die sich als konstitutiver bzw. konstituierender Kontext verstehen lässt. 149 Gegenständlich gesehen soll nun eine Fragedimension erschlossen werden, die das »Werden eines Wissens« in Gänze »an seiner Wurzel fass[t]« (SW 1, 7, Vorwort), wie es Foucault in dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen (La volonté de savoir, 1976) formuliert. Von der Archäologie des Wissens wendet sich Foucault nun zu einer »›Dynastik des Wissens‹«, wie er die neue Analyseebene einmal in einem Gespräch nennt (DE II / 119, 506). In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France mit dem Titel »Die Ordnung des Diskurses« (L'ordre du discours, 1970) identifiziert Foucault als Movens dieses Werdens des Wissens, der Entstehens- und Vergehensbewegungen im Feld der Diskurse und der Wissenschaften vom Menschen zunächst mit Nietzsche den »Willen zur Wahrheit« und einen »Willen zum Wissen«, in denen selbst wiederum »das Begehren und die Macht [le désir et le pouvoir]« »im Spiel [en jeu]« sind (ODis, 17). Analytisch gesehen führt Foucault »den Willen zur Wahrheit als eine Erschließungskategorie ein« 150 für die historische Weise, wie in Diskursen Wahrheitswerte und Ausschlüsse aus der Sphäre des Wahren durch Macht installiert werden. Denn der Wille zur Wahrheit hat gegenüber dem Willen zum Wissen »seine eigene Geschichte, welche nicht die der zwingenden Wahrheiten ist: eine Geschichte der Ebenen der Erkenntnisgegenstände, eine Geschichte der Funktionen und Positionen des erkennenden Subjekts, eine Geschichte der materiellen, technischen, instrumentellen Investitionen der Erkenntnis«. (ODis, 15) Foucault verknüpft damit systematisch das Werden des Wissens mit Nietzsches Lehre vom Willen zur Wahrheit und zur Macht und verleiht 149 Wie kaum ein zweiter hat Deleuze, der selbst mit der Denkfigur des Transzendentalen viel gearbeitet hat, Foucaults ganzes Werk mit dem Verhältnis von Innen und Außen als gefaltetes Innen im Außen auf den Begriff gebracht: »Das Innen als Werk des Außen: in seinem gesamten Werk scheint Foucault von diesem Thema eines Innen verfolgt zu werden, das nur die Faltung des Außen ist, so als ob das Schiff lediglich eine Faltung des Meeres wäre.« (Deleuze [1987], 135, vgl. 99–130). 150 Kögler (1994), 84.

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ihr den wissenschaftstheoretischen Status einer leitenden »Hypothese« für sein weiteres Forschungsprogramm (ODis, 10–11). Theorie und Forschungsprogramm. Aus der forschungsleitenden Hypothese entwickelt Foucault dann in seiner ersten Vorlesung Über den Willen zum Wissen (Leçons sur la volonté de savoir, 1970–71) »eine Theorie des Willens zum Wissen« (WW, 15, Herv. L. B.), die im Aufgriff von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht die theoretische Grundlage für sein künftiges Untersuchungsprogramm bilden wird. Dabei analysiert Foucault auch jene andere Theorie (oder das »Modell«) vom Willen zum Wissen, die laut Foucault als »die klassische« in die Geschichte der Philosophie eingegangen und maßgeblich von Aristoteles mit den ersten Sätzen der Metaphysik inauguriert worden ist (WW, 20). Aristoteles schreibt dort: Alle Menschen streben von Natur [physei] nach Wissen [eidenai]. Dies beweist die Liebe [agape¯sis] zu den Sinneswahrnehmungen [aisthe¯seo¯ n], denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen. (Met. I 1, 980a21–24; vgl. WW, 20) 151

Einige der vielen Aspekte, die das klassische Modell vom Willen zum Wissen beinhaltet, sind, so Foucault, die spezifischen, identifizierenden Verknüpfungen von a) Willen zum Wissen (»Streben« und »Neugier«) mit Erkenntnis, b) von Erkenntnis mit Wahrheit, c) der Natur des Menschen und dem Streben nach Wissen, d) »Erkenntnis und Leben« (WW, 254), e) Erkenntnis und Wahrnehmung, f) Erkenntnis, Wahrnehmung und Lust (ebd., 23–30), g) von Wahrheit und Erkenntnis, und schließlich h) von Wille, Wahrheit und Freiheit (»Die Wahrheit ist frei gegenüber dem Willen; sie erhält von ihm keinerlei Bestimmungen«, ebd., 273). Hingegen ist, und das ist ein zentrales Moment für den Diskurs der Philosophie im Ganzen, bei Nietzsche das Bindeglied zwischen Willen und Wahrheit die Gewalt (ebd.). Die enge Beziehung von Erkenntnis und Willen zur Wahrheit wird durch den Willen zur Macht aufgebrochen: »Der Wille zur Macht ist der Punkt, an dem Wahrheit und Erkenntnis sich voneinander lösen und sich gegenseitig zerstören.« (Ebd., 277) Foucault greift diesen Zentralaspekt auf und erweitert ihn mit einer Kritik der Gesellschaft, indem die Hypothese vom Willen zur Wahrheit und von der Theorie vom Willen zum Wissen an die Analyse der »realen Herrschaftssysteme[]« rückgekoppelt werden soll, sodass »das Wahrheitsspiel [der Willen, L. B.] wieder in das Netz der Zwänge und Herrschaftsbeziehungen eingebunden« ist (ebd., 19). 151 Ich habe hier die Übersetzung von Bonitz / Seidl übernommen, in den »Vorlesungen« verwendet der Übersetzer Michael Bischoff eine leicht modifizierte Übersetzung, u. a. wird dort agape¯ sis etwas schwächer mit ›Freude‹ übersetzt. Foucault übersetzt agape¯ sis mit ›Lust‹.

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Die korrespondierende forschungsleitende Frage lautet für Foucault dann zusammengefasst: »[W]ie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen [um das menschliche Subjekt, L. B.], die (zumindest für eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?« (SW 1, 8, Vorwort) 152 Foucault will mit der erweiterten Fragedimension den Zusammenhang zweier »Werden«, des Werdens von Wissen und Erkenntnispraktiken über den Menschen und des Werdens von Kräftekonstellationen, die wahrheitssetzend in den Diskursen und Praktiken der Subjektkonstitution und Subjektformierung am Werk sind, als einander korrespondierend aufweisen und explizieren. Diese Fragestellung basiert auf zwei grundlegenden Prämissen: Erstens setzt sie in methodologischer Hinsicht voraus, dass die Kräftekonstellationen dechiffrierbar sind 153 und zweitens geht sie von der subjektphilosophischen These 154 aus, dass sowohl die Geschichte des Wissens um das Subjekt als auch die Geschichte des abendländischen Subjekts als Orte des Werdens, des Entstehens, Vergehens und der Veränderung, aufgefasst werden können. 155 Diese Orte des Werdens können mit Nietzsche als Orte beschrieben werden, die von einem »unendlichen [. . .] Werden der Kräfte [. . .] begleitet« oder umgeben sind. 156 Innerhalb der Genealogie herrscht gewissermaßen »die Grundtatsache der Konstitution« 157 bzw. der Konstituierung. Dabei lässt sich das Werden der Kräfte begreifen als »eine immerwährende Beweglichkeit [mobilité perpétuelle], [. . .] eine essenzielle Zerbrechlichkeit: [. . .] eine Verschränkung zwischen dem, was den Prozess weiterführt und dem, was ihn umwandelt.« (WK, 47; frz., 52, Übers. modifiziert) In der Untersuchung des Außen des Wissens geht es also um Kräfteverhältnisse und -wirkungen, die in ihren Vollzügen den Namen ›Macht‹ tragen. Der Analyseansatz der Genealogie. Das Werden zu untersuchen bedeutet dann zum einen, die es antreibenden Kräfteformationen in ihrem antagonisti152 In der Formulierung von Deleuze lässt sich diese Frage auf der Ebene der Struktur der Macht auch so darstellen: »Die Frage ist die nach den Kräften, die den Menschen bilden: mit welchen anderen Kräften verbinden sie sich, und welches ist die Verbindung, die daraus resultiert?« (Deleuze [1987], 122–123). 153 Saar (2003a), 167; vgl. VG, 17. 154 Man kann darin auch eine geschichtsphilosophische These aufblitzen sehen: Geschichte ist das Werden des Subjekts (vgl. Saar [2007], 184). Etwas anders deutet Saar die Problemstellung des Subjekts bei Foucault, so sei bereits in der Archäologie des Wissens die Diagnose einer »transzendental-empirischen Dublette« des Menschen in der Episteme der Moderne ab Kant nicht eine subjektphilosophische These, sondern der Versuch, »die Ebene der Subjektphilosophien selbst zu unterlaufen« (Saar [2007], 177, vgl. 181–183). 155 Vgl. Ruoff (32013), 136–137. 156 Deleuze (1987), 119, Herv. i. O. 157 Ruoff (32013), 136.

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schen Aufeinandertreffen zu lokalisieren und zu re-konstruieren, zum anderen aber die Materialitäten des Werdens, das, was es historisch als Gewordenes auslässt und freigibt, die Formen, die Körper, die Diskurse und ihre Grenzen, in den Mikro-Entstehens- und Vergehensbewegungen, in ihren Herkünften aufzuspüren. Die Genealogie versteht sich als ein Intelligibilisierungsverfahren (»mise en intelligibilité«) von Dingen, Formen, Praktiken und Institutionen in ihrer Herkunft und Entstehung; sie untersucht »die tatsächliche Entstehung der Diskurse« (ODis, 41). Damit setzt die Genealogie auch ›tiefer‹ an als die Hermeneutik, denn sie sucht nicht bloß »zwischen den Zeichen und Zeilen nach dem nie ganz ausgesprochenen, letztlich immer verborgenen Sinn.« 158 Begrifflich und methodologisch übernimmt Foucault vier zentrale Ideen von Nietzsche: Erstens verwirft Foucault mit Nietzsche den metaphysisch aufgeladenen Begriff des Ursprungs, um anstelle dessen auf die »Entstehung« und »Herkunft« zu setzen, die mit »origine« im Französischen nur ungenau wiedergegeben werden können (DE II / 84, 171; frz., 151, Herv. i. O.). »Entstehung« ist der »Punkt«, oder besser der ›Herd‹, »an dem etwas hervortritt. Sie ist Prinzip und Gesetz eines Erscheinens« (DE II / 84, 174), so formuliert es Foucault in seinem berühmten Text »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (1971). Zweitens: Das Prinzip der Entstehung situiert und »vollzieht sich stets innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses« (DE II / 84, 175), das von Macht- und Herrschaftsbeziehungen durchzogen ist. Damit gilt es, Macht als ein Kräftegeschehen zu begreifen, das drittens, verbunden mit einem Kausalnexus, eine Erklärkraft entfaltet für die Entstehungsbedingungen, die Formation und Konstitution von ›Singularitäten‹, ›Positivitäten‹ des Wissens, Wahrheiten und Subjekten bzw. Subjektformen. Mit der Einführung von Macht als Explikationsprinzip ist die Elimination des Erkenntnissubjekts (analog zur Einführung der Episteme in der Archäologie) als Ursprung des Wissens verbunden (vgl. DE II / 84, 190). Und viertens sind Kritik und Genealogie untrennbar miteinander verwoben, wenngleich man sie methodologisch als zwei Aspekte einer Untersuchung differenzieren kann. In Bezug auf eine Untersuchung der Diskurse bspw. untersucht die Genealogie »die Entstehung, die zerstreut, diskontinuierlich und geregelt ist«, hingegen analysiert die Kritik die Transformation und Anordnung der entstandenen Diskurse, d. h. »die Prozesse der Verknappung, aber auch der Umgruppierung und Vereinheitlichung der Diskurse« (ODis, 41). Foucault nimmt dabei, wie auch Canguilhem in seiner begrifflichen Historiographie, eine gegenwärtig problematisch gewordene Begrifflichkeit, eine Praktik oder Institution (Wahnsinn, die Klinik, das Gefängnis, die Strafe, Sexualität und Moral, Begehren) auf, um ihre Herkunft und ihr Werden hin zu 158

Sarasin (2019a), 206.

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der gegenwärtigen Ausprägung bzw. Gestalt oder Form anhand historischer Texte und Dokumente zu untersuchen: »Ich gehe von einem Problem in den Begriffen aus, in denen es sich gegenwärtig stellt, und versuche dann, dessen Genealogie durchzuführen. Genealogie heißt, dass ich die Analyse von einer gegenwärtigen Frage aus betreibe.« (DE IV / 350, 831) Dieses methodische Herausgreifen von ›Singularitäten‹, die zugleich für Foucault methodologisch gesehen Positivitäten darstellen (eine bestimmte soziale Praktik, eine Institution oder ein Begriff), nennt Foucault auch ein »Zum-Ereignis-Machen« (»événementalisation«) 159 (WK, 30; frz., 47–48, Herv. i. O.; DE IV / 278, 29–32). In dem Zum-Ereignis-Machen einer Singularität geht es stets auch darum, deren »Realitätseffekte« in einer Gesellschaft in der Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren (DE IV / 278, 42). Das Zum-Ereignis-Machen ist durchaus doppelt als methodisches Vorgehen und als dramatisch-dramaturgische und rhetorische Darstellungsform zu verstehen, die ihrerseits auf eine gewisse textuelle Wirksamkeit zielt, indem die Entstehung und die Transformationskonstellationen eines Analyseobjekts narrativ inszeniert werden. 160 ›Genealogische Kritik‹ zielt dann als Verbund von Genealogie und Kritik am Beispiel einer konkreten, in der Gegenwart problematisch gewordenen Singularität in ihrer Gewordenheit auf eine »Kritik gegenwärtiger Verhältnisse« 161 – dies gleichwohl, ohne dabei auf ›die Gesellschaft‹ als Totalität, das heißt, ohne auf eine »globale[] Gesellschaftsanalyse« zu zielen (DE IV / 278, 42). Die Kritik entfaltet sich darin auf zweifache Weise: Zum einen soll über die (Re-)Konstruktion der Gewordenheit einer Singularität zugleich die Möglichkeit ihrer Alternativität aufgezeigt werden. Zum anderen ist der konstitutive Gegenwartsbezug im Herausgreifen einzelner Singularitäten als (politische) Intervention »ein[es] kritische[n] Denken[s]« (DE IV / 351, 848) zu betrachten. Konkret widmet sich die genealogische Kritik dem »Ziel des Abbaus identitätsstabilisierender Überzeugungen« 162 über das Subjektsein, denn »[d]ie Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien« (DE II / 84, 173). Genealogie ist aber nicht nur zertrümmernd, ihr kritisch-produktiver Impetus will das gewonnene »historische[] Wissen der Kämpfe [. . .] in aktuelle Taktiken ein[]bringen« (VG, 17). In dem konkreten methodischen Modus der Genealogie kulminiert und konden159 In seinem Vortrag »Was ist Kritik?« entschuldigt sich Foucault für diesen sperrigen Neologismus, der in der deutschen Übersetzung von Walter Seitter mit »Ereignishaftmachung« noch sperriger als das französische Original erscheint (WK, 30–31). 160 Saar (2003a), 173–176. 161 Ebd., 167. 162 Saar (2007), 159.

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siert sich, so gesehen, das bereits angerissene kritische Interesse an der Methode mit der Erkenntniseinstellung bei Foucault. 163 Gegenstand der Genealogie. Anstelle sich also wie Nietzsche auf den begrenzten Gegenstand der Genese der Moral zu fokussieren, geht es Foucault in seiner erweiterten Genealogie darum, die Genese vom Wissen vom Subjekt und dem Selbst in einem engeren Sinne in der Form von Problematisierungen, von Praktiken und Institutionen, die diese Diskurse stützen, in ihrer Verschränkung mit einem Willen zur Wahrheit und der sich in ihm zum Ausdruck bringenden historischen Machtform zu untersuchen. 164 Darin ist das Subjekt niemals als Substanz, sondern als Form konzipiert, die historisch permanent verändert wird. »Und gerade die historische Konstitution dieser unterschiedlichen Formen des Subjekts und ihre Beziehung zu den Spielen der Wahrheit« sind das Untersuchungsinteresse und -ziel von Foucault, wie er einmal in einem späten Gespräch pointiert (DE IV / 356, 888). Das Subjekt bildet dabei, wie in der archäologischen Untersuchung, niemals selbst den universalen Anfang und Ausgang, also das ›Prinzip‹ der Synthesis von Erfahrung und Wissen, oder eine leere Form, die historische Füllungen erhält, sondern wird als eine stets hervorgebrachte Form untersucht. In einer Antwort auf die Frage, ob es in seinen Analysen keine »souveränen Subjekte« gebe, formuliert Foucault diesen Aspekt besonders deutlich: Man muss unterscheiden. Als Erstes denke ich tatsächlich, dass es kein souveränes, stiftendes Subjekt, keine Universalform Subjekt gibt, die man überall wieder finden könnte. Ich bin sehr skeptisch und sehr feindselig gegenüber dieser Konzeption des Subjekts. Ich denke im Gegenteil, dass das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung, oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird [. . .]. (DE IV / 357, 906) 165

Foucault weist der Genealogie drei relational strukturierte Gegenstandbereiche zu, die er auch als drei historische »Ontologie[n] unserer selbst« (DE IV / 351, 848) betrachtet, wobei sich die ontischen Gegenstände aus der Menge der BezieVgl. Kap. 8.3.1 (K3). In der Interpretation eines engen Bezugs von Genealogie und der Thematik des Subjekts folge ich der Interpretation von Saar (2002, 2003a, 2007). 165 Die Antwort formulierte Foucault in einem seiner letzten Interviews, abgedruckt im Juli 1984 in Le Monde. Siehe zu dieser Antwort auch Paul Veyne: »Es geht nicht darum, das menschliche Subjekt, sein Denken, seine Freiheit der Tyrannei des Dispositivs zu unterwerfen, sondern darum, der Fiktion ein Ende zu setzen, wonach das Subjekt, das Ich, seinen Rollen vorausginge. Es gibt kein Subjekt vor jeglicher Subjektivierung, also gleichsam ein Subjekt im ›Naturzustand‹; ein solches Subjekt wäre nicht ursprünglich, sondern leer. In der Geschichte findet sich keine universelle Form des reinen Subjekts.« (Veyne [2003], 43) 163 164

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hungen und der Effekte dieser Beziehung auf die Form des Subjekts bilden. 166 Die historischen Ontologien untersuchen nach Foucault i) die Beziehung des Subjekts zur Wahrheit, woraus sich das »Erkenntnissubjekt« konstituiert, ii) die Beziehung des Subjekts zu einem »Machtfeld«, woraus sich das soziale Subjekt konstituiert, das auf andere »einwirkt«, schließlich iii) die Beziehung des Subjekts zur Moral, woraus sich ein ethisch handelndes Subjekt konstituiert (DE IV / 344, 759). Wahrheit, Macht und Moral bilden dann gleichsam drei »Achsen« der genealogischen Untersuchung des Subjekts und des Selbst (ebd.). Foucaults ›Ontologien‹ sind in diesem Sinne Programme der Untersuchung von bestimmten Beziehungen des Subjekts zur Wahrheit, zum sozialen Milieu und zur Moral. Indem sie streng nur Bezug zu ihrem Gegenstand nehmen, stellen sie so gesehen relationale Ontologien dar. Nicht zu verwechseln ist die Begriffsverwendung ›Ontologie‹ in diesem Zusammenhang mit dem philosophischen Theorieformat einer allgemeinen Ontologie, die kontextinvariante Strukturen und Einheiten der Welt beschreiben will. Dass Foucault dennoch auf den Begriff ›Ontologie‹ zurückgreift, kann einerseits als ironischer Fingerzeig gegen die klassische (in Frankreich: phänomenologische) Schulphilosophie verstanden werden, andererseits indiziert die unübliche Verwendung insgesamt eine Flexibilisierung des Begriffs. 167 Genealogie als Analyse von Bewegung und Veränderung. Es wurde bereits gezeigt, dass die Genealogie auf die Genese von Wissens-, Subjektformen und Praxisformen zielt, die, so die zugrundliegende, die Genealogie leitende These, aus dem Werden von Kräfteverhältnissen bzw. aus einem dynamischen Kräftegeschehen hervorgehen. Außerdem, so wäre mein an Aristoteles und Deleuze orientierter Interpretationsvorschlag, lässt sich die foucaultsche Genealogie durchaus begreifen als eine Analyse von Bewegung und Veränderung, von Entstehung (= Werden) und Bewegungsänderungen, oder – wie es Foucault ausdrückt, »eine[r] immerwährende[n] Beweglichkeit [mobilité perpétuelle], 166 Es fehlt bis heute eine gründliche Interpretation davon, was Foucault unter dem Begriff ›Ontologie‹ versteht; sicherlich verwendet er Ontologie nicht im traditionellen Sinne als »Lehre vom universalen Sein« und zielt entsprechend auch nicht auf ein Theorieformat einer allgemeinen Ontologie. Ontologie ist bei Foucault meines Erachtens eher analytisch oder methodologisch und darin eher formal als material zu verstehen. Prominent aufgegriffen und programmatisch ausgebaut hat Ian Hacking den Terminus der »historischen Ontologie« (in »Was ist Aufklärung?«, DE IV / 339, 703), vgl. Hacking (2002). Jüngst hat Frieder Vogelmann den fruchtbaren Vorschlag gemacht, nicht die Ontologie als Theorieformat in Gänze, sondern die »Fundierungsfunktion« von Ontologie für die Kritik als wesentliches Charakteristikum geltend zu machen (Vogelmann [2019], 56–59; hier: 57, Herv. i. O.). 167 Diese Flexibilisierung des Ontologie-Begriffs dürfte ihren Zenit in der transdisziplinären ›ontologischen Wende‹ oder dem ›turn to ontology‹ erreicht haben, in dem teilweise das Epistemische als Ontologie(n) rekonzeptualisiert wird.

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[. . .] eine[r] Verschränkung zwischen dem, was den Prozess weiterführt und dem, was ihn umwandelt« (WK, 47; frz., 52, Übers. modifiziert). Analytisch betrachtet fußt die Genealogie also auf einer Theorie der Beweglichkeit und Veränderbarkeit von installierten oder etablierten (Subjekt-, Praxis-, institutionellen) Formen, wobei nicht die Formen selbst in Bewegung sind, sondern von einem Kräfteverhältnis erzeugt oder zum Verschwinden gebracht werden. 168 Anders als bei Aristoteles sind Formen für Foucault natürlich nicht ewig und unvergänglich, sondern historisch kontingent und in unterschiedlicher Dominanz gegenwärtig. Die Theorie der Bewegung ermisst das Werden also weniger an den Formen des Natürlichseienden, das heißt, ontologisch gesprochen, an der großen Region der lebendigen Substanzen, als an den Formen des Sozialen und Kulturellen. Kurz: Subjektformen sind Effekte von Diskurs- und Machtbewegungen. Dem Unternehmen einer Genealogie des Willens zum Wissen und dazugehöriger Subjektformierungen liegt eine dynamisch-kinetische Grundannahme, ja, um die Zuspitzung weiter zu treiben, eine über Nietzsche eingebrachte rudimentäre Philosophie des Werdens zugrunde, ohne dass Foucault sie je als solche expliziert hat. Die Philosophie des Werdens hat bei Foucault die Begrenzung einer Theorie des Werdens des Sozialen bzw. des sozialen Werdens und ist ihrerseits verbunden mit einer meta-physischen Theorie der Kräfte. Darin weist das Meta der Physis in den Bereich des Sozialen und Kulturellen als primordialem Bereich der Wirklichkeit hinein. Der tiefliegende »Herakleitismus« 169, den Deleuze bei Foucault in Bezug auf seine Affinität zu Kampfund Kriegsmodellen beobachtet hat, lässt sich tatsächlich auch im doppelten Sinne verstehen: als tiefe Verbundenheit zu einem Denken des Werdens und der Veränderung.

c) Genealogie als Analytik der Macht

Der Machtbegriff der ›klassischen‹ politischen Theorie und Philosophie. Wurde bisher das nietzschesche Erbe in der Genealogie skizziert, so ist es nun wichtig, die Genealogie unter dem Titel einer ›Analytik der Macht‹ als wichtigen Beitrag in der Arbeit am Machtbegriff zu erkunden. Denn von diesem Spielfeld her nimmt Foucault seine scharfkantige, bisweilen polemisch geführte Absatzbewegung zu dem Machtbegriff und seinen primären disziplinären Verhandlungsorten, der politischen Theorie, der politischen Philosophie und der 168 »Das Werden, der Wechsel, die Mutation betreffen die bildenden Kräfte, nicht die gebildeten Formen«, hat Deleuze treffend differenziert (Deleuze [1987], 122). 169 Deleuze (1987), 158.

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Rechtsphilosophie, vor. Beginnen wir also mit dem Machtbegriff, so wie er, laut Foucault, in der modernen politischen Theorie und politischen Philosophie hauptsächlich konzipiert und verwendet wird. Beide Disziplinen hätten, so Foucault, bis in seine Gegenwart hinein politische »Macht auf das Problem der Souveränität reduziert« und damit Macht selbst nach dem »Modell« der Souveränität modelliert, das sich im »rechtlich-philosophischen Denken des 16. und des 17. Jahrhunderts« geformt hat (DE III / 197, 303). In diesem Modell bündeln sich spezifische Fragestellungen substanzieller Art »Was ist der Souverän? Wie kann der Souverän sich konstituieren? Was bindet die Individuen an den Souverän?« (ebd.). Ihnen gemein ist, dass sie Macht hinsichtlich der begrifflichen Struktur als Ware, als besitz- und steigerbares Gut, oder rechtlich als »ursprüngliches Recht« oder als »Vertrag« konzipieren (VG, 28, vgl. 23–30; SW 1, 84). Die politische Theorie und Rechtsphilosophie sei bei dem Thema Macht, was sowohl ihre Theorie als auch ihre Analyse betrifft, einerseits von dem Souveränitäts- und Repräsentationstopos und damit einer negativen, hierarchisierenden »›juridisch-diskursive[n]‹« (SW 1, 84) und darin staatsbezogenen Machtkonzeption »besessen geblieben« (DE III / 192, 200) 170. Diese beziehe sich, malus malum, »auf ein [. . .] historisch überholtes Modell, das der Kastengesellschaft« (AN, 73, vgl. 74). Und andererseits sei auch die seinerzeit dominante marxistische Machttheorie einem Primat der Ökonomie gegenüber der Politik und damit analog einem Totalitarismus und »›Ökonomismus‹ in der Machttheorie« (ebd., 23) verhaftet und folglich ebenso nicht in der Lage, die moderne politische Macht in ihrer basalen Wirkungsebene der menschlichen Beziehungen zu erfassen. 171 Zudem konzentriere sich der gegenwärtige philosophische und sozialtheoretische Diskurs der Macht, d. h. der Machtdiskurs der 1970er in Frankreich, auf die Konzeption von Macht »als das, was unterdrückt. Sie unterdrückt die Natur, die Instinkte, eine Klasse, die Individuen.« (VG, 25) Foucault nennt diese dominante Konzeption von Macht als Repressionsmechanismus auch die »Hypothese Reich« (ebd., 27; vgl. SW 1, 17–20, 23–53, AN, 62), benannt nach dem Psychoanalytiker und Sexualitätsforscher Wilhelm Reich (1897–1957). In den methodologischen Kommentaren der Vorlesung Die Anormalen (AN) (Les Anormaux, 1975) findet sich eine schöne Zusammen170 Aus diesem Kontext der metatheoretischen Analyse stammt auch der populär gewordene Satz: »[M]an muss dem König den Kopf abschlagen [il faut couper la tête du roi], und in der politischen Theorie hat man das noch nicht getan.« (DEIII / 192, 200; frz., 150). Insgesamt scheint Foucault die Termini ›politische Theorie‹ und ›politische Philosophie‹ nahezu synonym zu verwenden. 171 Die begrifflichen Metareflexionen bündeln sich insbesondere in »Ein Gespräch mit Michel Foucault« (1976/77) (DE III / 192), »Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über« (DE III / 197), »Macht und Strategien« (DE III / 218), »Die Maschen der Macht« (DE IV / 297), »Subjekt und Macht« (DE IV / 306).

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fassung der konzeptuellen Irrtums- oder ›Frontlinien‹, an die sich Foucault gestellt sieht: Und Sie sehen, daß hinter all dem, woran ich mich aufhänge oder von dem ich mich lossage, im Grunde die Idee steht, daß die politische Macht – in all ihren Formen und auf welcher Ebene man sie auch betrachte – nicht auf den Hegelschen Horizont schöner Totalität hin analysiert werden darf, welche die Macht in ihrer Wirkung allenfalls verkennen oder durch Abstraktion oder Teilung brechen würde. Mir scheint es ein zugleich methodologischer und historischer Irrtum zu sein, anzunehmen, daß die Macht wesentlich ein negativer Unterdrückungsmechanismus sei und daß sie wesentlich die Funktion habe, die Produktionsverhältnisse zu schützen, zu bewahren und zu reproduzieren. Mir scheint der Gedanke irreführend zu sein, daß die Macht etwas sei, was sich im Hinblick auf das Kräftespiel irgendwo im Überbau abspielt. Und schließlich ist es ein Irrtum, daß sie wesentlich an Effekte des Verkennens gebunden sei. Mir scheint auch, daß sich diese traditionelle und überall zirkulierende Konzeption der Macht, die man in historischen Schriften oder noch in aktuellen politischen oder polemischen Texten findet, tatsächlich auf diverse Modelle stützt, die historisch überholt sind. (AN, 72–73; vgl. DE III / 218, 546–550, DE IV / 30, 281–294)

Nun gibt Foucault Mitte der 1970er zu, dass er diese Hypothese oder das Modell von Macht als Unterdrückung, Ausschließung und Kampf bis dahin selbst aufgegriffen und eher unreflektiert in seinen Untersuchungen zum Wahnsinn in der Moderne (oder im ›klassischen Zeitalter‹ mit Foucault) angewendet hatte (VG, 28; DE III / 197, 299–306). 172 Foucaults bahnbrechende Einsicht ist, dieser Konzeption von Macht – und damit seinen eigenen Analysen, insofern sie einer historisch und methodologisch ›überholten‹ Machtkonzeption aufsaßen (vgl. AN, 73) – selbst einen historischen und analytischen Gültigkeitsindex zuzuschreiben. 173 Unschwer ist in den Explikationen zur Konzeptualisierung von Macht und den Dominanzstellungen von ›Souveränitätsmacht‹, ›GesetzesMacht‹, ›Vertragsmacht‹, von Macht als Gut oder Ware und der Herausarbeitung von primordialen Modellen und Hypothesen der Macht im Diskurs der Politischen Theorie und Philosophie eine meta-begriffliche Reflexion und diskursive Intervention zu erkennen, die sich als Arbeit am Machtbegriff zweiter Ordnung charakterisieren ließe. Transformation des theoretischen Formats. Vor dem Hintergrund dieser methodologischen, nahezu wissenschaftstheoretischen Detailschärfe nimmt Fou172 So noch Histoire de la folie à l’âge classique, 1961, umgearbeitet 1972, auf Deutsch: Wahnsinn und Gesellschaft. 173 Vgl. Saar (2007), 226.

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cault zwei Operationen zur Macht vor, eine diskursive und eine begriffliche. Die diskursive Operation besteht in dem Versuch der Transformation auf der Ebene der ›Theorie der Macht‹. In dem Interview »Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über« im Januar 1977 charakterisiert Foucault aufschlussreich, dass es ihm in seiner Arbeit um »eine Überarbeitung der Theorie der Macht« gehe (DE III / 197, 303). Seine Betonungen andernorts, dass es ihm weniger um eine Theorie der Macht als um eine Analytik der Macht gegangen sei (SW 1, 84), sind daher so zu verstehen, dass er das Format der Theorie der Macht als bisher übliches diskursives Terrain der Macht in das Format der Analytik der Macht transferieren oder zumindest das Terrain einer Theorie der Macht mit einer Analytik der Macht neu aufrollen wollte (GG 1, 14). 174 Damit bewegt sich Foucault gar nicht ganz abseitig des Terrains einer Theorie der Macht 175, vielmehr nimmt er eine Verschiebung am Rande des Terrains der Theorie vor. Diese Verschiebung birgt wiederum zweierlei theoriepolitische Implikationen: Foucault zielt darauf, das, mit Althusser gesprochen, ›ideologische Feld der Theorie‹, und hierin insbesondere die politische Theorie in ihrer kritischen und interventiven Kraft, für »den Kampf im Feld der politischen Macht« (DE III / 218, 550) zu stärken und zu mobilisieren. Foucault geht also um einen Beitrag im politischen (Klassen-)Kampf – sowohl von Seiten der theoretischen Praxis als auch von Seiten der agitativen und demonstrativen Praxis. Jedoch sollte der ihm zeitgenössische politische Kampf, so Foucault in einem Gespräch mit Jacques Rancière (»Mächte und Strategien«, 1977, DE III / 218), nicht mehr in der marxistischen Kategorie und Logik des kapitallogischen Widerspruchs analysiert und von ›der Theorie‹ koordiniert werden, sondern durch ein »strategisches Denken« und eine ihm äquivalente Analytik der Machtbeziehungen substituiert werden (ebd., 548–550). Mit der Substitution des Widerspruchs als »Prinzip der Verstehbarkeit und als Handlungsregel im politischen Kampf« (ebd., 548) durch eine Logik der Kräfte und Widerstandspotentiale fordert Foucault die Verschie174 Seine methodologischen »Vorannahmen« zur Geschichte der Gouvernementalität I beginnt Foucault mit einer (erneuten) Klarstellung dieses Punkts, wobei er signalisiert, dass seine Analytik der Macht zwar nicht eine allgemeine Theorie der Macht adressiert, womöglich aber einer prozeduralen oder praxeologischen Theorie der Macht zuarbeiten könnte: »Erstens, die Analyse der Machtmechanismen, die vor einigen Jahren begonnen wurde und die nun fortzuführen ist, [. . .] ist in keinerlei Hinsicht eine allgemeine Theorie dessen, was Macht ist. [. . .] Dies könnte und mag also allenfalls nur der Anfang einer Theorie sein, keine Theorie dessen, was die Macht ist, sondern eine Theorie der Macht unter der Bedingung, daß man vorausschickt, daß die Macht eben nicht eine Substanz, ein Fluidum ist, [. . .] sondern einfach soweit einräumen würde, daß die Macht ein Ensemble von Mechanismen und Prozeduren ist, deren Rolle oder Funktion und Thema darin besteht, die Macht zu gewährleisten, [. . .] und nur so läßt sich verstehen, daß die Analyse der Machtmechanismen etwas wie eine Theorie der Macht in Gang setzt.« (GG 1, 13–14). 175 Vgl. Saar (2007), 205–206.

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bung von der »wirklichen Theorie« 176 zur Analytik der Machtbeziehungen auf dem Feld der (politischen) Theorie. 177 Diese Analytik wiederum versteht Foucault als eine »Werkzeugkiste [boîte à outil]«, welche es vermag, theoretische und konzeptuelle »Werkzeug[e]« bereitzustellen, »die den Machtverhältnissen und Kämpfen in ihrem Umfeld angemessen« sind (DE III / 218, 550; frz., 427), und »nicht nur die Repräsentation von Macht, sondern deren reale Funktionsweise« zu analysieren (DE IV / 297, 228). 178 Nun basiert eine Analytik der Macht anders als eine Theorie der Macht nicht auf einer substantialisierenden Vorstellung und Objektivierung von Macht, sie stellt nicht primär (aber auch) die Frage »Was ist Macht?«, sondern die Frage nach dem »Wie« der Macht, nach ihrer Wirkweise und ihren Effekten (VG, 31–32). Um einen Vorausblick zu geben: Das, was im Topos der Souveränität und Repräsentation als ›Macht‹ bezeichnet wird – die Souveränität des Staates, die Institutionen der Herrschaft, die juridische Struktur, die Durchsetzung von Willen und Interessen (SW 1, 93, DE III / 197, 304) – sind für Foucault erst die ›Effekte‹, die »Endformen [formes terminales]« der Macht (SW 1, 93; frz., 121); die Macht wird ausgeübt und entfaltet sich weit ›unterhalb‹ der monolithischen Symbole und Institutionen der Macht auf der Ebene der sozialen Beziehungen und der Elemente des Sozialen. 179 Mit der diskursiven Operation, die Untersuchung von Macht von dem Terrain der Theorie in das Terrain der Analytik zu verschieben, geht es Foucault also auch darum, die Ränder der politischen Theorie und Philosophie selbst zu überschreiten und auszuweiten. Der Analytik liegt nun ihrerseits nicht eine Theorie, sondern ein bestimmter Begriff von Macht zugrunde. Erfordernis einer alternativen Konzeption von Macht. Die Verschiebung von der Theoretisierung zur Analytik von Macht erfordert eine Neufassung auf der Ebene des Machtbegriffs (DE IV / 306, 270–271). 180 Ab Mitte der 1970er Jahre Althusser (22016), 48–51. »Die Rolle der Theorie scheint mir heute folgende zu sein: nicht eine globale Systematik zu formulieren, die allem seinen Platz anweisen würde, sondern die Besonderheit der Machtmechanismen zu analysieren, die Verbindungen und Erweiterungen zu bestimmen, nach und nach ein strategisches Wissen aufzubauen.« (DE III / 218, 550). 178 Foucault formuliert hier auf der Ebene der Theorie und Methodologie eine fundamentale Kritik an einem Kernbestandteil der marxistischen Theorie, der Logik des Widerspruchs. Das komplexe Verhältnis von Foucault zur marxistischen Theorie und zur kommunistischen Partei soll hier ausgespart bleiben. Zur diskursiven bzw. theoretischen Politik von Foucault siehe auch Walzer (1986). 179 Vgl. Saar (2007), 206–211. 180 Dazu auch hier etwas ausführlicher der Passus in dem Text »Subjekt und Macht«: »Brauchen wir eine Theorie der Macht? Da jede Theorie eine Objektivierung voraussetzt, kann keine Theorie als Grundlage für die Analyse dienen. Aber man kann keine Analyse vornehmen, ohne vorher die behandelten Probleme in Begriffe zu fassen. Und diese Begriffsbildung setzt kritisches Denken und 176

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ist Foucaults zentrales Anliegen, die bis dato dominanten souveränitäts-, vertrags- und repressionszentrierte Konzeptionen von Macht in der politischen Theorie und Philosophie durch einen Gegenentwurf hinter sich zu lassen, weil, so seine historische Analyse, diese Form der begrifflichen Fassung nicht mehr hinreichend in der Lage sei zu erfassen, worin sich moderne Macht auch äußert: in den kapillaren, feinen und verzweigten sozialen Beziehungen der Menschen, der historischen Diskurse und der Weisen der Subjektkonstitution zueinander. Diese Grundannahme bildet zugleich »eine minimale deskriptive ›Theorie der Macht‹« 181, ohne die keine Analytik auskommt. Mit der Einführung der Machtanalytik und einer ihr gemäßen Machtkonzeption komplettiert Foucault daher seine diskursive Operation durch eine begriffliche Operation am Machtbegriff selbst. Es gelte, dem König den Kopf abzuschlagen, und zwar mit einem Machtbegriff, der auf der formal-ontologischen Ebene des Werdens des Sozialen angesiedelt ist und dabei weder global noch allgemein konzipiert ist, sondern ›empirische‹ Anleihen in der Konzeption nimmt (DE III / 216, 519, DE III / 218, 550). Zusammenfassung und Ausblick. Mit der Genealogie als UntersuchungsVerfahren und einer Theorie des Willens zum Wissen, die primär als methodologische Grundlegung genealogischer Untersuchungen fungiert, führt Foucault einen Analyserahmen ein, der moderne Machtbeziehungen untersuchen soll, um die Transformationsgeschehen auf der Ebene der Diskurse und Wissensfelder aufzuschließen. Für diesen Analyserahmen wird eine adäquate Konzeption von Macht erforderlich, d. h. ein Machtbegriff, der die Felder, auf die Foucault seine Genealogien anlegt, analytisch-kartografisch zu erschließen vermag. Mit der Einführung der Genealogie nimmt Foucault also die Arbeit am Machtbegriff auf, um das methodologische Problem der Analyse des Subjekts zu lösen. Die traditionellen, juridisch orientierten Machtkonzeptionen sind dafür nicht brauchbar und historisch überholt. Der Machtbegriff hat im Rahmen der Genealogie die formale Funktion einer Explikationskategorie oder, besser, eines Explikationsprinzips. »Prinzip« ist hier, wie bereits bei Nietzsche, nicht als zentralisierendes, »einziges Erklärungs- oder Gesetzesprinzip« (WK, 40) zu verstehen, sondern als Verweis auf ein in sich heterogenes Kräftegeschehen, das bestimmte Wissensformationen, Praktiken und Subjektformen hervorbringt. eine ständige Verifizierung voraus. Zunächst müssen wir die ›begrifflichen Erfordernisse‹ [›besoins conceptuels‹] klären, wie ich sie nennen möchte. Damit meine ich, dass die Begriffsbildung [conceptualisation] nicht mit einer Theorie des Objekts vermengt werden darf. Das begrifflich zu erfassende Objekt ist nicht das einzige Geltungskriterium für die Begriffsbildung. Wir müssen auch die historischen Bedingungen kennen, die eine bestimmte Art der Begriffsbildung motivieren.« (DE IV / 306, 270–271; frz., 223–224) 181 Saar (2003a), 169.

Begriffskorpus

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Damit übernimmt Foucault, mit einigen Modifikationen und Anpassungen, nicht nur einzelne Ideen zur Kausalitätsfrage 182 von Nietzsche, sondern übernimmt auch die für Nietzsche wesentlichen Charakteristika der Genealogie: in gegenständlicher Hinsicht den Subjektbezug, in der Darstellungsform den Rückgriff auf narrative Elemente, in der Funktion eine Kritik von Dingen durch eine Demonstration ihrer Gewordenheit. Aus der meta-physischen Präfiguration des theoretischen Terrains, das im Wesentlichen durch Nietzsches Machtkonzeption als Kräftegeschehen bestellt ist, lässt sich jetzt bereits erahnen, dass im Begriffskorpus des foucaultschen Machtbegriffs der Kraftbegriff, und damit auch die Meta-Physik, aufgerufen wird.

8.4 Begriffskorpus

Die spezifische Herausforderung für die Herausarbeitung der Meta-Physik in Foucaults Machtbegriff wird darin bestehen, das Verhältnis oder die Verhältnisse von Kraft- und Machtbegriff und darin die Virulenz des Bewegungsbegriffs präzise zu extrapolieren. Dazu erweist sich neben der Studie Foucault von Deleuze (1987) die Studie Darwin und Foucault (2009) des Historikers Philipp Sarasin als besonders hilfreich. Überblick und Quellen. Foucaults machtbegrifflicher Korpus stellt sich wie eine Potenzierung der diagrammatischen Grundthese dar, dass ein Begriff ein fragmentarisches Ganzes aus mehreren Komponenten bildet, denn die einzelnen Begriffskomponenten sind in sich sehr komplex aus mehreren Elementen zusammengesetzt. Ich schlage hier einen analytischen Zugang vor, der im Begriffskorpus zwei Ebenen identifiziert: eine Basisebene, die Foucault Anfang und Mitte der 1970er entwickelt hat, und eine zweite Ebene, die sich als Modifikation oder ›Akzentverschiebung‹ auf den Begriff der ›Regierung‹ darstellt und von Foucault Ende der 1970er entwickelt wurde. Mithilfe der begriffskorporalen Untersuchungsaspekte (K6–K10) wird hier eine Interpretation vorgelegt, die Foucaults Machtbegriff als ein multiples Ganzes betrachtet, das eine materiale begriffliche Bestimmung mit methodologischen und machthistoriografischen Elementen kombiniert und zwei begriffliche Ebenen umfasst (vgl. Abb. 12). Die diagrammatische Untersuchung identifiziert eine Basisebene, die sich als Konstellation aus Kräftegeschehen, historischem Formenkomplex und analytischem Modell darstellt (K6). Innerhalb der Basisebene ist ein genereller Bezug zum meta-physischen Werden und zur Bewegung und den Strukturprinzipien der Agentiv-patentiv-Korrelation sowie der Kraftlogik in Form von 182

Siehe ausführlicher dazu Kap. 8.5.1 (K11).

Foucaults Machtbegriff

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Aktion und Widerstand (K7) erkennbar. Während in der Literatur häufig eine ›Umorientierung‹ in der Machtanalytik insinuiert wird, die vom Begriff der Macht zum Begriff der Regierung wechsle, gestaltet sich aus diagrammatischer Perspektive die Hinzunahme des Begriffs der ›Regierung‹ als eine zweite, kontinuierende Ebene des Machtbegriffs, die die Basisschicht in erster Linie um die Dimension der Lenkung und Führung (von Bewegungen) erweitert (K8). Wenn es um die Kontur, die Charakterisierung und Beschreibung des foucaultschen Machtbegriffs geht, werden in der Foucault-Rezeption bevorzugt einige Passagen im »Methoden«-Kapitel von Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 angeführt. Diese können ganz zurecht als Schlüsselstellen für die Auseinandersetzung mit Foucaults Machtbegriff gelten und sollen auch in dieser Interpretation als Ausgangspunkt herangezogen werden. Um einzelne Elemente zu klassifizieren, werden auch weitere Explikationen aus den Vorlesungen und den kürzeren Texten in Dits et Ecrits hinzugezogen. Zweite Ebene (K9): Macht als Regierung

Erste Ebene (K6): Macht als historisches Kräfteverhältnis Materiales Element

Historisches Element

Analytisches Element

Strukturprinzip (K8): Spiel & Widerstand

Epistemologisches & ontologisches Profil (K10)

Phasenraum (K7): (Historische) Machtformen/Machttypen

Abb. 12 Der Begriffskorpus von Foucaults Machtbegriff

8.4.1 Die erste Begriffsebene und ihre Elemente (K6)

Die Basisebene von Foucaults Machtbegriff, so sei hier vorgeschlagen, lässt sich in ihrer analytischen Komplexität am besten als Ganzes bestehend aus drei einander komplementären und ineinandergreifenden, heterogenen Grundelementen beschreiben, die auf die analytischen Herausforderungen der Genealogie antworten. Nennen wir sie hier die Grundelemente der materialen Bestimmung (a), der historischen Form (b) und der analytischen Form (c). Diese drei Grundelemente bilden in unserer Beschreibung die Basisebene (vgl. Abb. 13), während die konkreten historischen Machtformen den Phasenraum der Basisebene darstellen (K7). Zwar expliziert Foucault diese drei Grundelemente an keiner Stelle in der hier vorgeschlagenen Form und Weise, aus einer diagrammatisch-heuristischen Perspektive lassen sie sich aber als wesentliche Elemente im Begriffskorpus identifizieren und kartieren.

Begriffskorpus

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Erste Ebene: Macht als historisches Kräfteverhältnis

Materiales Element (Macht als soziales Kräfteverhältnis)

Historisches Element (Matrix aus neun Variablen)

Analytisches Element (historische Analysemodelle)

Abb. 13 Elemente der ersten Ebene des foucaultschen Machtbegriffs

a) Materiales Element: Macht als soziales Kräfteverhältnis

Begriffliche Bestimmung. In Sexualität und Wahrheit 1 (Der Wille zum Wissen) gibt Foucault die folgende, stark narrative Bestimmung von Macht: Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen [la multiplicité des rapports de force], die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel [le jeu], das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen [luttes et d'affrontements] diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern. Die Möglichkeitsbedingung der Macht oder zumindest der Gesichtspunkt, der ihr Wirken bis in die ›periphersten‹ Verzweigungen erkennbar macht und in ihren Mechanismen einen Erkenntnisraster für das gesellschaftliche Feld liefert, liegt [. . .] in dem bebenden Sockel der Kräfteverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind. (SW 1, 93–94; frz., 121–122, Herv. L. B., Übers. leicht modifiziert 183)

Ein grundlegendes Charakteristikum von Macht ist für Foucault, dass sie in den Verhältnissen der interagierenden Kräfte wurzelt, d. h., sie »hat kein Wesen, sie ist operativ. Sie ist kein Attribut, sondern ein Verhältnis«. 184 Da sich soziale Beziehungen niemals jenseits der vorherrschenden oder sich transformierenden Kräfteverhältnisse ausbilden können, sind sie immer zugleich auch 183 Vgl. Saars Anmerkung, dass die deutsche Übersetzung von »rapports de force« mit »Kraftverhältnissen« von Ulrich Raulff und Walter Seitter in Sexualität und Wahrheit 1 »unelegant[]« ist ([2007], 208, Fn. 225); ich verwende anstelle dessen (auch in sämtlichen Zitierungen) das Wort »Kräfteverhältnisse«. 184 Deleuze (1987), 42–43.

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Beziehungen der Macht bzw. ›Machtbeziehungen‹. Kurzum: Für Foucault ist »das Machtverhältnis [. . .] die Gesamtheit der Kräfteverhältnisse, die ebenso durch die beherrschten wie durch die herrschenden Kräfte hindurchgeht, die alle beide Singularitäten bilden.« 185 Indem er Macht als Gesamtheit der Kräfteverhältnisse in einem (historischen) politischen Feld bestimmt, weist Foucault die Machtbeziehung »bereits als nicht-repressiv aus« 186 und positioniert seine Konzeption dadurch effektiv gegen die klassische souveränitäts- und repressionslogische Machtkonzeption (vgl. SW 1, 97). 187 Die Machtbeziehungen sind, ähnlich wie ihre sie bedingenden Kräfteverhältnisse, im Feld des Politischen ubiquitär und vollziehen sich gerade im Spiel und in der Differenz, die Machtbeziehungen als Relationen zueinander einnehmen. In einer nominalistischen Kurzformel bestimmt Foucault Macht daher auch als [. . .] etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen [jeu de relations inégalitaires et mobiles] vollzieht. (SW 1, 94; frz., 123, Herv. L. B.)

Es erscheint lohnend, sich den Dreiklang von ›dem Politischen‹, den historischen Kräfteverhältnissen und der Macht in ihrer analytischen Anordnung dezidiert vor Augen zu führen. Gegeben ist ein »politisches Feld« (DE III / 197, 305), auf dem sich Kämpfe und Spiele verschiedener Kräfte ereignen, die sich zu historisch spezifischen Kräfteverhältnissen konstellieren, und diesen Kräfteverhältnissen wiederum inhärieren Machtbeziehungen. Mit Bezug auf die besondere Beziehung von Kräfteverhältnissen und Macht gibt Foucault an anderer Stelle eine analytisch deutlich kondensiertere Erklärung: »Jedes Kräfteverhältnis [rapport de force] impliziert zu jedem Zeitpunkt eine Machtbeziehung (die gewissermaßen dessen momentaner Querschnitt ist)« (ebd.; frz., 233). Macht tritt also immer und ausschließlich beziehungsförmig auf, als qualitative Eigenschaft der Beziehung (nicht von Individuen), die gleichwohl bereits im Begriff der Kraft vorgezeichnet ist. Der Begriff der Kraft. Zum Begriff der Kraft bzw. Kräfte ist auf dreierlei hinzuweisen. Zum einen liefert Foucault selbst an keiner Stelle eine Definition des Grundbegriffes Kraft bzw. Kräfte. Er ruft aber offensichtlich den breiten, multiplen Kraftbegriff von Nietzsche für seine Konzeption von Macht auf und begrenzt ihr Wirkungsterrain auf die Sphären oder ›Felder‹ des Diskurses, des Sozialen und der Geschichte. Zum anderen sind Machtverhältnisse als Emergenz aus den Kräfteverhältnissen gemäß der Logik der Kraft wesent185 186 187

Ebd. Detel (2006), 43. Vgl. Kap. 8.1.2.

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lich relational, d. h. beziehungsförmig und agonal. Kräfte und Mächte interessieren Foucault damit nicht als Propositionen oder Strukturen der Welt im Ganzen (was die Zuständigkeit einer allgemeinen Ontologie oder Metaphysik der Natur wäre) 188, sondern in der Wirksamkeit ihrer Konfrontation und der strategischen Steuerung ihrer Wirksamkeit. Kräfteverhältnisse bilden in der Dimension der Archäologie das ›Außen‹ der Diskurse, in der Dimension der Genealogie wirken sie an der menschlichen Individuation, genauer: der machttechnologischen und regierungsbasierten Subjektivierung, mit. 189 Heterogene Kräfte bestimmen auch das ›politische Feld‹: »[J]ede Machtbeziehung verweist, insofern das ihre Wirkung, aber auch insofern das ihre Bedingung der Möglichkeit ist, auf ein politisches Feld, dem sie angehört.« (DE III / 197, 305) Die Kräfteverhältnisse bilden also einerseits soziale und politische Beziehungen aus und bedingen sie, zugleich resultieren sie auch aus den formierten und sich formierenden Beziehungen. 190 Die Kräfte des Sozialen sind damit wie die natürlichen Kräfte wesentlich operativ und relational. 191 Für Foucaults Begriff von Macht sind auch genau diese Attribute der Kraft wesentlich: Erstens die Eigenschaft, Wirkungen zu erzeugen, und zweitens die Eigenschaft, diese Wirkungen immer in einem Widerspiel mit anderen Kräften zu erzeugen. So gesehen ist der Singular Kraft für Foucault also gar nicht relevant, sondern immer nur der Existenzmodus in einer relationalen Konstellation des Spiels oder des Kampfes, der sich unter die Siglen der Differenz und des Zufalls stellt. Die Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind, gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern nur den Zufällen des Kampfes. Sie manifestieren sich nicht als sukzessive Ausprägungen einer ursprünglichen Absicht und nehmen auch nicht die Gestalt von Ergebnissen an, sondern erscheinen stets nur als das einzigartige Zufällige des Ereignisses. (DE II / 84, 180)

188 Kojiro Fujita (2013) hat als einer der wenigen versucht, einen Begriff der Kraft bei Foucault in dessen Nietzsche-Rezeption penibel herauszuschälen. Laut Fujita arbeitet Foucault aus Nietzsche eine »ontology of force« heraus, die zugleich als »dynamism of force« (ebd., 132) verstanden werden kann. Im Rahmen dieser Kraftontologie, so Fujita, ist Kraft »what we could call a fundamental element of the world« (ebd., 117). Fujita lässt offen, inwiefern die Ontologie der Kraft auch den Rahmen einer sozialen Ontologie für Foucault abbildet. Fujitas Ansatz, dem Kraftbegriff bei Nietzsche und Foucault nachzugehen, ist ein wichtiges konzeptuelles Unternehmen, dennoch unternimmt er m. E. eine fehlgeleitete Ontologisierung des Kraftbegriffs bei Foucault. Vgl. Kap. 8.4.5 (K10). 189 Vgl. Andermann (2019). 190 Bröckling (2010) merkt treffend an, dass aus dieser Perspektive zwar alles politisierbar ist, aber nicht sämtliches von vornherein politisiert ist. 191 Schaub (2004), 103.

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Der Rückgriff auf den Kraftbegriff birgt aufgrund seines transdisziplinär offenen Charakters und der Vielzahl an Kontextualisierungsmöglichkeiten und Assoziationen zudem eine vortreffliche Grundlage, unterschiedliche soziomorphe, technomorphe und physiomorphe kraftbezogene Metaphoriken und Semantiken 192 – bei Foucault primär die des Militärischen, Kriegerischen, Politischen und Mechanisch-Physikalischen – auf der Ebene der narrativen Darstellung des Machtbegriffs aufzurufen, ohne sich konzeptuell in Widersprüche zu bringen, da die unterschiedlichen Register durch einen gemeinsamen Bezug auf die Logik der Kraft geeint sind. 193 Der Kraftbegriff als Grundlage für eine Begrifflichkeit von Macht hat selbst wiederum eine historische Herkunft in der frühen Neuzeit oder frühen Moderne des 17. Jahrhunderts als Element der ›politischen Vernunft‹. Die Ereignisse und Phänomene dieser Zeit führten, so Foucaults Beobachtung, »zu einem Wandel im politischen Denken, der darin besteht, daß man es zum ersten Mal mit einem politischen Denken zu tun hat, das sich gleichzeitig [. . .] als Strategie und Kräftedynamik versteht« (GG 1, 428–429). Politik wird nun als »Problem der Dynamik« betrachtet (ebd., 428). Sowohl in der Praxis als auch in der Theorie der Politik hält »die Vorstellung der Kraft« (ebd., 427) Einzug: Die »politische[] Vernunft« beginnt »sich jetzt wesentlich auf der Grundlage der Kräftedynamik [zu] definieren.« Ihr Ziel und Gegenstand werden die »Aufrechterhaltung des Kräfteverhältnisses und die Entwicklung der Kräfte« des einzelnen Staates für sich in seiner inneren und »allgemeinen Ordnung« und der Staaten zueinander (ebd., 429). Den Krieg zwischen den Elementen des Staates und zwischen den Staaten deutet Foucault als einen »Extremfall«, »als Punkt maximaler Spannung, als nackte Kräfteverhältnisse« (VG, 56, Herv. L. B.). Aus epistemischer Perspektive sieht Foucault eine interessante Zeitgenossenschaft zwischen physikalischem Kraftdenken und der Theoretisierung der Politik in Begriffen der Kraft. Physikalische und politi192 Zur »Soziomorphie von Kampf und Kraft« sowie zur Physiologie des Willens bei Nietzsche vgl. Gerhardt (1996), 2, 11–217, 224–229. 193 Für Dan Beer »Foucault skilfully weaves together a variety of vocabularies. His language is simultaneously that of the political philosopher (›appareils étatiques‹; ›hégémonies sociales‹), the military strategist [. . .], and the scientist describing a physical phenomenon [. . .]. So he mixes together the languages associated with various groups [. . .], and in this way underlines his point that ›le pouvoir‹ as he is using it transcends the limitations of its previous association with specific groups and organzisations.« (Beer [2002], 82–83). In dieser Einschätzung ist Beer zuzustimmen, nicht allerdings in der These, dass es keinen richtigen »focal point« in den Vokabularen gebe, da eine mögliche »referential basis« vage bliebe (ebd.). M. E. macht das Konzept der Kräfteverhältnisse in der Erbschaft von Nietzsche sehr wohl den Bezugspunkt aus und spannt zusammen mit dem Konzept des Spiels einen narrationsleitenden und systematisierenden Konzeptrahmen auf, unter den sich strukturell betrachtet sämtliche binäre oder vielteilige Konstellationen bringen lassen.

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sche Bewegungen wurden im 17. und 18. Jahrhundert im Hinblick auf die Vorstellung der Kräftesteigerung und -akkumulation in sich homogenisiert als Kräftegeschehen und zueinander parallelisiert (GG 1, 429). 194 In Leibniz identifiziert Foucault einen »allgemeine[n] Theoretiker der Kraft«, in dem sich beide Stränge des Kraftdenkens kreuzen und ausfalten. Interessanterweise vermag Foucault keine Erklärung für die Gleichzeitigkeit der Anwendungsfelder zu geben, obgleich er im Grunde eine erste Antwort selbst andeutet 195: In der Klassik (bzw. Moderne) etabliert sich, wie wir bereits unter der Komponente des wissenskulturellen Milieus bei Hobbes erkundet haben 196, ein allgemeines Denken in mechanischen und dynamischen Kräften, das sich in verschiedenen Wissensfeldern bzw. Diskursen mit unterschiedlichem Substanzialisierungsgrad zum Ausdruck bringt. Für Leibniz bildet der Kraftbegriff, mit starken Reminiszenzen an die aristotelische dynamis, einen zentralen Begriff seiner Naturphilosophie, Monadologie und Staatsphilosophie. Deshalb äußert Foucault auch den Verdacht, dass man »von Leibniz aus sehen [müsse], wie sich dies alles [das transdisziplinäre Kräftedenken; L. B.] ausgebildet hat« (GG 1, 429). Wichtig ist festzuhalten, dass die Evokation des Kraftbegriffs im politischen Machtbegriff der Moderne eine naturphilosophische, physikalische Dimension trägt, die Foucault für seine Konzeption von Macht reproduziert. Macht als relationales Netz. Macht erzeugt sich »in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt« und ist genau aus dieser relationalen Perspektive »überall« (SW 1, 94). Anstelle Macht als eine Form von punktueller Ursächlichkeit von Transformation, als propositionales Vermögen oder Ursache von Fixierung zu begreifen, geht es Foucault um eine Konzeption von Macht, die er als eine Art Spiel und eine Art dynamische Streuung, Gewebe oder »äußerst feinmaschige[s] Netz« vorstellt (DE III / 192, 194, 197; vgl. DE III / 197, 302). 197 Vgl. dazu auch Röttgers (1990), 190. Vgl. die unter diagrammatischen Gesichtspunkten hoch interessante Stelle, an der Foucault ein von ihm selbst uneingelöstes Forschungsdesiderat markiert: »Nun begegnen zur selben Zeit, aber durch ganz andere Prozesse [. . .] die Naturwissenschaften, und im wesentlichen die Physik, diesem Begriff der Kraft, so daß die politische Dynamik und die Dynamik als physikalische Wissenschaft bis auf wenige Unterschiede zeitgenössisch sind. [. . .] Warum war das so, was bedeutet diese Gleichzeitigkeit? Ich gestehe, daß ich das strenggenommen nicht weiß, ich glaube jedoch, daß es unerläßlich ist, das Problem insofern zu stellen, als man mit Leibniz den Beweis dafür hat, daß die Homogenität der beiden Prozesse dem Denken der Zeitgenossen durchaus nicht fremd war.« (GG 1, 429) Bruno Latour hat sich diesem Phänomen der begrifflichen Bifurkation oder Doppelung von Kraft als physikalischer und staatstheoretischer Begriff als typisches Signum der ›Verfassung der Moderne‹ gedeutet: »auf der einen Seite die gesellschaftliche Kraft, die Macht; auf der anderen Seite die Naturkraft, der Mechanismus« (Latour [62017], 42, 40–46; vgl. Buhr [2019], 130–131). 196 Vgl. 7.2.2 (K2). 197 In einem Gespräch konzediert Foucault, dass die »Metapher des Punktes« auch ungeschickt sei, da sie auf einen Punkt als Anfang oder Zentrum einer Aussendung, Streuung, Ausbreitung 194 195

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In der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (1975–76) gibt Foucault zu verstehen, dass seine Analytik der Macht bzw. Genealogie der Macht die Macht als etwas analysiert, »was zirkuliert und nur als Verkettung funktioniert. [. . .] Die Macht verteilt sich über Netze, und in diesem Netz zirkulieren die Individuen nicht nur, sondern sind stets auch in der Position, diese Macht zugleich über sich ergehen zu lassen wie sie auszuüben.« (VG, 38) Foucault präsentiert die Metapher der Netzartigkeit als Gegenbild zum klassischen Modell der monolithischen und punktförmigen Macht, die in der Geschichte des politischen Denkens als höchster Punkt bzw. als Spitze der Machtpyramide, so wie auch im Frontispiz von Hobbes' Leviathan versinnbildlicht, beschrieben wird. Dieser Punkt gleicht einem singulären Anfang von Herrschaft oder einem uniformen Vermögen, über eine Menge zu herrschen. Eine solcher Art vorgestellte Macht, so wendet Foucault ein, »existiert nicht« (DE III / 206, 396). »Die Macht«, führt Foucault fort, »das sind in Wirklichkeit Relationen, ein mehr oder weniger organisiertes, mehr oder weniger in Gestalt einer Pyramide angeordnetes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Relationen.« (Ebd., 397) Dieses Bündel an Relationen rollt sich wie ein Netz aus, »das [. . .] durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurchgeht« (DE III / 192, 197, vgl. VG, 38), indem es seine »Maschen« über die menschlichen und sozialen Beziehungen hindurch und hinweg knüpft (vgl. DE IV / 297). Diese Netze der Macht haben nun bestimmte historische Formen und knüpfen sich, wenn man so will, aus verschiedenen Webstoffen und Webtechniken. In Foucaults Machtbegriff bildet die Historizität der Macht daher ein zweites Grundelement, auf das es gesondert einzugehen gilt. Aus begriffsanalytischer Perspektive drücken sich in der Metapher des Netzes mehrere wesentliche Teilaspekte der Macht aus, die mit den Attributen von Kräften kongruieren: Relationalität, Dezentralität, Pluralität, Multiplizität. Das Netz hat weder einen zentralen Bezugspunkt noch ist die Macht als Netz in irgendeiner Form messbar. 198 Das gesamte Netz der Macht weist verschiedene Regionen und Stärken auf, das macht seine innere Multiplizität aus. Aus einer Lektüre von Marx' zweitem Buch des Kapitals übernimmt Foucault, so schildert er es, die Idee der verschiedenen nebeneinander bestehenden Typen oder »regionale[n] Formen von Macht« (DE IV / 297, 229) in einer Gesellschaft, bspw. die betriebliche, die psychiatrische und die Macht des Gefängnisses. 199 Diese »Mächte« bilden sowohl eine »Koorund Wucherung verweist – eine Konnotationsebene des ›Punktes‹, die ihm im ersten Kapitel von Sexualität und Wahrheit noch entgangen ist (DE III / 206, 396–398, hier: 398). 198 Walzer (1986), 55. 199 Es wäre zu überprüfen, inwiefern Foucaults Marx-Lektüre im Hinblick auf die Figur der regionalen Machtformen plausibel ist. Ich danke Bastian Mokosch für diesen Hinweis. Die Überprüfung muss jedoch an anderer Stelle erfolgen.

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dination« als auch eine »Hierarchie« aus, sodass Foucault die Gesellschaft auch als einen »Archipel aus verschiedenen Mächten« (ebd.) beschreibt. Machtwirkungen. Macht ist für Foucault sowohl Operation als auch Wirkung von Kräftekonstellationen. Dabei spannt sich Macht zu einem polaren Wirkungsfeld auf: Macht ist zugleich der »bebende[] Sockel der Kräfteverhältnisse« (SW 1, 93) in seiner Wirktätigkeit auf der Mikro-Ebene der (lokalen) sozialen Beziehung als auch eine »den Kräfteverhältnissen immanente Strategie« (SW 1, 97) bzw. Wirkungstätigkeit auf der sozialen Makro-Ebene, die klassischerweise als ›die politische Macht‹ verstanden wird. Damit steht seine Machtkonzeption in der aktualistischen Tradition von Kausalität im weitesten Sinne, die Ursache bzw. Ursächlichkeit und Wirkung nicht als lineare Abfolge (auf die Ursache folgt die Wirkung) oder Potentialität und Aktualisierung denkt, sondern als gleichzeitigen Vollzug von Ursächlichkeit und Wirkung. Außerdem hat Macht damit analytisch betrachtet bei Foucault zwei Wirkungsdimensionen: Zum einen die Wirkung eines lokalen Kräfteverhältnisses, das im Modus der Kampfes vom Typ Krieg oder Spiel an einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit konstelliert ist; und zweitens die Ebene des globalen Effekts dieser kämpferisch stets neu justierten, umgeworfenen und erzeugten Kräfteverhältnisse. In globaler Hinsicht effektuiert sich Macht als »die Macht« im Modus eines »Gesamteffekt[s]«, einer »komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft«, einer »globalen Strategie« oder »große[n] Kraftlinie, die die lokalen Konfrontationen durchkreuzt und verbindet« (SW 1, 94, 97, 95), und im Modus von institutionellen »Kristallisationen«. In dem ›kristallisierten‹ Modus der Kräfteverhältnisse drückt sich Macht als institutionelle Endformen des Rechts, der Staatsapparate, der Ökonomie aus, wobei der Staat eine Art »Metamacht« (DE III / 192, 201) zukommt. Die für Foucault besonders interessanten »kleinen« Machtformen wie Bio-Macht und die Macht der Psychiatrie stellen wiederum eine Art »Submacht« dar (DE II / 139, 766–767). Der globale Modus der Macht referiert damit auf die Ausbildung und den Zustand von Herrschaftssystemen, die durch bestimmte intentionelle »Kristallisationen« gestützt werden. Dabei soll die begriffliche Strategie der ›Kristallisation‹ helfen, nicht in das Modell von Basis und Überbau bzw. herrschender und beherrschter Klasse zurückzufallen: »Die großen Herrschaftssysteme [grandes dominations] sind Hegemonie-Effekte, die auf der Intensität all jener Konfrontationen aufruhen.« (SW 1, 95; frz., 124) Da die herrschaftsstützenden Institutionen aus den Kräfteverhältnissen hervorgehend konzipiert werden und Herrschaft bzw. Herrschaftsverhältnisse den »Grenzfall« von »relativ konstanten, asymmetrischen Machtverhältnisse[n]« 200 bilden, begegnen im foucaultschen Machtbegriff resi200

Richter (2005), 113.

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duale Züge der spinozistischen Figur der potentia-potestas-Kontinuität. 201 Die globalen Gesamtwirkungen lassen sich für Foucault aber nicht nur als »große Kraftlinie« begreifen, die Herrschaftsverhältnisse instituiert, sondern auch nach einem Schema nicht-subjektiver anonymer Intentionalität (SW 1, 95). Indem die Macht als »Gesamtwirkung von vielen kleinen Kräfteparallelogrammen«, wie es Sarasin ausdrückt, Zustände, Ereignisse, Formationen und Formen hervorbringt, ist sie auch produktiv 202: Macht beschränkt und bewirkt Wachstum, Entstehung und Anordnungen von Dingen, Worten, Diskursen, Objekten und Subjekten. Die Macht Foucaults hat damit den Charakter einer konstitutiven Produktivität. In der jüngeren Rezeption sind verschiedene Rückführungen des begrifflichen Elements der Produktivität vorgeschlagen worden. So hat bspw. Sarasin die anonyme Operabilität mit zugleich limitativem und konstitutivem Charakter in Parallelität zu Darwins Konzept der natural selection auf die »ortlose[] ›Bühne‹« der Evolution gebracht (vgl. DE II / 84, 176). 203 Detel sieht in der Produktivität wiederum »eine Variante des Invisible-Hand-Modells, also eines [. . .] handlungstheoretischen Handlungsmodells« 204, das im Zusammenhang mit der machtstabilisierenden Praktik des Wahrsprechens um ein zugrundeliegendes »performatives Modell« 205 ergänzt würde. Die Idee einer produktiven Macht lässt sich allerdings auch von der agentiven dynamis (dynamis tou poiein) herleiten bzw. als eine Wieder-Holung derselben begreifen. Wird der Produktivitätscharakter einmal mit der agentiven dynamis in Verbindung gebracht, fällt es auch leichter, den häufig übersehenen begrifflich-strukturellen Bezug der foucaultschen Machtkonzeption zum Konzept der Bewegung herauszuarbeiten, der sich bereits in der Komponente des theoretischen Terrains (K5) angedeutet hat. 206 Bewegungsbezug der Macht. In Sexualität und Wahrheit 1 charakterisiert Foucault die Elemente der produktiven Kräfteverhältnisse, das sind die ›Taktiken‹, ›Strategien‹, ›Stützen‹, die die Kräfte permanent verschieben wollen, als »Beweglichkeiten« (mobilités): Und ›die‹ Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt [l'effet d'ensemble] all dieser Beweglichkeiten [ces mobilités], die Verkettung, die sich auf die Beweglichkeiten stützt und sie wiederum festzumachen sucht. (SW 1, 94, Herv. L. B.) 201 Vgl. Martin Saars Interpretation von Spinozas Machtbegriff (»contra Negri«) (Saar [2013], insb. 168–173). 202 Sarasin (2019a), 214. 203 Ebd., 209, 208–218. 204 Detel (2006), 44. 205 Ebd., 46, Herv. i. O. 206 Vgl. Kap. 8.3.3 (K5).

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Damit erklärt Foucault den intimen Bezug von Kräften und Macht zu Bewegung: Macht ist der Gesamteffekt von beweglichen, in Bewegung schwingenden Elementen. Diese Elemente und Kräfte erzeugen (die) Macht. Zugleich beziehen sich Kräfte und Macht auf die Bewegung der Dinge (DE II / 84, 182), auf Dinge in Bewegung, auf in Bewegung konstituierte Dinge, kurz auf »Beweglichkeiten«. Aus den Beweglichkeiten rührt die Macht und auf sie wirkt Macht ein. In einem Interview während seines Japan-Aufenthalts 1978 sagte Foucault einmal mit polemischem Fingerzeig auf ein klassisches Philosophieverständnis, das Philosophie als Suche nach den ewigen und kontextinvarianten Strukturen der Welt begreift, »[i]ch interessiere mich nicht für das Bewegungslose, für das, was durch das Schillern der Erscheinungen hindurch gleich bleibt, sondern für das Ereignis« (DE III / 234, 721). Ein Ereignis effiziert und interpunktiert gewissermaßen die kräftegetriebene Fluidität und Dynamik der sozialen Welt, denn ein Ereignis ist für Foucault »die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses« (DE II / 84, 180), d. h. die Umkehrbewegung von Kräften. Dessen Nachzeichnung und Prüfung ist die Aufgabe des Philosophen als Genealogen (vgl. WK, 30–31). Bewegungen, Kräfte und Ereignisse sind damit alles andere als Strukturen. Zusammenfassend betrachtet reflektiert sich in Foucaults Machtbegriff die Philosophie Nietzsches, verstanden als Analyse von Bewegungen und Kräften. Das Prinzip als singuläre Anfänglichkeit der Bewegung ist nun, wie bei Nietzsche, ausgefächert in eine hoch bewegliche, ›vibrierende‹ Konstellation von Kräften. 207

b) Historisches Element: Machtformen als Variablenkomplexe (Matrizen)

Machtverhältnisse als dynasteia. Machtbeziehungen und Machtverhältnissen sind nicht zu verwechseln mit Strukturen. Foucault betont, dass seine Analytik der Macht »keine Erforschung von Strukturen« ist (DE II / 139, 687). Vielmehr sei sie »[i]n einem Wortspiel mit den griechischen Ausdrücken δύναµις δυναστεία [dynamis dynasteia]« als »Dynastieforschung« zu verstehen (ebd.). »Dynastieforschung« hat Foucault an anderer Stelle auch als »Dynastik«, genauer als »Dynastik des Wissens« bezeichnet (DE II / 119, 506), hier meint es die Dynastik der Macht. Foucaults fundamentale, über Nietzsche hinausgehende Einsicht ist, dass der Wandel des Wissens nicht nur mit Macht, sondern auch mit einem historischen Wandel der politischen Machtformen selbst zusammenhängt: Macht manifestiert sich analog zu den Transformationen der wis-

207

Vgl. Kap. 8.3.3 (K5).

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sensarchäologischen Episteme in historischen Formen. 208 Interessanterweise ruft Foucault an der zitierten Stelle zur Beschreibung der Historizität der Macht sowohl den meta-physischen Begriff der dynamis als auch den griechischen Begriff für politische Macht, dynasteia, auf. Erinnern wir uns: Dynasteia ist in den Texten der griechischen Klassik ein sehr vielschichtiger Begriff: »[D]ynasteia can refer to absolute personal power, to hegemony of a city, or to political power on a dynastic or territorial basis.« 209 Damit deckt der Begriff der dynasteia die wichtigen Dimensionen der klassischerweise als ›die Macht‹ verstandenen Macht und Herrschaft ab, hat aber gegenüber der potestas nicht einen juridischen, sondern eher territorialen Akzent. Ein territorialer Akzent tritt auch in Foucaults Konzeption von Macht wieder auf: Machtverhältnisse ereignen sich auf einem bestimmten historischen Spielfeld. Indem sich Foucault auf die dynasteia bezieht, meint er damit also nicht etwa die Erforschung der Herrscherdynastien und Herrschaftshäuser, sondern die Erforschung der Geschichte der politischen Macht (dynasteia). Die Geschichte der politischen Macht ist dabei selbst – das ist die Pointe – von einem Prinzip oder Vermögen zur Bewegung und Veränderung angetrieben, der dynamis. Bemerkenswert ist, dass Foucault nicht nur den meta-physischen Begriff der dynamis mit dem Begriff der politischen Macht, der dynasteia, in Verbindung bringt. Er assoziiert hier auch beide Begriffe in einer für ihn typischen subversiven und humorvollen Geste mit seiner eigenen Konzeption und Analytik von Macht: Macht ist Bewegung und die politische Macht ist in sich bewegt, sie verändert ihre Form, ihre Gestalt. Damit stellt sich Foucault, wenngleich spielerisch und nicht systematisch, über die Betrachtung der Historizität von Macht(-Verhältnissen) in das Denken der dynamis und der politischen Macht in der Form der dynasteia. 210 Historizität der Macht: Matrix der Macht aus historischen Variablen. Die Historizität der Macht ist für Foucault so grundlegend, dass sie als Element seines Machtbegriffs betrachtet werden sollte. 211 Ähnlich wie die Episteme als Grundkonfiguration von Wissen lässt sich die historische ›Form‹ der Macht als eine grundlegende Matrix für die ›Gesamtstrategie‹ von Machtausübung in Machtverhältnissen verstehen. Diese historische ›Matrix‹ 212, wie ich es hier Saar (2007), 226. Bearzot (2013). Vgl. Kap. 6.4.1 c) (K11). Aristoteles hatte dynasteia als eine spezifische, der Tyrannei nahe Regierungsform konzipiert. 210 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 8.5.1 (K11). 211 Saar (2007), 226, nennt die Historizität der Macht auch »eine Art Metaprinzip« der foucaultschen Machtkonzeption. 212 Der Terminus ›Matrix‹ oder ›Matrizen‹ ist auch insofern passend, als Foucault ihn selbst zur Darstellung von komplexen, mehrteiligen Zusammenhängen verwendet. 208 209

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nenne, integriert einzelne Elemente zu einer historischen und globalen »Gesamtstrategie« (SW 1, 99), die im Wesentlichen über neun Variablen verläuft. 213 Diese neun Variablen (vgl. Abb. 14) bilden gewissermaßen analytische Platzhalter, die historisch spezifisch ›gefüllt‹ werden. Variable 1: Beziehungen. Macht liegt, wie wir bereits erörtert haben, in der Konzeption von Foucault stets relational als eine Modalität von sozialen Beziehungen vor. »Machtbeziehungen sind«, so Foucault, »tief im sozialen Nexus verwurzelt«, sie sind konstitutiver Part einer Gesellschaftsformation, bilden aber »keine zusätzliche Struktur oberhalb der ›Gesellschaft‹« (DE IV / 306, 288–289). Machtbeziehungen bilden den sozialen ›Stoff‹ einer Gesellschaft, sie können gezielt und strategisch erzeugt werden oder selbst »zumindest virtuell eine Kampfstrategie« ausbilden (ebd., 292). In den späten 1970ern und 1980ern verknüpft Foucault das formale sozialontologisch-relationale Konzept der Machtbeziehung mit einer handlungspragmatischen Dimension, wodurch die machtkonstitutiven Relationen nun als Handlungen beschrieben werden. Hiernach sind Machtbeziehungen nicht mehr nur als die elementaren Relationen des Sozialen und Politischen zu verstehen, die sich zu einem bestimmten Verhältnis entlang von Gesamtstrategien stabilisieren, sondern auch als variable Handlungsformen zwischen den Grenzzuständen von Konsens und Gewalt. Dass Foucault den Handlungsbegriff ins Spiel bringt, wo er doch in seiner Machtanalytik auf das Subjekt als Stiftungsinstanz verzichten will, ist zunächst irritierend. Am besten lässt sich daher die Einführung des Handlungsbegriffs als Qualifizierung der Relationen begreifen. Denn die Machtbeziehungen wirken »nicht direkt und unmittelbar auf andere [Subjekte; L. B.], sondern auf deren Handeln« (ebd., 285). Die Relata der Relationen sind folgerichtig nicht als apriorisch gegebene Entitäten zu verstehen, noch sind die Relationen selbst als »bloße Beziehung zwischen individuellen oder kollektiven ›Partnern‹, sondern [als] eine Form handelnder Einwirkung auf andere« zu verstehen (ebd.). Menschliche Individuen werden in den lokalen Machtbeziehungen als »Referenzobjekte« oder »›bloße Punkte‹« konstituiert 214, zugleich aber bilden sie auch so etwas wie das Substrat, über das hinweg und durch das hindurch sich das Netz der Machtbeziehung aufspannt. Wolfgang Detel beobachtet daher zurecht, dass sich »diese Punkte die Machtrelationen aus ontologischer Perspektive immer neu instanziieren und reproduzieren« müssen. 215 Macht »ver213 Foucault sagt an keiner Stelle, dass eine Machtform aus acht Elementen bzw. Variablen besteht; diese Beschreibung ist das Interpretationsangebot, das hier unterbreitet werden soll, um die Vielschichtigkeit und auch Modularität von Foucault Machtkonzeptionen und Machthistoriographie systematisch einzuholen. 214 Detel (2006), 29. 215 Ebd.

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wirklicht sich als Handlung« 216, und Handlungen sind also ähnlich wie Bewegungen zumindest auf ein formal-ontologisches Substrat angewiesen, an dem sich Bewegungen vollziehen bzw. von dem aus Handlungen ausgehen. Zum Verständnis dieser Bestimmung hilft es, sich die grundsätzliche Struktur einer Handlung nach dem Schema eines Bewegungsvollzugs zu vergegenwärtigen. Für Aristoteles waren Bewegungen und Handlungen in einem weiten Sinne von praxis und energeia durchaus deckungsgleich, insofern sie beide Aktivierungen von Bewegungsvermögen darstellen. 217 Die Ursächlichkeit von Handlung ist bei Foucault, ähnlich wie der conatus von Hobbes, als bewegungsimmanente Anfänglichkeit, nicht jedoch als aristotelisches Prinzip oder Eigenschaft eines Individuums zu verstehen. Die »handelnde Einwirkung auf andere« lässt sich so auch als Einwirkung einer Bewegung der einen Handlungseinheit und auf die Bewegung der anderen Handlungseinheit verstehen. Somit gleicht der Handlungsvollzug dann einem Zusammenspiel einer aktiven Bewegung mit einer passiven Bewegung. Damit vertritt Foucault jedoch kein handlungstheoretisches Machtkonzept oder vollzieht eine »handlungstheoretische Wende« 218, wie in der Literatur zum Teil vorschnell angenommen worden ist. Ihm geht es weniger um die Handlungen von Individuen oder Gruppen als normativ bewertbare, intensionale Akte und abgeschlossene Einheiten (oder gar eine Theorie derselben) als vielmehr denn um die Untersuchung der strategisch steuerbaren Verläufe und Dynamiken von Handlungen und Handeln als Tätigkeiten und Bewegungen. 219 Machtbeziehungen fußen daher wesentlich auf serieller Inter-Aktion, auf Zwischen-, Gegen- und Gemeinsamhandeln. 220 Zudem zielt Foucault vielmehr in Analogie zu den Formationsregeln der Diskurse auf den anordnenden und bedingenden Charakter der handelnden Einwirkung auf anderes Handeln, denn die Beziehungen haben immer auch eine konditionale Dimension, indem sie das Feld von weiteren Handlungsoptionen eingrenzen, öffnen oder auch auf etwas hin formieren. Vor diesem Hintergrund spezifiziert Foucault eine Machtbeziehung als »[e]ine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln« (DE IV / 306, 285). Machtbeziehungen implizieren daher immer zugleich auch schon eine Operations- und Wirkungsweise als Machtausübung: »Macht wird immer von den ›einen‹ über die ›anderen‹ ausgeübt.« (Ebd.) Machtbeziehungen und Machtbedingungen resultieren in Formen der Machtausübung – und diese Ruoff (32013), 159. Morel (2007), 156–176. 218 Lindner (2006), 587. 219 Siehe zu der These der Bewegungsförmigkeit von Handlungen in der analytischen Handlungstheorie Geert Keil (22015), 126–149, und Donald Davidson (1990). 220 Hafner (2014), 44. 216

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Formen sind je nach vorliegender dominanter historischer Machtform bzw. je nach Machttypus im Sinne einer Matrix aus verschiedenen Elementen unterschiedlich präformiert und nehmen eine bestimmte Gestalt an. So bilden bspw. die Machtformen der Disziplinarmacht und der Souveränitätsmacht jeweils eigene soziale Beziehungstypen aus: Souveränitätsbeziehungen und Disziplinarbeziehungen. Auf diese Weise bilden die sozialen Machtbeziehungen selbst eine Variable, ein Element einer historischen Machtform. Variable 2: (politische) Technologie. Machtausübungen beschreibt Foucault auch mit dem Terminus ›Machtmechanismen‹. Die strategische Ausrichtung und der gezielte Einsatz von Machtmechanismen wiederum schlägt Foucault vor, als ›Techniken‹ zu verstehen, »also als Verfahren, die erfunden und verbessert und ständig weiterentwickelt werden« (DE IV / 297, 230). Die Kunde und Weiterentwicklung dieser Techniken nennt Foucault dann wiederum eine ›Technologie‹. 221 Da die Kräfteverhältnisse und die Machtbeziehungen immer schon mit dem Feld des Politischen verknüpft sind, bezeichnet Foucault die Technologien der Macht konsequenterweise auch als politische Technologien (z. B. ebd., 233, ÜS, 264). Jede Machtform bildet ein spezifisches Ensemble an Machttechnologien aus, wobei sich zumeist eine Machttechnologie als besonders wirksam durchsetzt, sodass sich mit den Machtformen auch eine »Geschichte der Machttechnologie[n]« beschreiben lässt (DE IV / 297, 231, GG 1, 23). 222 Insofern die Begriffe Technik und Technologie für einen Verfahrensablauf, eine intentionale und zielgeführte, d. h. funktionale Aneinanderreihung von Handlungen oder Taktiken, stehen, bieten die Konzepte eine sinnvolle und kohärente begriffsstrategische Option für das große Untersuchungsanliegen, nach dem ›Wie‹ der Macht und damit nach ihrer »Funktionsweise« zu fragen (DE IV / 297, 228). 223 Foucault setzt die Entwicklung der politischen Technologien in Analogie zur Entwicklung der industriellen und militärischen Großtechnologien, beide Felder sind geprägt durch »zahlreiche Erfindungen« (ebd., 232), und ähnlich wie die materiellen Technologien zur Erzeugung von Energie und Gütern er221 Urs Lindner (2006), 586, hat zurecht darauf hingewiesen, dass Foucaults »Unterscheidung zwischen ›Technik‹ und Technologie’« in der Literatur häufig übersehen wird; dies dürfte aber nicht zuletzt auch an Foucaults nicht immer trennscharfen Verwendungen liegen (vgl. Gehring [2004], 122). Zu einer Panorama-Analyse der Verwendung des Technikbegriffs von Foucault siehe Behrent (2013), vgl. auch ausführlicher zu dieser Thematik Kap. 8.5.1 b) (K11). 222 »Doch es gibt eine [. . .] Geschichte, die Geschichte der Technologien, das heißt eine sehr viel globalere, doch, ebenfalls wohlverstanden, sehr viel verschwommenere Geschichte der Korrelationen und dominanten Systeme, die bewirken, daß sich in einer gegebenen Gesellschaft und für diesen oder jenen gegebenen Sektor [. . .] zum Beispiel eine Sicherheitstechnologie installiert« (GG 1, 23). 223 Vgl. Gehring (2004), 124.

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zeugen auch die politischen Technologien ihre spezifischen politischen Gegenstände, d. h. Subjektformen, Individuen, Körper, Praktiken, Wissen (vgl. ÜS, 34, 40). Aus Überwachen und Strafen lässt sich eine Art Interaktionsgeschichte zwischen verschiedenen Feldern der Technologieentwicklung, vor allem zwischen der industriellen, der militärischen, der pädagogischen und der politischen Technologieentwicklung herauslesen (ÜS, 288). 224 Politische Technologien greifen also durchaus auch auf die materialistisch-maschinelle Basis einer Zeit zurück und machen sie sich zu eigen. Zugleich zeichnen sich die politischen Technologien durch spezifische historische Rationalitäten aus, die die Machtmechanismen nach einem bestimmten rationalen Kalkül zur Anordnung und Anwendung bringen (DE IV / 306, 272–273). Die politischen Technologien sind für Foucaults Machtanalytik zentral, denn sie bilden die zu untersuchenden Positivitäten der Machtanalytik: Sie unterstreichen den pseudo-intentionalen Charakter der Gesamtstrategien von Macht und sind zugleich auch in den historischen Diskussionen um effiziente Machtausübungen »empirisch« aufspürbar, indem sie sich als »Erfindungen« mit spezifischen Effekten rekonstruieren lassen (ebd., 273, vgl. AN, 69–70). Das Auftauchen der Disziplinarmacht und den damit verbundenen Übergang von der historischen Machtform der Souveränitätsmacht zur Disziplinarmacht beschreibt Foucault entsprechend als »Erfindung der positiven Machttechnologien«: Wir sind von einer Technologie der Macht, die verjagt, ausschließt, verbannt, marginalisiert und unterdrückt, zu einer positiven Macht übergegangen, die produziert, beobachtet, einer Macht, die weiß und die sich auf der Grundlage ihrer eigenen Effekte multipliziert. (AN, 69)

Variable 3: (politische) Ökonomie. Ähnlich den politischen Technologien sind die historischen Machtformen auch durch eine spezifische Ökonomie der Machtwirkungen und des Einsatzes von Machtmechanismen gekennzeichnet. Denn der strategische und technologisch verfeinerte Einsatz von Machtausübung bringt Kosten mit sich: Kosten ökonomischer Art für die Anwendung materieller Apparaturen und personeller Besetzungen, wie bspw. die Errichtung einer Gefängnisarchitektur und der Einsatz von Überwachenden in einem Gefängnis, aber auch Kosten politischer Art: »Wenn man sehr viel Gewalt anwendet, läuft man Gefahr, Revolten hervorzurufen; oder wenn man zu diskontinuierlich eingreift, so läuft man Gefahr, dass sich in den Intervallen Phänomene von Widerstand und Ungehorsam mit erhöhten politischen Kosten 224 Mit Verweis auf Marx, Kapital Band 1, 13. Kapitel (»Maschinerie und große Industrie«), skizziert Foucault eine Verzahnung aus der Entwicklung des modernen Kapitalismus, der Steigerung der Kapitalakkumulation, der Entwicklung industrieller und politischer Technologien (ÜS, 279–291, hier: 283).

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entwickeln können.« (DE III / 197, 260) Eine sehr kostspielige, politisch ›teure‹ Machtform ist so gesehen die monarchische Macht, die von dem Prinzip der rigorosen Bestrafung lebt; hingegen zielte die Entwicklung der politischen Technologie der Disziplin im 18. Jahrhundert genau darauf, die politischen Kosten zu senken und gleichzeitig die Effektivität der Machtausübung zu erhöhen (ebd., 260–261). Die Ausbildung der Technologie der Überwachung auf dem Feld der Strafpraktiken hat sich als deutlich »wirkungsvoller und rentabler« erwiesen (DE II / 156, 915). Zumindest für die modernen Machtformen gilt außerdem, dass sie zutiefst in die »Produktivkräfte« einer Gesellschaft eingesunken sind (DE III / 221, 600). Eine Transformation der Machtform ist also sowohl mit der Erfindung von neuen Machttechnologien als auch mit der Erarbeitung einer »neue[n] Ökonomie der Machtmechanismen« (AN, 115) verbunden. Im 18. Jahrhundert arbeitete bspw. die Erfindung der Disziplinartechnologien einem neuen macht- und produktionsökonomischen Steigerungsparadigma zu. Die neue Ökonomie der Macht tritt auf als »eine Gesamtheit von Verfahren und gleichzeitig von Analysen, welche die Machtwirkungen zu steigern, die Kosten der Machtausübung zu vermindern und die Machtausübung selber in die Mechanismen der Produktion zu integrieren erlauben« (ebd.). Der Entwicklung der Ökonomien der Machttypen liegt damit eine Steigerungslogik inne, die die Machtmechanismen den Maßstäben der Ökonomie und der Effizienz unterwirft und damit letztendlich zu einer stetigen Intensivierung und Dispersion der Machtwirkungen führt. 225 Variable 4: Beziehung zum Körper und zu Körperlichkeit. Ein weiteres eigentümliches Charakteristikum der foucaultschen Machtkonzeption ist, dass die historischen Machtformen jeweils eine ihnen spezifische Weise und Form von Beziehung zum menschlichen realen, figürlichen oder mythischen Körper oder zur Körperlichkeit ausbilden. Für jede Machtform gilt: »Jede Macht ist physisch, und es gibt zwischen dem Körper und der politischen Macht einen direkten Anschluss.« Der Körper steht, wie die Macht selbst, immer »auch unmittelbar im Feld des Politischen« (ÜS, 37). Er bildet die Einheit und das Relais des Physischen in den sozialen Beziehungen. Macht bezieht sich also immer auf unmittelbare Weise auf den menschlichen Körper oder eine ›korporale Einheit‹, die sie – je nach Machtform – selbst erst als solche konstituiert. Letzteres gilt bspw. insbesondere für die Machtform, die Foucault »Disziplinarmacht« nennt: Die Disziplinarmacht erschafft den disziplinarischen Körper, der als solcher stets ein hochgradig individualisierter Körper ist (vgl. ÜS, DE II / 157). »Die Macht hat sich in den Körper vorgeschoben, sie erfährt sich nun im Körper ausgesetzt«, so beschreibt Foucault das äußerst intime, »synaptische« 225

Vgl. Nealon (2008), 24–53.

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Verhältnis von Disziplinarmacht und ihrem Objekt, das sich als Subjekt erfahren soll (DE II / 157, 934, vgl. MP, 70, 31). Hingegen konstituiert die historische Form der »Souveränitätsmacht« keine individualisierten Körper – oder, wie Foucault sie auch nennt, »somatischen Singularitäten« (z. B. MP, 74, vgl. 76). In der Souveränitätsmacht geht der Körper des Königs nicht in einer solchen ›somatischen Singularität‹ auf, vielmehr transzendiert und multipliziert sich der Körper des Königs, wie bereits Kantorowicz 226 bemerkte, über ein bestimmtes raumzeitliches Dasein hinaus, um den Fortbestand seiner Monarchie, seines Königreiches zu sichern (vgl. MP, 76). Die Souveränitätsbeziehung bringt etwas wie eine politische Macht mit dem Körper in Verbindung, wendet sie auf ihn an [durch Marter, Folter; L. B.], doch sie läßt niemals die Individualität zutage treten. Es ist eine Macht, die keine individualisierende Funktion hat oder die Individualität nur auf seiten des Souveräns skizziert, überdies zum Preis dieser eigenartigen, paradoxen und mythologischen Multiplikation von Körpern. (Ebd., vgl. ÜS, 40–41)

Indem der Körper als solcher in den Machtverhältnissen konstituiert wird, eignet der Macht auch eine individuierende Kraft, sodass Foucault sagen kann: »Das Individuum ist ein Machteffekt«, »eine der ersten Wirkungen der Macht« (VG, 39). Philosophiegeschichtlich greift die foucaultsche Machtkonzeption durchaus auf das Individuationsprinzip als Denkfigur zurück, jedoch nicht in einem metaphysischen und allgemein-ontologischen Sinne wie bspw. bei Spinoza und Leibniz, sondern eher als denkfigürliche Anleihe in der Form einer ›Konstitutionsmacht‹ bzw. ›Konstituierungsmacht‹. 227 Komplementär zur ›Verfertigung‹ von körperlichen Singularitäten bzw. Individualitäten produziert jede Machtform spezifische Subjektivitäten und Subjektivierungsformen. Macht hat also eine Individuations- und damit auch »Subjekt-Funktion« (MP, 90). Indem Foucault der Macht eine Subjekt-Funktion zuweist, die über die Körperlichkeit des Individuums verlaufen kann, knüpft er die Untersuchung und den Begriff der Macht an das Problem des Subjekts und die somatischphysische Seite des Subjekts. Das Problem des Subjekts 228 wird nun im Lichte der Analyse der historischen Machtverhältnisse multipliziert in das historische Verhältnis von Macht – Körper – Individuum – Subjekt(-form) – (Subjekt-)Wissen und dadurch gewissermaßen auch ›somatisiert‹. Entsprechend verlaufen auch der Eintritt der Macht und der ›Zutritt‹ zur Psyche immer über den Körper (MP, 91). Subjektivierung hat darin zwei Dimensionen: im 226 227 228

Vgl. Kantorowicz (1997). Vgl. Andermann (2019), Saar (2013), 165–168. Vgl. Kap. 8.3.2 (K4).

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positiven Sinne meint sie – bspw. durch Sorge um sich selbst eine selbstermächtigende – Formannahme, im repressiven Sinne geht Subjektivierung immer auch mit einem assujettissement, einer Unterwerfung einher (vgl. DE IV / 306, 275). Die Konstitution und der Bezug auf Körper(lichkeit) lassen sich überdies in den Registern der politischen Technologie und Ökonomie präzisieren. Beide arbeiten aufeinander abgestimmt an einer korporalen Einheit (dem individuellen menschlichen Körper oder dem Gesellschaftskörper) in den Formen einer »›politische[n] Ökonomie‹ des Körpers« (ÜS, 36) und einer ›politischen Technologie des Körpers‹: »[D]ie Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn [den Körper]; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen [. . .]; zu einem Gutteil ist der Körper als Produktionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt« (ebd., 37). Die unmittelbaren Gegenstände der jeweiligen politischen Ökonomie und der politischen Technologie sind also der Körper, die Wissenschaft von seinen Funktionen und das Wissen über die technologische »Meisterung seiner Kräfte« (ebd.) Die Bezüge der Machtformen zum menschlichen Körper sind also jeweils historisch spezifisch; aber ähnlich wie die Ökonomien der Macht unterliegen auch diese Bezüglichkeitsformen einer gewissen Logik der Intensivierung – ein struktureller Aspekt, den Jeffrey Nealon in seiner Foucault-Interpretation pointiert herausgearbeitet hat: »Foucault's story of historical mutation shows that power increases its hold on the body and the body politic precisely – if a bit paradoxically – by becoming less obvious, more ubiquitous, and therefore more effective.« 229 Während die Untersuchungsperspektiven der politischen Ökonomie und politischen Technologie die spezifischen Rationalen der Bezugnahme auf den Körper herausarbeiten, führt Foucault eine dritte Perspektive auf die korporale Bezugnahme ein, die auf das In-Bewegung-Setzen von Körpern als bewegliche Einheiten zielt. Dies ist die Perspektive der Physik und Biologie. Als klassische Wissensformen, die Körper in Bewegung und Bewegungsgesetze behandeln, versuchen die Physik und die Biologie das vermeintliche Chaos der Natur in eine Strukturiertheit nach Gesetzmäßigkeiten zu überführen. Äquivalent dazu nehmen für Foucault die Taktiken und Technologien der Macht die analytische Rolle der Bewegungsinstanzen ein: Sie sind jene historisch auftauchenden Treiber, Schaltstellen und Regulative der Machtbeziehungen, die über Institutionen und architektonische Anlagen die gewünschten Körper erzeugen, in Bewegung setzen und in Bewegung halten. Die Macht greift gleichsam physikalisch und

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Nealon (2008), 31.

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damit immer auch gewaltartig auf die Körper zu. 230 Zugleich beschreibt die Physik leblose und die Biologie lebendige Körper nicht nur in ihrer äußeren Bewegung, sondern auch in ihrer inneren Konstitution. Für Foucault ist nun zunächst eine in seiner wissenskulturellen Situation elementare Binnendifferenzierung wichtig, nämlich die von ›Makrophysik‹ und ›Mikrophysik‹. Erstere untersucht das Verhalten von Körpern als Ganzheiten, letztere (re-)konstruiert die Subeinheiten (Quanten, Atome, Moleküle) bzw. die Konstitution und Disposition der Körper. In Analogie zur Physik ordnet Foucault die Wirkungsweisen von Machttypen in die beiden skalaren Register ein. So betreibe die Souveränität der Souveränitätsgesellschaft eine Art »Makrophysik«, denn sie bringt die Körper in eine gewisse Ordnung, ohne aber die Körper selbst zu konstituieren (MP, 49). Dagegen wirkt die Disziplinarmacht auf einer »kapillaren Ebene« – Foucault kreuzt hier physikalische und biologisch-medizinische Vokabulare – gleich einer »Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird; ihre Wirksamkeit liegt [. . .] sozusagen zwischen diesen großen Funktionseinheiten und den Körpern mit ihrer Materialität und ihren Kräften« (ÜS, 38). Beiden physikalischen Beschreibungsebenen eignet die Sprache und Modellierung in Mechaniken und Mechanismen, weshalb Foucault auch häufig von den ›Mechanismen der Macht‹ spricht, »die ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Weg, ihre eigene Technik und Taktik haben« (VG, 39–40). Die Mechanismen können wiederum von den Erfindungen der politischen Technologien umgestaltet und optimiert werden. 231 Generell lässt sich jede Machtform im Hinblick auf ihre Ausübungsund Wirkungsweise in ihrer jeweiligen Physik beschreiben, und darin wiederum in den Subfächern der Optik, Mechanik und Physiologie ausleuchten. In seinem Exposee zur Vorlesung Die Strafgesellschaft (1972–1973) präsentiert Foucault das mögliche, in der Form aber nicht konsequent realisierte Forschungsprojekt einer »Physik der Macht« (DE II / 131, 584). Diese würde sowohl die »neue Optik« als auch die »neue Mechanik« und, im Übergang von unbelebter zu belebter Körperlichkeit, die »neue Physiologie« untersuchen, so wie sie von einer auftauchenden Machtform eingesetzt würde (ebd., Herv. i. O.). Variable 5: Produktion von Wissen. Die politischen Technologien einer historischen Machtform erzeugen, so haben wir bereits gesehen, soziale Einheiten. Diese politischen Technologien sind nun ihrerseits mit der Konstitution und Formierung von bestimmten (historischen) Wissensformen verbunden, sodass »die Formierung des Wissens und die Steigerung der Macht sich gegenseitig 230 Die Macht ist »physisch, und gerade dadurch ist sie gewalttätig in dem Sinne, daß sie völlig irregulär ist, und nicht in dem Sinne, daß sie entfesselt ist« (MP, 31). 231 »Foucault setzt auf diese Weise das Mechanische gegen lebensphilosophische oder leibphilosophische Assoziationen«, wie Petra Gehring treffend bemerkt hat (Gehring [2004], 124).

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in einem geregelten Prozeß verstärken« (ÜS, 287). Foucault greift hier einen spätestens seit Francis Bacon bekannten Topos des engen Verhältnisses von Wissen und Macht auf, gibt ihm aber unter dem Titel (des) »Macht / Wissen«(-Komplexes) eine konstitutive und reziproke Wendung (ebd., 291). Nicht mehr nur ›ist‹ Wissen Macht, vielmehr konstituiert Macht neue Wissensformen (Diskurse, Diskurspraktiken) und ermöglicht neuartige Erkenntnisse, indem sie neue Erkenntnisgegenstände und Begriffe konstruiert, und andersherum konsolidiert und steigert Wissen die historische Machtform. So gingen bspw. die Entwicklung der politischen Technologie der Disziplin bzw. der Machttypus ›Disziplinarmacht‹ einher mit der Etablierung der »Wissenschaften vom Menschen«, die ihrerseits wiederum die Verfeinerung der politischen Technologie ermöglichten (ebd., 290). In einem Gespräch kurz nach Erscheinen von Überwachen und Strafen expliziert Foucault pointiert, worum es ihm in seiner These des reziproken Verhältnisses von historischen Wissens- und Machtformen geht, die sich explizit gegen die Vorstellung einer von der politischen Macht zwar genutzten, aber letztlich von den sozialen Machtverhältnissen isolierten Wissensgenese und Wissenschaft wendet. Eine derartige Entkoppelung hatte sich noch im Humanismus des 19. Jahrhundert verfestigt: Nun habe ich allerdings den Eindruck, dass eine durchgehende Verknüpfung der Macht mit dem Wissen und des Wissens mit der Macht besteht [. . .]. Man darf sich nicht mit der Behauptung zufrieden geben, die Macht brauche diese oder jene Entdeckung, diese oder jene Form des Wissens, richtig ist vielmehr, dass die Ausübung der Macht Wissensgegenstände erschafft, sie entstehen lässt, Informationen anhäuft und verwendet. [. . .] Die Ausübung der Macht erschafft ständig Wissen und umgekehrt; das Wissen hat Machtwirkungen zur Folge. (DE II / 156, 929–930)

In dem Element der produktiven Konstituierung von Wissen drückt sich also im Besonderen die Antwort auf die genetische Aussparung der Archäologie des Wissens aus: die Transformation, der Übergang der Diskurse, steht in einem engen Verhältnis mit dem Auftauchen eines neuen historischen Machttypus, der das Auftauchen von Aussagen, die Etablierung neuer Diskurse provoziert oder gar erzeugt. An dieser Stelle kommt der Begriff des ›Dispositivs‹ ins Spiel. Denn Foucault identifiziert die Motivatoren der Erzeugung neuer Diskurse nicht nur auf der diskursiven Ebene, sondern auch auf nicht-diskursiver, materieller und intentioneller Ebene. Das Konglomerat aus heterogenen aussagen- und diskurserzeugenden Faktoren nennt Foucault »Dispositiv« (MP, 29). Diese Faktoren oder Elemente des Dispositivs sind zum einen die von ihm erzeugten Diskurse, aber auch deren materielle und institutionelle Stützen und Träger. Ein Dispositiv, verstanden als »heterogene Gesamtheit«, bildet sich aus »Diskursen, Institu-

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tionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagte[m] ebenso wie Ungesagte[m]« (DE III / 206, 392). Der Begriff des Dispositivs vereint sowohl medizinische Figuren der Disposition als auch technische und militärische Konationen der strategischen Anordnung und Aufstellung. 232 Denn wichtiger noch als die konkreten Elemente eines Dispositivs sind ihre Relationen zueinander – »[d]as Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann« (ebd.) – und die gesamtstrategische Funktion, die es ausübt. In dieser Weise sind Dispositive die strategischen diskursiv-nichtdiskursiven Ensembles, die von Kräfteverhältnissen ausgebildet werden und die zugleich dazu dienen, dieselben zu verschieben, umzulenken, zu manipulieren, oder zu stabilisieren. Dispositive sind den Kräfteverhältnissen immanent und erzeugen zugleich die fortwährende Dynamik in diesen (ebd., 394). Durch die Dispositive erhält das komplexe Verhältnis von Macht / Wissen eine heterogene und zugleich hoch dynamische Stütze. Indem die Elemente im Dispositiv untereinander immer wieder Anpassungen unternehmen und diese Anpassungen strategisch ausgerichtet sind, ist das Dispositiv »der Ort eines doppelten Prozesses« (ebd., 393). Über die Dispositive der Macht verschränken sich die Dynastik des Wissens und die Geschichte der politischen Macht. Variable 6: Medialität und Materialität. Mit dem Konzept des Dispositivs betont Foucault die wichtige Rolle von nicht-diskursiven Elementen für die Machtausübung. Neben der Architektur nimmt die materielle Seite der Schriftlichkeit darin eine besondere Stellung ein. Foucault hebt heraus: Die Machtausübung auf den Körper und über Wissensformen und Wissenschaften verläuft über historisch spezifische technische Medien, mediale Apparaturen und Schreibformen (Schreibmaschine, Buchhaltung / contre-rôle). Somit ist die Frage nach dem Physischen für Foucault auch immer zugleich einer Frage nach »der Materialität« der Machtbeziehungen und der materiellen Basis der politischen Technologie und Ökonomie (DE II / 131, 583). Foucault geht es um die großen infrastrukturellen aber auch um »diese kleinen, diese winzigen Materialitäten«, die ihrerseits »als Machtwerkzeug und -träger« die Macht bedingen und die Machtwirkungen präfigurieren (ÜS, 43). 233 Die »Materialität der 232 Das Konzept des Dispositivs hat sich in der Foucault-Rezeption als ungemein fruchtbar erwiesen, nicht nur folgten monografische Essays von Agamben (2008), auch hat sich ein eigener interdisziplinärer Forschungszweig um die ›(Medien-)Dispositivanalyse‹ ausgebildet, vgl. Bührmann / Schneider (2008), Paulus (2015). Für die jüngste Untersuchung mit Fokus auf der Differenz zwischen Dispositiv und ›Apparat‹, siehe Lambert (2020), 41–69. 233 Foucault beweist eine große Sensibilität für die Rolle des Materiellen und Medialen. Das hat auch die Medien(kultur)wissenschaft (insbesondere die deutsche) im Anschluss an Friedrich

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Macht« zeigt sich am geformten individuellen und kollektiven Gesellschaftskörper (DE II / 157, 933). Der korporale Bezug der Macht ist bei Foucault daher nicht im übertragenen oder epistemischen Sinne zu verstehen, ihm geht es immer auch um die unmittelbare Materialität der Körper: »wie die Machtverhältnisse materiell in die eigentliche Dichte der Körper übergehen können, ohne dass sie durch die Vorstellung der Subjekte übertragen werden müssen« (DE III / 197, 302, vgl. ÜS, 248–249). Als Element des ›Nicht-Diskursiven‹ nimmt das Materielle in Foucaults Machtanalytik eine lange Zeit unterschätzte, in letzter Zeit aber mit dem ›material turn‹ in den Kultur- und Sozialwissenschaften verstärkt betonte Komponente ein. 234 Variable 7: (Praktiken der) Wahrheit. Für Foucault zirkuliert Macht nicht nur zwischen den Relata der sozialen Beziehungen, sondern auch »zwischen den wissenschaftlichen Aussagen« (DE III / 197, 190–191). Die Macht wirke in die wissenschaftliche Wahrheitssuche hinein, sodass »die Wahrheit weder außerhalb der Macht noch ohne Macht ist«; Wahrheit ist damit für Foucault ebenso wie das Wissen und die Diskurse Gegenstand von Praktiken, die erst die Wahrheit hervorbringen (ebd., 210). Foucault erklärte in einem Gespräch (veröffentlicht auf Deutsch unter dem Titel »Macht und Wissen«) einmal sein diskursiv bestimmtes Begriffsverständnis von Wahrheit: »Ich verstehe unter Wahrheit die Gesamtheit der Verfahren, mit deren Hilfe man zu jedem Zeitpunkt gegenüber jedermann Aussagen machen kann, die als wahr angesehen werden. Es gibt absolut keine oberste Instanz.« (DE III / 216, 525) Mit den Diskursen sind auch die Wahrheitspraktiken historisch in die komplexe soziale Konfiguration des Wissens, der Ökonomie und des Rechts integriert, und dadurch mit den jeweiligen »Wahrheitsdispositiv[en] in einer Gesellschaft« verknüpft (DE III / 197, 211): Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskursarten, die sie annimmt und als wahr fungieren lässt; die Mechanismen und die Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden; die Art und Weise, wie man die einen und die anderen sanktioniert; die Techniken und die Verfahren, die wegen des Er-

Kittler (1985) gesehen und unter dem Stichwort der »Aufschreibesysteme« (ÜS, 245: »Aufzeichnungsapparate« in der Übersetzung von Walter Seitter) in jüngerer Zeit mit dem Konzept der ›Mediendispositive‹ entfaltet und theoretisch und methodisch ausgebaut. Zudem wird die Materialität und Medialität in ihrer Verflechtung mit Macht- und Regierungsformen breit untersucht, vgl. z. B. Samuel Sieber (2014), die Dissertation von Tanja Gnosa (2018), vgl. zur Verschränkung von Medialität und Gouvernementalität auch die Literaturübersicht in Buhr / Schölzel (2018), 8. 234 Vgl. z. B. Lemke (2021).

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reichens der Wahrheit aufgewertet werden: die rechtliche Stellung derjenigen, denen es zu sagen obliegt, was als wahr fungiert. (ebd., 210–211) 235

Wahrheit wird also von historischen und sozialen »Regime[n] der Wahrheit« (ÜS, 33) bestimmt, wie Foucault die Konstellation von Macht und Wahrheit auch nennt. 236 Das heißt jedoch nicht, dass es nicht Gegenstände geben könnte, in denen Wahrheit nach sehr festgelegten und relativ unerschütterlichen universal gültigen Verfahren erlangt wird. Foucault nennt explizit die Mathematik als einen jener Bereiche des Wissens, »in denen diese Wahrheitseffekte vollständig codiert und die Verfahren, mit deren Hilfe man zu wahren Aussagen gelangt, im Voraus bekannt und festgelegt sind« (DE III / 216, 525). In der Mathematik kann in nur sehr geringem, nahezu nicht vorhandenem Ausmaß Wahrheit strategisch erkämpft werden. Anderes hingegen gilt für sämtliche empirisch-basierten Wissenschaften und Diskurse, sie bilden Aussageweisen, Praktiken und Techniken des »Wahrsprechen[s]« aus (MW, 83). Jenseits der epistemischen weisen gesellschaftliche Formationen überhaupt erst »privilegierte Ort[e] der parrhesia [Wahrheit]« (ebd.) und potenzielle Gegenstandsfelder von Wahrheit aus. Wahrheit trägt nach Foucault damit immer einen sozialen und historischen Nexus. 237 In der engen Bezüglichkeit von Macht zur Wahrheit drückt sich, unschwer zu erkennen, die theoretische Folie des Willens zu Macht von Nietzsche aus. 238 Denn diese liefere, so Foucault, ein »Modell für eine historische Analyse der [. . .] Politik der Wahrheit« (DE II / 139, 683). Variable 8: Temporalität. Während die Historizität ein Grundelement des foucaultschen Machtbegriffs und der Machtanalytik darstellt, eignet den Machtformen eine eigene zeitliche Ausrichtung, die man auch ›Binnen-Temporalität‹ oder innere temporale Logizität nennen könnte. Was ist damit gemeint? Foucault beschreibt die Variable der Temporalität an den beiden Machtformen 235 In seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft zieht Foucault ein Zwischenfazit zur Untersuchung des Verhältnisses von Recht, Macht und Wahrheit: »Also: Rechtsregeln. Machtmechanismen, Wahrheitswirkungen. Oder auch: Machtregeln und Macht wahrer Diskurse. Das ist der Bereich, in dem ich mich, recht partiell, bewegt habe und in dem ich, wie ich wohl weiß, viele Zickzacklinien gezogen habe.« (VG, 33). 236 Roberto Nigro hat das Konzept der »Wahrheitsregime« systematisch ausgefaltet und als Vertiefung der Macht / Wissen-Dispositive rekonstruiert (Nigro [2015, 2017]). 237 In der Vorlesung Mut zur Wahrheit (1983–84) hat Foucault das komplexe Verhältnis von griechischer Demokratie, dem Wahrheitssprechen (parrhesia) und dem Diskurs der Philosophie untersucht, um die Politizität der Wahrheit und der Praktiken des Wahrsprechens aufzuzeigen. Für eine kritische (und rettende) Diskussion im Zusammenhang mit der Ausrufung des ›postfaktischen‹ Zeitalters sei in diesem Zusammenhang auf Hoppe (2019) verwiesen. Ausführlich wird das Verhältnis zwischen der Regierungsform der dynasteia und der parrhesia in Kapitel 8.5.1 unter dem Gesichtspunkt der kategorialen Nachbarschaft (K11) behandelt. 238 Vgl. Kap. 8.3.3 (K5).

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der Souveränitätsmacht und der Disziplinarmacht. Die von der Souveränitätsmacht erzeugte Souveränitätsbeziehung ist von »einer grundlegenden Anteriorität« gekennzeichnet, d. h., sie »schaut immer zurück auf etwas, das sie ein für allemal begründet hat« (MP, 72). Der Gründungsakt – so »etwas wie ein göttliches Recht oder etwas wie eine Eroberung, ein[] Sieg, ein[] Akt der Unterwerfung, ein[] Treueschwur« etc. (ebd.) – liegt der souveränen Machtbeziehung voraus und bildet ein konkret-historisches, metaphorisches oder mythisches Antererioritätsverhältnis aus. Die Anteriorität der Begründung installiert ein wesentliches funktionales Element der Souveränitätsbeziehung. Dahingegen charakterisiert sich die Disziplinarmacht durch eine Logik der linearen Zukünftigkeit, die sich in Form »eine[r] Vereinnahmung der Zeit in ihrer Totalität« oder auch Teleologie zum Ausdruck bringt (ebd., 77). So strebt die Disziplinarmacht »auf einen End- oder Optimalzustand« hin (ebd., 78). Sie schaut gewissermaßen nicht zurück, entnimmt ihre Begründung nicht einem vorausliegenden Akt, sondern »schaut in die Zukunft, auf den Moment hin, [. . .] wo die Disziplin folglich zur Gewohnheit geworden sein wird« (ebd.). Foucault geht aber noch weiter. Nicht nur sind die Machtfomen von einer inneren Zeitrichtung strukturiert, sie können bestimmte Ideen und konzeptuelle Assoziationen mit der Zeit selbst hervorbringen. Die »Entdeckung einer Evolution als ›Fortschritt‹« und die »›evolutive‹ Geschichtlichkeit« seien selbst Produkte der disziplinarisch verfahrenden, d. h. einer historisch spezifischen »Funktionsweise der Macht« (ÜS, 207). Variable 9: Imaginäres Schema, Thema oder ›Diagramm‹. Den Machtformen eignet schließlich ein je spezifisches Imaginäres, das von dominanten Vorstellungsbildern, Grundthemen, Schemata und Gestaltungsformen durchzogen ist. Dieses spezifische Imaginäre der politischen Macht lässt sich aus der historischen Literatur, in Bildarchiven, aus der Dominanz von Diskursen und diskursiven Praktiken herausarbeiten. Indem sie eine Illustration der dominanten politischen Technologie und Ökonomie und damit das »Funktionssystem« oder »verallgemeinerungsfähige[] Funktionsmodell« (ÜS, 263) eines ›Machtdispositivs‹ darstellen, erlauben sie zugleich einen heuristischen Zugang zu demselben. Foucault nennt diese für eine Machtform charakteristische Schematisierung deshalb auch an einer Stelle »Diagramm« der Macht (ÜS, 264). In diesem Verständnis von Diagramm gibt ein Diagramm kartografische Auskunft über die Möglichkeit der Organisation der Kräfteverhältnisse und Machtwirkungen in einem spezifischen Anwendungsfeld, bspw. Der Architektur der Gefängnisse, oder einer Gesellschaft im Ganzen. Das Diagramm der Macht steht somit für das gesamtstrategische Kalkül und die politisch-technologische Idee einer Machtform. Das machttypische Imaginäre lässt sich an einigen Beispielen weiter verdeutlichen. Für die Souveränitätsgesellschaft verweist Foucault auf das Modell des Levia-

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thans als prägendes politisch-imaginäres Machtschema (VG, 37–38, 43–44). Mit großer Detailtiefe arbeitet Foucault zwei dominante Grundschemata im 18. und 19. Jahrhundert, das »panoptische Schema« (ÜS, 265) und das »Thema der Maschine« (DE IV / 277, 23), heraus. Jenes Schema des Panopticons tauchte in Architekturskizzen für Ausbildungsstätten und Gefängnisse im 18. Jahrhundert vermehrt auf und wurde in bekannter Weise von Jeremy Bentham (1748–1832) als das Ideal für die architektonische Anlage einer Institution der kollektiven Beherbergung und des Ingewahrsamnehmens expliziert (ÜS, 251–271). Neben dem Panopticons bildet das »Thema der Maschine« (DE IV / 277, 23), genauer der mechanischen Maschine das dominante Thema, nach welchem die Formung und Einfügung des arbeitenden, lernenden und militärischen kämpfenden Körpers des Individuums vorgestellt und installiert wird. Der menschliche Körper wird darin als Maschinenteil, als Rädchen in einem Räderwerk konzipiert, das permanent nachjustiert und gewartet werden muss: So formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. Eine ›politische Anatomie‹, die auch eine ›Mechanik der Macht‹ ist [. . .]. (ÜS, 176)

In Foucaults Interpretation der Machtvorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts greifen das panoptische Schema und das Thema der mechanischen Maschine ineinander, indem »die Hauptwirkung des Panopticon[s]«, nämlich »die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen [. . .] das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt« (ÜS, 258). Die architektonische Gestaltung installiert also eine Art Maschinerie, die Machtverhältnisse in ihrer Ausübung stabilisiert und für die Seite der Machtausübenden optimiert (ebd.). In der konkreten baulichen Umsetzung eines Schemas tritt das Schema des Panopticons vom Status und Zustand des Konzepts in die sinnfällige Materialisierung über. Mit anderen Worten: In der Architektur materialisiert sich das historische Diagramm der politischen Macht. Zusammenfassung. Die historische Matrix einer Machtform bildet sich in der hier vorgelegten Analyse aus neun Variablen (vgl. Abb. 14); dabei ist eine grundlegende machtkonzeptionelle Prämisse die Beziehungsförmigkeit von Macht. Macht emergiert aus sozialen Beziehungen, die sich in Kräfteverhältnissen historisch formieren und durch die Strategien der Macht geordnet, umgestellt und modifiziert werden. Darin vollzieht sich Macht in Handlungen und Transformationen der Diskursbedingungen. Nachfolgend seien noch einmal alle Variablen einer Machtform, die hier in ihrer formalen Zusammenschau ›Matrix der Machtform‹ genannt werden, tabellarisch zusammengetragen.

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Variable 1: Beziehungen Variable 2: (politische) Technologie Variable 3: (politische) Ökonomie Variable 4: Beziehung zum Körper und zu Körperlichkeit Variable 5: Produktion von Wissen Variable 6: Medialität und mediale Materialität Variable 7: (Praktiken der) Wahrheit Variable 8: Temporalität Variable 9: Imaginäres Schema, Thema oder ›Diagramm‹

Abb. 14 Matrix der historischen Variablen einer Machtform

c) Analytisches Element des Machtbegriffs: Analysemodelle

Das dritte Element der Basisebene von Foucaults Machtbegriff bildet das Element des Analysemodells. Jenes steht komplementär zu den beiden anderen Begriffselementen (historischer Variablenkomplex und materiale Bestimmung von Macht als Kräfteverhältnis). Um die historischen Machtformen im Rahmen einer Analytik der Macht aufzuschließen und damit die Form der Machtwirkungen aus den sozialen Kräfteverhältnissen zu spezifizieren, bedarf es »Schemata« oder »Modellen«, die die historische Form der Macht und ihre Wirkungen intelligibel machen. Diese Modelle sind für Foucault daher »Erkenntnis- und Analyseprinzip[ien] der politischen Macht [principe d'intelligibilité et d'analyse du pouvoir politique« (VG, 31; frz., 21). Sie stellen eine Art Macht / Wissen-Relation zweiter Ordnung dar. 239 Aus der Perspektive der analytischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie sind Modelle Instrumentarien zur heuristischen Erschließung eines Gegenstandes. Genau in diesem Sinne verwendet Foucault auch den Begriff des Modells. Zugleich bringt er die Modelle ihrerseits in einen historischen Konnex: die Modelle der Macht sind bereits im wortwörtlichen Sinne des Wortes historisch ›informiert‹, d. h., ihre Verwendung und Intelligibilisierungsfunktion tragen eine bestimmte 239 In diese Richtung scheint auch Wolfgang Detels Interpretation zu gehen. Ihm geht es im Besonderen um eine modellhafte Ausfaltung des Verhältnisses von Macht und Wissen, die Foucault selbst nicht expliziert. Detel arbeitet drei Modelle heraus – das »Invisible-Hand-Modell«, ein »performatives Modell« und ein »kontrafaktisches handlungstheoretisches Modell« –, die den Beziehungen von Macht und Wissen implizit unterliegen (Detel [2006], 40–50, Herv. i. O.). Diese Modelle sind Detels analytische Interpretation zur Präzisierung der inneren Strukturen des Macht-Komplexes und stellen daher eine weitere, hier aber nicht weiter relevante Modelldimension dar.

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Historizität in sich. Damit ist der methodologische Einsatz von Modellen bei Foucault zugleich heuristisch und historisch. Analytizität der Modelle. Eine zentrale Stelle für die komplexen begrifflichmethodologischen Verknüpfungen findet sich in den ersten drei Sitzungsmanuskripten der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft im Januar 1976. Foucault ist bemüht, in allen seinen genealogischen Untersuchungen ein gewisses Maß an Analytizität und Systematizität einzubringen. Dieser Anspruch wird in erster Linie durch die methodologische Ausrichtung an Modellierungsmöglichkeiten bedient. Zunächst ist aber eine die Modellierung bedingende methodologische Existenzannahme, dass es kontingente (historische) Machtformen gibt, und dass diese Machtformen intelligibel sind. Auf der Folie der Genealogie sind diese Machtformen bzw. Variablenkomplexe in erster Linie genealogisch-narrativ, aber eben auch ›analytisch‹ über ein Modell erschließbar. Wie aber lässt sich nun der Zusammenhang von Machtform und Modell verstehen? Die Ausführungen von Wolfgang Detel helfen an dieser Stelle weiter. Die historischen »Machtformen, ihre Dynamik, ihre globalen Strategien und deren Verschiebungen repräsentieren«, so Detel, »intelligible strukturelle Muster, auch wenn ihre Entstehung und Entwicklung aus kontingenten Transformationen bestehen sollten, die sich nur narrativ beschreiben lassen.« 240 Die Modelle von Macht manifestieren sich also zusammen mit den imaginären Schemen und Diagrammen in überlieferten Texten, Bildmaterialien und theoretischen Abhandlungen (vgl. ebd., 39). Als »Systeme der Analyse« (VG, 27) legen sie im Rahmen der Machtanalytik gewissermaßen die Voreinstellung für den empirischen und analytischen Zugriff auf bestimmte Machtformen bzw. Variablenkomplexe. Und in Analogie zu den Epistemen bilden sie eine Art epochentypische präfigurative Grundform der Macht. Foucault identifiziert »zwei große Systeme der Machtanalyse« (ebd.), die vielleicht am besten als Cluster aus Modellen und Grundschemata verstanden werden können: zum einen das »Modell Vertrag-Oppression«, auch »juridisches Modell« genannt, zum anderen das »Modell Krieg-Repression« (ebd., 28). Zu ersterem gehört die Vorstellung von »Macht als ursprüngliches Recht« und der »Vertrag als Matrix der politischen Macht«, dessen Schwelle die Unterdrückung bildet (ebd.). Zweiteres umfasst »das binäre Schema von Krieg, Kampf und Zusammenstoß der Kräfte« (ebd., 29), und bringt sich in den Begriffen von Herrschaft und mit ihr verwobener Unterdrückung zum Ausdruck (ebd.). Für Foucault stellt sich vor dem Hintergrund der Kontextgebundenheit von Analysemodellen die Frage: »Wie, ab wann und warum fing man an sich vorzustellen, daß es der Krieg ist, der unterhalb und innerhalb der Machtbeziehung funktioniert?« (ebd., 57) Mit 240

Detel (2006), 32.

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anderen Worten: Wann begann sich das Modell von politischer Macht als Krieg und Kampf als heterodoxes Modell zur Beschreibung und Analyse von Macht durchzusetzen? Historizität der Analysemodelle. Die Verwendung von Modellen darf somit nicht als eine Konzeption von Modellen als universalen Erkenntnisinstrumentarien ausdrückend missverstanden werden, vielmehr sind für den Historiker und Genealogen Foucault Modelle immer auch, wie bereits angedeutet, mit einem Funktions-, Legitimations- und Entstehungshintergrund verwurzelt. »Die große Falle [. . .], in die man bei der Machtanalyse hinzugeraten droht« (VG, 44), liegt entsprechend in der Dekontextualisierung dieser Modelle oder Leitschemata. Dann nämlich führen diese Modellierungen von Macht auf der Ebene der politischen Theorie und Philosophie ein gewisses Eigenleben: Wenn sie als ahistorische Modelle in der Theoretisierung von Macht und der Analyse von Macht zugrunde gelegt werden, führt es dazu, dass die Dynamik der Machtformen, die Erfindungen auf der Ebene der Machttechnologien unbemerkt und damit auch die neuen Formen der Machtausübung unentdeckt bleiben. 241 Den Analysemodellen von Macht (oder breiter gefasst: Machtbegriffen) eignet deshalb eine dezidiert theoriepolitische und begriffspolitische Qualität, denn sie »stellen auch die Weichen sehr unterschiedlich [. . .] im Blick auf die Sensibilität von Kritikformen für die Wirklichkeit von Macht.« 242 Doppelte Kontextgebundenheit der Modelle. Jedes Modell, jede Modellierung von Macht stellt genau genommen immer ein doppelt kontextverbundenes Analyseprinzip dar: Einerseits verweist es auf den historischen Kontext seines Auftauchens in Textkorpora und bildlichen Zeugnissen, andererseits ist es zugleich immer auch in seiner Bewertung und in seinem Gebrauch mit dem Diskurs der Macht bzw. der bestimmten theoretischen Situation der Machtanalytiker:in verbunden, die mit dem Modell arbeitet. Wenn Foucault also das Modell des Krieges in der Subform des strategischen Kampfes für die Analyse der Machtformen des 18. und 19. Jahrhunderts anlegt, dann erstens, weil er Zeugnisse dafür findet, dass Macht zunehmend in dieser Form, nach diesem Modell vorgestellt und analysiert wurde: »[M]an gelangte zu der Vorstellung, daß der Krieg im Grunde die Matrix der Wahrheit des historischen Diskurses 241 Vgl. 8.3.3 a). Das Souveränitätsmodell ist, so Foucault, für die Analyse der Macht des 19. (und 20.) Jahrhunderts als hinreichendes Modell der Macht insofern überholt, als dieses Modell auf die gesellschaftliche Ordnung einer Kastengesellschaft und eine bestimmtes »Faktum der Herrschaft« zugeschnitten ist (vgl. VG, 35, AN, 73–74). 242 Gehring (2016), 85. Es ist zu vermuten, dass Foucault die elementare Rolle der Analysemodelle am Beginn seiner Hinwendung zum Thema der Macht noch nicht klar war; vielmehr hat er sie sich, wie es scheint, selbst erst um die Mitte der 1970er und in der Hinwendung zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht erarbeitet (VG, 7–51).

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sei« (VG, 191). Exemplarisch hierfür führt Foucault die Schriften des Historikers Henri de Boulainvilliers (1658–1722) und Carl von Clausewitz (1780– 1831) an. Und zweitens ist mit dem von Marx und Nietzsche (und je nach Perspektive: auch von Freud und Darwin) geprägten wissenskulturellen Milieu eine hohe Affinität zum Modell des Krieges als Kampf vorgezeichnet. Zusammenfassung. Aus diagrammatischer Perspektive lässt sich als erste Ebene des foucaultschen Machtbegriffs die Konzeption von Macht als historisch analysierbares Kräftegeschehen bestimmen. Damit sind entsprechend drei ineinandergreifende und einander komplementierende Elemente identifiziert, die zusammen die erste Ebene des Machtbegriffs ausbilden. Dabei wird die materiale begriffliche Bestimmung von Macht als Kräftegeschehen historisiert, indem sich die Kräfte entlang einer Matrix aus Variablen, historisch als soziale Kräfteverhältnisse konfigurieren, die ihrerseits bestimmte Modellierungen von Macht implizieren, die sich als Modelle zur (genealogischen) Analyse von Macht abstrahieren lassen. Die Historizität von Macht ist damit ein wesentliches Element und Charakteristikum von Foucaults Machtbegriff und zeichnet bereits vor, dass sich auch die Machttypen (diagrammatisch: der Phasenraum) der ersten Ebene des Machtbegriffs wesentlich über eine historische Dimension ausdifferenzieren.

8.4.2 Phasenraum: Historische Machtformen (K7)

Der begriffliche Phasenraum setzt sich bei Foucault nicht so sehr aus analytischen, sondern vielmehr aus historischen Typen zusammen, d. h., wir finden bei Foucault eine »Typologie historischer Machtformen« 243. Historisch heißt bei Foucault allerdings nicht, dass eine globale Strategie oder Matrix nur zu einer bestimmten Zeit auftritt und dann wieder verschwindet, sondern eher, dass sie zu einem historischen Zeitpunkt, in einem Zeitfenster auftaucht, sich konsolidiert und gegebenenfalls auch einen historischen Epochenzeitraum dominant gegenüber anderen Machtformen ist, dann aber auch weiterhin fortbestehen kann (vgl. GG 1, 22–23). Innerhalb einer Gesellschaft können also durchaus »ein spezieller Typ oder mehrere Typen von Macht am Werk« sein (DE III / 221, 600). Weder die Souveränitätsmacht noch die Disziplinarmacht sind bspw. Machtformen, die nicht mehr existieren, sie wirken nach wie vor fort. 244 Vor diesem Hintergrund erscheint es auch treffend, die historischen Machtformen als ›Machttypen‹ zu bezeichnen, die neben dem historischen auch eine gesell243 244

Gehring (2016), 89. Vgl. Bröckling (2010), 411.

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schafts-analytische Dimension aufweisen (vgl. MP, 49). 245 In der Erkundung der Elemente der ersten Ebene (K6) sind bereits Ausprägungen der Machttypen zur Veranschaulichung herangezogen worden, insbesondere jener Machttypen, die Foucault ›Souveränitätsmacht‹ und ›Disziplinarmacht‹ nennt. In Sexualität und Wahrheit 1 ordnet Foucault den Typus der Disziplinarmacht einem übergeordneten Machttypus zu, die er »Bio-Macht [biopouvoir]« nennt. Hiernach hat der Typus der Bio-Macht zwei »Hauptformen« oder »Entwicklungsstränge« (SW 1, 134, 135), zum einen die Disziplinarmacht, zum anderen, etwas später aufkommend, den Machttypus der ›Regierung‹. Im 18. Jahrhundert seien »die beiden Entwicklungsstränge noch deutlich unterschieden«, aber doch bereits über ein »Bündel an Zwischenbeziehungen« verbunden (ebd., 135, 134). Die Bezeichnung ›Bio-Macht‹ rührt aus dem primären Gegenstand dieser Machtform: dem Leben der Menschen als Individuen in einem Gesellschaftskörper. Das Leben selbst bildet den Gegenstand der Machtausübung. Während in der Souveränitätsmacht die Beziehung zum Leben der Menschen über das Recht des Souveräns »sterben zu machen oder leben zu lassen« definiert ist, zielt die Bio-Macht durch disziplinäre Institutionen (Armee, Schule, Fabrik) und Bevölkerungsregulierung darauf, »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen« (ebd., 134, Herv. i. O.). Die Regulierung der Bevölkerung und die Disziplinierung des Individuums sind eng mit der Herausbildung der kapitalistisch-industriellen Produktionsverhältnisse verbunden. Bio-Macht bezeichnet damit einen Machttypus, der sich auf den lebendigen Körper des Individuums und die menschliche Reproduktion im Sinne der Reproduktion von Arbeitskraft bezieht. Darin nimmt Sex eine zentrale Stellung ein, denn »[d]er Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen.« (SW 1, 141) Wenn es nun darum geht, die Machttypen als Phasenraum der ersten Ebene des foucaultschen Machtbegriffs zu skizzieren, bietet uns die historische Matrix aus neun Variablen ein systematisches Gerüst. Zusammenfassend lassen sich die Machttypen im Rahmen der hier vorgelegten diagrammatischen Interpretation entlang des historischen Variablenkomplexes wie folgt skizzieren (vgl. Abb. 15). 246

245 Vgl. Ruoff (32013), 155–165. Foucault selbst nimmt keine methodologische Trennung von ›Machttypen‹ und ›Machtformen‹ vor, er verwendet die Termini ›Formen‹ und ›Typen‹ eher synonym. Und wie auch der Begriff der ›Strategie‹, so werden auch beide Termini zur Bezeichnung sowohl von verschiedenen historischen als auch lokalen Ausprägungen, also in historisch-historiografischer und in geografischer Bedeutung, verwendet. 246 Die tabellenförmige Zusammenstellung hat Anleihen genommen von den Tabellen von Vogelmann (2017), 10; Ruoff (32013), 161–162; Nealon (2008), 45. Ich lasse einen Übergangstypus

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Machttypen (historische Machtformen) Bio-Macht Souveränitätsmacht

Disziplinarmacht

Regierung (mit Pastorat als Vorläufer)

Auftauchen und Etablierung

16./17. Jhd.

17./18. Jhd.

18./19. Jhd.

V1: Beziehungen

Juridisch, Herrscher-Untertan

disziplinär

regulierend

V2: (politische) Technologie

Marter, zerstörende Strafe am Körper, Ziel: der Körper, das Fleisch

Panoptische, regulative Architektur, Strafe am Körper, Ziel: die Seele

Sicherung der Zirkulation durch Verhaltenssteuerung

V3: (politische) Ökonomie

abschöpfend, diskontinuierlich

ausbeutend; kapillarisch, durch die individuellen Körper hindurch; kontinuierlich

kontinuierlich von der Geburt bis zum Tod

V4: Beziehung zum Körper und zu Körperlichkeit

Im Fokus steht der Körper des Königs

Im Fokus steht der Körper des Individuums; normalisierend

Im Fokus steht der Bevölkerungskörper (die Herde aus Individuen), normalisierend

V5: Produktion von Wissen

Kameralismus, Merkantilismus

›Humanwissenschaften‹

›Humanwissenschaften‹, v. a. Politische Ökonomie (/)

V6: Medialität und mediale Materialität.

Öffentliches Spektakel, Zeremonie; Pranger, Galgen

Aufschreibesysteme (Buchhaltung, Tagebuch, schriftl. Prüfungen); unsichtbare Sichtbarkeiten

Aufschreibesysteme

V7: (Praktiken der) Wahrheit

Marter als Wahrheitsbeweis

Tagebuchführung, Buchhaltung

Beichte, (Unterricht und parrhesia)

V8: Temporalität

anterior

zukunftsgerichtet

gegenwarts- und zukunftsgerichtet

V9: Imaginäres Schema, Thema oder ›Diagramm‹

Ordo, Pyramide

Panopticon

Staatsräson (ratio status)

Abb. 15 Der Phasenraum der ersten Ebene des foucaultschen Machtbegriffs

zwischen Souveränitätsmacht und Disziplinarmacht, der im 18. Jahrhundert von den Reformjuristen angeregt wurde, aus, da er von Foucault m. E. nicht hinreichend als solcher definiert wird.

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Hinweis und Ausblick. Der Machttypus der Regierung nimmt bei Foucault eine Sonderstellung ein, da er einerseits als historische Machtform analysierbar ist, andererseits aber auch zusammen mit der ›Gouvernementalität‹ eine eigene Ebene im foucaultschen Machtbegriff ausbildet. Bevor Regierung als zweite Ebene von Foucaults Machtbegriff unter dem diagrammatischen Gesichtspunkt der begrifflichen Ebenen weiter beleuchtet wird, soll – der diagrammatischen Karte folgend – zunächst das Strukturprinzip der ersten Ebene vertiefend erkundet werden.

8.4.3 Das Strukturprinzip: Spiel der Kräfte und Widerstand (K8)

Die Komponente des Strukturprinzips in der Machtkonzeption Foucaults schließt direkt an die materiale Bestimmung von Macht als Machtbeziehung an, die einer bestimmten historischen Konstellation von Kräfteverhältnissen entwächst. Macht ist darin sowohl die »Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen«, die sich in kämpferischen Spielen transformieren und zum Ausdruck bringen, als auch die Menge an eingreifenden Strategien, die diese Kräfteverhältnisse stabilisieren, verschieben, verwandeln, stützen, aufbrechen und in denen umgekehrt die Kräfteverhältnisse zur Wirkung gelangen (SW 1, 93). Macht ist dasjenige, was von globaler Warte aus Kräfteverhältnisse erzeugt oder stabilisiert, und auch dasjenige, was aus diesen Kräfteverhältnissen überhaupt erst als lokale stabilisierte Beziehung emergiert. 247 Macht hat also einen lokalen und einen globalen Wirkungsmodus. Darin zeitigt die Machtkonzeption bereits eine intrinsische Spannung, nicht eine Ambivalenz, aber eine Spannung zwischen den bewirkenden Kräften in actu und den vermögenden Strategien, die sich in den an sich instabilen Kräfteverhältnissen als steuernde und integrative Momente (im dramatischen Sinne) hervortun und in Kämpfen formieren. Unter dem Gesichtspunkt der materialen Bestimmung (K6) 248 von Macht als Emergenz von Kräfteverhältnissen hatten wir bereits die zwei Perspektiven auf die Wirkung von Macht bzw. zwei Wirkungsdimensionen der Macht differenziert: zum einen die Wirkungsdimension des Kräfteverhältnisses an sich und zum anderen die Wirkungsdimension der produktiven, transformativen, generell: 247 Das Verhältnis zwischen lokalen Machtbeziehungen und Taktiken und ›Gesamtstrategie‹ bzw. ›globaler Macht‹ beruht – in Analogie zum Verhältnis der Willen zur Macht bei Nietzsche – auf einem »zweiseitigen Bedingungsverhältnis[]«: keine lokalen Machtbeziehungen können ohne Einordnung »über eine Reihe von sukzessiven Verkettungen in eine Gesamtstrategie« funktionieren, noch könne »umgekehrt [. . .] []eine Strategie zu globalen Wirkungen führen«, ohne sich auf lokale Machtbeziehungen zu stützen (SW 1, 99, Herv. i. O.; vgl. Detel [2006], 31–32). 248 Vgl. Kap. 8.4.1 a).

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formgebenden Strategien. Diese Wirkungsdimensionen sind von inhärenten Strukturmomenten und Ausdrucksmodi geprägt, denen nun weiter nachgespürt werden soll. Das Spiel der Kräfte als Spiele der Macht. Der Existenzmodus, in dem sich die Kräfteverhältnisse vollziehen, ist für Foucault zunächst das Spiel im weitesten Sinne. Das Spiel ist die Vollzugsweise der Kräfte. Aus dieser Perspektive versteht Foucault unter Macht »das Spiel, das in unauflöslichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt« (SW 1, 93). So wie sich die Sprache nach der Idee von Wittgenstein in Sprachspielen entfaltet, so werden »[a]uch die Machtbeziehungen [. . .] gespielt; es sind Machtspiele, die es zu analysieren gilt in Begriffen von Taktik und Strategie, in Begriffen von Regel und Zufall, in Begriffen von Einsatz und Ziel« (DE III / 232, 684). Mit der Kennzeichnung als ›Spiel‹ ruft Foucault eine Kategorie auf, in der sämtliche Formen der Interaktion vom freien Interagieren über ein taktisches Treiben bis zum strategischen Manöver mit Überlistung und Unterwerfung vorstellbar sind und die eng mit der Kategorie der Kontingenz verknüpft ist. Die Kategorie des Spiels ermöglicht ebenso wie der Begriff der Kraft eine Vielzahl an Vokabularen, die trotz ihrer Heterogenität durch ihre gemeinsame Referenz auf den Modus des Spiels, der die Modi des Wider-Spiels und der Gegen-Handlung impliziert, konsistent bleiben. In einem Spiel treten mindestens zwei Parteien oder ›Kräfte‹ in einen Wettstreit, Widerstreit, Wettkampf oder Krieg. Die Parteien des Spiels kämpfen um ein bestimmtes Ziel oder treten in freier Konstellation mit offenem Ziel unter einem mehr oder weniger dichten Reglement auf einem bestimmbaren Feld oder Terrain gegeneinander an. Der Kern des Spiels ist das kontingent-dynamische Gegenund Miteinander verschiedener Elemente. 249 Aus der Perspektive darwinscher Evolutionstheorie sind die ›Kämpfe‹ der Organismen ums Überleben (struggle for existence) – also das Verhalten der Individuen gegen das Verhalten anderer Individuen in einem bestimmten Milieu – »richtungslos«, sie folgen keiner Logik, noch zielen sie auf eine bestimmte Ordnung. 250 Das bedeutet zweierlei: Die Kämpfe in der Natur sind on the long run a-teleologisch, und sie sind nichtdialektisch. In Analogie dazu bleiben auch die unzähligen Kämpfe und Kampflinien der Geschichte der Menschheit leer, sie gleichen keiner dialektischen Fortbewegung des Begriffs, des Weltgeists, der Vernunft oder der Emanzipa249 Foucault referiert auf das Spiel als Oberkategorie einer gegnerischen Konstellation und im speziellen Zusammenhang mit sozialen Kräfteverhältnissen tatsächlich relativ wenig, wenngleich an prominenten Stellen in »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (DE II / 84, 175–178), im Vortrag »Die analytische Philosophie der Politik« (DE III / 232, 681–685) und im Methodenkapitel von Sexualität und Wahrheit I (SW 1, 93–102; frz., 121–135). 250 Sarasin (2019a), 87, 91.

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tion der unterdrückten Klassen, was einer negativen Geschichtsphilosophie gleichkommt. Foucault erklärt einmal in einem »Gespräch über die Macht« mit Studierenden in Los Angeles mit einem direkten Verweis auf Darwin und gegen Engels, dass er die nichtdialektischen antagonistischen Kämpfe und »Wechselprozesse«, wie sie die Biologie aufzeige, »für eine sehr wichtige Erkenntnis« halte, und in Anbetracht dessen die hegelsche und marxsche Widerspruchslogik unhaltbar wäre (DE III / 221, 602). 251 Das ist ein geschickter, wenngleich aus hegelscher Perspektive leicht angreifbarer Schachzug Foucaults: Biologie sticht geschichtsphilosophische Spekulation. In begrifflicher Hinsicht ist entscheidend: Nicht die Kräfte der Vernunft und ihrer Entäußerungsbewegungen, nicht die Kräfte des sozialen Emanzipationskampfes, sondern die Kräfte der Natur, der physis, dienen Foucault im Gefolge von Nietzsche einmal mehr als konzeptueller Orientierungspunkt. 252 Die Kräfteverhältnisse, die Spiele der Kräfte und ihre Kämpfe des Sozialen, bilden sich also nicht aufgrund einer Widerspruchslogik aus, vielmehr sind sie, wie die Kräfte des Lebendigen, antagonistisch, richtungslos, a-teleologisch. 253 Obwohl soziale Ordnungen »gleichsam die Konstitutionsseite im Spiel der Macht« darstellen, sind die Kräfte in ihrem Spiel also, so fasst es Gehring pointiert zusammen, »in ihrer inneren Logik gar nicht auf die Ordnung bezogen.« 254 Wenn Sarasin hierin eine frappierende »Parallele zwischen Darwins ›Krieg‹ in der Natur und Foucaults Auffassung von ›Macht‹ als den Kräfteverhältnissen auf einem bestimmten Territorium« sowie zwischen dem »Gesamteffekt« der Macht und der Idee der natural selection vorliegen sieht 255, so sind die Parallelen tatsächlich nur hinsichtlich des Aspekts der zugleich richtungslosen Kämpfe und ihres formenden, produktiven Gesamteffekts plausibel. Die evolutive Kraftkonzeption reicht jedoch nicht aus, um das in den nietzscheschen-foucaultschen Kräftekonstellationen hervorgehobene Charakteristikum der Binarität und des Widerstandes einzuholen. 256 Häufig nämlich führt Foucault jene spezifischen Spieltypen an, die Vgl. hierzu auch Sarasin (2019a), 202–204. Vgl. zum Kraftbegriff bei Foucault bereits Kap. 8.4.1 a) und c) (K6). 253 Vgl. Sarasin (2019a), 203–204. 254 Gehring (2004), 125. Gehring führt weiter aus, dass die Kräftespiele »radikal anarchisch« wären (ebd.). M. E. folgt aus einer externalen Ungerichtetheit noch kein anarchischer Agitationsmodus. In »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« charakterisiert Foucault die Kräfte bei Nietzsche auch nicht im Register des Anarchischen, sondern des Zufälligen: »Die Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind, gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern nur den Zufällen des Kampfes. Sie manifestieren sich [. . .] stets nur als das einzigartige Zufällige des Ereignisses« (DE II / 84, 180). 255 Sarasin (2019a), 91–92, Herv. i. O.; vgl. 202–221. 256 Meine Vermutung ist, dass Sarasins Interpretation der Parallelisierung von Foucaults Machtkonzeption mit Darwins evolutionärer Kraft der natural selection via Nietzsche auf der Grundlage 251 252

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sich aus seiner Perspektive durch ein »binäre[s] Schema« auszeichnen: »Krieg, Kampf und Zusammenstoß der Kräfte« (VG, 29). 257 In dem binären Schema spiegelt sich wiederum, und das ist ein weiterer meta-physischer Aspekt in Foucaults Machtkonzeption, wieder das uns bekannte Strukturprinzip aus Aktion und Reaktion bzw. die Logik der Kraft als Zusammenspiel von aktiven Kräften und Gegen- oder Widerstandskräften. Das binäre Schema von Krieg und Kampf kongruiert, mit anderen Worten, in der formalen Struktur primär mit dem Strukturprinzip der Kräfteverhältnisse im physikalischen Sinne. Foucault wechselt also, wenn man so will, mit der Betonung des Binarismus das physiswissenschaftliche Register von (Evolutions-)Biologie zur mechanischen Physik. Warum spricht Foucault dennoch von einem ›Spiel‹ der Kräfte? Die Antwort liegt auch hier wieder in einer Strukturanalogie: Die Konzepte von ›Kräfteverhältnisse‹ und ›Spiel‹ in den Modi von Kampf und Krieg verbindet eine ähnliche innere Logik des Gegeneinanders, weshalb sie auch in ein inverses Verhältnis zueinander gesetzt werden können: Kräfteverhältnisse sind als Spiel aussagbar und das Spiel ist in Kräfteverhältnissen aussagbar. Durch die binäre oder polare, zugleich häufig asymmetrische Konstellation eines Kräfteverhältnisses und den zugrundeliegenden Begriffen von Aktion und Reaktion oder Widerstand eignet den Kräftebeziehungen von Beginn an die Eigenschaft oder das Potential, »in Begriffen eines dramatisierten Konflikts« ausgedrückt zu werden. 258 Im Hintergrund des Kampf-Modells ist also, so meine Interpretation, die Logik der Kraft operativ wirksam, sie wird aber von Foucault, ähnlich wie von Nietzsche, in einer Form von anonymer Intentionalität aufgehoben: So wie der Wille zur Macht bei Nietzsche auf dem naturphilosophisch präfigurierten Begriff der Kraft aufbaut, denselben aber durch die ästhetische und anonym-intensionale Dimension des Willen ergänzt 259, so überführt Foucault das rein physikalische Aktion-Reaktion-Schema bzw. die Logik der Kraft in die Form der handlungspragmatischen Relationalität und in das Vokabular militärstrategischer Begriffe der Taktiken und (Gesamt-)Strategien. Und während die Kräfte auf dem residualen Schema von Aktion – Reaktion / Widerstand aufruhen und das Schema des Antagonismus und damit ein soziales und polifunktioniert, die Kräfte nicht einer Binnenstruktur und Funktionslogik zuzuführen, sondern in erster Linie in ihrer Produktivität und Territorialität zu betonen. 257 Norbert Richter hat sich intensiv mit dem methodologischen und politischen Einsatz des Spielbegriffs in Foucaults Machtanalytik beschäftigt, er kommt zu dem Schluss, dass dieser »eher den Charakter eines methodologischen Experiments als den eines von intensiver Begriffsarbeit begleiteten Paradigmenwechsels nach der Verabschiedung des Kriegsmodells« hatte (Richter [2005], 145). 258 Starobinski (2003), 31. 259 Gehrhardt (1996), 203.Vgl. ausführlich dazu Kap. 8.3.3 a) (K5).

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tisches Gewand annehmen, nehmen die Strategien theoriearchitektonisch die Rolle von Nietzsches Willen zur Macht ein. Auf diese Weise kündigen sich, vermittelt über Nietzsches Willen-zur-Macht-Konzept, zarte Wieder-Holungen aus dem Tableau und dem Strukturprinzip der agentiv-patentiven Korrelation der aristotelischen dynamis an. Für das Folgende sind daher in begriffsstruktureller Hinsicht zwei Aspekte relevant: die Figur und die Rolle des Widerstands auf der Ebene der Kräfteverhältnisse und die Modalitäten der Strategien. Macht und Widerstand. Wenn man sich vor Augen hält, dass die Kräfteverhältnisse nach der Logik der Kraft strukturiert sind, erschließt sich rein begriffslogisch, dass Foucault den Begriff des Widerstandes in der Position der Gegen-Kraft und dem Vermögen, nicht bewegt zu werden, nicht nur notwendigerweise in die Konzeption der Macht integrieren, sondern dem Widerstand (résistance) zudem die Stellung und den Status der Existenz- und Vollzugsbedingung einräumen wird. Der »strikt relationale[] Charakter der Machtverhältnisse« erfordert, so Foucault, »ein nicht wegzudenkende[s] Gegenüber«, das sich als unregelmäßig in das Netz der Macht eingestreute »Widerstandspunkte, -knoten und -herde« manifestiert, die »in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen« (SW 1, 96). In Analogie und Korrespondenz zu den ubiquitären, weit gestreuten Machtbeziehungen, die sich zu einem den sozialen Beziehungen immanenten permeablen ›Netz‹ verknüpfen und darin Auffaltungen (›Kraftlinien‹) erwirken, knüpfen sich die multiplen »mobilen und transitorischen Widerstandspunkte[]« als notwendige Relata in das Machtnetz ein, erzeugen Auffaltungen und »verschiebende Spaltungen« in der Gesellschaft, und auch, gelegentlich, »[g]roße radikale Brüche«, die sich gemeinhin ›Revolution‹ und ›Rebellion‹ nennen (ebd., 96–97). Die These ist klar: Ohne Widerstand keine Macht. Martin Saar hat einerseits zu Recht den formalen Charakter des Arguments und die »formale[] sozialontologische[]« These der ontologischen Indifferenz zwischen Macht und Widerstand herausgestellt. 260 »Wenn die Macht über die relationale Semantik der Kräfte bestimmt wird, kann man über Macht nur so reden, dass sie ein Verhältnis zwischen Polen eines Verhältnisses ist, also aus Kraft und Gegen-Kraft, einer Macht und einem Widerstand besteht.« 261 Die Stelle des Widerstandes kann, wie wir später noch sehen werden, auch von der Freiheit des Individuums eingenommen oder ›bespielt‹ werden. Was sich in rein formaler Hinsicht als begriffslogische Erfordernis präsentiert, generiert anderseits gleichwohl auch eine normativ-politische Minimaltheorie über den Zusammenhang von Widerstand, Freiheit und Machtverhältnissen. Denn ge260 261

Saar (2007), 210. Ebd., 209.

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wissermaßen erwächst aus der in die Begriffsstruktur der Machtverhältnisse eingefädelten naturtheoretischen Logik der Kraft eine normative These zur Notwendigkeit von Widerstand und Gegen-Handlung in einem Machtverhältnis. Neben der relationalen Strukturlogik der Kraft als Kraft-gegen-Kraft-Geschehen gibt es aber noch eine zweite relationale Achse, nämlich – kategorial ähnlich wie die Qualifizierung von Vermögen – die Korrelation von qualifizierten Kräften in der Form eines Zusammenspiels von aktiven und reaktiven Kräften, wie wir es bereits bei Nietzsche (in der deleuzschen Lesart) vertieft haben. Nimmt Foucault auch eine derartige Qualifizierung bzw. Typisierung vor? Eine bisher kaum in der Foucault-Rezeption beachtete Frage, der sich Sergey Toymentsev gewidmet hat. 262 Nietzsches Wille zur Macht bildet sich, wie bereits gezeigt (K5) 263, aus einer Mischform aus patentiver dynamis und reaktiver Kraft, wobei das Reaktive durch das strategische Entmächtigen der aktiven Kräfte eine im wahrsten Sinne re-aktive Kraft darstellt. Tatsächlich nimmt Foucault explizit keine derartige Qualifizierung der Kräfte in den von ihm angesprochenen Kräfteverhältnissen vor. 264 Mit der Konzeption von Widerstand als notwendiger Gegen-Kraft ist es jedoch »evident that his notion of power actualizes itself as the relation of domination of reactive force over active one, where the latter cannot be entirely eliminated for the relations of power to be exercised.« 265 Aus dieser Perspektive nehmen die historischen Machtformen ähnlich wie der Wille zur Macht die Qualität einer reaktiven Macht an, die die aktiven Körper durch Diskurse, Praktiken und Techniken umschließt. 266 Gleichzeitig aber ist die Macht, indem sie überhaupt erst die Körperlichkeiten und Subjekte in ihren Formationen erzeugt, von produktiver Natur. Das Poietische und Produktive wurde bei aber bei Aristoteles eindeutig als Charakteristikum eines agentiven Vermögens ausgewiesen. Wie lässt sich der Widerspruch in den Strukturlogiken, die hier offensichtlich konfligieren, auflösen? Nun, es kommt auf die Perspektivierung der erzeugten Gegenstände, der ›Effekte‹ der Machtbeziehungen in ihrem Spiel an: Werden bspw. die erzeugten Individuen der Disziplinarmacht nach einem hylemorphen Schema als Materie-Form-Komposita begriffen, sodass der Körper den patentiv-materiellen Part und die Techniken und Taktiken der Macht die Form(ungs)instanz der Machtbeziehung bilden, erscheint die Macht in ihrer Struktur und Wirkung wesentlich der Struktur der (kinetischen wie ontologischen) dynamis zu 262 263 264 265 266

Toymentsev (2010). Vgl. Kap. 8.3.3 a). Toymentsev (2010), 50. Ebd. Gehring (2004), 130.

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folgen. Einige Passagen in Überwachen und Strafen haben durchaus solcher Art Anklänge. Zugleich aber versteht Foucault die Körper als produktive und aktive Kräfte, die »von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt« und beherrscht werden (ÜS, 37); hier gebart sich die Macht als bezwingende reaktive Macht nach der Figur des Willens zur Macht und stützt die Interpretation von Toymentsev. 267 Diese strukturlogische Ambivalenz oder Hybridität durchzieht Foucaults Konzeption von Macht als Machtbeziehung: ihr liegt so gesehen eine Art ›produktive Reaktivität‹ zugrunde. Sie wird erst mit der Konzeption von Macht als Regierung verschwinden. Strategien. Die Kräfteverhältnisse befinden sich einerseits in einem ungerichteten Spiel gegeneinander, anderseits führen sie auch zu einer politischen Ordnung. 268 In Analogie zum Willen zur Macht, der die Kräfte formiert, bilden die Strategien diejenigen anonymen Instanzen, die die Kräftebeziehungen zu ›Verhältnissen‹ anordnen und konsolidieren. Dabei treten die Strategien in einem Kampf um die Bestimmung der Kräfteverhältnisse an, sie sind, wenn man so will, die Bewegungsinstanz der Machtbeziehungen. Den Strategien kommt damit sowohl ein immanentes als auch ein transzendentes Moment gegenüber den Kräften zu (vgl. SW 1, 97). Sie sind insofern den Kräften immanent, als in den Strategien die Kräfteverhältnisse überhaupt erst »zur Wirkung gelangen [les stratégies enfin dans lesquelles ils prennent effet]« (ebd., 93; frz., 122). Zugleich führen die Strategien aufbauend auf einer Art instrumentellen Rationalität und taktischen List Machtbeziehungen in eine Kampfsituation – darin entsprechen sie den eingesetzten politischen Technologien der Macht (DE IV / 306, 292). Strategien leisten also nicht nur eine Formierung und temporäre Anordnung der Kräfte zu bestimmten Kräfteverhältnissen, sie setzen auch die aus den Kräfteverhältnissen emergierenden Machtbeziehungen in einen Kampf, der die Form einer »immerwährende[n] Schlacht« (ÜS, 38, vgl. VG, 57–72) annimmt. Vor diesem Hintergrund bestimmt Foucault die Macht auch nominalistisch als »de[n] Namen, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (SW 1, 94). Somit folgen auch die Strategien bestimmten Strukturmomenten, genau genommen folgen und verbinden die Strategien »eine Logik der Ziele, eine Logik des Anderen und eine Logik von

267 Ohne es explizit zu machen und eine Qualifizierung der Kräfte vorzunehmen, stützt auch Sarasins Lesart diese Interpretation, die im Wesentlichen reaktive Kräfte in der Macht am Werke sieht: »Er [Foucault] nennt ›Macht‹ diejenige Kraft, die auch den Körper des Individuums unterwirft und es vom Körper ausgehend einem bestimmten Typus ähnlich macht; von nichts andrem handeln Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen« (Sarasin [2019a], 219, Herv. i. O.). 268 Eine temporäre soziale und politische Ordnung ist umgekehrt ausgedrückt »Ausdruck und Korrelat von Macht- und Kräfteverhältnissen« (Saar [2003a], 233).

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Sieg und Niederlage.« 269 Kalkül, Relationalität und Bellizismus – das sind die Charakteristika der Strategien auf den Begriff gebracht. Strategien bestehen auf beiden Polseiten der Machtbeziehungen: Widerstand und Machtnetz. Das hat drei Implikationen. Zum einen den Aspekt der Intelligibilität: Über den Aspekt des strategischen Manövers oder der Planung können konkrete und potenzielle Handlungsfelder und deren Verschiebungen intelligibel gemacht werden, denn »[d]ie Analyse der Machtmechanismen läuft nicht darauf hinaus zu zeigen, dass die Macht anonym und stets siegreich zugleich ist. Es geht im Gegenteil darum, die Positionen und die Handlungsweisen eines jeden, die Möglichkeiten zum Widerstand und zum Gegenangriff der einen wie der anderen zu ermitteln.« (DE III / 195, 270) Zum anderen der Aspekt der Wirkungsdimension: Die Strategien konfigurieren die Machtbeziehungen, indem sie sie taktisch ein- und aufbauen zu Vermögen der Veränderung und Bewegung in einem anderen, die wiederum korrelativ eine Kampf-, Spiel-, oder Kriegssituation aufspannen. 270 Diese vermögenden Strategien bzw. Strategie-Vermögen sind natürlich nicht als Propositionen eines subjektiven Trägers zu verstehen, »sondern eher als Wirkungsvermögen ihrer Handlungen«. 271 Ebenso sind die Strategien nicht nur sehr lokale Strategien auf einem bestimmten Kampffeld, sondern sie dispergieren durch die alltäglichen Milieus und Wissensformen der Gesellschaft, indem sie »die lokale[n] Herrschaftstaktiken durchqueren und benutzen« (VG, 55). Wie Martin Saar richtig bemerkt, liegen die »Veränderungen, die die Macht erwirkt, [. . .] nicht mehr auf der Ebene der physischen Kräfte, des Reichtums oder der Truppenstärken, sondern auf der der Erziehung und organisierenden Anordnung von Raum- und Einrichtungen von Zeitstrukturen, der Anreizung von Begierden und der Beeinflussung von Denkweisen.« 272 Und schließlich, dritter Aspekt, können Strategien in zwei zueinander kontinuierlichen Modi Kräfteverhältnisse anordnen und als Parteien des Kampfes konfigurieren – Foucault spricht hier von »codieren« und »integrieren« –, nämlich zum einen im Modus des Krieges, zum anderen im Modus der Politik (VG, 26–30, SW 1, 94). Das hieße eine Umkehrung der Clausewitz'schen Formel »[D]er Krieg [ist] nur eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln« (zit. nach VG, 26, Fn. 9, Anmerk. d. Hrsg.) zu »[D]ie Politik [ist] die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln« (VG, 26; vgl. SW 1, 94) Die Umkehrung hat die Konsequenz, im Lichte des Modells des Krieges, »Macht als Funktion des

269 270 271 272

Gehring (2004), 128. Vgl. Richter (2005), 113–114. Ebd., 114. Saar (2007), 245.

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Krieges« zu denken. 273 Der kriegerische Kampf zeichnet sich dann als soziale und ökonomische Ungleichheit und Kraftlinien in den Wissensdiskursen ab. 274 Zusammenfassung. Im Zusammenhang mit der begrifflichen Struktur ist Foucault eine diffuse Metaphorik 275 oder eine widersprüchliche Begriffsstrategie 276 unterstellt worden. Häufig wird die Struktur auch als mehrdeutig und ambivalent ausgelegt 277, z. T. aber auch als unterschiedliche Perspektivierungen auf den Gegenstand der Machtbeziehungen. Wenn man jedoch die erste Ebene von Foucaults Machtbegriff in das Licht der Logik der Kraft (Kraft-gegenKraft) und der Agentiv-patentiv-Korrelation der aristotelischen dynamis stellt, lässt sich bei Foucault – ähnlich wie bei Nietzsche – eine Hybridisierung beider Strukturlogiken feststellen. Während erstere, auf die Ebene des politischen Feldes transferiert, eher den antagonistischen Charakter der Kräfteverhältnisse und der sie formierenden Strategien akzentuiert, unterstützt die zweite die Machtwirkungen als bewegendes, veränderndes Wirkungsgeschehen. Dabei bietet das Konzept des kompetitiven Spiels aufgrund seiner Binärstruktur eine Möglichkeit zur Verknotung beider Strukturlogiken. Aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik sich lässt hier eine schwache bzw. vermittelte Wieder-Holung des binären Korrelationsprinzips der dynamis identifizieren. Die Termini ›Spiel‹, ›Krieg‹, ›Kampf‹ und ›Kräfteverhältnisse‹ geben nun Auskunft über die Strukturlogiken des Machtbegriffs; zugleich stellen sie, ebenso wie die Termini ›Taktiken‹, ›Techniken‹, ›Technologien‹, immer auch Dubletten-Begriffe bzw. begriffliche Dubletten dar: Einerseits verweisen sie auf die Empirizitäten und Positivitäten, die sich die Machtanalytik zu ihrem Gegenstande nimmt, andererseits bilden sie die epistemischen Erkenntnisraster für die vielfältigen und weitreichenden Bezüglichkeiten der Macht zu sozialen und epistemischen Praktiken. 278

Zarka (2001), 149 (eigene Übers.). Vgl. ebd. 275 So z. B. Beer (2002). 276 So z. B. Richter (2005), 108–117. 277 So z. B. Saar (2007), 245. 278 So fragt Foucault in der zweiten Vorlesung von In Verteidigung der Gesellschaft im Hinblick auf seine Untersuchungen: »Wird es möglich sein, im Feld der kriegerischen Beziehung, des Kriegsmodells, des Schemas von Kampf und Kämpfen ein Erkenntnis- und Analyseprinzip der politischen Macht zu finden, genauer jener politischen Macht, die in Begriffen von Krieg, Kämpfen und Zusammenstößen entziffert wird?« (VG, 31) Zugleich sind diese Termini diskursive Erscheinungen, Aussagenereignisse, denen Foucault in ihrem Auftauchen und Verbreiten nachspürt. So tauchten bspw., wie bereits erwähnt, die Begriffe der Kraft und der Kräfteverhältnisse in der Funktion eines Analyseprinzips der Politik im 18. Jahrhundert bei Boulainvilliers und Leibniz auf (ebd., 190), vgl. Kap. 8.4.1 a). Vgl. zu den begrifflichen Dubletten auch Kap. 8.4.1 c). 273 274

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8.4.4 Zweite Begriffsebene: Macht als Leiten und Regieren (K9)

Diskursive Einführung der Begriffe der Regierung und der Gouvernementalität. In der Vorlesung Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (1977–78) am Collège de France, die den ersten von zwei Teilen der »Geschichte der Gouvernementalität« bildet, wendet sich Foucault dem Begriff und der Geschichte der »Regierung« und »Regierungskunst« zu, die er mit dem diskurswirksamen Neologismus der gouvernementalité (Substantivierung zu frz. gouverner, ›regieren‹, und ›gouvernement‹, Regierung) supplementiert. Auf die Thematik der Regierung ist Foucault bereits im Zuge seiner Untersuchungen der Disziplinarmacht gestoßen; nun ist er bestrebt, das holprige Auftauchen der spezifischen Form der politischen Regierung im 16. bis 18. Jahrhundert aufzuspüren, um ein umfassenderes Bild der »Bio-Macht« der Moderne zu erhalten. Mit dem Begriff der Regierung »verschiebt« Foucault, wie er es selbst beschreibt, dann aber den Fokus von der Analyse der historischen Machtformen auf eine bestimmte Weise der Machtausübung (RSA, 16–18, MW, 22–24), die unter den »Bereich von Regierungsverfahren« fällt (RSA, 17). ›Regierung‹ wird schließlich für Foucault ein konzeptuelles Raster, mithilfe dessen regierungsförmige Machtausübungen in den Blick geholt werden können. In der Foucault-Rezeption werden manchmal die Analyse von Gouvernementalität und Regieren der Analytik der Macht so gegenübergestellt, dass die Begriffe Regierung und Macht voneinander separiert werden. Eine gängige Deutung innerhalb dieser Lesart lautet, dass der Begriff der Gouvernementalität den Begriff der Macht substituiert und mit der begrifflichen Substitution die Analyse der Gouvernementalität die Analytik der Macht 1977/78 abgelöst habe. 279 Aus diesem Impuls haben sich auch in den 1990ern die Gouvernementalitätsstudien – oder zweideutig im Englischen: ›governmentality studies‹ – als äußerst fruchtbare programmatische Weiterentwicklung des foucaultschen Konzepts der Gouvernementalität herausgebildet. 280 Eine andere Lesart deutet Gouvernementalität primär machthistoriographisch als neuen Machttypus, der im 18. Jahrhundert mit einer »Serie« aus Bevölkerungsthematik, Einsetzung von Sicherheitsdispositiven, Auftauchen der Episteme des Menschen und der »sciences humaine«, insbesondere der politischen Ökonomie, auftauchte (vgl. GG 1, 161–162). Beide skizzierten Lesarten haben eine Berechtigung, doch lassen sie die begriffliche Beziehung von Machtbegriff und Regierungsbegriff unterbeleuchtet. Z. B. Laborier (2014), 169. Vgl. zur Geschichte der Gouvernementalitätsstudien kritisch Biebricher (2008), für eine Adaptation des Konzepts und der damit verbundenen Forschungsperspektive zur Analyse der digitalen Gesellschaft siehe Sieber (2014), Buhr / Schölzel (2018), (2020). 279 280

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In der hier vorgeschlagenen begrifflich-diagrammatischen Interpretation bilden die Begriffe der Regierung, der Leitung und der Gouvernementalität eine programmatische Erweiterung des Machtbegriffs, die sich als zweite Ebene des machtbegrifflichen Gesamtkorpus von Foucault abbilden lässt. Die Verbindung von Macht und Regierung ist daher als intrabegriffliches Verbindungsverhältnis zu interpretieren, im Rahmen dessen sich der Machtbegriff als variablenreicher Ausdruck von Kräfteverhältnissen über den Begriff der Regierung zugleich erweitert und vertieft. Diese Erweiterung verläuft im Wesentlichen über die drei Elemente der Technik und Technologie, der Rationalität der Technologien und der Macht als Beziehung, indem jene im Kontext der regierungsförmigen Machtausübung sondiert werden. Aus der Untersuchung der dynamis ist der Begriff der Regierung über die kategoriale Nachbarschaft der dynamis zur politischen arche¯ bereits bekannt. 281 Die spannende untersuchungsleitende Frage wird daher auch sein, ob sich begriffsstrukturelle Ähnlichkeiten in Foucaults Herausarbeitung des Regierungsbegriffs und der griechischen arche¯ ausfindig machen lassen und inwiefern sich der Regierungsbegriff auf den Begriff der Bewegung bezieht. Wir sehen uns zunächst an, wie Foucault den Begriff der Regierung und mit ihm den Begriff der Gouvernementalität einführt (a), und arbeiten dann das begriffliche Verhältnis des Vorläufer-Typus von politischer Regierung, das theologische Pastorat, mit dem Begriff der arche¯ in der Bestimmung von Aristoteles heraus (b).

a) Regierung

Historische Einführung des Begriffs der Regierung im Zuge des Problems der Bevölkerung. In den 1970ern ging es Foucault im Wesentlichen darum, die großen Machtformen herauszuarbeiten, die in der Epoche der ›Klassik‹ auftauchten und in ihren Grundzügen in die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, Foucaults Gegenwart, nachwirken. Diese Machtformen oder ›Machttypen‹ wurden bereits unter der Komponente des Phasenraums (K7) kursorisch skizziert. Unter der Bezeichnung ›Bio-Macht‹ hat Foucault zwei zueinander polare Machttypen identifiziert, die sich laut seiner Analyse im 17. und 18. Jahrhundert in zwei »Entwicklungsachsen« oder »Hauptformen« der Bio-Macht ausgebildet haben und sich im Thema der Sexualität überkreuzen (SW 1, 140, 134). 282 Während der eine Haupttypus der Bio-Macht (»die Macht zum Leben«) mithilfe der Vgl. Kap. 6.4.1 c). Foucaults innovative, mehrteilige Analyse zum Verhältnis von Sexualität und Wahrheit läuft in Der Wille zum Wissen auf die Identifikation des Sexes und der Sexualitätsdispositive als »Scharnier« zwischen den »Entwicklungsachsen« der Bio-Macht hinaus (SW 1, 140). 281 282

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Disziplinen ganz auf das Individuum und die ökonomisch verwertbare Dressierung seines Körper abstellt, zielt der andere, wenig später auftretende Haupttypus der Bio-Macht auf die Regulierung des Gesellschaftskörpers im Ganzen, der Bevölkerung, in dem die Individuen aufgehen (SW 1, 134–135). 283 Diese zweite Hauptform der Bio-Macht bezeichnet Foucault in der Vorlesung Sicherheit, Bevölkerung, Territorium, ein Jahr nach Erscheinen des Willens zum Wissen, als »Regierung« und »Gouvernementalität«. Der Machttypus der Regierung taucht als Reaktion auf das im 18. Jahrhundert auftretende ökonomische und politische »Problem der Bevölkerung« und das damit einhergehende Sicherheitsdispositiv auf (DE III / 255, 903–904). Wie ist das zu verstehen? Hatte der Staat bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einen »neue[n] Rationalitätsrahmen« erhalten, die »Staatsräson«, an welcher sich der Regent bzw. Monarch in seiner Herrschaftsausübung und zum Zwecke eines ›vernünftigen Regierens‹ zu halten hatte, so war die Staatsräson zunehmend mit der Aufgabe der Mehrung von Reichtum und der dazu notwendigen Regulierung der Bevölkerung konfrontiert (ebd., 902–903). In der Rationalität der Souveränität hatte die Sicherung des Territoriums oberste Priorität, da sie die zentrale Stellung des Souveräns absicherte. Für die Rationalität der Souveränität stellte sich nun im 17. Jahrhundert mit der aufkommenden kapitalorientierten Wirtschaftsweise das Problem, wie mit der den Reichtum ermöglichenden Zirkulation von Nahrungsmitteln, Waren, Menschen und Kapital umzugehen sei, denn das Problem der Zirkulation erweist sich für den Souverän als Paradox der Bewegung: »Wie etwas nicht in Bewegung geraten lassen, oder wie kann ich vorankommen, ohne daß es in Bewegung gerät?« (GG 1, 100). Die Wirtschaftstheorien und -politiken des Merkantilismus und des Kameralismus formulierten das Problem der Bevölkerung im 16. und 17. Jahrhundert noch in der Logik von Souverän-Untertan, die zum einen über ein Rechtverhältnis inauguriert ist und zum anderen in der Bevölkerung die Reichtum erzeugende produktive Kraft und damit zugleich auch die Staatsmacht tragende Kraft identifiziert. Das bedeutet, dass die Bevölkerung »zur Basis sowohl des Reichtums als auch der Macht des Staates«, ja zum »Elementargrund« derselben erklärt wurde (ebd., 106). Von den Physiokraten in Frankreich wird das Problem der Bevölkerung – in der Interpretation von Foucault – noch einmal wesentlich reformuliert. Die Bevölkerung wird zum einen nicht mehr als En283 Beide Hauptformen der »Ära einer ›Bio-Macht‹« (SW 1, 135) stellten auch »unerläßliche[] Element[e] bei der Entwicklung des [modernen] Kapitalismus« dar (ebd., 136), denn »[d]ie Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch durch die Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht« (ebd., 136– 137).

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semble von unterworfenen Rechtssubjekten, zum anderen nicht mehr als Naturgegebenheit aufgefasst, die durch Disziplinierung planerisch eingehegt und nutzbar gemacht werden muss. Vielmehr bildet die Bevölkerung aus physiokratischer Sicht eine »Gesamtheit von Elementen« (ebd., 114), deren »Naturalität« einerseits von einer invarianten »Begierde«, andererseits von konkreten vielfältigen Kontextvariablen abhängig ist (Klima, materielle Umwelt, Handelssituation sowie Zirkulation der Reichtümer, Bräuche und Sitten, moralische und religiöse Werte, Zustand der Subsistenz), die es allesamt wissenschaftlich zu erforschen und politisch-technisch zu adressieren und zu lenken gilt (ebd., 108– 109). Auf der Seite des Wissens geriert das Problem der Bevölkerung zu einem »Transformationsoperator [. . .], der den Übergang von der Naturgeschichte zur Biologie, von der Analyse der Reichtümer zur politischen Ökonomie, von der allgemeinen Grammatik zur historischen Philologie bewirkte« (GG 1, 119; vgl. OD). Die auftauchenden Wissenschaften halfen also, das Problem der Regulierung der Bevölkerung und das Thema des menschlichen Individuums als Element der Bevölkerung adäquat zu problematisieren. Der neue Machttypus der Regierung. Zugleich aber geht mit der Konstituierung der ›Bevölkerung‹ und ›des Menschen‹ als Objekte des Wissens die Konstituierung der Bevölkerung als »Korrelat« zu einem neuen Typus von Machttechniken einher, die auf die Sicherung der Staatsmacht und der Staatsräson abstellen. 284 Dieser Machttypus muss die streng oppositionelle »Achse Souverän – Untertanen« und damit die gewaltbasierte und fixierende Machttechnologie der Souveränität hinter sich lassen, um die Variablen des Bevölkerungswachstums wissensbasiert und effektiv adressieren zu können (GG 1, 107). Dies geht weniger durch Gewalt, Unterwerfung und unbedingten Gehorsam als durch Kunst und Wissenschaft der Verhaltenslenkung, die die Rationalität der Souveränität ergänzt. Eine solche Kunst der Lenkung und Steuerung lässt sich seit der Antike unter dem Titel ›Regierung‹ fassen. Ex negativo formuliert ist für Foucault »das Regieren [gouverner]« nicht dasselbe wie Herrschaft ausüben, kommandieren oder befehlen (ebd., 173). Was aber meint dann Regieren? Das Nachdenken über und die Ratgeberschaft zur Regierung, genauer: der Regierung des Selbst, der Kinder, der Familie, des Hauses, zu politischen und ökonomischen Regierungsformen, hat als Gesamtproblematik eine lange Tradition, die im 16. Jahrhundert mit Machiavellis Fürst einen Höhepunkt und 284 Foucault legt hier sein Analyseraster der reziproken Verbindung von Macht und Wissen an: »Und seit der Konstituierung der Bevölkerung als Korrelat der Machttechniken konnte man sehen, wie eine ganze Serie von Gegenstandsbereichen für mögliche Wissensarten sich eröffnete. Und umgekehrt konnte sich die Bevölkerung als privilegiertes Korrelat der modernen Machtmechanismen konstituieren, fortsetzen, erhalten, weil diese Wissensarten ohne Unterlaß neue Gegenstände anlegten« (GG 1, 120).

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dezidiert politischen Bezug erfahren sollte. Doch bis dato war der Begriff der Regierung unspezifisch: regiert wurden Dinge, Seelen, Menschen. Eine berühmte und zugleich charakteristische Formel für die Konzeption von Regierung im 17. und 18. Jahrhundert sieht Foucault in der Definition des Guillaume de La Perrière von 1555, die er zitiert: »›Regieren ist die richtige Anordnung der Dinge, deren man sich annimmt, um sie zu einem angemessenen Ziel zu führen.‹« (GG 1, 145) 285 Regieren bezieht sich, so deutet Foucault diese Definition, auf das Regieren von Dingen und komplexen Verflechtungen von Dingen und Menschen; außerdem zielt das Regieren noch auf »eine Vielheit spezifischer Ziele« (ebd., 149). 286 Der Begriff der Regierung verband im 18. Jahrhundert zwar mehrere Wissensbereiche, doch adressierte er in seiner bisherigen Theoretisierung weder das Problem der Bevölkerung, die Realität und das »Interventionsfeld« der Ökonomie außerhalb des antiken engen Rahmens des oikos (der Familie, des Hauses), noch gründete er eine politische Wissenschaft vom Staat. Andersherum formuliert war der Begriff der Regierung im 16. und 17. Jahrhundert in seiner Fassung als »Regierungskunst« für eine politische Wissenschaft »blockiert«, wie es Foucault beschreibt (ebd., 152– 162). Die bisherigen Theorien und Ratgeber der Regierung vermochten keine Anleitung oder Rationalität für die Regulierung der Bevölkerung zu geben und waren eingefasst zwischen einer Theorie der Familien-Ökonomie, der Souveränität, des Staates und einer Theorie des öffentlichen Rechts (GG 1, 155): »Die Regierungskunst konnte ihre eigene Dimension nicht finden.« Regierung als Machttypus und Teil der Staatsräson musste sich also selbst erst an der im 18. Jahrhundert auftauchenden »Idee einer Regierung als Regierung der Bevölkerung« reformieren (ebd., 161). Möglich wurde die Reformulierung der Regierung als Lenkung und Steuerung einer Gesamtheit von Menschen, die nun Bevölkerung genannt wurde, durch eine historische Kreuzung und Verbindung von drei »Bewegungen«:

285 Das Zitat von de La Perrière wird dankenswerterweise im Fußnoten-Apparat der Herausgeber im Original aufgeführt und soll hier, da es zentrale Begriffe für Foucaults Genealogie enthält, wiedergegeben werden: »Gouvernement est droicte disposition des choses, desquelles on prent charge pour les conduire jusques à fin convenable« (de La Perrière [1555], f.23 r, in: GG 1, 170, Herv. L. B. [die Zitation konnte aufgrund der Rarität der Quelle nicht überprüft werden]). 286 Thomas Lemke greift Foucaults Interpretation des de La Perrière-Zitats auf, um mithilfe dessen posthumanistische Kritiken an Foucault, wie sie bspw. von Karen Barad vorgetragen werden, zu entkräften (Lemke [2014]). Diese argumentative Strategie basiert m. E. auf einer Dekontextualisierung und Überwertung des Zitats, das Foucault vorbringt. Lemkes Ansatz führt zu dem fragwürdigen Anliegen, Foucault im Rahmen eines ›Neuen Materialismus‹ stark zu machen. Allerdings war Foucault m. E. nie genuin ein Denker des Materiellen, sondern immer ein Analyst der Konstitutierung und Formierung von Dingen, Begriffen, Praktiken.

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[einer] Bewegung, welche die Konstanten der Souveränität hinter das nun wichtigste Problem der guten Regierungsentscheidungen zurückfallen läßt, sodann der Bewegung, welche die Bevölkerung als eine Gegebenheit, als ein Interventionsfeld, als das Ziel von Regierungstechniken erkennen läßt, und [schließlich] der Bewegung, welche die Ökonomie als spezifischen Wirklichkeitsbereich und die politische Ökonomie zugleich als Wissenschaft und als Interventionstechnik der Regierung in diesem Wirklichkeitsfeld isoliert. (GG 1, 161–162)

Im Rahmen der Konzeptualisierung der Regierung als politischer Regierung der Bevölkerung verschiebt sich der Gegenstandsbereich von der politischen Struktur des (Stadt-)Staates bzw. des Territoriums auf die Relationen von Singularitäten, Individuen und Kollektiven (ebd., 183). Die Regierung der Lebenden, wie eine Vorlesung von 1979–1980 betitelt ist, stellt einen neuen Machttypus dar, in dem die Regierung in reziproken Konstitutionsverhältnissen zu Wissensformen (die politische Ökonomie, Wissenschaft der Regierungskunst), materiellen Apparaturen (Gebäude) und Technologien (die Polizei und die Gewissensleitung) steht vgl. AN, 251). Dabei steht der Machttypus der politischen Regierung in Kontinuität zur ökonomischen Regierung und einer moralischen Regierung einerseits und tritt in eine enge Beziehung mit der Staatsräson bzw. der Rationalität der Staatsmacht andererseits (DE IV / 291). Die Staatsräson bildete im 17. und 18. Jahrhundert die Technik und »Rationalität, die der Regierungskunst der Staaten eigentümlich war« (ebd., 186), während die »Polizei« in der damaligen Literatur eine spezifische und typische Regierungstechnik des Staates darstellt, die im Grunde »alles umfasst«, was die Menschen an Beziehungen eingehen: Dinge, Eigentum, Territorium, Gesundheit, Krankheit und Sterben (ebd., 190–191). Regierung ist demnach derjenige Machttypus, der eine Machtbeziehung mit einer »bestimmte[n] Form der Rationalität«, nämlich eine Form politischer Rationalität, mit einer bestimmten politischen Technologie der Führung und Leitung, nicht aber mit einer Form »instrumentelle[r] Gewalt« ausstattet (ebd., 197). Weiter und enger (politischer) Begriff von Regierung. Im Rahmen der Erkundung des Begriffs der Regierung und der Regierungskünste streift Foucault die weite Semantik, die dem Regierungsbegriff innewohnt. In dem weiten Sinne, wie es auch im 16. Jahrhundert noch gebraucht wurde, bezog sich das Wort »Regierung«, wie bereits gezeigt, »nicht nur auf politische Strukturen und die Staatsverwaltung, sondern meinte auch die Lenkung des Verhaltens von Individuen und Gruppen: von Kindern, Seelen, Gemeinschaften, Familien, Kranken« (DE IV / 306, 286). In diesem weiten »Sinne heißt Regieren, das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren« (ebd., 286–287) und referiert auf ein Set an »Techniken und Verfahren zur Steuerung des Verhaltens der Menschen« (RL,

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425). Regierung im weiten Sinne bildet zugleich einen bestimmten Modus der Machtausübung, nämlich Machtausübung im Sinne von conduite (Führung), genauer: der »›Führung zu lenken‹« (DE IV / 306, 286). Umgekehrt definiert Foucault Macht im Sinne der Regierung an einer Stelle in »Subjekt und Macht« auch als ein »auf Handeln gerichtetes Handeln«, als »Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten« (ebd., 287, 286). Foucault setzt hier den Akzent auf die Lenkung und Leitung von Verhalten als technisch verfahrende Tätigkeit und Handlung. Diese kann sich auch auf das Selbst beziehen. Denn ähnlich wie die Machtausübung mit und durch den Einsatz von Techniken und Technologien charakterisierbar ist, so gilt dasselbe für das Regieren: »[D]as Regieren hängt von Technologien ab: die Führung von Individuen, die Leitung der Seelen, die Lenkung seiner selbst, die Lenkung der Familie, die Lenkung der Kinder« (DE IV / 310, 341, Übers. modifiziert). 287 Es ist gerade dieser breite Regierungsbegriff, der die Formierung des Selbst im unablässigen Zusammenspiel mit den anderen adressiert, den Foucault in den 1980ern als Analysebegriff in Erweiterung des methodologischen Machtbegriffs anwendet. Die Regierungsanalytik bleibt dabei immer an die Analytik der Macht rückgekoppelt und kappt nie gänzlich die Beziehung zum Feld des Politischen.

b) Pastorale Macht und Gouvernementalität

Im Rahmen seiner Analyse des Begriffs der Regierung legt Foucault die interessante Deutung vor, dass die Idee der Regierung der Menschen, obwohl man ihre Herkunft ad hoc im griechischen Denken verorten würde, genau genommen keine Idee der griechischen und römischen Antike sei, sondern – mit Verweis auf historische und kulturwissenschaftliche Forschungsliteratur – eine der vorchristlichen hebräischen Gesellschaft (GG 1, 185–189; vgl. DE IV / 291, 167–174). Das Besondere ist: Die Idee der Regierung basiert auf einem Machttypus, der in sich bereits in moderner Weise als Regierung funktioniert, dem Machtypus des Pastorats. In der hebräischen Gesellschaft, so Foucault, habe sich die Idee der Regierung in »zweierlei Gestalt [entwickelt; L. B.]: Erstens in Gestalt der Idee und der Organisation einer Macht des pastoralen Typus 287 Der Satz lautet im Original: »Mais le gouverment est aussi en fonction de technologies: des individus, le gouvernement des âmes, le gouvernement de soi par soi, le gouvernement des familles, le gouvernement des enfants.« (DE IV / 310; frz., 285) Die Übersetzung von Michael Bischoff des Verbkonstruktion ›être en fonction de‹ (= abhängen von) mit ›zurückgreifen auf‹ verdeckt m. E. die starke begriffliche Verschränkung von Regierung und Technologie: Regieren heißt bei Foucault immer auch Techniken und Technologien des Regierens anzuwenden (und nicht nur ein fakultatives Zurückgreifen auf Technologien).

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und zweitens in Gestalt der Gewissensleitung, der Seelenführung« (GG 1, 185). Das Pastorat ist also durchaus antiker Herkunft, wenn auch nicht aus der griechisch-römischen Antike. Aus der Perspektive der begrifflichen Diagrammatik lohnt es sich, den pastoralen Machttypus in seiner Struktur näher anzuschauen. Denn wir werden sehen, dass sich hier, von der Foucault-Literatur bisher unbeachtet, erstaunliche begriffliche Ähnlichkeiten zur dynamis kata kine¯sin und der politischen arche¯ aufzeigen lassen. Pastorale Macht und der Begriff der arche¯. Das Pastorat ist zunächst als »ein grundlegender Verhältnistypus zwischen Gott und den Menschen« zu verstehen. Gott ist – in der hebräischen Vorstellung – der Hirte (= Pastor) der Menschen, genauer: der »Menschenherde«. Dabei kann der König als »gewissermaßen [. . .] subalterne[r] Hirte [. . .], dem Gott die Menschenherde anvertraut hat«, Anteil nehmen an der »pastoralen Struktur des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen« (GG 1, 186). Dieses Verhältnis identifiziert Foucault als ein Machtverhältnis, »eine Macht religiösen Typs« (ebd., 187). Entscheidend für die begriffliche Untersuchung ist nun, wie Foucault die pastorale Macht oder »Macht des Hirten« beschreibt. Die entscheidenden Stellen seien hier in angemessener Ausführlichkeit wiedergegeben, um die analytischen Elemente herausarbeiten zu können: Die Macht des Hirten ist eine Macht, die nicht auf ein Territorium ausgeübt wird, sondern eine Macht, die per definitionem auf eine Herde ausgeübt wird, genauer auf eine Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung, die sie von einem Punkt zu einem anderen laufen läßt. Die Macht des Hirten wird wesentlich auf eine Multiplizität in Bewegung ausgeübt. [. . .] Und wenn es in dieser Führung, die der Gott hinsichtlich einer bewegten Multiplizität sicherstellt, wenn es einen Verweis auf das Territorium gibt, dann in dem Maße, wie der Gott-Pastor weiß, wo die fruchtbaren Wiesen, welches die guten Wege sind, um sie dort hinzuführen, und welches die günstigen Ruheplätze sind. [. . .] Im Gegensatz also zur Macht, die auf die Einheit des Territoriums ausgeübt wird [das ist der Machttypus der dynasteia; L. B.], wird die pastorale Macht auf eine Multiplizität in Bewegung ausgeübt. (GG 1, 187–188, Herv. L. B.)

Ganz deutlich sticht der Bewegungsbezug dieses Machttypus hervor: Die Macht des Hirten ist die Macht der Bewegung der Herde und des Herdenkörpers in Bewegung. Damit steht die Macht des Hirten strukturell der politischen arche¯ nahe. Das Verb ἄρχω (archo¯ ) heißt (an)lenken, (an)führen, (an)leiten, kommandieren, und diesem Sinne meint das Regieren Bewegungen lenken, leiten, führen. Rufen wir noch einmal auf, wie Aristoteles die politische arche¯, die man am besten mit ›Regierung‹ übersetzt, bestimmt. Prinzip [arche¯] heißt

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dasjenige, nach dessen Entschlusse das Bewegte sich bewegt und das SichVerändernde sich verändert; in diesem Sinne werden die Ämter in den Staaten [poleis] und die Regierungen der Herrscher [dynasteiai], Könige [basileiai] und Tyrannen [tyrannides] Prinzipien (Herrschaften) [archai] genannt [. . .]. (Met. V 1, 1013a10–13)

Mithilfe der arche¯ wird die Struktur des Pastorats besonders deutlich. Der Pastor übt eine regierende Macht aus, die sich als solche als bewegungslenkende Macht erweist: auf und nach seinem Beschluss setzt sich die Herde in Bewegung, setzt die Herde ihre Bewegung fort, um zum Ziel zu gelangen. Der Hirte ist die arche¯. So beschrieben zeichnet sich in dem Pastorat die klassische Bewegungsstruktur als Korrelationsverhältnis aus einem Beweger / Bewegenden und Bewegten ab. Die Bewegungsstruktur lässt sich wiederum in den Termini der Macht bzw. der dynamis formulieren als Korrelation zwischen einem agentiven und einem patentiven Vermögen: Das Pastorat erwächst als Machtverhältnis aus einem agentiven Part, Gott, und einem patentiven Part, der (Menschen-)Herde, die geführt werden will und das Geführtwerden vermag. Der pastorale Machttypus erweist sich damit in praxeologischer Hinsicht als religiöser Machttypus, und in struktureller Hinsicht als bewegungsbezüglicher Machttypus. Und genau in diesem Bewegungsbezug bildet der pastorale Machttypus die Grundlage für den Begriff der Regierung bei Foucault. 288 Begriff der Gouvernementalität. In Analogie zu dem methodischen Konzept des Dispositivs führt Foucault den Neologismus der »Gouvernementalität« ein. Er versteht darunter – eher technisch formuliert – die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. (GG 1, 162)

Der Gouvernementalitätsbegriff ist also nicht ganz deckungsgleich mit dem Begriff der Regierung 289, sondern bezeichnet den historischen Bedingungskontext, der den Machttypus der politischen Regierung im 18. Jahrhundert auftauchen ließ. Zugleich aber impliziert Gouvernementalität auch die Refle288 Zwei weitere Eigenschaften zeichnen den pastoralen Machttypus laut Foucault aus: die wachende, sorgende und pflegende »Wohltätigkeit« des Hirten, denn »[d]as Heil der Herde ist [. . .] für die pastorale Macht das wesentliche Zielobjekt« (GG 1, 189), und die Individualisierung in dieser Fürsorge und Leitung, »omnes et singulatim« (ebd., 191–192). 289 Vgl. Beljan (2014).

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xion über die Widerstandpraktiken gegen das Regiertwerden und die Freiheit als Bedingung der Möglichkeit überhaupt zu regieren und regiert zu werden. Gouvernementalität verbindet das politische Feld mit der ethischen Praxis der Sorge um sich und die anderen. In diesem Sinne führt der Begriff und die Analyse der Gouvernementalität auch ein selbstreflexives Moment mit sich, das auf die »Gesamtheit der Praktiken ziel[t], mit denen man die Strategien [der Macht; L. B.] konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können« (DE IV / 356, 901). In einer für Foucault typischen Rekonstruktionsbewegung und parallel zur Rückführung der Idee des Regierens auf das Pastorat identifiziert Foucault zunächst eine historische Machtform, die er ›Gouvernementalität‹ nennt, um sich sodann der Genealogie derselben zuzuwenden. Ähnlich wie das Pastorat tauchen auch »[d]ie Probleme der Gouvernementalität« laut Foucault erstmals im antiken Denken, genauer »im Umfeld [des] Begriffs der parrhesia und der Machtausübung [dynasteia; L. B.] durch den wahren Diskurs« auf (RSA, 208). Auf den Begriff und das Problem der parrhesia und der dynasteia wird im Rahmen der Komponente der kategorialen Nachbarschaft noch einmal zurückzukommen sein. 290 Zusammenfassung. Abschließend soll kurz über die Frage nach den machtbegrifflichen Ebenen reflektiert werden. In dem späten Interview »Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit« (Januar 1984) betont Foucault, dass Macht als »strategische Beziehung«, die Regierung als »Regierungstechnik« und Herrschaft als Zustand drei zusammengehörige Ebenen seiner Machtanalytik bilden. Die »Regierungstechnologien« verbinden die Machtausübung mit der Kristallisation und Verfestigung von Macht zu Zuständen der Herrschaft (DE IV / 356, 900). Auf das Modell der begrifflichen Ebenen übertragen, bildet Macht als strategisch durchwirkte Kräfteverhältnisse die Basisebene und die Regierung die zweite, zugleich aber auch allgemeinere Ebene innerhalb des Machtbegriffs. Ganz entfernt kann man hier eine intrabegriffliche Polarität zwischen potentia und potestas 291 oder – in der griechischen Version – zwischen dynamis und arche¯ durchscheinen sehen.

Vgl. Kap. 8.5.1 c) (K11). Wenn man bei Foucault im Hintergrund das begriffliche Verhältnis von potentia und potestas durchscheinen sehen wollte, dann am ehesten in einer Weise, wie es von Spinoza ins Spiel gebracht worden ist, nämlich nicht als ein dichotomes Verhältnis, sondern in einem Verhältnis, das sich als kontinuierlich und polar auffassen lässt. Vgl. zu dieser Lesart von Spinoza (gegen die dichotome Lesart bei Antonio Negri) Saar (2013), zu Foucault und Spinoza: Andermann (2019); Saar (2013), 165–168; Schneider (2004a), 171–174. 290 291

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Foucaults Machtbegriff

8.4.5 Epistemologisches und ontologisches Profil (K10)

Rezeptionslage. Die Frage nach dem ontologischen Status von Foucaults Machtbegriff hat in der Foucault-Rezeption viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 292 Grob geordnet gibt es Lesarten, die Foucaults Machtbegriff einen starken metaphysischen oder ontologischen Status attestieren 293, und Lesarten, die Foucaults Machtbegriff als methodologischen Begriff begreifen. 294 Ich nenne sie die ›ontologische‹ und die ›methodologische‹ Lesart. In der Diskussion ist auffällig, dass die ›ontologischen‹ Interpretationen ihr jeweils zugrunde gelegtes Ontologie-Verständnis zumeist nicht (metaontologisch) spezifizieren oder definieren, was einen transparenten und fruchtbaren Austausch zwischen beiden Positionen erschwert. In der Tendenz wird der Machtbegriff von Foucault in der ontologischen Lesart aber als Begriff einer allgemeinen Ontologie der Welt oder Wirklichkeit verstanden. Aus einer ontologischen Interpretationsperspektive gestaltet sich Macht für Foucault in Bezug auf Bewegung, ähnlich wie bei Nietzsche, »nicht [als] ›der‹ Erklärungsgrund aller Bewegung. Sie ist aber ein mitlaufender Aspekt der Bewegtheit der Welt«, so die Interpretation von Petra Gehring. 295 Wogegen sich Foucault mit seinem relationalen Machtbegriff explizit wendet, ist ein ontologisches und metaphysisches Verständnis von Macht, das auf einer substanzontologischen Grundierung basiert, d. h., Macht nach dem Substanz-Akzidenz-Schema als Attribut eines fixierten Substrats konzipiert (vgl. z. B. DE IV / 306, 281). Die ›methodologischen‹ Interpretationen ordnen hingegen Foucaults gesamtes Untersuchungsanliegen einer kritischen (post-kantischen) Theorietradition zu, die ontologische Verpflichtungen allenfalls methodologisch anerkennen oder / und regional beschränken, bspw. auf eine formale oder methodologische Ontologie sozialer Kräfte oder auf eine formale Ontologie des Sozialen 296. Methodologische Lesarten betonen, dass ein materiell-ontologisches Theorieformat gar nicht in Foucaults Erkenntnisinter292 Die Argumentation dieses Kapitels habe ich bereits in einem Vortrag auf der Konferenz »Foucault revisited«, Wien, 04. 11. 2016, erprobt, vgl. Buhr (unv.). 293 Traditionell: Habermas (1988), 298–302; Dreyfuß (1990), (1996); in jünger Zeit (tendenziell) Andermann (2019), Sayer (2014), Fujita (2013), Jimenez-Anca (2012), Crano (2011), Schneider (2004a). 294 Z. B. Vogelmann (2017), Pellizoni (2016), Saar (2007), Detel (2006), Han (1998), Kögler (1994), Hoy (1986). 295 Gehring (2004), 114, Herv. i. O. Jörg Bernardy hat diese Deutung aufgegriffen und reformuliert, allerdings ohne den Bewegungsbezug der Macht weiter systematisch zu explizieren: »Macht wird also als omnipräsentes Geschehen gedacht, das in seinem Vollzug analysiert werden muss. Macht als Prozess und Vollzug, der alle Dinge, Handlungen und Bewegungen begleitet. [. . .] So fallen Machtcharakter und Prozesscharakter des Wirklichen zusammen« (Bernardy [2014], 14). 296 Vgl. Saar (2007), 210, 284, 286.

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esse fällt (vgl. K3). Beispielhaft für eine methodologische Lesart ist die folgende Bewertung von David Couzens Hoy: »Foucault's enterprise is neither epistemological nor ontological, for he is not making claims about what knowledge and power are ultimately. [. . .] [H]is project is historical, and his construction of concept of power / knowledge is a device for studying the social and scientific practices that underlie and condition the formations of beliefs.« 297 Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit vertretene Interpretation schließt sich der methodologischen Lesart an, räumt aber gleichwohl ein, dass Foucaults Machtbegriff einige ontologisch-epistemologische Spannungen birgt. Unter den Komponenten der Metatheorie (K3) und des theoretischen Terrains (K5) wurde bereits implizit eine methodologische Lesart stark gemacht, sodass hier darauf verzichtet wird, den metatheoretischen Hintergrund von Foucaults Archäologie und Genealogie zu wiederholen. Stattdessen soll noch einmal kurz auf die Zentralstelle für die methodologische Lesart, nämlich den Vortrag »Was ist Kritik?«, referiert und die angesprochene theoretische Spannung skizziert werden. Machtbegriff als Erschließungskategorie. Im Rahmen der Genealogie haben Wissen und Macht »nur eine methodologische Funktion« (WK, 32), sie fungieren also als Explikationsparameter 298, als »Analyseraster [grille d'analyse]« (WK, 33; frz., 49), als »Erkenntnisraster [grille d'intelligibilité]« (SW 1, 93; frz., 122), »als heuristische [. . .] Erschließungskategorie[n]« 299 des Sozialen; sie referieren nicht, das betont Foucault in einem Atemzug, auf »allgemeine Prinzipien der Wirklichkeit« (WK, 32, Übers. modifiziert). Aus methodologischer Perspektive geht es Foucault nicht um eine Beschreibung der allgemeinen und kontextinvarianten Strukturen der Welt, dies ist Aufgabe der allgemeinen Metaphysik und Ontologie oder einer Metaphysik der Natur. Foucault hat, wenn überhaupt, ausschließlich eine regionale und formale Ontologie im Visier, nämlich eine historische Ontologie des Sozialen und Subjekts. 300 Aus der Perspektive einer methodologischen Lesart begehen die ontologischen Interpretationen deshalb den Fehler, dass sie Foucaults Erkenntnisinteresse verfehlen, indem sie die methodischen Explikationsbegriffe Foucaults zu Einheiten der Welt hypostasieren bzw. ›ontologisieren‹. Mit Martin Saar lässt sich festhalten: Die Genealogie bringt »einen spezifischen Modus der historischen Darstellung ins Spiel [. . .], in der Macht der zentrale Explikationsbegriff ist und im Verbund mit weiteren machttheoretischen Begriffen (wie Dispositiv, Hoy (1986), 134. Vgl. zum Unterschied zwischen Explikation und Explanation die Ausführungen zu K11 »Macht und Kausalität«, Kap. 8.5.1 a). 299 Gehring (2004), 115. 300 Vgl. Saar (2007), 210, 284, 286. 297 298

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Subjektivierung oder Strategie) den Bezugspunkt der Durchleuchtung oder Dechiffrierung [oder Kartierung; L. B.] geschichtlicher Prozesse bildet.« 301 Ein Explikationsbegriff mit ontologischen Modellierungen. Eine methodologische Lesart ist gleichwohl gerade mit dem Verweis auf das Erbe Nietzsches in Foucaults Genealogie und Machtkonzeption herausgefordert. Denn mit der philosophischen Folie des Willens zur Macht übernimmt Foucault eine werdensphilosophische oder, genauer, bewegungs-meta-physische Grundierung. Die werdensphilosophische Grundierung wiederum bringt durch ihren Ausgriff in eine allgemeine Metaphysik der bewegten Welt eine gewisse Spannung zwischen formaler und materialer, allgemeiner und regionaler Ontologie in den foucaultschen Machtbegriff. 302 In epistemologischer Hinsicht korrespondiert der zugrundeliegenden Meta-Physik der Bewegung ein Prozess-Realismus und Konstruktionismus: sämtliche Dinge werden von Foucault als ›Beweglichkeiten‹ und Gewordenheiten aufgefasst. Dennoch sollten weder Macht noch Bewegung bei Foucault mit einer allgemein-ontologischen Kategorie oder Substanzialität verwechselt werden. Treffender erscheint es zu sagen, dass Foucault seinen Machtbegriff nach dem Theorietypus der Ontologie modelliert und »das Beschreibungspotential der ontologischen Sprache« nutzt, wie es Saar erklärt 303, bspw. wenn Foucault mit einer gewissen Omnipräsenz der Macht provoziert. Der Aspekt der ›Omnipräsenz‹ in den sozialen Beziehungen ist zwar analog zu den natürlichen Relationen der Welt im Allgemeinen modelliert, die ontologische Dimensionen seines Machtbegriffs läuft aber genau genommen (nur) auf eine formale und implizite relationale Ontologie des Sozialen hinaus. 304 Neben dem ontologischen Vokabular lauert jedoch noch eine zweite Spannung in der foucaultschen Machtkonzeption, die unangemessene ontologisierende Auslegungen evoziert: Foucaults relationale Ontologie des Sozialen ist nicht nur mit einer meta-physischen Theorie der Bewegung, die die Genealogie grundiert und die soziale Welt in »eine[r] immerwährende[n] Beweglichkeit« setzt (vgl. WK, 39), sondern auch mit einem Realismus sozialer Kräfte assoziiert. 305 Denn worauf sich Foucault explizit verpflichtet, gleichwohl ohne es so zu nennen, ist eine soziale Ontologie der sozialen Kräfte bzw. Kräfteverhältnisse. 306 Aber auch hier gilt es die methodologische Rahmung der Genealogie zu beachten: Die Existenzannahmen lassen sich im Rahmen einer Saar (2007), 205. Vgl. Kap. 8.3.2 (K4) und Kap. 8.3.3 (K5). 303 Saar (2007), 246. 304 Vgl. ebd., 210. 305 Ich hatte bereits gegen Fujita (2013) argumentiert, dass Foucault eben nicht die Ontologie der Kräfte von Nietzsche übernimmt, siehe Kap. 8.4.1 a). 306 Vgl. Sarasin (2019a), 208–214. 301 302

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genealogischen Analyse eher als methodologische Existenzaussagen und nicht als metaphysische Aussagen über die Eigenschaften der Welt schlechthin begreifen. Zusammenfassung. Der foucaultsche Machtbegriff ist in der hier vorgelegten Interpretation ein methodologisch gerahmter Begriff, der auf methodische Modelle und ontologische Modellierungen (›Kräfte‹, ›Relationen‹) zurückgreift, um sie als Erkenntnis- und Analyseprinzipien zur Anwendung zu bringen. Die Komponente des epistemologischen und ontologischen Profils steht, wie auch in den Machtbegriffen von Aristoteles und Hobbes, in enger Beziehung mit der Komponente des theoretischen Terrains. Das theoretische Profil des Machtbegriffs von Foucault wird mit anderen Worten stark von dem theoretischen Terrain (K5) 307 seiner Basisschicht informiert. Das bedeutet allerdings auch, dass ontologische und epistemologische Elemente aus dem champ fondateur in den machtbegrifflichen Korpus importiert werden und dadurch theoretische Spannungen erzeugen können. So erhält Foucaults Machtbegriff durch den Aufgriff von Nietzsches Konzept des Willens zur Macht eine meta-physische und bewegungsphilosophische Grundierung, die leicht mit dem Theorietypus einer allgemeinen Metaphysik verwechselbar ist und in Spannung steht zu einer Konzeption von Macht als Explikationsbegriff. Zur Bewertung der Spannungen hilft es, die Komponente der Metatheorie (K3) 308 heranzuziehen. Das Erkenntnisinteresse ist hier als eine Analyse von Konstituierungsprozessen ausgewiesen worden (im Modus der Archäologie und Genealogie), sie gibt Foucaults Machtbegriff seine ›ultimative‹ Rahmung. Andersherum formuliert ist eine Deutung von Foucaults Machtbegriff als ontologischer Begriff im starken allgemein-ontologischen Sinne nur zu dem Preis zu haben, dass die kritisch-epistemologisch orientierte metatheoretische Rahmung seiner Archäologie und Genealogie ignoriert wird. Diese Interpretationshypothek kann durch eine methodologische Lesart umgangen werden, die die ontologischen Elemente als ontologische Regionalisierungen und Modellierungen integriert.

8.5 Begriffsmilieu II

Unter den Gesichtspunkten der kategorialen Nachbarschaften und der begrifflichen Verzweigung sollen, wie auch in den diagrammatischen Untersuchungen der dynamis und des Machtbegriffs von Hobbes, jene begrifflichen Verhältnisse herausgearbeitet werden, die dem machtbegrifflichen Korpus eine 307 308

Vgl. Kap. 8.3.1. Vgl. Kap. 8.3.1.

Foucaults Machtbegriff

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gewisse Form von Exo-Konsistenz verleihen. Zugleich können über diese diagrammatischen Begriffskomponenten im vertikalen Vergleich begriffliche Wieder-Holungen systematisch aufgezeigt werden.

8.5.1 Kategoriale Nachbarschaften (K11) a) Macht und Kausalität

Bei Aristoteles' dynamis und Hobbes' Machtbegriff haben wir bereits erkundet, was von einigen Autor:innen der Methodologie der Sozialwissenschaften und der Geschichte des politischen Denkens konstatiert wird: Der Machtbegriff steht in einem engen Verhältnis zum Kausalitätsbegriff bzw. zu einem Vorverständnis von Kausalität. 309 Während die dynamis im Rahmen von Aristoteles' Vier-Ursachen-Lehre mit der causa efficiens in kategorialer begrifflicher Nachbarschaft steht, hat Hobbes seinen Machtbegriff der Ersten Philosophie mit einem bewegungstheoretisch fundierten Ursachenbegriff zur Deckung gebracht – hier treten Macht- und Ursachenbegriff explizit in Kommunion (bzw. differenzieller Identität) auf. In den sozialwissenschaftlichen Machttheorien, aber auch in den Untersuchungen zum Machtbegriff der Gegenwart bleiben die hintergründigen oder eingewobenen Kausalitätsbegriffe häufig unterbeleuchtet und dadurch implizit – so auch bei Foucaults Machtkonzeption. 310 Zudem: Je mehr die Interpretationen von Foucaults Texten in Richtung Narratologie, Metaphorik, Dramaturgie, medien- und techniktheoretischer Verknüpfungen gehen, desto weniger lenkt sich die Aufmerksamkeit auf diese doch eher wissenschaftstheoretisch angelegte Frage: Wie verhält sich Foucaults komplexer Machtbegriff zum Kausalitätsbegriff? Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es hilfreich, wie zuvor bei der Komponente des epistemologischen und ontologischen Profils (K10), die Komponente des theoretischen bzw. methodischen Terrains, also der Genealogie (K5), heranzuziehen. Denn nun wird sich zeigen, Vgl. Kap. 1.1. Sayer (2014), 326. Die Ausnahme bestätigt die Regel: Andrew Sayer (2014), Vertreter des wissenschaftsphilosophischen ›Critical Realism‹, vertritt die These, dass, obwohl »Foucault und seine Anhänger [. . .] Kausalanalysen ab[lehnen]«, man »der verstreuten Beschaffenheit von Macht nur mittels der des Kausalitätsbegriffs habhaft werden« könne (ebd., 327). Sayer kommt zu dem Schluss, dass Foucaults Machtbegriff eine causal powers-Ontologie voraussetzt und die Kräfteverhältnisse als »kausale Interaktionen« (ebd., 336, 335) verstanden werden können. Auch Elder-Vass (2011) startete den Versuch, Foucault mit der causal powers-Ontologie des Critical Realism zu versöhnen. Die Vermittlungsgeste auf Seiten der Critical Realism-Vertreter:innen beruht m. E. auf einer fehlgeleiteten Ontologisierung von Foucaults Kraftbegriff. Eine ausführliche Gegen-Argumentation kann im Rahmen dieser Arbeit nicht präsentiert werden, wäre aber ein lohnendes Unternehmen. 309 310

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dass sich die Frage nach dem Verhältnis von Kausalität zum Machtbegriff in erster Linie über Foucaults genealogische Folie der Machtanalytik sinnvoll erkunden lässt. Erklärungsanspruch und Kausalität. Erinnern wir uns zunächst an die Ausführungen zur Komponente des theoretischen Terrains (K5), so trägt sich über Nietzsches von Schopenhauer vorgeprägtes Konzept der Lehre vom Willen zur Macht eine Prävalenz des Kausalitätsthemas in die foucaultsche Adaption der genealogischen Machtanalytik hinein. Die Genealogie hat als Untersuchung der Herkünfte eine ambivalente Beziehung zu den Erklär-Begriffen der Ursprünge, Ursachen und Bewegungsanfänge (Prinzipien), jenen Begriffen und Schemen, die sie gezielt überwinden will, die aber als überkommene Hinterlassenschaft immer noch mit im Gepäck liegen. Auch Foucaults methodologische Machtkonzeption, die aus der historisch-kritischen Genealogie entwächst, stellt damit einen Begriff dar, der einem gewissen, wenn auch eher schwachen Erklärungsanspruch folgt. Eine Erklärung kann in unterschiedlichen Modi und auf unterschiedlichste disziplinäre Ziele ausgerichtet sein, grob lassen sich Explikation und Explanation als methodologische Zugänge zu einem Gegenstand unterscheiden. 311 Vor diesem Hintergrund hat Wolfgang Detel der Archäologie und Genealogie Foucaults »explanatorische Ziele« abgesprochen. 312 Tatsächlich lässt sich Foucaults Analyseanspruch schwer in die traditionellen wissenschaftstheoretischen Kategorien einordnen, wenn man »explanatorisch« in einem physikalischen oder historischen Sinne begreift. 313 Martin Saars Interpretation umgeht diese Schwierigkeit, indem sie die Genealogie so rekonstruiert, dass sie als eine historiografische Schreibweise sui generis beide Anspruchsmodi abdeckt. 314 Ich schlage vor, Foucaults genealogisch basierte Machtanalytik so zu verstehen, dass sie einem zuvörderst explikativen, in Anklängen aber auch explanatorischen Auftrag und Anspruch in einem historisch-explanatorischen Sinne dient. In jedem Fall ruft Foucaults Machtbegriff, wenn nicht über die begriffskorporalen Elemente, so doch über den genealogisch-kriti311 Audi (2015), 208, Herv. i. O., bietet eine gute Differenzierung zum Einstieg in die Thematik: »Explanations account for why something exists or occurs or is the way it is. Explications account for what it is for something to exist or occur or be a certain way.« Ein in den Naturwissenschaften und naturwissenschaftlich orientierten Sozialwissenschaften nach wie vor verbreitetes Modell von Explanation ist das deduktiv-nomologische Modell von Hempel und Oppenheim. 312 Detel (2006), 62. Nach Detels Interpretation sind Foucaults »Machtanalytik und Diskursanalytik nicht auf explanatorische Ziele ausgerichtet [. . .] (auch wenn Foucault sich gelegentlich so äußert). Sie wollen nicht erklären, wie soziale Ordnungen entstehen, sondern analysieren, welche Machtformen vorkommen, wie sie sich mit Wahrheitsproduktionen verbinden und wie sich diese Komplexe historisch transformieren« (ebd.). 313 Zum Typ der »historischen Explanation« vgl. Hammer (2008). 314 Saar (2008b), 298.

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Foucaults Machtbegriff

schen Rahmen, Kausalitätsimplikationen auf. Wie Foucault selbst betont, ist seiner Genealogie »nichts fremder als die Verwerfung der Kausalität« (WK, 37). Anders also als viele vermuten würden, ist es gar nicht Foucaults Absicht, die denkhistorisch und im Rahmen des kritischen Projekts wichtige Kategorie und Begrifflichkeit der Kausalität aufzugeben. Entscheidend ist für ihn, wie Kausalität im Rahmen der Genealogie (neu) konzipiert bzw. modelliert wird. Methodologischer Machtbegriff und genealogische Kausalität. Die Kausalität der Genealogie, nennen wir sie hier ›genealogische Kausalität‹, kann nicht den traditionellen Charakteristika von Kausalität folgen, die sie ja gerade zu überwinden bestrebt ist. Foucault geht auf diese Herausforderung relativ am Ende seines Vortrags »Was ist Kritik?« ausführlich ein. Die Gegenstände der historischen Untersuchung fasst er – ganz im Stil seiner Zeit – als »Singularitäten« auf, die zugleich als »Positivitäten« die Gegenstände seiner Analyse darstellen (WK, 36). 315 Seine Analyse versteht er als eine Art »Explikationsverfahren [procédures dites explicatives]«, das an eine »kausale Geltung [valeur causale]« geknüpft ist (ebd., 36; frz., 50, eigene Übers.). Die Kausalität (oder der kausale Wert) ist nun aber weder mit einer ersten kausal wirksamen Instanz (dem klassischen theologischen oder metaphysischen Ersten Prinzip) noch mit einer »pyramidalisierend[en]« Prinzipien- und Kausalitätshegemonie verbunden, noch mit einem Begriff der Notwendigkeit (ebd.). Nach dieser Annäherung ex negativo führt Foucault direkt ein, worum es ihm geht: Seine Analyse »entfaltet ein Kausalnetz [réseau causal]«, das die untersuchten Singularitäten »als einen Effekt verständlich macht« (ebd., 37; frz., 51). Die Intelligibilität eines Gegenstandes soll also nicht über die Angabe von ersten oder spezifischen Prinzipien aufgebaut werden, sondern durch die Rekonstruktion einer Vielzahl und Vielfalt von Beziehungen, Interaktionsmodi, und Prozessen (ebd.). Genealogische Kausalität zielt also darauf, die Singularitäten über ihre heterogenen Entstehungs- und Individuationsfaktoren intelligibel zu machen. Sie meint die Verknüpfung der »Erscheinungsbedingungen [conditions d'apparition]« (ebd.) zu einem Netz, das sich als »Kausalnetz« beschreiben lässt und damit die Stelle der Angabe einer einzigen Ursache oder eines Prinzips im Rahmen einer Explikation einnimmt. Foucault folgt damit Nietzsche insbesondere darin, nicht 315 Dass Foucault hier extensiv auf das Vokabular der empirischen Analyse (»Positivitäten«, »Kausalität«) zurückgreift, kann man einerseits als ironische Koketterie mit dem Diskurs der Methode auffassen. Andererseits aber weiß Foucault genau um die Zentralität der Kausalitätskategorie in der kantischen Kritik, in der Metaphysik Schopenhauers und in der Gegen-Meta-Physik Nietzsches, sodass er – in dem Versuch, deren Traditionslinie kritischen Denkens fortzuführen – aus Gründen der philosophischen und denkgeschichtlichen Seriosität die Kausalitätsfrage gar nicht außer Acht lassen kann. Vgl. zur Kategorie der Kausalität bei Schopenhauer und Nietzsche Kap. 8.3.3 a) (K5).

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ein uniformes einziges erstes Prinzip zur kausalen Erklärung von Entstehung und Formung in Anschlag zu bringen, sondern ein in sich multiples, gestreutes und defragmentiertes ›Anti-Prinzip‹. Das Kausalnetz korrespondiert mit dem Netz der Macht – das Kausalnetz der Singularitäten ist das, was den Namen ›Macht‹ trägt. Diesen Gedanken hat Deleuze sehr schön herausgearbeitet. Er nennt Foucaults Machtnetz insgesamt »Diagramm« und weist dem Diagramm die Wirkung als »immanente Ursache, die dem gesamten sozialen Feld koextensiv ist«, zu. 316 In Deleuzes Beschreibung wirkt »das Diagramm [der Macht; L. B.] als eine immanente, nicht vereinheitlichende Ursache, die dem gesamten sozialen Feld koextensiv ist« 317. Die »immanente Ursache« zeichne sich dadurch aus, dass sie »sich in ihrer Wirkung aktualisiert, [. . .] integriert, [. . .] differenziert«. 318 Brisant wird es, wenn die genealogische Analyse nicht nur methodologisch mit der Macht kongruiert, sondern Kausalitätskonzeptionen auch strategisch in einem Diskurs eingesetzt werden können, wie bspw. »die Medizin ein ganzes Netz sexueller Kausalität gesponnen« habe, die sich zugleich ›allgemein und diffus‹ gibt (SW 1, 69). Macht tritt dann als »polymorphe[] Kausalmacht [pouvoir causal]« auf (ebd.; frz., 88). Methodologisch gesehen überträgt Foucault die historisch-explikative These von der Macht als vielfältiges konstitutives Außen der Diskurse und Praktiken in ein äquivalentes Kausalitätskonzept: Nicht ein Prinzip, ein Bewegungsanfang, sondern viele kleine verschiedene Anfänge, die sich zu einem Netz aus Entstehungsbedingungen verknüpfen, deren Effekt das Auftauchen einer Singularität ist. Die Singularität wird damit zu einem Ereignis, dessen kausales Netz aufgespürt werden soll. Die solchermaßen verstandene genealogische Analyse mündet in eine »kausale Demultiplikation«, wie Foucault es beschreibt: Sie »besteht darin, das Ereignis den vielfältigen Prozessen entsprechend zu analysieren, die es konstituieren« (DE IV / 278, 30). Indem die Suche nach einer Ursache ersetzt wird durch Vervielfältigung der intelligiblen Einheiten und Relationen rund um eine Singularität, kurz durch eine kausale Vielfalt, betreibt die Genealogie zugleich eine »Abschwächung des kausalen Schwerefeldes« (ebd.). 319 Deleuze (1987), 56. Deleuze (1987), 56. Offensichtlich lädt Deleuze hier Foucaults singuläre Verwendung von ›Diagramm‹ mit seiner eigenen Terminologie und Immanenzphilosophie auf; dennoch trifft er damit die schematische Variable sehr gut. 318 Ebd. 319 Die beiden Ausdrücke »kausale Demultiplikation« und »Abschwächung des kausalen Schwerefeldes« tragen ein für Foucault typisches und unnachahmliches poetisches Gewand. Seine Erklärung ist nicht weniger ausgeschmückt: »Die kausale Demultiplikation besteht darin, das Ereignis den vielfältigen Prozessen entsprechend zu analysieren, die es konstituieren. [. . .] Die Abschwächung des kausalen Schwerfeldes besteht somit darin, um das als Prozess analysierte singuläre 316 317

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Foucaults Machtbegriff

Der Kausalbegriff, den Foucault zur Anwendung bringen will, soll also keinerlei metaphysische Züge aufweisen im Sinne eines Ersten Prinzips oder einer Ersten Ursache, die aufzufinden Aristoteles und mit ihm viele metaphysische Programme der Neuzeit und des deutschen Idealismus bestrebt waren. In der Genealogie geht es aus Kausalitätsperspektive »darum, die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen ausfindig zu machen und sie nicht als deren Produkt, sondern als deren Effekt erscheinen zu lassen.« (WK, 37) Da Foucault explizit das Kausalitätskonzept beibehält, darin aber gleichwohl eine für ihn passende, gänzlich a-mechanische dezentrale Konzeption aufruft, zeigt er einmal mehr die methodologische Reflexion, ja nachgerade wissenschaftstheoretische Pointe seiner Genealogie – eine Pointe, die häufig überlesen wird.

b) Macht, Mechanik, Technik und techne¯

Auffallend häufig spricht Foucault, wie auch von vielen Autor:innen bemerkt wurde, von ›Mechanismen‹, ›Mechaniken‹, ›Techniken‹ und ›Technologien der Macht‹. Hat man einmal den Lektüreblick auf das Mechanische und Technologische in den Schriften, Vorlesungs- und Vortragsmanuskripten ab Mitte der 1970er scharf gestellt, erscheint einem Foucault angesichts der schieren Häufigkeit und Frequenz des Wortgebrauchs nachgerade als ›Mechanologe‹ und Technologe. Indes, eine allgemeine Theorie der modernen Technologie steht, wie auch eine allgemeine Theorie der Macht, nicht im Fokus von Foucaults Untersuchungen. Vielmehr dient der Rückgriff auf die Begriffe der Technologie und Techniken einer begriffspolitisch angelegten Reformulierung der Machtanalyse in a-subjektiven und a-humanistischen Termini – eine Wendung, die sich nicht zuletzt durch eine große Nähe zu Heideggers Denken der Technik 320 auszeichnet. Mit der Konzeption von Macht als Techniken und Technologie »setzt Foucault [. . .] bestimmte klare theoretische Akzente«, wie Petra Gehring treffend bemerkt. 321 Der enge Bezug der Macht zu Technik und Technologie ist, wie wir bereits unter den Variablen der historischen Matrix von Machtformen Ereignis herum ein ›Polygon‹ zu errichten oder vielmehr einen ›Polyeder der Intelligibilität‹, bei dem die Anzahl der Oberflächen nicht im Vorhinein definiert ist und niemals mit vollem Recht als endlich betrachtet werden darf« (DE IV / 278, 30). 320 Zum Verhältnis von Heideggers seinsgeschichtlichem Technikdenken, seinem Konzept des Gestells und Foucaults konzeptionellen Einsatz von Technologie und ›dispositif‹ siehe die Beiträge in dem von Valentina Tirloni (2010) herausgegebenen Sammelband Du Gestell au dispositif. Comment la technicisation encadre notre existence sowie Sawicki (1987). 321 Gehring (2004), 122.

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gesehen haben, verknüpft mit einem Beschreibungsvokabular der Physik und des Physiologischen, das selbst wiederum biologisch und chemisch beschrieben werden kann – Foucault greift auf alle vier Register der Physis-Wissenschaften zurück, vor allem auf das der mechanischen Physik. Aber unabhängig von dem strategischen Einsatz der Vokabulare und Metaphoriken, warum ist es in der Machtkonzeption von Foucault überhaupt möglich, so reibungslos zwischen mechanischem und technischem Vokabular zu wechseln? Dies ist ein Aspekt, der in der Literatur bisher weitaus weniger diskutiert worden ist. Aus der Perspektive der hier vorgeschlagenen Interpretation, die Foucaults Machtbegriff auf seine bewegungsbegrifflichen Implikate prüft, liegt eine wesentliche Begründung in der Basisbestimmung von Macht als Kräfteverhältnis sowie dem Bewegungsbezug des Machtbegriffs. Dieser Aspekt soll nachfolgend mit einem Verweis auf Strukturähnlichkeiten herausgearbeitet werden. Mechanismen und Maschinen der Macht. Foucault bezeichnet den Gegenstand seiner Machtanalysen gleichermaßen als Machtbeziehungen und Machtmechanismen, er setzt Mechanismus und Beziehung mithin parallel. Inwiefern kann aber der Begriff des Machtmechanismus überhaupt greifen? In wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist der Begriff ›Mechanismus‹ ein Element von mehr oder weniger kausal und nomologisch orientierten Erklärungen von natürlichen und sozialen Phänomen. 322 In einer zeitgenössischen Minimaldefinition ließe sich ein Mechanismus (»minimal mechanism«) im Hinblick auf seine Konstitution und Funktion mit Glennan und Illari folgendermaßen definieren: »A mechanism for a phenomen consists of entities (or parts) whose activities or interactions are organized so as to be responsible for the phenomen.« 323 Erklärungen mit Rückgriffen auf den Mechanismusbegriff haben sich als alternative Explanationstypen zu deduktiv-nomologischen Erklärungen (im Sinne von Hempel und Oppenheim) etabliert. Dabei hat sich der Begriff und die Idee des Mechanismus in der gegenwärtigen Verwendung sowohl von einem deterministischen und universell-metaphysischen Hintergrund, der ihm noch im 17. und 18. Jahrhundert eignete, als auch vom Maschinenbegriff entkoppelt. 324 Der Begriff des Mechanismus erlebt seit einigen Jahren unter dem Titel ›New Mechanism‹ über Natur-, Lebens- und Sozialwissenschaften hinweg eine Renaissance; so gesehen lag Foucault mit seinem Terminus des Machtmechanismus diesem heute paradigmatisch eingesetzten Konzept voraus. Folgt Foucault aber bereits einem solchermaßen ›de-physikalisierten‹ Me322 323 324

Vgl. Glennan (2010); Craver / Tabery (2019). Glennan / Illari (2018), 2. Craver / Tabery (2019), Kap. 2.

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chanismusbegriff oder ist der Mechanismusbegriff bei ihm noch mit einem naturphilosophisch grundierten Mechanismus- und Maschinenbegriff verbunden? Die Antwort muss differenziert ausfallen und zwischen analytischer und historischer Verwendung trennen. Zum einen bringt Foucault die Weise der Machtausübung durch den Begriff Mechanismus zum Ausdruck; Mechanismus wird in diesem Verwendungsmodus analytisch und methodologisch eingesetzt und dürfte darin einerseits der minimalen Mechanismuskonzeption nahekommen. Ein Beispiel aus den methodischen Vorklärungen in der Vorlesung In Verteidigung und Gesellschaft illustriert diese Einschätzung: Wichtig ist nicht [. . .] eine Art Deduktion der Macht vorzunehmen, die von einem Zentrum ausginge und untersuchte, wie weit sie sich unten fortsetzt, in welchem Maße sie sich reproduziert, bis hin zu den kleinsten Teilen der Gesellschaft. Ich denke, man sollte eher – das ist eine methodische Vorkehrung, die es zu befolgen gilt – eine aufsteigende Machtanalyse vornehmen, d. h. von den unendlich kleinen Mechanismen ausgehen, die ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Weg, ihre eigene Technik und Taktik haben, um dann zu erforschen, wie diese Machtmechanismen, die ihre Stabilität und in gewisser Weise ihre eigene Technologie haben, von immer allgemeineren Mechanismen und globaleren Herrschaftsformen besetzt, kolonisiert, verwendet, umgebogen, transformiert, verlagert und ausgedehnt wurden und immer noch werden. (VG, 39–40, Herv. L. B.)

Andererseits ist in diesem analytisch-methodischen Mechanismusbegriff doch durch den engen Körperbezug eine mechanisch-naturphilosophische Verwendungsweise mit eingewoben. Die Phänomene, die die foucaultsche Machtanalytik als ihre Positivitäten analysiert, tragen das Charakteristikum, körperlich zu sein oder Körper in Bewegung zu konstituieren, zu lenken, zu führen und zu formen. Dahinter liegt eine basale Vorstellung mechanischer Naturphilosophie, die sich mit Kant auf die Formel bringen lässt: »Die Wirkung bewegter Körper auf einander durch Mitteilung ihrer Bewegung heißt mechanisch.« 325 Indem Macht für Foucault immer über den Körper eintritt und funktioniert, der Körper also der erste Gegenstand der Machtwirkungen und Machtausübungen ist, wirkt hier in die methodische Verwendungsweise – ähnlich und parallel zum Kraftbegriff – auch eine unverdeckte Vorstellungsdimension mechanischer Naturphilosophie hinein. Den historischen Physiken der Macht 326 korrespondieren historische Mechaniken.

325 326

Kant (1977), 92 [A 95], Herv. i. O. Vgl. Kap. 8.4.1 b).

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Der methodische Mechanismusbegriff, der gerade in kategorialer Nachbarschaft zum Machtbegriff als Kräfteverhältnis skizziert wurde, ist nicht mit der Charakterisierung der historischen Machtform der Disziplinarmacht als Maschine zu verwechseln und steht nicht in kategorialer Nachbarschaft mit dem Machtbegriff selbst. Schon gegenüber der zeitgenössischen Rezeption sah sich Foucault veranlasst, über dieses Missverständnis in der Interpretation von Überwachen und Strafen aufzuklären. Das »Thema der Maschine«, »[d]er automatische Charakter der Macht«, so versucht er in dem Text »Der Staub und die Wolke« klarzustellen, ist nicht Bestandteil seiner Machtkonzeption in dem Sinne, dass alle historischen Kräfteverhältnisse und Machtbeziehungen sich in Maschinerien und Maschinen ausdrücken lassen; ›Maschinen‹ hier im Verständnis von instrumentellen Anlagen oder Apparaturen wie bspw. das Gefängnis, die Klinik, die Schule (DE IV / 277, 23). Vielmehr bildet die Maschine ein zentrales Element des Imaginären des 18. Jahrhunderts – in Äquivalenz zu den mechanistischen Ansätzen in der Naturphilosophie, Physik und Metaphysik der Zeit: »Der automatische Charakter der Macht, der mechanische Charakter des Dispositivs, in denen sie sich verkörpert, dies ist keinesfalls die These des Buches [Überwachen und Strafen; L. B.]. Aber es ist die Idee des 18. Jahrhunderts, dass eine solche Macht möglich und wünschenswert wäre« (ebd., Herv. i. O.). In der Machtanalyse das »Thema der Maschine« auftauchen zu sehen, »bedeutet [. . .] nicht, zu behaupten, dass die Macht eine Maschine ist, noch dass eine solche Idee maschinell erzeugt wurde.« Vielmehr zielt Foucaults historische Analyse auf »die Untersuchung der Entwicklung eines technologischen Themas, das [. . .] innerhalb der Geschichte der großen Neubewertungen der Machtmechanismen im 18. Jahrhundert, in der allgemeinen Geschichte der Machttechniken und allgemeiner noch der Beziehungen zwischen Rationalität und Machtausübung« liegt (ebd.). Die konkrete mechanische Maschine und Maschinerie (z. B. einer panoptischen Architektur) ist nur eine historische Variante, eine Form in der globaleren Geschichte der politischen Technologien, die ihrerseits eine zentrale Variable der historischen Matrix der Machtformen bilden. Macht als Technik. Ähnlich wie der methodische Mechanismusbegriff ist auch Foucaults technische Terminologie zu verstehen. Sie dient als begriffspolitische Form, um der spezifischen Konzeption von Macht als Kräfteverhältnissen Ausdruck zu verleihen. Insofern Techniken und Technologien immer auch als eine Arbeit an einem Material, einem Stoff im Sinne einer gerichteten Erzeugung oder Formgebung, Formung und Konfigurationen und Lenkung der Kräfte desselben darstellen, unterstreicht die technische Modellierung von Macht ihren formgebenden Charakter. 327 Wie lässt sich das verstehen? 327

Gehring (2004), 122.

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Zunächst gilt es, eine sprachliche Spezifizität zu beachten: Das französische ›technique‹ (deutsch: Technik, Verfahren, Methode, ohne Äquivalent im Englischen) und der ins Französische übertragene Anglizismus ›la technologie‹ (von ›technology‹, das seinerseits auf das deutsche Wort ›Technik‹ zurückgreift) stehen in einem implikativen Verhältnis 328: Jede ›technologie‹ ist eine ›technique‹, nicht aber umgekehrt, da sich ›technologie‹, abseits seiner ursprünglichen Bezeichnung der wissenschaftlichen Kunde der Technik (Techno-logie), auf eine spezialisierte und komplexere Form von ›technique‹ bezieht. 329 Für die vorliegende Untersuchung ist insbesondere das Verständnis von Technik und Technologien in den Konzepten der ›Machttechnologie‹, der ›politischen Technologie‹ und des ›Dispositivs‹ von Interesse 330. In Überwachen und Strafen führt Foucault die beiden ersten Konzepte ein. Die Konzeptionalisierung von Macht als Technik und im globaleren Sinne als Technologie basiert auf einem nicht-instrumentellen Technikbegriff, der auf die Funktionalität, Operationalität und Produktivität und damit auf den poietischen Aspekt von Macht abhebt. Die Technologie des Macht / Wissens lässt sich verstehen als »processes that are directed at organizing the concrete behaviour of human bodies and that, unlike legal norms, stimulate and incite rather than repress.« 331 Laut Behrent schließt Foucault mit seinem verhaltens- und sozialbezogenen, steuerungstheoretischen und prozessualen Technikverständnis an die Diskussionen französischer Intellektueller in der Nachkriegszeit und in den 1950ern an, die die zunehmende Technologisierung nicht nur des Alltags und der Arbeit, sondern auch des Staates, der Regierungsweisen und der Gesellschaft skeptisch Vgl. Behrent (2013), 58–60. Salomon (1984), 113. 330 Die Verwendung von Technik in Rückbezug auf die griechische techne ¯ im Rahmen des Konzepts der »Technologien des Selbst« (DE IV / 363), die die Verfahrensweisen der Selbstkonstitution in den Schriften und Vorlesungen der 1980er Jahre bezeichnen, soll an dieser Stelle ausgespart bleiben; gleichwohl bilden sie ein wichtiges Element für ein nicht primär staatsbezogenes Gouvernementalitätskonzept, das die »Technologien der Beherrschung« mit den »Technologien des Selbst« verbindet (DE IV / 363, 969). Zum Technikbegriff der »Technologien des Selbst« siehe Behrent (2013), 90–92. 331 Behrent (2013), 84. Für Behrent korreliert Foucaults anti-humanistische Abkehr von einer cartesischen Subjekttheorie mit der umfassenden Integration technologischer Terme; mehr noch: der Aufgriff des Technologischen assistiert die Konzeptualisierung nicht-humanistischer Denk- und Analyseansätze: »›Technology‹ (or ›technique‹) implied in a number of ways a ›philosophy without the subject‹, the various forms of which Foucault experimented with at difference stages of his career: it could refer to the impersonal, systemic, and integrated character of epistemological structures, thus emancipating the problem of knowledge from the analysis of consciousness; to the practical procedures by which power aspires to mold individual behavior, thus freeing power from questions of foundation and legitimacy; and finally, to the practices, exercises, and routines by which one constitutes one’s own selfhood, liberating, in this way, the concept of individuality from metaphysical notions of subjectivity and interiority« (ebd., 68). 328 329

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betrachteten. 332 Im Unterschied zu den Positionen von bspw. Michel Crozier (Human Engineering, 1951), Jacques Ellul (La technique ou l'enjeu du siècle, 1954) und Georges Friedmann (Problèmes humains du machinisme industriel, 1946) basiere Foucaults Aufgriff der Thematik der Technologie allerdings nicht auf einem humanistischen Impuls der Verteidigung der Gesellschaft gegenüber einer technologischen und maschinistischen Überformung. Foucaults Strategie bestehe vielmehr darin, die Technologizität und Technizität der Funktions- und Wirkungsweise moderner Machtformen an sich und in ihrer Koppelung mit der Generierung von humanwissenschaftlichen Wissensformen intelligibel zu machen. 333 Muriel Combes hat indessen auf eine weitere mögliche techniktheoretische Referenzquelle neben der Technikphilosophie Heideggers für Foucault hingewiesen, die Technikphilosophie Gilbert Simondons. 334 Simondon versteht unter einer Technologie eine strukturale, stets im Werden begriffene »netzförmige Existenzweise«, »innerhalb derer ein technisches Objekt sich durch die Gesten, Dispositionen, kognitiven Schemata und Erfahrungen der Nutzerinnen und Nutzer ausbreitet«. 335 Das simondonsche evolutive Technikverständnis, das die Genese technischer Objekte über eine milieuhafte Verortung (später: »Transduktion« und »Transindividuation«) 336 und strukturanalog zu der Dynamik des Denkens und des (organischen) Lebens konzeptualisiert, dürfte Foucault, Zeitgenosse von Simondon und ebenfalls Schüler von Canguilhem, bekannt gewesen sein. Denn auffällige Parallelen zeigen sich sowohl in der Konzeptionalisierung netzförmig operierender politischer Technologien 337 als auch, wie es Muriel Combes interpretiert hat, in der Analyse von Subjektivierungsweisen als unabgeschlossenen technologisch mediatisierten Prozessen. 338 Macht und politische Technologie. 339 Insgesamt unterscheidet Foucault vier »Typen« von Technologien, die Anteil haben an den »hochspezifische[n] ›Wahrheitsspiele[n]‹« der wissenschaftlichen Diskurse: (i) »Technologien der Produktion«, (ii) »Technologien von Zeichensystemen«, (iii) »Technologien der Macht« (Konfiguration des Verhaltens, Objektivierung der Subjekte), (iv) »Technologien des Selbst« (DE IV / 363, 968). Sein Hauptaugenmerk gilt, wie er es selbst Ebd., 60–68. Behrent (2013). 334 Combes (2011). 335 Reigeluth (2015), 25. 336 Simondon (2005), (22012). 337 Combes (2011). Vgl. z. B. die Bestimmung der Polizei als zweite große technologische Invention nach der Disziplin, die »ein Verbindungsnetz spannt, das die von jenen [geschlossenen Disziplinarinstitutionen; L. B.] offengelassenen Lücken füllt und die nicht-disziplinierten Räume diszipliniert, abdeckt, miteinander verbindet [. . .]: Interdisziplin und Metadisziplin« (ÜS, 276). 338 Reigeluth (2015), 26. 339 Vgl. hierzu auch Kap. 8.4.1 b), Technologie als Variable der historischen Machtmatrix. 332

333

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ausweist, der Verbindung und Verschränkung von Technologien der Beherrschung, der Macht und den Technologien des Selbst, dennoch hat er die anderen Dimensionen des Technologischen nie unbedacht gelassen (ebd., 969). 340 Die Technologien haben alle eine Verbindung zum politischen Feld; werden sie strategisch eingesetzt, um Kräfteverhältnisse und damit Machtbeziehungen zu verschieben oder zu stabilisieren, spricht Foucault von ›politischen Technologien‹. Mit dem Konzept der ›politischen Technologien‹ greift Foucault das poietische Moment der Macht auf, transferiert es aber nun auf eine trans- und metainstitutionelle Ebene. Politische Technologien operieren anonymisiert und fragmentarisch. Sie richten sich, in je spezifisch historischer Ausrichtung, auf die Herstellung von sozialen Entitäten, auf die Konfiguration eines spezifischen sozialen Funktionsprogramms und auf die Objektivierung von Gegenständen der Macht- und Herrschaftsbeziehungen, ohne dabei auf einzelne Institutionen oder den Staatsapparat konzentriert zu sein. Vielmehr greifen Staatsapparat und Institutionen auf die Technologien zurück (vgl. ÜS, 37–38). Für das 18. und 19. Jahrhundert beobachtet Foucault bspw. das Auftauchen einer »politischen Technologie des Körpers und der Dauer« (ebd., 209), die ihrerseits Elemente einer politischen »Technologie der Individuen« (ebd., 288) darstellen. Erstere, die Technologie des Körpers, beschreibt Foucault als einen in sich kohärenten und zugleich multimethodischen und polymorphen Prozess: »[S]ie setzt sich aus Stücken und Stückchen zusammen; sie arbeitet mit disparaten Werkzeugen und Verfahren; trotz der Kohärenz ihrer Resultate ist sie häufig ein vielgestaltiger Prozeß.« (Ebd., 37) Dem Konzept der politischen Technologien von Foucault liegt damit, um die Differenzierung in einen weiten und engen Technikbegriff aufzugreifen, ein weiter Technikbegriff zugrunde. Der Technikbegriff im weiten Sinne wird von dem Techniksoziologen Werner Rammert definiert als die »Gesamtheit derjenigen kreativ und kunstfertig hervorgebrachten Verfahren und Einrichtungen [. . .], die in Handlungszusammenhänge als Mittler eingebaut werden, um die Tätigkeiten in ihrer Wirksamkeit zu steigern, um Wahrnehmungen in ihrem Spektrum zu erweitern und um Abläufe in ihrer Verlässlichkeit zu sichern.« 341 Foucault spricht damit materielle Technologien fernab eines technologischen Determinismus an, wie es auch Samuel Sieber in seiner Studie Macht und Medien. Zur Diskursanalyse des Politischen gegen eine technizistische Verkürzung des foucaultschen Macht- und Dispositivbegriffs betont. 342 Materiale (Medien-) Techniken können zugleich ermöglichend und 340 341 342

Vgl. auch Sieber (2014), 23. Rammert (1999), 3–4. Sieber (2014), 16, 23, 69–79.

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ausdifferenzierend auf die politischen Technologien wirken. So ist bspw. die Disziplinartechnik der Prüfung »an ein System der Registrierung und Speicherung von Unterlagen angeschlossen« (ÜS, 243–244), welches das Individuum »als schreibbare[n] und analysierbare[n] Gegenstand« konstituiert und den Aufbau eines protokollbasierten »Vergleichssystem[s]« instituiert (ebd., 245). Macht und techne¯. Foucault hat mehrfach explizit auf den griechischen Begriff der techne¯ referiert. In einem Gespräch über Architektur kommt er im Zusammenhang mit der Frage nach dem Status der Wissenschaft der Architektur auf die griechische techne¯ zurück, die er als »eine von bewussten Zielen geleiteten Rationalität« charakterisiert und von der »Technologie« im Sinne von materiellen Herstellungsapparaturen problematisierend abgrenzt, um sodann auch gleich Technologie und Regieren zusammenzuführen: »›Technologie‹ hat eine ganz enge Bedeutung. Man denkt an die harten Technologien, an die des Holzes, des Feuers, der Elektrizität. Aber auch das Regieren greift auf Technologien zurück«. (DE IV / 311, 341) Die Technologien des Regierens sind, wie bereits erwähnt, getragen von einem weiten verfahrensorientierten Technikbegriff. Der weite Technikbegriff als Ensemble von Verfahren wiederum konvergiert mit dem Begriff der griechischen techne¯, wobei beide historisiert werden: die Verfahren bzw. Techniken folgen einer bestimmten Rationalität, die sich historisch ändert. Vor diesem begrifflichen Hintergrund lassen sich Foucaults politische Technologien der Macht und des Regierens als angeleitet von einer historischen techne¯ begreifen.

c) parrhesia und dynamis, dynasteia

Für die diagrammatische Untersuchung, die einerseits nach dem begrifflichen Zusammenhang von Macht und Bewegung, andererseits aber auch nach den Beziehungen von Machtbegriffen zum aristotelischen Begriff der dynamis kata kine¯sin fragt, ist es von besonderem Interesse, ob und inwiefern sich Foucault explizit auf den Begriff der dynamis generell und der kinetischen dynamis im Besonderen bezieht. Wir hatten bereits im Kontext der Komponente des theoretischen Terrains (K5) erfahren, dass Foucault zwischenzeitlich von dem Vorhaben einer »Dynastik des Wissens« (DE II / 119, 506) spricht – ein Alternativbegriff für den Ansatz der Genealogie –, deren Kernaufgabe darin bestehe, einerseits die Transformationen und Verschiebungen von Diskursen mit »den historischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen ihres Auftretens und ihrer Bildung« zu kontextualisieren (ebd.). Andererseits und im Besonderen gilt es für Foucault, innerhalb der Analyse der politischen Verhältnisse die Veränderungen der Diskurse mit den historischen Machtverhältnissen, der

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»dynamis dynasteia«, wie er sie an anderer Stelle nennt, systematisch zusammenzudenken (DE II / 139, 687). In dem Zusammenhang einer politisch orientierten genealogischen Forschung ruft Foucault also in einer ungewöhnlichen begrifflichen Kopplung und Dopplung bereits 1973/4 – und freilich auch als »Wortspiel« markiert – die Begriffe der dynamis und der dynasteia auf (ebd.). Es ruft sie auf, um die diskurspolitischen Machtverhältnisse (dynasteia) und die Erforschung der Macht (dynamis) seiner Zeit zu adressieren, wobei er sich explizit gegen die Betitelung als ›Strukturalismus‹ für die seine Forschung zur Wehr setzt. Es gibt aber noch eine weitere, deutlich ausführlichere und äußerst spannende, von der Foucault-Rezeption bisher aber ausnehmend sparsam angesprochene und machtbegrifflich noch nicht durchdringend beleuchtete Passage im Vorlesungsband Die Regierung des Selbst und der anderen (1982– 83) 343, in der Foucault wieder beide Begriffe aufruft. Diese Passage (RSA, 202– 210) 344 soll nun im Hinblick auf die Verwendung und das strategische Aufrufen der Begriffe der dynamis und dynasteia untersucht werden. Fragehorizont und -kontext der parrhesia. Der konkrete Kontext dieser bemerkenswerten Stelle ist die Untersuchung des Begriffs und der Praktik der antiken parrhesia, des Wahrsprechens, die Foucault in seinem Bemühen um eine »Geschichte [. . .] des politischen Diskurses« unter dem »methodologischen Gesichtspunkt« einer »politische[n] Dramatik des wahren Diskurses« aufspüren wollte (RSA, 98). Die Geschichte des politischen Diskurses in seiner Verknüpfung mit dem Diskurs der Wahrheit, der traditionell derjenige der Philosophie ist, also die Ko-Konstitutionsgeschichte von philosophischer, politischer und kritischer Praxis zu untersuchen, stellt einen weiten, wenn nicht gar den weitestmöglichen Fragehorizont aus der Perspektive des politischen Denkens dar. Unter ›Denken‹ versteht Foucault hier – mit einer überraschenden Reminiszenz nicht nur an Kant, sondern auch an Hegel 345 – das praktische Verbindungsverhältnis zwischen Menschen oder, wie er es nennt: die »Brennpunkte der Erfahrung [. . .], an denen sich die einen gegenüber den anderen artikulieren« (ebd., 15, vgl. DE IV / 340, 709–710). Die Erfahrung reflektiert sich in drei Elementen: Wissensformen und »Veridiktionsmodi«, Matrizen der Macht als »Techniken der Gouvernementalität«, Subjektivierungsoptionen als »Selbst343 Die griechischen Termini werden im Original (Suhrkamp-Ausgabe) konsequent kursiv gesetzt, sämtliche Zitate übernehmen die Kursivsetzung fortan, ohne sie extra auszuweisen. 344 Eine der wenigen Besprechungen dieser Stelle, allerdings ohne Beachtung der terminologischen Differenz von dynasteia und dynamis, finden sich bei Vogelmann (2012), 207–210, und Wieder (2019), 69–71. 345 Vgl. ebenso Vogelmann (2012), 208, Fn. 22, der das Aufrufen des Begriffs der Erfahrung in den Texten der 1980er bei Foucault bemerkt hat und auf den passenden Aufsatz von O’Leary (2010) verweist; siehe jüngst auch Lemke (2019).

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praktiken« (RSA, 15–18, MW, 23). Diese wiederum bilden drei »Achsen« der Analyse (RSA, 16): erstens »die Formen eines möglichen Wissens; zweitens die normativen Verhaltensmatrizen der Individuen; und schließlich virtuelle Existenzmodi für mögliche Subjekte« (ebd., 15). Nun arbeitet dieser historische Fragehorizont der Verbindung von wahrem und politischem Diskurs, wie so oft bei Foucault, der Aufgabe einer Revitalisierung und Aktualisierung des Projekts eines kritischen Denkens in der aufklärerischen Tradition von Immanuel Kant zu. Foucault bezeichnet diese Form des kritischen Denkens als »Ontologie der Gegenwart«, »Ontologie der Aktualität« oder, mit deutlicherem Subjektbezug, »Ontologie unserer selbst« (RSA, 39–40). 346 Die Ontologie der Gegenwart als Ontologie unserer selbst stellt eine bestimmte Weise der Annäherung an die »Frage nach dem Subjekt und der Wahrheit dar«, nämlich nun nicht mehr nur über die Praktiken des Diskurses, sondern »vom Standpunkt der Praxis dessen [. . .], was man die Regierung des Selbst und der anderen nennen könnte« (MW, 23). Die Frage nach dem Subjekt soll also jetzt über die Regierungsthematik mit Bezug auf die konkrete Wahrheitspraktik im politischen Diskurs und in der Politik vertieft werden: Inwiefern, so lautet seine arbeitsleitende Frage, steht die Praktik und »Möglichkeit des Wahrsprechens in den Verfahren der Regierung« mit der »Konstitution eines Individuums als Subjekt für sich selbst und für die anderen« in Beziehung? (RSA, 64–65) Im Rahmen dieser Fragestellung identifiziert Foucault die antike griechische parrhesia als Zentrum und Ankerpunkt der brisanten Kreuzung von (Pflicht zum) Wahrsprechen, Gouvernementalitätstechniken und Selbstkonstitution (ebd., 68). Das Problem der parrhesia. Foucaults Ziel seiner Untersuchungen des Begriffs der parrhesia in einer Reihe von antiken griechischen Texten, Dramen und Abhandlungen, ist es, diesen Begriff als einen politischen Begriff bzw. einen Begriff mit politischer Tragweite auszuweisen. Die parrhesia stehe, so insistiert Foucault, einem performativen Sprachakt entgegen. Zur Annäherung an diesen Begriff hält Foucault zunächst fünf aufeinander aufbauende, präzisierende Charakteristika der parrhesia fest, so wie sie durchweg in den antiken griechischen Texten aufscheinen. Demnach ist die parrhesia also (1) »eine bestimmte Art zu sprechen«, (2) »eine Art, die Wahrheit zu sagen«, (3) eine für die die Wahrheit aussprechende Redner:in risikoreiche Äußerung, (4) eine Selbstverpflichtung gegenüber der Wahrheit und der Äußerung der Wahrheit der das Risiko eingehenden Redner:in, (5) schließlich eine autonome 346 Vgl. die changierenden Bezeichnungen in dem Text »Was ist Aufklärung?« (DE IV / 339, 702– 703): »historische Ontologie unserer selbst«, »kritische Ontologie unserer selbst«. Vgl. zu einer kritischen Argumentation, inwiefern Foucaults Ansatz einen fruchtbaren Beitrag zum philosophischen Unternehmen einer Ontologie nach Kant liefert Gabriel (2012) und zu den Ontologie(n) von Foucault Schölzel (2019).

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und freimütige Selbstbindung, »parrhesia ist der freie Mut, durch den man sich selbst in der Handlung des Wahrsprechens bindet« (RSA, 93–94). Während diese Charakterisierung die gängigen Übersetzungen mit »Freimut« und »Wahrhaftigkeit« stützt, kommt es Foucault auf zwei andere begriffliche, im engeren Sinne politische Dimensionen – oder besser: Bezüglichkeiten – an, die er anhand der Geschichte von Polybios (200–120 v. Chr.) und Euripides' Ion und Die Schutzflehenden (manchmal auch übersetzt mit »Die Hilfeflehenden«) (ca. 480–406 v. Chr.) ausweist. Die erste Dimension, dem Text von Polybios entnommen, ist der Bezug der parrhesia auf eine »politische Struktur, die das Gemeinwesen auszeichnet« (RSA, 100). Parrhesia wird hier als dritte wesentliche Eigenschaft einer Herrschaftsform aufgezählt; die anderen beiden Eigenschaften sind die demokratia, die Teilhabe des demos an der Machtausübung, und die isegoria, die Gleichheit der Bürger hinsichtlich ihrer Rechte, Pflichten und ihrer Freiheit. 347 Parrhesia bildet hier also ein Element einer bestimmten politischen Struktur (der Archäer) (ebd., 100–102). Gemäß der zweiten Dimension, die Foucault aus den Texten von Euripides herausarbeitet, verweist die parrhesia auf »den sozialen und politischen Status bestimmter Personen innerhalb dieses Gemeinwesens«, in das der Parrhesiast hineinspricht und durch seine Rede Macht ausübt. Die parrhesia konnte laut dem Text Ion tatsächlich nur mütterlicherseits ererbt werden (ebd., 100, 200). Nicht alle Menschen und nicht einmal alle Bürger besaßen damit gemäß ihrer demokratischen Verfassung (politeia) das Recht zur freien Rede im Allgemeinen und sich in der Bürger-Versammlung zu erheben im Besonderen. Genau genommen gab es in der attischen Demokratie nur eine kleine Elite aus Bürgern von hinreichend angesehener Herkunft und Bildung, die sich tatsächlich in der Bürgerversammlung durch Redebeiträge und Ratsbeschlüssen beteiligte – die also aktiv politisch tätig waren und dadurch Macht ausübte. In der demokratischen politeia gab es daneben noch eine Vielzahl von Bürgern, die neben den einfachen Leuten des Volkes gänzlich machtlos (adynatos) waren und Bürger, die zwar potentiell aufgrund ihres Reichtums und ihrer Bildung zur politischen Teilhabe berechtigt waren, sich aber nicht an der politischen Machtausübung, d. h. an den Angelegenheiten des Staates beteiligten (ebd., 135). Die politische Teilhabe und damit das Recht und die faktische Ausübung der parrhesia waren also nicht nur tief in die bürgerliche Binnendifferenzierung, die der Verfassung der Demokratie zugehörte, sondern auch in die politische Faktizität der konkreten Machtausübung verankert. Foucault identifiziert darin zwei getrennte, 347 Den Archäern, einer Bevölkerung, die die Landschaft Achaia im nordwestlichen Teil der Peloponnes bewohnte, wurde eine Herrschaftsform nachgesagt, so erzählt es Polybios, die sich durch diese drei Kriterien, demokratia, isegoria, parrhesia auszeichnete (RSA, 100–101).

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aber über die parrhesia miteinander vermittelte Problemfelder: zum einen die Probleme der (städtischen) Verfassung, die »Probleme der politeia«, zum anderen die »Probleme der dynasteia, die Probleme der Macht im strengen Sinn, Probleme der Politik« (RSA, 207). Die Probleme der dynamis und dynasteia. Für die vorliegende Untersuchung ist nun von vorrangigem Interesse, wie Foucault das Problem der Politik, das er als eines der konkreten Machtausübung in der Gemeinschaft identifiziert, beschreibt und welche begrifflichen Differenzierungen er aufbringt. Zunächst sei noch einmal der komplexe Argumentationszusammenhang aufgerufen: Foucault stellt die weitreichende These auf, dass die Probleme der Politik Probleme »des politischen Spiels als Erfahrungsfeld mit seinen Regeln und seiner Normativität« sind: »als Erfahrung, insofern dieses politische Spiel an das Wahrsprechen geknüpft ist und insofern es seitens derjenigen, die es betreiben, eine bestimmte Beziehung zu sich selbst und den anderen erfordert« (RSA, 207). Politik als reale praktische Tätigkeit ist also einerseits durch die politeia festgelegt, die den Zugang zur Politik restringiert, andererseits von der Möglichkeit zur parrhesia der politisch aktiven Bürger abhängig, wobei die parrhesia selbst wiederum durch die konkrete Situation der Machtausübung festgelegt ist, die sich aus der Verfassungsform und Verfassungswirklichkeit der politeia ergibt. Letzteren Problemkomplex bezeichnet Foucault nun sowohl als »Problem der dynamis« (ebd., 203) als auch als »Problem(e) der dynasteia« (ebd., 206–208). 348 Dabei gibt Foucault selbst weder eine Erklärung für die jeweilige Begriffswahl noch ein Differenzmerkmal zwischen dynamis und dynasteia an. Meine Interpretationsthese lautet, dass Foucault die Begriffe strategisch auswählt, um zwei jeweils verschiedene Aspekte der Machtausübung hervorzuheben: zum einen den Aspekt der Dynamik und Bewegung des agonistisch strukturierten politischen Spiels, zum anderen den Aspekt der Techniken, Regeln und Institutionalisierungen dieses Spiels. Ohne auf die begrifflichen Bestimmungen und Verwendungsweisen bei Aristoteles zu referieren, bewegt sich Foucault, wie gleich aufgezeigt wird, in Konsistenz mit ihnen. 349 Beginnen wir mit dem Aufrufen der dynamis. Um auf das Problem der Politik hinzuleiten, erinnert Foucault an die Klassifikationen von Bürgern (er hatte sie bereits in der dritten Sitzung vom 19. Januar 1983 eingeführt). Im Rahmen einer erweiterten, nachgerade dynamisierten Interpretation präsen348 Dynasteia taucht noch weitere Male in der Vorlesung Regierung des selbst und der anderen auf: mit Bezug auf Thukydides’ Peloponnesische Kriege (RSA, 226, 236), mit Bezug auf Platons Der Staat (ebd., 252, 277), außerdem als Direktzitat von Euripides »dynamenoi«, von Foucault expliziert als »diejenigen, die etwas können, denen ihre Herkunft, ihr Status, ihr Reichtum die Mittel verschafft, Macht auszuüben« (ebd., 136). 349 Vgl. auch Kap. 6.3.1 (K6) und Kap. 6.4.1 c) (K11 der aristotelischen dynamis).

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tiert er drei Kategorien oder Klassen an Bürgern der attischen Demokratie. Das ausschlaggebende Kriterium zur »Klassifikation der Bürger« sei nicht deren Reichtum, sondern »das Problem der dynamis (von der Gewalt, von der ausgeübten Macht, der Machtausübung)« (RSA, 203). Genau genommen, so legt es Foucault aus, ist die politische Teilhabe qua parrhesia und vice versa also nicht durch den Status des Bürgers determiniert, vielmehr charakterisiert die parrhesia eine bestimmte Position der Überlegenheit, die durch individuellen Einsatz und Bemühen eingenommen (aber auch wieder verspielt) werden könne. Die Position geht über den Status eines Bürgers hinaus und verleiht seiner faktischen Machtausübung ein variables Moment. Die Position des politisch tätigen Bürgers »zeichnet« sich, so beschreibt es Foucault jetzt, »durch eine Dynamik, eine dynamis aus« (ebd.). Das lässt aufhorchen. Die Machtausübung ist von einer wettbewerbsartigen Prozesshaftigkeit bedingt und umgeben: sie findet in einem hochdynamischen Spielfeld, das das Spiel der Politik begründet, statt. Die Dynamik des Spiels resultiert aus dem hoch kompetitiven und rivalisierenden Ränkespiel (»Kampf oder Konflikt«) der politischen Elite untereinander. Dadurch ist die parrhesia nicht nur eine (zu)gesicherte Möglichkeit und ein Recht des Wahrsprechens, sondern weist auch »eine dynamische und eine agonistische Struktur« auf (ebd., 204). Die in der parrhesia verwirklichte Machtausübung ist also verwiesen auf »eine Dynamik, eine Bewegung«, die den Bürger überhaupt erst in die überlegene Position bringt, Macht ausüben zu können bzw. an der Machtausübung teilnehmen zu können. In der Betonung des nachhaltigen Bewegungsbezugs der Praxis der Machtausübung, nämlich als bewegungsbedingt und bewegungslenkend, verwendet Foucault den Begriff der dynamis anstelle der dynasteia. Macht ausüben wird hier als »Aktivität« (ebd., 204), als Regieren und Lenkung der anderen charakterisiert. Das wird kein Zufall sein, eher schimmert hier eine verdeckte Referenz zur aristotelischen dynamis kata kine¯sin und zur arche¯ politike¯ durch. Es ließe sich sogar noch einen Schritt weiter gehen: Indem Foucault just in der Betonung des dynamischen Charakters der Position zur Machtausübung und der Machtausübung selbst die Figur des Spiels im Modus des Kampfes und damit das zentrale Strukturmoment seines eigenen Machtbegriffs aufruft, führt er die dynamis als bewegungsbezüglichen Machtbegriff mit seinem eigenen Machtbegriff zusammen. Obwohl Foucault an keiner Stelle auf die dynamis der Metaphysik des Aristoteles verweist, scheint sie hier doch eine stille Referenz zu sein. 350 350 Dass Foucault von der dynamis in ihrer kinetischen Konfiguration höchst wahrscheinlich Kenntnis hatte, verraten auch zwei weitere Stellen in Regierung des Selbst und der anderen. So zitiert Foucault die berühmte Stelle des geforderten Zusammenkommens von Philosophie und Königsherrschaft (philosophoi basileuso¯ sin) in Platons Staat (V, 473c11–e1) als Hand-in-Hand-Gehen von »politischer Macht und Philosophie« (dynamis te politike¯ kai philosophia). Dabei greift er die

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Nachdem Foucault festgestellt hat, dass die parrhesia im Grunde eine dynamische Struktur aufweist und insofern Bewegung ist, die sich als dynamis im politischen Feld äußert, kontrastiert er die Probleme der Machtausübung mit der Gruppe von Problemen, die er »die Probleme der politeia« nennt. Verfassungsprobleme sind nicht gleich Machtprobleme und vice versa. Außerdem befinde die Politik sich nicht in einem Kontinuum zu einem Konstrukt wie »›das‹ Politische« – hier verweist Foucault auf zeitgenössische Diskussionen in der französischen Philosophie und politischen Theorie (RSA, 207). 351 In diesem Kontext der Kontrastierung von Verfassungsproblemen und Problemen der Machtausübung hebt Foucault auf den regulativen und normativen Charakter der Machtausübung ab und greift auf den Begriff der dynasteia zurück: »Das griechische Wort dynasteia«, sagt Foucault, »bezeichnet [erstens; L. B.] die Macht, die Ausübung der Macht – später [bei Aristoteles; L. B.] nimmt es den Sinn der Oligarchie an.« 352 »[I]n seinem allgemeinsten Sinn«, führt er fort, »handelt [es] sich im Grunde um die Ausübung der Macht oder um das Spiel, durch das die Macht in einer Demokratie tatsächlich ausgeübt wird« (ebd., 206). Neben der Charakterisierung als »Spiel« sei zweitens »[d]ie dynasteia [. . .] auch die Gesamtheit der Probleme der Verfahrensweisen und Techniken, durch die Macht ausgeübt wird«, die wiederum mit den Techniken der parrhesia konvergieren. Und drittens verweise die dynasteia auf die Frage des Verhältnisses des Politikers zu sich selbst und zu anderen, d. h. die Frage nach »seiner Moral, [. . .] seinem ethos« im Wahrsprechen (ebd.).

anderen beiden gängigen (vorphilosophischen) Verwendungsweisen von dynamis als Vermögen der Medikamente zu wirken (RSA, 418) und als rhetorische »Kraft der Rede [die Macht der Rede: logou dynamis; M. F.]« auf (ebd., 419). 351 Es macht den Eindruck, als ob Foucault die Kategorie ›des Politischen‹ analytisch für unbrauchbar hält: »[N]ichts scheint mir gefährlicher als jener berüchtigte Übergang von der Politik zum Politischen mit sächlichem Artikel (›das‹ Politische), der mir in vielen zeitgenössischen Analysen dazu zu dienen scheint, das Problem und die Gesamtheit der besonderen Probleme zu verdecken, nämlich die Probleme der dynasteia« (RSA, 207). Vogelmann interpretiert diese Stelle so, dass Foucault sich dagegen wehrt, ›dem‹ Politischen »einen transhistorischen Kern – die Unterscheidung von Freund und Feind, die Umwälzung der Aufteilung des Sinnlichen, die Formgebung der Gesellschaft etc. – zuzuschreiben« (Vogelmann [2012], 208; vgl. Wieder [2019], 70). Ob Foucault an dieser Stelle die Differenz von ›die‹ Politik und ›das‹ Politische in theoretischer und analytischer Hinsicht negiert (eine Deutung, die meines Erachtens diese Stelle durchaus zulässt), oder ob er eine ›Transhistorisierung‹ des einen oder anderen oder von beiden ablehnt, und ob nicht Foucault mit dem agonistischen Strukturprinzip seines Machtbegriffs eine historisch variable methodologische Invarianz einführt, muss hier offen bleiben. Richtig und wichtig erscheint mir jedoch, dass es Foucault hier, d. h. in seiner »Genealogie des politischen Diskurses«, um das Aufweisen der Kontingenz und Historizität der Politik als Tätigkeit und Erfahrung geht (vgl. ebenso Vogelmann [2012], 209; Wieder [2019], 70). 352 Vgl. Kap. 6.4.1 c) (= K11 der aristotelischen dynamis).

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Foucaults Machtbegriff

Zusammenfassung. In der Komponente der kategorialen Nachbarschaft konnten begriffliche Zusammenhänge herausgearbeitet werden, die in der Foucault-Rezeption bisher vernachlässigt worden sind. Das ist zum Ersten die Verwendungsweise und der Bezug der Genealogie und der Machtkonzeption Foucaults auf die wissenschaftstheoretische Kategorie der Kausalität (a), zum Zweiten die begriffsstrukturellen Bezüge von Macht- und Technikbegriff aufgrund einer gemeinsamen inhärenten Bewegungsbezogenheit beider Begriffe (b), schließlich Foucaults Arbeit mit den Begriffen der dynamis und dynasteia im Kontext einer Präzisierung der Frage nach der konkreten Machtausübung in einem demokratisch verfassten Staat (c). In Foucaults Analyse der griechischen Demokratie sind die Bewegungsstruktur und die spielbezogene normative Regelstruktur die beiden großen Bereiche, die der Machtausübung zukommen. Je nachdem, welcher der beiden Aspekte betont wird, wählt Foucault treffend die dynamis für ersteren und dynasteia für letzteren.

8.5.2 Begriffliche Verzweigungen (K12)

Im Rahmen einer begrifflich-diagrammatischen Untersuchung erweist sich der Begriff der Freiheit als der wichtigste und auf das Engste mit Foucaults zweischichtigen Machtbegriff verzweigter Begriff. Freiheit ist ein Begriff, der dem foucaultschen Machtbegriff Exo-Konsistenz verleiht. Die Rezeptionslage. Zum Begriff der Freiheit und den Problemen der Freiheit ist im Zusammenhang mit Foucaults Machtanalytik in der Foucault-Rezeption viel geschrieben worden. 353 Aus einer sozialphilosophischen und normativen politisch-theoretischen Perspektive der Problemstellung evoziert der Machtbegriff für sich selbst bereits die Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung zum (oder zu einem) Begriff der Freiheit. Denn Machtausübung ohne freiheitliche Basis im Sinne eines gesicherten Maßes an Handlungsfreiheit, so lautet eine gängige Position, der sich Foucault in der Grundidee auch anschließt, transferiert Machtausübung unweigerlich in ein Herrschafts- und Ge353 In jüngster Zeit hat Karsten Schubert (2018, 2019) eine systematisierende Rekonstruktion dieser Debatten vorgelegt, auf die hier dankbar verwiesen und zurückgegriffen wird. Schuberts inhaltliche Argumentation, mit Foucaults Freiheitsbegriff(en) eine »Institutionalisierung von Freiheit« als sedimentierte Form einer »Freiheit als Kritik«-Konzeption zu stützen, halte ich allerdings für unplausibel, da sich Foucault mehrfach explizit gegen eine kritische Analyse in der Form einer Institutionenanalyse ausspricht und Institutionen (anders als Praktiken) für Foucaults eher auf der Seite der Herrschaft denn auf der Seite der Macht zu verorten sind (nämlich als Kristallisationen von Machtverhältnissen). Zudem wäre zu fragen, ob nicht am Ende doch Hegel und sein Begriff der Sittlichkeit ein besser geeigneter Gewährsmann für eine Exploration von Freiheitsproblemen aus politisch theoretischer und sozialphilosophischer Perspektive wäre.

Begriffsmilieu II

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waltverhältnis (vgl. DE IV / 306, 287). 354 Ein Machtbegriff, der die Erzeugung von Wirkungen zu seinem wesentlichen Element hat, benötigt einen ihm beigestellten Begriff von Nichtdeterminiertheit oder in vollerem Sinne »Freiheit«, »weil sonst die Idee einer Wirkung von Macht keinen Sinn hätte.« 355 In dem späten Gespräch, das unter dem Titel »Subjekt und Macht« (1982) publiziert wurde, konstatiert Foucault sogar ein ontologisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen Freiheit und Macht, wonach »Freiheit die Voraussetzung für Macht (als Vorbedingung, insofern Freiheit vorhanden sein muss, damit Macht ausgeübt werden kann, und auch als dauerhafte Bedingung [. . .])« ist (DE IV / 306, 287). Ungeachtet dieser klärenden Darstellung habe Foucaults Machtanalytik der ersten Phase (um die Mitte der 1970er) gemäß einer Standardinterpretation in der Diskussion um Macht und Freiheit bei Foucault dennoch »eine defiziente Subjekt- und Freiheitskonzeption gehabt«, die er durch den Regierungsbegriff und die Hinwendungen zu den Selbstpraktiken des Subjekts »korrigiert« habe. 356 Dieser Interpretationsansatz steht nicht nur der erwähnten Notwendigkeit einer offenen sozialen Wirk(räum)lichkeit für die Etablierung von Machtverhältnissen entgegen; wo die Macht nicht ihre Spiele austragen kann, hat sie keine Wirklichkeit und Intelligibilität. Auch aus begrifflich-diagrammatischer Perspektive erscheint es plausibler, zunächst einmal je begriffliche Ebene verschiedene Begriffsnachbarschaften oder, wie in diesem Fall, Nachbarschaften zu verschiedenen Konzeptionen eines benachbarten Begriffs zu vermuten und aufzuspüren. Es erscheint fruchtbar, in dieser Weise auch in Bezug auf den foucaultschen Machtbegriff vorzugehen, sodass also entlang der beiden Ebenen des Machtbegriffs zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe oder unterschiedliche Konzeptionen von Freiheit herauszuarbeiten sind. 357 Freiheitsbegriff zur ersten Ebene des Machtbegriffs. Laut der Standard-Lesart, die u. a. auch in der wirkmächtigen Foucault-Monographie Eine Kritik der politischen Vernunft von Thomas Lemke zu finden ist, sei das von den Macht / Wissen-Komplexen effizierte Subjekt machtdurchwirkt 358. Indem das Subjekt 354 »Macht kann nur über ›freie‹ Subjekte ausgeübt werden, insofern sie ›frei‹ sind [. . .]. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehungen geben. Sklaverei ist keine Machtbeziehung, wenn der Mensch in Eisen geschlagen ist (dann handelt es sich um ein Verhältnis physischen Zwangs); sie ist es nur dann, wenn er sich frei bewegen und letztlich auch entfliehen kann« (DE IV / 306, 287). 355 Saar (2007), 281. 356 Schubert (2019), 51–52. 357 Zwei Freiheitsprobleme und Freiheitsbegriffe bei Foucault zu differenzieren, ist im Kern auch Schuberts (2018, 2019) Argumentationsstrategie. Allerdings unterscheiden sich unsere Entgegnungen inhaltlich. 358 Lemke (1997), 110–125.

Foucaults Machtbegriff

476

der (bloße) Effekt bzw. die Wirkung der Macht ist (vgl. VG, 39), sei es von der Macht »(über-)determiniert« und damit »Freiheit tendenziell als ›Illusion‹« 359 zu betrachten. Und schließlich sei auch die Möglichkeit der Freiheit des Subjekts durch die These der Ubiquität der Macht blockiert, wenn nicht gar verunmöglicht. 360 Schubert skizziert diese Position das Thema Freiheit ganz treffend als »Freiheitsproblem der Machtdetermination«. 361 In der Standard-Lesart liegt m. E. ein Fehlschluss von einer Konstituierungsanalyse auf eine Determinationspräskription vor, kurz: von Konstituierung auf Determination. Ziel und Aufgabe der historischen Machtanalytik ist es nicht, materiale Aussagen über die (Handlungs- oder Willens-) Freiheit des Subjekts oder umgekehrt über dessen totale Bestimmtheit und Determination zu tätigen – das ist schlichtweg nicht Foucaults (primäres) Problemfeld an dieser Stelle seiner genealogischen Untersuchungen. 362 Vielmehr geht es in der Genealogie darum, die Herkünfte von bestimmten Subjektvierungsformen und Wahrheitspraktiken (dramatischarchivarisch) anhand von historischen Praktiken und Rationalitäten der Subjektkonstitution aufzuspüren. Foucault macht also streng genommen keine Aussagen über die (totale) Handlungsdeterminierung des Subjekts im Rahmen seiner historischen Analyse der Konstituierung und Formation von Individuen als Subjekte eines bestimmten Machtdispositivs. Allerdings adressiert er das Problem der Freiheit implizit im Rahmen seines Machtbegriffs als strategisch formierte Kräfteverhältnisse, indem er die Machtbeziehungen aus der Logik der Kräfteverhältnisse emergieren lässt. In der Logik und in der Empirie der Kräfteverhältnisse gibt es mindestens zwei agonal gegeneinander strebende Kräfte(konglomerate), die durch Obsiegen der einen Kraftseite für eine Weile in einer Region stabilisiert werden und dann den Namen »Macht« tragen. Aus dem Tableau der dynamis kata kine¯sin 363 und dem von (Darwin-)Nietzsche informierten Strukturprinzip der Kräfteverhältnisse (K8) lassen sich strukturlogische Schlüsse ziehen: in der Grundstruktur ähnlich wie die Agentiv-patentiv-Korrelation der dynamis kann auch Macht verstanden als Kräfteverhältnis nur in der Korrelation und Polarität von Kräften auftreten, die sich in sozialontologischer Hinsicht als korrelative agonale Kräfte abbilden. Ein Part dieser korrelativen Beziehungen wird durch die Widerstandskräfte gebildet, die keinesfalls »nur die passive und unterleLemke (1997), 117, 111. Vgl. Schubert (2019), 52–53. 361 Ebd., 53, Herv. i. O. 362 Ähnlich sieht es Schubert (2019), 57, der sich in seiner Analyse auf den genealogischdramatischen Zugang von Saar stützt. Bereits Saar (2007), 222–224, hat die Lesart der (totalen) Machtbestimmtheit des Subjekts zu entkräftigen versucht. 363 Vgl. Kap. 6.2.2 (K7). 359 360

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gene Seite« (SW 1, 96) darstellen. Widerstandskräfte tauchen in verschiedenen Varianten auf: eher einzeln, singulär oder kollektiv, »mit größerer und geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt« (ebd.). Die Widerstandskräfte, aktuell noch der unterlegene Part in einem Kräfteverhältnis, gehen agentiv gegen die herrschenden Kräfteverhältnisse vor, um sie in kleinen Schritten zu verschieben oder in großer kollektiver Vereinigung zur Umwälzung zu bringen. Und in der schwächeren, aber global und lokal strategisch nicht weniger gewichtigen Variante sind es jene unregelmäßig verstreuten Kräfte, die Widerstand durch ihre Fähigkeit, durch ihr Vermögen, nicht bewegt oder formiert zu werden, leisten. Foucault nennt diese Widerstandskräfte »Widerstandspunkte, -knoten und -herde«, die in der Logik der Kräfte und der Machtbeziehungen »das nicht wegzudenkende Gegenüber« darstellen (ebd.). Indem Widerstandskräfte den einen Part der gegenläufigen Kräfte innerhalb von Kräfteverhältnissen darstellen, aus denen Machtbeziehungen entstehen, sind die Widerstandskräfte den Machtbeziehungen gleichursprünglich. 364 Die Widerstandskräfte wiederum performen ein Gegen-Handeln, sodass sich Widerstandskräfte durch ein ihnen inhärentes Freiheitsmoment beschreiben lassen. Die »Formel ›Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand‹« bedeutet also, so fasst es Saar treffend zusammen, »›Wo es Macht gibt, gibt es Freiheit‹«. 365 Hier hilft eine Klarstellung: Im Rahmen der Kräfteverhältnisse bilden die Widerstandskräfte, die zugleich ein Freiheitsmoment darstellen, einen elementaren, gleichurspünglichen Gegenpart zu anderen Kräften des Spiels der Macht. 366 In ontologischer Hinsicht liegt die Freiheit in den Kräftefeldern der Ausbildung einer Machtbeziehung voraus, da das freiheitliche Zusammentreten von sozialen Kräften (Individuen, Kollektiven) die Bedingung der Existenz von sozialen Kräfteverhältnissen und Machtbeziehungen darstellt. Ohne eine basale Freiheit der Subjekte kann es keine Machtausübung geben. Der in dieser Art von ›Onto-Logik‹ der Kräfte implizit adressierte Freiheitsbegriff ist somit zusammenfassend ein relativer und negativer Freiheitsbegriff. 367 Relativ insofern, als sich die Widerstandkräfte und ihr Gegen-Handeln immer in einer bestimmten Kräftekonstellation mit einem in der Regel restringierten Reservoir an instrumentellen Ressourcen agieren, gebunden an die je zeitgemäßen Techniken und in ständiger Antizipation und Kalkulation der Stärke 364 Vgl. Nonhoff und Gronau, die eine Gleichursprünglichkeit von Subjekt und Diskurs und von der kontingenten Offenheit der Diskurse und ihrer Subjektpositionen und eine Freiheit der Subjekte in ihren »Akten der Artikulation« im Diskurs ableiten. (Nonhoff / Gronau [2012], 123–126, hier: 124, Herv. i. O.) 365 Saar (2007), 283. Vgl. dazu Foucault: »Wenn es Machtbeziehungen gibt, die das gesamte soziale Feld durchziehen, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt« (DE IV / 356, 890). 366 Saar (2007), 284. 367 Vgl. Saar (2007), 281–282; Schubert (2019), 55.

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Foucaults Machtbegriff

und Wendigkeit der Gegenkräfte. Zugleich entspricht der Freiheitsbegriff in der Funktion einer Voraussetzung von Machtausübung dem Typ eines negativen Freiheitsbegriffs: Frei sind die Subjekte der Machtbeziehungen, insofern sie »sich bewegen« können (DE IV / 306, 287) und ihre Handlungen nicht permanenten Hindernissen unterliegen. 368 Dass Foucault die kräftebasierte Machtkonzeption mit einem klassischen negativen Freiheitsbegriff verknüpft, ist durchaus kohärent, denn die inhärenten Bezüge zur Körperlichkeit und Bewegung(smöglichkeit) des negativen Freiheitsbegriffs kongruieren mit den ebenso inhärenten Bewegungs- und Körperbezügen von (physischen und sozialen) Kräften. Dieser Aspekt wird durch das von ihm gewählte Vokabular untermauert, wonach in einer Machtbeziehung den Subjekten eine gewisse physische Bewegung und Möglichkeit zum Austritt aus der Machtbeziehung zukommt. Freiheitsbegriff zur zweiten Ebene des Machtbegriffs. Wurde der Freiheitsbegriff auf der ersten Ebene des Machtbegriffs nur implizit über die Widerstandspunkte in einem Kräftefeld adressiert, so beschreibt Foucault auf der zweiten Ebene des Machtbegriffs, die Macht als Regierung im Sinne eines »auf Handeln gerichtete[n] Handeln[s]« begreift, Freiheit als »wichtiges Element« (DE IV / 306, 287). Freiheit ist für die Regierungsbeziehung ontologisch vorrangig und konstitutiv für die Eröffnung des Regierens von Menschen (ebd.). Der Status der Freiheit des Regierendengegenüber dem Regierten sollte aber nicht mit einer dialektischen Knecht-Herr-Relation verwechselt werden, vielmehr intensiviert sich die Bedeutung von Freiheit auf der Seite der Regierten bzw. des geführten Subjekts, sodass sich ein »›Agonismus‹« einstellt, der »durch gegenseitiges Antreiben und Kampf geprägt ist«. 369 In diesem agonalen Kampf, der niemals in einen Antagonismus, eine Verfeindung der Subjekte münden darf, wenn er sich als Regierung aufrechterhalten will (ebd.), positiviert sich Freiheit zu einer »Praxis der Freiheit« (DE IV / 356, 879), die in dem Doppelverhältnis des Selbst zu sich selbst und zu anderen lokalisiert ist. Anders ausgedrückt ereignet sich Freiheit im Modus der Regierung nicht mehr nur als Gegen-Handeln, sondern als gezielte Praktiken des Selbst, die immer auch mit Beziehungen zu anderen verknüpft und in Verfahren der Regierung und der Gouvernementalität eingebettet sind. Schubert nennt die Problematik der Freiheit im Rahmen einer solchen »Pragmatik des Selbst« (RSA, 18) treffend 368 Zum negativen Freiheitsbegriff sei hier klassischer Weise verwiesen auf Berlin (2002) und Carter (2019). Der negative Freiheitsbegriff, den Foucault aufruft, ist nicht zu verwechseln mit einer bloßen ›Negativfolie‹ der Freiheit für die Macht, so z. B. zu finden bei Ruoff (32013), 132. Jenseits der Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit hat Johanna Oksala (2005), 208–210, Foucaults Freiheitsbegriff als operationalen Begriff bewertet. 369 Ebd., 287–288.

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»Freiheitsproblem der Subjektvierung«. 370 Mit Saar fügen »die Selbstpraktiken und Selbsttechniken [. . .] dem Feld der Kräfte ein Element sui generis hinzu, das nicht unter die Macht subsumiert werden kann, nämlich die Kräfte und Wirkungen, die vom Selbst ausgehen und auf das Selbst wirken.« 371 Freiheitspraktiken können allerdings auch nicht den Status von Kräften sui generis annehmen, sondern sind, im Modus eines staatlich angeleiteten Laissezfaire, ein gouvernemental-strategisch anberaumtes »Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven« (GG 1, 78). In dieser historischen Konstellation, die im 18. Jahrhundert mit der liberalen Politik einsetzte und bis heute andauert, subsumiert sich die Freiheit des Einzelnen als »zugleich Ideologie und Technologie der Regierung« unter dem großen kapitalakkumulativen Komplex der »Zirkulationsfreiheit« (ebd.). Dies sei hier vorschlagsweise als das Freiheitsproblem des liberalen Subjekts bezeichnet. 372 Freiheitspraktiken. Mit Foucault lassen sich mindestens vier verschiedene Arten von Praktiken der Freiheit unterscheiden. Zunächst können Freiheitspraktiken in einem weiteren Sinne, nämlich politische Praktiken der Befreiung und Befreiungskämpfe, die Möglichkeiten von Freiheitspraktiken in einem engeren Sinne, d. h. von Selbstpraktiken, überhaupt erst eröffnen. Foucault nennt hier die Befreiungskämpfe der Sexualität (DE IV / 356, 878–879). Die Freiheitspraktiken in einem engeren Sinne stellen für Foucault die »ethischen« Praktiken der Freiheit dar, worunter er programmatisch die reflektierte »Sorge um sich selbst« fasst. Ethische Freiheitspraxis zeichnet sich durch ihre Reflexivität aus, sodass Foucault Ethik als »die reflektierte Praxis der Freiheit« und als »die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt«, bestimmt (ebd., 879). Drittens sieht Foucault im 16. Jahrhundert eine bestimmte Freiheitspraktik aufsteigen, die er als »Kunst« beschreibt. Diese berühmte Kunst versteht sich gewissermaßen als Kunst der Gegen-Regierung, denn sie ist »die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden«, kurz: »die Kunst[,] nicht dermaßen regiert zu werden [l'art de n'être pas tellement gouverné]« (WK, 12; frz., 38). Daran schließt sich eine vierte Form der Freiheitspraxis an, nämlich die Form der genealogischen Kritik selbst. Man kann sie entweder eine methodische Freiheitspraxis oder eine Freiheitspraxis zweiter Ordnung nennen, insofern sie sich allein im Feld der Archive der Wissenschaften und Literaturen abspielt. Sämtliche genealogischen Projekte bzw. machtanalytischen Tiefenbohrungen und historisch-kritischen Ontologie-Unternehmungen stellen ForSchubert (2019), 53, Herv. i. O. Saar (2007), 284. 372 Grob formuliert zirkulieren die Gouvernementalitätsstudien genau um dieses Freiheitsproblem, das durch Foucaults Konzept der Gouvernementalität aufgedeckt worden ist. Vgl. einschlägig dazu Bröckling / Krasmann / Lemke (2000); Biebricher (2008); Bröckling (2013). 370 371

Foucaults Machtbegriff

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men theoretischer Praktiken dar, die dem großen Unternehmen der Kritik als Aufklärung über uns selbst zuarbeiten. »Die kritische Arbeit an der Geschichte unserer Grenzen und Begrenztheiten ist selbst schon aktive Selbstformung und Selbstveränderung.« 373 Insofern ist genealogische Kritik auch Freiheit – Freiheit durch theoretische Praxis. 374 Den vier Praktiken der Freiheit unterliegt ein, wie ich es zu nennen vorschlage, ein praxeologischer Freiheitsbegriff: Freiheit stellt sich in den Praktiken und ihren Bewegungen ein. Nach den vorangehenden Ausführungen nicht mehr allzu überraschend greift nämlich Foucault auch in der Beschreibung der Freiheit als Kritik auf den Bewegungsbegriff zurück. So definiert Foucault, an einer weitaus weniger beachteten Stelle, Kritik als »die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.« (WK, 15, Herv. L. B.) Freiheit als Kritik ist somit selbst Teil eines größeren Spiels, nämlich des großen »Spiel[s]« der »Politik der Wahrheit«, im Rahmen dessen »die Kritik die Funktion der Entunterwerfung [fonction [du] désassujettissement]« einnehmen kann (ebd.; frz., 39). Der praxeologische Freiheitsbegriff ist, obwohl er auf der Positivität von Praktiken fußt, selbst als »leer« oder »offen« zu verstehen 375, denn welche Praktiken eine transformative individuelle oder kollektive gegen-gouvernementale Wirkung erzeugt, kann nicht universal positiv bestimmt werden, sondern ist abhängig von den kontextuellen Dispositiven und »Wahrheitsregimen« 376 der Macht. 377 Zusammenfassung. Es wurde gezeigt, dass mit dem Machtbegriff der ersten Ebene ein relativer Freiheitsbegriff korreliert und mit dem Machtbegriff als Regierungsbegriff ein praxeologischer Freiheitsbegriff verknüpft ist. Beide Machtbegriffe sind nicht als positive Freiheitsbegriffe zu charakterisieren, sondern eher als negative bzw. leere Freiheitsbegriffe, wenn man der klassischen Unterscheidung von positiven und negativen Freiheitsbegriffen in der politischen Theorie folgt. Darin verleihen die Freiheitsbegriffe den MachtkonzeptioSaar (2007), 285. Vgl. Saar (2007); Schubert (2018, 2019). In dem berühmten Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze »Die Intellektuellen an die Macht« definiert Foucault Theorie als Praxis und »regionales System« im »Kampf um die Unterwanderung und Überwanderung der Macht« (Deleuze / Foucault [1977], 89). 375 Saar (2007), 286. 376 Vgl. Nigro (2015). 377 Auch wenn ich ganz überwiegend der Interpretation zum Verhältnis von Freiheit und Macht von Saar folge, zögere ich, Freiheit als »Möglichkeitsbegriff« aufzufassen (Saar [2007], 284), da erstens diese Kategorie der Möglichkeitsbegriffe eher schwammig ist (logische oder ontologische Möglichkeit oder Potentialität oder Vermögen?) und zweitens die Betonung der Potentialität mit dem generellen Aktualismus von Foucault konfligiert. 373 374

Diagramm von Foucaults Machtbegriff

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nen auf kohärente Weise begriffliche Exo-Konsistenz. Wie bei Hobbes weist der negative Freiheitsbegriff im Sinne eines Widerstandmoments eine inhärente Bewegungsbezüglichkeit auf und ist als bedingender Part in ein Machtgeschehen integriert.

8.6 Diagramm von Foucaults Machtbegriff

Nachdem sämtliche Komponenten untersucht worden sind, können die Ergebnisse sowohl in horizontal-diagrammatischer als auch in vertikal-diagrammatischer Hinsicht (Wieder-Holungen von Elementen aus der dynamis) in dem begrifflichen Diagramm eingetragen werden (Abb. 16; vgl. Abb. 12). Die horizontale Untersuchung von Foucaults Machtbegriff hat sich in erster Linie auf die Herausarbeitung verschiedener Bezüglichkeiten zum Denken der Bewegung konzentriert. Hier konnte in mehreren begrifflichen Komponenten aufgezeigt werden, inwiefern der foucaultsche Machtbegriff in seiner ganzen Komplexität Bezüge zur natürlichen Bewegung und dem Denken von Werden und Konstituierung aufweist. Hervorzuheben ist hier erstens die maßgeblich von einer intensiven Nietzsche-Rezeption eingebrachte bewegungsphilosophische Prägung des champ foundateur der Begriffsbildung von Foucaults Machtbegriff (K3). Zweitens sind sowohl in der Binnenstruktur der ersten Ebene (K8) als auch im Machtverständnis als Regierung angelehnt an die Pastoralmacht in der zweiten Ebene des Machtbegriffs (K9) terminologische und strukturelle Elemente enthalten, die auf ein zentrales Denken in Beweglichkeiten und grundlegender Prozesshaftigkeit der sozialen Sphäre zurückweisen. In der Konzeption von Macht in Kräften bzw. Kräfteverhältnissen scheint – wenn auch in residualer Form – die ihrerseits bewegungsbezogene Unterscheidung von agentiven und patentiven Anteilen durch (K8). Interessant ist auch, dass Foucault – anders als vermutlich gemeinhin angenommen – seinen Machtbegriff kategorial in die Nähe von einem Kausalitätsdenken stellt, auch wenn Kausalität hier sehr breit als ›Kausalnetz‹ mit multiplen Ausgängen gedacht wird (K11). Dabei ist Foucaults genealogisch ausgerichtete Machtanalytik so zu verstehen, dass sie einen zuvörderst explikativen, in Anklängen aber auch explanatorischen Auftrag und Anspruch in einem historisch-explanatorischen Sinne adressiert. Die Kategorie der Kausalität, ebenso aber auch das Denken von Technik und Technologie, verleiht damit Foucaults Machtbegriff Exo-Konsistenz (K11). Aus der Perspektive der vertikalen Analyse finden sich daher auch in den genannten Komponenten Wieder-Holungen von Elementen der kinetischen dynamis, die Foucault, wie hier aufgezeigt werden konnte, auch zweimal expressis verbis in der Herkunftsanalyse des Regierungsdenkens aufgreift.

K1: Mitte 20. Jh. Westeuropa, Nachkriegszeit

Historischgeografisches Milieu Strukturprinzip

K8: Spiel und Widerstand

K12: Macht und Freiheit

Abb. 16 Das Diagramm von Foucaults Machtbegriff

Begriffliche Verzweigung

K11: Macht & Kausalität Macht, Mechanik, Mechanismen und Technik, Parrhesia, dynasteia, dynamis und

K9: Macht als Regierung

Kategoriale Nachbarschaften

K10: methodologischer, nichtontologischer Machtbegriff

Epistemologisches & ontolog. Profil

K6: Macht als historisch analysierbares Kräftegeschehen

K5: Genealogie/ Machtanalytik, vorgeprägt durch Nietzsches Genealogie

Theoretisches Terrain

Zweite Ebene des Begriffskorpus

K7: Historische Machtformen

Phasenraum

Basisebene des Begriffskorpus

K3: Historische Konstitutionsanalyse, Kartografie der Geschichte des Wissens und der Praktiken

Metatheoretische Ebene

K4: Problem des Subjekts

Problemkomplex

Wissenskulturelles Milieu

= Komponente, in der sich Elemente aus dergleichen Komponente der dynamis des Aristoteles wiederholen

= Komponente, in der sich Elemente aus einer anderen Komponente der dynamis des Aristoteles wiederholen

= Intensive Verbindungslinien

K2: Wissenskultur: Historisierung von Wissen und Wahrheit; dominante Philosophen: Hegel, Husserl, Heidegger; geteilte Abkehrbewegung

482 Foucaults Machtbegriff

TEIL C: Schlussbetrachtung

9. Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung

In der Schlussbetrachtung sollen zunächst zentrale Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung im Hinblick auf die untersuchungsleitenden Thesen zusammengefasst werden (Kap. 9). 1 Daran anschließend werden einige systematische Überlegungen aus den Untersuchungsergebnissen für den Machtbegriff extrahiert sowie die begriffliche Diagrammatik als historisch-systematische Analytik zur Untersuchung von Begriffen konturiert (Kap. 10).

9.1 Aristoteles’ dynamis als Begriff der Bewegung

Häufig wird sowohl in analytischen wie historischen Diskussionen auf den Begriff der dynamis von Aristoteles als sogenannten ›Vorläufer‹ des politischen Machtbegriffs verwiesen. Dabei bleibt zumeist unklar, erstens welcher Typ von dynamis gemeint ist – denn Aristoteles unterscheidet mehrere –, und zweitens, inwiefern sich die Annahme einer begrifflichen ›Vorläuferschaft‹ präzisieren lässt (vgl. These 1 der Untersuchung). Ein erstes Etappenziel dieser Arbeit bestand darin, die aristotelische dynamis in ihren heterogenen Bestandteilen für die Analyse und Geschichte des politischen Machtbegriffs zu ›erkunden‹, um ein umfängliches Verständnis der dynamis zu ermöglichen. Dazu wurden in der Analyse zwölf Komponenten des Begriffs der dynamis unterschieden, an die sich wiederum zwölf Untersuchungsperspektiven auf den Begriff anschließen. Mithilfe dieser ausdifferenzierten mehrperspektivischen Erkundung der dynamis konnte präzise herausgearbeitet werden, dass Aristoteles zwei begriffliche ›Konfigurationen‹ der dynamis unterscheidet und in welchem Verhältnis diese Konfigurationen zueinanderstehen. Die grundlegende Ebene bildet die von Aristoteles selbst als ›dynamis in Bezug auf Bewegung‹ (dynamis kata kine¯sin) bezeichnete kinetische dynamis. Ihr Bezugsrahmen sind Bewegungen und bewegende Tätigkeiten. Die kinetische dynamis ist entsprechend als Vermögen zu einer bestimmten Bewegung oder Veränderung (des einen in einem anderen) 1 Zur Erinnerung seien hier die ersten beiden untersuchungsleitenden Thesen noch einmal angeführt: These 1: Die dynamis des Aristoteles ist der Vorläufer des politischen Machtbegriffs; These 2: Die aristotelische dynamis kata kine¯ sin steht in einer engen begrifflichen und diskursiven Beziehung zum Begriff der Bewegung, dies gilt auch für die exemplarisch untersuchten politischen Machtbegriffe von Hobbes und Foucault.

Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung

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zu verstehen. Auf der zweiten begrifflichen Ebene wird die kinetische dynamis in Bezug auf das Substanzsein selbst erweitert – in der Aristoteles-Forschung trägt diese dynamis deshalb auch den Namen der ›ontologischen‹ dynamis. Aristoteles versteht unter der ontologischen dynamis jenes Prinzip, das die zentralen Prinzipien von Materie und Form in jedem Ding zusammenhält und sich als das ›Vermögen eines materiellen Trägers (eine) F(orm) zu sein‹ oder kurz als ›Potentialität F zu sein‹ (dynamei F) übersetzen lässt. Die Bedeutung des ontologischen Vermögensbegriffs erschließt sich dabei erst von der Ebene der dynamis in Bezug auf Bewegung, weshalb die kinetische dynamis für Aristoteles die erste und eigentliche Verwendungsweise darstellt. Die kinetische dynamis bestimmt Aristoteles wiederum auf mehrfache Weise. So gibt es mehrere Typen, die die kinetische dynamis ausdifferenzieren, wobei sämtliche Typen auf die grundlegende, ›fokale‹ Verwendungsweise des sogenannten ›aktiven / agentiven‹ Vermögens ausgerichtet sind; diese Anordnung wurde im Rahmen dieser Arbeit als ›Tableau‹ der dynamis bezeichnet. Unter der agentiven dynamis versteht Aristoteles Folgendes: Vermögen heißt [dynamis legetai] einmal das Prinzip [arche¯] der Bewegung [kine¯sis] oder Veränderung / Umwandlung [metabole¯] in einem anderen 〈als dem Sich-Umwandelnden〉 oder 〈in diesem selbst〉 insofern es ein anderes ist (dynamis legetai he¯ men arche¯ kine¯seo¯ s e¯ metabole¯s he¯ en heteroi e¯ he¯i heteron) [. . .]. (Met. V 12, 1019a15–16, Übers. modifiziert 2)

Die Untersuchung der dynamis konnte weiterhin aufzeigen, dass der Bezug zur Bewegung nicht nur unmittelbar in der begrifflichen Bestimmung liegt, sondern die dynamis sich durch einen mehrfachen Bezug zur Kategorie der Bewegung auszeichnet 3: Erstens antworten die dynamis als philosophischer Begriff und das Begriffspaar von dynamis und energeia auf das Problem der Intelligibilität von Bewegung überhaupt. Zweitens weisen sowohl die Ausdifferenzierungen in aktiv / agentiv und passiv / patentiv als auch das Prinzip, dem ›Bewegtwerden‹ widerstehen zu können (hexis), auf die in der antiken Naturphilosophie verbreitete Vorstellung von Bewegung als Zusammenspiel zwischen Bewegendem und Bewegtem zurück. Das Problem der Bewegung, die Definition von Bewegung und das theoretische Terrain der Begriffsbestimmung werden bei Aristoteles in einem diskursiven Feld verhandelt, das Naturphilosophie und Physik mit der Metaphysik verbindet und keineswegs nur einen dieser Bereiche anspricht. Um die Bedeutung dieses disziplinären Schnitt- und Übergangsfeldes für die Begriffsbildung der dynamis hervorzuheben, wurde es 2 3

Die Übersetzung orientiert sich an Gasser (2015), 217. Vgl. hierzu auch die Zusammenfassung im Rahmen des Diagramms der dynamis in Kap. 6.5.

Aristoteles’ dynamis als Vorgänger des politischen Machtbegriffs

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typographisch markiert als ›Meta-Physik‹ bezeichnet. Über den engen Bezug zum Begriff der Bewegung ist die dynamis außerdem mit den Bezugsystemen der Bewegung (Raum, Zeit und Kontinuum) verbunden. Von besonderer Bedeutung hat sich die Binnenunterscheidung von aktiver und passiver dynamis herausgestellt, die hier in einer bewussten Übersetzungsentscheidung als ›agentive‹ und ›patentive‹ dynamis (Vermögen) eingeführt wurden. 4 Denn sie stellen nicht nur für sich zwei wichtige Typen der kinetischen dynamis dar, sondern bilden zudem ein Korrelationsverhältnis, das sich auch als basales Strukturprinzip der dynamis auf beiden begrifflichen Ebenen verstehen lässt. Das bedeutet: Für den Vollzug einer spezifischen Bewegung oder Veränderung müssen immer ein agentives und korrelativ dazu ein patentives Vermögen vorliegen. Das hebt die patentive dynamis in eine nicht zu vernachlässigende Stellung, da sie den Vollzug einer Bewegung notwendig mitbedingt. Insgesamt konnte mithilfe der Analytik der begrifflichen Diagrammatik systematisch eine mehrfache Bezogenheit zur Kategorie der Bewegung herausgearbeitet werden. Und demgemäß plädiert die Arbeit für eine Perspektivverschiebung in der Betrachtung der Geschichte des sozialen und politischen Machtbegriffs: Wenn in der politischen Theorie und Sozialphilosophie bisher auf die dynamis rekurriert wurde, stand meist die ontologische Verwendungsweise im Vordergrund. Für das Verständnis der ›Vorläuferschaft‹ der dynamis für den sozialen und politischen Machtbegriff ist es allerdings erforderlich, die kinetische dynamis als Begriff der Bewegung und generell Bewegung als fundamentalen begrifflichen Bezugspunkt des Machtbegriffs ins Zentrum zu stellen.

9.2 Aristoteles’ dynamis als Vorgänger des politischen Machtbegriffs

Die Untersuchung der dynamis in ihren verschiedenen begrifflichen Bezügen zur Bewegung stellt eine erweiterte Begriffsanalyse dar. Indem die Arbeit sämtliche Komponenten und damit das begriffliche Terrain der dynamis Schritt für Schritt abgeschritten ist, konnte im Modus der ›horizontalen‹ begrifflichen Diagrammatik ein begriffliches Diagramm der dynamis erarbeitet werden. Dieses Vorgehen hat nicht nur die dynamis analytisch ausdifferenziert, sondern bot zugleich auch die Grundlage für den zweiten Untersuchungsschritt, der darin bestand, begriffliche Zusammenhänge zwischen der dynamis und den beiden ausgewählten Machtbegriffen von Hobbes und Foucault aufzuzeigen (vgl. These 2 der Untersuchung). Insbesondere konnte hier herausgearbeitet werden, wie die Bezüglichkeit von Machtbegriff und Bewegungsbegriff (oder 4

Vgl. dazu Kap. 6.3.3 b) (K8).

488

Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung

breiter: das Denken von Bewegung) auch in den Machtbegriffen von Hobbes und Foucault wirksam ist. Die Differenzierung der dynamis in ihre einzelnen Komponenten im Rahmen der diagrammatischen Untersuchung hatte den Vorteil, nicht nur von einer allgemeinen Kontinuitätsthese auszugehen, sondern die Kontinuitäten in Form von ›Wieder-Holungen‹ in den Begriffskomponenten präzise herausarbeiten zu können. In einer kleinteiligen Analyse ließ sich nachweisen, dass erstens einzelne Elemente in den Komponenten der dynamis in den untersuchten Machtbegriffen von Hobbes und Foucault kontinuieren und damit die Vorläuferbeziehung der dynamis zu den politischen Machtbegriffen auf einer Ebene unterhalb des Begriffsganzen etablieren. Zweitens konnten durch die kleinteiligen Analysen je Begriff jeweils verschiedene Bezüge zur Kategorie der Bewegung extrapoliert werden, sodass die These einer begriffsstrukturellen Verknüpfung von politischem und sozialem Machtbegriff und Bewegung erhärtet werden konnte. Hierzu wurde die diagrammatische Heuristik, die bereits der differenzierten Analyse der dynamis diente, an die Machtbegriffe von Hobbes und Foucault angelegt. Es ging darum, die Machtbegriffe entlang der zwölf diagrammatischen Komponenten zu beleuchten (Diagrammatik im horizontalen Modus), um in der Erkundung der einzelnen Komponenten jeweils Ähnlichkeiten bzw. Wieder-Holungen von Elementen in den entsprechenden Komponenten der dynamis festzustellen (Diagrammatik im vertikalen Modus). Die Wieder-Holungen verstehen sich somit als Nachweis der Vorläuferschaft bzw. der Wirkkraft der dynamis in den Machtbegriffsbildungen bei Hobbes und Foucault. Bei Hobbes, der Aristoteles in vielen methodologischen Fragen formal treu bleibt, stellte sich der Bewegungsbezug als allgemeine Hypothese der Erkenntnisvoraussetzung (Wissen ist die Erkenntnis von Ursachen, die selbst wiederum letztendlich Bewegung sind) und als differenzielle Identität von Ursache, Wirkung, Bewegung und Macht heraus. Bei Foucault zeigte sich der Bewegungsbezug in dem methodischen Fokus auf die Gewordenheit von Dingen, Subjekten, Macht- und Praxisformen. In seiner Herkunft aus der dynamis ist der soziale und politische Machtbegriff ein Begriff der Bewegung, denn er verweist gerade auf den Anfang einer Bewegung, die von einem Ding oder Subjekt ausgeht und sich in oder an einem anderen Ding oder Subjekt vollzieht bzw. auswirkt. Die exemplarischen Untersuchungen der Machtbegriffe von Hobbes und Foucault konnten eine begriffsstrukturelle Verknüpfung zur dynamis und einen zentralen Bewegungsbezug bestätigen. Dieses Untersuchungsergebnis lässt sich zu einer Hypothese über die Geschichte des Machtbegriffs ausbauen: Dem sozialen und politischen Machtbegriff, der in der Trajektorie der (kinetischen) dynamis steht, eignet immer auch eine Bezogenheit zum Bewegungsdenken, das in der konkreten Begriffsbildung ganz unterschiedliche Formen annehmen

Hobbes’ Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles’ dynamis

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kann. Die Gültigkeit diese These wäre durch Analyse weiterer Machtbegriffe – wie bspw. derjenigen von Spinoza, Leibniz, Max Weber und Hannah Arendt – nachzuprüfen.

9.3 Hobbes’ Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles’ dynamis

Im Machtbegriff von Hobbes wurden drei Ebenen unterschieden: eine metaphysische potentia, eine natürliche potentia des Menschen und eine potentia des Leviathans bzw. Souveräns. Dabei wieder-holt die meta-physische potentia die Binnendifferenzierung von agentiv-patentiv (agens und patiens) und das Strukturprinzip der Korrelation der agentiven und patentiven kinetischen dynamis. Bei Hobbes ist das Prinzip der korrelativen Zusammenkunft auf allen drei Ebenen erkennbar. Macht stellt sich bei Hobbes in jeder Verwendungsweise der potentia als eine Komposition aus agentiven und patentiven Anteilen dar. Diese korrelative Struktur in Hobbes' Machtbegriff bleibt von Lesarten unberücksichtigt, die sich bei Hobbes insbesondere auf die potestas und die absolute Herrschaft fokussieren oder die Staatsphilosophie und politische Theorie in Abkoppelung vom theoretischen Terrain der Ersten Philosophie, bei Hobbes eine physica generalis, interpretieren. Die potentia erhält bei Hobbes ihre grundlegende Bestimmung im Feld der Ersten Philosophie, die in der Untersuchung als Meta-Physik ausgewiesen werden konnte. Sowohl bei Aristoteles als auch bei Hobbes ließ sich somit das theoretische Terrain, der champ fondateur, der Begriffsbildung als Meta-Physik identifizieren. Die zentralen Charakteristika der Ersten Philosophie von Hobbes bestehen erstens in der methodologischen Fundierung durch einen ursachenbasierten Wissensbegriff, wonach ›Wissen von etwas‹ das Erkennen seiner Ursachen ist – auch in diesem Aspekt folgt Hobbes direkt Aristoteles' Wissensbegriff – und zweitens in der Annahme, dass die Ursache letztendlich selbst eine Bewegung ist. Die Kategorie der Kausalität rückt bei Hobbes über das Begriffspaar von Ursache – Wirkung aus der kategorialen Nachbarschaft (so bei der dynamis) in den Begriffskorpus der potentia selbst. Während bereits bei Aristoteles die Erkenntniseinheiten des ›Prinzips‹ (arche¯) und der (Bewegungs-)Ursache über den prinzipien- und ursachenbasierten Wissensbegriff in enger Beziehung stehen und dadurch der kinetischen dynamis ein kausaler Nexus zukommt, bringt Hobbes den Ursachen- und Machtbegriff gänzlich zur Deckung. Hobbes' Machtkonzeption ist der Kausalität und in der Kausalität wiederum einer allgemeinen Hypothese der Bewegung verpflichtet. Ebenso wie Aristoteles' dynamis ist auch Hobbes' potentia keine Einheit der natürlichen oder sozialen Welt, sondern vielmehr ein explanatorischer Begriff, der

490

Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung

natürliche Wirkungszusammenhänge und Bewegungen sowie menschliche Tätigkeiten und Handlungen erkennbar und erklärbar machen soll. Hobbes' gesamte Philosophie ist ebenso wie Aristoteles' Philosophie von einem grundlegenden Bezug auf Bewegung gekennzeichnet, wobei sich dieser Bezug bei Hobbes bis in die konkrete Bildung von grundlegenden Begriffen hineinzieht. Dieser Bezug zur Bewegung auf der Ebene der Theorie- und der Begriffsbildung ist jedoch gerade aus staatsphilosophischer und politikwissenschaftlicher Perspektive bisher kaum beachtet worden. Dabei präfiguriert die Bewegungsthese von Hobbes auch die Begriffe der Staatsphilosophie. So konnte bspw. aufgezeigt werden, wie Bewegung die Begriffe von Macht und Freiheit fundiert. Auch Hobbes' berühmtes Theorem der Steigerung der Gier nach Macht konnte im Lichte der Bewegungslogik plausibilisiert werden. Ebenso wie die dynamis zeichnet sich die potentia in ihren Schichten durch mehrere, grundlegende Bezüge zur Bewegungskategorie aus. Zugleich wiederholt Hobbes unter dem Vorzeichen einer wissenskulturellen Differenz in der potentia nahezu sämtliche Elemente des Begriffskorpus der kinetischen dynamis.

9.4 Foucaults Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles’ dynamis

In der Foucault-Forschung sind bisher weder die Verbindung von Foucaults Machtbegriff zur aristotelischen dynamis noch die enge Bezüglichkeit von Foucaults Analytik der Macht zu einem basalen Denken der Bewegung systematisch herausgearbeitet worden. Die hier vorgelegte Interpretation weist Foucault eine über Nietzsches Philosophie importierte implizite Theorie der Bewegung nach, die sich diskursarchäologisch als These historischer Konstituierung von Dingen (›Beweglichkeiten‹) und genealogisch in der These der historischen Konstituierung von Machtformen zum Ausdruck bringt. In der Foucault-Forschung wurde mehrfach schon Nietzsches Genealogie (der Moral) und seine ›Lehre vom Willen zur Macht‹ als Grundlage des theoretischen Terrains der Machtbegriffskonzeption von Foucaults Machtanalytik identifiziert. Allerdings blieb dabei bisher eher weniger beachtet, dass Nietzsches Genealogie wesentlich auf eine naturphilosophische Konzeption von Kraft rekurriert und dass die sogenannte ›Lehre vom Willen zur Macht‹ selbst eine allgemeine meta-physische Theorie des Werdens beinhaltet. Für Foucaults Genealogie wurde in der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet, dass er einen breiten Kraftbegriff und eine Logik von Aktion und Reaktion, Kraft und Gegen-Kraft von Nietzsche genauso übernimmt wie dessen methodologische Operation, das ›Prinzip‹ als theoretische Einheit des punkthaften Aus-

Foucaults Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles’ dynamis

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gangs oder als Ursache von Bewegung in eine Vielheit zu multiplizieren. Aus dieser konzeptionellen Übernahme ergibt sich, dass sich Macht bei Foucault als ein Netz von Mikro-Anfängen der Bewegung, Mikro-Wirkeinheiten und Mikro-Wirkungen darstellt. Als Mikro-Physik wirken sie im Machttypus der Disziplinarmacht nachgerade pan-optisch, d. h. von überall herkommend und alles durchdringend. Foucaults Bezeichnung der »Mikro-Physik der Macht« lässt sich somit vor dem Hintergrund der meta-physischen Grundierung des theoretischen Terrains der Begriffsbildung plausibilisieren. Sie lässt sich zudem, so konnte gezeigt werden, auch mit dem wissenskulturellen Milieu um die Mitte des 20. Jahrhunderts kontextualisieren, in dem sich die um 1900 eingeleiteten großen Umbrüche in den Paradigmen der Naturwissenschaften und der Mathematik konsolidierten. Entgegen einer verbreiteten Ansicht in der Foucault-Forschung konnte die diagrammatische Untersuchung nachweisen, dass Foucault keinesfalls die Kategorie der Kausalität aufgibt. Vielmehr setzt er seinen Machtbegriff mittels der methodischen Form der Genealogie in begrifflicher Nachbarschaft zur Kausalität – und ›wieder-holt‹ damit die kategoriale begriffliche Beziehung der dynamis zum Ursachenbegriff. Außerdem konnte eine Interpretation zu einer in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Stelle in dem Manuskript zur Vorlesung Die Regierung des Selbst und der anderen (RSA) vorgelegt werden, in der Foucault explizit auf das »Problem der dynamis« (RSA, 203) und der dynasteia in der attischen Demokratie zu sprechen kommt. Die Untersuchung konnte im Verweis auf Aristoteles' kinetische dynamis darlegen, inwiefern sich die Problematik für Foucault gerade durch einen Bezug zur Dynamik und Bewegung, die die Vergabe und Einnahme von politischen Ämtern auszeichnet, erklärt. 5

5

Vgl. hierzu Kap. 8.5.1 c).

10. Schlussfolgerungen und Ausblick

In dem abschließenden Teil der Schlussbetrachtungen sollen einige systematische und historische Schlussfolgerungen zum Machtbegriff gezogen sowie die in dieser Arbeit entwickelte Heuristik der begrifflichen Diagrammatik im methodischen ›Kanon‹ der politischen Begriffs- und Ideengeschichte verortet werden.

10.1 Meta-Physik als theoretische und begriffliche Ressource

Eine zentrale Erkenntnis aus den Detailanalysen lautet, dass den sozialen und politischen Machtbegriffen von Hobbes und Foucault mit den Wieder-Holungen der aristotelischen dynamis und durch die Bezüge zur Bewegung auch eine meta-physische Dimension in der begrifflichen Konstitution eignet. Diese meta-physische Dimension drückt sich zum einen darin aus, dass die Machtbegriffe in ihrer Konstruktion verschiedene naturtheoretische und metaphysische Theorien von Bewegung, Kausalität und Kraft aufnehmen oder sogar strategisch als Ressource der Begriffsbildung nutzen. Die ›Meta-Physik‹ weist primär eine Ausrichtung auf Explikation und Explanation von Natürlichseienden und nicht so sehr, wie im Falle der generellen Metaphysik, von (invarianten Strukturen) der Welt bzw. des Seins an sich auf. Meta-Physik stellt in der vorgelegten Interpretation also keine allgemeine Metaphysik oder Ontologie dar, sondern den diskursiven Übergang von der Naturtheorie und -erklärung (in den Formaten der Physik oder Naturphilosophie) zu einem daran anschließenden transgressiven Diskurs (eine Metaphysik oder Erste Philosophie oder Ästhetik). So gesehen ist das Diskursfeld Meta-Physik in sich polar aufgestellt, mit einem physisch-physikalischen und einem metaphysischen Pol, wobei die Akzentuierung in der Theorie- und Begriffsbildung unterschiedlich ausfallen kann. Bei Hobbes bringt sich die Meta-Physik bspw. durch einen kinetischmechanischen Materialismus, bei Foucault durch eine Mischung aus zeitgenössischer Mikrophysik und nietzscheanischer, lebensphilosophisch motivierter Krafttheorie zum Ausdruck. Das Meta zum Physischen kann sich dabei ganz unterschiedlich gestalten: Bei Aristoteles weist das Meta über den Gegenstandsbereich der Physik hinaus auf die These eines ersten unbewegten Bewegers; in Hobbes' allgemeiner Physik ist die Position des Ersten Bewegers oder des ersten Prinzips gestrichen, die Physik weist auf die Methode, wissenschaftli-

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Schlussfolgerungen und Ausblick

ches Wissen und Wahrheit zu erzeugen. Bei Nietzsche ist das über die physis Hinausgehende die Ästhetik als Existenzweise und bei Foucault, der sich der Genealogie Nietzsches als theoretische Folie bedient, verweisen jene Kräfteverhältnisse, die Macht konstituieren, auf die Freiheit der Subjekte als Bedingung der Existenz von Machtbeziehungen. Vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, dem Machtbegriff einen ›Physikalismus‹ vorzuwerfen. Das angezeigte Diskursfeld Meta-Physik als Übergangszone aus Naturphilosophie, Physik und Metaphysik, mit dem der soziale und politische Machtbegriff qua seiner Herkunft aus der dynamis verbunden ist, legt es vielmehr nahe, die meta-physische Dimension des Machtbegriffs als genuine Dimension desselben anzuerkennen. Positiv formuliert bietet der immanente Bezug zu dem flexiblen und polaren, von den konkreten Dingen zu den abstrakten Einheiten fortdringenden, Diskursfeld der MetaPhysik viel Potential für machtbegriffliche Modifikationen und Schöpfungen. Dies konnte nicht nur an den Machtbegriffen von Aristoteles, Hobbes und Foucault gezeigt werden, auch ein kurzer Blick in gegenwärtige Arbeiten am Machtbegriff indiziert, dass Bewegungsdenken und Meta-Physik als machtbegriffliche Ressourcen dienen. So ist bspw. bei Karen Barad der Versuch zu beobachten, den Machtbegriff quantentheoretisch zu reformulieren, und Jane Bennett wiederum grundiert den Machtbegriff als agency mit einem biologisch und bewegungsphilosophisch orientierten Vitalismus. 1 Beide Machtbegriffe halten dabei einen engen Bezug sowohl zur Bewegung (bei Barad als ›IntraAktion‹ der Materie, bei Bennett durch die Selbstbeweglichkeit und Wirksamkeit, ›Vibration‹ der materiellen Dinge) als auch über den Bewegungsbezug zur Meta-Physik als champ fondateur der Begriffsbildung.

10.2 Macht als Begriff der Bewegung und bewegungsorientierte Machtanalytik

Der Begriff der Bewegung umfasst in der antiken Form der kine¯sis und metabole¯ das ontologische Werden und Vergehen von Dingen, das Werden und Vergehen von Eigenschaften an einem Ding im Sinne einer qualitativen und quantitativen Veränderung sowie jene Art von Bewegung, die seit der Neuzeit nahezu ausschließlich als Bewegung vorgestellt wird: die Bewegung in Raum und Zeit. Das Bewegungsdenken und die begriffliche Erfassung von Bewegung ist somit deutlich breiter als es aus einer modernen Perspektive zunächst erscheinen mag. ›Bewegungsdenken‹ steht hierbei als Chiffre für die verschiedenen For1 Vgl. Barad (2007); Bennett (2010). Zu den Machtbegriffen beider Autor:innen siehe auch Hoppe / Lemke (2015). Barad versteht ihr Theorieformat in Meeting the Universe Halfway explizit als »meta / physics« (Barad [2007], 253).

Macht als Begriff der Bewegung und bewegungsorientierte Machtanalytik

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men, in denen Bewegung als theoretischer Bezugspunkt auftaucht: bei Aristoteles u. a. als philosophisches Grundproblem und Bedingung der Möglichkeit von Naturwissenschaft, als Gegenstand der Definition in der Physik und als Differenzkriterium zur Einteilung der Substantialität in der Welt in der Metaphysik. Zugleich fasst Aristoteles unter Bewegungen auch menschliche vernunftbasierte bzw. intentionale Tätigkeiten, die in einem externen Ziel aufgehen – das ist die Herstellung von Dingen –, oder die ihr Ziel in sich tragen, wie bspw. das Denken und die sinnliche Wahrnehmung als Wahrnehmungstätigkeit. Vor diesem Hintergrund konnte die diagrammatische Untersuchung gerade durch ihre kleinteilige und multiperspektivische Analyse die verschiedenen Bezüglichkeitsformen von Machtbegriff und Bewegungsdenken aufdecken. Gleichwohl könnte dieses umfängliche antike Begriffsverständnis zunächst mit einem Erkenntnisproblem wahrgenommen werden, weil es zu viele Dinge und Eigenschaften unter einem Begriff versammelt. Die vorliegende Arbeit erkennt in diesem integrativen und multiplen Begriffsverständnis allerdings einen Vorteil, der auch für neuzeitliche und moderne politische Begriffe und deren Adaptationen produktiv gemacht werden kann. Es bedeutet zunächst, die teilweise deutlichen Reduktionstendenzen auf einen Aspekt von Bewegung, nämlich Bewegung als Ortsbewegung, zu ersetzen zugunsten einer begrifflichen Vielschichtigkeit, die von der Ortbewegung bis zum substanziellen Werden, d. h. der Erzeugung, Produktion und Konstituierung von Dingen reicht und sowohl transitive als auch intransitive Bewegungen umfasst. Auch Affizierungen sind Bewegungsvollzüge, denn sie sind strukturell ähnlich aufgebaut wie Bewegungen mit agentiven und patentiven Anteilen. 2 Damit können verschiedene Formen der Veränderung und verschiedene Formen von Bewegung(en) in der sozialen und politischen Handlungssphäre unter dem Konzept der Bewegung(en) gemeinsam in ihrem Machtbezug adressiert werden: so etwa Bewegung als Werden (genesis), als Herstellung und Hervorbringen (poie¯sis) von Dingen und Formen und generell als mögliche, aber nicht zwingende Assoziation mit Tun, Machen, Wirken (poiein) und Tätigkeit (energeia). 3 Die Macht ist in ihrer Bewegungsbezogenheit dann einerseits genau als der Anfang oder die Ausgangsregion dieser Bewegungen zu verstehen – das greift das Element des ›Prinzips‹ auf – und andererseits immer auch als Aktivität und Vollzug einer spezifischen Konstellation aus agentiven und patentiven Anteilen. 2 Damit können auch aktuelle Diskussionen im Rahmen eines ›affective turns‹ in den Geistesund Sozialwissenschaften bewegungs- und machtanalytisch präzise eingeholt werden. Einen hervorragenden Aufschlag dazu hat bereits Mühlhoff (2018) vorgelegt. 3 So hat bspw. Alain Badiou (2013) im Rahmen seiner Vorlesung an der Schweizer European Graduate School die Frage nach dem Subjekt von Bewegung im naturphilosophischen, ontologischen und sozialtheoretischen Sinne gestellt.

Schlussfolgerungen und Ausblick

496

Darauf aufbauend kann ein bewegungsbezogener allgemeiner Machtbegriff einer bewegungsorientierten Machtanalytik zugrunde gelegt werden. Eine bewegungsorientierte Machtanalytik kann soziale und politische Geschehen gezielt auf Bewegungsanfänge, Bewegungsflüsse, agentive und patentive Allianzen beleuchten, wobei die Bewegungssubjekte strategisch offen gelassen werden – es können dies Institutionen, Strukturen, Individuen, nicht-menschliche Dinge und Gefüge sein. Dabei kann eine bewegungsorientierte Machtanalytik deskriptiv und kritisch-evaluativ verfahren, sie stellt Fragen wie: 1) Welche Subjekte, Objekte und Themen sollen (genau) in Bewegung gesetzt werden? 2) In welchen Raum- und Zeitbezügen vollziehen sich Machtbeziehungen und Machtverhältnisse? 3) Wer oder was regiert die Bewegungsanfänge? Außerdem kann der Bewegungsbezug auf begrifflicher Ebene – wie es auch bereits ein basaler Begriff von Freiheit als Bewegungsfreiheit zeigt 4 – als begriffliche Grundlage zur Formulierung weiterer Begriffe des Sozialen und Politischen herangezogen werden, die mit dem Machtbegriff in Beziehung stehen 5: So wäre die Behinderung oder Unterbindung der Aktivität der Machtanteile als die Verhinderung einer Machtbeziehung oder ein ›Umkippen‹ einer Machtbeziehung in ein Gewaltverhältnis zu begreifen, nämlich dann, wenn der patentive Part im wahrsten Sinne des Wortes physisch, mental oder psychisch fixiert, also an jeder Form der Selbstbewegung gehindert wird. Zugleich ließe sich bewegungsanalytisch reformuliert Herrschaft als die institutionell gestützte Stabilisierung von kollektiven sozialen und politischen Bewegungskonstellationen begreifen. Diejenige Konstellation oder Instanz, die die Ausgänge und das raumzeitliche Setting von (sozialen und politischen) Bewegungen und Bewegungsnetzen (Handlung, Praktiken) steuert und stabilisiert, wirkt herrschend. Während Regierung ›arche¯-o-logisch‹ genau dies meint: die Lenkung und Steuerung von individuellen und kollektiven Bewegungen und Bewegungssubjekten, von individuellem und kollektivem Tun und Handeln und von herstellenden Praktiken auf der Grundlage, dass die Bewegungssubjekte sich in ihren Bewegungen lenken lassen. 6 Mit dem Vorschlag, die meta-physische Dimension und Bewegungsbezogenheit des Machtbegriffs zu fokussieren, ist dabei allerdings mitnichten die Siehe den Freiheitsbegriff von Hobbes, Kap. 7.5.1 b) (K11). So lässt sich auch Christoph Möllers Studie Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik (2020) als begriffsstrategische Anwendung von Meta-Physik für eine bewegungsbasierte Begriffsintervention verstehen. 6 Hierzu bietet der handlungstheoretische und kausalitätstheoretische Ansatz von Gert Keil eine produktive Folie, indem er eine Systematik zur Oberkategorie Ereignis aufzeigt: »(1) Ereignis, (2) ›Bloßes‹ Ereignis (ohne Beteiligung eines menschlichen Körpers), (3) Körperbewegung, (4) KörperbewegungI (Widerfahrnisse, z. B. Reflexe, physiologische Prozesse, fremdinduzierte Bewegungen), (5) KörperbewegungT/Tun, (6) unabsichtliches Tun, (7) Handlung.« (Keil [22015], 138). 4

5

Macht als Begriff der Bewegung und bewegungsorientierte Machtanalytik

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Forderung verbunden, die politische Theorie und Sozialphilosophie auf eine Art soziale oder politische Physik zu reduzieren oder zu verpflichten. Vielmehr drängt sich das Erfordernis auf, das Verhältnis von politischer Theorie, Sozialphilosophie, Sozialwissenschaften und Naturphilosophie und Physik auf produktive Potentiale für die Theorie- und Begriffsbildung zu überprüfen. 7 Hier ist neben dem Bewegungsbezug der kategoriale Bezug zur Kategorie der Kausalität zu nennen, der in den Diskussionen um den sozialen und politischen Machtbegriff 8 zu Kontroversen geführt hat. Das begriffliche Erbe von Aristoteles' dynamis macht hierzu ein präzises konzeptuelles Angebot: Insofern Ursachen bzw. Ursächlichkeit als Subkategorie eines weiten Prinzipienbegriffs zu begreifen ist, sind Macht- und Ursachenbegriff über eine gemeinsame Oberkategorie generisch miteinander verbunden. Und insofern Ursachen als Bewegungsausgang oder -anstoß (physisch und metaphorisch) konzipiert sind (so im Falle des neuzeitlichen mechanistischen Kausalbegriffs), können Ursachenund Machtbegriff kongruent gehen und verwendet werden. Die kategoriale Nachbarschaft bis hin zur Adaptation und Integration des Ursachenbegriffs in den Machtbegriff (so etwa bei Hobbes' Machtbegriff), aber auch seine Herkunft aus einer meta-physisch geprägten metatheoretischen Rahmung machen den Machtbegriff historisch gesehen zu einem Begriff, der ein hohes explikatives oder auch explanatorisches (Aufgaben-)Profil aufweist. Einschränkung und Potenziale. Was der Ansatz, den Machtbegriff als Bewegungsbegriff aufzufassen, allerdings weder adressiert noch leistet, ist eine evaluative Perspektive, die Bewegungs- als Machtvollzüge in moralischen und ethischen Registern zu erfassen und Fragen der Rechtfertigung und Legitimität zu beantworten vermag. Was der Ansatz aber zu leisten verspricht, ist, den Blick noch einmal zu weiten, tiefer zu stellen auf Anfänge von Bewegungen bzw. Veränderungen, Bewegungsbeteiligungen, Bewegungsvermögen und ›Wirkungen‹ von Bewegungen, ohne dass dies durch einen starken (fundamental-)ontologischen Grund fundiert sein muss. Die Bewegungsanalyse mit einem flexiblen Prinzipienbegriff bietet von sich aus ein breites Spektrum an epistemologischer und ontologischer Variabilität: Bewegungen lassen sich empirisch, phänomenologisch und ontologisch verhandeln. Auf diese Weise können selbst die großen Begrifflichkeiten und Kategorien wie ›power to‹, ›power over‹, ›Dispositionen‹, ›menschliche und nicht-menschlichen Agenzien‹, ›Potentialität‹ und ›Vermögen‹, die in der Debatte um den Machtbegriff z. T. nebeneinander laufen oder gegeneinander ausgespielt werden, von einer grundlegenden bewegungsphilo7 Die Science and Technology Studies gehen im Grunde in diese Richtung, wegweisend hierfür ist die Studie Leviathan and the Air Pump von Steven Shapin und Simon Schaffer (1985). 8 Vgl. Kap. 1.1.

Schlussfolgerungen und Ausblick

498

sophischen Ebene her aufgefangen und angegangen werden. Der Fokus auf Bewegungsbezogenheit und die damit verbundene Immanenz einer Meta-Physik des Machtbegriffs bietet schließlich die Möglichkeit, Macht von einem begrifflichen Grundschema her zu begreifen, das die aristotelische dynamis bereitstellt.

10.3 Ein machtbegriffliches Schema im Ausgang von Aristoteles’ dynamis

Die Einsichten aus der diagrammatischen Untersuchung können verwendet werden, um einen systematischen Vorschlag in die aktuelle Diskussion über die Möglichkeit eines allgemeinen machtbegrifflichen Schemas einzubringen. Anlass dieser analytischen Diskussion ist die Frage, ob es so etwas wie eine ›richtige‹ Definition von Macht geben könne und ob diese Definition einem Begriffsverständnis von Macht als Fähigkeit / Vermögen oder Ermächtigung (power to) oder von Macht als Machtausübung über jemanden / andere (power over) zu entsprechen habe, oder ob eine Definition beide Verständnisse zu umfassen habe. 9 Die Prämisse dieser Diskussion besteht darin, dass es so etwas wie »a general underlying notion of social or political power« 10 oder »a single, more general concept [. . .] of social power« 11 geben könne. Der zugrundeliegende Begriff bezeichnet hier eher ein begriffliches Schema und das begriffliche Anliegen zeichnet sich eher durch eine »broad definition« bzw. einen »broad conceptual account« aus. 12 Mein Argument ist, dass gerade die kinetische dynamis von Aristoteles eine Folie für ein solches Schema bieten kann. Denn produktiv betrachtet stellt die dynamis eine basale Matrix aus begrifflichen Elementen bereit, auf die einzeln oder in neuer Kombination in der Bildung von Machtkonzeptionen zurückgegriffen werden kann (vgl. Abb. 17) . Diese basale ›dynamis-Matrix‹ setzt sich aus drei Elementen zusammen: Prinzip

Bewegung

Agentivität / Patentivität

Anfang, Ausgang, zur Erklärung von XY, Vermögen, Seinsmodus, variable Trägerschaft

Veränderung, Werden und Vergehen, Tun, Handlung, Affizieren / Affizierung; Bezüge von Bewegung: Raum, Zeit, Kontinuität

Korrelation und Konstellation von agentiven und patentiven Anteilen (keine ›Passivität‹)

Abb. 17 Dynamis-Matrix Vgl. Zur ›definitional approach‹-Debatte Kap. 1.1. Dowding (2012), 120. 11 Pansardi (2012), 74. 12 Gilabert (2018), 85. 9

10

Ein machtbegriffliches Schema im Ausgang von Aristoteles’ dynamis

499

(i) Der Prinzipienbegriff

Der Prinzipienbegriff in einem weiten Sinne ist mit einer methodologischen und ontologischen Variabilität als epistemisches Erklärprinzip, als Disposition oder dispositionelle Eigenschaft, als Vermögen zur Bewegung und Wirkung und Tätigkeit oder als Seinsprinzip ausgestattet. Mit dem Prinzipienbegriff kann auch die Trägerschaft der Prinzipien, also die Frage, welchen Entitäten Prinzipien in welcher Weise attribuiert werden, variabel konzipiert werden.

(ii) Bewegungsbegriff im weiten Sinne

Bewegung in einem breiten Varianzspektrum umfasst hier Werden, qualitative und quantitative Veränderung und räumliche Bewegung, Tun, Handlung, Affizierungsgeschehen und Wirkungen bis hin zur noumenalen Motivation (Forst) als Form von Bewegung. Bezugsbegriffe der Bewegung (wie Raum, Zeit, Kontinuität), aber auch die kategoriale Nachbarschaft zur Ursache verleihen dem Machtbegriff Endo- oder Exo-Konsistenz.

(iii) Die Korrelation von agentiven und patentiven Anteilen

Das Strukturelement von Bewegung basierend auf der Unterscheidung von agentiven und patentiven Bewegungsanteilen (lateinisch und gemeinhin: ›aktiv‹ und ›passiv‹) grundiert auch das Verständnis von Macht als Bewegungsvollzug. Macht kann also nicht dispositionell und essentiell besessen werden, sondern ereignet sich in einer Zusammenkunft aus agentiven und patentiven Anteilen, die miteinander korrelieren und für die Ausbildung einer Machtbeziehung notwendig sind: Wo keine Affizierung (Bewegt-Werden) möglich ist, findet auch kein Machtvollzug statt. Das, was hier als ›Patentivität‹ bezeichnet wird, ist in der Grundstruktur das Vermögen, bewegt zu werden, d. h. etwas zu erleiden, etwas zu erfahren. In der Patentivität zeichnet sich also eine inverse Form von agency oder ›Agentivität‹ ab. Die Differenzierung in agentive und patentive Anteile kann selbst analytisch oder empirisch verstanden werden – entscheidend ist das Momentum ihrer Zusammenkunft und korrelativen Komplementarität. 13 13 Hier wäre auch zu prüfen, inwiefern der Vorschlag zur analytischen Differenz von Agentivität und Patentivität mit dem in der Medien-Ästhetik aufgebrachten Konzept von »Interpassivität« im Verhältnis steht, vgl. dazu Zizek (1997), Pfaller (2008), Feustel / Koppo / Schölzel (2011).

500

Schlussfolgerungen und Ausblick

10.4 Begriffliche Diagrammatik als Beitrag zur kritischen Begriffsforschung

Die begriffliche Diagrammatik wurde auf eine bestimmte Fragestellung hin entwickelt. Ihr methodischer Anwendungscharakter ließe sich m. E. aber auch in der historisch-systematischen Untersuchungen von anderen zentralen Begriffen der politischen Theorie, Philosophie und den Sozialwissenschaften anwenden, so bspw. die Begriffe des Staates, der Gesellschaft und der Politik. Die begriffliche Diagrammatik lässt sich dann zugleich verstehen als (i) heuristischer Ansatz im Rahmen der Methodologie der politischen Theorie 14, (ii) als ergänzender methodischer Ansatz im Rahmen der Methoden der politischen Ideen- und Begriffsgeschichte, (iii) als Beitrag zu einer interdisziplinär angelegten ›Begriffsforschung‹ 15 und (iv) als Beitrag im methodischen Bereich der Kritischen Theorie 16, indem sie die begrifflichen und theoretischen Grundlagen der Analyse und Kritik von sozialen und politischen Phänomenen untersucht und hinsichtlich ihres kritisch-produktiven Potentials für die Theoriebildung evaluiert. 17 Die begriffliche Diagrammatik nimmt dabei einige methodologische Verschiebungen vor, durch die sie sich als ergänzende Perspektive in die unterschiedlichen Bereiche der Reflexion und Arbeit am Begriff einbringen kann:

(i) Begriffe

Begriffe werden weder als Bündel oder Knotenpunkte von Sprachhandlungen und Bedeutungen noch als mentale Repräsentationen oder transzendentale Schemata konzipiert, sondern als Ensemble von heterogenen Komponenten, die selbst Nicht-Psychologisches und Nicht-Sprachliches 18, wie bspw. begriffliche Beziehungen und Strukturprinzipien, beinhalten können. Begriffe erhal14 Christian List und Laura Valentini (2016) haben bereits die Begriffsanalyse als »core branch« der Methodologie einer analytisch orientierten politischen Theorie beschrieben. Die erweiterte Begriffsanalyse im Rahmen der begrifflichen Diagrammatik würde versuchen, auch für die nichtanalytische politische Theorie einen analytischen heuristischen Rahmen bereitzustellen. 15 Hierzu wären Potentiale der theoretischen und methodischen Synergien mit anderen integrativen und breit angelegten Untersuchungsansätzen zu prüfen, wie beispielsweise dem Programm der »Experimentellen Begriffsforschung« von Werner Kogge im Feld der Wissenschaftsphilosophie (2017) und dem an Foucault angelehnten Ansatz der »Concept work« von Paul Rabinow und Gaymon Bennett (2007, 2010) im Feld der Anthropologie. 16 Hierzu zählt m. E. exemplarisch Adornos Ansatz der Philosophische[n] Terminologie (1974, 1976). 17 Mit Honneth (2017), 20–21, also eine »meta-politische« Evaluation vornimmt. 18 Vgl. Kemmerling (2017), 19.

Begriffliche Diagrammatik als Beitrag zur kritischen Begriffsforschung

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ten im Zusammenspiel ihrer heterogenen Bestandteile (›Komponenten‹) Konsistenz. Die ›Substanz‹ der Begriffe erschließt sich also weniger durch ›Bedeutungen‹ als vielmehr durch Ressourcen in der Begriffsbildung und durch die Problematik, auf die Begriffe in ihrer Konstruktion antworten. Begriffe können sich aus mehreren Ebenen zusammensetzen, die verschiedene Konzeptionen im Rahmen eines komplexen Begriffs abbilden.

(ii) Konzeption von Dis-/Kontinuität

Der in den letzten Jahren vorrangig gewählte Fokus auf Wandel und Veränderungen in den Bedeutungen von Begriffen wird verschoben auf Kontinuitäten von begrifflichen Bestandteilen. Damit wird allerdings nicht auf ›überzeitliche‹ Substrate oder transzendente Signifikate rekurriert. Das Interesse gilt vielmehr einer begriffsgeschichtlichen Beobachtung, die das Kontinuierliche im und am Diskontinuierlichen berücksichtigt und so einen historisch differenziellen Grundmodus der Begriffsbildung anzeigen will. Dieser differenzielle Modus legt nahe, dass das, was kontinuiert, unterhalb der Schwelle des Begriffs als Ganzem liegt. Es sind einzelne Aspekte und Elemente an Begriffen, die in anderen Konzeptionen des Begriffs wiederauftauchen bzw. ›wieder-holt‹ werden. Die begriffliche Kontinuität lässt sich präziser als ein ›Wieder-Holen‹ von einzelnen begrifflichen Elementen in begrifflichen Komponenten auffassen und nachspüren.

(iii) Historische begriffliche Identität und Traditionslinien der Begriffsbildung

Eng verbunden mit dem Aspekt des Kontinuierlich-Diskontinuierlichen ist die Frage nach der begrifflichen Identität. Denn auch die Feststellung, dass sich ein Begriff wandelt, oder wie Blumenberg sagen würde: »umbesetzt« wird, setzt die Annahme eines »Minimum[s] an Identität« 19 voraus, von der aus überhaupt Veränderungen, aber auch Wieder-Holungen an einem Begriff festgestellt werden können. Dieser Umstand birgt in methodologischer Hinsicht ein paradoxes Moment: »eine scheinbar diskontinuierliche Bewegung lässt sich nur über das begrenzende Kontinuierliche erschließen.« 20 Die Annahme einer formalen und schwachen Identität eines Begriffs, die ihn erkennbar und intelligibel macht, ist epistemologisch und ontologisch der Annahme der Diskontinuität in der 19 20

Blumenberg (1996), 541. Zill (2017), 26.

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Schlussfolgerungen und Ausblick

begrifflichen Existenz notwendig an die Seite zu stellen. Mit Deleuze und Guattari hat ein Begriff nicht nur eine Geschichte, sondern auch ein Werden, d. h., der Begriff perenniert gerade in einem Spiel aus Differenz und Wieder-Holung in seinen Komponenten. 21 Das Verhältnis zwischen einzelnen Konzeptionen eines Begriffs (bzw. ›signierten‹ Versionen eines Begriffs) ließe sich vielleicht treffender im Anschluss an Sarasins Studie über das Verhältnis von Darwin, Nietzsche und Foucault zueinander als »›punktuierte‹« Kontinuität charakterisieren. 22 Punktuierte Kontinuitäten bilden den Kern dessen, was gemeinhin als ›Traditionslinien‹ und ›Filiationen‹ in den Geschichten von politischen Begriffen bezeichnet wird. 23 Somit ist auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Modellierung von Kontinuität und ›Tradition‹ für die Geschichte des politischen Denkens und der Philosophie längst nicht abgegolten. Die begriffliche Diagrammatik versteht sich vor diesem Hintergrund als Impuls, diese Fragen methodologisch und im Rahmen einer Theorie der Geschichte des (politischen) Denkens weiterzuverfolgen.

21 Die Frage nach der »Identität des Begriffs« (Deleuze [2007], 94) wäre ausführlicher mit einer Theorie der Wiederholung und der Differenz, wie bspw. diejenige von Deleuze, zu verknüpfen. 22 Sarasin (2019), 191. 23 Der Rede von Traditionslinien liegt ein Verfahren der Interpolation zugrunde, in dem »eine Reihe von Punkten angegeben [wird], durch die eine Kurve mag gezogen werden können.« (Blumenberg [1998], 49; vgl. Zill [2017], 25). Blumenberg hat dieses gängige Verfahren angesichts »der unüberschreitbaren Defizienz jeden historischen Materials« als »ebenso anfechtbar wie unüberspringbar im Zuge der Ausbildung einer Metaphorologie« bezeichnet (Blumenberg [1998], 49).

Literaturverzeichnis

Die Zitierung erfolgt nach der hier beschriebenen Weise. Sämtliche Hervorhebungen (Sperrungen, Kursivsetzungen, Kapitälchen) werden, wenn nicht anders angegeben, aus dem Original übernommen. Im Literaturverzeichnis sind auch sämtliche verwendeten Siglen aufgeführt. Aufgrund der Heterogenität der konsultierten Literatur und der fachlichen Diskurse erfolgt die Auflistung der zitierten Literatur nach Kapiteln, die für den Hauptteil B mit den drei untersuchten Autoren Aristoteles, Thomas Hobbes und Michel Foucault korrelieren. Die verwendete Literatur aus den Kapiteln 1, 2, 3, 9, 10 wird unter der Überschrift »Politische Theorie, Ideengeschichte und der Machtbegriff« zusammengefasst. Einige Quellen werden in mehreren Kapiteln verwendet; um ihre Auffindbarkeit im Literaturverzeichnis zu erleichtern, werden sie entsprechend in den jeweiligen Abschnitten aufgeführt.

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Die Hauptwerke von Deleuze (in alleiniger Autorenschaft) und Deleuze und Guattari (in gemeinsamer Autorenschaft) werden unter Angabe der Sigle gemäß dem folgenden Siglenverzeichnis zitiert. F

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Stellenangaben aus dem griechischen Text werden nach dem folgenden Muster wiedergegeben: Met. V 12, 1019a15–17 (= Metaphysik Buch V, Kapitel 12, Seite 1019a, dabei steht a für die linke Kolumne, b für die rechte Seite der Bekker-Ausgabe, Zeilen 15 bis 17). Die Angabe nach Bekker'scher Paginierung entspricht der internationalen Standard-Zitierweise. Die Zitation von Platon folgt traditionell der Paginierung von Stephanus. Die Übersetzung folgt, wenn nicht anders angegeben, der im nachfolgenden Verzeichnis zuerst genannten Textgrundlage, also z. B. für Stellen aus der Metaphysik Seidl / Bonitz, für die Physik Zekl. De Anima (Peri psyche¯s): Über die Seele. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Gernot Krapinger. Stuttgart: Reclam, 2011. An. Post. Analytica posteriora (Analytika hystera): Zweite Analytik. Analytica Posteriora. Griechisch-Deutsch. Griechischer Text nach W. D., Ross (Oxford Ausg.). Übers., m. einer Einl. u. Anm. hg. v. Wolfgang Detel. Hamburg: Meiner, 2011. Cael. Über den Himmel (De Caelo). Übers. v. Alberto Jori. In: Aristoteles in deutscher Übersetzung, Bd. 12/III. Berlin / Boston: Akademie Verlag, 2009. Cat. Categoriae (Kate¯goriai): Die Kategorien. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Ingo W. Rath, bibliograph. erg. Ausg. 2012. Stuttgart: Reclam, 1998. Gen. corr. De Generatione et Corruptione (Peri geneseo¯ s kai phthoras): Über Werden und Vergehen (De generatione et corruptione:). Griechisch – Deutsch. Übers., m. einer Einl. u. Anm. hg. v. Thomas Buchheim. Griechischer Text nach Harold H. Joachim. Hamburg: Meiner, 2011. DA

Aristoteles (Kap. 5, 6)

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Begriffliche Annäherungen

arche¯ Ausgang, Anfang, Herkunft; Prinzip; Regierung dynamis (Nominativ Singular) Vermögen, Macht; Potentialität (latinisiert: ›Potenz‹) dynameis (Nominativ Plural) Vermögen (Pl.) dynamei (Dativ, Singular) ›dem Vermögen nach‹ energeia Wirksamkeit, Wirksamsein, Tätigkeit, Aktivität (latinisiert: ›Akt‹); Wirklichkeit energein wirksam sein, werden kine¯sis Bewegung, Veränderung kata kine¯sin in Bezug / im Hinblick auf Bewegung metabole¯ Umschlag, Wandel, Veränderung ousia ›das Sein‹, Substanz, Wesen poiein tun, machen, herstellen, erzeugen, ein-/bewirken paskein/pathein erleiden, erfahren, ›affiziert werden‹

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Texte aus den Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (Sigle: DE) werden unter Angabe der Bandnummer (I bis IV), der von den Herausgebern vergebenen Zählung der Texte, die sich durch Ausrichtung am Ersterscheinungsdatum chronologisch ergibt (/Nr.), sowie die Seitenangabe (z. B. DE III / 195, 270) zitiert. Bei Verweisen auf einen gesamten Text, entfällt die Seitennummer; in Fällen, in denen das französische Original wichtige, durch die Übersetzung in das Deutsche schwer einholbar Aspekte verdeutlicht, wird die Originalquelle mit entsprechender Seitenzahl mitangegeben. Nachfolgend findet sich eine Übersicht der zitierten Texte mit Angabe des Datums der Erstpublikation. DE

DE I / 40 DE I / 66 DE II / 76 DE II / 84

Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, hg. v. Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001–2005, frz. Dits et Écrits, 1954–1988, 4 Bände, Paris: Gallimard, 1994. Eine Geschichte, die stumm geblieben ist (1966), in: DE I, 703– 708 Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch (1969), in: DE I, 980– 991 Diskussionsbeitrag zu François Dagognet (1970), in: DE II, 34– 37 Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971), in: DE II, 166–191

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Werke Foucaults

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Werke Foucaults

Nachfolgend gelistete Werke von Foucault werden unter Angabe der Sigle und der Seitenzahl zitiert. Bei Verweisen auf einen gesamten Text, entfällt die Seitennummer; in Fällen, in denen das französische Original wichtige, durch die Übersetzung in das Deutsche schwer einholbare Aspekte verdeutlicht, wird dieses mit entsprechender Seitenzahl mitangegeben. AN

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Abbildungsverzeichnis

Bei allen Abbildungen handelt es sich um eigene Darstellungen. Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17

Komponenten des methodologischen Komponentenmodells des Begriffs (Tabelle) Topologische Gestalt des Begriffs und Begriffskomponenten in drei Zonen (Zeichnung) Das formale begriffliche Diagramm (Diagramm) Diagrammatische Karte (Liste) Wanderung durch den Begriff / Diagrammatische Karte mit Schleife (Zeichnung) Das Tableau der kinetischen dynamis (dynamis kata kine¯sin) (Tabelle) Bewegungsstruktur und dynamis-Struktur (Schema) Das Diagramm der dynamis (Diagramm) Die drei Ebenen des hobbesschen Machtbegriffs (Schema) Phasenraum der meta-physischen potentia (Schema) Diagramm von Hobbes' Machtbegriff (Diagramm) Der Begriffskorpus von Foucaults Machtbegriff (Schema) Die Elemente der ersten Ebene von Foucaults Machtbegriff (Schema) Matrix der historischen Variablen einer Machtform (Tabelle) Der Phasenraum der ersten Ebene des foucaultschen Machtbegriffs (Schema) Das Diagramm von Foucaults Machtbegriff (Diagramm) Dynamis-Matrix (Schema)

Vollständiges Inhaltsverzeichnis

1.

Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 19 30 34

1.1 1.2 1.3

Diskussionen zum Machtbegriff in der politischen Theorie . . . . . Begriffsverständnis und untersuchungsleitende Thesen . . . . . . . Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

TEIL A: Forschungsstand und methodischer Zugang 2.

Die dynamis als Vorläufer des politischen Machtbegriffs . . . . . . . . . .

2.1 2.2 3.

Perspektiven und Desiderate der politischen Begriffs- und Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 3.2 4.

Der ›weite‹ Machtbegriff in der gegenwärtigen Philosophie . . . . . Die aristotelische dynamis in der Geschichtsschreibung des politischen Machtbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Erkenntnisinteressen und Leitfragen in der aktuellen politischen Ideen- und Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Desiderate für die Untersuchung des Machtbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Begriffliche Diagrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1 4.2

Der Begriff des Begriffs von Deleuze und Guattari . . . . . . Komponentenmodell des Begriffs im Anschluss an Deleuze und Guattari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Begriffliche Diagrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Diagramm und Karte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Vertikale und horizontale Diagrammatik . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Methodologische Vorkehrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

..... . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

39 40 43

53 54 63

67 68

. 80 . 90 . 90 . 100 . 102

Vollständiges Inhaltsverzeichnis

570

TEIL B: Die meta-physische dynamis des Aristoteles und die Machtbegriffe von Hobbes und Foucault 5.

Vorbemerkungen zur Untersuchung der dynamis . . . . . . . . . . . . . . . 109

5.1 Dynamis im antiken Alltagsgriechisch und bei Plato . . . . . . . . . 5.1.1 Vorphilosophische Verwendungen und semantische Kontexte . . 5.1.2 Dynamis bei Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dynamis und die Frage nach dem Seienden und der Bewegung im Sein (Sophistes 247d9–e4) . . . . . . . . . . . . . . . b) Dynamis in ihrem relationalen Charakter (Politeia 477b5–e2) 5.2 Zugang zu Aristoteles' Begriff der dynamis . . . . . . . . . . . . . . . 6.

. 109 . 109 . 112 . 113 . 118 . 121

Die Komponenten der aristotelischen dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . 125

6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3 6.3.1

6.3.2 6.3.3

6.3.4

6.3.5 6.3.6 6.4 6.4.1

6.4.2

Denkmilieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das historisch-geographische Milieu (K1) . . . . . . . . . . . . . Das wissenskulturelle Milieu (K2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metatheoretische Rahmung (K3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemkomplex (K4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisches Terrain (K5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Begriffsebene und ihre Elemente (K6) . . . . . . . . . a) ›Prinzip‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) ›der Bewegung (kine¯sis) und Veränderung (metabole¯)‹ . . c) ›in einem anderen oder in sich als einem anderen‹ . . . . . Phasenraum (K7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturprinzip: Agentiv-patentiv-Korrelation (K8) . . . . . . a) Strukturelle Begriffspaare kinoun und kineisthai, poiein und paschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Agentive und patentive Vermögen in ihrer korrelativen Zusammenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zweite Begriffsebene: die ›ontologische‹ dynamis (K9) . . a) Dynamis in der Definition von Bewegung (Phys. III 1–3) b) Die dynamis und energeia in Bezug auf Substanz (ousia) . Epistemologisches und ontologisches Profil (K10) . . . . . . . Zusammenfassung: Der Begriffskorpus der dynamis . . . . . . Begriffsmilieu II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategoriale Nachbarschaften (K11) . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dynamis, Natur (physis) und technische (künstliche) Herstellung (techne¯) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dynamis als Prinzip (arche¯) und Ursache (aitios / aitia) . . c) Dynamis, dynasteia, arche¯ und kratos als politische Herrschaft (Regierung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Verzweigungen (K12) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

125 125 127 130 130 134 142 150 151 154 159 163 165 169

. . . . 170 . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

178 188 191 194 202 204 205 206

. . . . 206 . . . . 211 . . . . 216 . . . . 221

Vollständiges Inhaltsverzeichnis

6.5 7.

571

a) Dynamis – bia (Gewalt) – ischys (Kraft) . . . . . . . . . . . . . . . . 221 b) Bezugsbegriffe der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Diagramm der dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Hobbes’ Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.3 7.3.1

7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.4 7.4.1

7.4.2 7.4.3 7.4.4

7.4.5 7.4.6 7.5 7.5.1

7.5.2 7.6

Zugang zu Hobbes' Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkmilieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das historisch-geographische Milieu (K1) . . . . . . . . . . . . . Das wissenskulturelle Milieu (K2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metatheoretische Rahmung (K3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hobbes' politische Metaphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . b) Konzeption von Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . c) Hobbes' allgemeine Bewegungshypothese . . . . . . . . . . . Problemkomplex (K4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisches Terrain (K5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Ebene: Macht als Ursache und Bewegung (metaphysische potentia) (K6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formale Begriffsbestimmung: das Prinzip der differenziellen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste materiale Begriffsbestimmung: Macht = Ursache = Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zweite materiale Begriffsbestimmung: Macht = Ursache = Wirkung = Bewegung = Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . Phasenraum der Basisebene: Typen der meta-physischen potentia (K7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturprinzip: Agentiv-patentiv-Zusammenkunft (K8) . . Weitere Begriffsebenen: die Macht des Individuums und die Macht des Souveräns (K9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die natürliche Macht (potentia) des Menschen . . . . . . . b) Die Macht (potentia) des Souveräns . . . . . . . . . . . . . . . c) Potentia und Potestas in Hobbes' politischer Theorie . . . Epistemologisches und ontologisches Profil (K10) . . . . . . . Zusammenfassung zum Begriffskorpus . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategoriale Nachbarschaft: potentia und conatus (K11) . . . . a) Hintergrund und Konzeption des conatus . . . . . . . . . . . b) Conatus, Freiheit, Recht und staatliche Macht . . . . . . . . Begriffliche Verzweigung der potentia: die Bezugsbegriffe der Bewegung (K12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm von Hobbes' Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . .

233 236 237 239 248 249 249 252 258 263 266 279 280

. . . . 281 . . . . 282 . . . . 285 . . . . 289 . . . . 293 . . . . 296 . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

299 300 308 310 314 318 320 320 321 328

. . . . 335 . . . . 339

Vollständiges Inhaltsverzeichnis

572

8.

Foucaults Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3

8.4 8.4.1

8.4.2 8.4.3 8.4.4

8.4.5 8.5 8.5.1

8.5.2 8.6

Zugang zu Foucaults Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Denkmilieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das historisch-geographische Milieu (K1) . . . . . . . . . . . . . . . . Das wissenskulturelle Milieu (K2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsmilieu I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metatheoretische Rahmung (K3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemkomplex (K4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretisches Terrain: der Wille zum Wissen und (seine) Genealogie (K5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als meta-physische Theorie des Werdens und ihr Verhältnis zu Aristoteles' dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Foucaults Adaption: Vom Willen zum Wissen und Genealogie c) Genealogie als Analytik der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffskorpus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erste Begriffsebene und ihre Elemente (K6) . . . . . . . . . . . . a) Materiales Element: Macht als soziales Kräfteverhältnis . . . . b) Historisches Element: Machtformen als Variablenkomplexe (Matrizen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analytisches Element des Machtbegriffs: Analysemodelle . . . Phasenraum: Historische Machtformen (K7) . . . . . . . . . . . . . . Das Strukturprinzip: Spiel der Kräfte und Widerstand (K8) . . . . Zweite Begriffsebene: Macht als Leiten und Regieren (K9) . . . . . a) Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pastorale Macht und Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . Epistemologisches und ontologisches Profil (K10) . . . . . . . . . . Begriffsmilieu II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kategoriale Nachbarschaften (K11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Macht und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Macht, Mechanik, Technik und techne¯ . . . . . . . . . . . . . . . . c) parrhesia und dynamis, dynasteia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffliche Verzweigungen (K12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagramm von Foucaults Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . .

343 352 352 353 358 358 365

. 371

. . . . . .

372 387 395 401 402 403

. . . . . . . . . . . . . . .

411 427 430 433 442 443 448 452 455 456 456 460 467 474 481

TEIL C: Schlussbetrachtung 9.

Ergebnisse der diagrammatischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . 485

9.1 9.2 9.3 9.4

Aristoteles' dynamis als Begriff der Bewegung . . . . . . . . . . . . . Aristoteles' dynamis als Vorgänger des politischen Machtbegriffs Hobbes' Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles' dynamis . . . Foucaults Machtbegriff im Verhältnis zu Aristoteles' dynamis . .

. . . .

485 487 489 490

Vollständiges Inhaltsverzeichnis

573

10. Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

10.1 Meta-Physik als theoretische und begriffliche Ressource . . 10.2 Macht als Begriff der Bewegung und bewegungsorientierte Machtanalytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Ein machtbegriffliches Schema im Ausgang von Aristoteles' dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Begriffliche Diagrammatik als Beitrag zur kritischen Begriffsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . 493 . . . . . 494 . . . . . 498 . . . . . 500

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

1. 2. 3. 4. 5.

Politische Theorie, Ideengeschichte und der Machtbegriff (Kap. 1, 2, 3, 9, 10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deleuze und Guattari, begriffliche Diagrammatik (Kap. 4) Aristoteles (Kap. 5, 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hobbes (Kap. 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Foucault (Kap. 8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . .

. . . . .

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. . . . .

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. . . . .

503 517 522 538 551

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567