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German Pages 211 [212] Year 2013
Textus – Contextus – Circumtextus
Narratologia Contributions to Narrative Theory
Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert
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De Gruyter
Johanna Sprondel
Textus – Contextus – Circumtextus Mythos im Ausgang von Joyce, Aristoteles und Ricœur
De Gruyter
ISBN 978-3-11-031091-7 e-ISBN 978-3-11-031104-4 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Among other things, you’ll find that you’re not the first person who was ever confused and frightened and even sickened by human behavior. You’re by no means alone on that score, you’ll be excited and stimulated to know. Many, many men have been just as troubled morally and spiritually as you are right now. Happily, some of them kept records of their troubles. You’ll learn from them – if you want to. Just as someday, if you have something to offer, someone will learn something from you. It’s a beautiful reciprocal arrangement. And it isn’t education. It’s history. It’s poetry. — J. D. Salinger, The Catcher in the Rye
Für Friedrich und Paul Bendix, Jim und Lukas
Vorwort Das Schönste an der Fertigstellung eines Manuskriptes ist es wohl, den Teil zu schreiben, in dem man den Menschen danken darf, die zum Gelingen und der Entstehung des Buches in der einen oder anderen Weise beigetragen haben. Die vorliegenden Überlegungen wurden unter dem Titel „myth sub specie temporis nostri – Überlegungen zum Mythos als Methode der Vermittlung von Geschichte im Ausgang von Joyce, Aristoteles und Ricœur“ im Wintersemester 2010/11 an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg als Dissertation angenommen. Dass diese Untersuchung nun unter dem schlankeren Titel „Textus – Contextus – Circumtextus. Mythos im Ausgang von Joyce, Aristotles und Ricœur“ vorliegt, verdankt sich auch den Herausgebern der Reihe Narratologia, besonders Prof. Dr. Wolf Schmid. Für die Aufnahme in diese Reihe und für die Betreuung im Hause Walter De Gruyter durch Dr. Manuela Gerlof und Lena Ebert möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Christian v. Ditfurth. Die Arbeit entstand im Rahmen der Förderung des internationalen Kollegs „Geschichte und Erzählen“. Danken möchte ich den Sprechern des Kollegs, Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke und Prof. Dr. Bernhard Zimmermann, und meinen Kollegs-Kommilitonen in dieser Zeit. Unabkömmliche Ratgeber und engagierte Gesprächspartner waren mir jedoch auch meine Kolleginnen und Kollegen am Freiburger Husserl-Archiv. Besonders gilt mein Dank meinen Kollegen und Freunden Thiemo Breyer und Maren Wehrle. Für inspirierende und arbeitsintensive Aufenthalte jenseits des eigenen Schreibtisches möchte ich dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Fonds Ricœur, dem Deutschen Historischen Institut, Paris und der Zürcher James Joyce Stiftung danken. Ohne die Freundschaft zu Dr. Fritz Senn und dessen ansteckende Begeisterung für Joyce wäre es wohl nie zu einer Auseinandersetzung mit dem Ulysses gekommen. Mein Dank gilt Prof. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice und Prof. Dr. Rahel Jaeggi, mit denen ich an der Humboldt-Universität zu Berlin in meiner Postdoktorandenphase zusammenarbeiten durfte für Ihre Unterstützung und die gewährten Freiräume, die es mir ermöglichten, dieses Buch zu bearbeiten und Teile in Kolloquien in London, Paris und Stanford zu diskutieren.
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Vorwort
Mein besonderer Dank gilt meinen Freunden und Kollegen, die doziert, diskutiert, abgeraten, harsch kritisiert, gelobt, eingeladen, auf Schlaf und anderes verzichtet, verunsichert, angetrieben, ermutigt, zugeraten, gelesen, korrigiert, gekocht, ermahnt, gewinkt und kommentiert haben. Vor allem Simone Baum, Stelios Chronopoulos, Emanuele Coccia, Charles Fischer (†), Rolf Fieguth, Moritz Gansen, Regula Giuliani und ihrer Familie, Jürgen Heene (†), Sandra Hesse, Anna-Bettina Kaiser, Josef Mackert, Ole Meinefeld, Arne Man Muus, Frank Friedemann Pauly, Filippomaria Pontani, Oliver Sauer, Lilja Walliser, Euan „Moses“ West, Christine Tauber und Christoph „Webs“ Weber möchte ich danken. “A friend is a person with whom I may be sincere. Before him I may think aloud“, wie Ralph Waldo Emerson formulierte. Mein großer Dank gebührt meinem Doktorvater Prof. Dr. HansHelmuth Gander für seine uneingeschränkte Bereitschaft zu Diskussionen und seine langjährige, stete Förderung und Unterstützung all meiner wissenschaftlichen Vorhaben. Auch meiner Zweitbetreuerin, die gewissermaßen zur Doktormutter wurde, Prof. Dr. Monika Fludernik, möchte ich für ihre große Unterstützung, zahlreiche Gespräche, Anregungen und viele kritische Impulse sehr danken, die das interdisziplinäre Arbeiten befruchtet haben. Ihrer beider Unterstützung, Vertrauen und Rückhalt waren mir immer eine große Hilfe und für das vorliegende Buch unerlässlich. Nicht auf dem Papier, aber in jeder anderen erdenklichen Weise hat mein Lehrer Prof. Dr. Friedrich A. Uehlein diese Arbeit begleitet – und mich seit dem Beginn meines Studiums in meinem Denken. Viele Gedanken gehen auch auf seine kritische Lektüre und ausgiebige Gespräche mit ihm zurück. Ihm zu danken ist mir daher eine besondere Freude. Ich widme diese Arbeit auch meinen Eltern, die mich in all meinen Bestrebungen zu jeder Zeit und auch an den fernsten Orten immer unterstützen, und die es weder an Kritik noch an Liebe je fehlen lassen.
Stanford, März 2013
Inhaltsverzeichnis Einleitende Überlegungen zur „mythischen Methode“ ............. I. Auf der Suche nach der mythischen Methode ................................. 1. L’hypertexte autoproclamé ............................................................ 2. Parallelen und windschiefe Geraden im Raum – zwischen groundplan und myth sub specie nostri ................................................ 3. Die Implikationen der Transposition .......................................... 4. Mythologisieren mit Methode ....................................................... II. Aristotelische Mímesis und der mehrfache Mŷthos ............... 1. Mímesis bei Platon und Aristoteles .............................................. 2. Mímesis als produktive Kraft ........................................................ 3. Die Komposition und das Wesen der Handlung ....................... 4. Die doppelte Bestimmung des Mŷthos als mímesis práxeos und sýstasis tôn pragmáton ........................................................... 5. Das Wahrscheinliche, das Mögliche und die Grenze zwischen Mŷthos und Historiographie ......................................................... 6. Haploûs, diploûs und peplegménos ............................................. 7. Mŷthos und Kern ............................................................................ 8. Das Epos und das polýmython .................................................... 9. Fünf Beobachtungen zum Mŷthos im Ausgang der Poetik ......
III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung – der Mímesis-Zirkel Paul Ricœurs ............................................... 1. Mímesis, Mŷthos und Geschichte ................................................ 2. Das Vorverständnis von Handlung als Grundlage für die Vermittlung von Geschichte – Mímesis I ................................... i. Semantik ......................................................................................... ii. Symbolik ........................................................................................ iii. Zeitlichkeit ................................................................................... 3. Das Reich des Als ob (le royaume du comme si) – Mímesis II ........................................................................................ 4. Lesen, Verstehen, Handeln: Mímesis III ..................................... i. Konfiguration, Refiguration und Lektüre .................................
1 14 15 27 43 50 54 55 63 69 73 79 83 88 92 98 102 103 116 117 120 124 128 136 137
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Inhaltsverzeichnis
ii. Narrativität und Referenz ........................................................... a. Sinn und Referenz sowie ihre Bedeutung im Sprechakt ........ b. Werke unter den Sprechakten .................................................... c. Referenz und dichterisches Werk .............................................. iii. Die erzählte Zeit ......................................................................... 5. Referenz, Spur und der Nutzen Ricœurs für die mythische Methode ..............................................................................................
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IV. Conclusio: Textus, Contextus und Circumtextus ................. Literaturverzeichnis ............................................................................... Register ......................................................................................................
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“ Im November des Jahres 1923 rezensierte T. S. Eliot den 1922 erschienenen Roman Ulysses von James Joyce. In dieser Rezension bemerkte Eliot, dass das eigentlich herausragende und bisher von der Kritik nicht gewürdigte Alleinstellungsmerkmal dieses Romans die neuartige Methode sei, deren sich Joyce bedient habe: die „mythische Methode“. Among all the criticisms I have seen of the book, I have seen nothing [...] which seemed to me to appreciate the significance of the method employed – the parallel to the Odyssey, and the use of appropriate styles and symbols to each division. Yet one might expect this to be the first peculiarity to attract attention; but it has been treated as an amusing dodge, or scaffolding erected by the author for the purpose of disposing his realistic tale, of no interest in the completed structure. In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr. Joyce is pursuing a method which others must pursue after him. [...] They will not be imitators, any more than the scientist who uses the discoveries of an Einstein in pursuing his own, independent, further investigations. It is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history. [...] Instead of narrative method, we may now use the mythical method.1
Unbeschadet seiner eigenen Beschäftigung mit ähnlichen literarischen Verfahren, etwa in The Waste Land2 und “Tradition and the Individual Talent”3, richtet Eliot damit sein Augenmerk auf einen Aspekt von Joyces Ulysses, der im Mittelpunkt der folgenden Erörterung steht: der Mŷthos und dessen Methode der Ordnung, der Repräsentation und des Begreifbarmachens von Geschichte. Eliots Gedanke und die sich daraus ergebenden Fragen stellen den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie dar. Es folgen Überlegungen zum Mŷthos als textimmanenter Methode. Dabei sollen dem Mŷthos als Gegenstand Charakteristika sowohl hinsichtlich der Textproduktion als auch hinsichtlich der Rezeption zugeordnet werden. Dies ermöglicht es, an den Mŷthos als Funktion des Erzählens heranzutreten, ihn unter kommunikativen Gesichtspunkten zu betrachten: dem Autor-, Erzähler- und _____________ 1 2 3
Eliot 1975: 177. Eliot 1922. Eliot 1982.
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
Rezipientenaspekt. Diese Dreiteilung soll am Ende der Studie in den Begriffen des Textus, des Contextus und des Circumtextus beschrieben werden und den Mŷthos als textimmanentes Analysemoment, als Träger von Wirkungsdispositionen4 fruchtbar machen. Unter Textus verstehe ich im lateinischen Sinne des Wortes den „Zusammenhang der Rede“. Als Contextus fasse ich die Verflechtung eines Vorverständnisses des Lesers mit dem Text, wie es im Akt der Lektüre zum Tragen kommt und zu einem erweiterten Verständnis der Erzählung führt. Als Circumtextus – nach dem lateinischen „circumtextus“: „rings umsäumt“, aber auch des Verbs „circumire“, somit das Moment des Einschließens und Umgebens mitreflektierend – soll schließlich jene Funktion des Mŷthos verstanden werden, welche die Voraussetzungen und Implikationen der mythopoíesis umfasst. Eingegangen werden soll hier kurz auf den Mŷthos-Begriff, wie ihn Hans Blumenberg in Arbeit am Mythos entwickelt hat, der das Zusammenspiel von Mŷthos und Mythem, das Claude Lévi-Strauss in der Strukturalen Anthropologie vorstellt5, aufnimmt. Geht man mit Hans Blumenberg davon aus, dass der Mŷthos eine „Konstanz des Kernbestandes“ aufweist und dass die „hochgradige Haltbarkeit des Mythos“ seine zeiten- und raumübergreifende Präsenz ausmacht, mithin dass, wer einen Mŷthos erzählt, nichts anderes erzählt als „eine nicht datierte und nicht datierbare, also in keiner Chronik zu lokalisierende[n] Geschichte“6, so mag man zunächst an dem Wert des Mŷthos für Fragen der Historiographie zweifeln. Denn ist der Mŷthos hier zwar als epochenübergreifendes Moment gefasst, so scheint sich doch das Moment der Differenzierbarkeit schwierig zu gestalten, das eben für eine Verortung innerhalb der Geschichte bedeutsam ist. Auch Manfred Pfisters Einschätzung des Mŷthos als permanente Variation, die keine Schlüsse auf eine Quelle zuzulassen scheint, entmutigt zu_____________ 4
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Vgl. zu dieser Terminologie Fricke 1981 und im Ausgang dessen im Gefüge der Funktion Zymner 1995. Beide definieren „Funktion“ als über den Beobachtungsbegriff hinausweisendes Moment und somit als Dispositionsbegriff. Dass von einer Funktion im Sinne der Wirkungsdisposition gefasst werden kann ist dann gegeben, wenn gezeigt werden kann, dass „Textmerkmale dieses Typs generell geeignet sind, in vergleichbaren Kontexten diese bestimmte Wirkung zu erzielen.“ (Fricke 1981: 90). Vor eben diesem Hintergrund sollen die drei Funktionen des Mŷthos als Textus, Contextus und Circumtextus im Folgenden entwickelt werden. Die Lektüre Blumenbergs Ausgabe der Strukturalen Anthropologie, wie sie mir während meines Forschungsaufenthaltes im Deutschen Literatur Archiv, Marbach möglich war, ist dabei überaus instruktiv: Blumenberg hat Lévi-Strauss vordergründig dahingehend gelesen, wie zwischenmenschliche und interkulturelle Beziehung scheitern und warum. So notiert er auf einer Einlage: „Inzestverbot als allgemeines Prinzip (61); Verwandtschaftssystem als Sprache! (63)“ Daruas ergibt sich für Blumenberg die Frage: „Was stabilisiert das System?“ – der Mŷthos, wie Blumenberg dann in seinen Arbeiten zeigt. Blumenberg 62001: 165.
Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
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nächst eher, als dass sie dazu angetan wäre, sie als Grundlage für geschichtlich motivierte Forschungsinteressen zu verstehen: [Der Mŷthos] existiert nicht in einem authentischen Original, sondern immer in einem unabschließbaren Spiel von Versionen, Varianten, Neukombinationen, Überschreibungen, Übersetzungen, Fortsetzungen, Versetzungen in andere Gattungen und Medien, von Exegesen, Kommentaren, Interpretationen... Soweit man zurückgehen mag, man erreicht nie die Quelle, nie den Ursprung, sondern immer nur vielfältig vermittelte Repräsentationen eines solchen.7
Doch zugleich birgt diese Aussage, ganz ähnlich der Blumenbergs, auf den zweiten Blick die Grundlage für das, was im Folgenden näher betrachtet werden soll: Der Mŷthos als Gegenstand des Erzählens, der es erlaubt, von ihm aus eine Relationierung vorzunehmen und so eine Struktur zu verorten oder „zum Zentrum eines Diskurses zu machen“, die kulturwissenschaftlich, literaturwissenschaftlich und historiographisch tragfähig und relevant ist. Mit Lévi-Strauss ließe sich festhalten, dass Mŷthoi eine „doppelte, zugleich historische und ahistorische Struktur“8 innewohnt: Sie gehören in das Feld des gesprochenen Wortes und der Sprache und haben zugleich den Status eines „absoluten Objekts“. Ein Mŷthos funktioniert für LéviStrauss unabhängig von Sprache, da es ausschließlich auf die Geschichte ankommt, was für Lévi-Strauss den Mŷthos von Poesie unterscheidet. So hänge, erstens der Sinn der Mŷthoi nicht von den einzelnen Elementen ab, sondern von der Art und Weise der Zusammensetzung.9 Zum Zweiten _____________ 7 8 9
Pfister 2005: 130. Lévi-Strauss 1967: 230. Dies gilt jedoch gerade für Dichtung! Lévi-Strauss schreibt hier von der poésie: « A cet régard, la place du mythe, sur l’échelle des modes d’expression linguistique, est à l’opposé de la poésie, quoi qu’on ait pu dire pour les rapprocher. La poésie est une forme de langage extrêmement difficile à traduire dans une langue étrangère, et toute traduction entraîne de multiples déformations. » („In dieser Hinsicht steht der Mythos auf der Stufenleiter sprachlicher Ausdrucksweisen der Poesie genau gegenüber, was man auch gesagt haben mag, um sie einander nahezubringen. Die Poesie ist eine Form der Sprache, die nur unter großen Schwierigkeiten in eine andere Form übersetzt werden kann, und jede Übersetzung bringt zahlreiche Deformationen mit sich“) Lévi-Strauss 1958/1967: 232/230. Daher wäre folgendes anzumerken: Es stellt sich die Frage, ob poésie hier vielleicht hinreichender mit Dichtung/Lyrik übersetzt wäre, also im Sinne von Madame de Staëls Anspruch « La poésie doit réfléchir par les couleurs, les sons et les rythmes, toutes les beautés de l'univers. », also als fragiles System der Komponiertheit. Denn gerade in diesem Bereich ist die Sprache nicht nur dem Gesamtkonstrukt „Text/Inhalt“ unterworfen, sondern auch noch dem Zusammenspiel von Einzelsystemen, die sich in oberflächlicher Weise bereits in Stilmitteln, Rhythmus und Versmaß niederschlagen. Was jedoch die befürchtete déformation nicht verhindern kann, sondern zweitens die Frage aufwirft, ob eine produktive Lesart dieser déformation nicht weitreichendere Einblicke erbringen könnte. So gesehen bestünde hier dann eben keine Differenz zwischen Mŷthos und Dichtung, vielmehr zeitigte sich eben im Moment der Interpretation eines Gedichts (die automatisch mit einer Übersetzung einhergeht) die Fortschreibung des Inhaltes im Lichte der jeweiligen handlungs- und kulturtheoretischen Verortung. Zur Frage, inwiefern Übersetzungen hier noch als positives Moment
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
gehöre der Mŷthos zur Sprache, doch zeige die Sprache im Mŷthos spezifische Eigenschaften. Und drittens seien diese Eigenschaften komplexer als die des sonstigen sprachlichen Ausdrucks. Aus diesen drei Punkten zieht Lévi-Strauss zwei weitere Folgerungen: Zum einen, dass der der Mŷthos aus konstitutiven Einheiten bestehe und zum anderen, dass seine Teileinheiten das Vorhandensein großer konstitutiver Einheiten voraussetzten, die auf der Ebene der Sprache die nächst größere Einheit nach den Semantemen bildeten (,,Mytheme“).10 Wie kann man also diese konstitutiven Einheiten (,,Mytheme“) erkennen? Lévi-Strauss sucht sie auf dem Satzniveau. Dabei zeigt sich, dass jede Einheit (Satz) ihrer Natur nach (Zuweisung eines Prädikats zu einem Subjekt) eine Beziehung darstellt. Die wirklichen konstitutiven Einheiten des Mŷthos sind aber keine isolierten Beziehungen, sondern Beziehungsbündel, die wiederum nur in Kombination mit anderen Bündeln eine Bedeutungsfunktion erhalten. Hierin zeitigt sich ,,der Kern des Problems“.11 Die konstitutiven Einheiten des Mŷthos können unterteilt werden in Themen (synchron) und Sequenzen (diachron). Der erste Schritt der Mythenanalyse wird daher von LéviStrauss als das Zusammenziehen der nacherzählten Ereignisse zu konstitutiven Einheiten festgelegt, aus denen sich Sätze bilden lassen. Jede dieser konstitutiven Einheiten muss ernst genommen werden, auch wenn sie allein nicht unbedingt eine Funktion zu tragen scheint. So aufschlussreich dieses Herantreten an Mŷthoi vor dem Hintergrund ihrer Verortung in einem Beziehungsgeflecht innerhalb des Narrativs „Mŷthos“ und untereinander ist, so problematisch ist es doch, will man den Mŷthos hinsichtlich seiner historiographischen Relevanz befragen. Denn nimmt man mit Lévi-Strauss an, dass die Beziehung von langue und parole, die innerhalb der einzelnen Mytheme aufzeigbar ist, sich auf den „Gesamtkomplex“ Mŷthos ausweiten lässt, so ergibt sich aus diesem zunächst klärenden Herantreten – ein Mŷthos, ein großes Zeugnis der „temps perdu“, das Binnendifferenzierungen eben aufgrund der Annäherung über strukturalistische Analysen vereitelt und lediglich Parallelen, nicht jedoch Entwicklungen und Kontinuitäten aufzeigbar macht. Somit soll mit der vorliegenden Untersuchung zweierlei Lesarten von Mŷthos entgegengetreten werden: zum einen jener, die den Mŷthos und Mŷthostheorien als positivistisches System begreift, das an eine Mythentransformation herangetragen wird.12 Zum anderen und vor allem der _____________ 10 11 12
gedeutet werden können und wie viel der übersetzte Text noch mit dem Original gemein hat, vgl. Eco 2006. Lévi-Strauss 1967: 231. Lévi-Strauss 1967: 232. Welche Schwierigkeiten mit der positivistischen Handhabung und der (dann stark selektiven) Analyse vor dem Hintergrund von Mythentheorien wie zum Beispiel derer Blumen-
Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
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einschränkenden Handhabung des Mŷthos im Rahmen bisheriger Analysen und Handhabungen, die ausschließlich auf intertextuelle Bezüge hin ausgerichtet sind. Denn gerade am Beispiel des Ulysses wird deutlich, dass ein Werk sich für die transtextuelle Analyse von Mythenverweisen zwar auf den ersten Blick nahezu aufdrängen kann,13 sich jedoch dem zugleich bei näherer Betrachtung radikal entzieht. So überrascht es bei Kenntnis des Werkes zum Beispiel nicht, dass im Register von Gérard Genettes Palimpsestes 64 Nennungen des Ulysses verzeichnet sind, Genette die Beziehung zwischen Odyssee und Ulysses hinsichtlich ihrer transtextuellen Bezüge jedoch wie folgt beschreibt: « une relation suggérée (ou, par le titre, imposée) […] qui fait d’Ulysse le type même de l’hypertexte autoproclamé. »14 Joyce hat mit dem Ulysses offenbar ein Werk vorgelegt, das die Odyssee in einer Weise als Prätext handhabt, die mit den Kategorien der Transtextualität nicht plausibel greifbar erscheint. Doch was bedeutet Mŷthos, was ist Methode, was ihre Funktion, wenn man den Mŷthos nicht ausschließlich als Prätext zum Gegenstand der Betrachtung macht oder nur nach Formen der Aneignung oder des Modellcharakters fragt15 sondern zudem per se als Methode antizipieren möchte?16 Meine Annäherung an diese Fragen gliedert sich in vier Teile. Zunächst soll der Begriff der „mythischen Methode“ im Feld von Eliots _____________
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bergs, Lévi-Strauss’ und anderer einhergehen, hat zuletzt Bent Geberts detailreiche Studie „Beobachtungsparadoxien mediävistischer Mythosforschung“ gezeigt, die einen diskursgeschichtlichen Überblick über die Annäherung an Mythentransformationen in der mediävistischen Forschung leistet und dabei zugleich Probleme der mediävistischen Theoriebildung aufzeigt (Gebert 2012: 19–61). Zu Analysen der Parallele Odyssee/Ulysses sei besonders verwiesen auf Sultan 1964, Esch 1977 sowie vor allem auf die umfassenden Überlegungen von Fritz Senn, vgl. u. a.: Senn 1999. Genette 1982: 436. Ähnliche Probleme sehen ferner Esch 1977: 219 und Willi Erzgräber, der von „ästhetischen, rein erzählerischen“ Funktionen der Verweise auf die Homerische Odyssee schreibt (Erzgräber 1985: 296). So zum Beispiel Walter Jens, in dessen Mythen der Dichter. Modelle und Variationen die Frage nach spezifischen Funktionen des Mŷthos – trotz aller Bemühungen, Variationen aufzuzeigen – unbeantwortet und die Frage nach dem Modellen seltsam opak bleibt: Jens 1993. Dies hat Werner Frick versucht, indem er das Eliotsche Diktum heranzog (Frick 1998). Frick beleuchtet, inwiefern Mythentransformationen geschehen und welche Momente – sowohl strukturell als auch inhaltlich – die Moderne als Epoche der longue durée konstituieren. Er wählt zum einen als Titel seiner Untersuchung eben jenen Terminus der mythischen Methode, der auch für die hier vorliegenden Überlegungen zentral ist. Ferner überschreibt er ein Kapitel mit „A continuous parallel between contemporaneity and antiquity“ (S. 213). Es folgt jedoch eine Analyse der Gegenwartstransposition der griechischen Tragödie im modernen anglo-amerikanischen Drama unter inhaltlichen Gesichtspunkten und eine Entwicklung der Möglichkeiten und Spielarten der Mŷthos-Transposition unter dem Aspekt der Gegenwartstransposition. Eine Analyse der Voraussetzungen und Implikationen, die dem Mŷthos selbst als Methode begegnet, bleibt aus ebenso wie die nähere Betrachtung der Relevanz des Mŷthos im Licht der Historie.
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
Kritik als Einleitung umrissen werden. Dabei soll verdeutlicht werden, inwiefern eine „mythische Methode“ in Eliots Verständnis erhellend sein kann. Sodann soll die Debatte der Joyceforschung teilweise rekapituliert werden, auch um zu zeigen, welchen Spezifika sich der Autor gegenübergestellt findet durch die Wahl eines Mŷthos als Prätext. Im Ausgang dessen soll die „mythische Methode“ näher betrachtet und die drei Wirkungsdispositionen des Mŷthos eingeführt werden. Im zweiten Hauptteil soll der aristotelische Mŷthosbegriff dargestellt und analysiert werden. Im Blick hierauf wird die aristotelische Poetik gelesen. Sie kann als Differenzierung zwischen dem Mŷthos als sýstasis tôn pragmáton (im Sinne einer funktionalen Bestimmung) und dem Mŷthos als inhaltlichem Moment interpretiert werden, wobei letzterem im Sinne eines Mythems eine Vermittlung von Vergangenem und Tradition zugeschrieben werden kann. Hierbei soll deutlich werden, dass der Joyce’sche Begriff des Mŷthos zwar ein anderer ist als der aristotelische. Seine Funktion muss jedoch nicht zwingend als vom aristotelischen Mŷthos abweichend gedacht werden, obwohl er auf den ersten Blick in einem widersprüchlichen Verhältnis zu diesem steht. Um den Aspekt der Vermittlung von Geschichte herauszustreichen, wird anschließend der Mímesis-Zirkel des französischen Hermeneutikers Paul Ricœur herangezogen. Besonders dessen Gedanken zur Referenz und zur Spur (trace) sind für ein an ein Narrativ geknüpftes Verständnis von Geschichte essenziell. In seinem Hauptwerk Zeit und Erzählung (1988 ff.) schreibt er, dass wir unsere Positionierung in der Welt durch Erzählen bestimmen. Im Zentrum steht die Überlegung, dass unser Geschichtsbild davon mitbestimmt ist, wie wir als Subjekte Vergangenheit rekapitulieren und wie wir sie im Erzählen weitervermitteln. Wird dieser Ansatz mit dem zuvor in der Auslegung der aristotelischen Poetik gewonnenen Ertrag zusammengedacht, zeigt sich, inwiefern der Mŷthos als Spezialfall von Geschichtserzählung als Geschichtenerzählung gehandhabt werden muss. Daraus ergeben sich auch Aussagen über das Verhältnis von Geschichte und Narration. Und hier wird erneut zu zeigen sein, dass der – noch einmal andere – Begriff von Mŷthos, den Ricœur vertritt, mithilfe der drei Funktionen erfassbar ist. Die Pointe dieser Analyse sitzt in einer mehrschichtigen Lesart: Ist der Begriff des Mŷthos, wie er sich als Gegenstand der Transposition bei Joyce findet, der der “traditional tale”17, und rekurriert Ricœur in seiner Analyse auf den aristotelischen Begriff von Mŷthos im Sinne der Fabel, so scheinen diese beiden Begriffe zunächst nicht vereinbar. Ricœur setzt _____________ 17
“Myth is a traditional tale with secondary, partial reference to something of collective importance.” Burkert 1979: 23.
Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
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seine Verwendung des Mŷthosbegriffs sogar deutlich von dem der traditional tale ab, wenn er den Akt der sýstasis tôn pragmáton als mise en intrigue (Fabelkomposition) und eben nicht als Mŷthos oder Mŷthoskomposition fasst, um Verwechslungen und Missverständnisse zu vermeiden.18 Dem möglichen Einwand Warum dann also Ricœur? kann damit begegnet werden, dass Ricœur in Zeit und Erzählung nicht nur ein Modell entwickelt, das Zeitaporien überwindet. Mit dem Mímesis-Zirkel schafft er zugleich ein Modell, das die Vermittlung von Geschichte durch den Akt des Erzählens leisten kann. Ricœurs Modell ermöglicht es, sich dem Akt dessen anzunähern, was T. S. Eliot dem Mŷthos als Funktion zugesteht: “giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history”. Um eine Überwindung der Distanzierung Ricœurs vom Mŷthos in Joyces Verständnis leisten und so die beiden Ansätze einander anzunähern, bedarf es des aristotelischen Mŷthosbegriffs, wie er in der Poetik entwickelt wird. Und zwar nicht nur im Sinne der sýstasis tôn pragmáton: Es wird in der Auseinandersetzung mit der Poetik gezeigt werden, dass der Mŷthosbegriff des Aristoteles über diese Grunddefinition hinauszudenken ist und auch Momente der traditional tale birgt, was sodann auch eine Öffnung von Ricœurs Ansatzerlaubt. Über die drei Funktionen des Mŷthos, seine Wirkungsdispositionen als Textus, Contextus und Circumtextus, sind diese nicht nur miteinander vereinbar, sondern können einander sogar befruchten. Sie verdeutlichen zudem, inwiefern die „mythische Methode“ sinnfälliges Moment der Geschichtsvermittlung wie auch des Geschichtsverständnisses ist. Die Arbeit verfolgt methodisch einen hermeneutischen Ansatz, der sich sowohl in ihrem Vorgehen insgesamt als auch in den Ansätzen niederschreibt. Abgrenzend hinsichtlich der Methodik und Analyse, aber auch mit Blick auf die Verortung im Feld des Forschungsgegenstandes, soll schließlich aus Sicht einer hermeneutischen Mŷthosforschung noch folgendes angemerkt sein: Gerade dadurch, dass der Mŷthosbegriff zwar in der Literatur der Moderne aufgegriffen, jedoch primär aus der aristotelischen Poetik heraus entwickelt und lediglich hinsichtlich seiner Öffnung mit dem Ansatz von Ricoeur konfrontiert wird, ist keine kulturwissenschaftliche Untersuchung intendiert. Auch wenn einige Resultate der Untersuchung auf diesen Bereich übertragbar wären: Liegt es doch auf der Hand, dass der Mŷthos immer im Bezug zu kulturellen Entwicklungen steht und diese abbildet. *** _____________ 18
Ricœur 1986: 12f.
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
T. S. Eliots Annäherung in “Ulysses. Order and Myth” hebt damit an, Joyces Roman zum bedeutendsten Ausdruck des “present age” (der Moderne) zu stilisieren. Mehr als ein Jahr nach Erscheinen des Romans und drei Jahre nach der Veröffentlichung des Romans in Vorabdrucken in The Little Review versteht Eliot es als seine Aufgabe, einen jener Aspekte zu erhellen, die bis dahin nicht in hinreichender Weise Beachtung gefunden haben:19 die Bedeutung der Parallelen zwischen Odyssee und Ulysses, durch die sich Joyce als „classical“ Autor zeige, dem es gelinge, aus dem “material at hand” das Beste zu machen. Das Material sind dabei unter anderem die Emotionen des Autors. Und es ist zugleich der Mŷthos Odyssee – also streng genommen ein Epos und kein Mŷthos im Sinne der traditional tale. Somit wird auf eine Gattung verwiesen, die selbst bereits auf Mŷthoi rekurrierende Erzählung ist und diese zu einem neuen Ganzen zusammenführt.20 Dieser Gedanke findet sich, wie wir später sehen werden, bereits bei Aristoteles.21 Im Fall der Odyssee und der Bezugnahme Joyces auf diese unter dem Aspekt des Mŷthos, wird dies besonders an den Episodentiteln deutlich. Circe, Hades, Sirens, Cyclops: hinter all diesen Namen verbergen sich Mythen, die bereits vor Niederschreibung der Odyssee existiert haben und auf die sich Joyce somit implizit bezieht, wenn er auf das Epos Odyssee rekurriert. Diese Bezugnahmen sind Eliot zufolge nicht nur ein Korsett, “a scaffold, a means of construction, justified by the result and justifiable by it only”, wie Ezra Pound konstatiert hat22, sondern auch Ausdruck einer Methode. Zugleich will Eliots Beitrag zu einer Art Ehrenrettung Joyces beitragen.
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“All that one can usefully do at this time, and it is a great deal to do, for such a book, is to elucidate any aspect of the book — and the number of aspects is indefinite — which has not yet been fixed. I hold this book to be the most important expression which the present age has found; it is a book to which we are all indebted, and from which none of us can escape.” Eliot 1975: 175. Interessant ist, dass das ‘present age’ hier zum Subjekt wird, was für die Beobachtungen hinsichtlich der Geschichte im weiteren Verlauf dieser Studie von Bedeutung sein wird. Vgl. hierzu im weiteren Verlauf die Überlegungen zum Aristotelischen Mŷthos-Begriff als ‚Kompostion‘. Vgl. die Analyse zum tò polymython Poet. 1456a11–15 im zweiten Abschnitt. Ezra Pounds Kritik in The Dial erschien ein Jahr zuvor und hält fest: “The correspondences are part of Joyce's mediaevalism and are chiefly his own affair, a scaffold, a means of construction, justified by the result and justifiable by it only.” Pound 1954: 406. Pound dazu später erneut: “The parallels with the Odyssey are mechanics, any blockhead can go back and trace them. Joyce had to have a shape on which to order his chaos.” Pound 1967: 406.
Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
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Von wenigen Ausnahmen abgesehen23, sind die Kritiken nach dem Erscheinen des Ulysses vernichtend. Rezensionen, die sich dem Ulysses zum Beispiel als „Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden“ nähern24 und ihm somit zumindest ein gewisses Potenzial anheimstellen, erscheinen erst im Lauf der folgenden Jahre. Zu dieser Zeit herrscht der Eindruck eines Romans vor, dessen Autor es allein auf Obszönitäten und Provokation abgesehen hat. So zum Beispiel im Verriss durch Richard Aldington, auf den sich Eliot explizit bezieht: I say, moreover that when Mr. Joyce, with his marvellous gifts, uses them to disgust us with mankind, he is doing something which is false and a libel on humanity.25
Die Kritiken fokussieren sich, von Ausnahmen abgesehen, auf pornografische Passagen und kryptischen Schreibstil. Eliot setzt ihnen ein Lob der Form entgegen, wenn er dem Autor des Ulysses eine meisterliche Bearbeitung des Stoffes der Odyssee attestiert. Und mehr noch: Eliot fordert, dieser „mythischen Methode“ möge man nun folgen; und zwar anstelle der narrativen Methode, die sich in den Werken des Realismus widerspiegelt.26 Denn vermittels ihrer könne eine “continuous parallel between contemporaneity and antiquity” zum Tragen kommen, die es vermag, (heutige) Geschichte27 mit Sinn zu füllen, sie zu ordnen, zu bewältigen (mithin: zu verstehen). Sicherlich kann man auf den ersten Blick Ezra Pound beipflichten Verständnis hinsichtlich der Charakteristik des Gerüstes beipflichten, der _____________ 23
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Eliot nennt Larbauds Studien zum Ulysses: “[...] unless we except, in its way, M. Valéry Larbaud’s valuable paper, which is rather an Introduction than a criticism [...]” (Larbaud 1922: 385–405; in englischer Sprache ders. 1922: 94–103, und (in leicht veränderter Form) als Vorwort zur französischen Ausgabe der Dubliners, Gens de Dublin, 1926). Kurt Tucholsky alias Peter Panther 1927: 788. Aldington 1921: 338. Eliot nennt in Abgrenzung zu Joyce Gustave Flaubert und Henry James. Inwiefern dies mit dem Eigenverständnis Joyces zusammenzubringen ist, soll später näher betrachtet werden, wenn dessen Aussage, in der er sich dem ‘realism’ zuordnet näher beleuchtet wird. Die Übersetzung von Helene Ritzerfeld schlägt für contemporary history „Zeitgeschichte“ vor, ein Terminus, der mir zu besetzt und somit zu speziell erscheint. Ich verstehe contemporary history im Folgenden als heutige Geschichte, also als zeitgenössische und somit gegenwärtige Geschehnisse (was der Formulierung einer Parallele zwischen antiquity und contemporaneity gerecht wird) und öffne damit die Formulierung hin zu einem Geschichtsbegriff, der zwar Vergangenheit repräsentiert sieht (also auch „Zeitgeschichte“), jedoch das Moment des (Ver-) Gegenwärtigen(s) impliziert, das durchaus im Sinne von Martin Heideggers Betrachtungen zu denken ist (Heidegger 101963: §§ 68 ff.) in denen die Kantischen Überlegungen zur Assoziationsleistung des „das Vergangene zu vergegenwärtigen“ Anklang finden (Kant 1977: B 68). Hieraus ergibt sich eine auf das Zukünftige hin gerichtete Geschichtsauffassung, wie sie in ihrem Zusammenspiel mit Vergangenheit am prägnantesten Reinhard Koselleck formuliert hat (Koselleck 1979: 353–372).
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
die Odyssee nur als Gerüst des Ulysses deutet. Denn zwar tragen die einzelnen Episoden des Ulysses im sogenannten Rosenbach-Manuskript Titel wie Circe, Sirens oder Nausikaa, und bereits der Titel des Romans verweist auf die Odyssee wie auch die Unterteilung in Telemachie, Odyssee und Nostos. Doch scheinen diese Hinweise den Roman eher wie ein Korsett zu stützen, als dass die Bezüge zur Odyssee etwas an der eigentlichen Handlung änderten oder für diese unabdingbar wären: Die „Sirenen“ schweigen, „Telemach“ Stephens größte Angst ist es, seinem Vater zu ähneln, und der „Odysseus“ Bloom ist ein impotenter Anzeigenakquisiteur. Eine Lektüre, die ausschließlich darauf bedacht ist, den Ulysses mit der Odyssee zu parallelisieren, führt somit zu unbefriedigenden Ergebnissen. Das kann auch für Eliot kein Geheimnis gewesen sein. Und doch schreibt er von einer „mythischen Methode“ und begeistert sich im Rahmen dessen für die Parallelen zwischen Odyssee und Ulysses. Wie ist dies zu verstehen? Es liegt zunächst nahe, Methode hier als das zu fassen, was das Oxford English Dictionary unter „method“ aufführt: „I. A procedure for attaining an object. II. Systematic arrangement, order“.28 Diese zweifache Handhabung der Bedeutung des Begriffs – als eines Moments des Erlangens von etwas und eines der Ordnung von Vorhandenem – scheint instruktiv, will man das volle Ausmaß der Bedeutung der Mythenverweise (im Ulysses) erfassen. Auch wenn Eliot zunächst der Kritik Aldingtons entgegentritt29, reagiert er durch die Bezugnahme auf das “scaffolding” aber zugleich auf Ezra Pounds Behauptung, die Parallelen zur Homerischen Odyssee seien lediglich ein Gerüst. Diese ordnende Funktion der Mythenverweise lehnt Eliot dabei nicht rundheraus ab. Für ihn erschöpft sich die Bedeutung der Anknüpfungen an die Odyssee aber nicht in der eines Gerüsts, das nur dem Zweck diene, eine realistische Fabel zu tragen. Vielmehr scheint es ausschlaggebend zu sein, eben das Verwenden von Symbolen und Stilen (das Gerüst) in ihrer gleichzeitigen Wirkung des Erlangens von etwas und des Ordnens zu reflektieren. Was hier vermittels der Parallelen zur Odyssee _____________ 28
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Das Lemma erfährt eine Unterteilung in insgesamt zehn weitere Unterpunkte, von denen hier fünf zur Illustration des Feldes hervorgehoben werden sollen: “I. 3.a. A special form of procedure or characteristic set of procedures employed (more or less systematically) in an intellectual discipline or field of study as a mode of investigation and inquiry, or of teaching and exposition. [...] I.3.c. A set of rules and procedures proper to a particular practical art. [...] II.7.a. The order and arrangement in a particular discourse or literary composition; an author's design or plan. b. An ordered systematic arrangement of literary materials; a methodical exposition of a subject. II.8. Orderliness and regularity in doing anything; the habit of acting in a planned orderly way.” Wie Selwyn Kittredge aufgezeigt hat, folgt Eliot einer Einladung Aldingtons zur Entgegnung auf seinen Beitrag: Kittredge 1973.
Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
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Ausdruck und Umsetzung findet, ist ein anderer Modus des Erzählens, der den Unterschied zu vorherigen Formen des Erzählens kennzeichnet: Und eben hierin sieht Eliot die Moderne repräsentiert. Denn ähnlich wie Georg Lukács scheint auch Eliot die Moderne als eine Epoche der Auflösung und „transzendentalen Obdachlosigkeit“30 zu begreifen. So, wenn er feststellt, dass Joyces Methode auch deshalb neu sei, weil sich bisher kein Bedarf für ein derartiges Schreiben gezeigt habe.31 Joyces Verwendung der „mythischen Methode“ als Methode, die Geschichte zu ordnen vermag und die für Eliot zugleich das Ende des Genres Roman markiert, kann als Antagonismus jenes Zeitalters gelesen werden, „für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat“32 und als dessen Epopöe Georg Lukács den Roman gefasst hatte. Eliot versteht in diesem Licht Joyces Ulysses als durchkomponiertes Werk, dessen Autor es vermag, klare Verweise zu setzen und über einen ganzen Roman hin fruchtbar auszubauen und zu gestalten. Dies legt nahe, die „mythical method“ als Ausdruck einer écriture im Sinne Roland Barthes oder einer Schreibweise (André Jolles) zu verstehen: das (Be-)Schreiben des Alltags in der Moderne auf dem Rücken von Mythen also als „Anbinden“ « à la vaste histoire d’autrui ».33 Diese écriture will Wahrnehmung und mithin die Vermittlung herstellen. _____________ 30
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„Die Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit. Das Zusammenfallen von Geschichte und Geschichtsphilosophie hatte für Griechenland die Folge, dass jede Kunstart erst dann geboren ward, wenn auf der Sonnenuhr des Geistes abzulesen war, dass gerade ihre Stunde gekommen ist und jede mußte verschwinden, wenn die Urbilder ihres Seins nicht mehr am Horizonte standen. Für die nachgriechische Zeit ist diese philosophische Periodizität verloren. In einer unentwirrbaren Verschlungenheit kreuzen sich hier die Gattungen als Zeichen des echten und des unechten Suchens nach dem nicht mehr klar und eindeutig gegebenen Ziele;“ was zu Folge hatte, dass „die Epopöe verschwinden und einer ganz neuen Form, dem Roman, weichen mußte.“ Lukács 31994: 32. Darauf, inwiefern sich dies auch mit Joyces Verständnis der Moderne deckte und wie er dem gerade mit dem Mŷthos entgegentritt, wird im Weiteren eingegangen werden. “No one else has built a novel upon such a foundation before: it has never before been necessary.” Anders als Lukács sieht Eliot hier allerdings bereits in Frage gestellt, ob Joyce tatsächlich einen Roman verfaßt habe: “I am not begging the question in calling Ulysses a ‘novel’; and if you call it an epic it will not matter. If it is not a novel, that is simply because the novel is a form which will no longer serve; it is because the novel, instead of being a form, was simply the expression of an age which had not sufficiently lost all form to feel the need of something stricter.” Eliot 1975: 177. Lukács 31994: 47. Was Eliot hier vertritt, findet seine Spiegelung in seinem Werk: Wie Eliot in “Tradition and the Individual Talent” ausführt, sind eben jene Dichter die besten, die sich aktiv mit der Vergangenheit der Dichtung auseinandersetzen: “not only the best, but the most individual parts of his [the poet’s, J. S.] work may be those in which the dead poets, his ancestors, assert their immortality most vigourously.” (Eliot 1982: 38). Zu diesem Gedanken später ein-
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Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
Wie sich im folgenden Abschnitt dieser Untersuchung weisen wird, sind die Korrespondenzen, die Joyce dem Ulysses implementiert hat und die teils mehr, teils weniger deutlich als Prätext markiert werden, ohne Zweifel als Mittel der Kommunikation und als Hilfsmittel zum Verständnis des Textes lesbar;34 also in einem positiven Sinne des Begriffs „scaffolding“, als Stütze des Verstehens, entlang deren sich ein Zugang zum Text und so auch der Epoche der Moderne ergibt. Damit weist die Wirkung des Mŷthos über auktoriale Einmischungen und Präsentationsweisen hinaus, und beide Notationen von ‘method’ treten schließlich auch auf der Ebene der Rezeption zusammen. Wenn wir den Mŷthos als Text im Feld der Transtextualität vor diesem Hintergrund weiterhin als im „unabschließbaren Spiel von Versionen, Varianten, Neukombinationen, Überschreibungen, Übersetzungen, Fortsetzungen, Versetzungen in andere Gattungen und Medien, von Exegesen, Kommentaren, Interpretationen“35 gebundenen Text begreifen wollen, den wir immer nur als jeweilige Repräsentation von „etwas“ rezipieren und dem wir keinen Ursprung zuordnen können, so bedeutet dies, dass Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Denn es müssen Eigenheiten der Akte der Produktion und Rezeption berücksichtigt werden, die charakteristisch für die Literarisierung des Mŷthos sind, will man sich dem Begriff des Mŷthos sowohl als literaturwissenschaftlich operationalem wie auch als historiografischem Moment widmen. In der „mythischen Methode“ treten zudem – folgt man Eliot – Text, Autor, Rezipient und mithin Zeitgeschichte in ein Verhältnis zueinander, als dessen Angelpunkt der Mŷthos und die sich aus ihm ergebenden Möglichkeiten zu fassen wären. Eben das Zusammentreten36 der Bedeutungen von Ordnung und Annäherung, das sich aus der Lesart des Mŷthos als Methode ergibt, und somit _____________ 34
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gehender, wenn die Sprache auf das Feld der Rezeptionsästhetik kommen wird (Abschnitt III). So argumentiert in Ansätzen auch Arno Esch. Doch spricht Esch den Verweisen auf die Odyssee einen Sinn jenseits der auktorialen Einmischung ab: Esch 1977: 215. Pfister 2005: 130. Während diese Annäherung an den Mŷthos über den Begriff der Methode das zweifache Spektrum aufzeigt, das Eliot wohl meint, wenn er von einer „mythischen Methode“ schreibt und das hier weiterverfolgt werden soll, so lässt sie den Begriff im Licht der Mŷthos-Forschung doch zunächst als Pleonasmus erscheinen. Was sonst wäre der Mŷthos in den Auseinandersetzungen von Lévi-Strauss und, in seiner Folge, Blumenberg, wenn nicht eine Annäherung an einen Gegenstandsbereich? Der Mŷthos als Form der (anthropologisch und kulturell determinierten) Bewältigungsstrategie kann genau in diesem Sinne verstanden werden. Der Mŷthos als Beschreibung der Ordnung oder als Arrangement hingegen ist ein zentrales Moment des Aristotelischen Herantretens an die Formen der Dichtung, wie wir sie in der Poetik finden und wie sie im Ausgang dessen die hermeneutischen und auch die systemtheoretischen Ansätze der Mŷthos-Theorie beeinflußt hat. Mŷthos, so mag man also argumentieren, ist somit bereits immer auch Methode – allerdings der Strukturierung oder der Annäherung.
Einleitende Anmerkungen zur „mythischen Methode“
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das Berücksichtigen des Mŷthos als inhaltlichem wie auch formellem Gegenstand, der so im Feld der Produktion und Rezeption wirkt, scheint mir nicht nur ein Spezifikum der „mythischen Methode“ zu sein, wie Eliot sie vorschlägt; sondern darüber hinaus ein gewinnbringender Ansatz zur Analyse mythopoetischer Texte, der hier entwickelt werden soll.
I. Auf der Suche nach der mythischen Methode Sind die Eliotschen Dikta der mythischen Methode und der kontinuierlichen Parallele, ebenso die Joycesche Rede vom myth sub specie temporis nostri1 bisher lediglich eingeführt worden, so wird nun eine nähere Bestimmung dieser Termini angestrebt. Dies soll zunächst durch eine Betrachtung des Ulysses unter dem Aspekt des Mŷthos und einer Verortung des Romans in der Tradition der Mythopoese respektive der Auseinandersetzung mit mythischen Topoi geschehen. Hieraus werden sich verschiedene Arten jenes Diskurses ergeben, der – mit Blick auf den Ulysses – als mythische Methode gefasst werden soll: Dies ist zunächst die direkte Auseinandersetzung und Anknüpfung Joyces an den antiken Mŷthos Odyssee, die sich unter Aspekten der Intertextualität fassen lässt und die in eine Form der Mythopoese mündet. Diese richtet sich – im Sinne des von Paul Ricœur entwickelten Begriffs der „Konfiguration“ eines Textes durch einen Autor (respektive die Schaffung einer Ereignisfolge durch die Erzählung) – direkt auf den Leser hin. Darüber hinaus ist es der Aspekt der Mythopoese, der den Diskurs zwischen Moderne und Antike impliziert und mit dem Joyce’schen Diktum des myth sub specie temporis nostri beschrieben werden kann. Hiervon ausgehend stellt sich sodann die Frage, wie das Mythopoem Ulysses und die Mythopoemata, an die der Text anknüpft, gewertet werden können. Schließlich sollen in einem Zwischenresumée zum einen das Begriffspaar mythische Methode und kontinuierliche Parallele in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden und zum anderen drei verschiedene Funktionen des Mŷthos aufgezeigt werden, sodass im Anschluss die hermeneutische Auseinandersetzung mit diesen entwickelt werden kann. Soll in einem ersten Schritt vor dem Hintergrund von Aussagen Joyces über sein Werk in Briefen und Interviews eine Einordnung des Ulysses unter dem Aspekt der mythischen Methode und der kontinuierlichen Parallele geleistet werden, so geschieht dies in einem zweiten Schritt erneut – dann jedoch unter Befragung des Werkes selbst. So sollen Bezüge hinsichtlich _____________ 1
„Ground plan“ und „myth sup specie temporis nostri“ werden von nun an, ebenso wie „mythische Methode“ und „kontinuierliche Parallele“ als feste Termini geführt und kursiv gesetzt.
I. Auf der Suche nach der mythischen Methode
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der Struktur, des Inhalts und des Aufbaus des Romans zum Mŷthos hergestellt werden. Will man den Ulysses hinsichtlich seiner Mythenbezüge betrachten, so ist zuvor anzumerken, dass viele Autoren jeglicher Couleur sich seit dem Erscheinen des Werks im Jahr 1922 mit Analysen unter diesem Aspekt hervorgetan haben. T. S. Eliot, dessen Rezension in dieser Arbeit Anstoß zu weiteren Überlegungen gibt, stand selbst bereits in einer Tradition von Joyce-Kritikern. Grund für das immer wieder aufkeimende Interesse am Mythischen in Joyces Ulysses ist sicherlich nicht zuletzt auch, dass Joyce selbst sein Werk als ein auf Mŷthoi rekurrierendes stilisiert hat. Wie genau er dies tat und welche Spiele mit dem Moment der Transposition einhergingen, soll dabei nachgezeichnet werden.
1. L’hypertexte autoproclamé Bevor nun einige der durch seine Mythenverweise motivierten Analysen des Romans aufgezeigt werden – wobei vordergründig der Text und die Aussagen des Autors selbst als Gegenstand der Untersuchung herangezogen werden, um die oben genannten Momente der mythischen Methode und der kontinuierlichen Parallele zu verdeutlichen –, möchte ich, vorgreifend, den Joyce-Forscher und Leiter der Zürcher James Joyce Foundation Fritz Senn in einer Art „Pseudoquelle“ zu Wort kommen lassen: […] Nichts Neues unter der Sonne. Homer hat schon alles gesagt, und zwar in Hexametern. Joyce gibt alles ein paar Nummern kleiner und moderner wieder, zugeschnitten auf die Stadt Dublin und den Alltag. So stützte er sich auf ein Gerüst, aber kein Korsett, von Entsprechungen, die nie parallel verlaufen, aber auf die Odyssee weisen, nur eine unter vielen Resonanzen. […] Je nachdem können wir archaische Schatten aufspüren oder den Überbau als Bildungskram abtun und uns der sinnlichen Wirklichkeit oder einer musikalischen Orchestrierung zuwenden. Umgekehrt hat auch Homer von Joyce gelernt, das heisst: die Klassiker lesen sich nach dem Ulysses rauer und widerspenstiger.2
Es ist zunächst die Nüchternheit Senns, mit der er den Bezug zwischen Odyssee und Ulysses fasst, die den folgenden Überlegungen, eine Richtung weist: Zum einen wird die Odyssee als eine Art prototypisches Epos begriffen – und zwar eines, das gar in Hexametern verfasst ist –, dem der Ulysses gewissermaßen en minature nacheifert. Zum anderen hat in diesem Nacheifern die Odyssee für Senn lediglich die Funktion „ein[es] Gerüst[s], aber kein[es] Korsett[s].“ Die Freiheit des Autors Joyce wird also zwar durch die Vorlage tangiert, jedoch nicht in radikaler Form eingeschränkt. Dies wiederum hat zur Folge, dass eine strenge, verabsolutierende Parallelfüh_____________ 2
Fritz Senn in einem privaten Email an die Verfasserin vom 13. 06. 2004.
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rung auch mit Blick auf die Rezeption und Interpretation des Textes nicht sinnvoll oder gar möglich ist – zumal die Odyssee, wie Senn anmerkt, „nur eine unter vielen Resonanzen“ sei. Dass dies dem Eliotschen Diktum der „continuous parallel“ nicht widersprechen muss – eben weil Eliot von einer kontinuierlichen Parallele spricht, also bezüglich des gesamten Werks diese Aussage getätigt hat –, steht außer Frage. Der Ulysses also als Roman, der einlädt, sich mit der Odyssee, ihrer Handlung und ihren Schauplätzen zu befassen und sie im Hinblick auf den modernen Roman zu befragen, der zugleich jedoch nie eine direkte Übertragung des antiken Epos darstellt. Der Gewinn dieses Befragens zeitigt sich für Senn in der Neulektüre der „Klassiker“ vor der Folie ihrer miniature – der Text verweist somit für Senn rezeptionsästhetisch nicht nur auf die Vergangenheit, sondern lässt eine neue Lesart des älteren Textes zu. Auch dieser Aspekt muss vor dem Hintergrund der Untersuchung reflektiert werden, impliziert er doch eine Lesart des Mythopoems Ulysses, die zugleich das Moment der poíesis des Textes selbst im Hinblick auf Vorangegangenes anspricht. Dies wird im Anschluss an die nun folgenden Analysen von Bedeutung sein, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Mŷthos und Intertextualität diskutiert werden soll. Hieran anknüpfend soll sogleich Joyce selbst zitiert sein, der gegenüber dem Übersetzer der Penelope-Episode ins Französische, Jacques Benoist-Méchin, zur Dechiffrierbarkeit des Ulysses anmerkte: I’ve put in so many enigmas and puzzles that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that’s the only way of insuring one’s immortality.3
Dass Joyce, bei allem ironischen Beiklang, diesem Ziel mithilfe seines Ulysses nahegekommen ist, ist nicht zu bezweifeln. Jedoch hat er selbst zu Lebzeiten das Entschlüsseln seines Romans unterstützt – respektive ihm dazu verholfen, das Moment des Enigmatischen zu verstärken. Als der erste Ansatz zu einer Dechiffrierung der mythischen Momente des Ulysses gilt gemeinhin Valéry Larbauds conférence4. Joyce stellte dem Kritiker und Literaturwissenschaftler Larbaud zu diesem Zweck eine schreibmaschi_____________ 3
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Ellmann 1959: 535. Interessant ist hierbei, dass Joyce auch Benoist-Méchin das im weiteren Verlauf erläuterte Schema zukommen ließ, was das Moment des sich inszenierenden Autors stützt. Larbaud hielt in der Leihbücherei und Buchhandlung Shakespeare and Company der UlyssesVerlegerin Sylvia Beach in Paris eine Art Einführung zum Ulysses. Die Buchhandlung galt in den 1920er Jahren, ebenso wie das La Maison des Amis des Livres, als Treffpunkt der „Lost Generation“ (Getrude Stein/Ernest Hemingway): Lawrence, Hemingway, Pound, Eliot, die Fitzgeralds, Wilder, Gide, Fargue, Stein, Abbott, Ray und andere gingen hier ein und aus. Beach 61996 und Monnier 1995 beschreiben das damalige literarische Leben in ihren Notizen und biographischen Rückblicken eindrücklich. Eine weitere Einordnung nimmt Shari Benstock in Women of the Left Bank: Paris 1900–1940 vor. Benstock 72002: 194–229.
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nengeschriebene Seite mit einem Schema zur Verfügung, das die Episodentitel sowie den einzelnen Episoden zugeordnete Tageszeiten, Akteure, Orte, Organe, Farben, Symbole, Disziplinen (Künste) und Textformen enthielt. Es handelte sich hierbei um eine Variation des Schemas, das Joyce bereits im September 1920 Carlo Linati hatte zukommen lassen, damals jedoch noch unter der strengen Auflage, diesen „Schlüssel“ zu seinem Werk nicht weiterzugeben.5 Die Analyse des Ulysses durch Stuart Gilbert, im Jahr 1930 unter dem Titel James Joyce’s „Ulysses“: A Study6 veröffentlicht, enthielt in Rücksprache mit Joyce eben dieses Schema (Abb. 1). Jedoch entwickelte Gilbert darüber hinaus eine Analyse des Ulysses, die als sehr weitreichende Interpretation des Werkes gewertet werden muss. Ein Blick auf die Analysen Gilberts offenbart, dass dieser sich stark um die Generierung von Parallelen zwischen der Odyssee und dem Ulysses bemühte, die von Joyce-Forschern dankbar aufgegriffen wurden. Interessant ist hierbei die Beobachtung, dass Joyce – nur wenige Jahre, nachdem er das Schema als vertraulich behandelt wissen wollte und es lediglich unter wenigen Freunden und Bekannten kursierte – Gilberts Erweiterungen und Interpretationen der einzelnen Episoden absegnete und somit die Spekulation um sein Werk gewissermaßen autorisierte.7 Zum Entstehungsprozess von James Joyce’s „Ulysses“: A Study notiert Gilbert: One begins with close analysis, and only when the implications of the original are fully unravelled does one start looking for approximations in the other language. Thus I made a point of consulting Joyce on every doubtful point, of ascertaining from him the exact associations he had in mind when using proper names, truncated phrases or peculiar words […]. Joyce showed extraordinary patience in bearing with my interrogation […]. But perhaps most valuable of all were the hints thrown out quite casually (this was Joyce’s invariable way) as to the sources of Ulysses.8
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Auf der zweiten Seite des bis heute erhaltenen sehr detaillierten Linati-Schemas ist angemerkt “copied by H. S. W.“. Die Initialen stehen wahrscheinlich für Harriet Shaw Weaver, eine Mäzenin und spätere Freundin James Joyces, die als Herausgeberin von The Egoist das Portrait Of The Artist As A Young Man ebenso wie erste Episoden des Ulysses veröffentlichte. Diese Notiz macht deutlich, dass das Schema nicht so geheim blieb, wie es einmal angedacht war. Gilbert 1955. “Finally, it should be mentioned that in the course of writing this study I read it out to Joyce, chapter by chapter, and that, though he allowed me the greatest latitude in the presentation of the facts and indeed encouraged me to treat the subject on whatever lines were most congenial to me, it contains nothing [...] to which he did not give his full approbation; indeed there are several passages which I owe directly to him.” (Gilbert 1955: Preface to the revised and enlarged edition, viii.) Gilbert 1955: Preface to the revised and enlarged edition, vi-vii.
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Wie kommt es zu diesem Sinneswandel Joyces, wie ist dieser einzuordnen? Hierzu ist zunächst anzumerken, dass Joyce als manipulativer Autor gesehen werden muss. Nicht nur, dass er versuchte, Eliot dazu zu bewegen, das Wort „zweischichtig“9 (two plane) durch möglichst häufige Nennung zu etablieren (er scheiterte), auch die Unterstützung von Larbauds Forschung zum Ulysses ist klar dadurch motiviert, sich zum einen als Autor, der Gegenstand der Forschung ist, zu positionieren (respektive positionieren zu lassen) und zum anderen einem der enigmatischsten Werke der klassischen Moderne zu Lesern zu verhelfen. Ferner muss bedacht werden, dass Joyces bereitwillige Auskunft über vermeintliche Entsprechungen zur Odyssee und die Goutierung der ausufernden Spekulationen hierzu auch als Zeichen für die Eitelkeit des Autors gesehen werden kann. Der fürchtete wegen der Unzugänglichkeit seines Werkes um dessen und somit auch seine eigene „Unsterblichkeit“, nachdem es von der Kritik verrissen und in mehreren Ländern zensiert, in England gar verbrannt worden war.10 Eine in ähnlich kanalisierter Form dargebotene Annäherung an Autor und Werk wie Gilberts James Joyce's “Ulysses” hat 1934 Frank Budgen mit seiner Studie James Joyce and the Making of “Ulysses” geliefert. Budgen vermischt in dieser eine Vielzahl von Gesprächen und Briefwechseln mit Joyce mit eigenen Assoziationen. Christopher Butler merkt zum Aspekt der Etablierung des Ulysses durch die Werke Gilberts und Budgens an: So far as the critical understanding of Ulysses is concerned, the prime documents to emerge after these initial critical reactions are Budgen’s memoir, James Joyce and the Making of ‘Ulysses’, and Gilbert’s James Joyce's Ulysses, but the latter at least is more a work of exegesis than an apology for Ulysses’ position within the modern movement. They are nevertheless the main sources for the establishment of Ulysses as a central text within the high modernist period after the First World War.11
Ebenso wie in den zahlreichen Briefen von Joyce, in denen auch immer das Moment der Inszenierung eines in der Verfertigung begriffenen oder gerade publizierten Werkes mitklingt, lässt sich auch bei Budgen Erhellendes über die Frage nach der Verweisstruktur des Ulysses, aber auch nach der mythische Methode finden. So zum Beispiel Budgens Darstellung, dass Joyce sich bereits früh zu der Figur des Odysseus hingezogen fühlte, nachdem er Charles Lambs The Story of Ulysses als Zwölfjähriger gelesen hatte. Bei Lambs Kinderbuch handelt es sich gewissermaßen bereits um _____________ 9
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“I suppose you have seen Mr. Eliot’s article in the Dial. I like it and it comes opportunely. I shall suggest to him when I write to thank him that in alluding to it elsewhere he use or coin some short phrase, two or three words, such as the one he used in speaking to me ‘two plane’. Mr. Larbaud gave the reading public about six month ago the phrase ‚interior monologue’ (that is, in Ulysses). Now they want a new phrase.“ Ellmann/Gilbert 1966 - Letters III: 83, an Harriet Shaw Weaver, 19. November 1923. Vgl. hierzu die Hinweise in der Einleitung dieser Untersuchung. Butler 2004: 78.
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eine mythopoetische Darstellung der Geschehnisse der Odyssee: Sie werden in linearer Form wiedergegeben, das Personal ist stark reduziert, und im Zentrum der 12 Episoden, auf die Lamb die Handlung der Odyssee zusammenschrumpfen lässt, stehen die Abenteuer einer einzigen Person: Odysseus. Als ein Schulaufsatz zum Thema „Helden“ geschrieben werden sollte, wählte Joyce, so Budgen, eben aufgrund dieser Lektüre Odysseus zu seinem persönlichen Helden.12 Jedoch war es nicht allein der Held Odysseus, der Joyces Bewunderung fand. „A complete, all-round man“13 ist es, der Joyce fasziniert. Sein Mut und seine Souveränität in allen Lebenslagen sind die Charakteristika des Odysseus, und für Joyce ist dieser – wie er mit Blick auf die Begegnung Odysseus’ mit Nausikaa bemerkt – gar „the first gentleman in Europe“.14 Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass Joyce die latinisierte Form des Namens des Protagonisten der Odyssee zum Titel seines Werkes wählte15, wogegen die Struktur sich am Homer’schen Epos orientieren sollte., Joyce schildert dies in einem auf den 16. Juni 1914 – jenes Datum, das später als „Bloomsday“ in die Literaturgeschichte eingehen sollte – datierten Brief an seinen Bruder Stanislaus16: Ich habe etwas geschrieben. Die erste Episode meines neues Roman ‚Ulysses’ ist geschrieben. Die erste Teil, die Telemachie, besteht aus vier Episoden: die zweite von fünfzehn, dass ist, Ulysses Wandlungen: und die dritte, Ulysses Heimkehr, von andre drei Episoden.17
In diesem Zitat wird der Text zum einen in die Gruppe der Nostoi eingeordnet, also als Heimkehrerepos charakterisiert; eine Gattung, als deren bekanntester überlieferter Vertreter Homers Odyssee gesehen werden muss.18 Zum anderen spielt Joyce direkt auf dieses Werk an, wenn er _____________ 12 13
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Budgen 1960: 15–17. Die Aussage von Odysseus als einem “complete all-round man” erinnert stark an die Bezeichnung von Odysseus als ἄνδρα [...] πολύτροπον (Od. I,1), hierzu an späterer Stelle mehr, wenn es um die Parallelführung des Protagonisten Bloom des Ulysses zum Odysseus der Odyssee geht. Budgen 1960: 15–17. Über die Odyssee selbst soll Joyce – diesmal gegenüber seinem Schüker George Borach – gar gesagt haben, ihre Thematik sei „greater, more human, than that of Hamlet, Don Quixote, Dante [’s Divina Comedia], Faust.“ Vgl. Ellmann 1959: 430. Ulysses ist die im englischsprachigen Raum gängige, aus dem Lateinischen (Ulixes) übernommene Form des griechischen Namens Odysseus. Joyce verfasste diesen Brief auf Deutsch an seinen Bruder Stanislaus, da sich dieser zu diesem Zeitpunkt in Oberösterreich in Internierung befand. Hiermit sind die Fehler/assoziativen Schreibweisen zu erklären. Zur aufschlussreichen Verwechslung von Wanderungen und Wandlungen vgl. Senn 1985: 127. Der in der vorangegangenen Fußnote geschilderten Schreibsituation Rechnung tragend, wäre hier ein einziges großes „sic “ zu setzen. Nóstoi (gr. „Heimkünfte“) sind ein Teilepos des Trojanischen Epenzyklus, der in fünf Büchern (aus dem 7. Jh. v. Chr.) von der Heimkehr der überlebenden archaischen Helden
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I. Auf der Suche nach der mythischen Methode
schreibt: „dass ist, Ulysses Wandlungen: und die dritte, Ulysses Heimkehr“. Doch sind es nicht allein die Benennung des Protagonisten als Ulysses, also als Odysseus, oder die Einordnung des Werkes als Nostos, die diese Anspielung unterstützen. Joyce knüpft mit seiner Gliederung in Episoden auch an Homers Einteilung der Odyssee in Gesänge an und übernimmt dessen Struktur von drei Hauptteilen. Ein weiterer, wenn auch umstrittener Aspekt ist Joyces detaillierte Beschreibung Dublins: I want to give a picture of Dublin so complete that if the city suddenly disappeared from the earth it could be reconstructed from my book.19
Joyce verlegt die Handlung in eine Zeit, die er selbst kennt und in der er alle Handlungen des (beziehungsweise der) Helden authentisch und für den Leser nacherlebbar gestalten kann – was eine der großen Faszinationen des Buches ausmacht und wohl zu dem Kult-Status des Werkes in der Joyce-Gemeinde beigetragen hat, die so jährlich auf den Spuren Blooms und seiner Zeitgenossen wandeln kann. Hugh Kenner erläutert, dass „ein Leser Homers“ wohl damals beim Lesen der Odyssee auch von dem „Wiedererkennungseffekt geschmeichelt“ gewesen sein dürfte, ebenso präzise müssten Homers Beschreibungen der Orte von Odysseus’ Irrfahrten auf damalige Rezipienten gewirkt haben.20 Victor Bérard schreibt hierzu in seiner Studie Les Phéniciens et l’Odyssée: The Poet invents nothing. He utilizes the fact given in the ‘log’ (peri-plous). […] From a series of sketches he composes a picture, and this picture is an accurate copy of nature, though some parts of it are left in shadow and others placed in a high light. The picture is complete; the poet omits none of the facts which the records have described to him.21
Unabhängig davon, dass diese Parallele zur Odyssee als extrem spekulativ und umstritten gelten kann22, lässt sich zweierlei konstatieren: Zum einen, dass Joyce Bérards Aussage kannte und beherzigte. Hier überwiegt die Position des verfertigenden Autors deutlich die wissenschaftliche Tragfä_____________
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des Trojafeldzugs erzählt. Die Odyssee baut die „Heimkehr des Odysseus“ (die in den Nostoi ausgespart wird) großepisch aus und greift auf den Stoff der Nostoi im III. und IV. Gesang zurück. Vgl. hierzu: Cancik/Schneider 2000: „Nostoi“, ferner: v. Wilamowitz 1884: 173–182. Budgen 1960: 67–68. Kenner 1982: 43. Bérard 1902. Übers. von u. zit. nach Gilbert 1955: 87. Bereits im 3. Jh. v. Chr. widersprach der Geograph Eratosthenes der Annahme, Odysseus sei eine nonfiktive Route gesegelt; seither hält die Debatte – ähnlich der jüngeren TrojaDebatte – an. Zur Frage der Ortsbestimmungen Trojas haben in den vergangenen Jahren Raoul Schrotts Thesen für Diskussionsstoff gesorgt (Schrott 2008). Zentral ist allerdings, dass Joyce aufgrund der Kenntnis von Autoren wie dem zitierten Victor Bérard davon ausging, die Route des Odysseus in der Odyssee sei nachvollziehbar und diese Annahme zur Grundlage seiner Ortsbeschreibungen machte.
I. Auf der Suche nach der mythischen Methode
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higkeit der These. Zum anderen, dass James Joyces Ulysses über die geografischen Anknüpfungspunkte hinaus eine realistische Darstellung des Alltags in Dublin im Sommer des Jahres 1904 anstrebte. Zur Wahl dieses Zeitraumes, notiert Frank Budgen, habe Joyce im Sommer 1918 erklärt: I am now writing a book […] based on the wanderings of Ulysses. The Odyssey, that is to say, serves me as a ground plan. Only my time is recent time and all my hero’s wanderings take no more than eighteen hours.23
An den Übersetzer Carlo Linati schreibt Joyce in einem Brief vom 21. September 1920: It is an epic of two races (Israelite–Irish) and at the same time the cycle of the human body as well as a storiella of a day (life). The character of Ulysses always fascinated me […] It is also a sort of encyclopaedia. My intention is to transpose the myth sub specie temporis nostri.24
Aus beiden Zitaten geht hervor, dass Joyce die Odyssee als Vorlage oder ground plan zum Ulysses fasst und dass das Konzept hinter dieser Verortung der mythischen Handlung in der jüngsten Vergangenheit eine Transposition des Mŷthos sub specie temporis nostri ist. Ferner benennt Joyce die deutlichsten Unterschiede zwischen den beiden Werken. Nicht nur sollen die Irrfahrten seines25 Helden in die jüngste Vergangenheit verlegt und somit ein aktuelles Epos geschaffen werden. Joyce geht auch auf die Zeitstruktur der Odyssee ein, wenn er ergänzt, dass der Handlungszeitraum seines Werkes nicht mehr als achtzehn Stunden umfassen soll.26 Inwiefern diese Transposition des Mŷthos sowohl unter dem Aspekt der Aussage sub species temporis nostri als auch unter Berücksichtigung inhaltlicher Parallelen, also am konkreten Beispiel des Ulysses, begreifbar ist, kann nicht ohne Weiteres beantwortet werden. Denn war bisher deutlich geworden, wie Joyce seinen Roman bereits vor Erscheinen und gar vor _____________ 23
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Budgen 1960: 15. Einmal abgesehen von dem für uns an dieser Stelle wichtigen Hinweis auf eine Parallele zur Odyssee als „Grundriss“, scheint diese Aussage selbst eine meisterhafte Strategie, ein ungeschriebenes Buch ins rechte Licht zu setzten. Vgl. hierzu auch Kenner 1982: 41. Hervorhebung J. S. Ellmann/Gilbert 1966 - Letters I: 146. Hervorhebung J. S. Joyce legte dem Brief eine frühe Form jenes Schemas bei, die auch Stuart Gilbert erhielt (Linati-Schema). Joyce spricht hier von seinem Ulysses im Singular und meint wohl Leopold Bloom, was sich mit dem Text durchaus stützen ließe. Es gibt in der Joyce-Forschung jedoch Tendenzen dazu, Stephen Dedalus ebenso als Protagonisten, wenn auch eher als „Telemach“, zu sehen, denen ich mich anschließe. Auch wenn Leopold Bloom das Geschehen dominiert und somit Namensgeber für den 16. Juni 1904 ist: „Bloomsday“. Vgl. hierzu auch Senn 1999: 114, der an dieser Stelle von „haupt- und nebenamtlichen Ulysses-Figuren“ schreibt. Homers Odysseus irrt nach der Schlacht um Troja – was er seiner Eitelkeit auf der Flucht vor dem Zyklopen Polyphem zuschreiben muss – noch weitere zehn Jahre durch die Welt, was Gegenstand der ersten zwölf Gesänge der Odyssee ist. Dass der Ulysses sich in seiner erzählten Zeit de facto über zwei Tage, nämlich bis in die Morgenstunden des 17. Juni, erstreckt, kann vernachlässigt werden, da die Erfahrung Tag im Zentrum steht.
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dem Beginn des Schreibens des Romans Dritten gegenüber als ein auf die Odyssee bezogenes Werk inszeniert hat, so lässt sich dies auch am Text selber in Teilen eben als Moment der Inszenierung und Manipulation aufzeigen. Doch ohne Zweifel gibt es auch – inszenierte, vom Autor angelegte – Parallelen. Doch ist es gerade vor dem Hintergrund der Frage der Funktion Mŷthos interessant auch im Feld bisheriger Interpretationen das Bemühen Joyces um eine wirkungsmächtige Transposition sub species temporis nostri aufzuzeigen. Über die Interpretation des Ulysses vor der Folie der Odyssee notiert Arno Esch: Es ist zwar zur Genüge bekannt, wie unermüdlich und geradezu pedantisch Joyces enzyklopädischer Geist auf Parallelenjagd war […]. Welcher Wert jedoch den Analogien im einzelnen zuzumessen ist, ob sie einen wirklichen Schlüssel zum Verständnis abgeben oder nur ein Mittel der Materialkontrolle des Dichters darstellen, darüber gehen die Meinungen auseinander.27
Eine kritische zeitgenössische Ansicht, die das Moment der „Materialkontrolle des Dichters“ unterstreicht und zudem das zuvor angeführte der Ritualisierung des Schreibprozesses durch den Autor selbst noch verstärkt, ist sicher die Kritik Ezra Pounds, die im Widerspruch zu der zuvor erläuterten Kritik Eliots steht.28 Pound lobt das Opus für dessen Form und Komponiertheit, sieht jedoch die Funktion des Mŷthos auf die eines Gerüstes reduziert: These correspondences are part of Joyce’s medievalism and are chiefly his own affair, a scaffold, a means of construction, justified by the result and justifiable by it only. The result is a triumph in form, in balance, a main schema with continuous inweaving and arabesque.29
S. L. Goldbergs Analyse des Ulysses weist in eine ähnliche Richtung, doch zeigt sich Goldberg weitaus kritischer, wenn er schreibt, [T]he Homeric parallel nowhere seems to emerge of necessity, dramatically realized in, and an integral part of the action […], [it] seems merely to hover over the action like a mesh whose finest wires are all but invisible – outside the characters’ consciousness altogether.30
Goldbergs Ansicht wird durch die 1961 erschienene Studie des Literaturwissenschaftlers A. Walton Litz gestützt. Litz hat anhand der Notesheets, die Joyces Schreibprozess am Ulysses dokumentieren, nachgewiesen, dass der Autor sein Werk im bereits fortgeschrittenen Stadium mit Analogien _____________ 27 28
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Esch 1977: 214. Vgl. die einleitenden Bemerkungen: Eliot kritisiert die in der Kritik verbreitete Lesart der Mythenverweise als „amüsante[n] Kniff […] oder als ein vom Autor errichtetes Gerüst, das nur dem Zwecke dient, eine realistische Fabel zu tragen, im Ganzen aber ohne Bedeutung für die Gesamtstruktur ist“. (Eliot 1975/1993) Pound 1954: 406. Goldberg 1961: 149 f. Hervorhebung J. S.
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zu anderen Werken – darunter zentral auch die Odyssee – versehen hat, andere in den Notesheets auftauchende Verweise jedoch in die gedruckten Fassung des Ulysses nicht aufgenommen wurden. Litz zieht den Schluss, dass Joyce ungefähr ab dem Jahr 1919 in seinen Entwürfen zu den einzelnen Episoden des Ulysses das Moment der Korrespondenzen und Verweise in den Vordergrund seines Schaffens gestellt hat: When one reads the versions of the early episodes published between 1918 and 1920 in the Egoist and Little Review one is struck immediately by the absence of many of those elaborate “correspondences” documented by Stuart Gilbert and outlined by Joyce on a chart he circulated among his friends. The familiar schema of the novel – the correspondence of each episode to a particular organ, colour, symbol, and art, and the casting of each episode in a distinctive style – is absent from the earlier versions. One of Joyce’s major aims in revising the earlier episodes of Ulysses was to impose this elaborate pattern of correspondences upon them, to transform the entire novel into an “epic” work. By the time Joyce had reached mid-point in the drafting of Ulysses (c. 1919) the “correspondences” for each episode were in the foreground of his mind.31
Nimmt man dies an, so ergeben sich zunächst zwei Möglichkeiten, die Litz’ Beobachtungen erklären: Joyce hat entweder das Schema vor dem Schreiben besessen, es aber erst zu einem späten Zeitpunkt seines Schaffens herangezogen und eingearbeitet. Oder Joyce hat das Schema erst spät entwickelt.32 Bedenkt man dies, so ergibt sich das Bild eines bewusst „remythologisierenden“ Autors, der sein Werk – zu Teilen auch nachträglich – in ein bestimmtes Licht zu setzen sucht; potenziell eben jenes, das er zuvor in Briefen und Gesprächen angekündigt hat. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern diese Re-Mythologisierung, und so mithin die Frage der Textgenese, für die Bedeutung und Gewichtung der Mythenverweise im Roman selbst von Gewicht ist: Wenn Joyce für seine Romankonzeption als konstitutiv zu fassende Anspielungen nachträglich in den Text hat einfließen lassen, sie also losgelöst vom primären Produktionsprozess der Erzählung hinzugefügt hat, müssen dann diese auch als „zusätzlich“ zur eigentlichen Handlung der Erzählung gewertet werden? Esch legt diese Interpretation nahe, wenn er schreibt: Mit dieser Beobachtung, daß die Odyssee-Korrespondenzen nicht ‚organisch‘ aus der Handlung erwachsen, sondern […] auf die Manipulation des Autors verweisen, ist eine erste wichtige Erkenntnis gewonnen: die Parallelen sind ein Mittel der direkten Kommunikation zwischen Autor und Leser. Sie ermöglichen die
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Litz 1961: 34. Zur Frage, inwiefern sich aus diesem Umgang mit den Schemata und den darin aufgeführten Analogien durch Joyce ein Wechsel hinsichtlich der Absicht des Autors verbirgt, und einer Analyse der Annahme, dass Joyce sein Konzept hinsichtlich des Ulysses im Schreibprozess selbst änderte: Fludernik 1986: 173–188.
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Vermittlung von Einsichten, die über das Selbstverständnis der Figuren und Erzählerkommentare hinausgehen.33
Sicherlich sind die Korrespondenzen, die Joyce dem Ulysses implementiert hat und die mal deutlich, mal weniger deutlich als Prätext markiert werden, als Mittel der Kommunikation und als Hilfsmittel zum Verständnis des Textes lesbar. Doch erscheint es schwierig, im Sinne Eschs zu argumentieren, dass diese Verweise über das Selbstverständnis der Figuren und die Erzählerkommentare hinausgehen. Schließlich sind sie vom Autor, also dem Konfigurateur des Textes, verfasst worden – zumal von einem, der sich selbst mehr als Arrangeur denn als Autor des Ulysses verstand. Dass zum Beispiel die Bardamen in der Sirenen-Episode nicht wissen, dass sie als Sirenen fungieren (also lediglich ohne Zuordnung zu diesem Feld den Sirenen ähnlich agieren), kann man noch akzeptieren. Doch will man auch den zweiten Teil der Aussage Eschs positiv werten, so müsste man dieses „Hinausgehen“ über Erzählerkommentare als „herkömmliche“ auktoriale Einmischungen und Präsentationsweisen verstehen. Und auch wenn die Kritik, beispielsweise Ezra Pounds, auf diese Zweiteiligkeit des Textes im Sinne eines Auseinanderstrebens von Mythen verweist und ihn eigentlicher Erzählung nahelegt und vor dem Hintergrund der Erkenntnisse A. W. Litz’ plausibler erscheinen mag, so soll doch im Weiteren eben das im Vordergrund der Überlegungen stehen, was dem Rezipienten als Gegenstand vorliegt: der Text selbst. Denn, so meine weitere Kritik an Esch, der Text als zunächst festgeschriebenes Medium ist es, der mit dem Rezipienten in einen Dialog eintritt – und nicht der Autor, oder dieser höchstens in mittelbarer Form. Wesentlich erscheint dies bei einem Text wie dem Ulysses, der, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, dem Leser mit einer außergewöhnlichen Ambivalenz entgegentritt. Dass Joyce durch die Verarbeitung der Schemata und auch durch seine nicht enden wollenden Kommentare zum Werk selbst versucht, diesem Primat des Textes entgegenzukommen – und ihm so doch entgegenwirkt –, werte ich als Selbstinszenierung des Autors. Ihm ging es vordergründig auch um das Moment der Unsterblichkeit: des Autors und seines Werkes.34
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Esch 1977: 215. „Zum bourgeoisen Meisterwerk gehört es, daß sein Schöpfer sich ebenso daneben oder davor zeigt, wie darin. Selbstdarstellungen von Autoren sind in der literarischen Welt die Regel. Sie sind Konnotate, die in der Interpretation immer präsent sind und auch die literaturwissenschaftliche Interpretation prägen können. […] Joyces erwiesene auktoriale Leistung [gemeint ist hier auch der Bezug zum Gilbert-Schema] würde noch mehr imponieren, wäre klar aufzuzeigen, dass er sich mit diesem lancierten Material absichtlich über seine Interpreten lustig gemacht hätte.“ Vgl. Zils 2009: 229.
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2. Parallelen und windschiefe Geraden im Raum – zwischen groundplan und myth sub specie nostri Ausgehend von Pound, Litz und Goldbergs Auffassungen, ist die Frage interessant, wie die Mythenverweise im Verhältnis zum Text und auch im Verhältnis zum Rezipienten des Textes zu gewichten sind. Vor diesem Hintergrund können die Aussagen Joyces, er sehe die Odyssee als Grundriss und sein Ziel sei es, einen myth sub specie temporis nostri zu transportieren, eine Einordnung finden. Hierbei soll gezeigt werden, dass diese beiden Herangehensweisen an den Prätext sich im Ulysses als alternierendes Modell zeitigen, was wiederum dazu führt, dass Moderne und Antike – sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch betrachtet – in ein Wechselspiel treten, das als sinnstiftender Prozess verstanden werden muss. Diesen Diskurs der Felder Moderne und Antike gilt es weiter zu verfolgen, um die von Eliot benannte mythische Methode und die kontinuierliche Parallele zu erfassen.35 Im Zentrum steht im Folgenden jedoch die These, dass dieser dynamische Prozess der zyklischen Verknüpfung von Antike und Moderne – und zwar auf jeglicher diskursiven Ebene – als mythische Methode gefasst werden muss und somit über eine eindeutig zuschreibbare Form von Intertextualität hinausgeht. Hierzu sollen nun verschiedene Verweisebenen aufgezeigt und analysiert werden. Da es im vorliegenden Teilkapitel dieses Buches vordergründig darum geht, die Dikta von der kontinuierlichen Parallele und der mythischen Methode T. S. Eliots vor dem Hintergrund von Joyces Ulysses zu erhellen, beschränkt sich die Untersuchung an dieser Stelle auf eine grobe Darstellung des Verhältnisses von Ulysses und Odyssee und versucht zentrale Punkte an einzelnen Beispielen zu erläutern. Der augenscheinlichste Verweis auf die Odyssee als Prätext findet sich bereits im Titel von Joyces Roman: Ulysses. Zu Recht macht Jennifer Levine darauf aufmerksam, dass dieser Titel eine Signalwirkung habe, die es unmöglich mache, den Roman unabhängig von der antiken Tradition zu sehen. Sie schreibt: For us, now, familiarity has naturalized the title. Wrenched out of its original Homeric context (it is the Roman version of ‘Odysseus’), the name ‘Ulysses’ seems entirely Joycean. But that title is a provocation. Imagine for a moment that this seven-hundred-page novel is called Hamlet and you will regain a sense of it as a text brought into deliberate collision with a powerful predecessor.36
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Dass die mythische Methode eine intertextuelle Struktur ist, die Antike und Moderne miteinander verbindet, ist nicht zuletzt von Werner Frick in seiner gleichnamigen Habilitationsschrift ausgeführt worden und wurde bereits in der Einleitung thematisiert. Levine 22004: 122.
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Die Anspielung auf das prototypische Heimkehrerepos Odyssee impliziert bereits eine der möglichen Lesarten des Ulysses, sowohl was die Struktur der Handlung, Zielrichtung für die Form des Romans, aber auch was die Personen der Handlung betrifft. Hinsichtlich der Struktur setzt der Autor selbst diesen Gesichtspunkt. Joyce hat seinen Roman in drei Teile gegliedert – Telemachie, Odyssee und Nostos – und diese wiederum in Episoden. Die 18 Episoden des Romans sind, entgegen dem Vorbild der 24 Gesänge der Odyssee, zeitlich linear angelegt.37 Dies entspricht der erwähnten Nacherzählung für Kinder, die Joyce den Erstzugang zu Homer gewährte. Eine Ausnahme bilden die ersten drei Episoden: In diesen wird Stephen Dedalus, der Telemach des Ulysses, eingeführt. Nach ihnen beginnt Joyce den Tag erneut, diesmal mit dem Tag des Leopold Bloom, dem Odysseus des Ulysses. Diese zeitliche Schleife ist notwendig, da die Handlungen der Protagonisten ab der 7. Episode (Aeolus) parallel geführt werden, was als strukturgebendes Moment in der Erzählung genutzt wird.38 Eine der Prägnanz des Titels gleichrangige Parallele sind die 18 Episodentitel. Auch wenn diese beim Erscheinen des Romans im Jahr 1922 durch Kapitelzahlen ersetzt wurden, so dienten sie Joyce doch sowohl in seinen Korrespondenzen als auch in den Vorveröffentlichungen in The Little Review (1918 ff.) zur Benennung der Episoden. Und spätestens seit ihrer Verwendung durch Larbaud und schließlich Gilbert werden sie als Standard zur Orientierung innerhalb des Ulysses herangezogen. Die den einzelnen Episoden beigeordneten Namen sollen hier kurz genannt werden: I
The Telemachiad 1. Telemachus 2. Nestor
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Es ist anzumerken, dass Joyce, der ein Meister der Inszenierung von Ungeschriebenem war, die Zahl seiner Episoden in den Jahren 1915 bis 1920 veränderte, allerdings nie 24 Episoden plante (was der Zahl der Gesänge der Odyssee entspräche): 1915 schrieb er von einem 4-15-3 Schema (22 Episoden), im Mai 1918 (als er bereits mehrere Jahre an seinem Roman geschrieben hatte) schrieb Joyce an die Herausgeberin der englischen Zeitschrift Egoist Harriet Shaw Weaver, er schreibe 17 Episoden in der Gruppierung 3-11-3, 1920 hatte sich Joyce dann auf eine Zahl von 18 Episoden in der jetzigen Konstellation festgelegt: 3-12-3. Michael Groden stellt in „Ulysses“ in Progress fest, dass die zuletzt entworfene Episode wohl Wandering Rocks/Irrfelsen sein müsse: Nicht nur ist der Entwurf des Kapitels im Frühjahr 1919 entstanden, es ist auch die einzige Episode, deren Name keinen Bezug zur Odyssee herstellt; zudem ist es gewissermaßen ein Ruhepunkt im sonst umtriebigen Tag von Leopold Bloom und Stephen Dedalus. Groden 1977: 32 ff. Eingeleitet wird diese Parallelführung dadurch, dass Bloom Stephen zum ersten Mal aus der Ferne sieht, als Bloom in einer Kutsche in der Prozession zu Paddy Dignams Beerdigung fährt. Vgl. Ulysses 6,108. Zitiert wird nach der Gabler-Edition: „Kaptitelzahl,Zeile.“
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3. Proteus II
The Odyssey 4. Calypso 5. The Lotus Eaters 6. Hades 7. Aeolus 8. The Laestrygonians 9. Scylla and Charybdis 10. Wandering Rocks 11. The Sirens 12. The Cyclops 13. Nausicaa 14. The Oxen of the Sun 15. Circe
III
The Nostos 16. Eumaeus 17. Ithaca 18. Penelope
Es ist durchaus kontrovers diskutiert worden, inwiefern die Episodentitel der Verständlichkeit dienen könnten. Ferner ist erörtert worden, welchen Nutzen ihre Reihenfolge habe, die teilweise stark von der der Odyssee abweicht. Überdies erscheinen die Episodentitel, so die Kritik39, beliebig gewählt. Als ein Beispiel wäre die Hades-Episode zu nennen, die bei Joyce vor der Circe-Episode erscheint: In der Odyssee ist es Circe, die Odysseus den Weg in den Hades weist – ein Zugang zum Hades ohne Circe ist in der Handlung nicht möglich. Doch ist es aufschlussreich und für die weiteren Überlegungen instruktiv, sich zu vergegenwärtigen, vor welchem Hintergrund Joyce hier die Reihenfolge der Episoden der Vorlage opfert. Auch weil hier das aufscheint, was man als Mischung der produktionsästhetischen Prinzipien des Autors erkennen kann: der Transposition sub specie temporis nostri und des ground plan Odyssee. Wie Joyce Linati schrieb, ist es ein Anspruch des Ulysses, eine MŷthosTransposition sub specie temporis nostri darzustellen. Hades ist somit hier ein Friedhof, die Episode enthält zudem den Weg des toten Paddy Dignam dorthin. Da Beerdigungen im Dublin jener Tage am Vormittag stattfinden _____________ 39
Zu einer zusammenhängenden Darstellung dieser vgl. Esch 1977.
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mussten, wich die durch den ground plan Odyssee vorgegebene Reihenfolge der Episoden dem Gebot der realistischen und aktualisierten Darstellung. Hingegen lassen sich andere Parallelen anführen. So wird der Leichnam Paddy Dignams in diesem Kapitel zwar nicht auf den vier Flüssen des Hades verschifft, aber doch in einer Kutsche über die vier Wasserläufe Dublins – Dodder, Grand Canal, Liffey und Royal Canal. Zugleich gelingt es Joyce, die Trauerprozession so zu lenken, dass Bloom, der mit Simon Dedalus in einer Kutsche sitzt, aus dem Fenster einen Blick auf Stephen werfen kann. Damit ist der Grundstein für die von nun an parallel geführten Tagesabläufe der Protagonisten gelegt: All watched awhile through their windows caps and hats lifted by passers. Respect. The carriage swerved from the tramtrack to the smoother road past Watery lane. Mr Bloom at gaze saw a lithe young man, clad in mourning, a wide hat. — There's a friend of yours gone by, Dedalus, he said. — Who is that? — Your son and heir.40
Diese Volte hat zur Folge, dass die Kutsche, in der Leopold Bloom und Simon Dedalus sitzen, überdurchschnittlich schnell fahren muss.41 Denn nur so ist es möglich, in der Nähe des Strands zu fahren. Nun kann Bloom Stephen sehen und die Komposition des Werkes erfährt keinen Bruch. Zugleich sind aber alle vier Flüsse Dublins zu überqueren, damit der mythologische Verweis auf den Hades seine Entsprechung in der modernen Umsetzung findet. Dazu muss eine Strecke von mehreren Kilometern zurückgelegt werden. Eile ist geboten, denn der schematische Aufbau des Werkes verlangt ferner, dass das Verhältnis von circa einer Stunde pro Episode Umwegen zum Trotz fortbesteht.42 Neben der Abfolge der Episodentitel lässt sich das Ineinandergreifen und Sich-Abwechseln von Grundriss Odyssee und der Mŷthostranformation sub specie temporis nostri, die als produktionsästhetische Prinzipien Joyces verstanden werden können, anhand der Titel der Episoden ausmachen. Dies soll an der Sirens-Episode aufgezeigt werden. Die Episode, der in Gilberts Schema (Abb. 1) das Ohr als Organ, Musik als Disziplin/Kunst und Fuga per canonem43 als Textform beigeordnet sind, konzentriert sich auf eine _____________ 40 41
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Ulysses 6,37. Ulysses 6,744: ”We are going the pace, I think, Martin Cunningham said. — God grant he doesn't upset us on the road, Mr Power said.“ Zu Wegstrecken und Reisedauer vgl. Kenner 1982: 44 ff., der das Gilbert-/Linati-Schema hinsichtlich seiner zeitlichen Aufteilung analysiert und in Teilen revidiert hat. Diese musikwissenschaftliche Einordnung ist leidlich hilfreich: Sebastian Knowles notiert zur “fugal form in ‘Sirens’”, sie sei ein “bogus statements” (Knowles 2001: 167), Joyce selbst ging in einem Brief an Harriet Shaw Weaver vom Juli 1919 gar so weit zu behaupten, er bringe “all the eight regular parts of a fuga per canonem” (Letters I: 129) in diesem Kapitel unter. Georges Borach hält fest, Joyce habe im Juni desselben Jahres seinen dem Kapitel
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musikalische Darstellung der Geschehnisse in der Bar des OrmondHotels. Zeilen aus im Hintergrund erklingenden Gesangsdarbietungen fließen in den Text ein, Sätze werden, den Fugensatz abbildend, variiert und schließlich komplettiert, und Personen und deren Handeln finden eine metrische und onomatopoetische Umsetzung, wenn z. B. der taube, humpelnde und etwas schroffe glatzköpfige Kellner Pat auftaucht: “Pat paid for diner's popcorked bottle: and over tumbler tray and popcorked bottle ere he went he whispered, bald and bothered, with Miss Douce.”44 Der Episodentitel Sirens fungiert so als Verweis auf ein semantisches und kulturhistorisches Feld. In der Odyssee wissen wir – ebenso wie im Ulysses – zwar nicht genau, wer die Sirenen sind. Wir wissen jedoch, dass die Sirenen ein vordergründig akustisches Phänomen sind (hierin stimmen alle Beschreibungen der Sirenen in der Antike überein)45 und dass in der _____________
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zugrunde liegenden Plan in einem Gespräch erläutert, jedoch von Sirens als “fugue with all musical notations” gesprochen (Borach 1954: 459). Fest steht, dass eine Lektüre der Episode unter dem Gesichtspunkt der Suche nach einer fuga per canonem und fugue nicht weiterhilft. Nicht nur, weil Joyce beide Termini scheinbar willkürlich benutzt, auch Stuart Gilbert vertauscht sie: So spricht er mal von fugue (Gilbert 1955: 31, 120, 256), mal von fuga per canonem (kurioserweise nur im Schema; Gilbert 1955: 240). Doch sind diese Begriffe alles andere als austauschbar: Die fuga per canonem ist eine strenge musikalische Form, die im Reigen begründet liegt, der eine der ältesten Formen des Liedes und Ursprung des Kanons ist. Bekannte Kanons, die auf Reigenlieder zurückgehen, sind zum Beispiel im Englischen Three Blind Mice, das französische Frère Jacques oder Claude Debussys Images, dort der 3. Satz Rondes de printemps (1912). Eine Fuge hingegen ist eine kontrapunktische Form der Komposition, die im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt wurde und die allen vorherigen Regeln der Komposition entgegentritt – also auch der fuga per canonem. Sie beginnt als Kanon, löst sich dann allerdings von dieser strikten Form, um im kontrapunktischen Improvisieren lediglich von Zeit zu Zeit imitierend das Thema des Kanons wieder aufzunehmen. Vgl. zur Frage, inwiefern die Bezeichnung des Kapitels mit diesem Terminus sinnvoll sind: Cole 1973, Honton 1979, Knowles 1986, Knowles 2001. Ferrer 2001 und zuletzt Brown 2007 nähern sich der Frage nach der fuga per canonem vor dem Hintergrund jüngster Manuskriptfunde, auf denen Joyce einzelne Teile des Kanons notiert hat (Groden 2001). Dies weist darauf hin, dass Joyce hier ähnlich wie beim Rekurs auf etwaige Versmaße seine Auswahl mit großer Freiheit vornahm. Ulysses 11,17. Anders verhält es sich zum Beispiel hinsichtlich ihrer Zahl und ihrer Namen. Bei Homer finden sich zwei Sirenen (Odyssee XII,52), die nicht näher benannt sind, ähnlich ist es bei Strabo (5, 4, 7 p. 246 und 6, 1, 1 p. 252), wo die Sirenen jedoch als „Parthenope“ und „Leukoesia“ bezeichnet werden. Hesiod berichtet im Catalogus Feminarum hingegen von drei Sirenen, die auch benannt werden (Thelxiope oder Thelxinoe, Molpe, Aglaophonos Cat., Fr. 27), ebenso Apolodor (Thelxiepeia, Aglaope, Peisinoe, Ep. 7, 18), Hyginus (Thelxiepe, Molpe, Pisinoe Fab, praef. 30), Lykophron (Leukosia, Ligeia, Parthenope Alex. 712). Bis auf Leuko(e)sia (die „Weiße“), beschreiben alle Namen die Sirenen als akustisches Phänomen. Platon nennt in der Politeia mit acht die in der überlieferten antiken Literatur höchste Zahl der Sirenen (Rep. 617b). Franz Kafka verkehrt das zentrale Merkmal des Gesangs, wenn er in der 1917 entstandenen und im Nachlass überlieferten Erzählung Das Schweigen der Sirenen Odysseus lediglich zum Zuschauer macht, indem dieser sich selbst die Ohren mit Wachs verschließt. Kafka lässt zudem die Sirenen nicht singen, wofür als möglicher
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Odyssee Odysseus der einzige ist, der ihrem Gesang lauschen kann: Seine Begleiter haben sich die Ohren mit Wachs verschlossen, Odysseus aber ist an den Mast des Schiffes gebunden, und das, was er hört, lässt ihn darum flehen, losgebunden zu werden. Von Circe hat Odysseus zuvor erfahren, dass der Gesang ihn in den Tod triebe, wenn er ihm folgte. Das Moment der Musikalität/des Gesanges kann ebenso wie das der Verlockung in der Ulysses-Episode ausgemacht werden. Bloom hat in der Bar des Ormond-Hotels Platz genommen und beantwortet von hier aus ein Schreiben seines „Brief-Flirts“ Martha Clifford, wobei er vorgibt, eine Anzeige zu beantworten: — Answering an ad? Keen Richie’s eyes asked Bloom. — Yes, Mr. Bloom said. Town traveller. Nothing doing, I expect.
Während er dies tut, lärmt um ihn herum der Baralltag. Dem zuvor Beschriebenen Rechnung tragend, wird Bloom in diesem Kapitel gleichsam zum Schmelztiegel der ihn umgebenden Geräusche und Handlungen, die sich in der Verschriftlichung seines Bewusstseinsstromes zeitigen. So entsteht ein polyphones Bild, das im Folgenden kurz anhand einer Analyse des Ende des Briefes/des Schreibens des Briefes verdeutlicht werden soll. Die Passage lautet im Ulysses: Bloom mur: best references. But Henry wrote: it will excite me. You know now. In haste. Henry. Greek ees. Better add postscript. What is he playing now? Improvising intermezzo. P.S. The rum tum tum. How will you pun? You punish me? Crooked skirt swinging, whack by. Tell me I want to. Know. O. Course if I didn't I wouldn't ask. La la la ree. Trails off there sad in minor. Why minor sad? Sign H. They like sad tail at end. P.P.S. La la la ree. I feel so sad today. La ree. So lonely. Dee. He blotted quick on pad of Pat. Envel. Address. Just copy out of paper. Murmured: Messrs Callan, Coleman and Co, limited. Henry wrote: Miss Martha Clifford c/o P.O. Dolphin's barn lane Dublin.46
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Grund „der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte“, angeführt wird, der „sie allen Gesang vergessen ließ“. Dies macht sie zuerst zu einem optischen Phänomen: Odysseus sieht die Sirenen und deutet ihre Mimik und Gestik als Ausdruck ihres Gesanges, den er nicht zu hören glaubt (Kafka geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er unterstellt, der Sirenengesang sei so durchdringend, dass Wachs und Ketten nichts gegen ihn ausrichten könnten. Jedoch tauscht Kafka in einem weiteren Zug das Verhältnis der Affektion: „Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.“ Kafka 1983: 59. Ulysses 11,888–900. Bloom schreibt bereits zuvor an diesem Brief, fühlt sich allerdings immer wieder beobachtet (vgl. Ulysses 11,860 ff.). Die Adressatin, Martha Clifford, kennt weder Blooms wahren Namen noch Bloom; sie nennt ihn Henry Flower. Der Brief von
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Blooms Brief ist zunächst ein unverständliches Dokument. Die Darstellung der Szenerie beschränkt sich nicht auf sein Schreiben oder das Ergebnis seines Schreibens, sondern nimmt die Polyphonie der Umgebung und mithin das Moment der Gleichzeitigkeit mit auf. Auktorialer Text, die Gedanken Blooms über das Schreiben, das, was Bloom schreibt, Zitate aus dem vorangegangenen Brief Martha Cliffords und Umgebungsgeräusche, die Bloom wahrnimmt – dies alles fließt in einer einzelnen Textpassage zusammen, ohne dass die unterschiedlichen Erzähltypen und -perspektiven markiert werden. Die Schriftform trifft auf die Unmöglichkeit, Gleichzeitigkeit im Raum zu schildern. Simultanes Nebeneinander ist schriftlich nur durch räumliches Nacheinander darstellbar.47 Bloom selbst scheint diesen Umstand beinahe hellsichtig zu kommentieren, wenn er denkt: “Words? Music? No: it’s what’s behind.”48 Blooms Überlegungen zum Brief unterscheiden sich von dem, was er schreiben wird: “best references. But Henry wrote: It will excite me.” Leopold Bloom würde wohl kaum einen Brief mit “It will excite me” unterschreiben, zumal er erklärt hat, Geschäftskorrespondenz zu bearbeiten. Also murmelt er – und dies ist eine der wenigen Sequenzen auktorialen Erzählens – die ihm hierfür angebrachte Abschiedsphrase “best references”. Er schreibt hingegen, wie der auktoriale Erzähler mit “But Henry wrote” im Präteritum/simple past einleitet: “it will excite me”. Eine Verstellung, die der Rolle von Henry Flower geschuldet ist, als der Bloom den Brief verfasst. “You know now” ist hingegen ein Bezug auf den Brief Martha Cliffords: Sie hatte ihm mit Bestrafung gedroht, so er ihren Brief nicht beantworten würde, woran sie die Zeile “So now you know what I _____________
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Martha Clifford soll hier zum besseren Verständnis des Kontextes einmal in Gänze zitiert werden: “Dear Henry. I got your last letter to me and thank you very much for it. I am sorry you did not like my last letter. Why did you enclose the stamps? I am awfully angry with you. I do wish I could punish you for that. I called you naughty boy because I do not like that other world [sic!]. Please tell me what is the real meaning of that word? Are you not happy in your home you poor little naughty boy? I do wish I could do something for you. Please tell me what you think of poor me. I often think of the beautiful name you have. Dear Henry, when will we meet? I think of you so often you have no idea. I have never felt myself so much drawn to a man as you. I feel so bad about [sic!]. Please write me a long letter and tell me more. Remember if you do not I will punish you. So now you know what I will do to you, you naughty boy, if you do not write. O how I long to meet you. Henry dear, do not deny my request before my patience are exhausted. Then I will tell you all. Goodbye now, naughty darling, I have such a bad headache. today. and write by return to your longing Martha P.S. Do tell me what kind of perfume does your wife use. I want to know.” Ulysses 5,241–59. Zum Thema der Gleichzeitigkeit und räumlich-zeitlichen Verbindung in der Literatur der Moderne, aber auch bei Joyce speziell, der diese Methode über den gesamten Ulysses hin immer wieder anwendet, vgl. Frank 1991. Ulysses 11,703.
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will do to you” anschloss. Bloom unterschreibt sodann mit “In haste. Henry”, wobei er sich selbst daran erinnert, “Greek ees” zu schreiben: ein Verstellen der Handschrift gehört mit zu seiner Verstellung als Autor, zudem galten Handschriften mit “Greek ees” in jenen Tagen als Ausdruck einer künstlerischen Ader49, die Bloom so Henry Flower angedeihen lässt. Anschließend entscheidet sich Bloom, ein Postskriptum anzufügen. Im Vollzug dieses Vorgangs, überlegt er, welche Musik im Hintergrund gespielt wird: “What is she playing know? Improvising intermezzo.” Es folgt das angedachte “P. S.”, das jedoch beginnt, indem er die Hintergrundmusik innerlich vor sich hinsummt: “The rum tum tum.” Erst dann fragt er im Postskriptum Martha Clifford, wie sie ihn zu strafen gedenke, wobei hier ein Wortspiel untergebracht wird – und zwar im doppelten Sinn: “How will you pun? You punish me?” Das Wort “to pun” bedeutet „mit Sprache/Wörtern spielen“. Bloom schreibt aber wohl lediglich “How will you punish me?”, bedenkt also die Drohung Marthas, die nicht mehr als ein Sprachspiel sein kann, handelt es sich doch ausschließlich um eine Briefliebschaft. “Crooked skirt, whack by” ist sodann wieder ein Gedanke Blooms, der ihn an den Beginn seines Tages zurückführt: Beim Metzger stehend, hatte Bloom ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft beobachtet und sich vorgestellt, wie sie mit ihren kräftigen Armen einen Teppich klopfen würde: “Strong pair of arms. Whacking a carpet on the clothesline. She does whack it, by George. The way her crooked skirt swings at each whack.”50 Das Bild, das Bloom erotisch findet, taucht wenig später erneut auf. Hier wird das Motiv des Schlages onomatopoetisch stilisiert, wenn Bloom sich den Schlag wieder und wieder vor Augen führt: “The crooked skirt swinging, whack by whack by whack.”51 Dass diese Sequenz nun auch im Prozess der Verfertigung des Briefes an Martha Clifford auftaucht, kann im Bezug auf das Schlagen und die vorangegangene Frage nach der Bestrafung verstanden werden – als erotische Phantasie Blooms. Hierfür spricht zudem der dann folgende Satz, den Bloom schreibt: “Tell me I want to. Know.” Dadurch, wie die – dann _____________ 49
50 51
Vgl. Gifford 1982: 304. Interessant ist, dass Joyce „seiner“ Martha – Martha Fleischmann, mit der er in Zürich eine kurze Affäre hatte und die gemeinhin auch als Vorlage für Martha Clifford im Ulysses gilt – in Briefen ebenfalls mit „Greek ees“ schrieb (Text: Ellmann/Gilbert 1966: I, 426–36, Faksimile: ibid. Abb. 51–53). Ferner soll darauf verwiesen sein, dass Joyce dieses Motiv auch in Finnegans Wake wieder aufnimmt und zwar in einem Kontext, der verdeutlicht, dass auch die „Greek ees“ als Zeichen für das Motiv des „Hellenisierens“ gefasst werden können: „those supercilliouslooking crisscrossed Greek ees“ (Finnegans Wake 120.18–19): „out of date sick owl hawked back to Athens: And the geegees too.“ Ulysses 4,150–151. Ulysses 4,164.
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wahrscheinlich geschriebene – Aussage „Sage es mir, ich möchte es wissen“ gesetzt wird, impliziert sie zugleich die erotisch-masochistische Aussage: „Sage es mir, ich will es“, dem dann ein „Wissen“ im darauf folgenden Satz hinzugefügt wird. Bloom selbst weist darauf hin, dass die hier notierte Interpunktion – die dem Satz zu einer doppelten Aussage verhilft – nicht geschrieben wird, wenn er lapidar zu seinem Geschrieben anmerkt: “O. Course if I didn’t I wouldn’t ask.” Es folgt eine weitere Passage, die die Hintergrundgeräusche einbezieht und eine Überlegung Blooms über den Zusammenhang zwischen Emotionen und Tongeschlecht anschließt: “La la la ree. Trails off there sad in minor. Why minor sad?” Nun muss das Postskriptum noch unterschrieben werden (“Sign.”), was Bloom mit einem „H.“ wie Henry tut, sich dann allerdings besinnt, dass Frauen ein sentimentales Ende mögen: “They like sad tail at end”. Das “La la la ree”, das zuvor seine Überlegungen über traurige Moll-Klänge eingeleitet hatte, wird nochmals zitiert, und es folgt die Aussage “I feel so sad today. So lonely”, die erneut von den Klängen der traurigen Musik unterbrochen wird. Nach der Beendigung des Briefes kleckst er noch auf den Block, den der Kellner Pad ihm gebracht hatte, wobei onomatopoetisch das StakkatoMotiv des humpelnden tauben Kellners Pat im auktorialen Erzählen wieder aufgenommen wird: “He blotted quick on pad of Pat”.52 Nun muss er noch die Adresse auf einen Umschlag schreiben (“Envel. Address.”) und gibt vor, einfach eine Adresse aus der vor ihm liegenden Zeitung abzuschreiben, hatte er doch zuvor angegeben, eine Anzeige zu beantworten. “Just copy out of paper.” Sodann murmelt er für die Umsitzenden “Messrs Callan, Coleman and Co, limited.” Während der auktoriale Erzähler, der hier – wie bereits zuvor – durch das Präteritum/simple past kenntlich gemacht wird, beschreibt, was Bloom indes wirklich geschrieben hat. “But Henry wrote”: die Adresse Martha Cliffords. Und so schreibt Bloom einen Brief, dessen Komposition in Form des (gemäßigten) Bewusstseinsstroms zum Zeitpunkt des Erscheinens des Ulysses als nahezu unentzifferbare und für die Moderne wegweisende Schreibform gesehen werden musste. Im Anschluss an die Analyse kann der geschriebene Text dann wie folgt zusammengeführt werden: it will excite me. In haste. Henry P.S. How will you punish me? Tell me I want to know. H. P.P.S. I feel so sad today. So lonely. Miss Martha Clifford
_____________ 52
Nur am Rande sei angemerkt, dass „having blotted on one’s copybook“ der idiomatische Ausdruck „Dreck am Stecken haben“ ist: Bloom kann versuchen, unschuldig eine Anzeige zu beantworten. Die Beschreibung seiner Handlungen durch den auktorialen Erzähler verraten ihn dennoch.
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c/o P.O. Dolphin's barn lane Dublin. (Ulysses 11,888–900)
Will man eine Parallele zur Odyssee ziehen, so ist es denkbar, Bloom als Odysseus zu fassen, der, gleichsam gebunden an einen Mast im Zentrum, das Geschehen bündelt, sich an die Situation fesselnd, in der er sich seiner als Beobachter und Betrüger sicher zu sein wünscht. Er allein hat – wie weiland Odysseus – als Einziger den Überblick über die Geschehnisse. Zugleich muss sich Bloom bemühen, so wie Odysseus die Sirenen, die Musik und die ihn umgebenden Vorgänge auf Abstand zu halten, die immer wieder seine Gedanken durchkreuzen und zu verwirren suchen – dies gilt nicht minder für den Leser. Die Laute der Umgebung müssen zum Konzert und Gegenstand der Kontemplation zusammengefügt werden, um Bloom nicht „vom Kurs“ abzubringen. Denkbar wäre es auch, den Joyceschen Odysseus (in tragischkomischer Variante) als Abbild des „Urbilds des bürgerlichen Individuums“53 zu lesen, so wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer dies in der Dialektik der Aufklärung für den Homerischen Odysseus im Ausgang der Sirenen-Episode vorschlagen. Hiermit wäre angesprochen, was Fritz Senn in der eingangs zitierten E-Mail als sich gegenseitig bedingende Lektüre beschrieben hatte, die zu einer „rauer[en] und widerspenstiger[en]“ Lektüre der Odyssee führt. Bloom wäre dann als Individuum zu begreifen, dem ein Überleben der Situation (und in toto betrachtet: des Tages) nur gelingt um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten […] Er windet sich durch, das ist sein Überleben […], indem der Drang zum ganzen, ungeteilten Glück sich demütigt.54
Es bleibt noch die Frage, wer die Sirene(n) sind. Da die Charaktere des Ulysses keine Namen tragen, die direkt mit denen der Odyssee parallel geführt oder assoziiert werden können, ist auch hier eine Zuordnung nicht einfach. Die zwei geläufigen Annäherungen an eine derartige Zuordnung basieren auf den Episodentiteln oder charakteristischen Handlungen. Die eine geht davon aus, dass in den jeweiligen Episoden der benannte Charakter auftaucht. Die andere konstruiert episodenübergreifend eine Verknüpfung zwischen mythischem Vorbild und modernem Äquivalent. Hinsichtlich dieser Frage in der Sirens-Episode schreibt Arno Esch: _____________ 53 54
Adorno/Horkheimer 1981: 58. Adorno/Horkheimer 1981: 73 f.
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Selbstverständlich wird man unter den Sirenen zunächst die beiden trällernden und flirtenden Kellnerinnen Miss Douce und Miss Kennedy verstehen. Eine Sirene ist aber auch Martha Clifford […].55
Ihm wäre mit Stuart Gilbert beizupflichten, der der Episode Sirens in seinem Schema als Symbol „Barmaids“ – also Barjungfrauen, wenn man so mag – beiordnet und den Tresen als Felsen der Sirenen deutet. Und auch in der Odyssee selbst sind es zwei Sirenen, deren Gesang Odysseus lauscht – und sie sind weiblich.56 Martha Clifford als eine Sirene zu deuten ist möglich, da der Kontakt mit ihr für Bloom die Möglichkeit birgt, seine Frau Molly zu betrügen.57 Doch bleibt dies eine Möglichkeit –streng genommen nicht einmal für Bloom, sondern nur für Henry Flower. Stanley Sultan hingegen deutet die von Father Cowley, Simon Dedalus und Ben Dollard gesungenen Lieder als Sirenengesang, da sie alle (Priester, Witwer und Junggeselle) „frauenlose“ Männer seien, deren Lebenswandel Bloom verlockend erscheint, um seinen häuslichen Nöten zu entfliehen. Diese Interpretation legt also eine Spiegelung der Odyssee in der Sirenen-Episode nahe, wobei der Vergleich der Sirene mit einem Sänger aufgegriffen wird, ein Moment, das sich sowohl in der Odyssee als auch in anderen Beschreibungen der Sirenen findet.58 Their siren song is simply the example they embody of aging camaraderie, without the impingement of wife, family, or home, the example of a kind of life that is an easily achieved escape from his [Bloom] predicament.59
Dies sind nur zwei von vielen denkbaren Deutungsansätzen für die Frage nach den Sirenen in dieser Episode. Eine weitere wäre es, Henry Flower als Sirene zu fassen, wenn man ihn freudianisch als ES sieht, dem das ICH Blooms entgegensteht und zu dem es sich auf Distanz halten muss, was Bloom Konzentration abfordert und seine Listigkeit (polytropia) zeigt. Interessant ist jedoch, dass keine Interpretation die Momente von Zahl und Charakterisierung vereint, weil die Grundlage dafür im Text selbst nicht gefunden werden kann. Eine eindeutige Zuordnung der Sirenen schlägt also fehl. Ähnlich verhält es sich, wenn man sich um eine Parallelisierung des weiteren Personals im Ulysses bemüht. Zwar sind einige Parallelen einfach zu ziehen – so ist in der Zyklopen-Episode der Zyklop „the citizen“ (der Bürger): ein chauvinistischer, nationalistischer, rassistischer Kneipengast. Und in der Nestor-Episode es ist wohl der Schulleiter und Dienstherr Stephens, Mr. Deasy, der immer wieder mit der Figur des Nestor identifiziert _____________ 55 56 57 58 59
Esch 1977: 221. Homer: Odyssee XII,52. Zur (Omni)Präsenz Molly Blooms in der Sirens-Episode vgl. Knowles 1986: 447–463. Homer: Odyssee XII,183–196, ferner: Alkman, fr. 30 PMGF. Sultan 1964: 229. Vgl. auch im Fortgang der Studie: 326 ff.
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wurde und in seinem Zimmer mit Bildern von Rennpferden an den Wänden an die Homer-Parallele des „Rossebändigers Nestor“60 erinnert. Dabei aber mag Deasy auch im Pope’schen Sinn als Parodie Nestors gelten, in der Art der Gattung des „mock heroic“, das Pope als „The Art of Sinking in Poetry“ beschrieb.61 In anderen Fällen gelingt überhaupt keine Zuordnung: Weder lässt sich einwandfrei von einer einzelnen, aus dem mythopoetischen Prozess heraus konfigurierbaren Calypso sprechen62, noch stellt sich das Bild von Leopold Bloom als Odysseus und Stephen Dedalus als Telemach ad hoc ein. So liegt es zum Beispiel nahe, zu Beginn des Ulysses Molly Bloom als Calypso zu sehen, wenn Leopold Bloom sie im Bett sieht (von Bettwäsche verdeckt: kalyptein), besonders, weil über dem Bett die Gratisbeilage der Osterausgabe der Zeitschrift Photo Bits, das „Bad der Nymphe“, hängt. Bloom denkt: “Splendid masterpiece in art colours. […] Not unlike her with her hair down: slimmer.” Doch wird Molly Bloom weitaus deutlicher noch der Figur der Penelope zugeordnet – zumindest ist der Schlussmonolog, den sie spricht, im Rosenbach-Manuskript so benannt, auch wenn sie davon absieht, Freier zu täuschen. Bei Homer will Calypso Odysseus nicht ziehen lassen, sondern ist hierzu erst bereit, als Hermes ihr den Befehl Zeus’ übermittelt; bis dahin leugnet sie, dass Odysseus bei ihr ist. Sie hat ihn versteckt, hält ihn verborgen: kalyptein. Molly hingegen ist durchaus darauf bedacht, dass Leopold Bloom das Haus verlässt, nachdem er ihr (nicht ungleich Hermes und mit dem gleichen Spiel der Vortäuschung von Un-Wissen63) den Brief Blazes Boylans überbracht hat. Aus der Perspektive Blooms ist sie mal Calypso, die ihn verführen will und deren Esprit ihn fasziniert, mal Penelope, die Ehefrau. Über den Handlungsverlauf hinweg kann jedoch auch Gerty Mac Dowel eine Calypso sein. Bloom beobachtet sie in der Nausicaa-Episode und onaniert – wobei er über „Metempsychose“ nachdenkt und so einen Bezug zur Calypso-Episode herstellt: “Metempsychosis. They believed you could be changed into a tree from grief. Weeping willow.”64 Ein Verweis _____________ 60 61 62 63
64
Homer: Odyssee III,68. Pope 1986: 171–276. Vgl. u. a. Kenner 1982: 48. Hermes wird im 5. Gesang der Odyssee – gegen seinen Willen – von Zeus ausgesandt, um Calypso den Befehl zu überbringen, Odysseus ziehen zu lassen. Bei seiner Ankunft auf Ogygia gibt sich Calypso unwissend darüber, warum Hermes zu ihr gekommen ist. Hermes – der nur mittelbar handelt – geht auf die vorgespielte Unwissenheit Calypsos ein, wenn er das Wissen des Zeus um Odysseus Anwesenheit auf Ogygia und den damit verbundenen Befehl der Freilassung Odysseus’ in indirekter Rede wiedergibt. Calypso reflektiert ihrerseits diesen „indirekten Befehl“, indem sie Odysseus gegenüber vorgibt, ihn aus freien Stücken ziehen zu lassen. Ulysses 13,1118–9. Bloom verwechselt hier Metamorphose und Metempsychose.
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auf dieses Zitat taucht erneut in der Circe-Episode auf, wo Bloom sich endlich von der Nymphe lossagt und so seine Männlichkeit zurückerhält. Ferner denkbar ist es, Martha Clifford, Blooms Briefliebschaft, als Calypso zu deuten: Sie versucht, ganz ähnlich dem Homer’schen Vorbild, Bloom an sich zu binden. Der jedoch inszeniert seine Grundstimmung während des Verfassens des Antwortbriefs als „traurig“ – “They like sad tail at end. P.P.S. La la la ree. I feel so sad today.“ –, inszeniert sich hier also ähnlich dem archaischen Odysseus, der lethargisch am Gestade von Ogygia saß. Zwar legt der Titel des Romans nahe, einen Odysseus zu suchen, und mit dem durch Dublin ziehenden Bloom, der seinen Sohn verloren hat und dessen Frau einen Freier empfängt, drängt sich die Rolle auf – doch ist es ein atypischer Odysseus, ein „Opfer“, um erneut mit Adorno und Horkheimer zu sprechen.65 Bloom ist ein äußerlich nicht gerade zum Helden geschaffener, impotenter Anzeigenakquisiteur, der seine Odyssee durch Dublin unternimmt, um nicht zu früh nach Hause zu kommen, weil ihn dort seine Frau Molly mit Blazes Boylan betrügt. Da Bloom von dem Betrug seiner Frau weiß, ist seine Odyssee frei gewählt und vor allem gezielt ausgeführt –es ist daher keine Odyssee im eigentlichen Sinn. Noch nicht einmal die Heimkehr erfüllt die in der Odyssee immer wieder angeführten Topoi der Vereinigung mit Frau und Kind.66 Blooms Sohn Rudy ist als Kind gestorben, und die Vereinigung geschieht lediglich in einer psychedelisch anmutenden Traumsequenz in der Circe-Episode. Den Freier Blazes Boylan verweist Bloom nicht des Hauses, vielmehr verhindert er seine eigene Heimkehr und belauert Boylan – auch hier eine indirekte Auseinandersetzung mit der Vorlage, die der Konstruktion des Antihelden folgt. Und so steht im Zentrum der Telemachiad auch kein als solcher benannter Telemach, sondern der Student Stephen Dedalus, Protagonist aus Joyces Roman A Portrait of the Artist as a Young Man (1914,15/1916). Zwar wird Stephen regelmäßig durch Buck Mulligans, einen schlechteren Antinoos, seines Besitzes entledigt, der im Martello Tower mit ihm zusammen wohnt (was dem „hohen Gemache“67 Telemachs entsprechen könnte, wenn auch keine Spur von Ruhe, Pracht oder einem weichen Lager zu finden ist). Doch erfährt Telemachos in Stephen seine bizarre Spiegelung: Wir finden hier die Zweifel des Telemachos als Hoffnungen gespiegelt: Dem Telemachos der Odyssee gelingt es nicht, die Freier vom Hof zu ja_____________ 65 66
67
Adorno/Horkheimer 1981: 70. Od. IX,41–43, das Motiv kehrt im Epos selbst immer wieder, besonders bei Odysseus’ Heimkehr (XII ff.). Ferner scheint die Rückeroberung der Heimat ein zentrales Moment des Topos „Irrfahrt“ auszumachen: Od. XIII,373 ff. Od. I,425.
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gen, weshalb er an sich selber zweifelt.68 Er hat seinen Vater nie kennengelernt und kann sich schlichtweg nicht vorstellen, dass er ein Abbild seiner ist und durchaus in der Lage, einst König von Ithaka zu sein. Indes erführe Stephen zu gerne, dass er nicht Sohn seines Vaters ist, dass er ihm nicht ähnelt und dass ihm eine andere Zukunft vorbestimmt ist. Doch während Homers Telemachos sich durch das Kennenlernen seines Vaters aus den Geschichten anderer seiner (subjectivus und objectivus) bewußt werden muß, eine charakterliche Haltung ausgebildet werden soll, geht es bei James Joyces Stephen um die reine Emanzipation seiner selbst vor dem negativen Abbild von Simon „Si“ Dedalus, als dessen „son and heir“, „clad in mourning“ er wahrgenommen wird.69 —There's a friend of yours gone by, Dedalus, he said. —Who is that? —Your son and heir. —Where is he? Mr Dedalus said, stretching over across. The carriage, passing the open drains and mounds of rippedup roadway before the tenement houses, lurched round the corner and, swerving back to the tramtrack, rolled on noisily with chattering wheels. Mr Dedalus fell back, saying: —Was that Mulligan cad with him? His fidus Achates! —No, Mr Bloom said. He was alone. —Down with his aunt Sally, I suppose, Mr Dedalus said, the Goulding faction, the drunken little costdrawer and Crissie, papa's little lump of dung, the wise child that knows her own father.
Um seinen Vater und dessen Verbleib weiß er nur zu gut Bescheid: Si Dedalus ist kein entferntes Ideal und keine positive Projektion eines Retters. Er ist ein stadtbekannter Trinker, lebt auf Pump und vereinigt alle Aspekte eines Tagediebs in seiner Person. In seinem Schatten lebt Stephen, nicht im Schatten eines nie gekannten Vaters. Und ihm nachzufolgen ist seine große Angst – davon ausgehend, es sei ihm als Blutsverwandtem gar in die Wiege gelegt.70 Und in der Tat lernen wir Stephen Dedalus im Verlauf des Romans als jemanden kennen, der dem Bild, das er von seinem Vater hat, sehr ähnelt: _____________ 68
69 70
Immerhin ist er der Sohn des sagenumwobenen Odysseus! Diese Zweifel sind dabei nicht zwingend Zweifel, die er an der Vaterschaft des Odysseus hegt (So vermutete Wilamowitz 1927: 126) sondern vielmehr ob seiner selbst; vgl. das Gespräch mit Athene in Gestalt des Mentes in Od. I,211ff. Ulysses 6,108. Angefangen mit Stephens Thesen zu Hamlet bis hin zu seinen Reflexionen über Konsubstantiation und Gedanken zu Häretikern, in deren Werk er im Moment der Bestreitung der anfangslosen Gleichewigkeit von Vater und Sohn ein Entrinnen aus seinem Schicksal sieht: “Wombed in sin darkness I was too, made not begotten. By them, the man with my voice and my eyes and a ghostwoman with ashes on her breath. They clasped and sundered, did the coupler's will. From before the ages He willed me and now may not will me away or ever. A lex eterna stays about Him. Is that then the divine substance wherein Father and Son are consubstantial? Where is poor dear Arius to try conclusions?” Ulysses 3,45–51.
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A medical student, an oarsman, a tenor, an amateur actor, a shouting politician, a small landlord, a small investor, a drinker, a good fellow, a story-teller, somebody's secretary, something in a distillery, a tax-gatherer, a bankrupt and at present a praiser of his own past. 71
Seine Zukunftsperspektive ist somit nicht die eines Fürsten, sie erschöpft sich darin, einen von seinem Vorgesetzten (einem Nestor, dem er intellektuell überlegen ist) geschriebenen Leserbrief in einer Zeitung zu positionieren und seine Mitbewohner Mulligan und Haines zum Mittagessen zu treffen. Seine Zukunft stellt er sich als „zahnloser Übermensch“ vor: Yes, evening will find itself in me, without me. All days make their end. […] My teeth are very bad. Why, I wonder. Feel. That one is going too. Shells. Ought I go to a dentist, I wonder, with that money? That one. This. Toothless Kinch, the superman. 72
Seine Reise ist die vom Strand in Sandymount durch Dublin. Der Versuch, die Heimat zu verlassen, ist bereits zuvor gescheitert: aus Paris mußte er überstürzt ans Sterbebett seiner Mutter zurückkehren, die ihn nun in Träumen des Tags und der Nacht heimsucht. Eine Vaterfigur – und zwar im Sinne des Mentors/Mentes in der in der Odyssee vorgegebenen Form – findet Stephen am ehesten in Gestalt des Anzeigenquisiteurs Bloom, mit dem er schließlich durch Dublin streift.73 Einen anderen, gar göttlichen Mentor gibt es nicht: Stephen hat sich von allen ihm bekannten Göttern abgekehrt. Doch gibt es im Ulysses immer wieder Szenen, Aussprüche und Handlungen, die über das ironisierte Bild zweier Suchender und im selben Zuge Flüchtender hinausweisen. Bloom versucht unerkannt zu bleiben und seinem Gegenspieler Boylan zu folgen. Er trinkt nicht, gibt nie Getränke aus und verhält sich auf seinem Streifzug durch Dublin auffällig unauffällig – was er für taktisch nützlich hält. Hugh Kenner und auch Christopher Butler verweisen darauf, dass dieses „Sich-Unsichtbar-Machen“ Blooms, das sich auch in der Nicht-Zugehörigkeit resp. All-Zugehörigkeit zeigt, als deutliche Übertragung des outis-Moments des Odysseus in der Odyssee gedeutet werden kann.74 Ein Bruch dieser Unerkanntheit tritt in der 12. Episode des Ulysses, Cyclops, ein. Während in der Odyssee der Zyklop im 9. Gesang von Odysseus überlistet wird, indem dieser auf die Frage des Zyklopen nach seinem Namen outis, also Niemand, antwortet, führt die Zyk_____________ 71
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Joyce 1963: 242. Diese zusammenhängende Beschreibung von Simon Dedalus aus Stephens Perspektive findet sich in Portrait of the Artist as a Young Man. Simon Dedalus hat seinen Sohn mit nach Cork genommen, um dort Besitz der Familie zu veräußern und den Gros des so erwirtschafteten Geldes, das dazu dienen sollte, die Familie über die Runden zu bringen, sogleich in der Bar vertrunken. Ulysses, 3,492ff. Zum Vater-Sohn-Verhältnis von Bloom und Stephen vgl. z. B. Gilbert 1955: 65–71. Kenner: Ulysses Kap. 8, Butler 2004: 78.
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lopen-Episode erst dazu, dass Bloom seine Identität bekennen muss. Sein Vater hatte seinen ursprünglichen Namen Virag75 zu Bloom geändert; Bloom selbst hatte sich im vorigen Kapitel als Henry Flower (Blume, Übersetzung des ungarischen Wortes virag) ausgegeben. Provoziert durch die nationalistischen und rassistischen Standpunkte des „Bürgers“ – der hier als einäugiger Zyklop auftritt –, wird der Katholik, Protestant und Jude Bloom dazu gebracht, Stellung zu beziehen und so sein Dasein als „Niemand“ aufzugeben. Weitere Anknüpfungspunkte sind zum Beispiel das bereits näher beschriebene Spiel Blooms mit der Identität „Henry Flower“: Wenn dieser als Flower einen Brief schreibt, verstellt er sich so sehr, dass an dieser Stelle das Moment der Charakterisierung des Homer’schen Odysseus als polytropos festzumachen wäre. Und schließlich suggerieren vielleicht auch so scheinbar banale Momente Parallelen wie der Urinstrahl Blooms in der Ithaka-Episode, der im Joyce-Katechismus des Ulysses mit dem des Pseudo-Telemach Stephen verglichen wird. So konnte Bloom als Schüler im höchsten Bogen urinieren und gewann den Vergleich gegen 210 Schüler, anstatt wie Odysseus mit seinem Bogen 100 zu besiegen. Similarly? The trajectories of their, first sequent, then simultaneous, urinations were dissimilar: Bloom's longer, less irruent, in the incomplete form of the bifurcated penultimate alphabetical letter who in his ultimate year at High School (1880) had been capable of attaining the point of greatest altitude against the whole concurrent strength of the institution, 210 scholars: Stephen's higher, more sibilant, who in the ultimate hours of the previous day had augmented by diuretic consumption an insistent vesical pressure.76
So stehen denn auch hier die Brechung der in der Odyssee aufgefundenen Topoi und Strukturen dem Aufgreifen und schlichten Aktualisieren derselben gegenüber, und Travestie und Persiflage77 treten in ein wechselseitiges Verhältnis. Sie zu erkennen, zu unterscheiden und so mithin den Charakteren ihre mythischen Parallelcharaktere an die Seite zu stellen, ist dann – mit Ricœur gesprochen78 – der konfiguratorischen Leistung des Lesers überlassen.
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Vgl. Ulysses 12,1639 ferner 15,1855ff., wo Blooms Stammbaum – zu großen Teilen fiktiv – in Anlehnung an Matth 1,23 und Jes 7,14 aufgeführt wird. Vgl. hierzu auch: Gifford 1982: 482f., ferner Stanzel 1995: 620ff. und Robinson 2000: 159ff. Ulysses 17,1195. Vgl. Genette 1982. Ricœur 1988: 122.
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3. Die Implikationen der Transposition. Augenscheinlich wurde bislang immer wieder ein Aspekt, der bei der Interpretation des Ulysses als mythopoetisches Werk auftaucht und auch vor der Folie der Odyssee nicht lösbar erscheint, ja eher noch an Gewicht gewinnt: die Ambivalenz. Scheint es zunächst die Differenz der Lesarten zu sein, die ein Changieren mit sich bringt, so liegt der Grund dafür doch im Changieren zwischen Moderne und Antike und dem sich jeweils wandelnden Umgang mit der Antike als zugrunde liegendem Reservoir, aus dem sich der Text speist. Hieraus resultiert, wie bisher gezeigt wurde, ein Diskurs, in den archaischer Grundstock und moderne Transformation eintreten: die Transposition sub specie temporis nostri in die Moderne auf Grundlage des ground plan Odyssee. Aufschlussreich ist nun die bereits angedeutete Feststellung, dass Joyce sein Mythopoem selbst bereits auf Mythopoemata stützt – also nicht nur eine Literatur zweiten Grades (mit Genette gesprochen), sondern des infinitesimalen Grades schafft – und eben auf diese Weise das Mythopoem zum Moment des Diskurses erhebt, in dem sich literarische ebenso wie soziokulturelle Entwicklungen niederschreiben. Denn die intertextuelle Auseinandersetzung Joyces findet nicht nur im Verhältnis zu einem einzelnen Text statt, sondern Bezüge werden in vielfacher Weise geknüpft. Eben hierfür ist der Mŷthos wegweisend als Medium, das als ursprüngliche Form des Erzählens und zugleich der Erzählung gefasst werden muss. Manfred Pfister setzt sich in seinem Aufsatz „Merry Greeks“ mit der Verortung von Shakespeares Troja-Drama Troilus und Cressida zwischen mythischer Tradition und dem an ihn gestellten Anspruch der Originalität und Innovation auseinander. Über den Begriff der Variation eines Mŷthos schreibt er dort: [Der Mŷthos] existiert nicht in einem authentischen Original, sondern immer in einem unabschließbaren Spiel von Versionen, Varianten, Neukombinationen, Überschreibungen, Übersetzungen, Fortsetzungen, Versetzungen in andere Gattungen und Medien, von Exegesen, Kommentaren, Interpretationen [...] Soweit man zurückgehen mag, man erreicht nie die Quelle, nie den Ursprung, sondern immer nur vielfältig vermittelte Repräsentationen eines solchen.79
Inwiefern diese Annahme auch für den Ulysses zutrifft, wird nicht nur deutlich, wenn man die zuvor rekapitulierte Genese des Ulysses betrachtet. Sondern auch wenn man neben der Odyssee auch Texte wie z. B. Charles Lambs The Story of Ulysses als Variation der Odyssee vergegenwärtigt, die Joyce wiederum als Folie und Grundlage seines Textes heranzieht – und die selbst bereits in der Tradition des Mythopoems zu verorten ist. Lamb _____________ 79
Pfister 2005: 130.
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greift nicht nur die Homer’sche Odyssee auf, er verweist zudem mit personenzentriertem Titel und Intention der Darstellung auf Fénélons Les Aventure de Télémaque, Fils de Ulysse, was bereits im Vorwort deutlich wird: This work is designed as a supplement to the Adventures of Telemachus. It treats of the conduct and sufferings of Ulysses, the father of Telemachus. The picture which it exhibits is that of a brave man struggling with adversity; by a wise use of events, and with an inimitable presence of mind under difficulties, forcing out a way for himself through the severest trials to which human life can be exposed; with enemies natural and preternatural surrounding him on all sides.80
Lamb fährt fort mit zwei Formulierungen, die zudem das Zusammenspiel von Transposition und Grundriss verdeutlichen: The ground-work of the story is as old as the Odyssey, but the moral and the colouring are comparatively modern. […] By avoiding the prolixity which marks the speeches and the descriptions in Homer, I have gained a rapidity to the narration, which I hope will make it more attractive, and give it more the air of a romance to young readers; though I am sensible that by the curtailment I have sacrificed in many places the manners to the passion, the subordinate characteristics to the essential interest of the story.81
Bereits Andrew Michael Ramsay bemerkt in dem Fénélons Lehrgedicht vorangestellten Discours de la Poësie épique, & de l’excellence de Poëme de Télémaque, wenn auch vordergründig unter poetologischen Gesichtspunkten: L’action de Télémaque unit ce qu’il y a de grand dans l’un & dans l’autre de ces deux (l’Odyssée et l’Enéïde ; J. S.) Poëme. Die Handlung des Telemach vereinigt das, was in dem anderen und in dem einen der zwyen Gedichte (der Odyssee und der Aeneis; J. S.) groß ist.82
Bereits zu Beginn des Romans wird deutlich, inwiefern sich bei Joyce eine Lesart des mythischen Stoffs und seiner Variationen sub specie temporis nostri zeitigt, in der sich der damalige Diskurs über Mŷthoi und Archaik spiegelt und sich auch die Selbstverortung des Romans im damaligen Diskurs abbildet. Hier appelliert, einem Motto gleich, Buck Mulligan an Stephan Dedalus: “God, Kinch, if you and I could only work together we might do something for the island. Hellenise it.“83 Dies kann zunächst als Moment der postkolonialen Bewegung im Irland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gelesen werden.84 Es kann allerdings auch als direkte Anspielung auf die damals noch aktuelle Debatte rund um Momente des „Hellenisierens“ verstanden werden, die Matthew _____________ 80 81 82 83 84
Lamb 1892: Introduction. Ibid. Ramsay 1771: 4. Ulysses 1, 158. Vgl hierzu die Sammelbände von Brewster/Scott et al. 1999 und Carroll/King 2003.
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Arnolds in den Jahren 1867/68 entstandene und 1869 erschienene Studie Culture and Anarchy auslöste. Arnold stellt in Culture and Anarchy das Hellenistische dem Hebräischen gegenüber. Arnold verstand unter „Hebräisieren“ ein Handeln im Rahmen der Vorgaben und Gepflogenheiten einer dogmatischen Wahrheit(ssuche), was für ihn gleichsam die gesamte Viktorianische Kultur und Gedankenwelt umfasste. „Hellenisieren“ dagegen bezeichnet Wissen im Lichte des (abgeschwächten) Humanismus. Diesen Dualismus verfolgt Joyce durch den gesamten Ulysses hindurch und überträgt ihn auf seine Protagonisten: Bereits 1920 weist er Carlo Linati darauf hin, indem er den Roman als „an epic of two races (Israelite–Irish)“ beschreibt. Dem Juden Bloom wird der – am Vorbild Joyce orientierte – Katholik Stephen Dedalus (!) an die Seite gestellt. Der gerät in Konflikt mit den Dogmen der Kirche, was vor allem Gegenstand von A Portrait of the Artist as a Young Man ist, jedoch auch immer wieder Anklänge im Ulysses findet. Kritik am Viktorianischen Zeitalter ist im Ulysses allgegenwärtig – ebenso wie Anspielungen auf Matthew Arnold selbst. Dieser taucht nicht nur im Ulysses auf85. Auch seine theoretische Annäherung an Übersetzungen der Odyssee und die damit verbundene formale Kritik am Viktorianismus spiegelt sich hier subtil wider: Im Jahr 1861 erscheint Matthew Arnolds Essay On Translating Homer, der sich der Frage der Übersetzung Homers im Viktorianischen Zeitalter widmet. Arnold legt hier eine Analyse vor, welche die Direktheit und Klarheit des Originals herausstreicht und die sprachlichen Finessen des Griechischen betont, die es unter anderem ermöglichten, die Dynamik der Handlung direkt in Sprache zu übertragen. Hinsichtlich der Frage, wie diese Aspekte bei einer Übertragung in die englische Sprache am treffendsten herausgestellt werden könnten, plädiert Arnold für den (englischen) Hexameter als Metrum. Hiermit rückt er zum einen die eigenen Gedichte in ein anderes Licht und kritisiert zum anderen die Dichtung Alfred Lord Tennysons, der 1850 William Wordsworth als Poet Laureate nachfolgte und der den Blankvers als Metrum nutzte – unter anderem auch in seinem Ulysses, einer epischen Dichtung. Gegen Arnolds Homerübertragung konterte Tennyson 1863 mit On Translations of Homer. Pentameters and Hexameters, einem Gedicht, das zunächst in der Zeitschrift „Cornhill“ erschien: These lame hexameters the strong-winged music of Homer! No – but a most burlesque barbarous experiment. When was a harsher sound ever heard, ye Muses, in England? When did a frog coarser croak upon our Helicon? Hexameters no worse than daring Germany gave us, Barbarous experiment, barbarous hexameters! 86
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Ulysses 1, 173. Tennyson 1969: “On Translations of Homer. Hexameters and Pentameters.”.
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In Tennyssons Augen war der Hexameter explizit als antikes Metrum festgeschrieben, dem er an anderer Stelle ein Denkmal setzte: I salute thee, Mantovano, I that loved thee since my day began, Wielder of the stateliest measure Ever moulded by the lips of man.87 Als „Beherrscher des herrschaftlichsten Versmaßes“ wird hier der aus Mantua stammende Vergil, Verfasser der Aeneis, gepriesen – und mit ihm der (antike) Hexameter selbst, in dem Vergil dichtete.
Doch ist gerade aufgrund des Verweisens auf den Mythopoeten Tennyson – und sei es im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit Arnold und Tennyson durch Joyce – zugleich das Moment der Anbindung an bisherige Mythopoeme und das Verorten in der Tradition gegeben: Die kontinuierliche Parallele wird sichtbar. Tennyson stellt dem stateliest measure der Antike die barbarous hexameters der Gegenwart entgegen, die Arnold aber als ein Mittel der „Hellenisierung“ vorschlägt. Wie Hugh Kenner bemerkt88, beginnt Joyces Ulysses selbst mit der Nachahmung eines Homerischen Hexameters. James Joyces Ulysses kann also – zumindest in diesen ersten Zeilen – nicht nur inhaltlich als Mythopoem angelegt betrachtet werden, sondern auch formal: Státelý | plúmp Búck | Múllĭgăn || camĕ frŏm thĕ | stáirhéad | béarĭng |
Das erste Wort dieser Nachdichtung ist stately, also jenes Adjektiv, das Tennyson einst dem Hexameter prädikativ an die Seite stellte. Originale, stattliche Hexameter setzen sich nach Tennysons Aussagen klar von den lame, barbarous hexameters ab, in denen Matthew Arnold Homer nachzudichten empfahl und in denen nun Joyce selbst nachdichtet. Hier findet dieses Adjektiv seine Anwendung auf Buck Mulligan89, Mitbewohner Stephen Dedalus’ und Bewohner des Martello-Turms. Der taucht „stattlich und feist“90 auf, um dann nicht nur die Devise des „Hellenisierens“ auszugeben, sondern auch religiöse Handlungen ad absurdum zu führen und seinen Mitbewohner wegen dessen Namen zu necken, weil der eine Anspielung auf den Märtyrer St. Stephen ist. Und während Mulligan “stately _____________ 87 88 89
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Tennyson 1969: “To Virgil”, 37–40. Vgl. Kenner 1982: 34. Hier wird zwar mit dem ersten Satz nicht der „Odysseus“ der Handlung beschrieben, aber ein Charakter des Romans, auf den das Adjektiv politropos zuzutreffen scheint, wie Fritz Senn anmerkt: “Joyce […] keeps the question of who and what he [Buck Mulligan] really is suspended throughout. We first witness mimicry, mummery, and mockery; the first voice we hear is put on, and it continues to change. […] this is in keeping with mercurial Malachi cheerfully contradicting himself while manipulating his various personae.” Senn 1985: 124. Joyce 1979: 4.
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plump“ im Hexameter, deutlich auf Tennyson verweisend91, die Stufen des Turms hinabsteigt, ist es kein Geringerer als jemand namens Arnold, der den Rasen vor dem Haus mäht ... Fragt man jedoch, wie sich diese kontinuierliche Parallele und ihre Implikationen präsentieren, so scheint es sinnvoll herauszufinden, was es für Joyce implizierte, eine antike Handlung in seine jüngste Vergangenheit zu verlegen. Aufschlussreich sind hier seine Gedanken zu Realismus und verklärender Darstellung, mit denen Joyce sich von der Variationsvorgabe Charles Lambs absetzt, der seiner Zielgruppe von jungen Lesern “more the air of a romance“ vermitteln wollte: In realism you are down to facts on which the world is based: that sudden reality which smashes romanticism into a pulp. What makes most people’s lives unhappy is some disappointed romanticism, some unrealizable or misconceived ideal. In fact you may say that idealism is the ruin of man, and if we lived down to fact, as primitive man had to do, we would be better off. That is what we were made for. Nature is quite unromantic. It is we who put romance into her, which is a false attitude, an egotism, absurd like all egotisms. In Ulysses I tried to keep close to fact.92
Die Aussagen des Autors sind primär vielleicht nicht als Beschreibung eines Buchprojekts zu verstehen, sondern zunächst als Skizzierung einer Einstellung zum Leben, vielleicht auch eines Lebensentwurfs, der eine Rückbesinnung auf Tatsachen einfordert, auf denen die Welt gründet: auf die jähe Wirklichkeit, die alle Romantik „zu Brei“ schlägt. Dieser Lebensentwurf ist weit entfernt vom literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts in den Romanen von Iwan Turgenev bis Henry James. Er erinnert vielmehr an den „Primitivismus“ Walt Whitmans und Jack Londons oder an die späten – i. e. nach Anna Karenina – Schriften Lev Tolstojs und zeitigt sich im Hyper-Naturalismus, im Expressionismus oder Futurismus. Das ist jene Darstellungsform, die Georg Lukács als „pseudo-avantgardistisch“ brandmarkt und in der sich für ihn der Verlust des Epischen niederschlägt. Der mache den modernen Roman zu einer „Epopöe der gottverlassenen Welt“, weshalb Lukács ihm in der Theorie des Romans das Stigma der „transzendentalen Obdachlosigkeit“93 anheftet. Diese Autoren und Richtungen beziehen sich in ihren Beschreibungen, so wie Joyce, auf die „jähe Realität“ der „faktischen Natur“, die die Romantik „zu Brei“ schlägt. _____________ 91
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Es ist wohl auch Tennyson, der sich wie kein anderer der Mythopoese und speziell Homer widmet: “The most casual reader of Tennyson’s poems must often be struck by the frequency of his allusions to classical literature and mythology.” Mustard 1900: 143. Power 1974: 98. Lukács 31994: 47. Genauer heißt es dort: „Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat.“
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Allerdings ist hier mit Joyces Romantik nicht die Romantik im Sinn Novalis’, Byrons, Shelleys oder Eichendorffs gemeint. Vielmehr beschreibt Joyce an der besagten Stelle eben jene Ausrichtung, die als Realismus gefasst werden kann: die Literatur von Iwan Turgenev bis Henry James. Joyce begreift sie treffend als „enttäuschte Romantik“, als „wirklichkeitsfremdes“ oder falsch angelegtes „Ideal“. Er unterstellt mithin dem literarischen Realismus, dass sein den Menschen in dessen eigentlichem, ursprünglichem Streben verfehlender und ruinierender Idealismus eine „romanzenartige“ Verklärung der menschlichen Natur herbeiführt, die ihre Enttäuschtheit auch immer gleich mitdenkt und -fühlt. Die gegensätzlichen Pole sind in diesem Fall also nicht literarhistorischer Realismus und literarhistorische Romantik. Vielmehr stehen sich im Joyce’schen Verständnis „wahrer“, Mímesis-fremder Realismus im Sinn des avantgardistischen „Primitivismus“ und „falscher“, Mímesis-freundlicher Realismus gegenüber, wie ihn auch die Viktorianische Literatur impliziert. Es findet hier somit eine begriffliche Verschiebung statt, die sich im Sinn der Verfremdung im Ausgang von Viktor Šklovskij fassen lässt – und die sich auch auf den Ulysses als Werk der Verschiebung und Verfremdung übertragen lässt. Bei Šklovskij steht in diesem Kontext der Topos des Bildes im Zentrum, das jedoch nicht als „konstantes Subjekt bei variablen Prädikaten“ gefasst werden kann, da es seine Ausdeutung und Beschreibung immer wieder neu erfährt: Ziel des Bildes ist nicht die Annäherung seiner Bedeutung an unser Verständnis, sondern die Herstellung einer besonderen Wahrnehmung des Gegenstandes, so daß er „gesehen“ wird, und nicht „wiedererkannt“.94
Diese Verfremdung bewirkt, dass der bekannte Gegenstand aus dem Automatismus der Wahrnehmung herausgehoben und so einer neuen Lesart geöffnet wird. In dieser wird das Bild nicht neu erfunden, sondern im Rückgriff auf das Wissen um seine bisherige Ausdeutung vom Autor „neu“ beschrieben wird. Diese Lesart lässt sich in Joyces Werk immer wieder finden. Und sie ist narratologisch instruktiv, wie sich weisen wird. Denn eben durch die – teils im Sinne der Iser’schen Appellstruktur erkennbaren, teils im Sinne einer negativen Verkehrung des Appells - Anknüpfungen an den Mythos kommt es zu einer Bereicherung des Textes. Sie zeigt sich in der Detailliertheit seiner Beschreibungen oder formal in der Verschriftlichung des Bewusstseinsstroms, genauso in dem dialogischen Verhältnis von Metapher und Metonymie – das zum Beispiel David Lodge als zentral für die Literatur der Moderne bestimmt95 und das im _____________ 94 95
Šklovskij 1969: 24f. Lodge 1976.
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Ulysses, noch mehr jedoch in Finnegans Wake96, eine Eindeutigkeit der Zuordnung von Tropen erschwert, ja, die Herstellung von Sinn gänzlich dem Leser überlässt. Auf der vielleicht transparentesten Ebene ist dies in der Beschreibung von Alltag zu spüren. Dazu zählen für Joyce im Rahmen einer präzisen Darstellung der Stadt Dublin im Jahr 1904 auch die umfassende Darstellung von Stuhlgang, Geschlechtsverkehr oder Details der Körperpflege97 – was für die Zensur des Ulysses kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 1922 maßgeblich war. Diese „Herstellung von Wahrnehmung“ lässt sich in ihrem Prozess mit Roland Barthes im Sinn der écriture fassen: Sprache und Stil sind das natürliche Produkt der Zeit und der biologischen Person. Die formale Identität des Schriftstellers entfaltet sich wirklich erst außerhalb der installierten grammatischen Normen und der Konstanten des Stils, dort, wo das Geschriebene […] endlich zu einem totalen Zeichen wird, […] zur Affirmation eines bestimmten Gutes, den Schriftsteller engagierend […], sowohl normale als auch einmalige Form seines Wortes an die weite Geschichte des anderen bindend. Sprache und Stil sind blinde Kräfte, die Schreibweise ist ein Akt historischer Solidarität; Sprache und Stil sind Objekte, die Schreibweise ist eine Funktion: sie bedeutet die Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft, sie ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intention ergriffene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist.98
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James Joyces Spätwerk Finnegans Wake, das erstmals unter diesem Titel und zusammenhängend 1939 erschien, kann als eines der verwobensten Werke der Literatur angesehen werden. Philosophische und literarische Gedankenstränge werden ebenso wie Personennamen, Orte und Wörter aller Sprachen auf scheinbar willkürliche Weise miteinander verbunden. Daher ist von einzelnen Charakteren ebenso schwierig zu sprechen wie von einem Handlungsstrang. Auf der Ebene der Wörter zeitigt sich dies darin, dass Joyce PortmanteauxWörter schafft, die allerdings sprachenübergreifend gebildet werden und zudem mit haplologischen Verkürzungen und Assonanzen einhergehen. Zu den morphologischen Spielweisen treten dann noch die semantischen hinzu, was im Fall von Finnegans Wake zum Verständnis eine Kenntnis von Joyces Aufenthaltsorten, Lebensdaten, Essgewohnheiten etc. pp. zur Dechiffrierung unabdingbar macht. Klaus Reichert formuliert hierzu: „[…] der Leser [kann] jede der geistigen Sinnschichten zu seinem Ausgangspunkt nehmen und von da auch nach so etwas wie Literalsinn zu suchen beginnen. Man wird bemerken, daß dies nichts weniger als die Umkehrung der scholastischen Ordnung ist.“ Reichert 1989: 168. Zu dem Problemfeld vgl. in der jüngeren Forschung: Erzgräber 1998: bes. 311–339 und die detaillierte Überblicksdarstellung über die Forschungspositionen zu Finnegans Wake von Siedenbiedel 2005: 37–50. Noch immer wegweisend sind wohl Fritz Senns „Mutmaßungen“ und „Ratereien“ – wie er es selbst fasst – zu Joyces Finnegans Wakein „Finnegans Wake: gesammelte Annäherungen“ gerettet werden konnten: Senn/Reichert 1989. Alltag ist im Fall des Ulysses sowohl im Sinn des mittelhochdeutschen „alltac“ (alle Tage) zu verstehen (Kretschmer 1969: „Alltag/Wochentag“) als auch im pejorativ konnotierten Sinne des Durchschnittlichen, Gemeinen und Gewöhnlichen, das dem Wort seit Goethes „Werther“ beigemessen wird (vgl. Paul 1976: „Alltag“, ferner Bell 1999: 23 ff.) Barthes 1959/1972: 17/14.
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Der so gefasste Gegensatz zwischen Realismus (Primitivismus) und Romantik (Realismus), so scheint es, reflektiert sich im Ulysses im Gebrauch von Mŷthos und Mythopoese durch Joyce, kommt doch das Mythopoem Ulysses einer Verfremdung der realistisch-verklärenden Wirklichkeitssicht gleich. Zudem ist das in der Darstellungsweise und der „Herstellung von Wahrnehmung“ implizierte Moment des „Anbindens“ à la vaste histoire d’autrui (Barthes), das zugleich die „Schaffung des Sehens“ der des „Wiedererkennens“99 (Šklovskij) entgegenstellt (und doch darauf angewiesen ist), sowohl mit Blick auf den Ulysses als auch hinsichtlich der Funktionsweise der mythischen Methode wesentlich. Denn Gegenstand der Verfremdung, und damit im Fall Joyce zugleich Vehikel des Hervortretens der Verfremdung, ist der Mŷthos.
4. Mythologisieren mit Methode Wurde bis hierhin aufgezeigt, auf welch vielfältige Weise sich James Joyce in seinem Ulysses Mŷthoi und besonders des Mŷthos der Odyssee bedient, so kann an dieser Stelle eines konstatiert werden: Eine eindeutige intertextuelle Beziehung ist nicht nachweisbar. Zu variantenreich ist das Spiel, das Joyce mit der Vorlage treibt. Zu variantenreich auch sein Spiel mit den von ihm selber gesetzten produktionsästhetischen Kriterien: Die Transposition in einen myth sub specie temporis nostri und der groundplan geraten immer wieder als unvereinbare Pole aneinander. Unvereinbar, wenn man sich dem Ulysses nach den Maßstäben der intertextuellen Zuordnung nähern möchte. Denn die Aneignung des mythischen Stoffes ist nicht immer kohärent. Wie ist also die mythische Methode zu fassen, also das Handhaben des Mŷthos im Sinn einer continuous parallel between contemporaneity and antiquity, nachdem die vielschichtigen mythologischen Anknüpfungspunkte in James Joyce’ Ulysses aufgezeigt sind? Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Frage, ob eine Methode, die mit der Bearbeitung von Mŷthoi einhergeht, nutzt. Damit verbindet sich die weitere Frage, welche Funktionen ein Mŷthos dann haben muss. Movens hierfür war – was noch einmal in Erinnerung gerufen werden soll – die folgende Aussage T. S. Eliots: _____________ 99
Der russische Text spricht hier von „создание ‚виденья’ его, а не ‚узнаванья’ “, also der Schaffung des Sehens, der das (Wieder-)Erkennen des Gegenstandes entgegengesetzt wird, was wiederum das Moment des Konfigurierens, sowohl von Seiten des Autors, aber auch auf Seiten des Lesers/Rezipienten stärker deutlich macht. Diese Lesart im Vorausblick auf den dritten Abschnitt des vorliegenden Buches als relevant hervorzuheben. Šklovskij 1969: 25.
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In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr. Joyce is pursuing a method which others must pursue after him. [...] It is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history. [...] It is a method for which the horoscope is auspicious. Psychology [...], ethnology, and The Golden Bough have concurred to make possible what was impossible even a few years ago. Instead of narrative method, we may now use the mythical method.100
Vor dem Hintergrund der Frage nach dem nach dem Nutzen einer Methode, die mit der Bearbeitung von Mŷthoi einhergeht und deren Ursprung im Mŷthos selber liegt, kann jedoch durchaus ein Gewinn aus den teils „missglückten Parallelisierungen“ gezogen werden. Eliots Aussage impliziert zunächst das Verständnis eines Mythopoems in dem Sinne, dass durch die Konstruktion einer Fabel oder Geschichte entlang eines Mŷthos Geschichte selbst vermittelt werden kann – der Mŷthos also Vermittlungsinstanz im mehrfachen Sinne und Grade ist. Ich hatte dafür plädiert, dass der Begriff der Methode in seiner doppelten Bedeutung zu lesen ist: als ein Moment des Erlangens von etwas und als eines der Ordnung von Vorhandenem. Auch um das Phänomen der Dialogizität von Antike und jeweiliger Gegenwart (im Verständnis von Roland Barthes) zu verstehen, das in einem hermeneutischen Gefüge Sinnzusammenhänge schafft. Und zwar in dem von Joyce gesteckten Rahmen der Verwendung von Symbolen und Stilen (dem „Gerüst“, wie Pound es nennt), die als Methode zugleich das Erlangen von etwas und das Ordnen reflektieren. Mit der Frage nach dem Nutzen der Methode und der Gestalt verbindet sich eine weitere Frage, nämlich die nach der Funktion, die ein Mŷthos hat: sowohl für den Autor (im zweifachen Sinn) als auch für den Leser. Was sich hier in den Parallelen zur Odyssee im Ulysses ausdrückt und umsetzt und wie die verschiedenen Arten der Anknüpfung, Aneignung und Funktionalisierung der Odyssee durch Joyce zu begreifen sind, lässt sich in drei Punkte gliedern: 1. Es gibt es eine direkte Aneignung101 des Stoffes der Odyssee durch Joyce, was die Auseinandersetzung mit dem Mŷthos deutlich macht. Hier sind zum einen die Episodentitel zu nennen. Sie greifen das Geschehen der Odyssee auf: Sirens basiert auf akustischen Phänomenen, Hades spielt auf einem Friedhof, in Ithaka kehrt der Held nach Hause zurück etc. Diese Inszenierung im Kontext der Odyssee wird in Briefen und durch die enge _____________ 100 101
Eliot 1923. Deutsch in: Eliot 61993. Aneignung ist hier durchaus im Sinne der Aneignung zu verstehen, wie sie Hall 1980 und De Certeau 1973 begreifen: als Konsum eines Textes, der zwar vor kulturell und sozial determiniertem Hintergrund gedacht geschieht, aber doch eine Materialität und Zielsetzung im Nachgang der Aneignung denkt. Von Aneigenung spricht im Zusammenhang der Rezeption von Mythen auch Jens 1993.
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Zusammenarbeit mit Stuart Gilbert bezeugt. In Teilen können diese Aneignungen der Odyssee als groundplan sehr wohl im Feld der „intertextuellen Bezüge“ im Verständnis Gerard Genettes verhandelt werden. Wenn auch mit der schwerwiegenden Einschränkung Genettes, dass diese Relationen häufig « une relation suggérée (ou, par le titre, imposée) » darstellen, die den Ulysees (zumindest in Teilen) zu einem « hypertexte autoproclamé » machen.102 2. Dem Mŷthos wird bei Joyce, über die einfachen, oft brüchigen intertextuellen Anleihen hinaus, eine Funktion zuteil, die den ihn zitierenden und auf ihm aufbauenden Text bereichert. Und zwar insofern, als Joyce dass dem Text vermittels der Anleihen dem Text eine zweite Ebene anheim stellt, die das Moment der Rezeption entscheidend bereichert – wenn sie erkannt wird. Sowohl das Erkennen als auch die Bereicherung geschehen in dem Sinne, der uns später bei Paul Ricœur im Begriff der Konfiguration erneut begegnen wird und der bereits mit Wolfgang Isers Begriff des Akt des Lesens und dem Verweis auf das Phänomen der Intentionalität als einer gerichteten Aufmerksamkeit im Rahmen der Analyse der Sirens-Episode hingewiesen wurde. Gemeint ist die zunächst die Schaffung eines Textes durch einen Autor, im Sinne der Fabelkomposition, wie sie uns im folgenden Abschnitt bei Aristotles als Definition des Mŷthos begegnen wird. Doch kann diese Konfiguration, diese Zusammensetzung der Geschehnisse durch Leerstellen (Iser), den Leser mittelbar zum „Co-Autor“ machen, abhängig von seinem Vorwissen. Diese Funktion, die sich in dem tradierten Wissen um die Handlung der Odyssee niederschlägt, kann zum Beispiel den Episodentiteln beigeordnet werden. Im Sinne des Codes (vgl. erneut die Analyse der Sirens-Episode oder die sich daraus ergebende komplizierte Dramaturgie der Hades-Episode) versteht der Leser, was Joyce (indirekt) beschreibt, worauf die Variation des Stoffs also im Kern abzielt. 3. Bei Joyce kann eine Verortung des Mŷthos im damaligen Spektrum und chronotopischen Feld aufgezeigt werden. Dies ist unter anderem mit Blick auf die Inszenierungsbemühungen des Autors und die Anspielungen auf Debatten wie die zwischen Arnold und Tennyson verdeutlicht worden. Über einfache mythopoetische Aspekte hinaus verknüpft Joyce durch die konkrete Form der Neubeschreibung des Mŷthos das Spektrum der jeweiligen Zeit und ihrer Gegebenheiten mit dem literarischen Stoff. Diese Art der Aneignung, die Joyce selber als die Transposition des Mŷthos sub specie temporis nostri fasst, impliziert den offensichtlichen Diskurs zwischen Moderne und Antike vor dem Hintergrund der direkten Auseinandersetzung _____________ 102
Genette 1982: 436.
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und Bezugnahme auf den Mŷthos, wie er unter unter Punkt 1 genannt wurde.. Die Aktualisierung scheint in ihrer krassesten Form auf im Wechselspiel von groundplan und myth sub specie temporis nostri, wie es uns zum Beispiel in der Hades-Episode begegnet, aber auch beim Treffen mit dem Kyklopen oder beim vermeintlichen Spannen des Bogens. Zugleich wird die gegebene historische Dimension deutlich, in der Joyce seinen „Odysseus“ irren lässt. Der Autor stellt sich somit in eine Tradition, ordnet jedoch unterdessen sein Werk in seine Zeit ein. Er dokumentiert gleichsam Vergangenes und Aktuelles. Es sind diese drei Formen, Spielarten, Funktionen, Aneignungsmodi, die nun weiter bestimmt werden sollen. Zunächst, in dem vermittels der aristotelischen Poetik die Frage nach der Struktur eines Mŷthos näher untersucht werden soll. Dann soll die Frage nach der Vermittlung von Geschichte und der jeweiligen Handhabung eines myth sub specie temporis nostri unter narratologischen Aspekten unter Zuhilfenahme von Paul Ricœur beleuchtet werden. Denn so, wie Joyce an die Odyssee anknüpft, sie sich aneignet und sie funktionalisiert, beschreibt er die Symptome dessen, was zum Ende der Untersuchung als Textus, Contextus und Circumtextus definiert werden soll und was bereits Eingangs als Beschreibung der Verhältnisse von Text, Autor, Rezipient und Tradition umrissen worden war. So soll ein Zugang zum Mŷthos geschaffen werden, der es erlaubt, auch einen Roman wie den Ulysses zum Untersuchungsgegenstand einer intertextuellen Analyse zu machen. Eben indem man neben der Frage der konkreten Bezüge der Texte untereinander auch jene stellt, was mit der Auswahl der bestimmten Textart als Vorlage bereits einhergeht. Welche Parallelen und Strukturen sich also jenseits von direkten Parallelen und Verweisen ergeben, wenn ein Autor einen Mŷthos zur Vorlage wählt.
II. Aristotelische Mímesis und der mehrfache Mŷthos Dieser Abschnitt der Untersuchung soll den Mŷthos-Begriff in der aristotelischen Poetik grundlegend klären. Mŷthos wird unter verschiedenen Aspekten betrachtet, was auch eine Untersuchung des Terminus’ Mímesis geboten erscheinen lässt. Diese Überlegungen bilden dabei die Grundlage für zwei Gedankengänge: Zum einen ist eine Klärung der Begriffe Mŷthos und Mímesis fundamental für den Folgeteil, in dem vermittels des Mímesis-Zirkels von Paul Ricœur und dessen Überlegungen zu Referenz und Spur der Mŷthos-Begriff um weitere Aspekte bereichert werden soll. Ricœur macht den aristotelischen Mŷthos-Begriff zu einem Ausgangspunkt. Im Ausgang der im Weiteren entwickelten Lesart kann Ricœurs Zirkel jedoch von einigen Einschränkungen befreit und um andere Aspekte bereichert werden. Die Einschränkungen ergeben sich bei Ricœur zum Beispiel auf den Ebenen der Mímesis II und III und bezüglich des „Akt des Lesens“. Ferner soll eine Distanzierung vom Moment der Zeitvermittlung hin zum Moment der Struktur und inhaltlichen Vermittlung erreicht werden. Daher scheint es unabdingbar, den aristotelischen Mŷthos-Begriff und dessen Zusammenspiel mit dem Begriff der Mímesis zuvor differenziert und mit Hinblick auf die Vermittlung von Strukturen zu interpretieren. Zum anderen behandelt die vorliegende Untersuchung den Mŷthos im doppelten Sinn. Sie macht das Ineinandergreifen von inhaltlicher und formaler Ebene zum zentralen Moment ihrer Überlegungen. Und sie will den Begriff Mŷthos über seine weitläufige Handhabung als „Erzählung von Göttern und Menschen“ (als traditional tale1) hinaus zugleich als Funktion bestimmen, die Erzählen überhaupt ermöglicht und so im Akt des Erzählens Sinn und Identität stiftet. Und zwar solche, die den Gegenstand der Erzählung und den Rezipienten in gleicher Weise betreffen und Abbild der jeweiligen Zeit des Rezipienten und des Autors sind. Mit der Analyse und der hier vorgeschlagenen Interpretation ausgewählter Stellen der Poetik soll dargestellt werden, dass die Grundlage für diese Annahme sich bereits im aristotelischen Mŷthos-Begriff aufzeigen lässt. Wie sich erweisen wird, ist dieser nicht nur auf die „Zusammenfügung von Geschehnis_____________ 1
Zur Erinnerung, dies ist die Definition Burkerts: “Myth is a traditional tale with secondary, partial reference to something of collective importance.” Burkert 1979: 23.
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sen“ oder die „Nachahmung von Handlung(en)“ beschränkt, sondern bezieht sehr wohl eine Ebene der Handhabung des Mŷthos als traditional tale mit ein und legt gar das Weitervermitteln eben dieser nahe.
1. Mímesis bei Platon und Aristoteles Zu einer Bestimmung des Begriffes des Mŷthos mit Aristoteles, wie dieser ihn in der Poetik entwirft, als sýstasis tôn pragmáton, als Zusammensetzung von Geschehnissen2, ist es unumgänglich, den Weg über die Mímesis zu gehen. Zum einen, weil Aristoteles die Binnendifferenzierung zwischen verschiedenen Arten der Kunst über die verschiedenen Arten der Mímesis handhabt. Ferner, weil Mŷthos hieraus resultierend sodann auch wie folgt definiert werden kann: ἔστιν δὲ τῆς µὲν πράξεως ὁ µῦθος ἡ µίµησις Die Nachahmung3 von Handlung ist der Mŷthos.4
Um den aristotelischen Mímesis-Begriff klarer abzugrenzen, soll zunächst in gebotener Kürze5 der Begriff der Mímesis umrissen werden, wie Platon ihn vornehmlich in Politeia III (392c–394c)6 und Politeia X (596a–598b) _____________ 2
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Wie die Begriffe sýstasis und prâgma im Zusammenhang der Poetik am treffendsten gefasst werden können, wird später eingehender diskutiert. Fuhrmann 1982 übersetzt dies mit „Zusammensetzung der Geschehnisse“. Wichtig ist es, darauf zu verweisen, dass ich Geschehnisse nie als „zufällig passierendes“, also nicht initiativ zu denkendes, Handeln oder “event” verstehe, das die 3. Person als objektiv konstatierend im Sinne der Ereignisrede handhabt. Denn gerade die Momente des (ethischen, initiativen, interaktiven, verantwortlichen …) Handelns sind es, die den Mŷthos bestimmen. Nur aus einem solchen Handlungsbegriff heraus können hamartia, katharsis etc. gedacht und verstanden werden. Hierzu später mehr.r eingehender. Fuhrmann 1982 übersetzt Mímesis durchgehend als „Nachahmung“ – dies wird übernommen. In diesem Abschnitt wird darauf aufmerksam gemacht, inwiefern dieser Terminus sinnvoll ist. Vorausgreifend soll angemerkt sein, dass der aristotelische Begriff von Mímesis nie im Sinne des Nachäffens, sondern immer als „Aktualisierung“ oder „Darstellung“ zu verstehen ist. Poet. 1450a3. Zu einer weitreichenden Erläuterung, die auch eine Differenzierung zum aristotelischen Mímesis-Begriff vornimmt, siehe besonders McKeon 1973 und 2005. Da diese Abschnitte hinsichtlich dessen, was Aristoteles in der Poetik als Mímesis entwickelt, grundlegend sind, seien sie stellvertretend für weitere herausgegriffen. Zentral sind im Werk Platons unter anderem Nom. 817c, 668b, Tim. 39, 48–50 zu nennen; andere Passagen werden in diesem Abschnitt der Untersuchung angeführt. Auch in der Politeia setzt Platon sich mit der Mímesis auseinander (Rep. II und III), wobei er den Begriff nicht nur hinsichtlich der Dichtung betrachtet, sondern auch in Bezug auf Kunst und Tonkunst. Ferner wird in Rep. II über Mímesis mit Blick auf ihre autoritativen und damit für die Überlegungen des Idealstaats bedeutsamen Funktionen reflektiert. Da hier jedoch vor allem die poetologischen Überlegungen herangezogen werden, konzentriere ich mich auf die genannten Stellen.
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II. Aristotelische Mímesis und der mehrfache Mythos
ausführt. Platon entwickelt hier im Grunde zwei Mímesis-Begriffe, die im Folgenden als technischer und metaphysischer Mímesis-Begriff bezeichnet werden sollen. In Buch III der Politeia, in dem besonders die Erziehung der Kinder7 und die Wirkungen der Dichtkunst auf diese erörtert werden, wird Mímesis als gattungstheoretischer Begriff gefasst. Er lässt die Dichtung in drei verschiedene Typen zerfallen: erzählende, nachahmende und eine Mischform, die sowohl erzählt als auch nachahmt. Zur Unterscheidung dient das Redekriterium: Wird die Rede eines Charakters nicht weiter vom Autor kommentiert, so handelt es sich um Mímesis: ἀλλ᾽ ὅταν γέ τινα λέγ ῃ ῥῆσιν ὥς τις ἄλλος ὤν, ἆρ᾽ οὐ τότε ὁµοιοῦν αὐτὸν φήσοµεν ὅτι µάλιστα τὴν αὑτοῦ λέξιν ἑκάστῳ ὃν ἂν προείπῃ ὡς ἐροῦντα — φήσοµεν: τί γάρ — οὐκοῦν τό γε ὁµοιοῦν ἑαυτὸν ἄλλῳ ἢ κατὰ φωνὴν ἢ κατὰ σχῆµα µιµεῖσθαί ἐστιν ἐκεῖνον ᾧ ἄν τις ὁµοιοῖ — τί µήν — ἐν δ ὴ τῷ τοιούτῳ, ὡς ἔοικεν, ο ὗτός τε κ αὶ οἱ ἄλλοι ποιητα ὶ διὰ µιµήσεως τὴν διήγησιν ποιοῦνται. — πάνυ µὲν οὖν. Aber wenn er irgendeine Rede vorträgt, als wäre er ein anderer, müssen wir nicht sagen, daß er dann seinen Vortrag jedesmal so sehr als möglich dem nachbildet, den er vorher ankündigt, daß er reden werde? — Das müssen wir sagen. Denn wie können wir anders! — Nun aber sich selbst einem andern nachbilden in Stimme oder Gebärde, das heißt doch den darstellen, dem man sich nachbildet? — Was sonst? — In einem solchen Falle also, scheint es, vollbringen dieser und andere Dichter ihre Erzählung durch Darstellung. — Allerdings.8
Platon zeigt dies am Beispiel des Auftritts des Priesters Chryses in der Ilias (I, 17–42) auf. Während Homer das Geschehen zunächst noch in erzählender Form schildert, lässt er bald den Priester in direkter Rede sprechen und tritt somit vollkommen in den Hintergrund. Der Rezipient vernimmt nun nicht mehr Homers Worte, sondern die des Chryses. Daraus ergibt sich für Platon ein Einwand der sogenannten Dichterkritik. Der Vorwurf an den Dichter lautet: Er täusche vor, ein anderer sage etwas aus, nämlich der Priester, und nicht mehr der Autor des Textes. Redet demnach jemand hós tis állos ón, „als ob er ein anderer wäre“, dann wird dies als gleichbedeutend mit der mimetischen Dichtung gefasst. Damit wird dem Dichter vorgehalten, er versuche den Rezipienten darüber zu täuschen, wer zu ihm spricht. Ungeachtet der Tatsache, dass man es dem Rezipienten wohl zutrauen kann zu wissen, dass nicht Chryses, sondern Homer durch die Person des Chryses spricht. Doch gilt Platon allein schon der _____________ 7
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Rep. 393b/c; Erwachsene werden an dieser nur marginal hinsichtlich der Wirkung der Dichtung auf sie thematisiert, vgl. Rep. III 386a, 391b. In Rep. X erfahren wir jedoch, auch „die besten von uns“ könnten durch Dichtung verdorben werden. Rep. 393c. „dia miméseos“ wird hier von Schleiermacher als „durch Darstellung“ übersetzt. Durchaus erhellend ist zu reflektieren, dass Schleiermacher in seiner Übersetzung zwischen „Darstellung“ (Rep. III) und „Nachbildnerei“ (Rep. X) differenziert.
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Versuch als verwerflich: Denn direkte Rede wirkt unmittelbarer auf den Rezipienten, als bloßes Erzählen es vermöchte. Das wird verständlich, wenn man darauf verweist, dass im Altertum laut gelesen wurde: Anführungszeichen markieren bei der Lektüre zwar die direkte Rede, man kann sie beim Vorlesen jedoch nicht hören. Der Vorlesende spricht also zwangsweise so, als wäre er ein anderer, wenn der Text Zitate nicht in indirekter Rede wiedergibt.9 Um nun zu verdeutlichen, worin der Unterschied der mimetischen Dichtung zur nicht-mimetischen, also diegetischen, besteht, überträgt Platon die zuvor beschriebene Stelle von der mimetischen in die diegetische Form.10 Denn „wenn nun nirgends der Dichter sich selbst verbergen wollte, so würde er dann seine ganze Erzählung ohne Darstellung (Áneu mim®sewV) verrichtet haben“.11 Hegel merkt zu ebendiesem Aspekt in der Ästhetik an: Das Epos, in welchem der Dichter eine objektive Welt von Ereignissen und Handlungsweisen vor uns entfalten will, läßt dem vortragenden Rhapsoden nichts übrig, als mit seiner individuellen Subjektivität ganz gegen die Taten und Begebenheiten, von denen er Bericht erstattet, zurückzutreten. […] Die Sache soll wirken, die dichterische Ausführung, die Erzählung, nicht das wirkliche Tönen, Sprechen und Erzählen.12
Aus dieser Unterscheidung zwischen mimetischer und diegetischer Erzählform ergibt sich die besagte Auffächerung in drei Formen des Erzählens, wobei sich repräsentative Gattungen der jeweiligen Art benennen lassen: a. die rein erzählende Dichtung, ohne Gebrauch direkter Rede der Charaktere: Dithyrambendichtung; b. die rein mimetische Dichtung, die also nur aus direkter Rede zusammengesetzt ist: Dramen; c. eine Mímesis und diégesis vereinende Mischform: epische Dichtung.13 _____________ 9
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Wenn Aristoteles in der Poetik die Art und Weise der Nachahmung genauer fasst (1148a 12ff.), so geschieht dies auf in Bezugnahme auf Homer. Interessant ist, dass die Literaturwissenschaft sich lange Jahre ausschließlich auf Aristoteles und dessen Verweis auf Homer zur Klärung der Erzählmodi bezog und Platon hier keine Rolle spielte. Rep. 393c. Rep. 393c/d. Hegel 21990: III. 2,3 c; 219. ὀρθότατα, ἔφην, ὑπέλαβες, καὶ οἶµαί σοι ἤδη δηλοῦν ὃ ἔµπροσθεν οὐχ οἷός τ᾽ ἦ, ὅτι τ ῆς ποιήσεώς τε κα ὶ µυθολογίας ἡ µὲν δι ὰ µιµήσεως ὅλη ἐστίν, ὥσπερ σ ὺ λέγεις, τραγ ῳδία τε κα ὶ κωµῳδία, ἡ δὲ δι᾽ ἀπαγγελίας α ὐτοῦ τοῦ ποιητοῦ— εὕροις δ᾽ ἂν αὐτὴν µάλιστά που ἐν διθυράµβοις— ἡ δ᾽ αὖ δι᾽ ἀµφοτέρων ἔν τε τῇ τῶν ἐπῶν ποιήσει, πολλαχοῦ δὲ καὶ ἄλλοθι, εἴ µοι µανθάνεις. „Und jetzt denke ich dir schon deutlich zu machen, was ich vorher nicht vermochte, daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung besteht, wie du sagst die
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Mímesis wird also bereits bei Platon als gattungspoetisches Unterscheidungskriterium herangezogen, was sich später bei Aristoteles wiederfindet. Allerdings versteht Letzterer Mímesis gattungspoetisch als übergreifende Kategorie der dramatischen und diegetischen Komposition (Poet. 1447a14 u. a.). Der bisher beschriebene Mímesis-Begriff kann nun als „technischer“ Mímesis-Begriff gefasst werden, so etwa von Paul Ricœur in Zeit und Erzählung. „Technisch“ wäre hierbei wohl im Sinne der téchne, also der künstlerischen Befähigung und des Handwerkes zu fassen. Jedoch nicht im platonischen, sondern im aristotelischen Sinne: Mímesis als Tätigkeit, die durch Nachbildung etwas „her-stellt“14. In diesem Fall durch Beschreibung von Geschehnissen einen Text bzw. dessen Wirkung auf den Rezipienten durch die Form, die der Dichter wählt. Dieses philosophiehistorisch betrachtet pikante Konstrukt erscheint in zweierlei Hinsicht opportun: Zunächst insofern es Platon wie Aristoteles um die hergestellte Wirkung des Textes auf das Publikum geht, wenn auch in unterschiedlicher Weise, wie sich zeigen wird. Opportun ist es aber auch im Hinblick auf Ricœur und sein Unternehmen in Zeit und Erzählung: Text ist das Medium, auf das sich Ricœur in den Untersuchungen in Zeit und Erzählung konzentriert. Er entwickelt seinen Ansatz aus der Texthermeneutik heraus und begreift Erzählung als Text, wobei er mündliche Überlieferung ausschließt.15 Auch Ricœur geht es darum, wie ein Text auf den Rezipienten wirken kann, wie er es in seiner Entwicklung der Mímesis III beschreibt.16 Ein weiterer Begriff von Mímesis – bzw. eine Facette des Erläuterten – lässt sich in Politeia X (596a–598b) aufzeigen, nämlich Mímesis als Gegenbegriff zur méthexis, der Teilhabe.17 Ein Gegenstand ist genau dann _____________
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Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst, und auch vielfältig anderwärts, wenn du mich verstehst.“ Rep. 394b/c. Wie genau ist die Tätigkeit einer téchne zu fassen? An dieser Stelle wurde aus der Menge der möglichen Beschreibungen (verfertigen, zubereiten, kunstvoll gestalten) der Begriff des „Her-stellens“ gewählt, wie ihn Heidegger 1976 als Abgrenzung zum „Machen“ fasst. Dieser soll als Repräsentant möglicher anderer Lesarten verstanden werden. Dass Ricœur seine Methode im Hinblick auf schriftliche Überlieferung entwickelt, betont er zum einen in Zeit und Erzählung, aber auch in seinem Aufsatz „Text als Modell“. Dort heißt es, dass die „Interpretation der schriftlichen Dokumente unserer Kultur“ entscheidend sei (Ricœur 1978: 83). Mit dem Ansatz der Texthermeneutik will er einen Zugang zur Humanwissenschaft insgesamt schaffen. Vgl. Abschnitt III der vorliegenden Untersuchung. Paul Ricœur, dessen Mímesis-Zirkel Gegenstand des nächsten Abschnitts der Untersuchung ist, fasst diesen Begriff als „metaphysischen“ Begriff von Mímesis. Dem schließt sich die Studie im Folgenden an, auch um im weiteren Verlauf terminologische konziser operieren zu können. Will man dies konstruktiv lesen, so ergeben sich zwei Wege: Sieht man den Grund hierfür in Platons Exkurs auf vorangegangene Gleichnisse zur Unterfütte-
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Gegenstand, wenn er an der ihm zugrunde liegenden Idee teilhat. Ein Tisch ist nur dann Tisch – und kann auch nur dann als solcher erkannt werden –, wenn er an der Idee „Tisch“ teilhat. Der Tisch als konkreter Gegenstand ist jedoch trotz seiner Teilhabe an der Idee „Tisch“ lediglich Instanz der Idee und muss, ontologisch betrachtet, als nicht „an sich seiend“ verstanden werden. οὐκοῦν εἰ µὴ ὃ ἔστιν ποιεῖ, οὐκ ἂν τὸ ὂν ποιοῖ, ἀλλά τι τοιοῦτον οἷον τὸ ὄν, ὂν δὲ οὔ: τελέως δ ὲ εἶναι ὂν τὸ τοῦ κλινουργοῦ ἔργον ἢ ἄλλου τινὸς χειροτέχνου εἴ τις φαίη, κινδυνεύει οὐκ ἂν ἀληθῆ λέγειν; Also wenn er nicht macht was ist, so macht er auch nicht das Seiende, sondern nur dergleichen etwas wie das Seiende; Seiendes aber nicht? Und wenn jemand behaupten wollte, das Werk des Tischlers oder sonst eines Handwerkers sei im eigentlichsten Sinne seiend, der schiene wohl nicht richtig zu reden?18
Wird dieser gezimmerte Tisch beschrieben oder gemalt, so ist er um zwei Stufen vom Seienden (i. e. die Idee) entfernt.19 Und gerade dies leistet die Mímesis, die in Buch X lediglich als Reproduktion eines Abbildes der von Gott20 gesetzten Ideen begriffen wird. Sagt Platon über den Handwerker, dass er nicht das „im eigentlichsten Sinne Seiende“ schafft (597a), sondern es lediglich abbildet, so schreibt er über die Malerei: πρὸς πότερον ἡ γραφικὴ πεποίηται περὶ ἕκαστον; πότερα πρ ὸς τ ὸ ὄν, ὡς ἔχει, µιµήσασθαι, ἢ πρὸς τὸ φαινόµενον, ὡς φαίνεται, φαντάσµατος ἢ ἀληθείας οὖσα µίµησις; – φαντάσµατος, ἔφη.
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rung der Argumentation (auf die Parallele von Rep. 598b zum Höhlengleichnis in Rep. 514a wurde bereits verwiesen), so scheint dieser Umstand zu schwach, um daraus eine Nomenklatur für den Mímesis-Begriff als einen metaphysischen herzuleiten. Etwas evidenter scheint diese Benennung, wenn man auf Aristoteles zurückgreift und metaphysisch als „metà tà physiká“ (im Sinne von physikón) im erweiterten Sinne liest: nicht als das, was nach der aristotelischen Physik, in diesem Fall als aristotelisches Werk zu verstehen, kommt, sondern als das, was sowohl über dieses Werk und die in ihm beleuchteten Aspekte als auch über den Begriff der Physik hinausgeht. Damit wäre der Begriff als über die phýsis, die Natur, hinausgehend, und somit als Frage nach dem Wesen oder Sinn der Dinge zu fassen – „Òn äÞ Ón“ (Vgl. Met. G, 1003a,21) . Zu einer Differenzierung in einen technischen und einen metaphysischen Mímesis-Begriff vgl. auch Halliwell 1998: 115f (hier zusammenfassend, 47 passim). Rep. 597a. Zum Nachbilden als drei Schritte von der Idee entfernten Vorgang vgl. Rep. 597c, ferner auch Soph. 265b. Im Griechischen ist die Rede vom demiourgós (Rep. 597d), das sich auch als Pflanzer, Gärtner, Erzeuger oder Vater übersetzen ließe. Die Übersetzung als „Gott“ mag Schleiermacher von seiner Fachrichtung her nahegelegen haben, die englische Übersetzung spricht an dieser Stelle vom “natural begetter” (Shorey 1969), also vom „natürlichen“ oder „leiblichen Vater“.
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Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine Nachbildnerei der Erscheinung oder der Wahrheit? — Der Erscheinung, sagte er.21
Der Nachbildende entfernt sich somit auf konkreter Ebene zwei Schritte vom Urbild, damit aber auch zwei Schritte von der Wahrheit und der Erkenntnis. πόρρω ἄρα που τοῦ ἀληθοῦς ἡ µιµητική ἐστιν καί, ὡς ἔοικεν, διὰ τοῦτο πάντα ἀπεργάζεται, ὅτι σµικρόν τι ἑκάστου ἐφάπτεται, κα ὶ τοῦτο εἴδωλον. Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein weniges trifft und das im Schattenbild.22
Deshalb kritisiert Platon die mimetische Kunst in Buch X der Politeia. Hinzu kommt das bereits in Buch III aufgezeigte Problem der Täuschung: Wenn ein Bild einen Gegenstand darstellt, kann diese Darstellung für das direkte Abbild gehalten werden und ist doch zwei Schritte davon entfernt.23 Der Unterschied zwischen diesen beiden Darstellungen des Mímesis-Begriffs scheint darin zu bestehen, dass in den Büchern vor Buch X die Seele, Ideen und Kardinaltugenden erörtert werden. Es hat sich also eine neue Sichtweise der Nachahmung eröffnet, und diese kann in ganz anderer Gewichtung und Dimension diskutiert werden.24 In Politeia III _____________ 21
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Rep. 598b. Hier muss die phänomenologische Lesart, bei der die Erscheinung ihrem Wesen nach eidetischen Gesetzen gehorcht, ausgeblendet werden. Rep. 598b. Dies kann als Anspielung auf in Buch VII (Rep. 514 a–517 a) entwickelte Höhlengleichnis gelesen werden: Die in ihrer Position fixierten Menschen in der Höhle sehen nur Schatten, also verzerrte Abbilder der Dinge, die an die Wand geworfen werden, nicht aber das Ding selber, von dem diese herrühren. Der Schatten im Höhlengleichnis ist, ebenso wie das Bild des Künstlers, zwei Stufen vom Urbild entfernt. Über die Wendung zur Wahrheit und damit Erkenntnis vgl. Picht 1996: 63-103. Dort wird das Höhlengleichnis unter dem Aspekt der schmerzhaften Wendung zum Aufstieg beleuchtet Dieser platonische Vorwurf, so könnte man einwerfen, hinkt insofern, als dass jeder, der versuchen würde, sich in ein gemaltes Bett zu legen, merken würde, dass dies unmöglich ist (u. a. Tim. 28a). Mit Aristoteles ließe sich gar argumentieren, dass die Erkenntnis, die aus dem (gescheiterten) Versuch, sich in ein gemaltes Bett zu legen, als Gewinn für weiteres Handeln (prâxis) gewertet werden müsste. Interessant ist die Frage nach Bereichen, in denen sich die „Idee“ nicht leicht offenbart: So sind es Zeichnungen zum Beispiel von Einhörnern, die Leute lange glauben machten, es gäbe diese Fabeltiere wirklich. Vgl. Soph. 234b. Pointiert könnte man sagen, dass ohne die Ausführungen zur Dreiteiligkeit der Seele in Buch IV (Resp. 435 c– 441 c) sowie das Linien- (Rep. 509 ff, zentral auch 534 a) und Höhlengleichnis (Rep. 514 a–517 a) in den Büchern VI und VII der Politeia der Mímesis-Begriff in Buch X weder Grundlage noch Berechtigung hätte. Seine Herausarbeitung fiele nicht bedeutend anders als in Buch III aus. Erst durch die Ausweitung des Gedankens der Nachahmung auf verschiedene Realitäten ermöglicht die fundamentale und auf alle Lebensbereiche und Kunstformen ausgeweitete Kritik an Mímesis, wie sie in Rep. X vorgenommen wird.
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lässt der Dichter den Rezipienten glauben, es spreche ein anderer (hós tis állos ón). In Buch X dagegen wird (zudem) mittels der Mímesis die Idee vorgetäuscht und die Kritik an Mímesis auf die Dichtung insgesamt und sogar darüber hinaus ausgeweitet. So kann in Politeia X ein ontologischer Mímesis-Begriff entwickelt werden. Mímesis ist hier ausdrücklich negativ konnotiert. Die Dichtung, in der sie sich niederschreibt, erfüllt die Seele ihrer Rezipienten mit Schrecken und Furcht – was als „staatsgefährdend“ verstanden wird. Eine reinigende Wirkung, wie Aristoteles, zieht Platon nicht in Erwägung, ebenso wenig ein Hinausweisen über die Nachahmung (weder im Akt noch im „direkten“ Gegenstand der Nachahmung); es wird lediglich als idealiter möglicher Fall angesprochen. Will man den Fortschritt erkennen, der mit dem aristotelischen Mímesis-Begriff einhergeht, so muss man den platonischen Begriff mitdenken. Denn der aristotelische Mímesis-Begriff setzt sich in doppelter Weise vom Platonischen ab, wobei dieser reflektiert wird. Hinsichtlich dessen, was wir als technischen Mímesis-Begriff gefasst haben, zunächst insofern, als dass Aristoteles seine Überlegungen über den Mímesis-Begriff in der Poetik damit beginnt, eine Vielzahl von Gattungen und Kunstformen als Formen der Mímesis zu bestimmen (1447a13–16) – der Mímesis-Begriff erfährt also nahezu eine Generalisierung. Jede Form von Literatur ist nun mimetische Dichtung (auch Platonische Dialoge fallen hierunter), da sie Geschehenes repräsentiert. Ferner muss unterschieden werden bezüglich der Mittel (en hetérois), Gegenstände (hétera) und Weisen der Darstellung (hetéros), die wiederum durch Gattungsspezifika vorgegeben sind – und vice versa. Dadurch ergibt sich ein dreifaches Herangehen an Mímesis. Diese gattungspoetische Grundunterscheidung legt es nahe, Mímesis nicht als abstrakten Begriff zu setzen oder auf eine bestimmte Form/Art der Nachahmung (oder eben Darstellung) zu reduzieren, was ihn vom platonischen MímesisBegriff abgrenzt. Davon ausgehend definiert Aristoteles Mittel (Kap. 1), Gegenstände (Kap. 2) und Weisen (Kap. 3) der Mímesis. Als Mittel sind Rhythmus, Melodie und Sprache gefasst, deren sich eine Gattung zur Mímesis bedient (1447a23–27). Der Gegenstand der Nachahmung ist, wie erwähnt, immer menschliches Handeln, wobei der Charakter des handelnden Menschen im Zentrum steht: ἐπεὶ δὲ µιµοῦνται ο ἱ µιµούµενοι πράττοντας, ἀνάγκη δ ὲ τούτους ἢ σπουδαίους ἢ φαύλους εἶναι (τὰ γὰρ ἤθη σχεδὸν ἀεὶ τούτοις ἀκολουθεῖ µόνοις, κακίᾳ γὰρ καὶ ἀρετῇ τὰ ἤθη διαφέρουσι πάντες), ἤτοι βελτίονας ἢ καθ᾽ ἡµᾶς ἢ χείρονας ἢ καὶ τοιούτους [...] Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine
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dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir.25
Wesentlich ist die Tatsache, dass ein spezifischer Charakter dargestellt wird, der „ebenso“, „besser“ oder „schlechter“ ist als der Zuschauer. Nur so kann der Rezipient sich und sein Handeln in Relation zum dargestellten Charakter setzen. Und dies ist Bedingung für das Zusammenspiel von Mímesis und kátharsis. Wie Aristoteles in den Kapiteln 13–17 ausführt, gefährdet ein zu großes Abweichen von dem, was dem Zuschauer als „wahrscheinlich“ erscheint, dieses Zusammenspiel hingegen. Der Gedanke erinnert daran, was Wolfgang Iser über die Appellstruktur von Texten ausführt26: Er unterstellt, dass ein Text keine Gegenstände erschafft oder abbildet, sondern Reaktionen beschreibt, die der Leser durch seine Erfahrungen wiedererkennt, wobei die Reaktionen jedoch nie deckungsgleich sind mit den Erfahrungen. Hieraus entwickelt Iser die beiden Pole des „Banalen“ und des „Phantastischen“. Wenn keine Erfahrung beim Leser vorliegt, die mit dem Beschriebenen in Beziehung gebracht werden kann, so verweigert sich dem Leser der Zugang zum Text, er erscheint ihm als „phantastisch“. Der umgekehrte Fall liegt vor, wenn ein Leser all seine Erfahrungen im Text bestätigt findet: Der Text erscheint ihm als „banal“. Auch wenn auf der Ebene des Verstehens ein Zugang zum Text besteht, so versiegt doch das Interesse am Text, und der Zugang wird mithin ebenso vereitelt. Aus dem Interagieren von Leser, Text und Realität ergibt sich die „Leserperformanz“27. Sie ist ausschlaggebend für das Gelingen des Textes und Maßstab für dessen Wirkung. Welchen Charakter ein Dichter (was für Aristoteles das Hervorbringen von Dichtung, Musik, Tanz, Dramatik, Epik und Malerei einschließt) als Gegenstand seiner Darstellung (poíesis) wählt, bestimmt, welcher Gattung sein Werk zugerechnet wird. Die Art und Weise der Mímesis ist das dritte Unterscheidungskriterium der Darstellung: Berichten/Erzählen oder inszeniertes Handeln28; dieser _____________ 25
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Poet. 1448a1–5. Dies schlägt sich für Aristoteles gar in der Nomenklatur nieder: ὅθεν καὶ δράµατα καλεῖσθαί τινες α ὐτά φασιν, ὅτι µιµοῦνται δρῶντας. „[D]enn beide stellen Personen in Handlung und Tätigkeit dar: woher nach einigen auch die Dramen ihre Benennung erhalten haben sollen, weil sie handelnde Personen darstellen.“ (Poet. 1448a29) Iser 1970: 11f. Iser 1970: 23. Manfred Fuhrmann verweist darauf, dass Aristoteles an dieser Stelle wohl nur noch von Dramatik und Epik ausgeht, also Tanz, Musik und Malerei ausschließt (Fuhrmann 1982: 105, Anm. 1). Führt man sich die Entwicklungen in Malerei, Musik und Tanz in den vergangenen Jahren vor Augen (oder bezieht die Gattung der Ballade/des Erzählgedichts in die Überlegungen mit ein), so ist anzumerken, dass gerade die Offenheit, mit der Aristote-
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sich am Redekriterium orientierende Aspekt lässt sich, wie dargelegt wurde, bereits in der Politeia aufzeigen, wenn auch die Gegenstände hier ausgeweitet werden. Soviel zur Grundbestimmung der technischen Mímesis, die in erster Linie formal anmutet. Der Zusammenhang zwischen der Form des Dargestellten und der Gattung muss erneut festgehalten werden. Mímesis ist als gattungspoetischer Begriff zu betrachten, was an Platon anknüpft. Außerdem gilt, dass Mímesis nicht nachäfft, sondern konstruktiv aufnimmt und integriert. Das wird noch deutlicher, wenn später die mímesis práxeos und der Begriff des Mŷthos als sýstasis tôn pragmáton betrachtet werden. Ferner soll noch einmal mit aller Deutlichkeit darauf verwiesen sein, dass Mímesis die Nachahmung der Handlung eines bestimmten Charakters und von dessen Qualitäten ist. Sie ist nicht Nachahmung von Wirklichkeit oder Darstellung von Handlungen generell.29 Obwohl der Charakter im Zentrum der Nachahmung steht,30 ist es möglich, dass verschiedene Charaktere gruppiert werden können. Und doch stellt Mímesis nur einen bestimmten, konkreten Charakter dar – also Ödipus, Elektra o. a. Aber sie repräsentiert nicht den Sohn, die Tochter, den König, die Prinzessin im Sinne der Repräsentation einer Gruppe oder gar der Menschheit selber. Dieser letzte Punkt verdeutlicht auch den aristotelischen Anknüpfungspunkt am platonischen metaphysischen Mímesis-Begriff.
2. Mímesis als produktive Kraft Wie gezeigt wurde, versteht Platon im zehnten Buch der Politeia die Mímesis als Gegenbegriff zur méthexis, der Teilhabe. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass Schleiermachers Übersetzung hier, im Gegensatz zu den Passagen in Rep III, nicht mehr von „Darstellung“ sondern von „NachBildung“/„Nach-Bildnerei“ spricht und so eine klare Unterscheidung markiert. Aristoteles hingegen löst seinen Begriff der Mímesis aus diesem Problemfeld der Nachahmung von Ideen heraus, indem er das zum Gegenstand der Nachahmung macht, was sich nach den Kriterien der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit zugetragen haben könnte. Die Auswahl aus dem Feld der Handlungen nach diesen Kriterien erfolgt in der sýstasis tôn pragmáton, dem Mŷthos. _____________ 29
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les hier die Art und Weise der Mímesis fasst, als konstruktiver Anknüpfungspunkt gewertet werden sollte. Zu der Frage, welche Wirklichkeit man denn nachahmen sollte, wenn es darum ginge, Wirklichkeit nachzuahmen, siehe auch Banes 1990. Siehe hierzu auch die späteren Ausführungen zum Allgemeinen und Besonderen im Bezug auf die Historiographie.
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φανερὸν δ ὲ ἐκ τ ῶν ε ἰρηµένων κα ὶ ὅτι ο ὐ τὸ τὰ γενόµενα λέγειν, τοῦτο ποιητο ῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο κα ὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον. Was wir bisher gesagt haben macht ferner deutlich: nicht die Erzählung des Geschehenen [ist] Aufgabe des Dichters, sondern die Erzählung der Begebenheiten, wie sie geschehen sein könnten, und des Möglichen nach der Wahrscheinlichkeit (eikós) oder Notwendigkeit (anankaîon).31
Aristoteles begreift somit Mímesis stets positiv als Nachahmung, als ZurDarstellung-Bringen oder Rezipieren. Was rezipiert wird, ist immer das Ergebnis der mímesis práxeos – die mit der sýstasis tôn pragmáton parallel geführt wird (Poet. 1449b35f.), also eine Nachahmung der Handlung. Poíesis ist also (anders als in der praktischen Philosophie) nie prâxis, sondern immer nur die Vermittlung dieser. Die aristotelische Poetik als poietiké téchne ist demnach eine Beschreibung dessen, was der Dichter als Nachahmung/Repräsentation (Mímesis) als Handlung eines Charakters (prâxis) – also vermittelt! – hervorbringt (poíesis). Abhängig von der Gattung, der Fähigkeit des Dichters und den Eigenschaften des Charakters ist das Werk einzustufen: In einer Tragödie wird sich die Handlung (prâxis) oder das Schicksal des Charakters zum Schlechten wenden, eine gute Tragödie jedoch kann nur durch gute Dichtung (poíesis) entstehen – und die poíesis ist es, die der Zuschauer rezipiert, nicht die prâxis. Wie gut eine poíesis ist und welcher Gattung sie zuzuordnen ist, hängt vom Dichter und dessen Befähigung zur Mímesis ab, die aber nicht jedem in gleicher Weise gegeben ist. διεσπάσθη δὲ κατὰ τὰ οἰκεῖα ἤθη ἡ ποίησις: οἱ µὲν γὰρ σεµνότεροι τ ὰς καλὰς ἐµιµοῦντο πράξεις κα ὶ τὰς τῶν τοιούτων, ο ἱ δὲ εὐτελέστεροι τὰς τῶν φαύλων, πρ ῶτον ψόγους ποιο ῦντες, ὥσπερ ἕτεροι ὕµνους κα ὶ ἐγκώµια. Die Dichtkunst teilte sich aber nach den eigentümlichen Charakteren der Dichter in verschiedene Richtungen: denn die Ernsteren stellten edle und von edlen Personen vollbrachte Handlungen dar; die Leichtfertigen dagegen die Handlungen der Schlechten, indem sie zuerst Schmähgedichte dichteten, wie andere Hymnen und Loblieder.32
Hinzu kommt, dass die Mímesis einen „Abstand“ von der Realität schafft und so den Zuschauer vor dem wahrhaftig Geschehenen „bewahrt“. Er muss sich nicht dem Grauen stellen, sondern allein dessen Abstraktion in der Handlung. Mitleid (éleos) und Furcht (phóbos)33 werden nur mittelbar erfahren, sodass am Ende der Betrachtung von Dargestelltem nicht nur _____________ 31 32 33
Poet. 1451a36–38, Hervorh. J. S. Poet. 1448b24–28. Unabhängig davon gibt es gut gedichtete Komödien und Jamben. In diesem Gebrauch erst seit Lessing.
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die Reinigung/Läuterung34 (kátharsis) steht, sondern auch die Freude (chaírein) über das Gesehene stehen kann.35 ἃ γὰρ α ὐτὰ λυπηρῶς ὁρῶµεν, τούτων τ ὰς ε ἰκόνας τ ὰς µάλιστα ἠκριβωµένας χαίροµεν θεωρο ῦντες, ο ἷον θηρίων τε µορφ ὰς τ ῶν ἀτιµοτάτων κα ὶ νεκρῶν. α ἴτιον δ ὲ καὶ τούτου, ὅτι µανθάνειν ο ὐ µόνον το ῖς φιλοσόφοις ἥδιστον ἀλλὰ καὶ τοῖς ἄλλοις ὁµοίως, ἀλλ᾽ ἐπὶ βραχὺ κοινωνοῦσιν αὐτοῦ. [D]enn von Dingen, deren Anblick in der Natur uns unangenehme Empfindungen erregt, sehen wir die genauesten Abbildungen mit Freuden, z. B. die Gestalten der hässlichsten Tiere und Leichname. Die Ursache hierfür ist, daß das Lernen nicht nur den Philosophen ein großes Vergnügen bereitet, sondern in ähnlicher Weise allen Menschen, auch wenn diese weniger Freude daran haben.36
Ist diese in aller Kürze dargelegte Definition von Mímesis der Poetik problemlos zu entnehmen, so ist es zugleich interessant, zu beleuchten, wie mit dem Begriff seither verfahren wurde. So wird Mímesis weitgehend mit Nachahmung übersetzt37, was dem Begriff eine ebenso negative wie – im Kontext der Poetik betrachtet – zu kurz greifende Konnotation gibt: Wer nachahmt, der tut „etwas in Eigenart, Verhalten o. Ä. möglichst genauso […] wie ein anderer“, er „äfft nach“, „imitiert“, „kopiert“ oder „parodiert“ gar – potenziell immerhin „eifrig bemüh[t], es jmdm. gleichzutun“.38 Das kann zu Teilen in die richtige Richtung weisen und lässt zumindest das Moment der konstruktiven Darstellung erahnen, die über den Gegenstand des Nachgeahmten hinausweist und die das Wort etymologisch vorzeichnet. Denn das mittelhochdeutsche Verb āmen bedeutet zunächst „[aus]messen“ und die Präfixbildung somit ursprünglich „nachmessen, nachmessend einrichten oder gestalten“39. Das Grimmsche Wörterbuch notiert zum Lemma „nachahmen, imitari“: „die sinnliche bedeutung 'nachvisieren, nachmessen' ging über in die abstracte 'nach maszgabe, nach einem vorbilde, muster ähnlich darstellen', wobei das vorbild eine person _____________ 34
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Darüber, wie kátharsis übersetzt werden sollte (als medizinische, also physische, Reinigung oder als religiös motivierte, psychologische), gehen die Meinungen weit auseinander, ebenso verhält es sich mit der Frage, ob der Effekt, der durch die kátharsis erreicht wird, dauerhafter oder vorübergehender Natur ist. Vgl. u. a. Belfiore 1992: 257–360 und noch immer Bernays 1857, die die Möglichkeiten gegeneinander abwägen. Ist die Lust am Vorgeführten geweckt, so tritt die kathartische, belehrende Wirkung hinzu. Ähnliches findet sich zum Beispiel bei Lessing im Briefwechsel über das Trauerspiel, wo er sich gegen Corneilles Ansicht, nur Positives dürfe dargestellt werden, absetzt und von der Bedeutung der „gemischten Gefühle“ schreibt. Poet. 1448b10–15. Vgl.: Pape 1914, Rost//Palm 1841, einzig Gemoll 1954 führt auch „Darstellung“ als Alternative auf. Liddel//Scott 1889 führen neben “to imitate” auch “representation by means of art” und “representation, portrait” an. Duden 32002a: „nachahmen“. Duden 32002b.
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(d. h. deren werke, handlungen, sitten, art und weise) oder eine sache und demgemäsz die nachbildende darstellung sinnlicher oder geistiger art sein kann“. Sodann wird vor allem Lessing angeführt: LESSING 6, 388; wenn indesz dichter und künstler diejenigen gegenstände, die sie miteinander gemein haben, nicht selten aus dem nehmlichen gesichtspunkte betrachten müssen: so kann es nicht fehlen, dasz ihre nachahmungen nicht in vielen stücken übereinstimmen sollten, ohne dasz zwischen ihnen selbst die geringste nachahmung oder beeiferung gewesen. 6, 421; das vergnügen über die nachahmung, als nachahmung, ist eigentlich das vergnügen über die geschicklichkeit des künstlers. 12, 78, s. auch unter nachahmen 3, a; vor allem, was man poetische nachahmung nennt, habe ich grosze hochachtung.
Je nachdem, für welchen Gebrauch des Wortes man sich entscheidet, sei es von Nachahmung im Sinne des Nachäffens oder im Sinne der Repräsentation oder Darstellung, es ist immer eine Kontextualisierung impliziert und, je nach Verständnis des Terminus, eine weitreichende Verortung im Feld der Ästhetik und auch der Ethik.40 Wie Jürgen H. Petersen in seinem Aufsatz „‚Mimesis’ versus ‚Nachahmung’“ zu bedenken gibt, „steht und fällt“41 mit dem Terminus der Zugang zum aristotelischen Text als poetologischem. Doch ist diese Einschätzung sicherlich mit Vorsicht zu genießen, hängt der Zugang doch primär ab vom Verständnis des Wortes und der Verortung desselben im jeweiligen Feld der poetologischen Forschung. Kurzum, eine alternative Benennung löst das Problem nur marginal, auch wenn sie helfen kann, einen anderen Blick auf den Gegenstand zu erlangen. Aristoteles schreibt an anderer Stelle, es sei wichtig, den genauen Ausdruck für jede Sache zu suchen. Wichtiger aber sei es, zu prüfen, wie es sich mit der Sache verhalte. δεῖ µὲν ο ὖν σκοπε ῖν κα ὶ τὸ πῶς δε ῖ λέγειν περ ὶ ἕκαστον, ο ὐ µὴν µᾶλλόν γε ἢ τὸ πῶς ἔχει: Man muß nun zwar auch untersuchen, wie man sich über jede Sache auszudrücken hat, indessen doch nicht so sehr, als wie es sich mit der Sache verhält.42
Soll das Konzept der aristotelischen Mímesis über die Literaturgeschichtsschreibung hinaus fruchtbar gemacht werden, so muss es durch eine Reflexion über das Konzept der Nachahmung von seiner anscheinend restriktiven Konnotation befreit werden. Denn wie Arbogast Schmitt festhält, steht die aristotelische Poetik […] für eine Form des Literatur-, ja des Kunstverständnisses im allgemeinen, das bereits seit der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts als überwunden, seit der endgültigen ‚Abkehr vom Gegenstand’ im Expressionismus des beginnenden 20.
_____________ 40
41 42
Inwiefern diese Verortungen einander bestimmen können und gar müssen, wenn man die Poetik richtig interpretieren will, wird später näher thematisiert werden. Petersen 1992: 4. Met. G, 1030a27f.
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Jahrhunderts aber als eine der Moderne grundsätzlich nicht mehr zugängliche Möglichkeit gilt.43
Die Problematik, die die Verwendung des Begriffs „Nachahmung“ in sich birgt, erschließt sich, wenn man Mímesis als wirklichkeitsgetreue Darstellung des empirisch-faktischen Kontextes verstanden wissen will44: Über den Realismusstreit hinaus kann er dann nicht produktiv verwendet werden. Für die Moderne scheint Mímesis damit sogar zur radikalen Antipode des individuellen Produktionsprozesses von Dichtung als Leistung des Subjekts zu werden, und sie stünde der l’art pour l’art radikal entgegen45. Doch widerstrebt diese Lesart dem, was Aristoteles in der Poetik über Mímesis schreibt. Radikal könnte man gar formulieren, dass der Mímesis-Begriff Aristoteles’ vielmehr so weit reicht, dass er gerade für die Literatur der Moderne und auch für die heutige Literaturwissenschaft noch immer als zentral gelten kann – ja, muss. Denn Mímesis in der Poetik ist alles andere als kopieren oder nachäffen. Sie zielt darauf ab, durch die kátharsis eine – wie dauerhafte auch immer – Veränderung im Leser bewirken. Bedenkt man diese Intention, so wird deutlich, dass das Individuum keineswegs in den Hintergrund tritt. Dies verdankt sich auch dem, was der Begriff der Mímesis in seiner anthropologischen Herleitung (vgl. Poet. 1448b 5–12) impliziert: dass Mímesis dem Menschen angeboren ist (was als produktionsästhetisches Moment der Herleitung gefasst werden kann). Es bereitet daher dem Menschen Freude (chaírein), etwas (wieder) zu erkennen und, von ihm ausgehend, Schlüsse zu ziehen (was als rezeptionsästhetisches Moment gefasst werden kann). _____________ 43 44
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Schmitt 2003: 184. Aufschlussreich ist hier, dass Platon die Natur als nachgeahmt Nachahmendes fasst (u. a. Tim 38 und 47b/c, Phaid. 252c/d, 253b, Nom. 713e, Krat. 389b), dem es gelingt, Mímesis positiv durchzuführen resp. positive Repräsentation zu sein. Der Gedanke, dass Dichtung Nachahmung von Natur ist, findet sich produktiv gedacht im Neuplatonismus bei Plotin und wird als solcher von Goethe für dessen ästhetische Überlegungen herangezogen. Plotin kommt Aristoteles (Poet. 1451a37) sehr nah, wenn er schreibt: „Achtet aber einer die Künste gering, weil sie in ihrem Schaffen die Natur nachahmen, so ist darauf erstens zu sagen, daß auch die Natur anderes nachahmt. Sodann muß man wissen, daß die Künste das Geschehene nicht schlechtweg nachahmen, sondern sie steigen hinauf zu den rationalen [i. S. v. differenzierend erkennbaren, J. S.] Formen [lógoi], aus denen die Natur kommt [i. S. v. Struktur bezogen oder Gestalt gewonnen hat, J. S.]. Ferner schaffen die Künste auch vieles aus sich selber, ja, wem etwas mangelt, dem fügen sie es hinzu, da sie im Besitz der Schönheit sind. So hat auch Phidias den Zeus gebildet nicht nach einem sinnliche Vorbild, sondern indem er ihn so nahm, wie Zeus sich darstellen würde, ließe er sich herbei, vor unseren Augen zu erscheinen.“ Plotin Enn. V 8, 1, 32-40, ferner ders. Enn. III 8, 2, 27 ff. Zur Entwicklung des Begriffes vor dem Hintergrund der ästhetischen Debatten vgl. Wilcox 1953, der deutlich macht, dass der Begriff in seiner ursprünglichen Verwendung sehr wohl über das Feld der Kunst als selbstbezüglichem Gegenstand hinausweisend gedacht wurde.
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διὰ γὰρ το ῦτο χαίρουσι τ ὰς ε ἰκόνας ὁρῶντες, ὅτι συµβαίνει θεωροῦντας µανθάνειν κα ὶ συλλογίζεσθαι τί ἕκαστον, ο ἷον ὅτι οὗτος ἐκεῖνος: ἐπεὶ ἐὰν µὴ τύχῃ προεωρακώς, οὐχ ᾗ µίµηµα ποιήσει τὴν ἡδονὴν ἀλλὰ διὰ τὴν ἀπεργασίαν ἢ τὴν χροι ὰν ἢ διὰ τοιαύτην τινὰ ἄλλην αἰτίαν. Denn das Sehen der Bilder macht ihnen darum Freude, weil sie bei deren Betrachtung lernen und erfahren, was jedes ist, z. B. „dies ist jener“: denn wenn der Beschauer den Gegenstand nicht vorher gesehen hat, so wird ihm der Gegenstand der Darstellung nicht als solcher, sondern durch die Ausführung oder durch die Farbe oder durch sonst eine Ursache der Art Vergnügen erregen.46
Duplizieren oder „Nachäffen“ ist also nicht intendiert, vielmehr geht es um eine Anbindung an die Erfahrung durch Nachahmung und um ein Wiedererkennen von vorher Erfahrenem. Anders gesagt, um das reflexive Herstellen eines Zusammenhangs zwischen Darstellung und Dargestelltem vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung. Mímesis soll daher für das weitere Vorhaben wie folgt umrissen werden: Ihr wohnt – neben ihrer pädagogischen Funktion – immer ein autoritativer Charakter des „Alten“, der Tradition inne. Mit Aristoteles gesprochen, handelt es sich beim Akt der Mímesis weniger um eine „Nachäffung“ als um eine Form der Aktualisierung der Traditionen und bekannter Handlungsmuster. Sie treten durch die Mímesis und die Rezeption (die wiederum mimetisch funktioniert) in unser Leben und können so in unseren Alltag eingebracht werden. Gegenstand des dritten Hauptteils der Untersuchung ist die Frage, inwiefern die Ebenen des Gegenstandes der Nachahmung, das Zur-Darstellung-Bringen und die Erfassung des Nachgeahmten, durch die Mímesis aufeinander bezogen werden können. Dann wird Paul Ricœurs Mímesis-Zirkel eingeführt, wie er sich in Zeit und Erzählung entwickelt findet. Doch auch schon bei der Darlegung und Interpretation des aristotelischen Mŷthos-Begriffs wird deutlich, dass diese Bezugsverhältnisse schon bei ihm angelegt sind – eben dann, wenn man den Mŷthos als facettenartig begreift, der mímesis práxeos und ἀρχὴ µὲν οὖν καὶ οἷον ψυχὴ (Poet. 1450a38) eben nicht nur der Tragödie ist. Bevor eine Annäherung an den aristotelischen Begriff von Mŷthos und dessen Zusammenwirken mit Mímesis aufgezeigt wird, soll zunächst die Frage erläutert werden, wie der Mŷthos produziert wird und, vom Akt der Produktion her betrachtet, im Verhältnis zu Früherem und Späterem steht. Hierbei wird der Mŷthos unter drei verschiedenen Aspekten beleuchtet: a. Grunddefinition des Begriffs als sýstasis tôn pragmáton; b. erweiterte Grunddefinition als sýstasis tôn pragmáton, die mit der mímesis práxeos enggeführt wird; _____________ 46
Poet. 1448b 15–20.
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c. der Sonderfall polýmythoi und dessen Bedeutung. Anschließend soll dann die systematische Funktion des Mŷthos als Methode, wie sie mit Aristoteles gedacht werden kann, dargestellt werden. Die Leitfrage ist dabei, inwiefern die strukturellen und kompositorischen Aspekte des Mŷthos bei Aristoteles für den Gedanken der Vermittlung, Systematisierung und Verknüpfung fruchtbar gemacht werden können, die Text, Produktion und Rezeption in ein Verhältnis setzen. Deutlich werden soll, wie der Mŷthos diese Trias strukturell bereichert. Dabei steht sodann die Leitfrage im Vordergrund, inwiefern ein Mŷthos, auch mit Aristoteles gelesen, seine Zeit und ihre Gegebenheiten repräsentiert. Denn dies ist die Prämisse, in deren Konsequenz wir begreifen, dass Ausformungen „gesammelt“ werden müssen, dass diese Sammlung jedoch gleich einem Archiv zum Aufspüren einzelner Momente der Entwicklung offensteht. Dies bedeutet, dass mit Hans-Georg Gadamer von einem „Pantheon“, jedoch einem des Mŷthos gesprochen werden kann: So wird hier die „Tat eines geschichtlich sich sammelnden und versammelnden Geistes“47 in den Mŷthos und dessen Entwicklungen durch den Prozess der Mythopoese verlegt. Über die Interpretation des Mŷthos als sýstasis tôn pragmáton hinaus, die im Terminus „Plot“ oder „Fabel“ Eingang in die Literaturwissenschaft gefunden hat, soll zudem die Bestimmung des Mŷthos als mímesis práxeos – also der Nachahmung von Handlung – konstruktiv gemacht werden. Hierbei ist zu zeigen, dass dem Mŷthos selber eine dynamische Struktur innewohnt. Ferner spielt die weitere Verwendung des Terminus Mŷthos in der Poetik eine bislang nicht ausreichend reflektierte Rolle bei der Repräsentation von Möglichkeiten. So bemerkt Aristoteles über das Epos, es sei polýmython, bestehe also aus vielen Mŷthoi, was es erlaubt, dem systematischen Aspekt des Mŷthos einen inhaltlichen beizuordnen. Somit sind die drei Hauptlesarten des Mŷthos in der Poetik benannt. Sie sollen nun an sich und in ihrem Verhältnis zueinander vorgestellt werden.
3. Die Komposition und das Wesen der Handlung Aristoteles betont in den Kapiteln 7–12 der Poetik, wie eine Darstellung von (tragischer) Handlung komponiert sein muss. Diese Definition folgt der genetischen Definition der Tragödie in Kapitel 4 der Poetik, aus der sich auch die Entwicklung der Formen der Mímesis herleiten lässt. Ihre Erweiterung erfährt diese am Ende von Kapitel 6, wo die Tragödie wie folgt gefasst wird: _____________ 47
Gadamer 61990: 102.
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ἔστιν ο ὖν τραγ ῳδία µίµησις πράξεως σπουδαίας κα ὶ τελείας µέγεθος ἐχούσης, ἡδυσµένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστῳ τῶν ε ἰδῶν ἐν το ῖς µορίοις, δρώντων καὶ οὐ δι᾽ ἀπαγγελίας, δι᾽ ἐλέου κα ὶ φόβου περαίνουσα τ ὴν τῶν τοιούτων παθηµάτων κάθαρσιν. Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.48
Diese „Normaldefinition“49 der Tragödie führt jene Momente ins Feld, die zuvor schon als essenziell für den Begriff der Mímesis gefasst wurden: Handlungen sollen dargestellt werden, indem Handelnde nachgeahmt werden. Mímesis ist gerichtet auf eben diese Nachahmung und ist somit mímesis práxeos. Ferner wird das Moment der konstruktiven Nachahmung deutlich, wenn davon die Rede ist, dass durch das Evozieren von Jammer (éleos) und Schauder (phóbos) der Zuschauer von diesen befreit werden soll (kátharsis)50. Eine Nachahmung also, die – wie bereits angemerkt – sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch Gewicht hat51 und die sich in ihrer Ausführung deutlich an den zuvor (Poet. 1446b–1447a) gefassten formalen Kriterien orientiert. Für Aristoteles ist in der Poetik die Tragödie die maßgebliche Kunstform. Er grenzt sie später vom Epos ab und kündigt dies auch für die Komödie an.52 Ferner zieht er immer wieder Vergleiche mit der Malerei _____________ 48 49
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52
Poet. 1449b24–29. Diese Passage wird in Kommentaren gemeinhin als Normaldefinition oder Grundbestimmung gefasst, vgl. Halliwell, Schmitt, Fuhrmann, Golden, Else, Höffe u. a. Inwiefern dieses „Befreien“ als dauerhaft gedacht werden kann, diskutiert auch Bernays 1857 in seiner noch immer wegweisenden und sehr umfassenden Analyse der kátharsis. Den Zusammenhang zur Mímesis unter Berücksichtigung der platonischen Begriffe von Mímesis und kátharsis stellt Golden 1969 im Feld der damaligen Diskussion vor. Die medizinischen Aspekte, die durch den Gedanken des Befreitwerdens von einem Gefühl durch die Konfrontation mit demselben tangiert werden, analysiert Belfiore 1992 ausführlich, zwar in erster Linie im Werk von Aristoteles selber, aber auch hinsichtlich der Bedeutung der katharsis in der Antike generell. Dies ist ein Aspekt, der in der weiteren Auseinandersetzung mit Mímesis und Mŷthos präsent bleibt, wenn mit Paul Ricœur der Mímesis-Zirkel eingeführt werden wird, der von einer Fortschreibung der Mímesis durch die Rezeption ausgeht. Dies jedoch ist auch bei Aristoteles Bedingung dafür, das éleos und phóbos möglich sind. Die gesonderten Betrachtungen über die Komödie fehlen, was dem Umstand geschuldet ist, dass die Poetik wohl lediglich als Fragment überliefert ist. „Wohl“, weil es sich um einen „Indizienbeweis“ handelt. Fest steht nur, dass es sich um ein Vorlesungsskript handelt, das nach dem Schriftenverzeichnis von Diogenes Laërtius aus zwei Büchern bestand (vgl. Diogenes Laërtius: V 1, 21–24). Demnach fehlen die Ausführungen zur Komödie (vgl. Fuhrmann 1982, Nachwort): Zu Beginn des 6. Kapitels der Poetik verweist Aristoteles darauf, es solle neben der Tragödie und dem Epos auch die Komödie behandelt werden, ferner fin-
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und der Tonkunst, die allesamt Formen der Mímesis sind. Weder Malerei noch Tonkunst sind für die vorliegende Untersuchung von Relevanz, sie betrachtet bei der Frage nach dem Mŷthos lediglich Epos und Tragödie näher. Wichtig ist es, festzustellen, dass die einzelnen Ausformungen der Mímesis – und auch die Arten der Nachahmung – zwar deutliche Unterschiede aufweisen, die Rede vom Mŷthos jedoch keine eigene Kunst- oder gar Textform impliziert. Aristoteles zieht allerdings die Tragödie heran, um eine bestimmte Form der Nachahmung zu bestimmen. So nähert er sich der Beschreibung des Mŷthos auf dem Weg über die Mímesis, indem er nach der Qualität und Kohärenz der auf der Bühne gezeigten Handlungen fragt: κεῖται δ ὴ ἡµῖν τ ὴν τραγ ῳδίαν τελείας κα ὶ ὅλης πράξεως ε ἶναι µίµησιν ἐχούσης τι µέγεθος: ἔστιν γ ὰρ ὅλον κα ὶ µηδὲν ἔχον µέγεθος. ὅλον δέ ἐστιν τὸ ἔχον ἀρχὴν καὶ µέσον καὶ τελευτήν. ἀρχὴ δέ ἐστιν ὃ αὐτὸ µὲν µὴ ἐξ ἀνάγκης µετ᾽ ἄλλο ἐστίν, µετ᾽ ἐκεῖνο δ ᾽ ἕτερον πέφυκεν ε ἶναι ἢ γίνεσθαι: τελευτ ὴ δὲ τοὐναντίον ὃ αὐτὸ µὲν µετ᾽ ἄλλο πέφυκεν ε ἶναι ἢ ἐξ ἀνάγκης ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, µετὰ δὲ τοῦτο ἄλλο ο ὐδέν: µέσον δ ὲ ὃ καὶ αὐτὸ µετ᾽ ἄλλο κα ὶ µετ᾽ ἐκεῖνο ἕτερον. δε ῖ ἄρα το ὺς συνεστ ῶτας ε ὖ µύθους µήθ᾽ ὁπόθεν ἔτυχεν ἄρχεσθαι µήθ᾽ ὅπου ἔτυχε τελευτ ᾶν, ἀλλὰ κεχρῆσθαι τα ῖς εἰρηµέναις ἰδέαις. Wir haben festgestellt, daß die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte Größe. Ganz aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang ist, was selbst notwendigerweise nicht nach etwas anderem ist, nach dem aber ein anderes ist oder entsteht. Ende aber ist im Gegenteil das, was selbst nach einem anderen ist, entweder durch Notwendigkeit oder in den meisten Fällen; nach ihm aber folgt nichts anderes. Mitte53 ist, was selbst nach einem anderen folgt und nach ihm ein anderes. Gut zusammengesetzte Mythen
_____________
53
den sich in der Rhetorik I, II und III, 18 Verweise auf die Behandlung des Lächerlichen in der Poetik (Umberto Eco räumt diesen „verlorenen Kapiteln“ in Der Name der Rose eine zentrale Rolle ein. Ein Spiel, das sich bereits in der selbstreferenziellen Überschrift zu Beginn ankündigt: „Naturalmente, un manoscritto“ („Natürlich, eine alte Handschrift“) Eco 1980/82). Als mögliches „zweites Buch“ oder „Kommentar“ wird immer wieder der Tractatus Coislinianus ins Feld geführt, zuletzt besonders von Richard Janko 1984: Aristotle on comedy: towards a reconstruction of Poetics II. Zur Forschungslage hierzu vgl. Schrier 1998, zur Relation zu den anderen Schriften über Dichtung des Aristoteles ferner überblicksartig Flashar 2013: Kap.6, „Grundlagen“. Für den Fragmentcharakter spricht ferner die mit vier Kapiteln recht kurze Auseinandersetzung mit dem Epos, wobei dies laut Höffe dem Umstand geschuldet ist, dass das Epos bereits in den Ausführungen zur Tragödie immer wieder in den Fokus rückt (Höffe 2009: 15). „meta“ ist hier auch als „Mittelndes“ zu verstehen. Das, was in der Mitte ist, vermittelt zwischen dem Anfang, der vorläufig ist und aus dem sich die Mitte ergibt, und dem Ende, das sich wiederum aus der Mitte logisch erschließt.
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dürfen also weder einen zufälligen Anfang noch ein zufälliges Ende haben, sondern müssen nach den angegebenen Ideen eingerichtet sein.54
Ferner ist die Reihenfolge und Zahl der Teile bei einem Mŷthos nicht veränderbar, wie Aristoteles betont (Poet. 1451a35). Mŷthos ist also zum einen spezifisches und zum anderen individuelles inneres Maß der Gestaltung einer Tragödie. Sowohl hinsichtlich der Einheit als auch der Abgeschlossenheit und der Größe (mégêthos) des Mŷthos bezieht Aristoteles hier die Kriterien aus der Parallelsetzung mit dem Lebewesen (zôon) und der damit einhergehenden Orientierung am Schönen: ἔτι δ ᾽ ἐπεὶ τὸ καλὸν κα ὶ ζῷον κα ὶ ἅπαν πρ ᾶγµα ὃ συνέστηκεν ἐκ τινῶν ο ὐ µόνον τα ῦτα τεταγµένα δε ῖ ἔχειν ἀλλὰ καὶ µέγεθος ὑπάρχειν µὴ τὸ τυχόν: τὸ γὰρ καλὸν ἐν µεγέθει καὶ τάξει ἐστίν, διὸ οὔτε πάµµικρον ἄν τι γένοιτο καλ ὸν ζ ῷον (συγχεῖται γ ὰρ ἡ θεωρία ἐγγὺς τοῦ ἀναισθήτου χρόνου γινοµένη) οὔτε παµµέγεθες (οὐ γὰρ ἅµα ἡ θεωρία γίνεται ἀλλ᾽ οἴχεται το ῖς θεωρο ῦσι τ ὸ ἓν καὶ τὸ ὅλον ἐκ τ ῆς θεωρίας ) οἷον ε ἰ µυρίων σταδίων ε ἴη ζ ῷον: ὥστε δε ῖ καθάπερ ἐπὶ τῶν σωµάτων κα ὶ ἐπὶ τῶν ζ ῴων ἔχειν µὲν µέγεθος, τοῦτο δὲ εὐσύνοπτον εἶναι, οὕτω καὶ ἐπὶ τῶν µύθων ἔχειν µὲν µῆκος, τοῦτο δὲ εὐµνηµόνευτον εἶναι. Ferner, da [besser: insofern J. S.55] das Schöne, sei es ein lebendiges Wesen oder irgend etwas sonst, aus gewissen Teilen besteht, so muss es diese nicht nur in fester Ordnung, sondern auch eine gewisse, nicht vom Zufall gegebene Größe haben. Denn das Schöne besteht in der Größe und Ordnung: deswegen kann auch ein ganz kleines Tier nicht schön sein. Denn wenn die Betrachtung beinahe in unbemerkbarer Zeit geschieht, so vermischt sich darin die Unterscheidung. Ebenso wenig aber ein ganz großes Tier; denn dabei geschieht die Betrachtung nicht auf einmal, sondern die Einheit und das Ganze verschwindet dem Betrachtenden bei der Betrachtung: z. B. wenn ein Tier 10 000 Stadien lang wäre. Wenn daher Körper und Tiere eine Größe haben, diese aber leicht übersehbar sein muss, so müssen auch die Mythen eine Länge haben, die aber leicht im Gedächtnis behalten werden kann.56
Eine Tragödie, deren zentraler Bestandteil der Mŷthos ist, kann also nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie – analog zu der Beobachtung von Lebewesen – als ein Ganzes überblickt werden kann, aber ihre Teile zugleich dem Betrachter dennoch offenbar werden. Für die weiteren Überlegungen sollen folgende Aspekte hervorgehoben werden: Zum einen wird durch die Analogisierung zum Lebewesen deutlich, dass die Definition des Mŷthos als sýstasis tôn pragmáton nicht nur für die Dichtung gilt, sondern dass Aristoteles sie als ein generelles Ordnungsprinzip fasst. Zum anderen ist das Kriterium für die richtige Länge _____________ 54 55 56
Poet. 1451 a24–34. Dies implizierte sonst, dass das Schöne immer aus Teilen bestünde, was nicht haltbar wäre. Poet. 1450b34–1451a6.
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des Mŷthos hier auch, dass er „leicht im Gedächtnis behalten werden kann“. Dies ist Bedingung seiner Erschließbarkeit, woraus eine inhaltliche Komponente gefolgert werden kann. Das wird auch offenbar, wenn Aristoteles fortfährt und eben jene Mŷthoi in ihrem Umfang als besonders geeignet beschreibt, die durch einen Umschlag (metabolé) vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück den Zuschauer in das Geschehen hineinziehen und so die kathartische Wirkung der Tragödie freisetzen.57 Es ist nun deutlich geworden, dass die beim Betrachter hervorgerufene Wirkung, mithin also der Rezeptionsakt der Mímesis, über die Qualität eines Mŷthos entscheidet. Denn dem Akt der Mímesis ist es zu verdanken, wenn das Wesentliche einer Handlung und einer Handlungssituation vom Moment der Repräsentation zu einem der Präsenz überführt wird. Die durch die Mímesis spezifisch erzeugte Präsenz verlangt als Kriterium nach einem gelungenen Mŷthos. Er ist das Hauptelement einer guten Tragödie.58 Und Mímesis ist dabei nicht auf die Wirklichkeit oder auf Wahres gerichtet, sondern auf das, was wahrscheinlich ist. Somit geht es beim Mŷthos selbst als Gegenstand der Mímesis auch nicht um Wahres, sondern um Wahrscheinliches, nicht um Wirkliches, sondern um Allgemeingültiges.59 Obwohl der Konnex zum Wirklichen durch die Mímesis erreicht werden kann, wie unter anderen Richard Kannicht betont hat: Dramatische wie narrative Dichtung ist also kraft des Mythos Mimesis von Handlungen und von Leben (und ist als solche rezipierbar), sofern und indem sie Mimesis der Wirklichkeitsstruktur möglicher Handlungen ist.60
4. Die doppelte Bestimmung des Mŷthos als mímesis práxeos und sýstasis tôn pragmáton ἔστιν δ ὲ τῆς µὲν πράξεως ὁ µῦθος ἡ µίµησις, λέγω γ ὰρ µῦθον τοῦτον τὴν σύνθεσιν τῶν πραγµάτων Die Nachahmung von Handlung ist der Mŷthos. Ich verstehe hier unter Mŷthos die Zusammensetzung der Geschehnisse.61
Der Mŷthos wird zu Beginn dieses Abschnitts als mímesis práxeos gefasst, also als Darstellung von Handlung. Es wurde bereits angesprochen, dass hieran die Gerichtetheit (eben auf Handlungen) der Mímesis deutlich wird. _____________ 57 58 59
60 61
Vgl. Poet. 1451a7ff. Vgl. Poet. 1450a. Vgl. hierzu auch Zimmermann 2008: 7–9, der zwischen Wahrem, Allgemeingültigem und deren Bedeutung für die Literatur differenziert. Ferner die Ausführungen zur Historiographie in der vorliegenden Untersuchung. Kannicht 1976: 334. Poet. 1450a4f.
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Im folgenden Satz heißt es sodann, er sei Zusammensetzung (sýnthesis/sýstasis) von Handlungen (tôn pragmáton). Wie sind diese Aussagen in ihrem unmittelbaren Aufeinanderfolgen nun einzuordnen? Handlung war bisher als Gegenstandsbereich der Mímesis gefasst worden – nun jedoch wird Handlung ebenso zu einem des Mŷthos. Wenn man mag in einem doppelten Sinne: zum einen hinsichtlich des Moments der Nachahmung (Mímesis) von Handlung (práxeos), zum anderen hinsichtlich der Ordnung (sýstasis) derselben. Handlungen selber können also nie per se zur Darstellung gelangen, sondern lediglich über die Darstellung desjenigen, der sie ausführt: des Handelnden. Nachgeahmt wird dessen „Charakter“ (êthos) und seine „Erkenntnisfähigkeit“ (diánoia)62, in denen wiederum die Geschicke („Glück oder Unglück“) und so mithin die Handlung vorgezeichnet sind (Vgl. Poet. 1448). Nicht jedoch nur aktual vollzogene „Eigenschaften“ des Handelnden sind Gegenstand, sondern es wird vielmehr deren Möglichkeit mit einbezogen. Möglichkeit ist hierbei jedoch als Vermögen aus sich heraus verstanden. In einem Schematismus gefasst, also im Sinne von Aussagen wie „Für x ist es möglich zu ...“ oder auch „x kann ...“, wobei an die Stelle der Auslassung ein Infinitiv aktiv oder passiv tritt. Denn nur diese Form der Möglichkeit kann zu einer Realisierung und damit einer Überführung in die Wirklichkeit und in Handeln führen, was hinsichtlich des Mŷthos später als „Wahrscheinlichkeit“ gefasst wird.63 Wie geht man also mit dieser doppelten Bestimmung von Mŷthos um, die zwar durch den Begriff der Handlung geeint ist, hierzu jedoch zwei verschiedene Termini führt? Der eine Begriff von Handlung ist der der prâxis, der zusammen mit dem der Mímesis im Sinne der mímesis práxeos geführt wird. Der andere der des prâgma, wie er sich in der sýstasis tôn pragmáton als Zusammenfügung, im Sinne der Konkatenation, von Handlungen findet. Zwar haben beide Begriffe denselben Ursprung, aber es bestehen Unterschiede, die bereits mit einem Blick in ein Wörterbuch geklärt werden können. Passow notiert unter dem Lemma prâgma: _____________ 62
63
Êthos bezeichnet hier das Wesen des einzelnen Menschen, diánoia seine Erkenntnisfähigkeit. Die Begriffe entsprechen den ethischen und dianoetischen Tugenden, wie Aristoteles sie in der Nikomachischen Ethik (1,1013 und besonders 6,1140) als wesensbestimmend für das Handeln des Menschen aufzeigt – dies legt eine Lesart nahe, in der die Poetik als ethische Schrift behandelt wird, die ästhetische Muster nutzt. Aufschlussreich sind die unterschiedlichen Bedingungen von Möglichkeit: Platon setzt die Überfülle von Möglichkeit (dýnamis tôn pánton) vor die Wirklichkeit. All das, was Möglichkeit hat, kann Wirklichkeit werden/sein. Aristoteles und die Scholastik hingegen sehen die Wirklichkeit als Bedingung der Möglichkeit. Nur das, was de facto existiert, kann also Möglichkeit in sich bergen, und wiederum bedarf es dann einer Wirklichkeit, damit Möglichkeit real werden kann: der Gedanke „die Welt als Bedingung der Möglichkeit“. In der Scholastik wird dagegen von einem doppelten Wirklichkeits- und Möglichkeitsbegriff ausgegangen, die einander in einer logischen und ontologischen Verknüpfung bedingen.
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das Betriebene, Bewerkstelligte, Ausgerichtete, Volbrachte, das Gethane, die That, fascinus, das concrete Resultat des prassein [sic! Also in der ionischaltattischen Form; man erwartete eher prattein, J. S.] in seinem Vorhandenseyn an einem Subjecte, während prâxis die That als abstracten Begriff und an u. für sich nicht gerade an einem Subjecte bezeichnet.64
Will man diese Definition von Passow65 instruktiv lesen, so erscheint es zunächst probat, „Subject“ hier nicht im Sinne des modernen Subjektbegriffs zu lesen, sondern im Sinne des lat. subiectum (bzw. subjektum), also als substantiviertes Partizip Perfekt Passiv von subicere: unter etwas werfen, legen, setzen, stellen – „Zugrunde-Liegendes“. Hierbei handelt es sich um eine Lehnübersetzung des griechischen hypokeímenon, mit dem Aristoteles das Allem Sein Zugrundeliegende (Substanz) fasst und das sich sowohl auf Stoff und Materie beziehen lässt, wie auf das konkrete Einzelwesen und auf Denkinhalte, d. h. die Wesensform einer Sache.66 Höffes Aristoteles-Lexikon führt zum prâgma aus, dass neben der Bedeutung von „Sache, Gegenstand, Ding, Sachverhalt“ dem Plural pragmata in der Poetik eine Sonderstellung zukommt. Nämlich insofern, als dass hier die Geschehnisse meint, deren „Zusammenstellung den Plot einer erzählten Handlung (praxis) ausmacht.“67 Noch deutlicher findet sich die Besonderheit des Plurals in den Ausführungen Richard Jankos hervorgehoben, der im Glossar zwischen „incidents“ (pragmata) und „action“ (prâxis) unterscheidet. Zu den pragmata heißt es dort: This is literally the “things done”, with more emphasis on on ACTION than the English word has. It differs from praxis, however, since the latter means “action” viewed as a process, and not as an outcome. The PLOT is the CONSTRUCTION of the incidents […]68
Berücksichtigt man dies, so ergibt sich hinsichtlich des prâxis-Begriffs an dieser Stelle eine gravierende Einschränkung, die es nahe legt, ihn mehr als Handeln denn als Handlung zu fassen, die ohne jedwede Reflexion im Feld der éthe oder diánoia stattfindet. Diese Aspekte treten erst hinzu, wenn der Aktor handelt, dem (vgl. 1449b) êthos und diánoia innewohnen. Prâxis selber ist zum Beispiel der Akt des Tötens. Zu einem Tyrannenmord, einem _____________ 64 65
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Passow 1852: „prâgma“. Ähnlich Liddell/Scott 1889: deed, act, the concrete of prâxis, but freq. approaching to the abstract sense […] occurrence, matter, affair […] thing, concrete reality Aristoteles hat einen – mindestens doppelten – Begriff des hypokeímenon: Zum einen als logisch-grammatisches Subjekt aller Prädikationen (Cat. 5, Met. D8, Z1), zum anderen das Subjekt „als Substrat sublunarer Bewegungen“ (Fonfara 2003: 76), wie es sich in Phys. I, 7 beschrieben findet. Erstgenannter kann erneut aufgegliedert werden, woraus sich dann weitere Lesarten ergeben, was Volkmann-Schluck 1979 bezüglich der Referenzen in der Metaphysik zeigt. „pragma“, in: Höffe 2005, Hervorhebung J. S. Es ist bemerkenswert, dass hier zwischen Handlung und erzählter Handlung unterschieden wird – diese wäre eigentlich der Mŷthos! Janko 1987: 211. Hervorhebungen in kursiver Type J. S., Versalien im Original.
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Märtyrertod oder einem Mord wird dieser Akt erst unter Hinzunahme der Beweggründe und der Haltung des Handelnden69 – und seiner Potenzialität. Dies bedeutet, dass hier von einer Situationsethik ausgegangen werden muss und nicht von einer Regel- oder Ordnungsethik. Der Begriff des Handelns im Sinne der prâxis wird daher zusammen mit dem der Mímesis als mímesis práxeos geführt. Prâxis ist, zusammen mit dem Machen (poíesis) und dem Erkennen (theoría), einer der Grundakte, in denen sich das Wesen des Menschen verwirklichen kann.70 Das Handeln (prâxis) ist dabei untrennbar mit dem Moment der hedoné verknüpft, über die das Subjekt sich konstituiert, nach der es strebt – ausgehend von der in Situationen gewonnenen Erkenntnis. Und ganz ähnlich dem Akt der Intentionalität findet auch hier ein Streben nach zukünftiger hedoné statt. Das eigentliche Hervorbringen (poíesis) ist ein Nach-Außen-Wenden des Subjekts, das auf hedoné nach „objektiven“ Maßstäben gerichtet ist, also dem produzierenden Subjekt nicht zwingend Lust bereiten muss – das also nicht notwendig mit dem télos des Machens vollends verknüpft sein muss. Der Gegenstand der Dichtung (die ja Darstellung einer Handlung ist, also poíesis) besteht somit im Handeln selber, das sich an Charakteren zeitigt – die Dichtung jedoch ist nicht Handeln, und es ist auch nicht das Handeln, worauf sie unmittelbar abzielt. Vielmehr ist Dichtung eine Form der Darstellung, die zu Erkenntnis (theoría) führen soll71. Hinsichtlich dessen, was Aristoteles für den Mŷthos bemerkt, wäre dann prâgma das Resultat der prâxis, sofern sie von einem Handelnden ausgeführt ist, der den Kriterien von êthos und diánoia genügt. Dieses Resultat wird wiederum ins Aktive überführt, wenn die Mímesis auf den Plan tritt und diese pragmata als Handlung darstellt. Bereits bei Aristoteles liegen mehrere Ebenen der Mímesis vor, die einander bedingen: Die sýstasis tôn pragmáton geschieht in einem Akt der Mímesis und ist zugleich eine mímesis práxeos, der sodann mit der Rezeption ein weiterer Akt zur Seite gestellt wird. Dies kann be_____________ 69
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Vgl. hierzu auch Joachim 1955: 91: “The mere prâxis – the external movements resulting in a man’s death – is morally colourless, the material equally, for example, of legitimate selfdefense, heroic patriotism, or murder.” Vgl. Met. E, 1025b18–26, K, 1064a16–b6, ferner EN 6, 1140a1ff. Platon entwickelt eine ähnliche Aufgliederung in Charm. 161b–167a, ausgehend von der Forderung Kritias’, der Mensch müsse seinem Wesen und seiner Individualität nach „das Seine tun“ (tà heautoû práttein): Das wird als eine der Definitionen der sophrosýne ins Feld geführt. Dieser wird dann die Formulierung „das Hervorbringen der guten Werke“ tèn gàr tôn agathôn prâxin (163d) entgegengesetzt und so schließlich bei der Definition von sophrosýne als „Selbsterkenntnis“ tò gignóskein heautón (164d) dem nahe kommen, was hier auch Aristoteles als intentionales Moment der Dichtung intendiert – als Akt, in dem sich Mímesis zeitigt. Vgl. zu dieser Trias auch die umfassende Darstellung Arbogast Schmitts, die mit den Vorurteilen eines Verständnisses der Dichtung als theoría hinsichtlich der Fragen der Fiktionalität aufräumt: Schmitt 2008: 92–116. Ferner wurde dieser Aspekt bereits in den Bemerkungen zur Mímesis ausgeführt.
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reits als Vorgriff auf das gefasst werden, was Paul Ricœur in Zeit und Erzählung als Mímesis-Zirkel einführt: die Überführung von Handlungen durch Ordnung (Ricœur spricht von Präfiguration und Konfiguration) in Text, der wiederum dem Leser/Zuschauer zur Rezeption bereitsteht, die erneut als mimetischer Akt gefasst wird. Bereits in La métaphore vive konstatiert Paul Ricœur: Le rapport entre Mŷthos et Mímesis doit être lu dans les deux sens : si la tragédie n’atteint son effet de Mímesis que par l’invention du Mŷthos, le Mŷthos est au service de la Mímesis et de son caractère foncièrement dénotatif; Das Verhältnis zwischen Mŷthos und Mímesis muß in beide Richtungen gedeutet werden: wenn die Tragödie ihre Mímesiswirkung nur durch die Erfindung des Mŷthos erzielt, so steht umgekehrt der Mŷthos im Dienste der Mímesis und ihres zutiefst denotativen Charakters;72
Dass die Tragödie ihre Mímesis-Wirkung der Erfindung des Mŷthos verdankt, liegt auf der Hand: Der Mŷthos wird als der zentrale Bestandteil der Tragödie (und auch des Epos) gefasst, und die Qualität seiner Komposition entscheidet mithin über den Erfolg einer Tragödie. Doch ließe sich auch der Umkehrschluss aufzeigen, was abschließend geschehen soll. Mit Aristoteles lässt sich im Vorgriff auf Ricœurs Mímesis-Zirkel aus Temps et récit folgendes differenzierendes Modell des Zusammenwirkens von Mímesis und Mŷthos entwickeln, wie es sich aus der doppelten Mŷthos-Bestimmung ergibt. (Vgl. Abb. 2) Anzumerken ist, dass über allem die Handlung im Sinne des lebensweltlichen Handelns steht, wie es bereits angesprochen wurde. Die Stufen mímesis práxeos, pragmata und sýstasis tôn pragmáton befassen sich mit Mímesis im Sinn der poíesis, die zu einem Werk führt. In diesem ist Handlung dargestellte Handlung, eine Auswahl, die aufgrund der Zuordnung zu einem Charakter eine ethische Komponente gewinnt. Anders73 verhält es sich im Fall der Mímesis der Rezeption, also dem, was in dem oben angeführten Zitat Ricœurs wohl dem „effet de Mímesis“, der „Mímesis-Wirkung“, gleichkäme: Diese endet nicht im Werk, sondern in einer Einsicht, theoría. Also in der Form, die gewissermaßen die „Urform“ der Mímesis meint, wie man sie an Kindern beobachten kann und wie sie zuvor als „anthropologische Bestimmung“ gefasst wurde. Sie geht mit Affekten, Leidenschaft und Gemütsbewegung _____________ 72
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Ricœur 1975/1986: 308/235. Das Französische wird hier zitiert, da es in seiner Aussage deutlich klarer ist als eine Übersetzung es leisten könnte. Diese Differenzierung spart Ricœur in seinem Modell leider vollends aus. Für ihn ist Mímesis immer im Sinne der Mímesis práxeos, die er heranzieht um Mímesis zu fassen, als ein Akt der poíesis verstanden. Eine Reflexion der ethischen Aspekte von Handlung im Licht der aristotelischen Bergriffe von Mímesis und Mŷthos findet sich erst in Soi-même comme un autre (hier besonders in der sechsten Abhandlung, Ricœur 22005: 187f.).
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Abb. 2
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einher, und in ihr ist der Akt der kátharsis zu verorten, der wiederum zur diánoia führt, die dann Bedingung für ein „geläutertes“ Handeln ist – womit sich auch dieser Zirkel schlösse.
5. Das Wahrscheinliche, das Mögliche und die Grenze zwischen Mŷthos und Historiographie Folgt man Aristoteles, so ist es die Aufgabe der Dichtung, herauszustellen, wie ein Mensch wegen seines bestimmten Charakters mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit etwas Bestimmtes tut oder sagt. Diese Kategorien werden in Abgrenzung zur Historiographie eingeführt: φανερὸν δ ὲ ἐκ τ ῶν ε ἰρηµένων κα ὶ ὅτι ο ὐ τὸ τὰ γενόµενα λέγειν, τοῦτο ποιητο ῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο κα ὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον. ὁ γὰρ ἱστορικὸς κα ὶ ὁ ποιητὴς ο ὐ τῷ ἢ ἔµµετρα λέγειν ἢ ἄµετρα δ ιαφέρουσιν (εἴη γ ὰρ ἂν τ ὰ Ἡροδότου ε ἰς µέτρα τεθ ῆναι κα ὶ οὐδὲν ἧττον ἂν ε ἴη ἱστορία τις µετὰ µέτρου ἢ ἄνευ µέτρων): ἀλλὰ τούτῳ διαφέρει, τ ῷ τὸν µὲν τ ὰ γενόµενα λέγειν, τὸν δὲ οἷα ἂν γένοιτο. διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν: ἡ µὲν γ ὰρ ποίησις µ ᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ᾽ ἱστορία τὰ καθ᾽ ἕκαστον λέγει. ἔστιν δὲ καθόλου µέν, τ ῷ ποίῳ τὰ ποῖα ἄττα συµβαίνει λέγειν ἢ πράττειν κατ ὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον, ο ὗ στοχάζεται ἡ ποίησις ὀνόµατα ἐπιτιθεµένη: τ ὸ δὲ καθ᾽ ἕκαστον, τί Ἀλκιβιάδης ἔπραξεν ἢ τί ἔπαθεν. Aus dem Gesagten74 ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß der eine in Versen und der andere in Prosa schreibt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut. […] Das Besondere besteht in Fragen wie: Was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen.75
Diese Differenzierung zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung mag aus heutiger Perspektive etwas befremdlich anmuten. Denn Aristoteles stellt der Geschichtsschreibung mit dem Besonderen jene Prädikation an _____________ 74
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Hiermit bezieht sich Aristoteles auf die Kapitel 7 und 8, in denen ausgeführt wurde, dass das wirklich Geschehene zumeist kein geschlossenes und einheitliches Ganzes ist. Poet. 1451a36–b10.
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die Seite, die wir heute zur Charakteristik eines literarischen Textes anführen würden. Hingegen ordnet er der Dichtung das Allgemeine zu. Es scheint daher sinnvoll, die Frage nach dem Allgemeinen (kathólou oder eindeutiger kath’ hólou) zuerst zu klären. Das Allgemeine, das hier gemeint ist, ist der Charakter (also diánoia und êthos, das Vermögen). Die Teile dieses Allgemeinen (kata méros) sind die Handlungen und Reden, die sich aus dem Charakter selber ergeben. Dies bedeutet also keinesfalls, dass Dichtung „alles“ darstellt, es bedeutet vielmehr, dass Dichtung etwas so darstellt, dass es sich aus dem Gesamten erschließen lässt.76 Die Dichtung bringt also nicht Typen, Idealtypen oder gar das „allgemein Menschliche“ zur Darstellung, sondern immer nur einzelne Ausformungen der „Idee Mensch“.77 Sie stellt das Individuum als Instanz des Allgemeinen dar, das sich in seinen Reden und Handlungen widerspiegelt und es so repräsentiert. Auf diese Weise bewahrt sie die dargestellte Handlung vor Beliebigkeit. Die Geschichte hingegen muss das Besondere (kath’ hékaston) darstellen – das Einzelne. Jedoch kann sie (gemeinhin) nicht auf ein Allgemeines rekurrieren, dem dieses Besondere entspränge. Geschichte ist facettenreich, sie unterliegt nicht einem einzelnen, ordnenden Prinzip (hier ist der Kollektivsingular wichtig, wie ihn Reinhard Koselleck78 eingeführt hat). Die Chronologie ordnet in der Regel Geschichte, also eine gesetzte Größe. In der Geschichte passiert zu vieles, das nicht zu einem bestimmten Charakter gehört oder notwendig aus seinem bisherigen Handeln folgt. Ein einzelner Mensch tut in seinem Leben viele verschiedene Dinge, die sich mitunter auch widersprechen. Eine Einheit der Handlung, die den Charakter repräsentierte, besteht daher nicht zwingend (vgl. Poet. 1451a16–19). Die Zahl der Nebenschauplätze ist enorm, und was Nebenschauplatz ist, unterliegt nur selten objektiven Kriterien. Das Geschehen (im Sinne der einfachen prâxis, wie sie zuvor bestimmt worden war) ist _____________ 76 77
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Vgl. hierzu bereits die Ausführungen zur Mímesis. Die „Idee Mensch“ selber wäre zu umfangreich um sie darzustellen, doch macht das Gedankenspiel deutlich, was das Allgemeine meint: Die Idee Mensch umfasst alle Seinsmöglichkeiten des Menschen, alle möglichen (im Sinne der dýnamis tôn pánton) Ausformungen des Menschen. Sie kann nur vereinzelt, in Instanzen dargestellt werden. Wird sie in Instanzen zerlegt und dargestellt, so resultiert dies genau in dem, was Aristoteles hier intendiert: Charaktere als das Allgemeine ihrer einzelnen Handlungen und ihrer Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Frage Plotins in anderem Licht, ob es eine Idee von einem einzelnen Menschen, zum Beispiel Sokrates gäbe: „Gibt es eine Form des Individuums? Nun: Wenn es für mich und jeden Einzelnen die Zurückführung auf das geistig Erkennbare gibt, dann ist der Ursprung jedes Einzelnen dort.” (Enn. V 7 [18],1,1-3). Und doch zeitigt sich in ihm die Idee Mensch als Allgemeines seiner Handlungen, da er ihr seine Wesensbestimmtheit verdankt. Er „verweist“ also auf die Idee, an der er teilhat (méthexis). Koselleck 1979b: 50, Anm. 31.
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allein noch nicht repräsentativ für einen Charakter. Der Dichter muss daraus eine Auswahl treffen, Charakteristika sondieren, die das Allgemeine deutlich machen (vgl. Poet. 1460a5–11), und so die Einheit einer Handlung vorantreiben – der Akt der mímesis práxeos und das Generieren der sýstasis tôn pragmáton: Mŷthos. Erst im Akt der Mímesis und durch die sýstasis tôn pragmáton können somit die Potenziale eines Charakters über die Beschreibung der speziellen Handlung hinaus in den Raum des Aktualen überführt werden. Diese Überführung soll sich Aristoteles zufolge nach den Kategorien der Wirklichkeit und der Möglichkeit richten, sodass eine Beziehung zum Allgemeinen deutlich wird. Es soll also nicht etwas dargestellt werden, dessen Erfahrbarkeit im lebensweltlichen Erfahrungsraum – und dieser ist durchaus im Sinne von Schütz zu fassen79 – bereits notwendig gegeben oder als solche bewusst zuhanden sein muss. Vielmehr ist der Raum des Möglichen das, was zur Darstellung und darüber zur Verwirklichung gebracht werden soll. Dies kann durch die Erschaffung einer Wirklichkeit im Akt der Dichtung geschehen oder auch durch das Hervorheben einzelner Momente innerhalb der bereits vorhandenen „Wirklichkeit“. Der Möglichkeitsraum wird dabei vom Menschen (als Individuum) vorgegeben, was bedeutet, dass eine Begrenzung des Möglichen durch die Parameter selber gegeben ist, die der jeweilige Mensch aufgrund seines Charakters vorgibt. Denn die Handlung soll den Kriterien der Wahrscheinlichkeit genügen, was Bedingung dafür ist, dass sie vom Rezipienten als glaubhaft aufgenommen wird. Aufgrund des zuvor ausgeführten Gedankens des Zusammenspiels von Mímesis und Mŷthos ergibt sich hieraus jedoch auch, dass eben das, was in der Tragödie dargestellt wird, mit der Überführung durch die Mímesis in den Bereich des Aktualisierten als möglich _____________ 79
Schütz schreibt von „Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den – in der natürlichen Einstellung verharrenden – Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit“, die er als „alltägliche Lebenswelt“ fasst. Weiter heißt es: „Sie ist der Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren.“ Hier findet sich also ein „mundaner“ und nicht als „transzendental apriorischer“ entwickelter Begriff, wodurch eine sozialwissenschaftliche Komponente hinzukommt. Das scheint für das weitere Vorhaben der Arbeit eine sinnvolle Annahme zu sein, gilt es doch, die Vermittlung eben dieser Momente mittels des Mŷthos aufzuzeigen. Sprondel et al. 1979: 25. Hierzu später eingehender in Abschnitt III.
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gilt (Poet. 1451b16–19); und zwar nicht nur formallogisch.80 Arbogast Schmitt merkt hierzu an: Indem sie [die Dichtung; J. S.] zu diesem Potential [des Charakters; J. S.] eine dazugehörige Wirklichkeit erschafft oder durch aufmerksame Auswahl aus dem „wirklichen“ Leben aussondert und aufnimmt, ist die Dichtung nicht nur rückwärtsgewandte Darstellung von schon Vorhandenem. Sie ist vielmehr gerade dadurch schöpferisch und macht auf Ungewohntes und Ungesehenes aufmerksam oder bringt es überhaupt erst zur Verwirklichung.81
Für die weitere Untersuchung ist hervorzuheben, dass Geschichte sich keineswegs lediglich auf das Einzelne bezieht: Weder kann man der Geschichtsschreibung – und das gilt bereits für ihre Vertreter in der Antike82 – absprechen, dass sie es nicht auch vollbrächte, das Allgemeine einer Handlung hervorzuheben. Noch kann man der Geschichte selber absprechen, dass sich in ihr sinnhafte Kausalzusammenhänge finden ließen, die nicht Zeugnis allgemeiner Tendenzen – also Charakteristika – wären. Doch ist die Herausbildung der Charakteristika noch stärker Aufgabe des Dichters als des Historiographen, da Letzterer sich an die Fakten halten und folglich auch das berichten muss, was nicht unmittelbar aus der Einheit eines Charakters hervorgeht. Daher liegt es zugleich auf der Hand, dass das Allgemeine und das Einzelne nicht so streng getrennt werden können83, wie es zunächst scheint. Dies bedeutet, dass es Parallelen zwischen den Feldern der Historiographie und der Dichtung gibt. Sie werden uns später bei Ricœur begegnen, wenn es um die „überkreuzte Spur“ gehen wird. Ricœur gesteht im Gegensatz zu Aristoteles auch der Geschichtsschreibung die mimetische Darstellung zu, wenn er schreibt: Der Phantasiecharakter der Tätigkeiten, die die Spur schematisieren und dadurch zu einer Vermittlungsinstanz machen, wird deutlich sichtbar in den gedanklichen Bemühungen, die mit der Interpretation eines Überbleibsels, eines Fossils, einer Ruine, eines Museumsstücks oder eines Monuments einhergehen: zu einer Spur,
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Dies wird deutlich, wenn man sich moderne Science-Fiction-Literatur vergegenwärtigt. Ob es nun Triumph oder Untergang dieser Literatur ist, dass nicht wahllos alles unmöglich ist, ließe sich diskutieren. Schmitt 2008: 119. Dieser Gedanke tritt – wenn auch in radikalerer Form – bei Ricœur wieder auf, wenn es darum geht, ausgehend vom Akt der Rezeption/Refiguration Rezipiertes in den Bereich des Handelns (zurück) zu überführen und dann wieder als Grundlage für weitere Bearbeitungen zu nutzen. Das, was dargestellt und somit „verwirklicht“ oder in den Raum des Aktualen überführt wurde, steht sodann als „Wirkliches“ der weiteren poetologischen Bearbeitung offen – womit sich der Zirkel schließt. Zoepffel 1975 und Söffing 1981 nennen in diesem Zusammenhang Herodot und Thukydides. Dass das Allgemeine dem Einzelnen immanent ist, wird unter anderem in Met. Z4 bes. 1029b13f deutlich, vgl. ferner hierzu Schmitt 2008: 387f.
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das heißt zu einer Wirkung und einem Zeichen zumal, werden sie nur, wenn man sich den Lebenszusammenhang vorstellt [se figurer J. S.].84
Bereits Thukydides deutet den Gedanken an, dass auch der Historiker nicht nur auf objektive Fakten rekurrieren kann, wenn das Bild eines vergangenen Ereignisses möglichst so entworfen werden soll, dass es dem Rezipienten zugänglich wird ἐκ δὲ τῶν εἰρηµένων τεκµηρίων ὅµως τοιαῦτα ἄν τις νοµίζων µάλιστα ἃ διῆλθον οὐχ ἁµαρτάνοι, καὶ οὔτε ὡς ποιηταὶ ὑµνήκασι περὶ αὐτῶν ἐπὶ τὸ µεῖζον κοσµο ῦντες µᾶλλον πιστεύων, ο ὔτε ὡς λογογράφοι ξυνέθεσαν ἐπὶ τὸ προσαγωγότερον τῇ ἀκροάσει ἢ ἀληθέστερον [...] καὶ ὅσα µὲν λόγ ῳ εἶπον ἕκαστοι ἢ µέλλοντες πολεµ ήσειν ἢ ἐν α ὐτῷ ἤδη ὄντες, χαλεπὸν τὴν ἀκρίβειαν αὐτὴν τῶν λεχθέντων διαµνηµονεῦσαι [...] ὡς δ ᾽ ἂν ἐδόκουν ἐµοὶ ἕκαστοι περ ὶ τῶν α ἰεὶ παρόντων τ ὰ δέοντα µάλιστ᾽ εἰπεῖν, ἐχοµένῳ ὅτι ἐγγύτατα τ ῆς ξυµπάσης γνώµης τ ῶν ἀληθῶς λεχθέντων, οὕτως εἴρηται. Trotz alledem wird man nicht fehlgreifen, wenn man nach den vorgelegten Beweisen sich die Verhältnisse etwa so vorstellt, wie ich sie vorgetragen habe. Die Dichter haben darüber gesungen, indem sie diese Dinge vergrößert haben, die Logographen aber haben mehr gefragt, was für den Zuhörer anziehend, als was der Wahrheit gemäß wäre […] Was nun die betreffenden Personen in Worten aussprachen, entweder als sie im Begriff standen, den Krieg zu unternehmen, oder als sie sich bereits in ihm befanden, davon war es unmöglich, das Gesagte mit wörtlicher Genauigkeit im Gedächtnis festzuhalten […] Daher habe ich die betreffenden Personen so sprechen lassen, wie ich es für die jeweilige Lage am angemessensten hielt, und habe mich dabei möglichst eng an den wesentlichen Inhalt des wirklich Gesprochenen angeschlossen.85
6. Haploûs, diploûs und peplegménos Bevor zum Epos übergegangen werden kann, soll ein weiteres Moment ins Feld geführt werden, das an die Struktur des Mŷthos und dessen Ausformung im Sinne der Proportion und Ordnung anknüpft: die aristotelische Differenzierung zwischen verschiedenen Strukturen des Mŷthos als haploûs, diploûs und peplegménos. Hier wird erneut deutlich, wie zentral die Kriterien von Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit sind. Ist dies hinsichtlich der Rezeption bereits mehrfach betont worden, so kann es hier hinsichtlich der Struktur und des Aufbaus des Mŷthos noch einmal transparent gemacht werden. Ferner soll gefragt werden, wie der aristotelische Mŷthos-Begriff im Gefüge der Narratologie verortet werden kann. _____________ 84 85
Ricœur 1991: 299. Thukydides, I,21–22.
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Die genannten Begriffe sind recht schwierig zu fassen. Vor allem die Differenzierung zwischen haploûs und diploûs wird nicht selten in Kommentaren ausgespart86, erscheint aber für das weitere Vorgehen dennoch von Bedeutung. Die Problematik ergibt sich nach meinem Dafürhalten daraus, dass Aristoteles die Termini nicht durchgehend gleich verwendet. Die wohl am meisten diskutierte Passage findet sich in Kapitel 9: τῶν δ ὲ ἁπλῶν µύθων κα ὶ πράξεων α ἱ ἐπεισοδιώδεις ε ἰσὶν χείρισται: λέγω δ ᾽ ἐπεισοδιώδη µῦθον ἐν ᾧ τὰ ἐπεισόδια µετ᾽ ἄλληλα ο ὔτ᾽ εἰκὸς ο ὔτ᾽ ἀνάγκη ε ἶναι. τοια ῦται δ ὲ ποιοῦνται ὑπὸ µὲν τῶν φαύλων ποιητ ῶν δι᾽ αὐτούς, ὑπὸ δὲ τῶν ἀγαθῶν διὰ τοὺς ὑποκριτάς: ἀγωνίσµατα γ ὰρ ποιο ῦντες κα ὶ παρὰ τὴν δύναµιν παρατείνοντες τ ὸν µῦθον πολλάκις διαστρέφειν ἀναγκάζονται τ ὸ ἐφεξῆς. Unter den einfachen Mythen und Handlungen sind die episodischen die schlechtesten. Ich bezeichne die Fabel als episodisch, in der die Episoden weder nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit aufeinanderfolgen. Solche Handlungen werden von den schlechten Dichtern aus eigenem Unvermögen gedichtet, von den guten aber durch Anforderungen der Schauspieler. Denn wenn sie Deklamationen dichten und die Fabel über ihre Wirkungsmöglichkeiten hinaus in die Länge ziehen, dann sind sie oft gezwungen, den Zusammenhang zu zerreißen.87
Hier wird – anders als zum Beispiel Fuhrmann annimmt – keineswegs die Frage thematisiert, ob ein Mŷthos zergliedert werden darf. Vielmehr wird die Bedingtheit der Teile voneinander angesprochen, wie Else und Gudeman ausführen.88 Schmitt fügt dem hinzu, dass es nicht um die Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit im Sinne der komponierten Folge gehe, sondern um die „Wahrscheinlichkeit, mit der ein Mensch von bestimmtem Charakter, wenn er bestimmte Entscheidungen getroffen hat, ihr gemäß zuerst dies und dann jenes sagt oder tut.“89 Die Diskussion über die Handhabung des Begriffes haploûs greift folgende Aspekte auf: Aristoteles hat bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht von haploûs im Sinne von „einfachen Mythen“ gesprochen, denen ein Vergleichs- oder Oppositionsmoment zur Seite gestellt wäre (dies erfolgt erst später mit peplegménos [Kap. 10] resp. diploûs [Kap. 13]). Daher wird diese _____________ 86
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Söffing 1981: 69, hier ist von Aussparung die Rede. Halliwell 1998 thematisiert die Differenzierung zwischen haploûs und diploûs gar nicht, ebenso in weiten Teilen Horn 1988. Schmitt 2008 geht – wie viele Interpreten – auf haploûs im Hinblick auf die Passage in Kapitel 9 der Poetik ein, wo der Begriff hinsichtlich der episodischen Darstellung thematisiert wird. Poet. 1451b32–36. Else 1957: 324ff. und Gudeman 1934: 214ff. Schmitt 2008: 399. Hier wird einmal mehr der Schwerpunkt deutlich, den Schmidt in seiner Interpretation setzt, nämlich das Zusammenwirken von Handlung und Handelndem – eine Handlung ist immer die Handlung eines bestimmten Charakters.
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Passage zumeist so interpretiert, dass es sich hier um eine Ungenauigkeit von Aristoteles handelt (der Überlieferung oder dem Charakter des Vorlesungsskripts geschuldet), die entweder begrifflicher90 oder struktureller91 Natur sei. Wäre die Ungenauigkeit struktureller Natur, dann müssten „einfache“ Mŷthoi bereits an dieser Stelle als Antithese zu peplegménos (also Mŷthoi mit Perepetien und Anagnorisis) gefasst werden. Dies hieße jedoch auch, dass der Fehler des episodischen Dichtens auf „einfache Mythen“ beschränkt wäre – und in der Tat wird diese Lesart später nicht wieder aufgenommen, wenn es Aristoteles um die Differenzierung von haploûs und peplegménos oder diploûs geht. Diese Lesart erscheint somit unwahrscheinlich. Zumal Aristoteles doch als generelles Kriterium des Mŷthos anführt, dass alle seine Teile in einem solchen Verhältnis zueinander stehen müssten, dass keines umgestellt werden könne, ohne dass der Sinn des Mŷthos gefährdet sei (Poet. 1451a30–35). Eine Lesart als haploûs spräche also in letzter Instanz dem „einfachen Mŷthos“ ab, ein „funktionierender“ Mŷthos zu sein, was nicht haltbar ist, wie durch die folgenden Ausführungen deutlich werden soll. Zu Beginn von Kapitel 10 differenziert Aristoteles zwischen Mŷthoi hinsichtlich ihrer Struktur wie folgt: εἰσὶ δὲ τῶν µύθων ο ἱ µὲν ἁπλοῖ οἱ δὲ πεπλεγµένοι: κα ὶ γὰρ α ἱ πράξεις ὧν µιµήσεις ο ἱ µῦθοί ε ἰσιν ὑπάρχουσιν εὐθὺς ο ὖσαι τοιαῦται. λέγω δ ὲ ἁπλῆν µὲν πρ ᾶξιν ἧς γινοµένης ὥσπερ ὥρισται συνεχοῦς κα ὶ µιᾶς ἄνευ περιπετείας ἢ ἀναγνωρισµοῦ ἡ µετάβασις γίνεται, πεπλεγµένην δ ὲ ἐξ ἧς µετὰ ἀναγνωρισµοῦ ἢ περιπετείας ἢ ἀµφοῖν ἡ µετάβασίς ἐστιν. τα ῦτα δ ὲ δεῖ γίνεσθαι ἐξ α ὐτῆς τ ῆς συστάσεως τοῦ µύθου, ὥστε ἐκ τῶν προγεγενηµένων συµβαίνειν ἢ ἐξ ἀνάγκης ἢ κατὰ τὸ εἰκὸς γίγνεσθαι ταῦτα: διαφέρει γὰρ πολὺ τὸ γίγνεσθαι τάδε διὰ τάδε ἢ µετὰ τάδε. Einige der Mythen sind einfach, andere verwickelt. Denn die Handlungen, deren Darstellung die Mythen sind, sind ebenfalls von dieser Art. Einfach nenne ich die Handlung, welche, wie bestimmt wurde, in ununterbrochener Einheit sich zuträgt, so dass der Übergang ohne Peripetie oder Erkennungsszene geschieht. Verwickelt aber nenne ich die, bei welcher der Übergang mit einer Erkennungs-
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Sehr eindrücklich hierzu Schmitt 2008: 400. Schmitt argumentiert über die Überlieferung und das Fehlen des Wortes „einfach“ im Arabischen im 10. Jahrhundert. Daher liege es nahe, dass in der Passage nicht von haploûs, sondern von haplos (grundsätzlich, schlechterdings) die Rede sei, und er übersetzt die Passage wie folgt: „Daher sind grundsätzlich von Mythen und Handlungen diejenigen am schlechtesten, die episodisch sind.“ Horn geht zum Beispiel davon aus, dass Aristoteles hier einen Vorgriff auf Kapitel 10 leistet, dies sich aber wahrscheinlich aus einer Umstellung – ob durch Aristoteles selber oder im Rahmen der Überlieferung, lässt er offen – ergeben hätte, haploûs hier also als „einfach“ im Sinne der danach eingeführten Opposition zu peplegménos verhalten müsse. (Vgl. Horn 1988)
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szene oder mit einer Peripetie oder mit beidem geschieht. Diese müssen aber aus der Zusammenstellung des Mŷthos selbst hervorgehen, so dass es sich aus dem zuvor Geschehenen ergibt, daß sie entweder notwendiger- oder wahrscheinlicherweise geschehen. Denn es ist ein großer Unterschied, ob dies durch dies oder nach diesem geschieht.92
Demnach gibt es einfache (haploûs) und verwickelte (peplegménos) Mŷthoi, die in einem antithetischen Verhältnis zueinander stehen. Dies jedoch widerspricht (scheinbar) der dann in Kapitel 13 folgenden Passage, wo es heißt: ἀνάγκη ἄρα τ ὸν καλ ῶς ἔχοντα µῦθον ἁπλοῦν ε ἶναι µᾶλλον ἢ διπλοῦν Notwendig also muss der wohl eingerichtete Mŷthos eher einfach, als, wie einige sagen, doppelt sein.93
Hier steht haploûs in Opposition zu diploûs. Zuvor (Kapitel 10) war die einfache Handlung als jene definiert worden, in der sich der Übergang vom Glück zum Unglück (der umgekehrte Fall kommt in der Tragödie nicht vor, vgl. Poet. 1453a14f. und passim) ohne Peripetie oder Anagnorisis vollzieht. Dadurch unterscheidet sie sich von der komplexen Handlung. Nun differenziert Aristoteles aber zwischen einfacher und doppelter Handlungsstruktur. Dies wiederum legt nahe, dass mit haploûs nicht in beiden Fällen das Gleiche gemeint sein kann, auch wenn er jeweils auf die Konzeption der Handlung bezieht. Aristoteles räumt, wie bereits angeführt (ferner Poet. 1452b30ff.), der komplexen (peplegménos) Handlung den Vorrang vor dem einfachen (haploûs) Mŷthos ein. Im direkten Vergleich aber ist dieser dem doppelten (diploûs) Mŷthos überlegen. Demnach liegt es nahe, haploûs als „einsträngig“ und diploûs als „zweisträngig“ zu fassen. Der einsträngige Verlauf mündet in einem einfachen Ausgang (als Beispiel führt Aristoteles den Ödipus an, Poet. 1453a11–15), ein doppelter Ausgang hingegen findet sich in der Odyssee (Poet. 1453a32), in der zwei Handlungslinien mit verschiedenen „Ausgängen“ parallel geführt werden. Und hier findet sich auch der umgekehrte Fall des Übergangs vom Unglück zum Glück, der der Erwartung des Publikums an das Epos als einer Gattung der „happy endings“ Rechnung trägt (vgl. Poet. 1453a30). Die einsträngige Handlung verfolgt ihr Ziel auf direkterem Weg, sie ist daher der zweisträngigen Handlung überlegen.94 _____________ 92 93 94
Poet. 1452a11–21. Poet. 1453a12. Hierzu ist es aufschlussreich, die Kritik Aristoteles’ am Ausgang der Odyssee (Poet. 1453a35 ff.) präsent zu halten – gerade auch vor dem Hintergrund des überbordenden Lobes, das Aristoteles Euripides als tragischstem Dichter mit einem Talent für „unglückliche Enden“ entgegenbringt (Poet. 1453a25 ff.). Zu einer Analyse der Kapitel 13 und 14 der Poetik hin-
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Nun versteht Aristoteles sowohl Ödipus als auch Odyssee als charakteristisch für den komplexen (peplegménos) Mŷthos (Poet. 1452a32f. u. 1459b14f.). Daher liegt es nahe, haploûs und diploûs als zwei Ausformungen unter dem Überbegriff peplegménos zu fassen. Dies wiederum bedeutete einen doppelten Gebrauch von haploûs, und zwar dahin gehend differenzierend, dass der in Kapitel 10 angeführte Gebrauch sich als „Ausformung des Mŷthos“ (mit und ohne Peripetie) fassen ließe, wogegen in Kapitel 13 der „Handlungsverlauf“ (einfach oder doppelt) gemeint wäre. Mit Blick auf die Passage in Kapitel 9 (Poet. 1451b34f.) und die Beschreibung des episodischen Mŷthos als unzulänglichstem ist Schmitt beizupflichten, dass haploûs mit größter Wahrscheinlichkeit eine Fehlübertragung ist, die mit Susemihl zu ändern wäre. Es ist schlichtweg (haplôs) der episodische Mŷthos, der – in letzter Instanz – nicht als Mŷthos nach den bisherigen Kriterien gefasst werden kann. Zumal mit dem Verweis auf das Episodische nicht das Zergliedern eines Mŷthos thematisiert wird, sondern die Frage bedacht ist, wie die Teile aufeinander folgen nach den Kriterien eines Verhältnisses von Ursache und Wirkung, wie es sich aus den Charakteren der Handelnden ergibt. Jedwede andere Lesart würde das aristotelische Mŷthos-Konzept in Frage stellen! Für die nun folgende Betrachtung des Epos ist der Aspekt relevant, dass peplegménos als übergreifende Kategorie gefasst werden muss, die eben durch haploûs und diploûs eine Binnendifferenzierung erfährt. Und zwar dahin gehend, dass diploûs explizit als Kategorie eines epischen Handlungsverlaufs herausgestellt wurde. Dies fügt der Frage nach dem polýmython eine weitere Perspektive hinzu, auf die ich in Kürze zu sprechen kommen werde. Zuvor soll jedoch aus den Differenzierungen, die in der Begriffstrias vorgenommen wurden, eine kurze Überlegung folgen, die zum Abschluss dieses Teils noch einmal aufgegriffen werden wird. Sie befasst sich damit, wie der doppelte haploûs-Begriff und sein Verhältnis zu diploûs und peplegménos zu denken sind und welche Konsequenz hieraus für den Mŷthos-Begriff des Aristoteles zu ziehen ist. Geht man also davon aus, dass die erste Verwendung von haploûs (Kap. 9) ein Übertragungsfehler ist, so bleiben zwei weitere Verwendungen des Begriffs, die nicht gleichbedeutend sind. Wie gezeigt wurde, verhalten sich haploûs mŷthos (Kap. 10) und haploûs mŷthos (Kap. 13) – porphyrianisch gesprochen – zum Genus Mŷthos einmal als Genus II und einmal als Species. Die Differenzierung erfolgt über den Begriff peplegménos. Ein einsträngiger (haploûs/Kap. 13) Mŷthos kann demnach mit und ohne Peripetie und Anagnorisis erzählt werden. Beide Begriffe von haploûs be_____________ sichtlich der Handlungsführung siehe Söffing 1981: 33–35, auch wenn dieser, wie bereits erwähnt, die Differenzierungen insgesamt aus seiner Betrachtung „ausklammern“ will (ibid.: 69).
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schreiben dabei – ebenso wie peplegménos und diploûs – den Mŷthos näher. In eine Beziehung treten sie gewissermaßen über das Tertium Mŷthos. Dies legt nahe, dass der Mŷthos-Begriff doppelt bestimmt werden muss: zum einen als Handlung (im Sinne des narrativen Handlungsbegriffs, also der Beschreibung eines Handlungsverlaufs – als WAS) und zum anderen als Erzählen (im Sinne der Art und Weise der Darstellung – als WIE). Mŷthos wäre somit nicht nur als Fabel95 zu betrachten. Es liegt vielmehr nahe, nach der narratologischen Funktion des Mŷthos zu fragen. Es liegt somit nahe, dass eine Bestimmung des Mŷthos, die ausschließlich von einem Begriff des plots oder der Fabel ausgeht, dem aristotelischen Mŷthos-Begriff nicht gerecht wird.96 Im aristotelischen Mŷthos schreibt sich mehr als ein schlichtes Verhältnis von Ursache und Wirkung von Handlungen nieder. Es wäre vor dem Hintergrund des bisher Aufgezeigten vielmehr denkbar, Mŷthos als eine Zusammensetzung des formalistischen Sujet- und Fabelbegriffs zu definieren: Die Fabel kann einsträngig (haploûs/Kap. 13) oder zweisträngig (diploûs) sein, und beide können komplex (peplegménos) oder einfach (haploûs/Kap. 10) sein. Auch das Erzählen wäre einfach (haploûs/Kap. 10) oder komplex (peplegménos) und ergäbe sich dann als Sujet. Dies wiederum würde bedeuten, dass sich bei Aristoteles bereits jene Differenzierung in Erzählungsmomente findet, die gemeinhin erst im russischen Formalismus auftauchen, dem diese Verhältnissetzung zugeschrieben wird.
7. Mŷthos und Kern Um dem Mŷthos-Begriff eine weitere Facette zu verleihen, sollen nun zwei Passagen interpretiert werden, die eine Bedeutung des Wortes im „modernen“ Sinne nahelegen. Bevor dies im Folgenden in einer Analyse der Struktur des Epos geschieht, wird hier zunächst anhand der Frage von Überlieferungen das Problem erläutert, inwiefern der Begriff inhaltlich und somit unter einem Aspekt verstanden werden kann, der über das Repräsentationsprinzip hinausweist. Findet in der Tragödie für Aristoteles _____________ 95
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Als Fabel wird der Mŷthos-Begriff von Aristoteles unter anderem von Höffe 2009, Frede 2009, Fuhrmann 1982, um nur einige zu nennen, gefasst. Zur Handhabung des aristotelischen Mŷthos-Begriffs als plot vgl. Belfiore 2000, die zugleich eine kritische Reflexion darlegt, wenn sie betont, dass das Verständnis von Literatur und das Verständnis von dem, was jeweils der plot sei, stark vom Rezipienten selber abhänge, was nicht im Sinne Aristoteles’ zu fassen sei (Belfiore 2000: 37–38 und 67ff). Ferner zu dieser Fragestellung: Ronan 1990: 832f. Beide Autoren bleiben jedoch eine Neuzuordnung schuldig.
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keine Aktualisierung „eines Mŷthos“ statt, so gibt es doch Momente, die darauf verweisen, dass Mŷthoi bereits vorhandener Tragödien oder Epen durchaus dazu geeignet sind, Grundlage für neue Tragödien zu sein. Im Ausgang der Frage, wie Furcht und Mitleid hervorgerufen werden können und welche Handlungen hierfür geeignet sind, heißt es: τοὺς µὲν οὖν παρειληµµένους µύθους λύειν ο ὐκ ἔστιν, λέγω δ ὲ οἷον τὴν Κλυταιµήστραν ἀποθανοῦσαν ὑπὸ τοῦ Ὀρέστου κα ὶ τὴν Ἐριφύλην ὑπὸ τοῦ Ἀλκµέωνος, α ὐτὸν δ ὲ εὑρίσκειν δε ῖ καὶ τοῖς παραδεδοµένοις χρῆσθαι καλῶς. Es ist nicht erlaubt, die überlieferten Mythen aufzulösen, z. B. daß Klytaimestra von Orestes, Eriphyle von Alkmeon ermordet wurde; aber man muss selbst erfinden und die überlieferten gut97 benützen.98
Was hier als Mŷthos nicht lúesthai, nicht „aufgelöst“99 werden darf, sondern weitergereicht wird, unterscheidet sich gewiss von dem Sinne, in dem Mŷthos bisher charakterisiert wurde. Denn jede Tragödie ist, wie festgehalten wurde, die Nachahmung einer vollständigen, geschlossenen Handlung und insofern Mŷthos: sýstasis tôn pragmáton. Der Mŷthos ist die „Seele (ψυχὴ) der Tragödie“ (Poet. 1450a38). Die Überlieferung ist dabei ein sekundärer Aspekt, wie Aristoteles hinsichtlich der Komödien festhält, die zumeist erfunden werden (Poet. 1451b21). Das bedeutet, dass hier Mŷthos nicht als sýstasis tôn pragmáton verstanden werden kann, denn dieser Akt der mythopoíesis wohnt jeder Tragödie inne und seine Ausführung ist Aufgabe des Dichters, der sie gut oder schlecht umsetzen kann (vgl. Poet. 1451b36f.). Die Verwendung eines überlieferten Mŷthos entbindet zudem nicht von der Verpflichtung des kompositorischen Aktes (δεῖ καὶ τοῖς παραδεδοµένοις χρῆσθαι καλῶς). Dass das Überliefern nicht unabhängig von der Qualität ist, wird sogleich deutlich, wenn Aristoteles direkt anschließt: τὸ δὲ καλῶς τί λέγοµεν, ε ἴπωµεν σαφέστερον. ἔστι µὲν γ ὰρ ο ὕτω γίνεσθαι τ ὴν πρ ᾶξιν, ὥσπερ ο ἱ παλαιοὶ ἐποίουν ε ἰδότας κα ὶ γιγνώσκοντας Was wir unter wirkungsvoll verstehen, wollen wir etwas genauer darlegen. Eine Handlung kann wie bei den alten Dichtern mit Absicht [oder Einsicht, i. S. v. kundig J. S.] und Wissen ausgeführt werden.100
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Fyfe 1932 übersetzt hier παραδεδοµένοις χρῆσθαι καλῶς als “make a skilful use of the tradition“, was die Tradition in ein dynamisches Gefüge setzt und den Aspekt der Produktion stark hervorhebt: Auch eine Tragödie, die auf einen bestehenden Mŷthos im Sinne einer Tradition rekurriert, schafft etwas Neues. Ähnlich Halliwell. Poet. 1453b22–26. λύειν ließe sich im Extremfall an dieser Stelle auch mit „zerstören“ übersetzen, vgl. Liddell/Scott. Poet. 1453b27–28. Fuhrmann 1982 übersetzt hier: „Was wir unter wirkungsvoll verstehen, wollen wir etwas genauer darlegen. Die Handlung kann sich so vollziehen wie bei den alten
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Sodann folgt eine Differenzierung zwischen erwarteten und unerwarteten Variationen von Vorlagen und deren Wirkung auf den Rezipienten im Hinblick auf das Moment der Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit und deren Folgen für die anagnórisis und kátharsis101. Der Mŷthos wird hier also überliefert, da das, was wirklich geschehen ist – und dem, was bereits geschrieben wurde, wird dies zuerkannt –, glaubwürdiger ist. Diese Glaubwürdigkeit kann durchaus unter der Prämisse von etwas wie einem „kulturellen Gedächtnis“ verstanden werden, also, wie bereits angeführt, als Sammelbegriff für den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten [...], in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt. Ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.102
Dies wird zum Beispiel deutlich, wenn Aristoteles als eine Form der anagnórisis den Fehlschluss des Zuschauers fasst (Poet. 1455a16f). Die Voraussetzung hierfür ist, dass der Zuschauer bereits einen Handlungsverlauf oder Ausgang erwartet, was wiederum impliziert, dass der Stoff in seinem Kern bekannt ist. Sodann kommt es zu einem anderen Verlauf, womit der Zuschauer in seiner Rezeptionserwartung gestört wird.103 Doch wie wäre der hier verwendete Mŷthos-Begriff zu fassen, wenn nicht im Rahmen dessen, was bisher hinsichtlich der sýstasis tôn pragmáton konstatiert wurde? Aristoteles’ Konzeption sieht an dieser Stelle vor, dass es ein zentrales Moment der Handlung gibt, das in einem produktiven und schönen Sinne weiterverwendet werden kann – was wiederum als Produktionsakt der Annäherung über die Mímesis zu geschehen hat. Dies lädt dazu ein zu fragen, inwiefern dem Mŷthos neben der systematischen Komponente auch eine inhaltliche innewohnt, die eben das Moment der Tradition begreift. Doch wie ist dieses Moment, wie ist Mŷthos hier zu verstehen? Ich schlage im Hinblick auf die Überlieferung und das Feld der Transposition daher den Begriff des Kerns vor. Dieser umfasst nicht die komplette Handlung, vielmehr beschreibt er das, was das Wesen der Geschichte ausmacht. Er fungiert somit sehr wohl als Bedingung für den Verlauf der Handlung, wie sie sich nach den Kriterien der Wahrschein_____________
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Dichtern, d. h. mit Wissen und Einsicht des Handelnden.“ Wahrscheinlich dem Umstand Rechnung tragend, dass Aristoteles Euripides Medea als Besipiel hierfür anführt. Jedoch kann die Ausführung der Handlung (und hier schließe ich mich Schmitt 2008 an) an dieser Stelle auch im Sinne der poíesis verstanden werden. Euripides lässt Medea ihre Kinder töten. Er komponiert also mit Absicht, Einsicht, Wissen – kundig. Vgl. hierzu erneut die Überlegungen zur Mímesis. J. Assmann 1988: 9, 15. Vgl. ferner A. Assmann 1999: 408–413. Vgl. hierzu auch die vorangegangenen Hinweise auf Iser.
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lichkeit und Möglichkeit ergibt. Dem Begriff des Kerns kann man sich mit Martinez/Scheffel 72007 als einem „dynamischen“ und „verknüpften“ Motivs nähern: dynamisch bedeutet hierbei, dass es die Situation verändert; verknüpft ist es insofern, als dass die gesamte Handlung von diesem Motiv her bestimmt wird.104 Der Kern ist in seiner Konsequenz dabei wie der Čechov’sche Nagel zu denken, der zu Beginn der Handlung in die Wand geschlagen wird und an dem sich der Protagonist am Ende der Handlung aufzuhängen hat. So umschreibt Tomaševskij das Moment der „kompositorischen Motivierung“105. Doch gilt dies zunächst für alle Teile der Tragödie, die sich ja – nicht nur formallogisch – auseinander ergeben müssen. Hinzu tritt für den Kern das Moment, dass er zentrales Motiv ist. Zwar folgen weitere Ereignisse aus ihm und er war Bedingung für vorangegangene Ereignisse106, doch ist der Kern selber kein Ereignis, das mit anderen auf eine Stufe gestellt und in summa dann als Geschehnis verstanden werden könnte. Er ist vielmehr das, was wir über eine Tragödie sagen würden, wenn wir ihre zentrale inhaltliche Ausrichtung beschreiben müssten. Überliefert wird also das, was als Kern bezeichnet wurde, nicht der Mŷthos. Der Mŷthos der goethischen Iphigenie ist nicht der gleiche wie der Mŷthos der Iphigenie des Euripides. Lediglich das Motiv, der Kern, bleibt bestehen, was dann wiederum Konsequenzen für Personal, Handlungsverlauf etc. mit sich bringt. Und gerade aufgrund des einerseits dynamischen und verknüpfenden Charakters des Kerns auf der einen Seite und seiner zentralen Aussagekraft und somit hohen Dichte und Konzentriertheit auf der anderen Seite kann der Kern als unveränderlich gelesen werden – und dabei zugleich Grundlage für Bearbeitungen (mythopoíemata) sein, was ihn wiederum dialektisch nutzbar macht. Die Bearbeitungen _____________ 104
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Vgl. Martinez/Scheffel 72007: 108ff. Verdeutlicht wird diese Differenzierung hier am Beispiel von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig. Da diese Beispiele sehr eindrücklich sind, sollen sie hier kurz angeführt werden: Das dynamische Moment des Motivs findet hier zum einen als Geschehnis, als „nichtintendierte Zustandsveränderung“ (109) Ausdruck in einer Aussage wie: „Aber wahrscheinlich waren Nahrungsmittel [von der Cholera] infiziert worden […], denn geleugnet und vertuscht fraß das Sterben in der Enge der Gässchen um sich, und die vorzeitig eingefallene Sommerhitze, welche das Wasser der Kanäle laulich erwärmte, war der Verbreitung besonders günstig.“ (Mann 1981: 628). Zur Handlung wird sie, wenn eine Situationsveränderung durch die „Realisierung von Handlungsabsichten“ (Martinez /Scheffel 72007: 109) eintritt: „Vor einem kleinen Gemüseladen kaufte [Gustav Aschenbach] einige Früchte, Erdbeeren, überreife und reife Ware, und aß im Gehen davon.“ (Mann 1981: 637) Zum verknüpften Motiv wird diese Handlung dadurch, dass Aschenbach sich durch das Essen der Erdbeeren mit der Cholera infiziert und an dieser stirbt. Vgl. Tomaševskij 1985: 226–228. Dies erinnert an das Moment der Mitte, das hinsichtlich der Struktur des Mŷthos beschrieben wurde.
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können dabei durchaus Kontrafakturen sein.107 Erkannt werden sie als solche dadurch, dass sie den Kern in sich tragen und auf diesen verweisen. À la mode gesprochen, würde das, was ich hier als Kern bezeichne, unserem Verständnis von Mŷthos entsprechen. Dies trägt in gewisser Weise dem Rechnung, was Richard Kannicht wie folgt beschreibt: Der Begriff mythos bezeichnet schon im Homerischen Griechisch neben „Wort, Aussage, Rede“ den Inhalt von Aussagen, also „Geschichte, Erzählung“ seit Herodot dann auch im engeren Sinn die Geschichten der Heldensage, also das, was auch wir noch „mythos“ nennen. Der mythos in diesem Sinn aber war der Grundstoff der griechischen Kunst und Dichtung, Grundstoff vor allem des Epos und der Tragödie. Hierin liegt also zunächst die allgemeine (materielle) Bedingung des aristotelischen Begriffs. Als Stoff der Dichtung (und Kunst) war der mythos nun aber notwendig immer schon mehr oder weniger geformter Stoff im Sinne organisierter Handlung; und hierin erst liegt die spezielle (poetologische) Bedingung des aristotelischen Begriffs.108
8. Das Epos und das polýmython In den Ausführungen zum Epos in der Poetik findet sich eine weitere Passage, die direkt im Anschluss analysiert werden soll. Auch sie provoziert die Frage, inwiefern der Mŷthos, der vordergründig als Strukturprinzip und lediglich Grundlage von Nachahmungen gefasst wird, auch inhaltliche _____________ 107
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Hiermit wiederspreche ich klar Emmerich, Seidensticker und Vöhler die in dem gleichnamigen Band den Begriff der „Mythoskorrekturen“ einführen, mit dem sie das Feld der Mŷthos-Bearbeitungen zu ergründen suchen, das sich ergibt, wenn ein Autor einen Mŷthos so bearbeitet, dass der Kern zerstört wird. (Vöhler 2005: „Einleitung“). Bezugspunkt ist auch hier Poetik 1455a16ff. Die Nutzbarmachung der Aristotelischen Überlegungen zur Überlieferung und Bearbeitung von Mythen (Poetik 1453b22ff.), scheint mir in dieser Interpretation jedoch mir zu weit zu gehen. Denn erkennt ein Leser, dass ein Mŷthos desavourierend bearbeitet wurde, so ändert dies nichts für den Mŷthos – die Grundlage der Bearbeitung ist weiterhin identifizierbar, womit der Mŷthos selber als Motiv noch vorhanden ist. Wird der Mŷthos jedoch so stark verändert, dass der Bezug zum Mŷthos nicht mehr gegeben scheint, reden wir von einem anderen Text, der im Gefüge von Prätext und Präsenstext vor dem Hintergrund des Mŷthos keinen Platz mehr hat. Die Zuschreibung zu einem Mŷthos wäre dann ein beliebiger Akt. Eine fruchtbare Lesart von Korrektur wäre vor diesem Hintergrund von Seiten des Rezipienten denkbar, bei dem sich – Aristoteles zur Folge – etwas ändert: Als Korrektur fasst man gemeinhin eine Richtigstellung. Dies impliziert das vermeinte Vorhandensein eines Fehlers. Die Korrektur ist sodann die Reaktion auf den Fehler, aus der wir lernen können (instruktiv ist hier zum Beispiel das Fechten: ein Fehl ist ein Schlag, der zu Beginn eines Duells bereitwillig hingenommen wird, um davon ausgehend sein Gegenüber besser einschätzen zu können). Inwiefern die Korrektur von Seiten des Lesers denkbar wäre, wird zum Abschluss dieser Untersuchung und im Hinblick auf die Trias von Textus, Contextus und Circumtextus bedeutsam sein. Kannicht 1976: 331. Hervorh. J. S.
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Momente birgt, die tradiert werden. Es kommt dem Mŷthos hier eine spezielle Verwendung zu: die des „Vielmythischen“. Das Epos wird in weiten Teilen mit der Tragödie parallel geführt. Epos und Tragödie teilen Medien und Gegenstände der Nachahmung und differieren lediglich im Modus der Darstellung: Das Epos bedient sich stärker der diegetischen Darstellung109, während die Tragödie nicht nur von Handlungen berichtet, sondern diese auch von Handelnden auf die Bühne gebracht werden, was dem Verlangen der breiten Masse der Rezipienten nach einem „performative turn“110 Rechnung trägt (Poet. 1461b26–1462a4). Ferner bedient sich das Epos des Hexameters als Metrum, auch deshalb, weil dieses dem Gegenstand des Epos angemessener ist und ihm so auch einen „dramatischen Charakter“ verleihen kann (Poet. 1448b34–36). Bereits vor den Ausführungen zum Epos in den Kapiteln 23–26 werden immer wieder Vergleiche zwischen Epos und Tragödie angestellt. Auch das Epos wird von Aristoteles mit einem Lebewesen (zôon) parallel geführt, auch für das Epos gilt also, dass es Proportion haben muss, aus Teilen zusammengesetzt ist – und diese wiederum Regeln der Anordnung und Größe gehorchen müssen, will man das Epos erfassen können (Poet. 1459a16–18). Wie bereits festgestellt wurde, hat jede Tragödie einen Mŷthos, den sie darstellt, was durch Mímesis und die Darstellung der Tragödie auf der Bühne geschieht. Der Mŷthos ist dabei die Darstellung einer Auswahl von Handlungen – was ein Weglassen anderer Handlungen mit sich bringt.111 Um zu zeigen, dass dabei das Variieren als ein Fortschreiben und ein Bereichern – wenn nicht immer des einzelnen Mŷthos, so doch des Feldes,
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Ganz dem Rechnung tragend, was bereits eingangs hinsichtlich der Mímesis erörtert wurde (vgl. auch Rep. 394b/c und Hegel 21990: 219.), liegt hier eine Mischform vor. „Turn“ deshalb, weil das Epos der Tragödie gegenüber zeitlich früher verortet werden kann (vgl. die Ausführungen Aristoteles’ zur Genese der Gattungen Poet. 1449b1–4 ). Ein etwas provokantes Beispiel dafür, was passiert, wenn man keine Vorauswahl von Handlungen vornimmt und auch die „toten Zeiten“ zur Darstellung bringt, beschreibt Umberto Eco in seiner Glosse „Wie man einen Pornofilm erkennt“: Der Pornofilm besteht laut Eco vorranging aus „toten Zeiten“, da alles andere „nicht zu ertragen“ wäre: „Weder physisch für die Akteure noch ökonomisch für den Produzenten. Und es wäre es auch nicht psychologisch für den Zuschauer. Denn damit die Übertretung als solche kenntlich wird, muß sie sich von einem Hintergrund von Normalität abheben. […] Deswegen sieht man, wenn Gilberto den Bus nehmen und von A nach B fahren muss, Gilberto, wie er den Bus nimmt und von A nach B fährt. Das irritiert den Zuschauer oft, weil er ständig unerhörte Szenen sehen will. Aber er täuscht sich. Er würde es gar nicht aushalten, anderthalb Stunden lang unerhörte Szenen zu sehen.“ (Eco 1995: 123f.) So erhebt Eco das, was im Grunde alles andere als pornographisch ist, zum Kriterium des Erkennens eines Pornofilms.
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das sich aus seinen bisherigen Variationen ergibt112 – verstanden werden muss, soll eine weitere Passage zum Epos analysiert werden. Von Bedeutung ist hierfür der Gedanke des Pantheons, der auch bei den aristotelischen Ausführungen zum Epos hervortritt. Hier nämlich spricht Aristoteles explizit von Mŷthoi, wenn er schreibt: χρὴ δὲ ὅπερ εἴρηται πολλάκις µεµνῆσθαι καὶ µὴ ποιεῖν ἐποποιικὸν σύστηµα τραγ ῳδίαν_ἐποποιικὸν δ ὲ λέγω τ ὸ πολύµυθον_ ο ἷον ε ἴ τις τ ὸν τ ῆς Ἰλιάδος ὅλον ποιο ῖ µῦθον. ἐκεῖ µὲν γ ὰρ δι ὰ τὸ µῆκος λαµβάνει τ ὰ µέρη τ ὸ πρέπον µέγεθος, ἐν δ ὲ τοῖς δράµασι πολ ὺ παρὰ τὴν ὑπόληψιν ἀποβαίνει. Man muss aber an das denken, was oft schon gesagt wurde113, und darf die Tragödie nicht nach Art des Epos einrichten. Episch nenne ich polýmython, z. B. wenn einer den ganzen Mŷthos der Ilias dramatisch bearbeiten wollte; denn dort erhalten die Teile wegen der Länge [des gesamten Epos J. S.] ihre gebührende Größe, in den Dramen aber bleibt der Erfolg weit hinter der Erwartung [der Dichter, die versuchen ein ganzes Epos zu dramatisieren] zurück.114
Wie genau hier tò polýmython zu übersetzen ist, lohnt sich zu diskutieren. Ich wähle zunächst „das Vielmythische“, um zum einen das Moment des polý hervorzuheben und zum anderen durch die Übersetzung von -mŷthon als „mythisch“ die Adjektivkonstruktion in der Substantivierung beizubehalten, die der Charakterisierung des Epischen innewohnt. Tò polýmython ist ein Kompositum, dessen Verwendung in anderen Werken aufschlussreich ist, um den Sinn des Wortes bei Aristoteles näher zu beleuchten, sofern man über die Definition als etwas, das „of many words, fluent“, „gesprächig, wortgewaltig“ oder „geschwätzig“ ist, hinaus einen Sinn aus dem oben genannten Abschnitt ziehen will. Bereits hier ist festzuhalten, dass Aristoteles in seiner Verwendung ein neues Abstraktum schafft und seine Verwendung des Terminus tò polýmython nicht mit den bis dahin gängigen Verwendungen deckungsgleich ist. Bevor dies näher erläutert werden kann, muss der Begriff jedoch zunächst noch im Ausgang der Stelle der Poetik selber entwickelt werden. Hierzu schlage ich zunächst vor, einen Vergleich der Übersetzungen der Definition des Mŷthos als sýstasis tôn pragmáton und der Übersetzung von tò polýmython nebeneinander zu stellen und diese miteinander zu vergleichen. So kann aufgezeigt werden, wie hier jeweils Mŷthos gefasst wird und welche Differenzen sich in der Übersetzung hierfür hinsichtlich der einzelnen Begriffe ergeben. _____________ 112
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Dieser Zuwachs des Feldes, das sich aus den Handhabungen von Mythen ergibt, wird im folgenden Abschnitt mit der Entwicklung des Mímesis-Zirkels noch deutlicher hervortreten. Er soll hier jedoch bereits angesprochen sein. Gemeint ist wohl die Ausdehnung, also die Größe der Tragödie und des Epos, womit dann Kap. 5, 7 (allgemein), 8, 17 gemeint wären. Ferner wird dies in Kap. 24 und 26 thematisiert. Poet. 1456a11–15.
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Übersetzer (Jahr)
Poet. 1450a4
Walz (1833)
Die Darstellung der Handlung episch nenne ich, was viele ist der mythos (denn ich nenne Mythen befasst mythos die Zusammensetzung der Begebenheiten).
Fuhrmann (1982)
Die Nachahmung von Handlung ist der mythos. Ich verstehe hier unter mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse.
Schmitt (2008)
Nachahmung einer Handlung Episch nenne ich eine Komaber ist der Mythos, denn position, wenn sie mehrere Mŷthos nenne ich die Kompo- Handlungs-einheiten enthält sition einer einheitlichen Handlung.
Fyfe (1932)
[…] it follows then that it is the plot which represents the action. By "plot" I mean here the arrangement of the incidents […]
Halliwell (1995)
[…] the plot is the Mímesis of by “epic” I mean with a multithe action – for I use “plot” to ple plot denote the construction of events […]
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Poet. 1456a12
unter episch verstehe ich Handlungsvielfalt
by epic I mean made up of many stories
Gomperz (1897) ich verstehe hier nämlich
Unter ,eposartig‘ verstehe ich unter Fabel die Composition aber hier den allzu großen Stoffreichtum. der Begebenheiten.
Janko (1987)
by “plot” here I mean the construction of the incidents.
by an ‘epic’ structure, I mean one with more than one plot
Die Übersetzung von Walz lässt offen, wie Mŷthoi zu verstehen sind – es liegt nahe, das Epische hier dahin gehend zu verstehen, dass es eine bloße Zusammenfügung im Sinne einer Konkatenation von verschiedenen Handlungen ist. Das Verb „befassen“ irritiert hier zunächst. Als Synonyme bieten sich „beschäftigen“, „ausüben“, „machen“, „arbeiten“ an, wobei Ersteres sicherlich am treffendsten wäre. So wäre dann die Passage so zu lesen, dass das Epos selber ein Mŷthos ist, der – im Sinne einer sýstasis – einzelne Mŷthoi zu einem kontingenten Ganzen zusammenführt.
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Fuhrmanns Begriff der „Handlungsvielfalt“ entschärft die Passage gewissermaßen und kann kritisch so betrachtet werden, dass die Vielfalt von Handlung (eben nicht Handlungen) an das erinnert, was Aristoteles mit peplegménos meint. Dies wiederum wäre, wie gezeigt wurde, kein Alleinstellungsmerkmal des Epos. Das wäre diploûs.115 Fuhrmanns unklare Übertragung wird zudem dadurch konterkariert, dass er selber in seinem Kommentar zur Übersetzung anmerkt, dass, wenn Aristoteles hier Epos als tò polýmython fasse, dies wohl impliziere, dass er die einzelnen Episoden mitrechne, da sonst die folgende Aussage aus Kap. 23 nicht schlüssig wäre: οἱ δ᾽ ἄλλοι περ ὶ ἕνα ποιο ῦσι κα ὶ περὶ ἕνα χρόνον κα ὶ µίαν πρ ᾶξιν πολυµερῆ, ο ἷον ὁ τὰ Κύπρια ποιήσας κα ὶ τὴν µικρὰν Ἰλιάδα. τοιγαροῦν ἐκ µὲν Ἰλιάδος καὶ Ὀδυσσείας µία τραγ ῳδία ποιε ῖται ἑκατέρας ἢ δύο µόναι, ἐκ δ ὲ Κυπρίων πολλα ὶ καὶ τῆς µικρᾶς Ἰλιάδος [πλέον] ὀκτώ [...] Bei den anderen Epikern116 geht es um einen einzigen Helden oder einen einzigen Zeitabschnitt oder auch um eine einzige Handlung, die indes aus vielen Teilen besteht, wie etwa beim Dichter der „Kyprien“ und der „Kleinen Ilias“. Daher kann man aus der „Ilias“ oder der „Odyssee“ nur eine Tragödie oder höchstens zwei machen. Aus den „Kyprien“ hingegen viele und aus der „Kleinen Ilias“ mehr als acht.117
Eine ähnliche Problematik ergibt sich aus der Übersetzung, die Halliwell vornimmt, da er den Begriff des plot im Singular belässt und das polý somit lediglich auf die Struktur desselben bezieht. Arbogast Schmitt übersetzt diese Passage: „[…] wenn sie mehrere Handlungseinheiten enthält“. Dies ist eine Lesart, die zumindest die Möglichkeit enthält, dass wir im Epos also mehrere „abgeschlossene Handlungseinheiten“ finden. Diese werden von einem übergreifenden Mŷthos zusammengeführt, was für Schmitt wiederum die „Komposition einer einheitlichen Handlung“ impliziert. Das weist auch auf das hin, was Aristoteles vorschlägt, wenn er schreibt, aus einem Epos möge man einen Mŷthos als Grundlage für eine Tragödie auswählen. Zugleich ist dies vor dem Hintergrund der Übersetzung der Passage Poet. 1450a4, in der der Mŷthos bestimmt wird, noch immer eine stark auf die strukturellen Merkmale verweisende Übertragung. Interessant ist die englische Übersetzung Fyfes: Mŷthos wird bis dahin durchweg mit „plot“ übersetzt, tò polýmython jedoch als „made up of many _____________ 115
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Hinsichtlich der Differenzierung von Mythen als haploûs, diploûs und peplegménos vgl. Kap. II.6 der vorliegenden Untersuchung. I. e. nicht Homer, der sich nach Aristoteles Meinung nur das Wichtigste als Haupthandlung gewählt und alles andere in Episoden dargestellt hat, ibid. Poet. 1459a39–b7.
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stories“. Hier wird vielleicht am deutlichsten, dass es sich beim Epos um einen Mŷthos handelt, der diploûs ist, und zwar insofern, als dass die Differenzierung von story und plot eine zwischen dem Geschehnis und dem kausalen Gefüge ist, das mit ihm einhergeht. Doch darf diese doppelte Bestimmung hier nicht absolut gesehen werden, da sonst das Kriterium, dass die einzelnen im Epos vorhandenen Mŷthoi Grundlage für Tragödien sein können, verletzt wäre. Gomperz Übersetzung, die „allzu großen Stoffreichtum“ im Epos diagnostiziert kann wohl auf den sonstigen Gebrauch von tò polýmython in der Antike zurückgeführt werden.118 basiert nach meinem Dafürhalten klar darauf, dass der Für das weitere Vorgehen schlage ich vor, das Epos als eine Zusammensetzung von mehreren Mŷthoi zu lesen. Also als eine Zusammensetzung von mehreren zusammengesetzten Handlungen. Aus diesen Handlungseinheiten nun kann der Dichter eine auswählen und zum Mŷthos für eine Tragödie machen: ἔτι ἧττον µία ἡ µίµησις ἡ τῶν ἐποποιῶν (σηµεῖον δέ, ἐκ γὰρ ὁποιασοῦν µιµήσεως πλείους τραγ ῳδίαι γίνονται), ὥστε ἐὰν µὲν ἕνα µῦθον ποιῶσιν, ἢ βραχέως δεικνύµενον µύουρον φαίνεσθαι, ἢ ἀκολουθοῦντα τῷ τοῦ µέτρου µήκει ὑδαρῆ: Ferner bildet die Nachahmung in Epen weniger eine Einheit (ein Beweis hierfür ist, daß aus jeder beliebigen epischen Handlung mehrere Tragödien hervorgehen können). Die Folge ist: wenn sich die epischen Dichter nur eine einzige Handlung vornehmen wollten, dann nähme sich diese entweder kümmerlich aus, wenn sie gedrängt dargestellt wäre, oder wässerig, wenn sie die dem Epos angemessene Länge erhielte.119
Dies macht deutlich, dass hier nicht von einem anderen, weiteren MŷthosBegriff ausgegangen werden muss, sondern lediglich eine inhaltliche und auf das Moment der Überlieferung rekurrierende Komponente zu Tage tritt. Zumal wenn man sich in Erinnerung ruft, wie Aristoteles zuvor (Poet. 1453b22ff.) das Moment der Bearbeitung von bereits bestehenden Mŷthoi _____________ 118
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So wenig gebräuchlich der Begriff in der Antike ist (ich konnte 14 Verwendungen ausmachen) so sehr weicht doch seine Verwendung zu der hier von Aristoteles wohl implizierten ab. Zum Beispiel verwendet Homer den Begriff in Od. II, 177 als prädikative Bestimmung zu „seiend“ (eónta) im Sinne von gesprächig, wortgewaltig, geschwätzig, dabei der Überzeugungskraft des lógos entbehrend, Callimachus bezeichnet Kratia als die „Vielgeschichtige“, was dadurch erklärt wird, dass sie aeí lálon, immerzu spricht (Ep. 16) und bei Pindar (Pyth. 9) findet sich (mit dem Gebrauch als Prädikatsnomen vor Aristoteles der einzige Gebrauch, der keine Adjektiv-Konstruktion ist) der Begriff im Sinne von „viele Geschichten“ verwandt, denen das Herausstellen einer kleineren (Geschichte) vorgezogen wird, die sodann ausgeziert werden soll. Es handelt sich also auch hier um eine negative Konnotation, gar in Abgrenzung zu wohlgeformter Proportion und Fokussierung auf das Eigentliche. Poet. 1462b4. Vgl. auch Poet. 1459a39–b7.
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II. Aristotelische Mímesis und der mehrfache Mythos
durch Dichter umschrieben hat: als „gute“ Bearbeitung eines bestehenden Kerns.
9. Fünf Beobachtungen zum Mŷthos im Ausgang der Poetik Aus dem bisher Dargelegten ergeben sich für die Handhabung des Mŷthos in der Poetik folgende Feststellungen: 1. Mŷthos ist – und das verdankt sich nicht zuletzt seiner Definition über Mímesis – als ein gattungsübergreifender Begriff zu fassen und kann nicht auf eine einzelne Erscheinungsform festgelegt werden. Auch wenn Aristoteles den Mŷthos von der Tragödie ausgehend entwickelt, so ist Mŷthos doch primär eine Zusammensetzung und Ordnung. Also ein formales Kriterium, das Grundlage jedweder Art von Darstellung ist, ebenso wie es bereits für die Mímesis konstatiert werden konnte. Der Mŷthos ist sogar Vergleichsgrundlage, wenn festgestellt werden soll, wie gelungen eine Mímesis vollzogen wurde (Poet. 1456a)120. Dies bedeutet für die vorliegende Untersuchung, dass wir den Begriff des Mŷthos gattungsübergreifend nutzen können. 2. Erkennt man an, dass Mímesis nicht die „beliebige“ Nachahmung von etwas ist und zudem eben nicht die Frage im Zentrum steht, wie Dichtung vorgegebene Wirklichkeit nachahmen könnte, so macht dies auch deutlich, dass ein Mŷthos niemals als abstractum gedacht werden kann. Vielmehr stellt sich in den Aristotelischen Überlegungen die Frage danach, wie Dichtung es durch die Darstellung einzelner Charaktere/deren Handlungen leisten kann, eine Einheit hervorzubringen, die dem Wechselspiel von Ordnung und Kontingenz der lebensweltlichen Erfahrung entgegensteht. So ist im aristotelischen Sinne ein Mŷthos immer das konkrete, nach Kriterien der Fabelkomposition vorgehende, beschreibende Hervorbringen der Handlung „eines“ Charakters und dessen Möglichkeiten. Von „dem _____________ 120
Schmitt weist auf den hieraus resultierenden literaturtheoretischen Vorzug gegenüber einer Regelästhetik hin: „In der Tat bietet ein Mŷthos, wenn er genau und nur Mímesis der in einem individuellen Charakter motivierten Handlungsmöglichkeiten in einer konkreten Handlungsfolge ist, den Vorzug, dass durch ihn sowohl die Disposition wie der Stil einer Darstellung Form bekommen, und zwar nicht die bei jedem Inhalt gleiche Form, die aus der Verwendung von Metrum oder Reim oder anderer formaler Regeln entsteht, sondern eine bei jedem Dichtwerk eigentümliche individuelle Form.“ (Schmitt 2008: 120) Hier wird zudem deutlich, dass Schmitt die Darstellung als nicht von Handlungsmöglichkeiten unabhängig vom Handlungsträger versteht, sondern von als allgemeinen charakterlichen Eigenschaften und Dispositionen bestimmt – somit wird die Darstellung der Möglichkeit Ziel der Tragödie.
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Mŷthos“ als singularetantum zu sprechen ist damit im aristotelischen Sinne nicht sinnvoll, will man auf seinen Facettenreichtum verweisen und nicht nur auf die Formalia. 3. Dem Mŷthos wohnt auch im aristotelischen Sinn noch immer ein Moment der Tradition inne. Dieses zeigt sich sowohl in Fragen des Aufbaus, die im Hinblick auf bisherige Erfahrungen gehandhabt werden, als auch mit Blick auf den Inhalt. Denn auch, wenn Aristoteles in der Poetik als Mŷthos in erster Linie die sýstasis tôn pragmáton, also die Zusammensetzung von Geschehnissen im Sinne eines kompositorischen Aktes, beschreibt, steht das Ergebnis dieser Komposition nicht nur als Gegenstand der Nachahmung im Raum. Denn über dies hinaus kann der Mŷthos – einmal komponiert – auch anderen Dichtern Grundlage für ihre Arbeit sein. Zudem konnte gezeigt werden, dass das Verwenden bekannter Mŷthoi ein Moment der Orientierung bildet. Inwiefern dies auch für das „immense Panorama“ der Geschichte gilt, soll im folgenden Abschnitt thematisiert werden. 4. Stellt man im Ausgang der bisherigen Überlegungen die Frage, wie Mŷthos hinsichtlich seiner narratologischen Funktion zu fassen ist, so soll noch einmal auf die Ausführungen zur mehrfachen Verwendung von haploûs verwiesen sein. Sie legen nahe , dass eine Bestimmung des Mŷthos, die ausschließlich von einem Begriff des plots oder der Fabel ausgeht, dem aristotelischen Mŷthos-Begriff nicht gerecht wird.121 Im aristotelischen Mŷthos schreibt sich mehr als ein bloßes Verhältnis von Ursache und Wirkung von Handlungen nieder. Es lässt sich vielmehr das WAS und WIE eines Mŷthos beschreiben. Es wäre vor dem Hintergrund des bisher Aufgezeigten denkbar, Mŷthos als eine Zusammensetzung von Sujet und Fabel zu handhaben: Die Fabel kann einsträngig (haploûs/Kap. 13) oder zweisträngig (diploûs) sein, und beide können komplex (peplegménos) oder einfach (haploûs/Kap. 10) sein. Auch das Erzählen wäre einfach (haploûs/Kap. 10) oder komplex (peplegménos) und ergäbe sich dann als Sujet. Dies wiederum würde bedeuten, dass sich bei Aristoteles bereits jene Differenzierung in Erzählungsmomente findet, die gemeinhin erst im russischen Formalismus auftauchen, dem diese Verhältnissetzung zugeschrieben wird. Derartige Überlegungen können nur angerissen und in _____________ 121
Zur Handhabung des Aristotelischen Mŷthos-Begriffs als plot vgl. Belfiore 2000, die zugleich eine kritische Reflexion darlegt, wenn sie betont, dass das Verständnis von Literatur und das Verständnis von dem, was jeweils der plot sei, stark vom Rezipienten selber abhinge, was nicht im Sinne Aristoteles’ zu fassen sei (Belfiore 2000: 37–38 und 67ff). Ferner zu dieser Fragestellung: Ronan 1990: 832f. Beide Autoren bleiben jedoch eine Neuzuordnung schuldig.
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diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden. Doch wäre es sicherlich geboten, die Terminologien von plot und Fabel hinsichtlich ihrer Verwendung in der Auseinandersetzung mit der Poetik zu überdenken. 5. Die aristotelische Poetik kann in zweifacher Hinsicht theoretisch verortet werden: als ästhetische Schrift, die die Komposition von Gattungen verhandelt zum einen, als ethische Schrift zum anderen. Im Rahmen der Untersuchung wurde immer wieder die ethische Komponente betont. Sei es, wenn gezeigt wurde, dass die Nachahmung von Handlungen an den Charakter des Handelnden geknüpft ist und dass prâxis selber erst unter der Hinzunahme der Beweggründe und der Haltung des Handelnden zu einer „guten“ oder „schlechten“ Handlung wird (also von einer Situationsethik und nicht einer Regel- oder Ordnungsethik ausgegangen werden muss); sei es, weil das Ziel der Mímesis die kátharsis ist und somit die Veränderung des Publikums hin zum Besseren. Die Handhabung der Poetik als „theoretische Schrift“ (im Sinne des aristotelischen, also theoría, die vom Schönen ausgehend auf die Umsetzung in Handlung zielt), die nicht auf poíesis, sondern auf prâxis hin orientiert ist und sich hierzu lediglich der poíesis bedient, birgt dabei auch klare Vorteile für die Ästhetik: nämlich dass über diese Schwerpunktsetzung im Handeln als prâxis Dichtung der „Willkür“ enthoben ist und auf das Schöne/Gute hin ausgerichtet wird. Eine politisch-ideologische Lehrdichtung wird so zum Beispiel ausgeschlossen. Das prodesse der Dichtung ist somit nicht beliebig ausbeutbar, Agitprop wäre zum Beispiel als rein politische Dichtung zu werten. Hinsichtlich der Frage nach dem Mŷthos als Funktion und seinen Wirkungsdispositionen können wir ferner das Folgende festhalten: Es ist bereits deutlich geworden, dass Aristoteles in der Poetik einen systematischen Ansatz für das bietet, was man als Erzähltradition fassen kann. Als Erzähltradition wird hier die interpretierende Weitergabe einer Handlung gefasst, die, von einer ursprünglichen Erzählung induziert, eine Nacherzählung leistet. Dass diese keine Nacherzählung im Sinne einer direkten Wiedergabe sein kann, wird bereits bei Aristoteles deutlich, wenn er vom Dichter fordert, er müsse mit dem Überlieferten kunstvoll und gut umgehen. Die Weitergabe von Inhalten und Formen des Erzählens im Sinne einer Tradition, die auf Grundlage des Mŷthos passieren soll, ist also bei Aristoteles gegeben. Inwiefern dies dem Joyceschen sub specie temporis nostri ähnlich ist, kann nur spekuliert werden. Es ist jedoch wahrscheinlich, wenn man sich eine Beispiele vor Augen führt. So ist es zum einen so, dass Werke wie die Ilias oder Die Perser von einer Aufnahme historischer Geschehnisse zeugen. Zum anderen führt eine Tragödie wie Die Orestie gleich mehrere bis dahin bereits überlieferte Mŷthoi zu einem neuen Werk
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zusammen. Und die vorgenommenen Veränderungen zeugen gewissermaßen von einer neunen Lesart, die mit bisherigen Konventionen bricht. Hinsichtlich der Frage, inwiefern bei Aristoteles die Funktion des Mŷthos als Rezeptionsmoment und -disposition von Bedeutung ist, soll erneut auf die Publikumswirkung verwiesen sein. Hier wurde auch deutlich, inwiefern diese sich unmittelbar aus der Möglichkeit des Erschließens von Zusammenhängen vor dem Hintergrund des Mŷthos als systematischer und inhaltlicher Struktur ergibt: Erstens vor dem Hintergrund des Zusammenwirkens von Mímesis und kátharsis, zweitens unter Berücksichtigung der Überschaubarkeit eines Mŷthos als Voraussetzung für das Erinnern des Gesehenen. Drittens im Ausgang der Frage, inwiefern das Dargestellte notwendig und wahrscheinlich sein muss, um dem Rezipienten zugänglich zu sein und seine Wirkung entfalten zu können. An dieser Stelle wurde auch deutlich, dass eine enge Beziehung zwischen dem Mŷthos als Grundlage für weitere Bearbeitungen und dem Mŷthos als Kriterium für einen Vergleich von Tragödien besteht, was ihm ein Moment der Tradition zuweist.
III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung – der Mímesis-Zirkel Paul Ricœurs In diesem dritten Teil der Abhandlung wird angestrebt zu verdeutlichen, wie der Mŷthos auch als diachronisches Modell und als Methode der Vermittlung funktionieren kann, das das „immense Panorama der Geschichte“ (Eliot) zu ordnen vermag. Dies soll im Ausgang des MímesisZirkels geschehen, wie er sich aus Paul Ricœurs Werk Zeit und Erzählung ergibt. Ist bisher deutlich geworden, dass der Mŷthos ein Medium der Vermittlung von Strukturen und Inhalten und zugleich der Erklärung von Zusammenhängen ist, so gilt es nun, den Mŷthos als Medium der Historiographie herauszustellen. Soll die Bedeutung des Mŷthos für die Erfassbarkeit von Geschichte aufgezeigt werden, bedarf es einer Methode. Deren Entwicklung soll an die bisherigen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung anknüpfen, ihnen jedoch auch eine weitere Dimension zur Seite stellen hinsichtlich der Vermittlung von Momenten der Zeitlichkeit. War in der Einleitung eine hermeneutische Textanalyse als Methode bestimmt worden, so wird dieser Ansatz nun zugespitzt durch Anleihen, wie sie sich aus Ricœurs Werk und hier besonders aus Temps et Récit (Zeit und Erzählung) ergeben.1 Indem der Mŷthos mit Ricœur in seiner Funktion der _____________ 1
Es ist anzumerken, dass Ricœur sich der Frage des Mŷthos und vor allem der Narrativität auch an in anderen Untersuchungen widmet (einen Überblick zum Mŷthos bietet Kearney 2005: 59 ff.). Es läge somit nahe, Werke wie La mémoire, l'histoire, l'oubli, Parcours de la reconnaissance (besonders die 2. Abhandlung), einige Essays aus Du texte à l'action, La métaphore vive und auch Soi-même comme un autre (hier vor allem die 6. Untersuchung) mit einzubeziehen. Dies geschieht auch in Teilen. Jedoch ist hierzu das Folgende anzumerken: Ricœur untersucht Mŷthos als narrative Form und Narrativität im Ausgang von Aristoteles immer unter anderen Schwerpunktsetzungen. Dabei muss im Werk Ricœurs klar von einer Art fortschreitender Entwicklung ausgegangen werden, die Vorheriges nicht zwingend als instruktiv für das jeweils Aktuelle sieht (siehe erneut Kearney 2005: 117 ff.). Gerade Ricœurs Bezüge auf Temps et Récit in Soi-même comme un autre scheinen mir dabei nicht immer einleuchtend, wenn man Aristoteles als starkes narratologisches Werk über die Grenzen einer Narratologie von „plot“ hinaus lesen möchte (vgl. hierzu die bisherigen und folgenden Anmerkung zu einigen Passagen in der vorliegenden Untersuchung). Darüber hinaus ist folgendes anzumerken: Im Vordergrund der vorliegenden Untersuchung steht eine Lektüre Ricœurs vor dem Hintergrund des Mŷthos und dessen Nutzen für ein Verstehen von Geschichte. Die Gedanken Ricœurs werden also genutzt, um eine Theorie des Mŷthos zu entwickeln. Das hat zum einen zur Folge, dass Ricœurs Überlegungen oft detailliert nachvollzogen werden müssen. Zum anderen ist diese Studie somit keine
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Vermittlung und Ordnung als eine Spur (trace) bzw. Träger derselben profiliert wird, soll der letzte Schritt zu einer Bestimmung der Trias von Textus, Contextus und Circumtextus gegangen werden.
1. Mímesis, Mŷthos und Geschichte Paul Ricœur wählt die in der aristotelischen Poetik entwickelten Momente von Mŷthos und Mímesis als Grundlage2 für ein Modell „des Produktiven, Konstruktiven und Dynamischen“3. Von besonderer Bedeutung, auch für die Nomenklatur des von ihm entwickelten Zirkels, ist sein Konzept der Mímesis. Ricœur verweist darauf, dass Mímesis und Mŷthos insofern schwer voneinander zu trennen sind, als für Aristoteles die Mímesis dazu tendiert, mit der Fabelkomposition (Mŷthos) zusammenzufallen. Inwiefern dies bereits von Aristoteles beabsichtigt sein könnte, wenn er den Mŷthos-Begriff doppelt, nämlich als Mímesis prâxeos und als sýstasis tôn pragmáton bestimmt, und was mit diesem doppelten Handlungsbegriff4 einhergeht, ist bereits im zweiten Teil der Untersuchung ausführlich erörtert worden. Im Ausgang dieser Überlegungen wäre daher weniger von einem „Zusammenfallen“ zu sprechen als von einem gegenseitigen Bestimmen, das über den Akt der poíesis geleistet würde und zu einer Vermittlung von prâxis zur theoría führte (vgl. Abb. 2). Vor dem Hintergrund der Vermittlung von Zeit formuliert Ricœur Mímesis als „schöpferische _____________
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Arbeit zu Ricœur oder über dessen Werk. Vor diesem Hintergrund wird auch die Debatte des Geschichts- oder Zeitbegriffs Paul Ricœurs nicht in all ihren Details und Entwicklungen nachvollzogen. Ferner steht zwar in einer Vielzahl von Studien der Geschichtsbegriff und insbesondere das Vergessen oder gesellschaftliche Bedeutung dessen bei Ricœur im Vordergrund, selten jedoch wird ein Schwerpunkt auf die narratologischen Implikationen und Folgen gelegt (eine Ausnahme stellt Andris Breitlings Untersuchung Möglichkeitsdichtung – Wirklichkeitssinn. Paul Ricœurs hermeneutisches Denken der Geschichte dar, die dies hervorragend leistet). Der Blick in Wahrheit und Methode legt zudem nahe, dass Gadamers Überlegungen der doppelten Mímesis als instruktiv angenommen werden können. Gadamer notiert hier im Ausgang seiner Überlegungen zum „Spiel als Leitfaden der ontologischen Explikation“: „Was der Spieler spielt und der Zuschauer erkennt, sind Gestalten und die Handlung selbst, wie sie vom Dichter gestaltet sind. Wir haben hier eine doppelte Mímesis: der Dichter stellt dar, und der Spieler stellt dar. Aber gerade diese doppelte Mímesis ist eine. Was in der einen und der anderen zum Dasein kommt, ist das gleiche.“ Gadamer 61990: 122. Der Mímesis-Zirkel Ricœurs kann, um mit Gadamers Termini zu operieren, als eine Methode gefasst werden, eben dieses Gleiche in seinen Facetten aufzuzeigen, die der Prozess der Vermittlung und des „Gleichwerdens“ ihnen zukommen lässt. Ricœur 1988: 56. Ricœur versucht diesen Unterschied zu verdeutlichen, indem er von „Nachahmung der Handlung“ und von „Handlungsaufbau“ spricht, übergeht dabei jedoch die Implikationen, die dies mit sich bringt und die bereits erläutert wurden. Ricœur 1988: 58.
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[...] Nachahmung der lebendigen Zeiterfahrung vermittels der Fabel“5. Er bestimmt die Mímesis als etwas, das es nur im Handeln geben kann. Dies impliziert einen weiten Handlungsbegriff, der immer als ein Handeln in der Zeit verstanden werden muss. Dies ist ein Moment, welche das aristotelische Konzept von Mŷthos und Mímesis nicht expliziert, weshalb Ricœur Anleihen bei Augustinus und dessen in den Confessiones entwickelten Konzept der distention animi, der Zerdehnung der zeitmessenden Seele, macht. Ricœur versteht Mímesis in diesem Zusammenhang als „Neubeschreibung“6 von Handlung, die mit dem Mŷthos in einem Wechselverhältnis steht, denn […] wenn die Tragödie ihre Mímesiswirkung nur durch die Wirkung des Mŷthos erzielt, so steht umgekehrt der Mŷthos im Dienste der Mímesis und ihres zutiefst denotativen Charakters;7
Er entwirft den Mímesis-Zirkel in Zeit und Erzählung auf der Suche nach einer Möglichkeit, Zeiterfahrung zu beschreiben und zu ihr einen Zugang über die Systematisierung ihrer narrativen Beschreibung zu eröffnen. Das momentum movi Ricœurs hierfür lässt sich zunächst im XI. Buch der Augustinischen Confessiones verorten und liegt in den Aporien der Zeiterfahrung begründet, die es zu überwinden gilt.8 Augustinus bemüht sich hier um eine Beantwortung der Frage, was Zeit sei. Seine Annäherung mündet in der Erkenntnis, das die drei Zeitekstasen lediglich in der Seele zusammendacht werden können, was am Beispiel des Aufsagens eines Hymnus verdeutlicht wird. In diesem Akt des Vergegenwärtigens im animus obliegt es demselben, seine Aufmerksamkeit (attentio) darauf zu richten, was als nächstes gesagt werden soll (expectatio), während zugleich erinnert werden muss, was zuvor gesagt wurde (memoria). Dies geschieht wiederum in der Gegenwart, die keine Ausdehnung hat, sondern lediglich als Moment gedacht werden kann, in dem sich dieser intentionale Akt vollzieht, ein Gedanke, den Edmund _____________ 5 6
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Ricœur 1988: 54. Dass eine derartige Einschränkung im Ausgang von Aristoteles, aber auch vor dem Hintergrund einer genauen Platon-Lektüre nicht notwendig ist, da es sich immer um eine gerichtete Nachahmung handelt, wurde in den Ausführungen zur Mímesis in dieser Studie bereits ausführlich erläutert. Ricœur 1988: 54. Ricœur entwickelt seine Interpretation des Augustinischen Zeitbegriffs in Ricœur 1988:15– 53. Jens Mattern rekonstruiert in seiner Einführung in aller Kürze die Erläuterung des Augustinischen Gedankenganges, wie ihn Ricœur in Zeit und Erzählung präsentiert (Mattern 1996: 153 ff.). Zu einer näheren Analyse des Augustinischen Zeitbegriffes, die hier nicht geleistet werden kann, sei verwiesen auf Gander 2002, Flasch ²2004 und, mit einem Schwerpunkt auf die Frage, inwiefern es sich bei Augustinus’ Zeitbegriff um eine „phänomenologische Analytik“ handelt (was für Ricœur eine zutreffende Lesart wäre), v. Herrmann 1992.
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Husserl als Protention und Retention fasst.9 Das, was ausgedehnt wird, ist die Seele im Akt der distentio animi: Das Vergangene, als bereits Erfahrenes, wird vergegenwärtigt, während das Zukünftige erwartet wird. Die Seele misst also nicht drei Zeit-Weisen, sondern drei Modi der Gegenwärtigkeit: praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris (Confessiones XI, xx.26). So wird beispielsweise streng genommen nicht die Zukunft gemessen, sondern „eine lange Erwartung des Künftigen“ (Confessiones XI, xxviii.37). Die Zeitmessung misst so Eindrücke (affectiones), die Erlebnisse im Geist hinterlassen haben. Der Geist als Aufbewahrungsort dieser Eindrücke ist damit als Medium der Zeitmessung ausgezeichnet, sodass Augustinus pointiert formulieren kann: „In te, anime meus, tempora metior.“ (Confessiones XI, xxvii. 36) Denn nur der Geist vermag, erstens, punktuelle Zeitpunkte zu Phasen auszudehnen und diese, zweitens, festzuhalten und damit dem messenden Bewusstsein zugänglich zu machen. Diese beiden Aspekte des menschlichen Geistes mit seiner Verarbeitung der objektivflüchtigen Jetztpunkte stiften erst die Möglichkeit kontinuierlichen Welterlebens.10 Das Auseinanderstreben der drei Zeitekstasen bildet für Ricœur den Ursprung der Krise11. Und zwar weil es möglich ist, dass unsere lebensweltliche Zeiterfahrung eine Diskrepanz zwischen Erfahrenem, Erwartetem und de facto Eintretendem hervortreten lässt. In der Krise werden Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit aufeinander bezogen. Ihr Durchlaufen formt das Leben des Einzelnen und trägt maßgeblich zu seiner Personwerdung bei. Hierzu muss, will man von einem für die Geschichtswissenschaft produktiven Krisenbegriff ausgehen12, von einer anthropologischen Vorannahme ausgegangen werden, wie sie Wilhelm Dilthey _____________ 9
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Vgl. u. a. § 28 der ‘Krisis’-Schrift, „Die unausgesprochene ‘Voraussetzung’ Kants: die selbstverständlich geltende Lebensumwelt“ (Hua VI: 109f.; zitiert wird nach der Husserliana) Vgl. De Genesi ad litteram XII,16: „Es würde also jedes Gespräch, ja schließlich jede körperliche Bewegung in unseren Handlungen sich verlieren, untergehen und zu keiner Fortsetzung kommen, wenn der Geist nicht im Gedächtnis die jeweils ausgeführten Körperbewegungen festhielte, mit denen er die folgenden handelnd verknüpft. Festhalten kann er sie überhaupt nur, indem er sie als Vorstellungsbild in sich selbst erzeugt hat.“ Ricœur 1991: 389-439 (Schlussfolgerung). Zum grundlegenden Begriff der Krise in der Lebenswelt vgl. Hua VI, zu einer Überblicksdarstellung des Begriffs vgl. Pauen 1997. Bezüglich Ricœurs Krisenbegriff sei auf die Darstellung von Jürg Zbinden verwiesen: Zbinden (1997): 180–198. Dass dies kein einfaches Unterfangen ist, merkt Reinhart Koselleck an, wenn er zu bedenken gibt, dass die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Krise sich „seit dem 19. Jahrhundert quantitativ enorm ausgefächert [hat], während er an Klarheit oder Präzision kaum gewonnen hat.“ Vielmehr nimmt Koselleck eine „neue Form“ der Krise an, wenn er konstatiert: „Die alte Kraft des Begriffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in die Ungewissheit beliebiger Alternativen verflüchtigt.“ (Koselleck 1973: 647, 649)
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als konstitutiv für geschichtliches Verstehen fasst – nämlich als „kontinuierliche Selbstobjektivierung von Geist“13. Dies ist eine Grundannahme, die das, was erlebt, verstanden und aus der Vergangenheit ins Gegenwärtige einbezogen werden kann, in das aktive Bewusstsein also, darauf zurückführt, dass Menschen geschichtliche Wesen sind. Also solche befinden sie sich in einem von ihnen generierten System, das sie aus diesem heraus bestimmen.14 Ich erlebe meine Zustände selber, ich bin in die Wechselwirkung der Gesellschaft verwebt als ein Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme derselben. Diese Systeme sind eben aus derselben Menschennatur hervorgegangen, die ich in mir erlebe, an anderen verstehe. Die Sprache, in der ich denke, ist in der Zeit entstanden, meine Begriffe sind in ihr herangewachsen. Ich bin so bis in nicht mehr erforschbare Tiefen meines Selbst ein historisches Wesen. So tritt nun das erste bedeutsame Moment für die Lösung des Erkenntnisproblems der Geschichte auf: die erste Bedingung für die Möglichkeit der Geschichtswissenschaft liegt darin, daß ich selbst ein geschichtliches Wesen bin, daß der, welcher die Geschichte erforscht, derselbe ist, der die Geschichte macht. Die allgemeingültigen synthetischen Urteile der Geschichte sind möglich.15
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So Habermas 1973: 187. Die mannigfaltigen Probleme, die mit einer hermeneutischen Begründung der Geisteswissenschaften insgesamt einhergehen, können nicht näher diskutiert werden und sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Habermas diskutiert sie ausführlich in Habermas 1973: 178–203. Vgl. ferner Gander 1988: bes. 121–34, der eine Lesart vorschlägt, die Diltheys Terminologien und Vorgehen den „Gefahren“ entzieht, die Habermas aufzeigt, indem die apriorischen Grundannahmen und auch die wissenschaftlichen Erfahrungen betont werden; und zwar auch hinsichtlich ihrer metaphysischen Dimensionen. Recht ähnlich, wenn auch mit einem anderen Impetus, argumentiert Schapp ³1985: bes. 79–109. Schapp geht davon aus, dass der Mensch immer schon in Geschichten verstrickt ist. Er spricht konkret von „Verstricktsein“, wodurch deutlich wird, dass die Person, der hinsichtlich des Widerfahrnisses von Geschichte zwar eine passive Rolle zugeschrieben wird, dennoch durch ein „Verstrickt-“ oder „Verwickeltsein“ und der daraus resultierenden Verortung des Selbst in der Welt dennoch ein Handeln zukomment: Ihr „widerfährt“ die Geschichte – erst dann wird sie erzählt. So ist das „Verstricktsein“ als eine „Vorgeschichte“ (Mímesis I) zu fassen, die den Hintergrund zur Erzählung einer Begebenheit (Mímesis II) ausmacht. Diesen bildet nicht nur ein einzelnes Erlebnis des Erzählers, sondern die „lebendige Verschachtelung“ aller erlebten Geschichten des Subjekts. Aus diesem Meer von Geschehnissen taucht die einzelne Geschichte auf. In welcher Form das geschieht, kann der Erzählende wählen: Ihm steht es frei, wo er beginnt, welche Schwerpunkte in seiner Erzählung er setzt, was er auslässt. Durch den Akt des Erzählens kommt das Subjekt, das in „Geschichten verstrickt“ ist, zu Tage. So formuliert Schapp pointiert: „Die Geschichte steht für den Mann.“ (Schapp ³1985: 100). Ricœur folgert hieraus, „daß das Erzählen ein sekundärer Prozeß ist, der nämlich des Bekanntwerdens der Geschichte. Das Erzählen, Mitvollziehen und Erzählen von Geschichten ist nur die Fortsetzung dieser unausdrücklichen Geschichten [die einem Menschen täglich widerfahren, J. S.].“ Ricœur 1988: 119. Hinsichtlich der (handlungs)ethischen Konsequenzen dieses Verstricktseins bei Ricœur: ders. 20052: 195ff. Dilthey 81992: 278. Zum geschichtlichen Bewusstsein führt Dilthey später aus: „In der geschichtlichen Welt selber, verstanden aus dem lebendigen Selbst, liegt eine Antwort auf die Frage nach der Natur des Wirklichen [,die] mit der inneren Erfahrung überein[stimmt],
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Nimmt man sowohl das Erleben als auch das Verstrickt- oder Verwobensein in einem System als die Grundlage für ein Verständnis von Geschichte, so kann das Abweichen vom Bekanntem, Erfahrenem in der Krise und deren Überwindung als eine Weiterentwicklung der Person gedacht werden.16 Ferner entspricht das, was Dilthey in groben Zügen für das Verhältnis von Subjekt und Geschichte entwickelt, dem, was die vorliegende Untersuchung für Mŷthoi annimmt: Sie stiften Identität, sie werden von uns rezipiert, produziert, weiterentwickelt – in ihnen bildet sich unsere jeweilige Verortung in der Welt ab, wie wir uns unter Zuhilfenahme ihrer zugleich selber verorten. Will man die historische Dimension der Diskrepanz zwischen Erlebtem und Erwartetem stärker hervortreten lassen, so sind die von Reinhart Koselleck geprägten Begriffe Erfahrungsraum und Erwartungshorizont instruktiv.17 Der Krisenbegriff in seinem Zusammenspiel von Erfahrung und Erwartung lässt sich mit den Kategorien Kosellecks beschreiben. Dies verdeutlicht, was die historische Dimension der Krise ist, und bereichert noch einmal den „unschätzbaren Fund“ (Ricœur), der sich für unsere Untersuchung aus dem Auseinanderstreben der Zeitekstasen bei Augustinus ergibt. Aus den Begriffen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ist das historische Bewusstsein mit Dilthey als Sinnstiftung ablesbar. Ge_____________
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[…] aber viel deutlicher [ist]; sie wissenschaftlich eindeutig zu quantifizieren, […] ist unmöglich“ (Dilthey 1982: 278). Dieses Zitat verdeutlicht, dass der hier vertretene Anspruch der Verstrickung des Subjekts nicht absolute Objektivität zuweist, sondern lediglich als ein Moment des Zugangs zum Verstehen begriffen werden will. Diese Denkart ist zum einen möglich, wenn man von einem Krisenbegriff ausgeht, der es erfordert, dass das denkende Subjekt sich nach neuen, außerhalb der bisher angelegten Möglichkeiten Antworten orientiert (vgl. Waldenfels 1987). Zum anderen ist sie möglich, wenn man von einer Krise ausgeht, die in der evolutionären Entwicklung des Subjekts angelegt ist, wie dies zum Beispiel in der Entwicklungspsychologie gedacht wird. Nimmt man allerdings mit Dilthey an, dass das Subjekt sich – aufgrund der Tatsache, dass es mit dem System verschränkt ist – selbst objektiviert, liegt es nahe, von einer Entwicklungskrise auszugehen. Inwiefern dies für Geschichte gelten kann oder muss, siehe Sprondel 2010. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Differenzierung aus zwei Gründen nicht weiter relevant: Zum einen ist Geschichte lediglich als Verlauf und somit in ihrer historiographierten Dimension bedeutsam – und in dieser ist die „revolutionäre Neugestaltung“ (Hua VI: 10) bereits ihrer Radikalität und scheinbaren Ausweglosigkeit enthoben, die zu einer Antwortkrise führen könnte. Zum anderen wird hier die Parallelität zum Mŷthos betont resp. eine Einbettung des Mŷthos angestrebt. Wie bereits in den Betrachtungen zu Aristoteles’ Mŷthos-Begriff deutlich wurde, ist damit eine Entwicklung relevant, die zwar auch fragend, forschend und verortend vonstatten gehen kann, wenn der Mŷthos in seiner Weiterentwicklung Abweichungen und radikale Variationen erfährt; doch würde eine (vollständige) Antwortkrise den Kern des Mŷthos betreffen und den Mŷthos als Träger zerstören. An dieser Stelle wäre es auch möglich, die Begriffe Verstehenshorizont, Horizontverschmelzung und Wirkungsgeschichte im Sinne Gadamers einzuführen, was zu einem späteren Zeitpunkt berücksichtigt werden wird. (Vgl. Gadamer 61990: 290–312.) Das Überbrücken von Momenten der Diskontinuität ist mit Kosellecks Begrifflichkeit prägnanter zu beschreiben.
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schichte ist zudem als zeitenübergreifend und als Kollektivsingular zu denken, denn in der Person ihres Betrachters vereinen sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Geschichte kann so nur „die“ Geschichte sein, in der sich diese Zeiten einen, sich als ein ubiquitäres Bezugsverhältnis verwirklichen. Der Erfahrungsraum ist Raum-Zeit einer gegenwärtigen Vergangenheit, in der fremde wie eigene Erfahrung gesammelt wird, vermittelt und von Generationen oder Institutionen. Nicht nur das Vokabular, sondern auch einige Gedankengänge erinnern hier an Martin Heidegger, doch lässt sich Koselleck schwerlich auf ihn beziehen.18 Für Koselleck wohnt der Erfahrung das Verarbeiten von Vergangenheit inne, die jederzeit in der Gegenwart abrufbereit ist. Darüber hinaus ist Erfahrung dadurch gekennzeichnet, „daß sie wirklichkeitsgesättigt ist, daß sie erfüllte oder verfehlte Möglichkeiten in das eigene Verhalten einbindet“19. Erfahrung enthält korrigierbare Erinnerungen, denn neue Erfahrungen können andere Perspektiven freigeben, enttäuschte Erwartungen können „rückwirkend“20 auf sie Einfluss nehmen. Der Erfahrungsraum wird so als Kategorie deutlich, in der das Heute zeitentransparent und -überspannend erscheint, sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenseitig beleuchten. Ebenso ist Erwartung im Heute verankert: Koselleck definiert sie – gewissermaßen ganz im Sinne Augustinus’ – als „vergegenwärtigte Zukunft“, die auf das „Noch-Nicht“ ausgerichtet ist. Wie Erfahrung ist auch dieser Begriff personengebunden und interpersonal zugleich. Hoffnungen, Wünsche, Wille, Furcht und Leid konstituieren die Erwartung, aber auch rationale Analyse und rezeptive Schau sind konzeptionelle Momente und rezipieren so vergangene Erfahrung in zukünftiger Erwartung. Doch gleicht die temporale Struktur der Erwartung nicht jener der Erfahrung. So, wie Erfahrung die Erwartung relativ bestimmt – ohne dass es sich um „symmetrische Ergänzungsbegriffe“ handelte –, ist es nur eine nicht erwartete Wendung, die zu neuen Erfahrungen führt und den Erfahrungsraum bereichert. Erfahrung genügt niemals, um die Erwartung vollends zu determinieren. Daher wählt Koselleck den Begriff Erwartungshorizont und markiert damit jene Linie, die dem Blick aus _____________ 18
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Koselleck unterstellt Heidegger geschichtliches „Desinteresse“ und sieht gar die Gefahr einer Reontologisierung von Geschichte, wenn er in seinem Aufsatz zur Theoriebedürftigkeit schreibt: “Schon in 'Sein und Zeit' wird von der Geschichte fast völlig abstrahiert, die Geschichtlichkeit ist eine Kategorie der menschlichen Existenz, ohne daß zwischenmenschliche und überindividuelle Strukturen thematisiert werden. Der Weg von der Endlichkeit des Daseins zur Zeitlichkeit der Geschichte wird von Heidegger zwar aufgewiesen, aber nicht weiter verfolgt. Daher lauert hinter der Verwendung der fruchtbaren Kategorie Geschichtlichkeit […] die Gefahr einer transhistorischen Ontologie der Geschichte.” Koselleck 1972: 11. Koselleck 1979: 357. Koselleck 1979: 355.
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dem Heute die Zukunft versperrt. Wird sie „wider Erwarten“ durchbrochen, ist die erwartete Zukunft zeitlich überholt, und hinter dem Erwartungshorizont öffnet sich „künftig ein neuer Erfahrungsraum“21. Hier setzt Ricœurs Krisenbegriff an, der im Ausgang seiner Überlegung zu einer Hermeneutik des historischen Bewusstseins entwickelt wird: In der Krise drückt sich die für das historische Sein typische Ausdehnung aus, das Analogon zur augustinischen distentio animi. Vollständig zur Krise wird die Gegenwart, wenn sich die Erwartung in die Utopie flüchtet und die Tradition sich in ein totes Depot verwandelt. Angesichts dieser drohenden Zersplitterung der historischen Gegenwart besteht die Aufgabe […] darin, zu verhindern, daß aus der Spannung zwischen den beiden Polen des Denkens der Geschichte ein Schisma wird; also darin, einerseits die rein utopischen Erwartungen wieder der Gegenwart anzunähern und zwar durch ein strategisches Handeln, das die ersten Schritte festlegt, die in Richtung auf das Wünschenswerte und Vernünftige zu machen sind; und andererseits darin, der Verengung des Erfahrungsraums entgegenzutreten, indem man die ungenutzten Möglichkeiten der Vergangenheit freisetzt. Die Initiative besteht auf der historischen Ebene in nichts anderem als darin, zwischen diesen beiden Aufgaben zu vermitteln. Damit diese Vermittlung aber nicht bloß einen reaktiven Willen ausdrückt, sondern einen Kampf gegen die Krise, muss sie die Kraft der Gegenwart ausdrücken.22
Um das von Ricœur umrissene Gebiet, das es in diesem „Kampf“ zu erobern gilt, mit den Worten Kosellecks auszudrücken: Den sich hinter dem Erwartungshorizont öffnende „künftig […] neu[e] Erfahrungsraum“ gilt es zu beschreiben. Ricœur entwirft den Mímesis-Zirkel, um dieses Problemfeld einzukreisen und sich schließlich an seine Überwindung zu wagen – die immer nur eine zeitweise sein kann, wie sich herausstellen wird. Ricœur verdeutlicht die Kernfunktion des Zirkels gleich zu Beginn seiner Abhandlung: Die von jedem Werk entfaltete Welt ist immer eine zeitliche. Oder wie wir es in diesem Buch oft wiederholen werden: die Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.23
Dem wäre präzisierend für diese Untersuchung hinzuzufügen, dass gerade das sich Einschreiben von Zeiterfahrung in Texte – genauer: ihre Vermittlung über Mythopoemata – es dem Rezipienten erlaubt, sich ein Bild einer vergangenen Zeit zu machen und diese im Prozess der Neudeutung, des Neuverstehens und -verfassens (von Mythen) aus der jeweiligen historischen Perspektive heraus zu verorten. Es geht also um mehr als das für Ricœur vorrangige Überwinden der Zeitparadoxa, wie sie sich im Ausgang des XI. Buches der Augustinischen Confessiones beschrieben finden. _____________ 21 22 23
Koselleck 1979: 356. Ricœur 1991: 379. Ricœur 1988: 13.
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Für die Entwicklung des Mŷthos als Feld und das Ansinnen, hieraus den Mŷthos als kontinuierliches Moment der Tradition und so mithin als Medium der Historiographie zu bestimmen, steht jedoch die Frage nach Zeit im Sinne von Epoche, Zeit-Geschichte und Zeitentwicklung im Vordergrund. Denn auch als solche, so die These, schlägt sie sich im Mŷthos und seinen Variationen nieder. Und der Mensch, der Mythen liest, schreibt, fortschreibt, ist ein „mythisches Wesen“, ebenso wie es Dilthey für den Menschen als geschichtliches Wesen annimmt,– das wiederum eine Spezies des geschichtlichen Wesens ist, deren Spezifikation das Erzählen wäre. Wie in den folgenden Kapiteln deutlich werden wird, geschieht das „narrative Artikulieren“ von Zeiterfahrung bei Ricœur, durch das, was als Fabelkomposition beschrieben wird und sich – streng betrachtet – über alle drei Stufen des Mímesis-Zirkels erstreckt. Gewiss ist Mímesis II als Stufe der Konfiguration des Textes hierfür produktionsästhetisch betrachtet wesentlich. Doch ist sowohl auf der Ebene der Präfiguration (Mímesis I) wie auch auf der der Refiguration (Mímesis III) das Moment der Komposition, in unserem Sinne der Mímesis prâxeos resp. sýstasis tôn pragmáton, gegenwärtig, weil ein Verständnis entsteht. Was „narrativ artikuliert“ wird, ist dabei jedoch nur vermittelt Zeit. Primär ist es Handlung. Handlung ist aber Zeitenabfolge in dem Sinne, dass es eine Entwicklung in der Handlung gibt, also einen Anfang und ein Ende, die über die Beschreibung der Handlung begriffen werden können. So ist Handlung immer an Zeitabläufe gebunden. Darüber hinaus vollzieht sich Handlung jedoch als prâxis eines Charakters, wie bereits in den Überlegungen zur aristotelischen Poetik deutlich wurde. Aus der prâxis wird ausgewählt und eine Erzählung konfiguriert. Ein Charakter jedoch handelt immer in einem bestimmten Kontext, der Lebenswelt. Lebenswelt jedoch ist nicht ahistorisch, sondern in dem zeitlichen Gefüge zu verstehen, das sie bestimmt. Somit handelt ein Charakter so, wie es seine Zeit von ihm verlangt – oder gerade ihr entgegengesetzt. Der von Ricœur entwickelte Ansatz wird daher unter der Prämisse gewählt, Zeit mit einem Akzent auf erlebte Zeit (und so mithin Geschichte) zu verstehen. Und dies ist, wie bereits angedeutet wurde, im Modell des Mímesis-Zirkels durchaus angelegt.24 Der dreistufige Mímesis-Zirkel beschreibt auf seiner ersten Stufe (Präfiguration – Mímesis I) das Handeln und die lebensweltliche Erfahrung: Ein in der realen Welt existentes Dasein, der Aktor25, nimmt die Lebens_____________ 24
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Ricœurs Fragen an die Historiographie hingegen ergeben sich primär aus den Fragen nach der Intentionalität und Kausalität, denen Geschichte ebenso unterliegt wie die Zusammenführung der Handlungen im aristotelischen Mŷthos. Vgl. Ricœur 1988: 263 ff. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Benennung: Autor, Agent, Aktor, Akteur… Hier wird der Begriff des Aktors gewählt, da die Komponente des Handelns von großer Bedeu-
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welt26 wahr, agiert in ihr und versteht sie somit. Diese Wahrnehmung ist selektiv, denn wir nehmen wahr und verstehen etwas aufgrund unserer Vorkenntnisse. Jedes Individuum rezipiert, je nach seinem Vermögen, einen Sachverhalt auf seine Weise – und somit anders als ein anderes. Jedoch eint alle Aktoren, dass sie ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln haben, das in ihrer Natur angelegt ist. Dies entspricht durchaus dem, was Aristoteles in der Poetik für den Begriff der Mímesis festhält, wenn er notiert, dass es in der Natur des Menschen liege nachzuahmen – und zwar auch Handlungen. Doch erweitert Ricœur hier den Handlungsbegriff. Er denkt bereits der Handlung selber eine dreigliedrige Struktur zu: [E]ine Handlung nachahmen oder darstellen heißt zunächst, ein Vorverständnis vom menschlichen Handeln zu haben: von seiner Semantik, seiner Symbolik und
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tung ist und aristotelisch die poíesis bereits als Akt des menschlichen Handelns im Sinne einer Grundbestimmung des menschlichen Wesens gefasst wurde. Zudem ist im Deutschen der Begriff des Aktors nicht gebräuchlich, somit schwingt keine unbeabsichtigte Konnotation mit, wie es bei Agent oder Akteur der Fall wäre. Auch scheint dieser Terminus hinsichtlich seiner erneuten Verwendung klarer als der des Autors, nämlich dann, wenn der Leser nach dem Akt der Refiguration selber zum Aktor wird,. Dass im konkreten Fall der Verschriftlichung einer Erzählung der Aktor ein Autor ist, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Die mit dem Autor einhergehende Problematik, wie sie in der Diskursanalyse auffindbar ist, wird so weitgehend ausgeblendet. Die Vermittlung von Lebenswelt war bereits bei Aristoteles erläutert worden, der sie als Darstellungsraum der sýstasis tôn pragmáton festgehalten hatte. Auch hier soll im Sinne des Lebensweltbegriffes, den der Soziologe und Husserlschüler Alfred Schütz entwirft, hinsichtlich der Wahrnehmung und des Handelns betrachtet werden, weshalb er noch einmal angeführt werden soll. Schütz’ Begriff ist die Weiterführung von Husserls Begriff, der jedoch in seiner mundanen und nicht in seiner transzendental apriorischen Bedeutung gebraucht wird als „transzendental apriorischer“, wodurch eine sozialwissenschaftliche Komponente hinzukommt. Den Begriff der Lebenswelt, wie ihn Schütz zu Beginn seiner Überlegungen fasst, soll daher noch einmal zitiert werden:„Die Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen, für den – in der natürlichen Einstellung verharrenden – Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt. Sie ist der Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen. Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.“ Sprondel et al. 1979: 25.
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seiner Zeitlichkeit. Von diesem Vorverständnis, das dem Dichter und seinem Leser gemeinsam ist, löst sich die Fabelkomposition und damit die textuelle und literarische Ebene ab.27
Auf zweiter Stufe (Konfiguration – Mímesis II) steht nun das Moment der Zusammenführung von Erfahrenem in Form von Text im Zentrum. Diese Konfiguration von Erfahrungen geschieht nach den Kriterien der aristotelischen Fabelkomposition, und Ricœur versteht den „Text“ so, dass „über den Sinn der Sprache hinaus schließlich die Welt“28 vermittelt wird. Die Stufe der Mímesis II, die Ricœur als „Angelpunkt“29 seiner Überlegungen versteht, verknüpft das Moment der Präfiguration mit dem Akt der Refiguration. Sie vermittelt zwischen der Lebenswelt des Aktors und der Lebenswelt des Lesers und ermöglicht die Rückführung von Einsichten des Aktors zum Handeln. Die Stufe der Mímesis II bezeichnet jenen Modus des Mímesis-Zirkels, in dem die Fabelkomposition die Zeit konfiguriert. Auf dieser Ebene muss das zuvor auf der Ebene der Präfiguration Gefasste vermittelt werden. Hinzu kommen Kriterien der Fabelkomposition und die Frage nach der narrativen Kompetenz, die die Konfiguration ausmacht und den Weg zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Text auf der Stufe der Mímesis III ebnet. An dieser Stelle treten wir nach Ricœur in das „Reich des Als ob“ ein, also in das der Fiktion. Ricœur wählt den Begriff des Als ob, um das zu fassen, was in der „Literaturkritik“ gemeinhin unter Fiktion begriffen wird.30 Für uns ist es wichtig, zu bemerken, dass Ricœur das Als ob sowohl als Synonym für narrative Gebilde als auch als Antonym für den Anspruch historischer Erzählungen, „wahre“ Erzählungen zu sein, gebraucht.31 In diesem Sinne spricht Ricœur von Komposition oder Konfiguration, in dem sich die Bedeutung des aristotelischen Mŷthos-Begriffs _____________ 27 28 29 30
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Ricœur 1988: 103. Ricœur 1988: 122. Ricœur 1988: 88. Die Übersetzung von „critique littéraire“ als „Literaturkritik“ (Ricœur 1988: 123) leitet fehl. „Kritik“ ist verstehen, wie Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft fasst, also im Sinne einer Analyse der Möglichkeit von Erkenntnis. Gemeint ist hier das, was man im Deutschen als Literaturwissenschaft bestimmt. So wird dieser Begriff im Weiteren auch verwandt. In der deutschen Literaturwissenschaft werden die Begriffe Fiktion und Reich des Als ob (Als ob in der deutschen Übersetzung von Zeit und Erzählung, weshalb der Begriff in diesem Zusammenhang ohne Bindestrich geführt wird) synonym gebraucht. Oft wird der Begriff der Fiktion mit dem der Narrativität eng geführt oder gar synonym gebraucht. Dies will Ricœur vermeiden, da für ihn Narrativität als Modus des Textes und somit als Struktur im Vordergrund steht. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden wird später hinsichtlich der Referenz erläutert werden. Vgl. ferner Ricœur 1988: 122–135. ferner: „[…] die Refiguration der Zeit durch die Erzählung ist nach meiner Ansicht das gemeinsame Werk der historischen und der Fiktionserzählung“. Ricœur 1988: 140.
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als sýstasis tôn pragmáton zeigt. Auf der dritten Stufe des Zirkels (Refiguration – Mímesis III) ist die Rolle des Lesers/Rezipienten ausschlaggebend, rezipiert er doch die konfigurierte Erfahrung (Mímesis II) und führt sie zurück in den Bereich des Lebensweltlichen und der Handlung (Mímesis I). Auf der Ebene der Mímesis I steht das handelnde Subjekt im Mittelpunkt, das in seiner Lebenswelt agiert und sie durch die Agitation wahrnimmt (d. i. der Aktor). Hingegen ordnet Ricœur der Ebene der konfigurierten Zeit, der Vermittlung der Handlung (in der Welt des Als ob), kein Subjekt zu.32 So steht nun auf der Stufe der Mímesis III der Rezipient – der Leser – oder pauschaler gefasst: das Publikum – im Zentrum der Überlegungen. Es wird sich zeigen, dass es diese Stufe des MímesisZirkels ist, die den Schnittpunkt zwischen der Als ob-Welt des Textes und der des Lesers bildet; auf ihr wird die Handlung interpretiert, wodurch die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt und somit wieder in die Zeit des Handelns und des Leidens, die Mímesis prâxeos und Mímesis phŷseos, eintritt, wobei diese Zeitlichkeit spezifisch zu verstehen ist. Hier zeigt sich, was Hans-Georg Gadamer als „Anwendung“ definiert hatte: sich immer neu erfindendes Verstehen durch Rezeption.33 Auf dieser Stufe des MímesisZirkels erreicht die „Dialektik des Innen und Außen ihren Höhepunkt“.34 Das Verstehen kann aber zur Herausforderung für den Leser werden, wenn ein Text unzureichend konfiguriert ist oder den Kenntnisstand des Lesers, dessen Wissen und/oder Erfahrung übersteigt. Zugleich wird hier die Doppelfunktion der Erfahrung deutlich: Zum einen ist sie Grundlage für ein Verstehen und Lesen von Welt, ebenso wie von Texten und Spuren – und somit Schlüssel zum Erzählen –, zum anderen wird sie durch _____________ 32
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34
Wie wäre ein Subjekt auf dieser Ebene zu fassen? Der Text als etwas, das Antwort auf eine immer neu zu stellende Frage gibt, scheint (nicht zuletzt mit Hans-Georg Gadamer) zunächst in Frage zu kommen. Doch ist Text hier nicht als ein bestimmter Text zu verstehen, sondern vielmehr als die unabschließbare Gesamtheit von Texten. Text mithin insofern aus, als „Text“ doch wandelbar und somit unstetes Subjekt. Vielleicht könnte man vom Text als einer Art Überschneidungspunkt zweier Subjekte sprechen: Dem Text kommt eine zentrale Bedeutung hinsichtlich der Vermittlung von Zeit und Handlung zu. Er wurde von einem Aktor verfasst und wird von einem Leser gelesen, der ihn refiguriert. Im Text begegnen sich diese beiden in gewisser Weise. Der Autor wendet sich (und sei es implizit) im Text an den Leser. Der Leser konsultiert (wenn man davon ausgeht, was Ricœur später tut, dass Text Rat gibt, verändert und auf Veränderungen eingeht, so scheint dies der treffende Ausdruck) den Text und somit den Autor. Es scheint Mímesis II kann überhaupt keiner Instanz eindeutig zugeordnet werden. Auch in dieser Hinsicht ist sie Vermittlung zwischen Autor und Leser: in Mímesis II ist der Autor Leser und der Leser Autor. Zum sowohl subjektiven als auch objektiven Ansatz gegenüber Text vgl. Ricœur 1978: 113. Gadamer 61990: 312 ff., 320 ff., 335 ff. Vgl. ferner die Ausführungen zum Mímesis-Zirkel im Ausgang der Aristotelischen Poetik (Abb. 2). Ricœur 1988: 85.
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die Rezeption von Texten erweitert. Dem Leser soll auf der Ebene der Handlung eine besondere Rolle zukommen. Und zwar insofern, als dass er […] der Agierende im besonderen Sinne ist, der durch seine Tätigkeit – das Lesen – die Einheit des Weges von der Mímesis I über die Mímesis II zur Mímesis III auf seinen Schultern trägt.35
Doch kommt auch der Handlung – und dies verdankt sich der Lesart der Poetik – generell eine zentrale Bedeutung zu: Handlung wird interpretiert, diese Interpretation wird verschriftlicht und so zu Text. Der Text wird im Akt des Lesens interpretiert und aktualisiert, um sodann in erneutes Handeln (des Lesers) einzufließen. Dieses Handeln steht wieder der Interpretation offen, womit sich der Zirkel schließt. Dass dies möglich ist, verdankt sich neben dem Umstand der mehrfachen Lesart von Handlung und Mímesis deren Bezügen zu Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit sowie deren Ausrichtung auf die kátharsis. Soll auf der Stufe der Präfiguration gemäß Aristoteles’ Grundsatz das Wahrscheinliche darzustellen, dieses als der Rahmen der Möglichkeiten aufgezeigt werden, so findet sich auf der Stufe der Konfiguration der Mŷthos als Vermittler eben dieser Wahrscheinlichkeit. Mímesis III stellt hingegen die Ebene der kátharsis selbst dar, was eben durch den Übergang von prâxis zu theoría möglich ist, wie er bereits dargelegt wurde. In einer zeitlichen Dimension gesprochen, führt der Mímesis-Zirkel vom Vorher zum Nachher des Textes und leistet so die Vermittlung von Zeit durch Erzählung – oder wie im Folgenden deutlich werden soll: von Geschichte durch Erzählung. Der Zirkel selbst ähnelt dem Zirkel, den Heidegger in Sein und Zeit, § 32, im Dienste einer Analytik des Daseins entwickelt, und muss – ganz dem Gedanken der Mímesis entsprechend – als ein dynamischer gedacht werden. Der Gewinn dieser Methode zeigt sich darin, dass von einem Akt der fortgeführten Konfiguration und somit kontinuierlichen (wenn auch selektiven!) Weitergabe ausgegangen wird und Handlung und Text in ein enges Verhältnis zueinander gesetzt werden. Beide sind dabei in ein Gepräge von Vor-Kenntnissen, Prägungen kultureller Matrix gefügt. Allgegenwärtig ist immer ein kausal-determinatorisches Verstehen. Deshalb kann über das Erzählen und Rezipieren des Mŷthos nicht nur ein Akt der Welterfahrung geleistet werden kann, sondern auch der Erfahrung von Geschichte und Kultur. Mit Ricœur ließe sich also einen Schritt weiter gehen als mit Ansätzen wie denen von MacIntyre oder Hardy, die konstatiert: My argument is that narrative, like lyric or dance, is not to be regarded as an aesthetic invention used by artists to control, manipulate, and order experience, but
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Ricœur 1988: 88f.
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as a primary act of mind transferred to art from life. The novel merely heightens, isolates, and analyzes the narrative motions of consciousness. […] For we dream in narrative, daydream in narrative, remember, anticipate, hope, despair, believe, doubt, plan, revise, criticize, construct, gossip, learn, hate, and love by narrative. In order really to live, we make up stories about ourselves and others, about the personal as well as the social past and future.36
Denn wir erzählen nicht nur zur Selbstverortung, wir erzählen so, wie wir als in unserer jeweiligen Zeit „geworfene“ Subjekte sind – nahezu ganz den Strömungen der Epoche und den Sedimentierungen und Traditionen ausgesetzt. Eben deshalb kann der Mŷthos etwas davon preisgeben, was war. Die Methode, mit der Ricœur versucht die Aporien der Zeitlichkeit durch den Mímesis-Zirkels zu überwinden, ist hermeneutisch; man kann sie aber konziser als Texthermeneutik bezeichnen. Ricœur wählt die Hermeneutik in Abgrenzung zur Semiotik, um sich von einer reinen Textbetrachtung zu lösen. Ziel seiner Methode ist es, die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es aufnimmt und dadurch sein Handeln verändert.37
Dieser Ausgangspunkt ist für diese Untersuchung wesentlich: Wie bereits betont wurde, gilt es, den Mŷthos im Sinne der mythischen Methode als Bedingung und Voraussetzung von Ansätzen der Intertextualität zu denken. Obwohl dem Text selbst, der im Falle Ricœurs mit Mímesis II erfasst wird, eine zentrale Rolle zukommt und obwohl an James Joyces Ulysses exemplifiziert wurde, wie Mŷthos zu ordnen vermag, ist die ausschließliche Betrachtung und Analyse des Textes allein nicht hinreichend. Vielmehr ist es der Prozess der Vermittlung zwischen Präfiguration und Refiguration mithilfe des Textes, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Und somit auch die Handlung als lebensweltliche prâxis, die hierbei mitbedacht werden muss.38 Für Ricœur wird es durch diesen Prozess gar erst möglich, von einer Vermittlung von Zeit kraft der Erzählung zu sprechen. So scheint es sinnvoll, einen (text-) hermeneutischen Ansatz zu wählen, der sich die _____________ 36 37
38
Hardy 1968: 5. Ferner hierzu MacIntyre 1981. Ricœur 1988: 88. Ricœur setzt sich hierbei in Teilen stark von Gadamer ab, zum Beispiel wenn er sich nicht scheut, ideologiekritische Ansätze in seine Methode aufzunehmen, den Schwerpunkt also nicht auf die „oft unmögliche[], immer irreführende[] Suche nach einer hinter dem Werk verborgenen Intention“ zu legen, sondern fragend nach der „Welt“ und deren Verständnis durch den Menschen zu suchen (vgl. Ricœur 1986: 214f.). Vgl. zu Methodik und Abgrenzung auch Polti. Deshalb wird hinsichtlich der Fragen der Intertextualität resp. Transtextualität mit den Begriffen Gerard Genettes operiert. Operierte man mit Kategorien z. B. Julia Kistevas, so drohte ein Abgleiten in semiotische Fragestellungen – was hier jedoch vermieden werden soll, geht es doch darum, Geschichte, Alltag und Lebenswelt zu ordnen, nicht die Sprache.
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Rekonstruktion dieses Prozesses zur Aufgabe macht, geht Ricœur doch davon aus, dass „[f]ür die Semiotik [...] der einzige stichhaltige Begriff derjenige des literarischen Textes“ bleibt.39 Indes ist es gerade Ricœurs Verständnis von Hermeneutik als Praktik der Vermittlung und vor allem der Rekonstruktion des Verhältnisses von praktischer Erfahrung und Werk, Autor und Leser die ihm zur Erfassung der Prozesse geeignet scheint.40 Inwiefern dies auch für die Frage des Mŷthos als Methode der Vermittlung, als Modell zur Erfassung der Prozesse und somit dem Mŷthos als „narrative[m] Modell“41 gilt, dem soll nun nachgegangen werden. Und zwar indem Ricœurs Vermittlung von Zeit und vor allem Geschichte ebenso wie von Symbolen und Semantik nachgezeichnet und verfolgt wird.
2. Das Vorverständnis von Handlung als Grundlage für die Vermittlung von Geschichte – Mímesis I Wie bereits konstatiert worden war, besteht der große Gewinn für die vorliegende Untersuchung darin, dass das Moment der Darstellung von Lebenswelt, das schon bei Aristoteles aufgezeigt werden konnte, bei Ricœur eine Zuspitzung erfährt. Diese ist dergestalt, dass bereits den Handlungen mit einem interpretatorischen Impetus begegnet wird, der sich in die Trias von Semantik, Symbolen und Zeit aufgliedern. Ferner ist _____________ 39
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Ricœur 1988: 88. Dieser Aussage wäre zum Beispiel mit Roland Barthes vehement zu widersprechen, der in Das semiologische Abenteuer aufzeigt, dass auch der semiologische Ansatz sehr wohl über den literarischen Text hinaus angewendet werden kann: „Was also ist ein Text? Ich werde nicht mit einer Definition antworten, das käme einem Rückfall in das Signifikat gleich. Der Text, im modernen Sinn, den wir diesem Wort zu geben versuchen, unterscheidet sich grundlegend vom literarischen Werk: Er ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; er ist nicht eine Struktur, sondern eine Strukturierung; er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren; die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus; der Text geht über das frühere literarische Werk hinaus; es gibt zum Beispiel einen Text des Lebens, in den ich durch das Schreiben über Japan Eingang zu finden suchte.“ (Barthes 1988: 11) Wie bereits erwähnt, wird hiermit klar dem Ansatz Gadamers gefolgt, wenn auch im Ausgang dessen, was Schleiermacher in dem vielzitierten Diktum beschreibt, wenn er Hermeneutik „als Kunstlehre des Verstehens” fasst, die „von der einfachen Tatsache des Verstehens ausgehend aus der Natur der Sprache und aus den Grundbedingungen des Verhältnisses zwischen dem Redenden und dem Vernehmenden ihre Regeln in geschlossenem Zusammenhang entwickelt“. (Schleiermacher 1977: 346). Als solches fasst Ricœur den Mímesis-Zirkel (Ricœur 1989: 260).
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der Aktor, der Lebenswelt wahrnimmt, von Ricœur als „verstricktes Subjekt“ determiniert: verstrickt in ‚seine’ Zeit, ‚seine’ kulturelle Matrix und als Träger von etwas wie einem kulturellen Gedächtnis. Mithin erfolgt die sýstasis tôn pragmáton, die mímesis práxeos und somit insgesamt die Weitergabe von Bekanntem immer im Rahmen einer Anknüpfung an Traditionen und in den Geflechten von Konventionen. Wie genau das Agieren in Lebenswelt und die Wahrnehmung von Handlungen in der Lebenswelt gedacht werden muss, wird auf der Stufe der Mímesis I deutlich. Hier nimmt ein in der realen Welt existentes Dasein, der Aktor, die Lebenswelt wahr, agiert in ihr und versteht sie so.42 Diese Wahrnehmung ist selektiv. Wir nehmen wahr und verstehen etwas aufgrund unserer Kenntnisse von der „Semantik der Handlung“43. Rezeption ist immer an das rezipierende Subjekt gebunden. Jedoch eint alle Aktoren, dass sie vom menschlichen Handeln ein Vorverständnis haben, das in ihrer Natur angelegt ist. Dies entspricht durchaus dem, was Aristoteles in der Poetik für den Begriff der Mímesis festhält. Dort notiert er, dass es in der Natur des Menschen liege nachzuahmen – auch Handlungen. Doch erweitert Ricœur hier den Handlungsbegriff. Und zwar dahin gehend, dass bereits der Handlung selber eben jene dreigliedrige Struktur von Semantik, Symbolik und Zeitlichkeit zugedacht wird, deren Vorverständnis Grundlage jedweder zur Nachahmung sind. 44 Um die Präfiguration der Handlungsebene, von der aus sich die Möglichkeit der Fabelkomposition ergibt, näher zu bestimmen, sollen zunächst die drei genannten Momente des Vorverständnisses des menschlichen Handelns erläutert werden. i. Semantik Um eine Handlung durch einen Mŷthos darzustellen, muss man die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen erkennen können, was ein Verständnis der „Semantik der Handlung“ voraussetzt. Ricœur operiert hier mit den Termini der Linguistik, und die folgerichtige Verwendung des Begriffsnetzes ist für ihn Indiz „praktische[n] Verstehens“45. Die gefragte Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, Begriffe und ihre Verknüpfungen (im Sinne der von de Saussure implizierten intersignification innerhalb des Begriffsnetzes) auf angemessene Art verwenden zu können; Begriffe und _____________ 42
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Bereits zuvor war dies mit dem Gadamerischen Terminus der „Anwendung“ erfasst worden. Ricœur 1988: 103. ibid. Ricœur 1988: 92.
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Verknüpfungen, welche die Handlung determinieren und sie somit lebensweltlich erfahrbar machen.46 So erhält eine Handlung (auf sprachlicher Ebene, die jedoch auch immer eine Reflexion der Handlung im Sinne der Aktion impliziert) ihren Sinn, indem sie in Relation zu anderen Begriffen des Begriffsnetzes gebracht wird. Hieraus lässt sich für die Gestalt einer Handlung folgern, dass sie ein Ziel und Motiv hat und einem Subjekt zugeschrieben wird. Dies wiederum bedingt, dass es zur Interaktion mit anderen Subjekten kommen kann, womit sich die Handlung durch die Umstände ihres Vollzugs kontextualisiert, was zu jeweils verschiedenen Ausgängen der Handlung führt. Relevant ist nun der Übergang vom praktischen zum narrativen Verstehen. Zunächst ist praktisches Verstehen als Bedingung des narrativen Verstehens zu begreifen, wird doch eine Kenntnis des Begriffsnetzes (Handelnder, Konflikt, Kooperation, Hilfe, Feindseligkeit etc.) bei Erzähler und Publikum vorausgesetzt, was in dem folgenden „narrative[n] Minimalsatz“ zutage tritt: X macht A unter diesen oder jenen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Y unter den selben oder anderen Umständen B macht.47
So abstrakt dieser Satz auf den ersten Blick erscheinen mag, so klar zeigt sich hier die Bedeutung des Handelns oder des „Tuns“ und somit des Aktors, um es in einem phänomenologischen Schlagwort zu fassen. Denn zum praktischen Verstehen als Bedingung für narratives Verstehen kommt das Moment des Übergangs von praktischem zu narrativem Verstehen hinzu: Die Erzählung ergänzt das Begriffsnetz um diskursive Merkmale, sodass sich die Ganzheit einer Erzählung von einer bloßen Abfolge von Handlungssätzen sehr wohl unterscheidet. Dies sind syntaktische Merkmale, die nicht mehr zum Begriffsnetz der Handlungssemantik gehören. Ihre Funktion ist es, die Komposition der Redemodalitäten (im Rahmen der Konfiguration) zu bewältigen. Hieraus folgt sodann ein „narratives Verstehen“48, als ein Verständnis von dem, was die Erzählung enthält. Voraussetzung hierfür ist die Kenntnis der Kompositionsregeln. Ferdinand de Saussure, auf den Ricœur hier rekurriert, fasst die paradigmatische Ordnung als Gruppe von Wörtern (die auch synonymen Charakters sein können), welche untereinander in Beziehung stehen. Ihre Relation wird assoziativ komponiert. So ist das Begriffsnetz als paradigmatische Ordnung zu fassen, also als eine Gruppe von Wörtern, deren Verbindung darin besteht, dass sie durch ihre Handlungsbezogenheit bestimmt sind. Bei der syntagmatischen Ordnung stehen Wörter aufgrund ihrer Verkettung miteinander in einem Verhältnis untereinander. Durch die _____________ 46 47 48
Vgl. hierzu Ricœur 1977: 22. Ricœur 1988: 92. Ibid.
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Aneinanderreihung kommt ihnen eine spezifische Bedeutung zu. Dieses Verhältnis beruht auf dem linearen Charakter der Sprache. Zudem zeichnet sich die syntagmatische Ordnung durch die Entscheidung aus, ein bestimmtes Wort zu verwenden. Die langue findet so ihre spezielle Bedeutung durch ihre Anwendung in der parole.49 Die Erzählung ist für Ricœur ein Syntagma, in dem durch die bestimmte Anordnung von Wörtern diesen eine Bedeutung und ein Verständnis zukommen. Dies bedeutet: Durch die Ordnung des Erzählens erkennen wir zum Beispiel syntaktische Fehlkonstruktionen (wie Anakoluthe, Aposiopesen oder Ellipsen) und können ihnen zugleich einen Sinn zugestehen. Wichtig hierfür ist das Vorverständnis einer ‚Ordnung der Dinge‘. Der Gewinn des Gedankens einer Bedingtheit von praktischem und narrativem Verstehen durch das Zugrundelegen der handlungsbezogenen Ebene der Begriffe des Begriffsnetzes in das Syntagma „Erzählung“ liegt auf der Hand: Den Beschreibungen von Handlung wird eine determinierte Bedeutung zugesprochen, und sie werden insofern ihrer Virtualität enthoben – also festgelegt. So kann Ricœur die Beziehung zwischen narrativem und praktischem Verstehen zunächst unter dem Gesichtspunkt der „Aktualität“ fassen. Ihm folgt schließlich jener der „Integration“. Dieser ergibt sich aus der Einheit heterogener Handlungsbegriffe (Motiv, Handlung, Umstände etc.) in der Erzählung, so dass sie in einer Totalität zusammenwirken, die eben auf dem Verstehen und Vorverstehen von Handlungen basiert. In diesem Sinne bildet die zweifache Beziehung zwischen Regeln der Fabelkomposition und Handlungsbegriffen eine Beziehung der Voraussetzung und zugleich der Verwandlung. Eine Geschichte verstehen heißt, zugleich die Sprache des „Tuns“ und die kulturelle Überlieferung zu verstehen, auf der die Typologie der Fabel beruht.50
Bezogen auf das zuvor mit Blick auf die Poetik Festgehaltene, ist hier das angesprochen, was als Moment der prâxis und der Gerichtetheit derselben gefasst wurde, wie es sich erst durch die Verbindung mit der êthe ergibt. Eine Handlung selbst ist erst dann moralisch oder amoralisch, wenn sie eine Gerichtetheit hat und diese erkannt und im Spektrum von Moral verortet wird. Hinsichtlich der „Typologie der Fabel“ bedeutet dies, dass die Bedingtheit der einzelnen Handlungen begriffen wird, wie sie der Aufbau der Fabel (promythion/actio/reactio/eventus/epimythion) vorgibt. Basis hierfür ist die theoría, die durch den Prozess der Mímesis gebildet wird und _____________ 49 50
Vgl. Saussure 21967:139–150. Ricœur 1988: 93. Durch den Begriff der Typologie wird hier, neben den einander bedingenden Strukturmomenten der Fabel, zugleich auf die zuvor unter Verweise auf de Saussure explizierte grammatikalische und morphologische Bedingtheit von Sprache angesprochen.
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als Vorbedingung dessen verstanden werden muss, was bei Ricœur mit dem „Verstehen“ beschrieben wird. Ferner kommt hinsichtlich der „Sprache des ‚Tuns’“ und des Verständnisses der „kulturelle[n] Überlieferung“ erneut dem Gedanken der Tradition, des Kerns und der Fähigkeit zum Wiedererkennen eine tragende Funktion zu. Mithin ist also der Mŷthos als Basis der Vermittlung bereits vor seiner eigentlichen Entstehung durch den Akt der sýstasis tôn pragmáton sinnvolle Bedingung der Möglichkeit des Verstehens und Erkennens. ii. Symbolik Neben der Semantik der Handlung ist die Symbolik derselben bedeutsam. Ricœur bestimmt sie als zweite Verankerung der narrativen Komposition im praktischen Verstehen. Daß nämlich die Handlung erzählbar ist, beruht darauf, daß sie schon in Zeichen, Regeln und Normen artikuliert: immer schon symbolisch vermittelt ist.51
Damit orientiert sich Ricœur im weitesten Sinne an dem Symbolbegriff, den Ernst Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen52 entwickelt hat. In ihm finden sich kulturelle Prozesse artikuliert, für die Erfahrung und Handlung konstitutiv sind. Sie werden durch Symbole vermittelt. Hiervon ausgehend differenziert Ricœur mit Blick auf kulturelle Symbole: Zwischen einem „implizite[n] oder immanente[n] Symbolismus“, der einer Handlung immer schon zugrunde liegt und sogar deren ursprüngliche Bedeutung bestimmt, und einem „explizite[n] oder autonome[n] Symbolismus“, der sich vom Praktischen abhebt und zum Gegenstandsbereich von Wort oder Schrift gehört.53 Im Rückgriff auf Clifford Geertz weitet Ricœur sodann den Symbolbegriff auf eine soziale Ebene aus, indem er dessen „öffentlichen“ Charakter betont. So ist es nach Geertz an den Akteuren des gesellschaftlichen Spiels, die Symbolik, die einer Handlung beigemessen ist, zu entschlüsseln und so die Bedeutung der Handlung zu erkennen.54 Der Fortschritt des in The Interpretation of Cultures entwickelten Begriffs besteht darin, dass das _____________ 51 52
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Ricœur 1988: 94. Der Cassirersche Symbolbegriff erlaubt es, jeglichen menschlichen Ausdruck der Wirklichkeit als Symbolik zu werten, was Ricœur für sein weiteres Vorgehen (zum Beispiel wenn er Handlung vermittels der Symbolik als ‚Quasi-Text’ qualifiziert) entgegenkommt. Cassirer 101994; vgl. auch Cassirer 1996: 47–51 und Cassirer 81994: 201–230. Ricœur 1988: 94. Wenn mit Aristoteles angenommen wird, dass der Mŷthos Lebenswelt darstellt und dieser Begriff, wie vorgeschlagen, mit Schütz gedacht werden soll (womit ein „mundaner“, eine sozialwissenschaftliche Komponente implizierender Begriff angenommen wird), so ist hier ein Symbolbegriff sinnvoll, der den „öffentlichen Charakter“ betont.
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Symbol für Geertz sowohl das intuitive Erkennen durch direkte Anschauung wie auch das symbolische Erkennen impliziert. Das rückt den Begriff in die Nähe der Metapher, und zwar im wörtlichen Sinne des metá-phorein: a system of inherited conceptions expressed in symbolic forms by means of which people communicate, perpetuate, and develop their knowledge about and attitudes towards life.55
Auch hinsichtlich der Symbolik der Handlung greift Ricœur auf den Begriff des Netzes zurück, in dem Symbole in einem System zusammenwirken und so – aus ihrem Zusammenwirken heraus – verstanden werden können. Zur Erläuterung zieht er den Begriff des „Ritus“ heran, den zu verstehen bedeutet [...] ihn im Zusammenhang eines Rituals [und] dieses in einem Kult und schließlich in der Gesamtheit der Konventionen, Glaubensvorstellungen und Institutionen zu sehen, die das Symbolnetz der Kultur bilden.56
So liefert das Symbolsystem den „Beschreibungskontext“ für eine bestimmte Handlung, aus dem heraus eine Geste auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden kann. Im jeweiligen Kontext erkennen wir ein Symbol57 wieder und können es einordnen. Bis diese genauere Interpretation erfolgt ist, figuriert ein Symbol als handlungsinterner Interpretant. Versteht man das Symbol als Interpretanten, so bedeutet dies, dass es ein Symbol an sich nicht geben kann, sondern nur innerhalb einer Handlung. Zwar mutet es merkwürdig an, dass von einem Interpretanten die Rede ist und nicht von einem Interpretanden (i. e. etwas, das interpretiert werden muss). Doch dies erklärt sich aus dem Wechselverhältnis, in dem auch das Symbol steht. Der Handelnde wählt ein Symbol, um eine Handlung auszudrücken. Erst auf der Ebene der Rezeption wird das Symbol von außen betrachtet und schließlich interpretiert und somit zum Interpretanden. Aus dem Beschreibungskontext des Symbolnetzes ergeben sich somit zugleich die Regeln, nach denen Einzelhandlungen beschrieben und interpretiert werden müssen. Ferner kann aus dieser Möglichkeit der Interpretation eines Symbols für Ricœur der Schluss gezogen werden, dass Sym-
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Geertz 1973: 89. Ricœur 1988: 95. So ist wohl auch die ursprüngliche Bedeutung des Symbols als sýmbolon zu bestimmen. In der Antike war das sýmbolon eine Tontafel, die Freunde (Menschen, die einander das Gastrecht gewährt hatten) bei ihrer Trennung brachen. Dadurch entstand eine individuell gestaltete Kante an jedem der beiden Teile. Trat nun ein vermeintlich Fremder Jahre später mit dem Gegenstück der Tafel an einen heran, so musste man auch ihm, der dieses „Symbol“ der Freundschaft bei sich trug, das Gastrecht einräumen, denn man erkannte ihn anhand der Bruchstelle der Tontafel als „Freund“ wieder. Vgl. Picht ²1992: 543f.
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bole einer Handlung eine „Vorform der Lesbarkeit“ verleihen, womit er Handlung als „Quasi-Text“ fasst.58 Von Peter Winch ausgehend, weist Ricœur in einem weiteren Schritt darauf hin, dass der Symbolbegriff nicht nur Regeln für Beschreibung und Interpretation einer Handlung liefert, sondern auch Normen. Sie sind als präskriptive Regeln zu verstehen, die das Leben ordnen. Für Winch sind Terminologien Ausdruck von Symbolen, weshalb er am Beispiel des Begriffs der Freundschaft folgendes demonstrieren kann: [A] new way of talking sufficiently [is] important to rank as a new idea implies a new set of social relationships. Similarly with the dying out of a way of speaking. Take the notion of friendship; we read in Penelope Hall’s book The Social Services of Modern England (Routledge) that it is the duty of a social worker to establish a relationship of friendship with her clients; but that she must never forget that her first duty is to the policy of the agency by which she is employed. Now that is a
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Ricœur 1988: 96. In „Text als Modell“ bestimmt Ricœur diesen Begriff wie folgt: „Im gleichen Sinne, wie der Gesprächscharakter durch die schriftliche Niederlegung überwunden wird, wird der Charakter der bloßen Interaktion in vielen Situationen dadurch überwunden, daß wir das Handeln wie einen fixierten Text betrachten.“ Ricœur 1978: 92. Dieser Begriff mag hier irritieren, soll doch Handlung in Text überführt werden. Ein Blick auf die methodischen Anleihen Ricœurs ist daher sinnvoll. Auf der Ebene der Semantik der Handlung folgt Ricœur in seinen Überlegungen weitgehend dem strukturalistischen Ansatz, wenn er zum Bespiel das Verhältnis von Signifikat und Signifikant übernimmt, das bei Saussure dazu dient, das Begriffsnetz als etwas Lesbares zu beschreiben. Doch gleichzeitig öffnet Ricœur die Saussuresche Perspektive einer Interpretation bei der Abhandlung der Symbolik der Handlung dahin gehend, dass auch er davon ausgeht, dass der Referenzpunkt nicht festgelegt ist und „[d]ie Fabel in dem weiten Sinne […] der Zusammensetzung der Vorfälle (und damit der Verkettung der Handlungssätze) in der für die erzählte Geschichte konstitutiven Gesamthandlung […] das literarische Äquivalent der syntagmatischen Ordnung [ist], die die Erzählung in den Bereich des Praktischen einführt“. (Ricœur 1988: 93.). Hingegen findet eine methodische Verschiebung statt, wenn der Text selber als das Resultat eines produktiven Vorgangs betrachtet wird. Hier nun wählt Ricœur einen poststrukturalistischen Ansatz, indem er den Bezug zu einer kulturellem Matrix annimmt, was den Text wieder für die Interpretation öffnet. Denn der Poststrukturalismus geht von einer Eigenständigkeit des Signifikanten aus und sieht den Referenzbezug des Textes als unstabil. Die vom Strukturalismus angenommene Geschlossenheit des Bedeutungssystems wird hier dekonstruiert. Sprache ist so vielmehr ein System von Differenzen, innerhalb dessen sprachliche Zeichen immer nur auf andere verweisen und nicht von sich aus bedeutungsvoll sind. Text ist also eine unabschließbare offene Zeichenstruktur. Wird aber Bedeutung aus dem Moment der Differenz zwischen den Zeichen heraus festgelegt und nicht aufgrund der Repräsentanzfunktion des Zeichens, bedeutet dies, dass die Sinnfestschreibung im Akt des Sprechens und Schreibens unmöglich ist. Daraus folgt, dass Sprache und Schrift nicht bloß Vermittlungssysteme sind. Was wird aber in Text wiedergegeben? Für Ricœur ist es „[…] der Bedeutungsgehalt des Sprachereignisses, nicht das Sprachereignis als Ereignis“. (Vgl. Ricœur 1978: 86). Ohne diesen Wechsel der Methode wäre der Begriff des Quasi-Textes das „Aus“ des Zirkels: Handlung und Werk fielen ineinander, wenn die Strukturmerkmale der Handlung eins zu eins dem des Textes entsprächen. Text muss also in diesem Punkt als „Textur“ verstanden werden: Die Summe der Symbole bildet eine Struktur, aufgrund deren ein Teil der Handlung interpretiert und einem Ganzen zugeordnet werden kann – ganz ähnlich der Satzstruktur in einem Text.
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debasement of the notion of friendship as it has been understood, which has excluded this sort of divided loyalty, not to say double dealing. To the extent to which the old idea gives way to this new one social relationships are impoverished […] It will not do, either, to say that the mere change in the meaning of a word need not prevent people from having the relations to each other they want to have, for this is to overlook the fact that our language and our social relations are just two different sides of the same coin. To give an account of the meaning of a word is to describe how it is used; and to describe how it is used is to describe the social intercourse into which it enters.59
Diese Interpretation erlaubt es, von der immanenten Bedeutung des Symbolbegriffs als sýmbolon hin zur Norm zu gelangen und somit zur präskriptiven Bedeutung des Symbols, was Handlungen in Relation zu den immanenten Normen des Symbolnetzes einer Kultur setzt. Hierdurch erfahren Handlungen einen relativen Wert, ihnen kommt eine ethische Komponente zu. Dies ist, wie bereits gezeigt wurde, schon in Aristoteles’ Poetik angelegt – wenn auch unter anderen Vorzeichen. Für Aristoteles ist zwar nicht die Handlung, wohl aber der Handelnde immer mit ethischen Qualitäten verbunden, was wiederum bezüglich der Darstellung von Handlungen bedeutet, dass diese beim Publikum Billigung oder Missbilligung evozieren. Ricœur verkennt hinsichtlich seiner Ausführungen an dieser Stelle60 jedoch, dass es ethisch neutrale Handlungen geben kann und dass es dem Bezugspunkt (bei Aristoteles: dem handelnden Charakter) geschuldet ist, eine Handlung ethisch bewertbar zu machen. Davon wird nicht berührt, dass Literatur immer eine ethische Beschaffenheit hat61, auch wenn man die Handlung selbst nicht bereits als immanent ethisch angelegt versteht. Denn der Mŷthos (oder die Fabel als Mímesis prâxeos) ist immer Nachahmung der Handlung eines Charakters und somit ethisch.
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Winch 1958: 123. Dass die Frage nach der Ethik oder der moralischen Gerichtetheit bei Ricœur der Handlung vorgängig ist, wird besonders in Soi-même comme un autre deutlich. Hier (mit Bezug auf Aristoteles vor allem 187ff.) wird über den Begriff der personnage eine Annäherung versucht, die Handlung immer als Handlung eines Subjektes fasst – was durchaus sinnvoll, narratologisch betrachtet mit Blick auf die Frage des Aufbaus einer Handlung jedoch wenig weiterführend ist. „[D]ie Poetik [macht] unaufhörlich Anleihen bei der Ethik, noch wenn sie für die Suspendierung jedes moralischen Urteils oder für seine ironische Verkehrung eintritt. Schon das Projekt der Neutralität setzt die ursprünglich ethische Beschaffenheit der Handlung vor der Fiktion voraus. Diese ethische Beschaffenheit ist selbst nur eine Folge des Hauptzuges der Handlung, immer schon symbolisch vermittelt zu sein.“ Ricœur 1988: 97f. Hervorh. J. S.
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iii. Zeitlichkeit Das Verständnis einer Handlung ist jedoch nicht nur auf das Begriffsnetz der Handlung und ihre symbolische Vermittlung beschränkt. Ein weiteres wichtiges Moment bildet die Zeitlichkeit der Handlung, die zum Erzählen einlädt und an die die Erzählzeit in der Konfiguration anschließt. Auch wenn die Gleichung zwischen Narrativität und Zeit auf der Ebene der Präfiguration implizit bleibt, will Ricœur die Analyse der zeitlichen Merkmale der Handlung doch bis an den Punkt vorantreiben, an dem man von pränarrativer oder gar ursprünglicher narrativer Zeitlichkeit sprechen kann; ist doch im täglichen Sprachgebrauch nicht selten davon die Rede, dass man „in Geschichten verstrickt“ ist62, es also eine pränarrative – genauer müsste man von präkonfiguriert sprechen – Erfahrung von Zeitlichkeit gibt. Für die Aristotelische Poetik hat Zeit nur insofern Bedeutung, als dass eine Erzählung Anfang, Mitte und Ende hat, es also um eine Vermittlung von einem Vorher zu einem Nachher geht. Ferner ist Zeit als „Lebenszeit“ thematisiert. Sie gibt der Geschichte den Rahmen vor, in deren Gefüge über eine Person berichtet werden muss, wogegen die Dichtung aus der Biographie Einzelereignisse herausgreifen kann.63 Daher wird mit diesem Aspekt der Präfiguration dem Mŷthos eine Ebene zuteil, die mehr als nur eine Bereicherung im Sinne der Ergänzung ist. Es wird deshalb der Gang detailliert beschrieben, den Ricœur zur Realisierung dieser Bestimmungsfacette des Pränarrativen geht. Inwiefern dies bezüglich der historischen Dimensionen des Mŷthos von Bedeutung ist, ist bereits in Teilen erörtert worden. Hier jedoch wird als Ausgangspunkt die alltägliche Erfahrung und der Umgang mit Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, so wie das „ins Verhältnisbringen“ dieser drei Zeitekstasen als praktische Verflechtung und mithin als die elementarste „Vorform der Erzählung“64 fokussiert. Gerade am In-der-WeltSein zeigt sich somit die Struktur des Pränarrativen. Dies kann mit dem existenzialen Zeitbegriff verknüpft werden, wie ihn Heidegger in Sein und Zeit entwirft. Heidegger begreift den Vollzug des Daseins als Verflechtung von Dasein und Welt. Das Dasein ist das einzige Seiende, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht – gerade auch im „Sein zum Tode“65. Die_____________ 62
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Vgl. hierzu die einleitenden Bemerkungen zu Ricœurs Überlegungen in der vorliegenden Untersuchung, wo der Begriff in seiner Verwendung durch Schapp erwähnt und ferner als Grundlage des Verstehens bei Dilthey mit Blick auf das Verstricktsein beleuchtet wird. Vgl. hierzu die Ausführungen zur Geschichte, der Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles. Ricœur 1988: 99. Diesen Ansatz greift Ricœur erneut auf, wenn er hinsichtlich der Mímesis III von der „erzählten Zeit“ spricht; auch sie ist eine Zeit der Handlung, wenn auch der Ebene der Erzählung. Heidegger 101963:263ff (§ 53).
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ser Vollzugssinn ist die Sorge, in der die anderen Existenziale konvergieren. Existenziale werden dabei als Weisen verstanden, in denen sich das Dasein „zeitigt“, sich also vollzieht und realisiert. Diese sind zum Beispiel „In-Sein“, „In-der-Welt-Sein“, „Rede, „Verstehen“ oder „Hören“. Ricœur spricht von einem „anthropologischen“ Ansatz, wenn er auf Heidegger rekurriert. Dem engeren, wissenschaftlichen Sinne des Wortes „anthropologisch“ würde Heidegger hier sicher widersprechen (vgl. Sein und Zeit § 10), doch kann anthropologisch hier so verstanden werden, dass es beim ekstatischen Zeitbegriff, den Heidegger entwirft, um die menschliche Weise geht, Zeit zu erleben. Ekstatisch ist hier als ex-stare, also Heraus-ausStehen zu interpretieren, als gleichzeitiges Streben in verschiedene Richtungen. So impliziert der Begriff hinsichtlich der Zeitlichkeit, unter dem Heidegger die ursprünglichste Zeiterfahrung fasst, die drei Zeitekstasen, wie sie sich bereits im Mittelpunkt der Untersuchungen der Zeit bei Augustinus finden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Heidegger grenzt sich von Augustinus ab, indem er das Primat der Zukunft gegenüber der Gegenwart einführt und die Geschlossenheit dieser Zukunft gegenüber jeder Erwartung. Auch dies ist durch das in der Einleitung zu Sein und Zeit erklärte Ziel der Destruktion der klassischen Ontologie erklärbar. Doch sind dies „entsubstantialisierte“ Zeitbegriffe und sie demonstrieren die „Zersprungenheit“ der Zeit, die in der Sorge gleichsam zusammenfindet. Die Sorge schöpft aus einem Erfahrungsschatz (Vergangenheit, Geschichte, Tradition) auf ein Zukünftiges hin, was notwendigerweise in der Gegenwart, im Jetzt stattfindet. Die Gegenwart als erzählende Zeit ist sukzessiv; in der Rede folgen Wörter chronologisch aufeinander66 – Ricœur verdeutlicht dies später als Struktur des „Dann-und-dann“.67 Bei Heidegger unterscheidet sich der exstatische Zeitbegriff vom chronologischen oder vulgären Zeitbegriff, insofern, als dass letzterer einen Zeitverlauf auf einer Achse beschreibt und dem nahesteht, was bisher als physikalische oder kosmologische (jedoch nicht im Sinne von einer „in sich ruhenden“) Zeit beschrieben wurde. Wird der existenziale Zeitbegriff als eigentlicher gefasst, so kommt dem vulgären Uneigentlichkeit zu, insofern er ins Schematische und Berechnende (das „man“) verfällt, was heißt, dass alles „Zuhandene und Vorhandene“68 aber auch der Daseinsvollzug als „in der Zeit seiend“ 69 verstanden wird. Das Dasein – „mit seiner Zeit rechnend“70 – ist dann lediglich „innerzeitig“, was nicht die eigentliche Weise des Daseins darstellt, aber die alltägliche, und das heißt, die überwiegende. _____________ 66 67 68 69 70
Vgl. „Semantik der Handlung“ im vorliegenden Abschnitt. Vgl. Ricœurs Konzeption der Mímesis II und III. Heidegger 101963: 333 (§80). Ibid. Heidegger 101963: 334 (§80).
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Ricœur nun greift in einer Verschiebung den Begriff der „Innerzeitigkeit“71 auf. Die Verschiebung besteht darin, dass für Ricœur gerade unser Verhältnis zur „Zeit als das, ‚worin‘ wir täglich handeln“72 wesentlich Aufschluss über Zeit (und Erzählung) verspricht. Das besorgte Entdecken der Umsicht läßt, mit seiner Zeit rechnend, das entdeckte Zuhandene und Vorhandene in der Zeit begegnen. Das innerweltlich Seiende wird so als „in der Zeit seiend“ zugänglich. Wir nennen die Zeitbestimmtheit des innerweltlich Seienden Innerzeitigkeit.73
Ricœur verleiht der Innerzeitigkeit Dignität, nicht weil sie die ursprüngliche Zeiterfahrung wäre, sondern weil sie diejenige ist, die immer Gefahr läuft, durch „die lineare Vorstellung von Zeit als bloßer Abfolge abstrakter Jetztpunkte eingeebnet zu werden […]“74. Dabei fasst er Innerzeitigkeit parallel zum „In-der-Welt-sein“75 als „In-der-Zeit-sein“76. Soll vor diesem Hintergrund ein Abgleiten in einen profanen, alltäglichen Zeitbegriff verhindert werden, so ist es entscheidend, Heideggers Überlegungen zur Sorge, genauer das „Besorgen“ zu berücksichtigen. Also die uneigentliche Form der Sorge, die durch die Geworfenheit des Daseins unter die Dinge entsteht.77 Dadurch, dass wir als leibliches Dasein unter die Dinge geworfen sind, hängt die Beschreibung unserer Zeitlichkeit auch von der Beschreibung der Dinge unserer Sorge ab, die sich hier als Besorgen zeigt. Somit wird die Innerzeitigkeit – zumindest für Ricœur – trotz ihrer Uneigentlichkeit durch ihre Bindung an die Sorge vor dem Verfall zur vulgären Zeit bewahrt, da sie „Wesenszüge [entfaltet], die sich nicht auf die lineare Zeitvorstellung zurückführen lassen“78 . In-der-Zeit-sein heißt schon etwas anderes als die Abstände zwischen Grenzaugenblicken zu messen. In-der-Zeit-sein heißt vor allem mit der Zeit rechnen und daher berechnen. Gerade weil wir mit der Zeit rechnen und Rechnungen anstellen, müssen wir messen. Nicht umgekehrt.79
Durch Zeitadverbien und Phrasen, die auf den öffentlichen Charakter der Zeit des Besorgens verweisen, wird die Beschreibung der Zeit sprachlich gefasst, wobei dieses Besorgen und nicht der jeweilige Gegenstand der menschlichen Sorge die Zeit bestimmt. Unsere Tradition der Messung durch den „Tag“ macht den Unterschied zwischen abstraktem Maß und _____________ 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Heidegger 101963: 456–488. (§78–83). Ricœur 1988: 100. Heidegger 101963: 333 (§80). Ricœur 1988: 101. Heidegger 101963: §12–18, 22–27 u. 69. Ricœur 1988: 101, Fußnote 11. Heidegger 101963: 121 (§26) Ricœur 1988: 102. Ricœur 1988: 102.
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(subjektiver/menschlicher/sorgender) Größe nicht deutlich. Daher läuft die Innerzeitigkeit Gefahr, im Sinne der vulgären Zeitmessung interpretiert und auf diese reduziert zu werden. Doch ist der Tag kein abstraktes Maß, sondern eine Größe, die unserer Sorge und der Welt entspricht, weil wir meinen, „jetzt“ innerhalb von „X“ etwas tun zu müssen. Doch muss dieser Begriff erneut abgegrenzt werden, und zwar gegen den des „jetzt“ im Sinne des abstrakten Augenblicks. Das existenziale Jetzt ist durch die Gegenwart des Besorgens gekennzeichnet, das ein vom „Gegenwärtigen“ und vom „Behalten“ untrennbares „Gegenwärtigen“ ist. Das abstrakte Jetzt profitiert an dieser Stelle von dem Sich-ZusammenZiehen der Sorge zum Gegenwärtigen im Besorgen, wodurch der Unterschied zum Gegenwärtigen und Behalten ausgelöscht wird und das „jetzt“ isoliert dasteht. Deutlich wird dies, wenn man die Verwendung des „jetzt“ im alltagssprachlichen Gebrauch betrachtet, also das „Jetzt-Sagen“ als eine „redende Artikulation des Gegenwärtigens, das in der Einheit mit einem behaltenden Gegenwärtigen sich zeigt“, wie es Heidegger fasst.80 Gerade das zur Sprache bringen, das sich Bewusstwerden über das Jetzt, ist es, das einen Unterschied machen kann: „Das sich auslegende Gegenwärtigen, daß heißt das im ‚jetzt‘ angesprochene Ausgelegte nennen wir ‚Zeit‘.“81 Den Vorteil dieser Analyse der Innerzeitigkeit fasst Ricœur wie folgt zusammen: Sie liegt […] in dem Bruch, den diese Analyse mit der linearen Zeitvorstellung im Sinne einer bloßen Abfolge von Jetzten vollzieht. Damit wird aufgrund des Primats der Sorge eine erste Schwelle der Zeitlichkeit überschritten. Indem man diese Schwelle anerkennt, schlägt man eine erste Brücke zwischen der Ordnung der Erzählung und der Sorge. Auf dem Sockel der Innerzeitigkeit erheben sich dann zusammen die narrativen Gebilde und die entwickelteren Formen der Zeitlichkeit, die ihnen entsprechen.82
Eingeführt sind somit die drei Komponenten Semantik, Symbolik und Zeitlichkeit, welche die Vielschichtigkeit verdeutlichen, mit der Ricœeur sich der Frage nach der dreistufigen Mímesis annähert und die und hinsichtlich des zuvor Notierten bereits die folgenden Erweiterungen des aristotelischen Mŷthos-Begriffs nach sich ziehen: Zentral ist die Feststellung, dass die Bedeutung des Vorverständnisses von Handlung in ihren _____________ 80 81
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Heidegger 101963: 416 (§80). Heidegger 101963: 408 (§79). Wird also zum Beispiel das Ablesen der Uhrzeit zum schieren mechanischen Akt, ohne ein Bewusstsein für die Größe „Tag“, die mit ihrer Verbindung zur Sorge derselben Pate steht, so verfällt das „Jetzt-Sagen“ dem Abstrakten und einer linearen Zeitvorstellung. Dies wird auf der ätiologischen Ebene deutlich, macht man sich bewusst, dass Uhr von lat. hora, die Stunde, abgeleitet wird und die prima hora der Zeitpunkt des Sonnenaufganges war. Ricœur 1988: 103.
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drei Momenten nicht zu unterschätzen ist. Denn ihrer bedarf es auch für die Nachahmung oder Darstellung einer Handlung. Dies war für den Aristotelischen Mŷthos-Begriff lediglich hinsichtlich der Momente des Wiedererkennens, die als Vorbedingung für die Mímesis auf Seiten des Zuschauers fungieren und somit die Überführung von prâxis zur theoría leisten, klar festschreibbar gewesen. Ferner ergibt sich eine Bedeutung hinsichtlich dessen, was als „Tradition“ im Zusammenhang der Begriffe Epos, Tragödie und Kern gefasst worden war. Hier nun geschieht eine erweiterte Festschreibung als Voraussetzung für das Verstehen von Handlung und somit auch der Beschreibung von Handlung: Durch die Vorannahme von semantischen, symbolischen und zeitlichen Grundkonstitutionen des Aktors und der Handlung erweitert sich der Mŷthos-Begriff maßgeblich. Denn dies impliziert, dass neben der für die Mímesis konstatierten Gerichtetheit eine historische und kulturelle Orientierung angenommen werden kann. Und das ist wichtig für die These der vorliegenden Untersuchung, dass der Mŷthos nicht nur Geschehnisse ordnet, sondern auch historische Gegebenheiten vermittelt. Denn bereits mit dem hier durch den Zirkel Hinzugewonnenen kann man die Vermittlung auf „Welt“ und somit Geschichte ausweiten.
3. Das Reich des Als ob (le royaume du comme si) – Mímesis II Als „Reich des Als ob“ bezeichnet Ricœur jenen Modus des MímesisZirkels, in dem das zuvor vermittels des Vorverständnis Erfasste im Akt der Fabelkomposition geordnet wird: Mímesis II, die Konfiguration. Aristotelisch wäre hier der Begriff des Mŷthos zu setzen, und zwar in seiner Funktion als sýstasis tôn pragmáton. Ricœur hingegen hat schon zu Beginn seiner Untersuchung den Begriff der Fabelkomposition gewählt, um zum einen eine terminologische Abgrenzung zur „traditional tale“ vorzunehmen, zum anderen, um das Moment des Dynamischen hervorzuheben.83 _____________ 83
Dass beides nicht notwendig ist, wurde bereits dargelegt und im zweiten Abschnitt der Untersuchung deutlich: Zum einen, weil dem aristotelischen Modell sowohl das Moment der „traditional tale“ wie auch das der Komposition innewohnen. Zum anderen, weil gerade der aristotelische Mŷthos-Begriff in seiner doppelten Bestimmung als Mímesis prâxeos und sýstasis tôn pragmáton überaus dynamisch ist, was sich dem Moment der poíesis schuldet (siehe erneut Abb. 2 und die hinführenden Gedanken) Für Ricœur ergibt sich eine weitere Schwierigkeit, die er mit der Frage fasst, ob „das Ordnungsparadigma, das für die Tragödie kennzeichnend ist, [zu] einer so weitgehenden Erweiterung und Verwandlung fähig [ist], daß es sich auf das gesamte Feld des Narrativen anwenden läßt?“ (Ricœur 1988: 65) Das „Ordnungsparadigma“ ist dabei die von Aristoteles in Poet. 1450b23–25 entworfene Trias der Kriterien für eine gelungene sýstasis tôn pragmáton, die dieser bezüglich der Tragödie
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Das vorrangige Interesse der vorliegenden Untersuchung richtet sich dabei auf dem Prozess der Vermittlung „von Welt“ durch den Mŷthos. Also darauf, wie, ausgehend von der Vorannahme, dass Handlungen eine Lesbarkeitsstruktur haben, deren Interpretation sich nach dem jeweiligen Vorverständnis des Aktors richtet. Und wie im Anschluss daran das Dargestellte eben dieses Verständnis repräsentiert, und zwar unter den Kriterien der Verstrickung des Aktors in geschichtliche und kulturelle Strukturen. Diese Vermittlungsfunktion des Mŷthos beruht auf dem dynamischen Charakter des Vorganges der Konfiguration, auf den sowohl mit Blick auf die Unterschiede der Definition des Mŷthos als sýstasis tôn pragmáton oder als Mímesis prâxeos als auch in der Einführung in dieses Kapitel kurz eingegangen wurde und der sich im Gespann Mŷthos–Mímesis einschreibt. So kommt dem Mŷthos die Funktion der Integration und Vermittlung von Erlebtem (dem Vor-Verständnis der Handlung) und dem (Nach-) Verständnis der Handlung zu: Ein Mŷthos vermittelt zwischen einzelnen Vorfällen und der als Ganzes betrachteten Geschichte. So macht er aus der Vielzahl von Ereignissen eine Geschichte, verwandelt diese Ereignisse in eine Geschichte. Diese Umkehrbarkeit von Verwandeln aus und Verwandeln in kennzeichnet die Vermittlerrolle zwischen dem Ereignis und der (ganzen) erzählten Geschichte. Nimmt man dies an, so muss das einzelne Ereignis mehr als nur ein Einzelfall sein und vielmehr als Moment verstanden werden, das einen Beitrag zur Entwicklung des Mŷthos leistet. Dementsprechend darf auch die Geschichte nicht als bloße Aneinanderreihung von Ereignissen gefasst, sondern muss als „intelligible Totalität“ gedacht werden. Versteht man also die Fabelkomposition als Vorgang, der „aus einer bloßen Abfolge eine Konfiguration macht“, so kann an eine Geschichte immer die Frage gestellt werden, wovon sie handelt, was ihr „Thema“ ist.84 Der Mŷthos vereinigt dabei so heterogene Faktoren wie Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände etc. _____________
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entwickelt: die Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung von einer bestimmten Länge. Es war in dieser Arbeit bisher argumentiert worden, dass auch das Epos als tò polýmython diesen Kriterien durch die Doppelung der Mŷthos-Struktur genügt. Von meiner Warte aus wäre hier also die Sorge Ricœurs unbegründet, was es erlaubt, die Kriterien der aristotelischen Fabelkomposition sehr wohl über alle literarischen Gattungen hinweg für wirksam zu halten. Und eben vor dem Hintergrund dessen, was hinsichtlich der Verwendung des Als ob sowohl als Synonym für narrative Gebilde als auch als Antonym für den Anspruch historischer Erzählungen, „wahre“ Erzählungen zu sein, konstatiert wurde, kann so die Verknüpfung von Geschichte und Geschichten zum Tragen kommen. Ricœur 1988: 105f. Die Verbindung des in und des aus, die die Beziehung des Mŷthos als vermittelnder Instanz zwischen Ereignissen und erzählter Geschichte kennzeichnet, wird im Schematismus später als Innen und Außen auftauchen und auch für den Akt der Refiguration von Bedeutung sein, wenn es darum geht, das Lesen als zentrales Moment des Übergangs von Mímesis II zu Mímesis III zu bestimmen.
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Aristoteles beleuchtet in seiner Definition die Tragödie hinsichtlich dreier Faktoren, die das „Was“ der Nachahmung ausmachen: Fabel, Charaktere, Absicht. Diese Trias benutzt Ricœur als Fundament einer Ausweitung, die sich zunächst auf die genannten Faktoren des „Was“ erstreckt. Aristoteles nimmt in das konsonante Moment des Mŷthos die dissonanten Momente (mitleid- und furchterregende Vorfälle, überraschende Wendungen sowie Wiedererkennung und Pathos) auf. Darin sieht Ricœur ein Gleichsetzen von Mŷthos und Konfiguration, die als dissonante Konsonanz gefasst wird. In dieser dissonanten Konsonanz besteht die Vermittlungsfunktion des Mŷthos. Die Erzählung wird als Syntagma gefasst, das alle möglichen Elemente des paradigmatischen Bildes der Handlungssemantik hervorbringt. Daher ist der Übergang vom Paradigmatischen zum Syntagmatischen Leistung der Konfigurationstätigkeit, die den Übergang von Handlung und Text markiert.85 Zuletzt kommt dem Mŷthos durch die Vermittlung seiner eigenen Zeitmerkmale eine Vermittlerrolle zu. Und zwar insofern, als dass in ihm die chronologische und die nichtchronologische Zeitdimension in veränderlichen Proportionen durch ihre Darstellung verbunden werden. Aus der chronologischen Zeitdimension ergibt sich die episodische Dimension der Erzählung: Eine Geschichte besteht aus (einer Aneinanderreihung von) Ereignissen. In der nichtchronologischen Zeitdimension hingegen werden vermittels des Mŷthos Ereignisse in Geschichten verwandelt; das Nichtchronologische ist dabei die eigentlich konfigurierende Dimension der Fabelkomposition. In der Konfiguration werden Einzelhandlungen „zusammengenommen“, und aus dieser Mannigfaltigkeit an Geschehnissen wird die Einheit einer zeitlichen Totalität gebildet: in der Erzählzeit. Die diverse Zeitlichkeit einer Handlung wird also ebenso „zusammengenommen“ wie die Semantik und die Symbolik einer Handlung kraft der Fabelkomposition und dem Akt der Konfiguration in einer Geschichte. Sie kann so verständlich werden und hervortreten. Diese Vermittlung zwischen den einzelnen Ereignissen und der Geschichte, mit dem die poíesis als Grundakt des Menschen (vgl. hierzu das aristotelische Verständnis von poíesis) durch den dichterischen Akt der Zergliederung der Zeit mit einer Lösung entgegentritt, bewirkt zugleich, dass der Leser einer Geschichte folgen und sie verstehen kann, da er eine Struktur erkennt. Wenn _____________ 85
Kritisch wäre hier zu fragen, ob der Akt der Fabelkomposition und der Mímesis II wirklich alle paradigmatischen Bedeutungen hervorbringt. Kommt dies nicht erst dem Leser zu, der kraft seines Geistes und seiner Individualität assoziieren und somit zum Beispiel synonyme Bedeutungen denken kann? Die Hervorbringung aller paradigmatischen Bedeutungen wäre für die Fabel nur in einer zugespitzten Form möglich. Zum Beispiel bei einem Wörterbuch, dem man ein télos unterstellen kann und in dem man alle paradigmatischen Bedeutungen der Begriffe, die ein Syntagma wählt, auffinden kann.
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eine Geschichte verstanden wird, dann muss auch verstanden werden, warum die einzelnen Episoden zu eben genau diesem Schluss führen, der als annehmbar, also – aristotelisch gesprochen – als wahrscheinlich und notwendig, erscheinen soll. Diese konfigurierende Dimension gestaltet die Abfolge von Einzelereignissen einer „bedeutungsvollen“ Totalität, die als Korrelat des Zusammenstellens Grundlage für die „Mitvollziehbarkeit“ der Geschichte ist. Ihr ist es zu verdanken, dass sich die gesamte Fabel als ein „Gedanke“ übersetzen lässt, also als etwas, das eine Pointe hat – was die Fabel ihrem Gerichtetsein auf ein Ziel, einen Schluss im Sinne der conclusio verdankt –, das jedoch nicht als aus der Zeit herausgelöst verstanden werden darf. Ferner verleiht die Konfiguration der Fabel der nicht enden wollenden Reihung einzelner Ereignisse den „Sinn eines Abschlußhaften“86. Somit wird dem Gedanken des „Schlusses“ als Punkt, von dem aus eine Geschichte verstanden und als Ganzes wahrgenommen werden kann, der Aspekt des „Weitererzählens“ an die Seite gestellt. Dieses Weitererzählen basiert auf dem Gedanken, dass eine Geschichte bereits bekannt ist – Ricœur nennt als Beispiel volkstümliche Erzählungen.87 Dann entspricht dem folgenden Nachvollziehen einer Geschichte das Erfassen der einzelnen Episoden, die auf ein Ende, einen Gedanken hin gerichtet sind. Überraschungen, Entdeckungen, also die als dissonante Momente gefassten Merkmale der Fabel, die der ganzen Geschichte zukommen, treten dabei zugunsten des Bekannten in den Hintergrund – respektive werden eben diese Dissonanzen im Bekannten verortet und so sinnhaft. Für die Zeitdimension hat dies Konsequenzen, die hinsichtlich der Totalität erscheinen. Wird eine Geschichte schließlich aufgrund der Art ihres Abschlusses als Totalität bestimmt, so ergibt sich aus dem erneuten Rezipieren einer erzählten Geschichte eine neue Sichtweise auf den Fluss der Zeit, der aus der Vergangenheit in die Zukunft fließt. Wie bereits ausgeführt, lesen wir den Anfang einer Geschichte (und ihren Verlauf) im Ende der Geschichte mit, indem wir einen Sinnzusammenhang herstellen. Kennen wir das Ende einer Geschichte bereits, so lesen wir jedoch bereits am Anfang der Geschichte das Ende derselben (und ihren Verlauf) mit. Hinzu kommt, dass weder „der“ Leser noch „ein“ Leser – ganz so, wie wir mit Heraklit (frag. 12 und 49a) nie in den selben Fluss steigen – nie derselbe ist, eben weil sich sein Blick und sein Vorverständnis ständiger Wandlung unterworfen sieht. Diesen Aspekt fasst Ricœur als „Schematisierung“ und „Traditionscharakter“, zu deren „Neubelebung“ der Akt des Lesens/der Rezeption von großer Bedeutung ist. _____________ 86 87
Ricœur 1988: 109. Ibid.
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Um den Schematismus greifbar zu machen, rekurriert Ricœur auf Kants Kritik der reinen Vernunft und vergleicht die Leistung des konfigurativen Akts mit der Arbeit der transzendentalen produktiven Einbildungskraft. Diese schematisiert zunächst die Verstandeskategorien und folgt keiner Regel; vielmehr bildet sie die regelgenerierende Matrix. Der Schematismus leistet diese Einung kraft der grundsätzlich synthetischen Funktion der produktiven Einbildungskraft. Diese verknüpft Verstand und Anschauung,indem sie „zugleich verstandesmäßige und anschauungshafte Synthesen hervorbringt“88. So zeigt sich die Verbindung des Gedanklichen mit dem Anschaulichen. Zu dieser durch die produktive Einbildungskraft geleisteten Verbindung von Vorstellungen nach den Regeln des Verstandes, die Kant als „tätiges Vermögen der Synthesis“ bestimmt, vermittels dessen die Mannigfaltigkeit der Anschauung in ein Bild gebracht werden soll89, setzt Ricœur nun die Fabelkomposition analog: Die Fabelkomposition bringt eine „gemischte Verständlichkeit (intelligibilité)“90 hervor. Sie besteht aus dem „Gedanken“ und aus der anschaulichen Darstellung der Handlungsmomente, wodurch sie den Handlungsknoten aufzulösen vermag. So spricht Ricœur vom „Schematismus der narrativen Fiktion“91. Dieser gewinnt nun Form in einer Geschichte, die alle Merkmale der Tradition aufzeigt. Tradition ist hier jedoch nicht als tote Hinterlassenschaft zu werten, sondern als lebendige Weitervermittlung einer Neuschöpfung. Sie kann immer wieder reaktiviert werden durch eine Rückkehr zu den schöpferischsten Momenten des dichterischen Tuns – ganz im Sinne des lat. tradire, des Herübergehens, wo zwar etwas verloren, aber auch etwas gewonnen wird.92 Diese Bedeutung von Tradition verdankt sich dem Wechselspiel von Neuschöpfung und Sedimentierung. _____________ 88
89 90 91 92
Ricœur 1988: 110. Hervorhebung J. S. Durch das Wort zugleich wird hier das bezeichnet, was die gemischte Verständlichkeit ausmacht, nämlich das Ineinandergreifen des Verstandesmäßigen mit dem Anschauungshaften. Kant 1968: B 164. Ricœur 1988: 110. Ibid. Sieht man zum Beispiel das Übersetzen (engl. translate, das seine etymologische Wurzel auch im lat. tradire hat), so zeigt sich das Moment des Zugewinns durch Tradition hier zum Beispiel bei der von Schlegel/Tieck unternommenen Übersetzung der Shakespearedramen, die teils weit vom Originaltext entfernt ist, jedoch – zumindest hinsichtlich des Bildungserlebnis – als Gewinn gewertet werden muss. Theoretisch besonders ertragreich ist hier eine Übersetzungs-Theorie wie die Walter Benjamins, bei der u. U. eine Übersetzung den Wesenskern einer Dichtung besser zutage fördert, als dies das Original selbst vermochte. Die Übersetzung kann so gleichsam „echter“ als das Original werden. Vgl. Walter Benjamins Vorwort zu seiner Baudelaire-Übersetzung, Benjamin 1972: 9–21. Inwiefern diese Aufgabe ohnehin jedem Erzähler zukommt, wird in Benjamins Erzähler Aufsatz deutlich, Benjamin 1977.
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So wurde die narrative Tradition nicht durch die Sedimentierung der Form der dissonanten Konkordanz [sic! Gemeint ist wohl, allem Paradigmatischen zum Trotz, Konsonanz; J. S.] und durch die der tragischen Gattung (und der anderen Modelle der gleichen Stufe) geprägt, sondern auch durch die der Typen, die in nächster Nähe der Einzelwerke entstanden. Faßt man Form, Typus und Gattung unter dem Titel des Paradigmas zusammen, wird man sagen, daß die Paradigmen aus der Arbeit der produktiven Einbildungskraft auf diesen verschiedenen Stufen entstehen.93
Aus diesen Paradigmen ergeben sich die Regeln für weiteres Experimentieren im Narrativen. Sowenig wie der Paradigmabegriff94 statisch verstanden werden darf – sind Paradigmen doch auch das Ergebnis von innovativem Schreiben –, sowenig dürfen diese Regeln als Restriktion gesehen werden. Sie sind ständigen Veränderungen durch (sprachliche und formale) Erfindungen unterworfen. Dabei muss die Sedimentierung als Fixum verstanden werden, das vor einem Verfall der Regeln und damit auch der Auflösung der Trias Form, Gattung, Typus schützt. Auf Seite des Rezipienten verliefe der Verfall ruckartig, was ihn wohl daran hinderte, den „Text“ zu verstehen. Der Stellenwert der Innovation – als Gegenpol zur Tradition – korreliert somit mit der Sedimentierung: Das Neue zeigt sich nur vor dem Hintergrund des Überlieferten und der Kenntnis dessen. Der Sedimentierung ist im Rahmen des Einzelwerks immer Raum gegeben. Das Abweichen von den Regeln kann dabei auf verschiedenen Ebenen geschehen. Hinsichtlich der Typen liegt dies in der Einzigartigkeit des Werkes begründet: kein Werk entspricht einem anderen. Doch in Bezug auf eine Veränderung der Gattung bemerkt Ricœur, diese komme „der Begründung einer neuen Gattung gleich“95. Wenn aber das Formprinzip der dissonanten Konsonanz in Frage gestellt wird, ist dies die radikalste Art der Abweichung. Sie führt nämlich zur Aufweichung der narrativen Form selbst. Die geregelte Deformation bildet die mittlere Achse, um die die Modalitäten der Veränderung der Paradigmen durch ihre Anwendung kreisen. Dieser Vielfalt in der Anwendung verdankt es die schöpferische Einbildungskraft, eine Geschichte zu haben; als Kontrapunkt zur Sedimentierung ist sie die Möglichkeitsbedingung einer narrativen Tradition.96
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Ricœur 1988: 111. Der Begriff des Paradigmas darf hier nicht mit dem des Paradigmas als Gegenstück zum Syntagma verstanden werden. Gehört das Begriffspaar des Paradigmatischen und Syntagmatischen zur semiotischen Realität, so sind Paradigmen hier Typen, Gattungen und Formen, aufgrund deren Öffnung sich Literatur weiterentwickeln kann. Vgl. hierzu auch Ricœur 1989: 14f. Ricœur 1988: 112. Ricœur 1988: 113.
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Momente der Narrativität sind kausale, sequenzielle und temporale Verknüpfungen, auf Finalität ausgerichtete Strukturen, ein teleologischer Zuschnitt des Erzählten sowie die Selektion von kohärenten Fakten, die auch Anfang und Ende einer diachron zu erfassenden und in ihrer logischen Totalität dargestellten Entwicklungslinie bestimmen. Diese einzelnen Momente zeigen sich in der vermittelnden Rolle einer Erzählerinstanz und können von verschiedenen Lesern verschieden wahrgenommen werden, was ihnen unterschiedliche Gewichtungen in ihrer Bedeutung geben kann.97 Mit der Fabelkomposition, durch die Momente der Narrativität organisiert werden, werden Zusammenhänge geschaffen, die disparate Einzelfakten in kohärente Wirklichkeitsmodelle verwandeln; die mise en intrigue formt die Narrativität eines Textes aus. Ricœur betont, dass der Mímesis-Zirkel als ein „narratives Modell“98 verstanden werden muss. Daher vertritt die vorliegende Arbeit die These, dass es angezeigt erscheint, verschiedene Narrativitätsbegriffe darzulegen: Erstens ist der Text als Resultat der Fabelkomposition – also der Konfiguration – gefasst worden, zweitens wird der Leser als Konfigurierender eingeführt: […] der Leser [ist] der Agierende im besonderen Sinne […], der durch seine Tätigkeit – das Lesen – die Einheit des Weges von der Mímesis I über die Mímesis II zur Mímesis III auf seinen Schultern trägt.99
Inwiefern der Leser dieser Aufgabe gewachsen ist, hängt wiederum ab von seinem Vorwissen und -verständnis, wie es bereits für den Aktor im Blick auf die Mímesis I hin entwickelt worden war. Zwar kommt den Paradigmen lediglich die Rolle einer „Grammatik“ zu, die das Verstehen lenkt, doch bringt – wie sich auch bei der Betrachtung der Refiguration zeigen wird – das fortschreitende Entfernen von der traditionellen Erzählung zugleich „Irregularität und Abweichung zur Regel“100 hervor. Letzteres führt immer dann ins Unverständnis, wenn die Lust an der bloßen Abwandlung im Vordergrund steht – wie genau diese „bloße Lust“ zu fassen ist, ist jedoch schwer, ja, nahezu willkürlich zu bestimmen! Doch für Ricœur liegt in diesem Fall „die Last der Fabelkomposition“ – und nicht _____________ 97 98
99 100
Vgl. Ricœur 1989: 12. Ricœur 1989: 260. Dies ist der einzige explizite Verweis von Seiten Ricœurs im Rahmen der Entwicklung des Zirkels darauf, dass alle Stufen des Mímesis-Zirkels unter einem narrativen Aspekt verstanden werden müssen. Diese Untersuchung macht diesen Hinweis jedoch stark. Zwar endet Ricœur mit seinen Überlegungen in Band II von Zeit und Erzählung hinsichtlich der Narrativität bei der Erkenntnis, dass nur Text narrative Strukturen hat, doch wird zuvor auch Handlung die Struktur von Text zuerkannt, wenn sie als Quasi-Text begriffen wird. Es ließe sich also auch von Handlung als Quasi- und respektive (will man ihre dem Text vorläufige Natur bezeichnen) Proto-Narrativität sprechen. Ricœur 1988: 88f. Ricœur 1988: 122.
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nur „die Einheit des Weges von der Mímesis I über die Mímesis II zur Mímesis III“101 – allein auf den Schultern des Lesers.102 Dass dies mithin zu Schwierigkeiten führen kann, wird für Ricœur am Beispiel des modernen Romans (konkret: des Ulysses103) manifest. Den modernen Roman sieht Ricœur hinsichtlich des Verhältnisses von Paradigmen und Innovation somit als potenziellen Problemfall, weshalb er ihn kurzerhand als „Antiroman“104 fasst. Wie Antiroman hier zu fassen ist, ob also zum Beispiel mit Warning als „die Negation der Geschichte durch den Diskurs [die] konstitutiv [ist] für den mit Cervantes beginnenden neuzeitlichen Roman, der als Höhenkammliteratur immer Antiroman ist“, wobei dann „Antiroman heißt [...] Diskurs contra Geschichte, Thematisierung des ‚Als ob’ der Relation von Sachlage und Sachverhalt, Thematisierung der ‚Aufmerksamkeitsfigur’“105 wäre, bleibt offen. Wahrscheinlich meint Ricœur eben jene „Obdachlosigkeit der Rezeption“, die sich ergibt und die man mit Georg Lukács in Anlehnung an dessen Theorie des Romans umreißen kann. Zwar findet Lukács keine Erwähnung bei Ricœur, doch scheint eine Lesart des mangelhaft konfigurierten Romans in seiner Vermittlung von etwas wie einer „Geworfenheit“ durchaus Lukác’sch.106 Wichtig für den Gang der vorliegenden Überlegungen ist es, eben in der Verwendung des Mŷthos im Akt der mythopoíesis einen Spezialfall zu sehen, der – Antiroman oder nicht – gerade den Diskurs mit der Geschichte befördert. Im Rahmen der Analyse des Ulysses wurde bereits aufgezeigt, dass die Konfiguration des Ulysses durchaus damit spielt, eine Offenheit der Interpretation zuzulassen und in Teilen eindeutigen Festschreibung gar gezielt vermieden zu sein scheinen – was für Ricœur eben zu jener Einordnung des Antiromans führte. Doch wurde deutlich, dass gerade durch das Anknüpfen an den Mŷthos im Ulysses eine besondere Form der Lesbarkeit und des Zugangs zu eben jenen Schematismen von Tradition und Form gewährleistet werden kann. Eine Lesbarkeit und ein Anknüpfen, das in den drei Funktionen des Mŷthos als Textus, Contextus und Circumtextus abschließend gefasst werden soll. Und auch anhand der in der Aristotelischen Poetik herausgearbeiteten Differenzierungen des MŷthosBegriffs wurde deutlich, dass der Rückbezug auf einen Mŷthos von enormer Tragweite ist: Nämlich wenn man annimmt, dass die auf einem Mŷthos basierende Konfiguration bereits eine Struktur der systasis voraus_____________ 101 102 103
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Ricœur 1988: 88. Hervorhebungen J. S. Ricœur 1988: 122. Ricœur 1991: 257. Dort wird erneut auf die erschwerte Beziehung zwischen Leser und Text eingegangen, wie sie durch ein Werk wie den Ulysses entsteht. Ricœur 1988: 112. Warning 1975: 536f. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung.
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setzt. Sei es der extrem dialektischen Form des Kerns geschuldet oder aus der Anleihe, die zum Beispiel mit der Struktur des tò polýmython einhergeht. In beiden Fällen war gezeigt worden, dass die Kriterien für diese Wahl die Möglichkeit und die Wahrscheinlichkeit waren und dass diesen das Moment der Sedimentierung und Tradition innewohnt. Und nach allem, was Ricœur über den paradigmatischen und ordnenden Charakters der Fabelkomposition annimmt, bedeutet dies, dass eine Erzählung, die auf einem Mŷthos basiert, jenen Kriterien genügen muss, die für ein Verständnis des Textes bürgen. Das Urteil Ricœurs müsste also bezüglich eines Textes, der auf einen Mŷthos rekurriert revidiert werden.
4. Lesen, Verstehen, Handeln: Mímesis III Nachdem bisher deutlich geworden ist, dass die vorangegangenen Stufen der Mímesis I und II vielschichtig sind und aufeinander aufbauen, soll nun die dritte Stufe des Zirkels der Mímesis dargestellt werden: Mímesis III. Hier steht nach der Welt als lesbarer Struktur von Handlungen und dem Text nun der Rezipient im Zentrum der Überlegungen. Es wird sich zeigen, dass es diese Stufe des Mímesis-Zirkels ist, die den Schnittpunkt zwischen dem Als ob-Reich des Textes und dem Leser bildet; hier wird die Handlung interpretiert, wodurch die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt und somit wieder in die Zeit des Handelns und des Leidens eintritt. Sowohl für das aristotelische Konzept von Mímesis und Mŷthos als auch für das bisher bei Ricœur Konstatierte konnte gezeigt werden, dass die Mímesis ihre Vollständigkeit erst im mimetischen Akt der Rezeption erreicht. Aristotelisch gesprochen ist die Mímesis, wie bereits betont, die auf den Akt der kátharsis gerichtete Grundhandlung des Menschen, die über die poíesis prâxis und theoría miteinander verbindet. So kann die kátharsis ihre Anlage im Werk erfahren und zugleich durch dieses im Akt der Rezeption den Rezipienten erreichen, was wiederum eine Überführung der poíesis zur theoría und somit zur prâxis bedeutet – und dies ist sowohl für Aristoteles als auch für Ricœur essenziell!107 Anders als Aristoteles entwickelt Ricœur jedoch in seinem Modell eine Stufe, die das „Wie“ dieses Übergangs zur theoría und so zur prâxis erkennbar macht. Lastet bei Aristoteles dieser Übergang vornehmlich auf den Begriffen der kátharsis, _____________ 107
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Ricœur auf eine Differenzierung zwischen den drei Grundakten des Handelns als poíesis, prâxis und theoria in der Strenge, wie sie sich aus dem Aristotelischen Werk ergibt, verzichtet und vorrangig zwischen prâxis und poíesis differenziert, wobei er der prâxis eben durch die Vorannahme einer Quasi-Text-Struktur der Handlungen gewissermaßen jene Eigenschaften anheimstellt, die – aristotelisch betrachtet – erst im Akt der poíesis zum Tragen kommen.
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Möglichkeit und Wirklichkeit, so entwickelt Ricœurs Ansatz den Übergang auf andere Weise, die nun aufgezeigt werden soll. Um den Charakter der Mímesis III als „Anwendung“108 und als „Schnittpunkt“ zu entfalten, muss begreifbar gemacht werden, wie der Akt des Lesens als Fortsetzung und zugleich als Vervollständigung der Konfiguration verstanden werden kann. Dies ist nicht nur Grundlage einer Verbindung der einzelnen Stufen des Zirkels hinsichtlich ihres Charakters als „narratives Modell“. Hieran schließt sich zugleich die Neugestaltung der Zeiterfahrung im Zirkel und so die historische Komponente desselben an. Durch den Wieder-Eintritt des Werkes in die Kommunikation wird es zugleich in die Referenz überführt: Und dies gilt es zu beweisen, wenn der Mŷthos als historiographisches Moment fungieren soll. Ausgehend von der Annahme, dass die durch die Erzählung neugestaltete Welt zeitlich ist, muss eine Verbindung hergestellt werden zwischen der Hermeneutik der erzählten Zeit und der Phänomenologie der Zeit. Das ist zum einen dem Ricœurschen Ansatzpunkt im augustinischen Zeitmodell geschuldet, zum anderen verlangt es das Konzept der vorliegenden Arbeit. Denn nur wenn angenommen werden kann, dass das immer neu Erschaffen-Werden eines Werkes und die immer neue Konfiguration von lebensweltlichen Handlungen auch eine zeitliche Dimension hat und diese sich ebenso als „immer neu“ (jedoch nicht ex nihilo! – das wäre fatal, ist aber auch nicht denkbar! –, sondern in traditione resp. traditionibus) darstellt, kann von einer Vermittlung von Geschichte durch den Mŷthos ausgegangen werden. Und zwar einer Vermittlung, die immer unter den Bedingungen sub specie temporis nostri stattfindet. i. Konfiguration, Refiguration und Lektüre Durch den „Akt des Lesens“, der die Konfiguration wieder aufnimmt und sie so vollendet, geht Mímesis II in Mímesis III über. So kann der „Akt des Lesens“ als „Träger der Befähigung der Fabel, der Erfahrung Modellcharakter zu verleihen“109, verstanden werden. Dabei ist die Eigenschaft des Leseakts – als Fortführung des Konfigurationsakts – ähnlich der des „Zusammennehmens“110 der Konfiguration zu verstehen. Deutlicher wird _____________ 108 109 110
Im zuvor beschriebenen Sinne Gadamers. Ricœur 1988: 121. Ricœur nennt dies hier „Zusammenfassen“, das jedoch synonym zum „Zusammennehmen“ (I, 107) gebraucht wird. Das „Zusammennehmen“ bezeichnet auf der Stufe der Mímesis II den Akt des Erfassens der Mannigfaltigkeit der Handlung der Fabel in Form der Konfiguration. Versteht man den Akt des Lesens als eine Fortführung der Konfigura-
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diese Aussage, wenn man diesen Akt des Lesens im Verständnis Wolfgang Isers reflektiert111. Ästhetische Erfahrung entsteht der Theorie Isers zufolge bei der kommunikativen Interaktion zwischen Text und Leser112, womit er an die von Hans Robert Jauß entwickelte Grundlegung der Rezeptionsästhetik als hermeneutische Rekonstruktion der unterschiedlichen historischen und sozialen Voraussetzungen und Erfahrungen der Leser anknüpft, die unter dem Begriff des „Erwartungshorizonts“ wie folgt formuliert wird: Die Rekonstruktion des Erwartungshorizontes, vor dem ein Werk in der Vergangenheit geschaffen und aufgenommen wurde, ermöglicht […], Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gab, und damit zu erschließen, wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann.113
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tion – als das Zu(m)-Ende-Führen derselben –, so liegt es nahe, auch das Lesen als „Zusammennehmen“ zu bezeichnen. Das Verhältnis, in dem die Schriften Ricœurs und Isers zueinander stehen, ist ein sehr verstricktes, in dem sich beide Autoren immer wieder gegenseitig befruchten. Es wäre sicherlich lohnend, das Verhältnis der Ausläufer der Gadamerschen Hermeneutik zueinander genauer und „von außen“ zu untersuchen (hier wären auch Jauß, Szondi, Sonntag, Geertz, Koselleck, Blumenberg u. a. zu berücksichtigen). Dies ist in Ansätzen immer wieder geschehen (vgl. u. a. den kürzlich von Carsten Dutt herausgegebenen Band, Dutt 2012). Ein prominentes Beispiel ist wohl Hans Robert Jauß’ Plädoyer für die Unerlässlichkeit des hermeneutischen Verstehens in der ganzen Vielfalt seiner Formen und Gegenstände, das dieser im Aufsatz „Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen“ hält; vgl. Jauß 1994. Es kann jedoch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, die es sich an dieser Stelle zur Aufgabe macht, das Ricœursche Modell nachzuzeichnen. Deshalb sei hier lediglich darauf verwiesen und nur zwei zentrale Aspekte dieses Verhältnisses angesprochen . So greift Iser auf Ricœurs Symbol- und Referenzbegriff zurück, wogegen sich Ricœur, an Iser anlehnend, mit der Frage auseinandersetzt, wie im „Akt des Lesens“ (den Ricœur in seiner Erweiterung „Refiguration“ nennt) das Verhältnis von Rezipient und Text erfasst werden kann. Zum Beispiel, wenn der Leser immer nur als ein „ständig sich verschiebender Punkt im Text“ (Iser 1976: 284) verstanden wird. Dies impliziert ein nur jeweiliges Verstehen des Textes und führt zu dem, was die fortwährende Neubeschreibung und schöpfung des Werkes zur Folge hat, deren es bedarf, um den Zirkel der Mímesis nicht zusammenfallen zu lassen, sondern zu einem Modell der Vermittlung zu machen (Ricœur 1988: 110 ff, 125f.). Diese Behandlung nimmt ihren Ausgang in der kurzen Abhandlung Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa (1970) und wird dann zugespitzt in Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (1972) und Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (1976). Sie findet ihren „anthropological turn“, wenn man so mag, in Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (1991), wo, dem „universal [erscheinenden] Fiktionsbedürftigkeit des Menschen“ (Iser 1991: 15) Rechnung tragend, die Rolle und spezifische Leistung des Fiktiven für den Menschen untersucht wird. Literatur wird hierbei als Vehikel gefasst, mit dem der Mensch den Konflikt zwischen dem Potential seiner Anlagen und den kulturellen Bedingungen seiner Zeit gefahrlos und zugleich konstruktiv erleben kann – ein Gedanke, der an das MŷthosKonzept von Hans Blumenberg erinnert. Jauß 1970: 136. Der Anschluss an die von Gadamer entwickelten Kategorien „Horizont“ und „Wirkungsgeschichte“ liegt hier auf der Hand, wobei der Horizont bei Jauß – so wie auch von dieser Untersuchung vorgeschlagen – nicht mit anderen Horizonten zum
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Entwickelt Jauß vor allem die „Erwartungshorizonte“ der unterschiedlichen historischen Lesergruppen, aus denen Rezeptionsgeschichte rekonstruiert114 wird, läuft Isers theoretischer Entwurf auf die Beantwortung der Frage hinaus, wie die Textstruktur den Leseprozess des Lesers beim Lesen festlegt. Mit Ricœur – und im Ausgang Husserls und Freges115 – gedacht, ist dies auf zweierlei Stufen möglich: […] es sind darum zwei Stufen des Verstehens zu unterscheiden: die Stufe des ‚Sinns’ […] und die Stufe der ‚Bedeutung’, die das Moment der Übernahme des Sinns durch den Leser, d.h. das Wirksamwerden des Sinns in der Existenz, darstellt.116
Für Iser nun sind es nicht Bedeutungen im Sinne des Verhältnisses von Syntagma und Paradigma, sondern die im Text angelegten Bedingungen der Bedeutungsherstellung durch den Leser. Diese stehen im Fokus dessen, was es zu rekonstruieren gilt, soll die Wirkung eines Textes beschrieben und erfasst werden können. Der Leser wird so mithin in den Text „eingezeichnet“, er wird zum impliziten Leser. Im impliziten Leser zeitigt sich das „Rollenangebot für seine möglichen Empfänger“117. Dem Text wird somit eine Möglichkeit der Steuerung der Lektüre zuerkannt, die den Kommunikationsvorgang mit dem Leser zu einem intersubjektiven Prozess macht. Dieser kann nie objektiv sein, da auch die Leserdispositionen mit in den Text einfließen; nicht subjektiv ist er, weil der Rezipient durch die Darstellungsweise des Autors auf eine Ansicht verwiesen wird. Der Kommunikationsvorgang ist somit eine stets neue Beziehung zwischen jeweiligem Leser und Text, die der Struktur des Textes und dem Vorhandensein des impliziten Lesers auf der einen und der infinitesimalen Variablen des Lesers auf der anderen Seite zu verdanken ist, und in der der Leser Leer- und Unbestimmtheitsstellen des Textes immer wieder neu und gemäß seinem jeweiligen Habitus auffüllt.118 Dies macht die Wirkung des Textes zu einer nie vollkommen kontrollierbaren Größe. Die Tätigkeit eines Lesers fiktionaler Texte besteht somit in der Konkretisation (Ingarden) von Unbe_____________
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Amalgam eines neuen Horizontes verschmilzt, sondern zur Rekonstruktion erhalten bleibt. Jauß löst dieses Problem, indem er von Horizonten spricht, die über den jeweiligen Verstehensakt hinaus autonom abrufbar bleiben. Vgl. Jauß 1991: 660 ff. Kondensiert könnte man von folgenden drei Hauptkategorien sprechen, durch die die von Jauß postulierte Umordnung gefasst werden kann: 1. die diachrone Betrachtung eines Werkes in einer literarischen Reihe, d. h. seine Beziehung zu vorhergehenden und ihm nachfolgenden Werken, denen es selbst wiederum als Folie oder als „Horizont“ dient; 2. die Untersuchung struktureller, synchroner Beziehungen eines Werkes zu anderen – gleichzeitigen – Werken im literarischen System; 3. die Rekonstruktion der Beziehung der Literaturgeschichte zur allgemeinen Geschichte. Vgl. hierzu auch: Müller 2005. Hua XI: 11–19 und Frege 1892: 28ff. Ricœur 1973: 194. Iser 1972: 61. Vgl. Iser 1970: bes. 11–13 u. 28ff.
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stimmtheitsstellen oder Leerstellen (Iser), was als ein dialogischer Akt (Gadamer) verstanden werden muss. Er basiert auf dem Bedürfnis des Lesers nach einer konsistenten Sinngestalt, wobei der im Verlauf entwickelte Sinn als „Hintergrund“ eine Folie bildet. Vor dieser werden ständig neue Erwartungen an den weiteren Ereignisverlauf gestellt und Korrekturen des zuvor gebildeten „Sinnhorizontes“ vorgenommen.119 Diese Charakterisierung des Lesers und des Akts des Lesens als „Operator, der Mímesis III mit Mímesis II verknüpft“120, soll nun im Rekurs auf die im Rahmen der Analyse der Mímesis II erarbeiteten Resultate eine Verortung im Modell des Mímesis-Zirkels erfahren. Hierzu sollen zunächst die Begriffe „Schematisierung“ und „Traditionscharakter“ aufgegriffen werden. Diese stehen insofern in Wechselwirkung zueinander, als der Schematismus sich in einer Geschichte, die alle Kennzeichen der Tradition aufweist, konstituiert und der Traditionscharakter einer Erzählung wiederum eine Ebene des Schöpferischen verleiht – und damit auch Verbindung von Anschauung und Verstand, deren Synthese eben die Schematisierung ist. Hierbei verkörpert die Tradition das „Außen“ und der Schematismus das „Innen“ des Textes. Eben durch die Verbindung der beiden sieht Ricœur bestätigt, dass es keine radikale Trennung von „Innen“ und „Außen“ eines Textes geben kann. Fasste man das Innen und Außen eines Textes als Gegensatz, so würde dies einen statischen, in sich geschlossenen und isolierten Begriff von Text zur Folge haben. Gerade dies kann jedoch nicht der Fall sein, wenn man die Fabelkomposition als gestaltende Tätigkeit und den Akt des Lesens als seine Fortsetzung versteht. Für das Verhältnis von Text und Lesen bedeutet dies konkret: Die rezipierten Paradigmen bestimmen die Struktur der Erwartungen des Lesers und helfen ihm, die anhand der Geschichte erläuterten formalen Regeln, die Gattung oder den Typus, zu erkennen. Weil sie dem Leser der Geschichte Richtlinien geben, sind sie es, von denen die Nachvollziehbarkeit einer Geschichte abhängt. Diese Nachvollziehbarkeit wird jedoch durch den Akt des Lesens als begleitenden Akt der Konfiguration ständig aktualisiert. „Eine Geschichte mitvollziehen heißt, sie lesend zu aktualisieren.“121 Hierbei ist auch die Empfindung, die Aristoteles als gemeinsames Werk des Empfundenen und des Empfindenden beschreibt122, von Be_____________ 119
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Iser schreibt von einem Verhältnis von Protention und Retention, in das er Erwartungen und Korrekturen zueinander setzt und an dessen Scheitelpunkt sich der Leser findet (Iser 1976: 181 ff). Diese Begriffe leiten hier im Husserlschen Verständnis jedoch fehl, da Protentionen passive Synthesen sind und noch keine Erwartungen im eigentlichen Sinne. Für Retentionen gilt Ähnliches, sie sind nur zeitlich-passive Niederschläge, keine Korrekturen. Ricœur 1988: 122. Ricœur 1988: 121. De anima, III,2 (425b 12–427a 16).
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deutung: Gerade die fruchtbare Symbiose zwischen Werk und Leser ist es, welche die Fabelkomposition zu einem Akt der produktiven Einbildungskraft macht. Dieser schematisiert zunächst die Verstandeskategorien und erzeugt dabei die regelgenerierende Matrix, um sodann Verstand und Anschauung durch das Hervorbringen anschauungshafter Synthesen zu verknüpfen.123 Auch begleitet der Akt des Lesens das Wechselspiel von Sedimentierung der Paradigmen und der Innovation, durch welche die Fabelkomposition schematisiert wird. Der Leser „verspürt das, was Roland Barthes die Lust am Text nannte“, wenn er am „Kampf“ zwischen Roman und „Antiroman“ teilnimmt, Abweichungen akzeptiert, nachvollzieht, wahrnimmt und so mit dem spielt, was Ricœur „narrative Beschränkungen“ nennt.124 Zudem ist es der Leser, der Unregelmäßigkeiten, Löcher, Unbestimmtheitszonen, Ungenauigkeiten etc. beim Lesen bemerkt (bemerken kann) und sie dadurch überbrückt, dass er den Text dennoch liest und auf solche Weise nachvollzieht125– was ihm aufgrund seines lebensweltlichen Vorverständnisses bis zu einem gewissen Grad möglich ist. So vollendet der Leser das Werk auf seine je eigene Weise. Bereits zuvor wurde in dieser Untersuchung auf die Bedeutung der Paradigmen im Akt der der Refiguration verwiesen. Ist es auf der einen Seite die Flexibilität der Paradigmen, die Innovation und somit jedes neue Werk bedingt, so kann ihre Aufweichung andererseits dazu führen, dass ein Werk schwer oder gar unlesbar wird, wenn es „der Autor offenbar schalkhaft de-figuriert oder entstellt hat“.126 Dann liegt es am Leser, allein durch die (bewusste, nachvollziehende und durch Vorwissen geleitete) Lektüre die Konfiguration zu leisten. Gerade an diesem Extremfall wird deutlich, dass der Leseakt „der letzte Träger der Refiguration, der Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel“ 127, ist. Meines Erachtens ergibt sich hierdurch ein weiteres Problem, auf das Ricœur nicht eingeht: nämlich das der Pluralität der Vermittlungen und Überlieferungen. Diese können – Isers Modell Rechnung tragend – von unendlicher Größe sein. Wie wäre dann noch von einer Vermittlung von Geschichte zu sprechen, die nicht der Willkür anheimfällt? Diese Frage soll _____________ 123
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Vgl. Ricœur 1988: 110. Dort stellt Ricœur bereits die produktive Einbildungskraft und den Kantschen Urteilsbegriff der Fabelkomposition gegenüber. Vgl. ferner die Ausführungen zum Schematismus. Ricœur 1988: 122. Also ein Leseakt ganz im Verständnis Wolfgang Isers, den Ricœur hier aufzeichnet und in seiner Terminologie wiedergibt. Wichtig ist es, darauf zu verweisen, dass das Lesen grundsätzlich mit dem Nachvollziehen einhergehen sollte. Vgl. hierzu Ricœur 1989: 19 f, 45f. Ricœur 1988: 122. Was, wie bereits erwähnt, für Ricœur bei James Joyce’ Ulysses gegeben ist. ibid.
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im Ausblick dieser Untersuchung erneut thematisiert und ein Lösungsansatz vorgestellt werden. ii. Narrativität und Referenz Mit Vervollständigung der Theorie des Schreibens durch eine Theorie des Lesens ist der erste Schritt auf dem Weg zum Verständnis und der weitergehenden Bedeutung der Mímesis III getan. Nun sollen der Leser und das Moment der Referenz in den Fokus gerückt werden. Da durch ein Werk die Welt, die es entwirft und die den Horizont des Werkes bildet, vermittelt und so erfahrbar gemacht werden soll, ist die Welt des Lesers von großer Bedeutung. Genauer: seine Positionierung in ihr. Ein Rezipient nimmt die durch das Werk entworfene Welt gemäß seiner ihm eigenen Aufnahmefähigkeit auf. Sie ist so zugleich begrenzte (durch individuelle Fähigkeiten) und offene (durch die Positionierung im Raum der Lebenswelt und zu dem, was Ricœur „Welthorizont“ nennt) Situation. Wird Mímesis III als Überschneidung der Welt des Lesers und der Welt des Textes definiert, so ist diese „Horizontverschmelzung“128 an drei Voraussetzungen gebunden, die jeweils (a) den Sprechakten129 überhaupt, (b) den Werken unter den Sprechakten und (c) den narrativen unter den literarischen Kunstwerken zugrunde liegen. Diese die Voraussetzungen miteinander verbindende Ordnung ist also eine wachsende Spezifizierung, die mit dem Sprechen und der Sprache anhebt.
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Und in diesem Fall ist der Begriff sehr wohl im Sinne Gadamers als Verstehen zu fassen, das „immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (Gadamer 61990: 289) ist, wobei der eigene „Verstehenshorizont der Gegenwart“ den historischen Horizont einholt (Gadamer 61990: 290). Letzteres ist m. E. nach kritisch zu hinterfragen. Dies würde bedeuten, dass Geschichte immer nur im Sinne von Wirkungsgeschichte gefasst werden kann und somit das Subjekt als geschichtskonstituierendes seines Einflusses weitgehend enthoben wäre. Mit dem Modell dass sowohl Ricœur als auch Aristoteles vorschlagen, liegt aber gerade im Akt der aufzeigbaren Rückführung von (geschichtlichen) Erfahrungen, die durch Text vermittelt werden, in Handlung ein Schwerpunkt. Der Terminus des Sprechaktes wird von Ricœur nicht im vollen Sinne Austins oder Searls differenziert, also nicht im Sinne der Pragmatik. Vielmehr geht es ihm darum, dass Sprache, als Medium der Kommunikation des Alltags, eine Vermittlungsfunktion hat (Ricœur 1988: 101).
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a. Sinn und Referenz sowie ihre Bedeutung im Sprechakt Betrachtet man […] den Satz als elementare Redeeinheit, so fällt das Intendierte der Rede nicht mehr mit dem korrelativen Signifikat jedes Signifikanten in der Immanenz eines Zeichensystems zusammen.130
Durch den Satz, mit dem sie etwas sagt, weist Sprache über sich selbst hinaus auf etwas hin. In der Rede zeigen sich zugleich Dialogfunktion und Ereignischarakter der Sprache: Zum einen wird Sprache als Instrument genutzt, um sich an jemanden zu wenden. Zum anderen ermöglicht sie es, dass man sich mit etwas an jemanden wendet. So besteht das narrative Ereignis nach Ricœur vor allem darin, dass man eine neue Erfahrung (eine Situation, die uns betrifft) zur Sprache bringen und so anderen Personen mit-teilen möchte. Horizont dieser Erfahrung ist die Welt; Erfahrung und Horizont verhalten sich korrelativ zueinander – „wie Gestalt und Grund“131: Eine Situation, die uns widerfährt, ist als etwas zu fassen, das durch seinen Umriss um- und abgegrenzt ist, zugleich jedoch aus einem „Horizont der Möglichkeiten“ aufsteigt, die den äußeren und inneren Horizont dieser Erfahrung bilden. Der innere Horizont ist das, was es ermöglicht, die betrachtete Sache innerhalb ihres Umrisses näher zu bestimmen. Der äußere hingegen stellt die virtuelle Verbindung zu dem Möglichkeitsraum einer umfassenden Welt dar – auch ohne die tatsächliche Erwähnung dieser in der Rede selber. Versteht man Horizont in diesem zweifachen – dem für die Rede speziellen und dem virtuell allgemeinen – Sinne, so erhellen sich Situation und Horizont als korrelative Begriffe. Es wird auch deutlich, dass die Rede von der „Sprache als Welt für sich“ nur auf der Ebene der Phrase gilt. Denn wir sind es, die in der Welt sind und denen diese Situationen widerfahren.132 Weil dies so ist, sind wir darauf bedacht, uns innerhalb dieser Welt im Modus des Verstehens zu orientieren und das uns Widerfahrene anderen Menschen zu kommunizieren – zur Sprache zu bringen. Sprache ist also Medium für die Darstellung von Erfahrungen, Situationen und der Welt als mannigfaltigem Möglichkeitsraum. Dies ist die ontologische Voraussetzung der Referenz, eine Voraussetzung, die innerhalb der Sprache selbst als ein Postulat ohne immanente Begründung reflektiert wird. Für sich selbst ist die Sprache ein Selbes; die Welt ist ihr Anderes. Das
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Ricœur 1988: 123. Ricœur 1988: 123. Gestalt und Grund stehen in einem sich wechselseitig bedingenden Strukturierungs- bzw. Differenzierungsverhältnis. Während Korrelation auch nur das zufällige Zusammen/Gleichzeitig-Vorkommen von zwei Dingen meinen kann. Das meint: Sprache als die Verständlichkeit von Welt auch jenseits des Sprechens über die Welt, Sprache als Logizität von Welt.
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Zeugnis für diese Andersheit gibt uns die Selbstreflexivität Sprache, die somit weiß, daß sie im Sein ist, um auf das Sein einzugehen.133
Sprache als ein „ontologisches Zeugnis“ zu bestimmen muss als Gegenstück verstanden werden zu dem zuvor in Bezug auf die Handlung und Erfahrung festgestellten „In-der-Welt-Sein“ und „In-der-Zeit-Sein“. Dies ist der intentionalen Ausrichtung auf das Äußerliche geschuldet – eine Interpretation von Sprache, die von der Sprachwissenschaft und der Semiotik abgelehnt wird.134 Diese ontologische Verfassung schreitet hier zu ihrem Ausdruck in der Sprache. So kann Ricœur für das Verhältnis von Kommunikation und Referenz, also die Vermittlung der Beziehung von Sinn und Referenz im Sprechakt, unter Berücksichtigung der zuvor herausgestellten Überlegungen zur Rezeption des Textes festhalten: Kommunikationsfähigkeit und Referenzbefähigung müssen gleichzeitig gesetzt werden. Jede Referenz ist Ko-Referenz, dialogische oder Dialog-Referenz. […] Was ein Leser rezipiert, ist nicht nur der Sinn des Werkes, sondern durch seinen Sinn hindurch seine Referenz, also die Erfahrung, die es zur Sprache bringt, und letztlich die Welt und ihre Zeitlichkeit, die es vor sich entfaltet.135
b. Werke unter den Sprechakten Ricœur widmet sich dann dem Verhältnis von Referenz und literarischen Kunstwerken. Hierzu greift er zunächst auf die Kernthese in Die lebendige Metapher zurück: Demnach bringen auch literarische Kunstwerke eine Erfahrung zur Sprache und kommen so zur Welt wie jede andere Rede.136 Mit dieser These stellt sich Ricœur der zeitgenössischen Poetik entgegen, die die literarische Sprache als streng immanente versteht und so Referenzen und Verweise auf das als „außersprachlich“ Angesehene zurückweist. Doch ist dies lediglich ein Vertagen der Problematik, die sich zwischen der Welt des Lesers und dem Werk aufspannt, sind doch die Referenzillusionen mehr als nur willkürlicher Sinneffekt eines Textes: Die Referenzillusionen „erfordern eine ausgeführte Theorie der Modalitäten der Veridiktion oder des Wahrheitssagens“.137 Diese Modalitäten heben sich ab von einem Welthorizont, nämlich dem der Welt des Textes. Nähme man diesen Horizontbegriff in die Immanenz des Textes auf, so erschiene zwar _____________ 133 134
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Ricœur 1988: 123. Hier wäre Ricœur abzugrenzen gegen eine Sprachphilosophie im Fahrwasser Wittgensteins, was jedoch zu weit in die Gefilde der Sprachphilosophie führte. Ricœur 1988: 124. Vgl. hierzu ausführlicher Ricœur 1986: 5. Studie. Ricœur 1988: 125.
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die Referenzillusion als eine Verzerrung derselben, doch der Fall schiene gelöst. Doch findet sich die Horizontproblematik, wie bereits erwähnt, auch in der Überschneidung der Horizonte, die sich aus dem Kreuzen der Welt des Lesers mit der des Textes ergibt. Das Problem wäre also mit einer Integration in den Text nicht gelöst, sondern nur verlagert. Alternativ lässt sich das Problem einfach abweisen, indem man die Bedeutung von literarischen Texten für das alltägliche Erfahren für nichtig erklärt – woraus sich jedoch die Frage ergibt, was dann noch wirklich ist. Nur das Gegebene, das empirisch nachgewiesen und wissenschaftlich erklärt werden kann? Dann wäre Literatur ein in sich geschlossener Apparat, der keine Mitteilung trägt, weder ethischen noch ästhetischen Charakters, die er an die Gesellschaft richtet. Spiegelte sie dann überhaupt noch eine lebensweltliche Interpretation des Aktors wieder? Und wenn ja, mit welchem Sinn? Nimmt man an, dass die Literatur nicht auf Alltagserfahrungen Einfluss nehmen kann, so vergisst man, „daß die Fiktion gerade das ist, was die Sprache zu jener höchsten Gefahr macht, von der Walter Benjamin im Gefolge Hölderlins mit Schrecken und Bewunderung spricht“.138 Eine Verbindung zwischen Literatur und Lebenswelt, die als Wechselwirkung qualifiziert werden muss, zeigt sich in allen Facetten: Literatur kann Ideologien bestätigen oder deren Grundstein in der Welt legen; sie kann Gesellschaftskritik und als solche Darstellung und Anstoß zugleich sein; doch sie kann auch die Entfremdung vom Wirklichen sein – aber auch als solche ist sie wahrnehmbar in der Wirklichkeit. Und gerade hier wird eben der Zusammenhang einer Dynamik von Text, wie sie zuvor mit Blick auf Sedimentierung, Tradition und auch Innovation bereits umrissen worden war erneut bedeutsam. Eben durch das Wechselspiel von Paradigmen und die Abweichung von ihnen infolge der Regelwidrigkeit von Einzelwerken wird der Raum des Möglichen ständig erweitert. Ricœur spricht vom „Schock“ des Möglichen, dem der „Schock“ des Wirklichen in nichts nachsteht. So formt Literatur die „Praxiswirklichkeit“: [Ich möchte] sagen, daß die Welt meiner Ansicht nach die Gesamtheit der Referenzen ist, die durch alle Arten deskriptiven oder dichterischen Texten zugänglich gemacht werden, die ich gelesen, gedeutet und geliebt habe.139
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Ricœur 1988: 125. Ricœur 1988: 126. Ausgerechnet in der Fiktion findet sich hierzu ein schlagendes Zitat: Orlando lässt im gleichnamigen Werk von Virginia Woolf verlauten: “The earth we walk is parched cinder. It is marl we tread and fiery and cobbles scorch our feet. By the truth we are undone. Life is a dream. ’Tis the wakening that kills us. He who robs us of our dreams robs us of our life – “ (Woolf 1995: 100). Doch welches Verhältnis von Leben und Welt steht etwa hinter Werken wie Orwells 1984? Arno Schmidt schreibt hierzu in Die Schule der Atheisten: „Die ‚Wirkliche Welt‘?: ist, in Wahrheit, nur die Karikatur unsrer Großn Romane!“ (gesamtes Zitat: sic!) Schmidt 1994: 159.
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Weist man also die wechselseitige Verbindung zwischen Text und Leser nicht pauschal ab140, so muss man in der Sprache der Dichtung selbst das Bindeglied finden, das den – durch die Methode der Immanenz der referenzfeindlichen Poetik geschaffenen – Graben zwischen diesen Welten zu überbrücken vermag. Doch wie? Ricœur greift hierzu auf Werke wie Die lebendige Metapher und Hermeneutik und Strukturalismus zurück: Die Referenzfähigkeit der Sprache wird nicht durch die Sprache selbst erschöpft, da Sprache – ebenso wie Text – etwas der dýnamis Unterstelltes ist. [D]ort, wo die Sprache sich selbst und uns entgleitet, da kommt sie andererseits gerade zu sich, da verwirklicht sie sich als Sagen. Ob ich die Beziehung von Zeigen-Verbergen nach der Art des Psychoanalytikers oder des Religionsphänomenologen verstehe (und ich glaube, daß man heute beide Möglichkeiten vereint ergreifen muss), hier wie dort macht sich die Sprache als ein Vermögen geltend, das enthüllt, das manifestiert und an den Tag bringt; darin findet sie ihr eigentliches Element, sie wird sie selbst: sie hüllt sich in Schweigen vor dem, was sie sagt.141
Sprache verändert sich, wird erweitert, manchmal verschwinden gar Teile von ihr.142 Zudem beziehen sich dichterische Werke in ihrem eigenen Referenzmodus auf die Welt: der metaphorischen Referenz. Diese These deckt alle nichtdeskriptiven Modi der Sprache ab – sowohl lyrische wie auch narrative Texte. Obwohl nicht immer im expliziten Modus der Deskription, so sprechen doch alle dichterischen Texte von der Welt (und wenn auch nur im zuvor aufgezeigten verfremdeten, im Möglichkeitsbereich zu verortenden Sinne). Wie bereits aufgezeigt, besteht die metaphorische Referenz darin, dass die deskriptive Referenz ausgelöscht und durch dieses Auslöschen ein radikaleres Vermögen der Referenz hinsichtlich der Aspekte des „In-der-Welt-Seins“ freigesetzt wird. Diese Aspekte werden indirekt, jedoch positiv assertorisch aufgrund der neuen Pertinenz anvisiert, die von der metaphorischen Aussage auf der Ebene des Sinnes hergestellt wird, und zwar auf den Trümmern des wörtlichen Sinnes, der durch seine eigene Impertinenz aufgehoben wird.143
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Es ist darauf hinzuweisen, dass die immanente Literaturwissenschaft dies auch nicht macht. Allenfalls kappt sie die Verbindungen zwischen Text und Autor, um Analysen der Art „Was will der Autor uns hiermit sagen?“ zu verhindern. Vgl. zum Beispiel Staiger 51982. Ricœur 1973: 86. Im Jahr 2004 starb die letzte Chinesin, die die „Sprache der Frauen“ zu sprechen vermochte, ohne diese zuvor an eine andere Frau weitergegeben zu haben. Diese Sprache existiert somit nicht mehr. Es gibt derzeit noch etwa 5.000 Menschen in der Welt, die Aramäisch – die Lingua Franca des Zweistromlandes um Christi Geburt – sprechen. Die Menschen, die diese Sprache heute noch beherrschen, sprechen eine dialektale Form des damaligen Aramäisch und kennen in dieser Sprache auch moderne Worte wie „Brille“, „Automobil“ oder „Atombombe“. Ricœur 1988: 126.
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Anders gesagt: Eben durch das Ausweiten der Referenzen auf das gesamte „In-der-Welt-Sein“ (und somit das Fassen des Seins als ein „Sein wie …“ und als ein Metaphorisches) wird dem einfachen und explizit wörtlichen Sinn ein über ihn hinausgehender an die Seite gestellt. Das metaphorisch verwendete Wort basiert auf dem der dýnamis unterworfenen wörtlichen Sinn des Wortes. Diese Gesamtheit der Referenzen wird durch alle Arten von deskriptiven und dichterischen Texten dem Leser zugänglich gemacht. Wenn wir also einen Text lesen – und lesen heißt verstehen –, so sind wir es, die aufgrund unserer Situation in der Welt dem Text jene Bedeutung verleihen, die aus der bloßen Umwelt eine Welt „für uns“ macht. Nimmt man dies an, so erweitern dichterische Werke unsere Wahrnehmung der Welt und auch diese – noch immer als Lebenswelt zu fassende – selbst. Tatsächlich verdanken wir den Werken der Fiktion zum großen Teil die Erweiterung unseres Existenzhorizontes. Sie erzeugen keineswegs nur abgeschwächte Bilder der Wirklichkeit […], sondern schildern die Wirklichkeit nur, indem sie sie um alle Bedeutungen bereichern, die sie selbst ihren Eigenschaften der Abkürzung, der Sättigung und der Aufgipfelung verdanken, wie sie die Fabelkomposition auf erstaunliche Art und Weise veranschaulicht.144
Eher ist das Abbilden als eine ikonische Bereicherungzu fassen, und dies muss auf die Fiktion angewendet werden, die es vermag, aus zunächst Begrenztem (der Sprache als Ansammlung von Lexemen) Neues und Unbegrenztes hervorzubringen. So muss das Bild nach Fink145 eher als ein Fenster verstanden werden, das den Blick auf „die unendliche Weite der Landschaft“ preisgibt. Gadamer gesteht dem Bild gar das Vermögen zu, unserer durch den Alltagsgebrauch „verarmten Weltanschauung“ ein „Mehr an Sein“146 zu verleihen. Dies muss nun auch auf die Erzählung zutreffen, will man zum einen der Refiguration eine zentrale Bedeutung (die des Komplettierens) zumessen und zum anderen das Werk als etwas verstehen, das sich „nach außen“ öffnet. Und so zeigt sich erneut die Hermeneutik als die geeignete Methode, wenn es um die Anerkennung der Refigurationsfunktion des dichterischen Werkes im Allgemeinen geht. Auf der Ebene der Semantik und Semiotik werden zum Beispiel formale Aspekte oder die Intention des Autors expliziert und wiedergegeben. Die Hermeneutik dagegen will vorrangig den Vorgang erläutern, in dem ein Text zu diesem „Mehr-Sein“ gelangt, das Ricœur als „eine Welt vor sich ausbreiten“ beschreibt. So kann die einem _____________ 144
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Ricœur 1988: 127. Damit wendet sich Ricœur auch gegen die durch Platon im Phaidros formulierte Kritik an den eîkóna als abgeschwächten Bildern der Wirklichkeit (Phaidros, 274e–277e). Fink 1966: § 34. Gadamer 61990: I. Teil, II,2, passim.
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Text immanente Interpretation als Darlegung einer Welt verstanden werden, die sich dem Leser offenbart und ihn geradezu einlädt, in ihr zu wohnen und sie sich einzurichten gemäß seiner ihm eigenen Möglichkeiten. Ricœur schließt seine Überlegungen zum Verhältnis zwischen Referenz und literarischen Kunstwerken ab mit einem erneuten Rekurs auf Die lebendige Metapher und den dort beschriebenen Mŷthos-Begriff, den er nun zum narrativen Tun analog setzt: In der Lebendigen Metapher habe ich die These vertreten, daß die Dichtung mit ihrem Mŷthos die Welt neubeschreibt. Analog möchte ich in dem vorliegenden Buch sagen, daß das narrative Tun die Welt in ihrer zeitlichen Dimension in dem Maße neubedeutet (résignifie), wie erzählen, rezititieren [sic! Gemeint ist der Infinitiv; J. S.] ein Nachvollzug der Handlung ist, zu dem die Dichtung auffordert.147
c. Referenz und dichterisches Werk In der Narrativität wird die Welt von der menschlichen Praxis her erfasst und nicht vom kosmischen Pathos aus. Das im menschlichen Handeln Vorbedeutete ist Gegenstand der Erzählung, und die Neubedeutung greift somit auf die „vornarrativen Ressourcen“ zurück, die in Mímesis I in der Vielschichtigkeit der Handlung deutlich wurden. In diesem Rahmen wurde auch die Rolle eines Bedeutungsnetzes erläutert, das die Semantik der Handlung konstituiert. Dieses und die Symbolik der Handlung führen nun dazu, dass Ricœur eine „Sprachpraxis“ beschreibt, die das narrative „Inder-Welt-Sein“ prägt. Die erwähnte ikonische Bereicherung ist so zu verstehen, dass eben durch die Interpretation Handlungen vorbedeutet werden und so verständlich und lesbar sind. Aufgrund des Vorverständnisses ist somit das Problem der Referenz auf der Ebene der Narrativität geringer als in der lyrischen Dichtung, die eher zum kosmischen Pathos tendiert. Dichterische Referenz ist als das Moment zu fassen, das Mŷthos und Neubeschreibung miteinander verbindet. Doch ist das Problem der Narrativität im Hinblick auf die Referenzintention und den Wahrheitsanspruch zugleich komplizierter. Narrative Rede teilt sich, wie bereits bei Aristoteles deutlich wird, in zwei Kategorien: die der Fiktionserzählung und die der Geschichtsschreibung.148 Hinsichtlich der Referenz ergibt sich hier eine Asymmetrie. Sie besteht darin, _____________ 147 148
Ricœur 1988: 127f. Die sich aus dieser Teilung der narrativen Rede in Fiktion und Historie ergebenden Probleme erläutert Ricœur im vierten Teil seiner Untersuchung Zeit und Erzählung (Bd. III). Hier soll nur auf eine Auswahl von ihnen eingegangen werden, die für das weitere Vorankommen dieser Untersuchung von Bedeutung sind.
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dass die Geschichtsschreibung auf eine Referenz zugreift, die ihren Ort in der Empirie hat (z. B. einer Quelle), weshalb man annimmt, dass sie sich an tatsächlich Geschehenem orientiert. Mit Augustinus gesprochen hat die Vergangenheit zwar stattgefunden, doch es gibt sie nicht mehr. Es gibt nur noch praesens de praeteritis, die Wieder-Vergegenwärtigung von Vergangenem durch die memoria. Sie ist „anhand der Spuren der Vergangenheit greifbar“149 – für den Historiker in Dokumenten. Die Ereignisse der Vergangenheit sind jedoch in der Gegenwart nicht eins zu eins wahrnehmbar, obwohl sie die historische Intentionalität bestimmen und ihr eine realistische Note geben. So kann die Geschichtsschreibung sie einbeziehen im Rekurs auf Referenzen – genauer: die Spur. Da die Referenz jedoch sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die Erzählung von Bedeutung ist, sich ihre Gegenstandsbereiche „kreuzen“, spricht Ricœur von der „überkreuzten“ oder „gekreuzten Referenz.“ Dabei macht die fiktionale Erzählung Anleihen bei der Geschichtsschreibung, wenn sie sich auf Ereignisse bezieht, die in der chronologischen Zeit stattgefunden haben oder haben sollen.150 Die Geschichtsschreibung hingegen leiht das Als ob als Modus des Beschreibens von der Erzählung. Mit der Frage nach dem Ort dieses Überkreuzens und nach dem, was durch Geschichtsschreibung und Erzählung gemeinsam neu gestaltet wird, leitet Ricœur zum letzen Teil seiner Überlegungen zur Mímesis III über: zur erzählten Zeit. Hier sollen die Zeitmomente der durch den Konfigurationsakt refigurierten Welt aufgezeigt werden, da sie an dieser Stelle Vorbedingung für das Verständnis von Historizität sind. iii. Die erzählte Zeit Die Zeitlichkeit der Handlung ist jene Komponente der Trias Semantik, Symbolik und Zeitlichkeit der Handlung151, die durch das „In-HandlungVersetzen“ mehr als die übrigen refiguriert, d. h. durch Erzählen neu gestaltet wird. Ihr widmet Ricœur besondere Aufmerksamkeit, wenn er von einer ikonischen Bereicherung durch die Refiguration ausgeht. Um diese Neugestaltung der Zeit oder Zeitlichkeit der Handlung zu ergründen, bedarf es nach Ricœur eines langen Umwegs, wird doch ein _____________ 149 150
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Ricœur 1988: 129. Erneut wäre hier zum Beispiel Eco zu nennen und die programmatisch selbstreferentielle Überschrift in Der Name der Rose, die auf genau jenes Spiel von Dichtung und Historie anspielt: „Natürlich, eine alte Handschrift“, die auf Eco 1982. Im Rahmen der Konzeption von Mímesis I waren diese drei Momente als jene charakterisiert worden, die das Vorverständnis der Handlung ausmachen.
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„dritter Partner“152 benötigt, der zu Geschichtsschreibung und Literaturwissenschaft hinzukommt: die Phänomenologie der Zeit, auf die bereits hinsichtlich der überkreuzten Referenz verwiesen wurde. Wir erinnern uns, dass nach Ricœur die Literaturwissenschaft die Geschichte, in die laut Schapp der einzelne Mensch „verstrickt“ ist, als „ein[en] vom Schriftsteller erfundene[n] Kunstgriff“153 versteht und den Begriff der Fiktion pauschal verwendet, ohne Unterscheidung zwischen der Fiktions- und der Geschichtserzählung. Die Gemeinsamkeiten, die sich zwischen diesen ergeben, klingen schon mit der Spur an. Und schon zu Beginn merkt Ricœur in Zeit und Erzählung an, „daß es bei Augustinus keine reine Phänomenologie der Zeit gibt“.154 Dieses Moment, zieht eine „nichtabschließende Grübelei“ über die Aporien der Zeitlichkeit nach sich. Das nimmt Ricœur zum Anlass, mithilfe der aristotelischen Fabelkomposition auf diese Aporien zu antworten und eine Phänomenologie der Zeit von Husserl bis Heidegger zu entfalten. Er will die Unmöglichkeit einer reinen Phänomenologie der Zeit nachweisen. Das ist notwendig, wenn die These allgemeingültig sein soll, dass die Poetik der Narrativität eine Antwort auf die Aporetik der Zeitlichkeit bietet und ihr zugleich entspricht. Unter reiner Phänomenologie verstehe ich ein anschauliches Erfassen der Zeitstruktur, das sich nicht nur von den Argumentationsverfahren ablösen läßt, durch die sich die Phänomenologie bemüht, die von einer älteren Tradition überkommenen Aporien aufzulösen, sondern seine Entdeckungen nicht durch neue, noch kostspieligere Aporien erkauft.155
Eine reine Phänomenologie ist jedoch eine Utopie. Im Anschluss hieran formuliert Ricœur die These, dass die Funde der Phänomenologie156, die sich in der augustinischen Zeittheorie durchaus ausmachen lassen, der aporetischen Struktur nicht endgültig entrissen werden können. Daher stellt Ricœur zunächst den exemplarischen Charakter der augustinischen Aporien den von Husserl in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins entwickelten Gedanken gegenüber, denen zufolge „die reine _____________ 152 153 154 155 156
Ricœur 1988: 130. Ricœur 1988: 119. Ricœur 1988: 17. Ricœur 1988: 131. Was muss man unter diesen „phänomenologischen Funden“ verstehen? Augustinus schreibt zum Beispiel davon, er könne die drei Zeiten „in der Tat sehen“ und müsse „gestehen“, dass es drei sind und nicht nur eine, nämlich die Gegenwart, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch Vergegenwärtigung treffen (Augustinus: Confessiones XI, 20, 26.) Ricœur geht bereits bei seiner Analyse davon aus, dass Sehen das Resultat einer Diskussion ist, in deren Rahmen das „gestehen“ siedelt. Somit wäre bereits an dieser Stelle das Sehen nicht mehr als phänomenologisches zu denken, sondern als Resultat eines hermeneutischen Herantretens. Ricœur 1988: 25.
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Phänomenologie der Zeit endgültig aporetischen Charakters ist“ .157 Die Erörterung dieses Textes führt zur These Kants zurück, dass Zeit nicht unmittelbar beobachtet werden kann, sondern recht eigentlich unsichtbar ist. „In diesem Sinne wären die endlosen Aporien der reinen Phänomenologie der Zeit der Preis, der für jeden Versuch zu zahlen ist, die Zeit selbst zur Erscheinung zu bringen, ein Bestreben, das die Phänomenologie als reine bestimmt.“158 – Doch dies ist Ziel weiterer Untersuchungen im vierten Teil von Zeit und Erzählung. An dieser Stelle rückt Heideggers Zeitverständnis erneut in den Mittelpunkt der Untersuchungen: Die Qualität der Heideggerschen Zeitanalyse ist in der Hierarchisierung der Ebenen der Zeitlichkeit auszumachen. Zeit darf nicht als eine Ineinanderschachtelung einzelner Zeitebenen verstanden werden. Jahrzehnte sind mehr als nur eine Größe, in der sich Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden fassen lassen etc. Diese Hierarchisierung ist eher so zu verstehen, dass Heidegger – von der Ontologie der Sorge ausgehend – die Erfahrungsweisen von Zeit hierarchisiert. Unabhängig vom Subjekt existiert die chronologische Zeit, die zuvor als un-eigentliche Erfahrungsweise gefasst wurde und die Ricœur als der Innerzeitlichkeit nahe stehend charakterisiert. Sie ist dessen öffentliche Ausgelegtheit, in der die Funktionszusammenhänge, in denen das einzelne Subjekt sich bewegt, bestimmt werden. Die ekstatische Zeit, die Ricœur als „radikale Zeitlichkeit“ fasst, wird vom „Sein-zum-Tode“ bestimmt. Indem sie das Dasein zwischen Geburt und Tod aufspannt, macht sie die innere Zeitspannung des Individuums aus – und die Sorge notwendig. Das Dasein ist immer schon auf das Sein-zum-Tode ausgerichtet, auch dann, wenn es ihm den Rücken kehrt: Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor […] So enthüllt sich der Tod als eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit.159
Zwischen diesen beiden Extrempunkten siedelt Ricœur die Geschichtlichkeit an: In ihr kommen beide Momente zusammen im Wissen um den eigenen Tod (und die Verdrängung des Wissens) und im Rechnen mit der Zeit. Innerhalb von ihr sind auch die Fiktionalität und die mit ihr zusammenhängende Wahrheitsorientierung zu finden. Doch auch Sein und Zeit führt zu Aporien: Auch Heideggers Ansatz ist den Aporien der Zeitlichkeit unterworfen. Hinzu kommt der Anspruch von Heideggers Phänomenologie, Grundlage aller Wissenschaften zu sein. Weil das Dasein in seinem „Geworfensein“ Grundlage für alles ist, werden diese Aporien jedoch verschärft. Das „Sein-zum-Tode“, als maßgebliche Ausrichtung der radikalen Zeitlichkeit des Daseins, birgt die Gefahr _____________ 157 158 159
Ricœur 1988: 131. Ibid. Heidegger 101963: :250 (§ 52).
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von dessen Abkapselung. Da Erzählung jedoch auf Mitteilung basiert, kann diese solipsistische Auffassung – „Mitsein“ als ontologisch existentiale Bedingung von Möglichkeit ist in Sein und Zeit seltsam vage formuliert160 – nicht direkt für eine Theorie der Narration fruchtbar gemacht werden. Während Ricœur davon ausgeht, dass Fiktion Realität bestimmt, entspringt für Heidegger161 Geschichtlichkeit im Dasein. Bei Augustinus ist die Zeit ein Modus der Beständigkeit. Bei Heidegger hingegen ist die radikale Zeiterfahrung das „Sein-zum-Tode“ – also letztlich Erfahrung der Vergänglichkeit und nicht der Ewigkeit. Werden diese Momente – obwohl sie beide aporetisch sind – synthetisiert, so kann geklärt werden, inwieweit „die Reflexion über Zeit und Narrativität dazu beitragen kann, Ewigkeit und Tod zusammen zu denken“.162 Dies jedoch ist nicht mehr Aufgabe der vorliegenden Untersuchung, weshalb nun vielmehr vor dem Hintergrund des bisher Konstatierten und unter Zuhilfenahme von weiteren Schriften Ricœurs ausgeführt werden soll, wie die kurz genannten Aspekte der Spur und der Referenz zu fassen sind und für diese Untersuchung fruchtbar gemacht werden können.
5. Referenz, Spur und der Nutzen Ricœurs für die mythische Methode163 Wie nun kann man das für den Mŷthos unter Berücksichtigung der drei Stufen des Mímesis-Zirkels hinzugewonnene Potenzial zu einer weiteren Anwendung bringen? Eine grundlegende These wäre, dass der Mŷthos in seiner Funktion der Vermittlung und Ordnung als eine Form der Spur gefasst werden kann – oder zumindest ein „narrativer Träger“ derselben ist. Spricht man von der Spur, so liegt es nahe, verwandte Phänomene wie das des Symptoms oder des Indizes mitzudenken. Wird eine Spur aufgefunden, so muss eine Interpretation im jeweiligen Kontext erfolgen, in dessen Rahmen sie sodann deutbar ist – ganz ähnlich einem Symbol, in dem sich kulturelle Prozesse zeitigen, in denen die gesamte Erfahrung artikuliert wird.164 Doch muss die Spur als diachroner Interpretant gesehen werden, was sie ein Stück weit von Symptomen und Indizien entfernt, die im Jetzt verortet sind und deren Interpretation einzig zu einer Einord_____________ 160 161
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Vgl. Heidegger 101963: §26. Dies gilt zumindest in Sein und Zeit – in den späteren Schriften, wie der Vorlesung zu den Grundproblemen der Metaphysik, wird der Mensch auch als weltbildend verstanden. Ricœur 1988: 135 und auch in Band II von Zeit und Erzählung, passim. Teile dieses Kapitels sind bereits in einem Aufsatz unter dem Titel „Die Geschichte geht in Spuren“ publiziert worden, siehe Sprondel 2010. Vgl. hierzu die Ausführungen zur Präfiguration.
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nung vor dem Hintergrund des Vergangenen führt. Indizien und Symptome lassen uns lediglich aufmerken (im Sinne einer attentio) und so nach dem suchen, was wir als Spur fassen. Doch was sagt dies über die Spur aus, wenn wir uns ihr über Indizien, Symptome und versteckte Hinweise nähern müssen, wenn wir sie suchen und dann lesen müssen? Bis eine genauere Interpretation erfolgt ist, figuriert ein Symbol als handlungsinterner Interpretant. Versteht man das Symbol als Interpretanten, so kann es ein Symbol nicht an sich geben, sondern nur innerhalb einer Handlung. Ebendies muss auch für die Spur angenommen werden. So, wie sich aus dem Beschreibungskontext des Symbolnetzes zugleich die Regeln ergeben, nach denen Einzelhandlungen beschrieben und interpretiert werden müssen, sind es auch mit Blick auf die Spur vorangegangene Erfahrungen und aus ihnen resultierende Erwartungen und Kenntnisse, die das Lesen der Spur in ihrem jeweiligen Kontext ermöglichen – und so mithin die Spur als Spur kennzeichnen und erkennbar werden lassen. Dies wiederum bedeutet, dass der Spur zum einen eine erkenntnistheoretische Funktion165 zukommen kann. Jedoch zum anderen auch eine erkenntnispraktische166; dass also, wenn man das Moment des Indizierens als sich im Jetzt zeitigenden Verweis auf die Spur fasst, diese als Doppelfunktion zu sehen ist: Die Spur zeigt auf und verweist im Aufzeigen auf das, was nicht sichtbar ist – und wird somit zum Indiz. Sie ist so als Form von Zeichen, als Begriffsnetz (im Sinne von de Saussures Begriff einer paradigmatischen Ordnung167) zu bestimmen, das sich semiotisch deuten lässt.168 Über die Spur können insofern Unbestimmtheitsstellen (Ingarden) oder auch Leerstellen (Iser) deutlich werden: Ihr käme also eben jene Funktion zu, die als Contextus bereits benannt und abschließend näher charakterisiert werden soll. Für das Moment der Zeitlichkeit heißt dies: Vermittels der Spur wird Vergangenes vergegenwärtigt. Über dies hinaus wird in ihr, aufgrund des Lesens und Interpretierens der Spur auf Zukünftiges hin, eine Kreuzung aller drei zeitlichen Ebenen offenbar.169 Inwiefern das Feld von Erfahrung und Mŷthos und das Zusammenwirken dieser Momente hinsichtlich der Vermittlung von Lebenswelt als gewinnbringend gewertet werden kann, ist in Grundzügen bereits in den vorangegangenen Abschnitten dieser Untersuchung deutlich geworden. _____________ 165 166 167 168 169
Vgl. hierzu den Spurbegriff von Levinas 1983. Vgl. Ginzburgs Indizienparadigma (Ginzburg 1995: 31ff.). Saussure 21967. Vgl. hierzu Krämer 2007: 155-181. Diese Lesart der Spur erinnert mit Recht an die Augustinische Reflexion über Zeit, in der es dem Geist im nunc zukommt, Zeit aufzuspannen und somit aus der Gegenwart über die Erfahrung (die in der Erinnerung, memoria, eingeschrieben ist) „Vergangenheit“ und über die Erwartung „Zukünftiges“ zu generieren. Vgl. Augustinus’ Betrachtungen in den Confessiones X und XI.
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III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung
Nun soll gezeigt werden, wie - unter Hinzunahme des Ricœur’schen Modell des Mímesis-Zirkels – über die Spur Geschichte vermittelt werden kann. Wie bereits betont wurde, birgt der Mímesis-Zirkel eine phänomenologische Erzähltheorie, deren vorrangiges Ziel es ist, Zeitaporien zu überwinden. Es konnte gezeigt werden, dass damit zugleich implizit eine Geschichtstheorie entwickelt wird, die auf dem Gedanken fußt, dass wir unsere jeweilige Positionierung in der Welt durch Erzählen bestimmen. Zenral ist hier die Überlegung, dass unser Geschichtsbild davon mitdeterminiert ist, wie wir als Subjekte Erfahrung rekapitulieren und wie wir sie im Erzählen weitervermitteln; unser Geschichtsbild wird immer von unserem Selbstbild mitbestimmt. Mit seinen Überlegungen zur Spur und der Verschränktheit von Historiographie und Erzählung weist Ricœurs Verständnis von Geschichte und Geschichtsschreibung über das hinaus, was Aristoteles in der Poetik für die Geschichtsschreibung eben in Abgrenzung zur Dichtung erklärt: φανερὸν δ ὲ ἐκ τ ῶν ε ἰρηµένων κα ὶ ὅτι ο ὐ τὸ τὰ γενόµενα λέγειν, το ῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον. Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern etwas so darzustellen, wie es gemäß der Wahrscheinlichkeit geschehen würde, d. h., was [nach der Notwendigkeit, wie sie sich aus der Handlung eines bestimmten Charakters ergibt J. S.] möglich ist.170
Es konnte bereits gezeigt werden, dass diese Äußerung vor dem Hintergrund der Begriffe des Allgemeinen (kathólou oder eindeutiger kath’ hólou) und des Besonderen (kath’ hékaston) relativiert werden müssen. Geschichte, so ist festgehalten worden, kann gemeinhin nicht auf ein Allgemeines rekurrieren, dem das Besondere entspränge. Ihre Ordnung verdankt sich gemeinhin der Chronologie, also einer gesetzten Größe. Geschichte hat somit „loose ends“ – also das, was Erzählung nicht haben darf, wenn die Einheit der Handlung gewährt sein soll. Es war ferner deutlich geworden, dass dies nicht impliziert, dass Geschichte als lediglich auf das Einzelne gehend gefasst werden kann: Weder kann man der Geschichtsschreibung – und das gilt bereits für ihre Vertreter in der Antike171 – absprechen, dass sie es nicht auch vollbrächte, Allgemeines einer Handlung hervorzuheben. Noch kann man der Geschichte selber absprechen, dass sich in ihr sinnhafte Kausalzusammenhänge finden ließen, die nicht Zeugnis allgemeiner Tendenzen – also Charakteristika – wären. Und eben hier greift nun Ricœurs Überlegung an, die bereits im Rahmen der Überlegungen zur _____________ 170 171
Poet. 1451a36–b1. Genannt wurde in diesem Zusammenhang Thukydides.
III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung
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Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit und Geschichte im Rahmen der Poetik angeführt wurde: Der Phantasiecharakter der Tätigkeiten, die die Spur schematisieren und dadurch zu einer Vermittlungsinstanz machen, wird deutlich sichtbar in den gedanklichen Bemühungen, die mit der Interpretation eines Überbleibsels, eines Fossils, einer Ruine, eines Museumsstücks oder eines Monuments einhergehen: Zu einer Spur, das heißt zu einer Wirkung und einem Zeichen zumal, werden sie nur, wenn man sich den Lebenszusammenhang vorstellt (se figurer) […]172
Es kann oder gar darf also auch der Historiker nicht nur auf objektive Fakten rekurrieren, wenn das Bild eines vergangenen Ereignisses möglichst so entworfen werden soll, dass es dem Rezipienten zugänglich wird. Doch hat dies im Zuge des Moments der „gekreuzten“ oder „überkreuzten Referenz“ und der „Spur“ auch für die fiktionale Erzählung Bedeutung. Für den Historiographen ist die Spur aufgrund ihres Mischcharakters eine notwendige „Vorbedingung für alle Schöpfungen der historischen Praxis“173, sie ist „Zeichen und Wirkung in eins“174, auch verstanden als Verhältnis von Ursache und Wirkung: Vergangenes menschliches Handeln wird an einem Gegenstand in der Gegenwart ablesund wahrnehmbar (Wirkung), weil diese Materie von Menschen in der Vergangenheit „markiert“ wurde (Zeichen/Ursache). So bildet die Spur die Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart, von der Ursache zur Wirkung, und dokumentiert beides in der Gegenwart. Indem diese Markierung im Jetzt wahrgenommen wird, erfüllt die Spur gegenüber der Vergangenheit eine „Vertretungs- oder Repräsentanzfunktion“, die durch „indirekte Referenz“ gekennzeichnet ist, welche „typisch ist für Erkenntnisse durch Spuren“.175 Die Spur arbeitet so mit zwei Verweisungsmodi: Der eine ist empirisch wahrnehmbar, der andere ergibt sich aus ihrer Repräsentationsfunktion. Der „repräsentierenden“ Spur muss der Historiker folgen, wenn er die Vergangenheit rekonstruieren will; sie ist die „Signifikanz einer vollendeten Vergangenheit.“176Vergangenheit ist so immer rezipierte, vermittelte Vergangenheit, und Geschichte als eine Darstellung der Vergangenheit kann nie etwas anderes sein als ein Konstrukt von dieser. Hinsichtlich der Überführung des Konstrukts zur Re-Konstruktion und des Akts der Konfiguration in der Historiographie knüpft Ricœur terminologisch an die fiktionale Arbeit des Romanautors an, dessen Arbeit auf die Refiguration zielt. Um der Bedeutung einer empirischen Aussage in der Vergangenheit folgen zu können, sie rück_____________ 172 173 174 175 176
Ricœur 1991: 299. Ricœur 1991: 186. Ricœur 1991: 193. Ricœur 1991: 223f. Ricœur 1991: 192.
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III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung
verfolgen (re-tracer), sie vergegenwärtigen177 zu können, muss der Historiker mit seiner Phantasie der Spur folgen. Er muss seine „Interpretationen am Signifikanzcharakter der Spur festmachen“178, um die „Bindeglieder“ zu konstruieren, „die die Deckung des Existentialen mit dem Empirischen in der Signifikanz der Spur bewirkt“.179 An eben diesem Punkt der Theorie wird das offenbar, was eingangs als Movens für eine Auseinandersetzung mit der Spur vor dem Hintergrund der Geschichte und Erfahrung aufgezeigt wurde: In der Spur und im Interpretieren der Spur einen sich Erfahrung und Geschichte, werden Fiktum und Faktum zu einander unterstützenden Momenten, die ineinandergreifend Geschichte(n) zum Gegenstand des Verstehens machen. Denn die Konfiguration bildet auch für die Geschichtsschreibung gleichsam den Angelpunkt, da diese die Phasen des kausalen Erklärens und Verstehens durchläuft.180 Aber der fiktionale Akt des Erzählens erfolgt erst mit der Darstellung des Vergangenen als Analoges:181 Die Erzählung modelliert den Zustand des „Sein wie …“. Die Hermeneutik hat in diesem Zusammenhang dann eine doppelte Aufgabe, nämlich „die Rekonstruktion der inneren Dynamik des Textes und die Wiederherstellung des Vermögens des Werkes, über sich selbst hinauszuweisen, in der Vorstellung einer Welt, die ich bewohnen könnte.“182 So kreuzt sich der Akt des historischen mit dem des fiktionalen Erzählens, weshalb Ricœur von einer „überkreuzten“ oder „gekreuzten“ Referenz von fiktionaler und historischer Erzählung spricht.183 Dieser letzte Akt des retracer vollendet die Spur als „datiertes Dokument“, das gleichsam die Refiguration der Vergangenheit darstellt. Und die Erfahrung des Lesers, wie sie sich in der Contextus-Funktion des Mŷthos widerspiegelt, ist es, die den Akt des retracer ermöglicht. Für die Annahme des Mŷthos als Spur hat dies folgende Konsequenzen: Nimmt man mit Ricœur an, dass die Spur „Vorbedingung für alle Schöpfungen der historischen Praxis“184 ist, so muss nach dem Moment des Mŷthos gefragt werden, das diesem Kriterium am nächsten kommt. Der Mŷthos war im zweiten Abschnitt der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich mehrerer Funktionen bestimmt worden: als sýstasis tôn pragmáton, als Mímesis prâxeos und auch als Kern. Dabei war deutlich gewor_____________ 177 178 179 180 181 182 183 184
Ricœur 1991: 298. Ricœur 1991: 297f. Ricœur 1991: 200. Ricœur 1991: 222-241. Im Ausgang von Hayden Whites Topologie und Fabelverbindung, vgl. Ricœur 1991: 241ff. Ricœur 1974: 33. Ricœur 1991: 294ff. Ricœur 1991: 186.
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den, dass er Vorbedingung – oder, mit Aristoteles gesprochen: „Seele“ (Poet. 1450a24) – der Tragödie und ihrer Wirkung ist.185 Ricœur weist nun der Spur zugleich den Charakter von Zeichen und Wirkung zu, indem er konstatiert, dass vergangenes menschliches Handeln an einem Gegenstand in der Gegenwart ables- und wahrnehmbar (Wirkung) ist, weil dieser in der Vergangenheit markiert wurde (Zeichen/Ursache). Für den Mŷthos wurde versucht zu zeigen, dass er sehr wohl ein Moment der Tradition birgt, also ein Markieren und Ablesen im und vermittels des Mŷthos gedacht werden kann. Doch muss das Begriffspaar von Zeichen und Wirkung, von Ursache und Wirkung für den Mŷthos als Spur noch um einen weiteren Aspekt ergänzt werden, der sich jedoch auch bei Ricœur angelegt findet: das Moment der Auswahl und Ordnung der Geschehnisse. Diese Studie untersucht die in der Einleitung ausgeführte These, dass durch den Akt der mýthopoíesis, also der Konfiguration eines Mŷthos unter Rückgriff auf (einen) bereits bekannten, überlieferten Mŷthos, auch immer Geschichte vermittelt wird, und dass im Akt der Lektüre eine Verortung im jeweiligen Feld der Wahrnehmung, des Habitus und Geschichte vorgenommen wird – wobei der Mŷthos Grundlage für Verstehen und Weitererzählen in einem ist. Vorrangig ist Mŷthos jedoch als eine Ordnung von Handlungen zu verstehen, die den Kriterien der Wirklichkeit und Möglichkeit genügen muss, was sich in Größe, Aufbau und Struktur niederschlägt, was zuvor eingehend erläutert worden war. Dies gilt auch für den Akt der mýthopoíesis, doch treten hier das Moment der Übernahme des Mŷthos als Grundlage für Neuschöpfungen (Textus) und der als zuhandenen Tradition von bereits Bekanntem (Circumtextus) und der Ordnung des Bekannten im Akt der Neuschöpfung zusammen. Wenn nun der Mŷthos als Spur gehandhabt wird, der zu folgen der Historiograph verpflichtet ist und an der sich (aristotelisch wie auch im Ausgang Ricœurs) ebenso der Autor fiktionaler Literatur orientieren kann, und die über dies hinaus im Akt der Refiguration dem Leser als Stütze des Verstehens dient (die also als Contextus gefasst werden kann), so gewinnt die Bedeutung des „Reichs des Als ob“ als Bezugspunkt für den „Akt des Lesens“ noch an Relevanz: Im „Reich des Als ob“ wird reales Handeln, dem mit einem habituellen Vorverständnis begegnet wird, in eine neue Ordnung gebracht. Diese ist immer nur eine mögliche Ordnung von dem, was lebensweltlich
_____________ 185
Der Begriff des Mŷthos war ferner über die Tragödie hinaus geöffnet worden. Zu den einzelnen Facetten des Mŷthos in der Poetik vgl. Abschnitt II der vorliegenden Arbeit. Sie werden dort in allen Paragraphen immer wieder hervorgehoben.
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III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung
geschehen ist.186 Die Auswahl dessen, was dargestellt wird und die Art der Darstellung richten sich somit nach subjektiven Kriterien. Das Subjekt jedoch ist im Rahmen dieser Untersuchungen als „in Geschichten verstrickt“ (Schapp) bestimmt worden, was auf allen drei Stufen des MímesisZirkels bedeutsam war. Das wiederum impliziert die Annahme, dass eine Erzählung, ihre Konfiguration wie auch ihre Refiguration, immer ein historisch bestimmter oder beeinflusster Akt ist. So, wie Goethes Iphigenie nicht Euripides’ Iphigenie ist, so ist „[i]n doppelter Weise […] in Goethes Werk der Euripideische Hintergrund ständig bemerkbar, sei es als Ausgangspunkt oder als Gegensatzfolie“.187 Goethes Iphigenie ist ein myth sub specie temporis nostri, der eine „andere Geistesatmosphäre“188 transportiert. Und auch die Orestie ist, wie bereits erwähnt wurde, mehr als nur eine Neuerzählung der drei Dramen Agamemnon, Choephoren und Eumeniden – was hier im Ausgang des Dramas besonders deutlich wird. Doch nehmen wir an, dass der Mŷthos in seiner Funktion als Circumtextus, als Voraussetzungen und Implikationen der mythopoíesis umfassend, (der er ja wäre durch die Annahme, dass er als Spur gehandhabt werden kann) Geschichte vermitteln kann, so wäre der Mŷthos zweifelsohne als continuous parallel between contemporaneity and antiquity zu fassen. Doch es bleibt die Frage, ob auch seine Funktion der Ordnung der Geschehnisse, die ihm für die Tragödie zuerkannt wird, auf die Geschichte übertragbar ist und der Mŷthos in der Tat „a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history“ (Eliot) ist. Allein das Verknüpfen von Geschehnissen und linearer Zeiterfahrung und das Ordnen dieser durch eine Erzählung würde diese Integration und Kontrolle noch nicht leisten. Es fehlte schlechterdings ein Moment der Zuordnung, ein Parameter, der verdeutlichte, dass ein Mŷthos wahrlich Abbild einer Zeit wäre, und in seiner Sedimentierung und Tradition zugleich vieler Zeiten, und dass diese sich – wie im Akt der sýstasis tôn pragmáton – in einem aufeinanderfolgenden Nacheinander auseinander ergäben. Bei Ricœurs Vorgehen wurde nun genau das evident, was am Ende der Ausführungen zum aristotelischen Mŷthos-Begriff notiert wurde: Der Mŷthos muss als Fabelkomposition – ich hatte ein Zusammentreten von Sujet und Fabel vorgeschlagen, in dem Sinne, dass das Wie und Warum der Erzählung/Handlung im Mŷthos zusammentreten – angesehen werden, um Zeit darstellen zu können. Will man Aristoteles präsent halten, muss _____________ 186
187 188
Zwar muss sie den Kriterien der Fabelkomposition gehorchen, doch kann eine Darstellung sehr wohl Aspekte zu zentralen Momenten der Handlung erklären, die bis dato nicht oder nur marginal wahrgenommen wurden. Brendel 1981: 53. Brendel 1981: 54.
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erneut das Zusammenspiel von Handlung, Lebenswelt, Charakteren und der Übergang von prâxis über die poíesis zur theoría betont werden. Außerdem müssen wir einen Handlungsbegriff annehmen, der immer eine intentionale Gerichtetheit impliziert. Er stünde damit dem nahe, was Aristoteles als ersten Satz der Nikomachischen Ethik bereits axiomatisch formuliert hat: πᾶσα τέχνη καὶ πᾶσα µέθοδος, ὁµοίως δὲ πρᾶξίς τε καὶ προαίρεσις, ἀγαθοῦ τινὸς ἐφίεσθαι δοκεῖ: διὸ καλῶς ἀπεφήναντο τἀγαθόν, οὗ πάντ᾽ ἐφίεται. Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluß, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.189
Der Mŷthos, der einer Tragödie zugrunde liegt, ist somit für Ricœur, kurz gesagt, die Mímesis der Handlung, und so zögert er nicht zu schreiben: Wenn man der Mímesis den Tätigkeitscharakter bewahrt, den ihr die poíesis verleiht, und wenn man außerdem den Faden der Definition der Mímesis durch den Mŷthos festhält, darf man nicht zögern, die Handlung – das Objekt der Mímesis prâxeos – als das Korrelat der mimetischen Tätigkeit zu betrachten, die dem Prinzip der Zusammensetzung der Handlungen (zum System) folgt.190
Nach Ricœur kann man somit die bei Aristoteles herausgearbeitete Relation von Mímesis prâxeos und Mŷthos wie folgt fassen: Aus der Engführung der beiden Termini lässt sich ein Begriff von prâxis ableiten, der als noematisches Korrelat praktischer Noesis zu fassen ist. Die Terminologie übernimmt Ricœur aus den Husserlschen Ideen I, wo die Strukturmomente des intentionalen Erlebnisses in Noema (Gegenstand/„Was“) und Noesis (Gegenstandskonstitution/„Wie“) unterschieden werden, also in den irreell- und den reell-intentionalen Teil eines Erlebnisses. Anders gesprochen könnte man auch zwischen dem Reell-Immanenten (den Noesen) und dem Reell-Transzendenten (dem Noema) unterscheiden, wobei das Noema über das Bewusstsein (besonders der äußeren Wahrnehmung) hinausverwiese. Zwar ist auch das Noema für Husserl reell, nur eben in einer anderen Setzung, nämlich neutral. Das heißt, das Noema im Erlebnis braucht die Positionalität der hyletischen Daten – der Sinnesempfindungen – nicht, um reell zu sein.191 So ist dann Handlung (prâxis) der Gegen_____________ 189 190 191
EN I, 1094a1–3. Ricœur 1988: 59f. Hua III, 235ff. An dieser Stelle ließe sich die Ricœursche Argumentation auch mit Saussure und den Begriffen des Signifikant (Mímesis) und Signifikat (prâxis) führen, greift er doch bei der Konstruktion des Mímesis-Zirkels auf Saussuresches Vokabular zurück. Doch in der Wahl dieser Begriffe sieht Ricœur eine zu starke Beschränkung auf die Linguistik, von der er sich gerade durch die Wahl eines texthermeneutischen Ansatzes so weit wie möglich distanzieren möchte. Ferner sind diese Überlegungen hinsichtlich des Gedankens der Referenz von Bedeutung, wie sich in den Überlegungen zur Mímesis III gezeigt hat.
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III. Das Zusammenspiel von Geschichte und Erzählung
stand der Darstellung (Mímesis), der durch die Fabelkompostion (Mŷthos) ausgedrückt wird. Für das Verhältnis von Mímesis und Mŷthos bedeutet dies: Die Mímesis wird als Noesis und der Mŷthos als Noema derselben gefasst.192 Inwiefern dies im Rückblick auf die bisher entworfenen Annäherungen an den Mŷthos bei Joyce und Aristoteles und vor allem die Frage nach der Tradition, der Vermittlung von Geschichte, der Transposition und den Funktionen und Ausrichtungen der Wirkung des Mŷthos zu denken ist, gilt es im abschließend zusammenzubringen. Dabei sollen Anleihen beim Ricœurschen Modell gemacht werden. Der Mímesis-Zirkel wird, wie deutlich wurde, als ein „gesunder“ Zirkel konstruiert und nicht als ein circulus vitiosus – als ‚kranker‘, in sich selbst zusammenfallender und sich somit erübrigender Zirkel. Er muss somit als eine „endlose Spirale“ gedacht werden, „bei der die Vermittlung zwar mehrmals durch den gleichen Punkt193 führt, jedoch jeweils in anderer Höhenlage“.194 Daher fallen die drei Stufen der Mímesis zwar nicht ineinander, könnten jedoch durch eine Vertikale verbunden werden. So ist der Ausgangspunkt nie zugleich Endpunkt oder nimmt diesen gar vorweg, doch bedingen sich Ausgangs- und Endpunkt gegenseitig. Diese Denkweise des Mímesis-Zirkels ermöglicht es, synchrone, aber auch diachrone Problembetrachtungen vermittels des Zirkels zu erfassen. Wie dies geschehen kann, soll nun abschließend entworfen werden.
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194
Ricœur 1988: 60. Der Begriff des Punktes scheint hier problematisch. Ricœur nutzt ihn auch im Französischen nicht weniger heikel. Eine konstruktive Lesart wäre insofern denkbar, als dass man sich die Definition des Feldes in der Physik ins Gedächtnis ruft, auf die ich später noch einmal rekurrieren möchte. In der Physik kann das Feld als eine Größe gefasst wurde, die in jedem Punkt im Raum definiert ist. Vom Punkt aus ließen sich somit Rückschlüsse auf die Verteilung des Feldes im Raum ziehen, vor allem jedoch in Relation zu anderen Punkten. Bildlich könnte man sich das, was Ricœur hier beschreibt, vielleicht wie ein Parkhaus vorstellen, dessen verschiedene Ebenen durch Serpentinen miteinander verbunden sind. Die Ausgänge eines solchen Gebäudes liegen zumeist übereinander, in „verschiedenen Höhenlagen“, verbunden sind sie in einer vertikalen Linie durch einen Fahrstuhlschacht. Eben eine so gestaltetes Modell wird am Ende dieser Untersuchung für die Funktionen und Wirkungsdispositionen des Mŷthos entworfen, wenn es darum geht das Zusammenwirken von Produktion und Rezeption des Mŷthos zu verbildlichen. Ricœur 1988: 115.
IV. Conclusio: Textus, Contextus und Circumtextus Am Anfang meiner Überlegungen stand die Auseinandersetzung mit der Frage, was die mythische Methode sei und wie diese unter Zuhilfenahme von Joyce, Aristoteles und Ricœur zu definieren sei. Ausgerechnet Paul Ricœur verweist in Zeit und Erzählung I und III auf den Ulysses als Werk1, das mit seinem Modell des Mímesis-Zirkels nicht vereinbar sei und zeige, welche „Fehler“ Autoren begehen könnten. Daher sei es dem Leser kaum möglich, dem Text zu folgen und den Mímesis-Zirkel zu einem geschlossenen Vorgang zu machen: Der Akt des Lesens hat angesichts des modernen Romans die Tendenz, zu einer Strategie der Enttäuschung zu werden, die von James Joyces Ulysses so gut illustriert wird. Diese Enttäuschung besteht darin, die Erwartung auf eine unmittelbar lesbare Konfiguration zu enttäuschen und stattdessen dem Leser die Last aufzubürden, das Werk zu konfigurieren. Die Voraussetzung, ohne die diese Strategie gegenstandslos wäre, ist die, daß der Leser eine Konfiguration erwartet und daß die Lektüre eine Suche nach Kohärenz ist.2
Diese Einschätzung hat mich weder überzeugt, noch schien sie mir zutreffend. Und doch ist sie weisend für den im Folgenden entwickelten Vorschlag zu einer Lösung des „Problems“ der auf dem Mŷthos basierenden Erzählung. Zwar hat James Joyce mit dem Ulysses alles andere als „leichte Kost“ vorgelegt. Doch ist es ein Roman, den er selber bis ins kleinste Detail geplant hat, wie im ersten Abschnitt der vorliegenden Untersuchung immer wieder deutlich wurde. Ferner erscheint mir der Ulysses als ein Werk, das seinen Leser nachdrücklich dazu einlädt, nachzufragen und nach Spuren zu suchen, die das Werk zu erschließen helfen, und zwar gerade weil zum Beispiel der Titel wohl Ulysses lautet, jedoch keine Penelope, kein Odysseus oder Telemach unter diesen Namen auftreten. In eben diesem Prozess des Überwindens der „Strategie der Enttäuschung“ und im daraus resultierenden spürbaren Unterschied zwischen Erst-, Zweit-, … Lektüre liegt meiner Ansicht nach der große Reiz dieses Romans begründet. Die offensichtlichste Spur, die Joyce gelegt hat und die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman zieht, ist die Anknüpfung an die Odyssee. Dieses Transformationsvorhaben im Ulysses stand führ Joyce unter dem Motto myth sub specie temporis nostri, was in den Augen _____________ 1 2
Ricœur 1988: 122 und Ricœur 1991: 274. Ricœur 1991: 274.
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IV. Conclusio: Textus, Contextus und Circumtextus
von T. S. Eliot zu einer mythical method führte. Wie diese Methode im Roman zum Tragen kommt, ist eingehend dargelegt worden. Es wurde darauf verwiesen, dass erstens eine direkte Aneignung des Stoffes und der Motive der Odyssee durch Joyce erfolgt, welche die Auseinandersetzung mit dem Mŷthos deutlich macht; dass zweitens diese Aneignungen häufig dazu genutzt werden, eine Spur zu legen (im Sinne dessen, was uns im dritten Teil dieser Abhandlung bei Ricœur als trace wiederbegegnete), also dem Leser im Akt der Konfiguration zur Seite zu stehen; und dass drittens Joyce die Aneignung des groundplan unter dem Kriterium handhabt, einen myth sub specie temporis nostri zu schreiben, womit er zum Zeugen seiner Zeit wird – und Geschichte vermittelt. Schuldig geblieben bin ich bis hierhin die Einlösung des Versprechens, zu erklären, wie diese drei Momente im Rahmen der Konzeption eines Modells von Textus, Contextus und Circumtextus eingeschrieben werden sollen. Dies soll im Folgenden geschehen. Nun ist, wie gezeigt werden konnte, der Mŷthos zentrales Moment der Überlegungen Paul Ricœurs. Jedoch in dem Sinne, wie dieser ihn aus seiner Lesart der aristotelischen Poetik gewinnt: Als mise en intrigue, also als sýstasis tôn pragmáton, als Ordnung von Handlungen und zugleich als mímesis práxeos, ohne dass eine Differenzierung im Detail erfolgte. Der Mŷthos, der einer Tragödie zugrunde liegt, ist somit für Ricœur, kurz gesagt, die Mímesis der Handlung, und so zögert er nicht zu schreiben: Wenn man der Mímesis den Tätigkeitscharakter bewahrt, den ihr die poíesis verleiht, und wenn man außerdem den Faden der Definition der Mímesis durch den Mŷthos festhält, darf man nicht zögern, die Handlung – das Objekt der mímesis práxeos – als das Korrelat der mimetischen Tätigkeit zu betrachten, die dem Prinzip der Zusammensetzung der Handlungen (zum System) folgt.3
Nach Ricœur kann man somit die bei Aristoteles herausgearbeitete Relation von mímesis práxeos und Mŷthos wie folgt fassen: Aus der Engführung der beiden Termini lässt sich ein Begriff von prâxis ableiten, was bereits bei Aristoteles so ist, wie gezeigt wurde. Dieser ist als noematisches Korrelat praktischer Noesis zu verstehen.4 So ist dann Handlung (prâxis) der _____________ 3 4
Ricœur 1988: 59f. Die Terminologie übernimmt Ricœur aus den Husserlschen Ideen I, wo die Strukturmomente des intentionalen Erlebnisses in Noema (Gegenstand/„Was“) und Noesis (Gegenstandskonstitution/„Wie“) unterschieden werden, also in den irreell- und den reellintentionalen Teil eines Erlebnisses. Anders gesprochen könnte man auch zwischen dem Reell-Immanenten (den Noesen) und dem Reell-Transzendenten (dem Noema) unterscheiden, wobei das Noema über das Bewusstsein (besonders der äußeren Wahrnehmung) hinausverwiese. Zwar ist auch das Noema für Husserl reell, nur eben in einer anderen Setzung, nämlich neutral. Das heißt, das Noema im Erlebnis braucht die Positionalität der hyletischen Daten – der Sinnesempfindungen – nicht, um reell zu sein. Hua III, 235ff. An dieser Stelle ließe sich die Ricœur’sche Argumentation auch mit Saussure und den Begriffen des Signifikanten (Mímesis) und Signifikaten (prâxis) führen, greift er doch bei der Konstruktion des Mímesis-Zirkels auf Saussuresches Vokabular zurück.
IV. Conclusio: Textus, Contextus und Circumtextus
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Gegenstand der Darstellung (Mímesis), der durch die Fabelkomposition (Mŷthos) ausgedrückt wird. Für das Verhältnis von Mímesis und Mŷthos bedeutet dies: Die Mímesis wird als Noesis und der Mŷthos als Noema derselben bestimmt.5 Dem wäre unter Berücksichtigung des im Ausgang der Aristoteles-Analyse vorgestellten Modells hinzuzufügen, dass die theoría die Konkretisation6 dieser beiden Pole wäre, vollzogen durch den Akt der poíesis. Und diese Konkretisation schriebe sich in dem nieder, was als Funktion des Circumtextus bestimmt werden soll und was die Grundlage von historischem Verständnis vermittels des Mŷthos wäre, wie es bereits für Joyce diagnostiziert werden konnte. Ricœur berücksichtigt dabei nicht die Bedeutung des Mŷthos, wie Joyce ihn versteht, der den Mŷthos zur Grundlage seiner écriture machte, wie konstatiert worden ist. In diesem Verständnis liegt der Mŷthos jedoch schon bei Aristoteles vor, wie es im zweiten Hauptteil der Arbeit mit seinen Interpretationen und partiellen Neudeutungen der Poetik dargelegt wurde. Denn hier konnte gezeigt werden, dass vor dem Hintergrund der Tradition, der Neuinterpretation und des „Materials“ auch bei Aristoteles der Mŷthos als traditional tale gelesen werden kann. Hieraus ergibt sich nun die Frage, wie diese drei Abschnitte voneinander profitieren können, kurzum, wie sich auf der Grundlage dieser drei Mŷthos-Konzeptionen ein Gewinn für die Lesart des jeweiligen Textes und darüber hinaus für die Bedeutung und die Funktion des Mŷthos gewinnen lässt. In der Einleitung der Untersuchung wurde darauf verwiesen, dass Mŷthos nicht im Sinne einer eigentlichen Intertextualität7 verstanden werden soll –, sondern als Bedingung derselben. Intertextualität bezeichnet zunächst die Beziehung zwischen Texten. Dabei ist die Einzeltextreferenz (Integration eines Textes in einen anderen, beispielsweise durch Zitat, Anspielung, als Parodie, Pastiche, Travestie etc.8) zu unterscheiden von _____________ 5 6 7 8
Ricœur 1988: 60. Im Sinne Roman Ingardens, der den Akt der Konkretisation am Kunstwerk verdeutlicht: Ingarden 1969: 20 ff. Das RL bestimmt Intertextualität als jeglichen Bezug „von Texten auf Texte“. Gerard Genette führt zur Erfassung dessen, „was [einen Text] in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“ (Genette 1983: 9), den Begriff der Transtextualität ein, mit dem all das erfasst wird, was Julia Kristeva und andere als weiter oder enger gefassten Begriff von Intertextualität ausführen. Die Intertextualität ist sowohl in Nomenklatur wie auch in Handhabung mannigfaltig, wie Julia Kristevas weiter Intertextualitätsbegriff zeigt. Dies kann jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Zu den Abgrenzungen aus der Sicht Genettes vgl. Genette 1983: 9–18 u. 23f. Zu einer Überblicksdarstellung siehe zum Beispiel Broich/Pfister 1985, Stempel 1983 und Stierle 1984. Unter dem Oberbegriff Transtextualität ordnet Genette fünf Typen ein: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität. Diese erfahren noch Binnendifferenzierungen. Wie bereits im Hinblick auf Ricœurs Überlegungen angemerkt, ist das Genette’sche Modell hier Kristevas Ansatz gegenüber zu bevorzugen, da semiotischen Überlegungen nicht das Hauptaugenmerk gewidmet wird.
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IV. Conclusio: Textus, Contextus und Circumtextus
der Systemreferenz (Beziehung zwischen einem Text und allgemeinen Textsystemen, z. B. literarischen Gattungen). Durch die Annäherungen an den Begriff des Mŷthos sollte gezeigt werden, inwiefern Mŷthos und dessen Wirkungsdispositionen als Bedingung oder Voraussetzung einer intertextuellen Analyse gesehen werden müssen, die eventuell auch über die Analyse mythopoetischer Texte hinaus als gewinnbringend gesehen werden kann. Was also sind die Eigenschaften, die Funktionen und Wirkungsdispositionen des Mŷthos, die gegeben sein müssen, damit von einem intertextuellen Verhältnis überhaupt gesprochen werden kann? Dies soll nun zum Ende dieser Untersuchung herausgestellt und ins Verhältnis zu den vorausgegangen Betrachtungen der Mŷthos-Begriffe bei Joyce, Aristoteles und Ricœur gesetzt werden. Da sich die Untersuchung dem Mŷthos als literaturwissenschaftlich operationalem Begriff widmet, mussten Besonderheiten der Akte der Produktion und Rezeption berücksichtigt werden, die charakteristisch für die Literarisierung des Mŷthos sind. Dies wurde in der Untersuchung immer wieder erkennbar. So machte die Analyse von James Joyces Ulysses deutlich, dass infolge der oft widersprüchlichen Handhabung des Mŷthos eine eindeutige Zuordnung zur Odyssee nur schwer gelingt und man anscheinend Genette beipflichten muss, der konstatiert, es handele sich um « une relation suggérée (ou, par le titre, imposée) […] qui fait d’Ulysse le type même de l’hypertexte autoproclamé. »9 Doch zugleich konnte hier gezeigt werden, inwiefern der Mŷthos in seiner Verwendung durch Joyce dem Text eine weitere Sinnebene zukommen lässt und zum Vehikel der Darstellung und Vermittlung wird. Deutlich wurde durch eine kritische Lesart der Aristotelischen Poetik auch, dass der Mŷthos hier ebenso wenig in einem eindeutigen Sinne zu fassen ist, sondern dass man von einem mindestens zweifachen Begriff des Mŷthos ausgehen muss, dessen Bedeutung weit über die verbreitete Minimaldefinition der „Zusammensetzung der Geschehnisse“ hinausweist. Und schließlich wurde in der Lektüre von Paul Ricœurs Zeit und Erzählung der Mŷthos als Voraussetzung und zugleich Träger der Spur (trace) entwickelt, also als kontinuierliche Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart und gar Zukunft (im Sinne eines Erwartungshorizontes). Festzuhalten ist, dass im Unterschied zu einer „nicht-mythischen“ Fiktion das mythopoetische Werk in einem weiter verzweigten Gefüge von thematisch konvergierenden literarischen Werken zu verorten ist. Für die folgenden Überlegungen ist es wichtig, dieses Gefüge nicht als entgrenzte und dezentrierte Totalität alles bisher Geschriebenen zu fassen, _____________ 9
Genette 1982: 436. Ähnliche Probleme sehen ferner Esch 1977: 219 und Willi Erzgräber, der von „ästhetischen, rein erzählerischen“ Funktionen der Verweise auf die Homerische Odyssee schreibt (Erzgräber 1985: 296).
IV. Conclusio: Textus, Contextus und Circumtextus
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sondern als thematisch begrenzte und zentrierte, vor allem aber als ästhetisch und somit kulturhistorisch hypostasierbare Totalität. Aufgrund der Strukturen und Eigenschaften des Mŷthos wohnt ihm und seinen Figurationen immer eine Appell-Struktut (Iser) inne. Intertextuell gesprochen stellt der Mŷthos einen Prätext/Hypotext (im Sinne einer vorgegebenen Literarisierung) dar, der als Korpus von aufeinander bezogenen poetischen Texten verstanden werden muss und „von Textkollektiva gebildet [wird] oder genauer von den hinter ihnen stehenden und sie strukturierenden textbildenden Systemen“.10 Definitorisch für jede literarische Neugestaltung, für die Schaffung eines Präsenztextes/Hypertextes vor der Folie eines mythologischen Themas, ist somit die Repräsentation im Verhältnis zum Prätext/Hypotext und zu dem bisher vom Mŷthos konstituierten System. Die Repräsentation verdankt sich dem Vorher des Textes und dem mythopoetischen Gefüge, kurzum: seiner Historizität. Dabei dürfen die einzelnen, den Text als präsent charakterisierenden Momente (Anspielungen, Parodien, Zitate, Travestien, Adaptationen etc.) nicht mit dem Werk selber gleichgesetzt werden. Sie sollen lediglich als definitorisch und (Sinn) konstruierend verstanden werden. Somit wird der Mŷthos als Prätext zugleich zum Mŷthos als plot11 für Folge-Texte. Diese Überlegungen lassen sich in zwei kurzen Thesen zusammenfassen: (1) Texte, die sich der Mŷthoi bedienen oder als MŷthosTransformationen zu bestimmen sind, eröffnen durch ihren Rückverweis auf Mŷthoi (i. S. v. Geschichten) eine weitere Bedeutungs- und Verständnisebene. Das geschieht, indem sie zum einen vermittels der bewussten Konstruktion eines Verhältnisses zwischen zwei Texten zu einer erweiterten, sinnstiftenden Lesart verhelfen. Dabei muss sinnstiftend hier aufgrund des doppelten Mŷthos-Begriffs auch als plotstiftend und somit als kohärenz- und konsonanzstiftend verstanden werden. (2) Zum anderen wird durch ihren Rückverweis, der in der Rezeption getragen wird von etwas wie einem „kulturellen Gedächtnis“, eine weitere, historiographische Dimension eröffnet. Diese erlaubt wiederum, von einer Vermittlung von Geschichte zu sprechen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Mŷthoi Lebenswirklichkeit abbilden und der Modus ihrer Darstellung sind, so müssen wir in einem Umkehrschluss unterstellen, dass der jeweilige auf dem Mŷthos basierende Präsenztext in seiner Variation des mythischen Prätextes Schlüsse auf Lebenswirklichkeiten zulässt – und zwar diachron aufgrund seiner Verortung im Gefüge der auf den jeweiligen Mŷthos bezogenen Werke. Der Mensch erscheint hier, als im Rahmen des _____________ 10 11
Pfister 1985: 53. Als Randnotiz ist anzumerken, dass bei dieser Lesart Mŷthos und lógos zu vereinbarende Pole sind, eben weil vermittels des Mŷthos keine Entfernung vom lógos geleistet wird, sondern eine Beschreibung desselben.
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„Horizonts“ (Gadamer) „in Geschichten verstricktes“ (Schapp) Subjekt, dessen Zeugnis und Abbildung von Lebenswelt zur Repräsentation der Chronotopen des jeweiligen Horizonts wird. *** Eine Entwicklung der Funktionen des Mŷthos soll, der These ihrer Vorgängigkeit zu intertextuellen/transtextuellen Analysen folgend, im Bezug zu den Genetteschen Typen geschehen. Im Ausgang des bisher Konstatierten und zum weiteren Vorgehen schlage ich vor, die Wirkung des Mŷthos als trifunktional zu bestimmen. Die Funktionen sind somit – im Sinne Rüdiger Zymners und Harald Frickes – als Wirkungsdispositionen zu fassen. Harald Fricke notiert hierzu: Der Begriff ‚Funktion‘ ist nun [...] kein einfacher Beobachtungsbegriff, sondern ein Dispositionsbegriff. Daß eine sprachliche Besonderheit in einem bestimmten Text eine bestimmte Funktion hat, läßt sich nicht direkt beobachten, sondern nur indirekt ermitteln durch den Nachweis nämlich, daß Textmerkmale dieses Typs generell geeignet sind, in vergleichbaren Kontexten diese bestimmte Wirkung zu erzielen.12
Diese Funktionen wären also als transzendentale Begründung von Intertextualität/Transtextualität zu begreifen, die nicht nur beschreiben, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit von textueller Interaktion und Referenzen im Licht der Historie leisten. Ich nenne diese Funktionen Textus, Contextus und Circumtextus. Diese Termini sind meines Wissens bisher in diesem Zusammenhang nicht gebräuchlich, was ein Movens für ihre Auswahl ist. Hinzu tritt, dass sie alle dem lateinischen Begriffsfeld entliehen sind und ein „Gewebe“ bezeichnen, was sich für die Struktur des Mŷthos durchaus als sinnvoll erweist. Schließlich ist das semantische und semiologische Feld des Textes hiermit impliziert, was sowohl der (text-)hermeneutischen Methode der vorliegenden Untersuchung als auch dem Untersuchungsgegenstand Rechnung trägt. Es ist anzumerken, dass sich mit den hier aufgezeigten drei Wirkungsdispositionen des Mŷthos sowohl Merkmale von Mŷthoi in Texten wie auch die von Claude Lévi-Strauss und Hans Blumenberg entworfenen Ansätze verorten und klassifizieren lassen. Denn sowohl eine Diachronizität kann so verdeutlicht werden, wie auch die Figurationen und Variatio_____________ 12
Fricke 1981: 90 (Hervorhebungen im Text) Im Ausgang dessen kann auch die Verwendung der Disposition im Gefüge der Funktion bei Rüdiger Zymner gesehen werden: „Es handelt sich bei der Funktion der manieristischen Schreibweise um eine Wirkungsdisposition, die durch poetische Abweichungen mit interner oder auch externer Funktion im Sinne Frickes hergestellt wird.“ (Zymner 1995: 62, Hervorhebungen im Text)
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nen des Mŷthos nachvollziehbar und in ihrem jeweiligen Gefüge unterscheidbar sind. Unter Textus verstehe ich im lateinischen Sinne des Wortes den „Zusammenhang der Rede“. In dieser Funktion des Mŷthos kommen im Verständnis Gérard Genettes folgende der von ihm entwickelte Typen der Transtextualität zusammen: Intertextualität, Paratextualität und Metatextualität, zudem der Typus der Hypertextualität, wobei der Textus der Hypotext wäre. Textus stellt ausschließlich die materiellen und inhaltlichen Voraussetzungen der Mŷthos-Bearbeitung heraus. Der Textus kann eine komplette Handlung umfassen, doch kommt vorrangig das zum Tragen, was das Wesen der Geschichte ausmacht und im Sinne eines „dynamischen“ und „verknüpften“ Motivs begriffen werden soll: Dynamisch bedeutet, dass es die Situation verändert; verknüpft ist es insofern, als die gesamte Handlung von diesem Motiv bestimmt wird.13 Damit wäre der Textus in seiner Konsequenz wie der Čechov’sche Nagel zu denken. Der Textus kann demnach als „kompositorische Motivierung“14 gefasst werden. Doch gilt dies zunächst für alle Prätexte. Den Textus kennzeichnet zudem, dass sich in ihm zentrale Motive aufzeigen lassen, die in einem umfassenderen Gefüge zu denken sind. Es folgen weitere Texte aus ihm, und das, was ihn ausmacht, war Bedingung für vorangegangene Texte. Der Textus baut dabei auf dem Kern auf und der Kern bestimmt ihn. Dieser kann so vermittelt werden, was das Problem der Bestimmung eines Ursprungs des Mŷthos fruchtbar aufgreift. In ihm schreibt sich ein, was Gadamer als „unendliche[n] Prozeß“ der Wirkungsgeschichte beschreibt. Wegen des einerseits dynamischen und verknüpfenden Charakters des Mŷthos in seiner Wirkung als Textus auf der einen Seite und seiner zentralen Aussagekraft und somit hohen Dichte und Konzentriertheit auf der anderen Seite kann der Textus als im Kern unveränderlich gelesen werden – und dabei zugleich Grundlage für Bearbeitungen sein, was ihn wiederum dialektisch nutzbar macht. Er fungiert dabei jedoch sehr wohl als Bedingung für den Verlauf der Handlung, wie sie sich nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit ergibt, sodass hier poetologische und materielle Bedingung des Mŷthos ineinandergreifen. Als Contextus fasse ich die Verflechtung eines Vorverständnisses des Lesers mit dem Text, wie es im Akt der Lektüre zum Tragen kommt und zu einem erweiterten Verständnis der Erzählung führt. Contextus ist als sinnstiftende Ebene des Textus zu denken, durch den der Aspekt der Vermittlung und Rezeption beschrieben wird. Dem Mŷthos wird hier die _____________ 13 14
Vgl. Martinez/Scheffel 72007: 108ff. Siehe hierzu bereits die Anmerkungen zum Mŷthos als Kern bei Aristoteles in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. Tomaševskij 1985: 226–228.
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Funktion der Bereicherung im Hinblick auf das Verstehen des Textes zuteil. Er wird Bedingung für Hypertextualität, Architextualität, Intertextualität, ja sogar Metatextualität, wenn es sich um einen geeigneten Leser handelt. Bedingung des Contextus ist ein Vorwissen des Lesers. Zum Beispiel in Form von einem kulturellen Gedächtnis, „also [jenem] Sammelbegriff für den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten [...]“15, „in deren ‚Pflege‘ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt. Ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“16 Der Contextus wiederum ist Bedingung für das, was es dem Leser ermöglicht, den Text zu erschließen. Und zwar im Sinne eines Verständnisses, das man texthermeneutisch mit dem Moment der Dialogizität umschreiben kann, das in der „Horizontverschmelzung“ (Gadamer) mündet und Interferenzen (Lachmann) und Interdependenzen zu einem kohärenten Ganzen verfugt. Also als jene Erwartung, die Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode beschreibt, die eng mit dem Vorurteil des Lesers verknüpft und Bedingung für dessen Verstehen ist.17 Von besonderer Bedeutung ist der Contextus dann, wenn der Autor lediglich Anspielungen liefert und die Konfiguration direkt auf den Leser ausrichtet. Der Contextus nimmt somit sowohl hinsichtlich dessen, was mit Ricœur als Refiguration gefasst wurde, zugleich aber bezüglich des „Akts des Lesens“ (Iser) eine zentrale Rolle ein. Denn auch eine Mŷthos-Bearbeitung kann ohne Zweifel Kontrafaktur des Bekannten sein, die dann eben im Contextus eingeholt werden kann – oder auch nicht. Doch solange diese als spezifische Abweichung bemerkt wird – und dies geschieht im Bezug auf jenes Moment des Mŷthos, das im Ausgang von Aristoteles als Kern gefasst wurde –, verfehlt der Mŷthos seine Wirkung nicht. Die Kontrafaktur läd vielmehr dazu ein, die eingangs erwähnte „Strategie der Enttäuschung“ zu verkehren. Und ganz so, wie wir es zuvor für die Krise konstatiert hatten, eine Neukonstituierung anzustreben. Die Appellstruktur (im Sinne Isers) des Mŷthos bleibt somit erhalten, sofern eine – und sei sie noch so zart gezeichnet – Markierung im Text erhalten ist, die es vermag, den Leser zu stimulieren. Eine Kontrafaktur mag also potenziell als verstärkendes Moment der Wirkung erachtet werden, da sie den Leser zu jener Neuordnung in seinem Verständnis führen kann, die im Rekurs auf Šklovskij als Neubetrachtung gefasst wurde und die bereits bei Aristoteles als eine der Ausformungen der anagnórisis im Sinne des Fehlschlusses des Zuschauers beschrieben _____________ 15 16 17
J. Assmann 1988: 9. J. Assmann 1988: 15. Gadamer 61990: 272 ff.
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Abb. 3
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wird.18 Eben durch die Neubetrachtung kann dann umso mehr eine Lesart des Mythopoems hervortreten, die die Verortung des Textes in seiner jeweiligen Zeit verdeutlicht: den Circumtextus und den myth sub specie temporis nostri, sodass Wirkung der kontinuierlichen Parallele aufscheint. Als Circumtextus – nach dem lateinischen „circumtextus“: „rings umsäumt“, aber auch des Verbs „circumire“, somit das Moment des Einschließens und Umgebens mitreflektierend – soll jene Funktion des Mŷthos verstanden werden, welche die Voraussetzungen und Implikationen der mythopoíesis umfasst. Hier finden sich die strukturellen Momente des Mŷthos ebenso versammelt wie die inhaltlichen. Die Funktionen von Textus und Contextus treten insofern zusammen, als dass der Circumtextus gleichsam Bedingung (produktionsästhetisch) für die Funktion des Textus wie auch des Contextus ist. Zugleich ist Circumtextus, rezeptionsästhetisch betrachtet, conditio für die Verfügbarkeit von Textus in seiner jeweiligen Ausgestaltung und für den Sinn von Contextus, da dieser sich aus den Ausgestaltungen des Textus heraus im Lichte des Circumtextus immer wieder aktualisiert. Daher kann der Circumtextus als Reservoir der Horizonte gelten, jener „Gesichtskreis[e], [die] all das umfa[ssen] und umschließ[en], was von einem Punkte aus sichtbar ist“19. Aus dem Circumtextus, der mit Bachtin als aus „Chronotopen“ zusammengesetzte Entität verstanden werden kann, speist sich die Perspektive des Autors – und, vermittelt, auch die des Rezipienten. Die Funktion des Circumtextus verdeutlicht so, dass sich in der Person des „Mythopoeten“ Interpret und Erzähler begegnen. Hierbei können durchaus Gattungs- und Mŷthos-übergreifende Verknüpfungen entstehen.20 Wegen des Zusammentreffens von Produktion _____________ 18
19 20
Poetik 1455a16ff. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Thesen zur Mythoskorrektur von Emmerich, Seidensticker und Vöhler war bereits darauf verwiesen worden, dass der Fehler – der einer Korrektur immer vorausgeht – als Reaktion zu fassen wäre. So, wie Aristoteles es bereits in der Poetik vorschlägt, können wir aus der Überraschung lernen. Ganz wie beim Fechten, wo ein Fehl ist ein Schlag ist, der zu Beginn eines Duells bereitwillig hingenommen wird, um davon ausgehend den Kontrahenten besser einschätzen zu können und sich so neu zu positionieren. Gadamer 61990: 286. Dies ist auch hinsichtlich der Überlegungen zum Epos deutlich geworden. Dass die Erzählform dabei variieren kann (mimetisch, diegetisch oder eine Mischform beider), ist dabei kein Hinderungsgrund. Auch die Ballade, als Erzählgedicht, wäre eine Möglichkeit der Weitergabe einer Geschichte. Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass ein Erzähltext zu einem Sachtext wird, doch bedeutet dies nicht, dass ein nicht-erzählender Text (sei es ein Gesetzestext oder ein Sachtext) nicht in seiner Weitergabe Eingang in den Raum der Erzähltexte finden könnte. Beispiele hierfür finden sich in Form der Apokryphen, historischen Romanen, aber auch der Übernahme der res gestae in römische Familienhistorien. Hier wird jedoch mehr denn an anderer Stelle die Personalunion des Autors als Interpret und Erzähler deutlich. Für die Odyssse ist dies zuletzt im Fall von Zachary Masons „Apokryphensammlung“ The Lost Books of The Odyssee: A Novel gelungen. Mason nutzt hier
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und Rezeption im Circumtextus entsteht die mythopoíesis immer aus der jeweiligen Perspektive des Autors, die auch eine historische Disposition impliziert.21 Ein Mŷthos wird, um es in Joyces Worten zu fassen, immer „sub specie temporis nostri“ erzählt. Das hier zugrundeliegende Autorverständnis kann durchaus als impliziter Autor verstanden werden, was den Aspekt des intentionalen Leseakts fortführt. Denn der Mŷthos wird immer auch sub specie temporis nostri rezipiert, eben im jeweiligen Contextus, der zeitenumspannende Lektüre ist. In seinem Zusammenspiel mit den beiden anderen Funktionen erlaubt der Circumtextus es so, die Frage nach Veränderungen und dem Nutzen „mythischen Schreibens“ zu stellen. Gerade hier tritt somit auch jenes Moment der „mythischen Methode“ zum Vorschein, das Eliot wohl meint, wenn er von einer „continuous parallel between contemporaneity and antiquity“ schreibt und das der Circumtextus birgt. Mit diesen Funktionen kann zum einen ein Zugang zur Analyse von Texten eröffnet werden, der eine Lesbarkeit ermöglicht, die sonst zum Beispiel bei Texten wie dem Ulysses nicht gegeben wäre. Zum anderen sind diese Funktionen in allen drei Ansätzen der Annäherung an den Mŷthos zu finden, sodass über die Funktionen des Mŷthos eine Annäherung an drei unterschiedliche, in gewisser Weise gar kontradiktorische Begriffe von Mŷthos geleistet werden kann. Mithilfe der Funktionen können so letztlich die verschiedenen Mŷthos-Begriffe zusammengeführt werden. Dies soll noch einmal im Ausgang der zentralen Funktion, der des Circumtextus, verdeutlicht werden, da sie die Voraussetzung für jede Art von Transposition und Verstehen ist. Für die mythopoíesis konnte in der Aristoteles-Analyse der vorliegenden Untersuchung und im Anschluss an die Analyse von Ricoeurs Mímesis II festgehalten werden, dass sie sich im Akt der sýstasis tôn pragmáton auf etwas zuvor Gegebenes bezieht, worüber ein Bezug zu den einzelnen Facetten des Mŷthos geschaffen wurde. Sie muss somit als Spezialfall der Fabelkomposition nach Ricœur’schem Verständnis gehandhabt werden. Eine aristotelische Lesart des Mŷthos-Begriffs vermag so das Problem der „mangelhaften Konfiguration“ aufzulösen, zumindest im Hinblick auf Mythopoemata. Das heißt für den Ulysses, dass die Verwendung des Mŷthos, der hier als ein Codes fungiert, nicht als eine „Strategie der Enttäuschung“, sondern als eine „Strategie der Erschließung“ festzuhalten wäre (Contextus). Ferner kann in der Funktion Circum_____________ 21
Leer- und Unbestimmtheitsstellen innerhalb des Homerischen Epos, um in kurzen Episoden das Personal der Odyssee weitere Abenteuer erleben zu lassen. Ein Beispiel für einen Circumtextus im doppelten Sinne abseits des „mythischen Schreibens“ wären Scholien. Sie umgeben den Text zum einen kommentierend und stellen zum anderen, hermeneutisch betrachtet, einen Untersuchungsgegenstand für den Wandel innerhalb der Lesart von Texten dar.
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textus vor dem Hintergrund der Analyse des Ulysses das Moment der Historizität verortet werden: Der Mŷthos wird sub specie temporis nostri erzählt, also immer im Lichte dessen, was zur jeweiligen Zeit einen Zugang zum Gegenstand der Darstellung opportun erscheinen lässt und was auf der Verständnis-/Rezeptionsseite als Habitus gefasst worden ist. Dieser Aspekt wurde auch hinsichtlich der Spur, wie Ricœur sie entwickelt, erneut hervorgehoben: Wenn eine Auswahl aus Handlungen und das Konfigurieren im Akt der sýstasis tôn pragmáton immer im Licht semantischen, zeitlichen und symbolischen Vorwissens geschehen, so spiegeln diese Handlungen auch immer ihre Bedeutung in ihrer jeweiligen Zeit wider. Es wird also dem Leser ein Bild eben der Kriterien der Auswahl zu der damaligen Zeit vermittelt. Mŷthos vermittelt also Vergangenheit, und der Vergleich von vergangenen Darstellungen erlaubt es gar, Veränderungen aufzuzeigen. Den Entwicklungen des Mŷthos zu folgen und seine Struktur zu lesen ist damit zugleich ein Akt der Geschichtsvermittlung, und zwar aufgrund seiner Struktur des Kerns, wie sie bei Aristoteles aufgezeigt wurde. Eine Struktur, die als eine kontinuierliche und Sinn gebende verstanden werden muss, in deren Variationen der Wiederaufnahme sich Geschichte verändert – und die im Textus eingeschrieben wird. Im Rahmen der Überlegungen zum Mŷthos im Ulysses von James Joyce war dies anhand der Sirenen-Episode deutlich gemacht worden: Von den Sirenen wissen wir – wie ausgeführt – mit Sicherheit nur, dass sie ein akustisches Phänomen sind. Dies macht ihr Wesen und auch den Kern aller Mŷthoi und Mythopoemata über sie aus (Textus). Der Mŷthos als Contextus lenkt dabei unsere Betrachtungen, unseren „Akt des Lesens“ (Iser) und kann uns bei der Lektüre leiten: wir müssen dem Gesang der Sirenen lauschen, ihren Verführungen widerstehen, Akustisches tritt in den Vordergrund. Selbst wenn die Sirenen schweigen, wie in Rilkes „Die Insel der Sirenen“ (1907) oder Kafkas Schweigen der Sirenen, so ist dies weniger im Sinne einer Zerstörung des Mŷthos zu sehen, als im Sinne der Adorno’schen negativen Dialektik. Ein „Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit“22 bei der der Mŷthos eben nicht die Sache, das Objekt ist, sondern eben durch seine überzeitliche Präsenz und die in ihm gebundene Tradition den Leser zur Neubetrachtung (Šklovskij) zwingt. Er fordert ihn auf zum Dialog. Denn: auch, wenn die Sirenen schweigen, so verweisen sie also dennoch auf das, was mit ihrem ‚singenden’ Textus verbunden ist; ja, die Kontrafaktur, die zur Neuordnung, zur erneuten Konfiguration zwingt, mag damit sogar als Zugewinn verstanden werden. Denn der Rezeptionsakt geht mit einem Wundern einher: Wieso schweigen ausgerechnet Sirenen? Warum verkehrt _____________ 22
Adorno 22007: 15f.
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Kafka verkehrt das zentrale Merkmal des Gesangs, wenn er in der 1917 entstandenen und im Nachlass überlieferten Erzählung Odysseus lediglich zum Zuschauer macht, indem dieser sich selbst die Ohren mit Wachs verschließt? Was für ein Grund ist denn „der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte“ und „sie allen Gesang vergessen ließ“? Die Sirenen, das akustische Phänomen, das uns bis in unsere heutige Sprache als solches erhalten geblieben ist23, als optisches Phänomen, das Odysseus deuten muss – und natürlich die Mimik und Gestik als Ausdruck ihres Gesanges interpretiert (selber im Contextus verankert, den er von Circe erfahren hat). Und was sind das für Sirenen, die „nicht mehr verführen [wollten], nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus [...] so lange als möglich erhaschen“ 24 wollten? Sind es die Sirenen des Circumtextus der Moderne, wie bei Joyce, wo sich ein wenig schillernder Charakter verschlagen und romantisch doppeldeutig gibt? Ist Kafka Kind seiner Zeit, wenn er den mächtigen Sirenen den Buchhältertyp Odysseus entkommen lässt? Oder findet sich auch hier ein Vorbote Adornos und Horkheimers oder Blanchos: Rationalität und Subjektivität im Angesicht der Kunst, ein Fortschreiben der Ästhetik mit anderen Mitteln? Oder sind es wirklich „nur“ Frauen, die verführen wollen und ein naiver Held, der sich mit „kindischen Mitteln“ gegen das Irrationale zu stemmen versucht? *** Wenn Literatur, die auf einen Mŷthos zurückgreift, Geschichte, Traditionen und Stimmungen25 beschreiben und so vermitteln kann, wie in der vorliegenden Untersuchung deutlich werden konnte, und wenn ferner der Mŷthos in seiner Verfasstheit und Funktionalität sogar Ursprung zur Analyse von (mythopoetischen) Texten ist, so ergibt sich die Frage, wie dies weiter nutzbar gemacht werden kann und welche neuen Annahmen für den Mŷthos, aber auch für die Geschichtsschreibung hieraus gewonnen werden können. Dies soll nun zum Abschluss thesenhaft formuliert werden. Vor allem anhand der Analysen der aristotelischen Poetik war bisher offenbar geworden, dass der Mŷthos als dynamischer und diskursiver Begriff gefasst werden muss. Und ausgehend von Ricoeurs Mímesis-Zirkel war gezeigt worden, dass die Vermittlung von Geschichte über Erzählung geleistet werden kann und für den Mŷthos hierbei Spezialfälle im Feld der _____________ 23 24 25
Grafton et al. 2010: 887. Kafka 1983: 59. Im Sinne des Gemeinschaftserlebnisses, das sich als kollektives Phänomen in Chronotopen einzuschreiben vermag, vgl. Gumbrecht 2011.
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Rezeption und Produktion angenommen werden müssen. Nun soll noch einmal der Aspekt der kontinuierlichen Parallele ins Zentrum der Überlegungen rücken. Diese stellt, wie in der einleitenden Auseinandersetzung mit T. S. Eliot verdeutlicht wurde, eine Möglichkeit dar, Geschichte zu vermitteln. Das impliziert, dass ihr „immenses Panorama“ ebenso wie die sich aus diesem ergebenden Unwägbarkeiten, Widersprüche und pluralen Entwicklungen eingefangen, ja überwunden werden können. Aufgrund der unhintergehbaren Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart behauptet Eliot an anderer Stelle gar eine bedingungslose Kontinuität innerhalb der Literaturgeschichte: [W]hat happens when a work of art is created, is something that happens simultaneously to all the works of art which preceded it. The existing monuments form an ideal order among themselves, which is modified by the introduction of the new (the really new) work of art among them.26
Dies bedeutet, dass ein Werk nur in direkter Beziehung auf einen Kanon zu guter Literatur werden kann, wobei sich dieser, indem er das Neue integriert, sofort in seiner Gesamtheit verändert. Dies legt den Gedanken nahe, dass über die Konstruktion einer Fabel oder Geschichte entlang eines Mŷthos mithin Geschichte selbst vermittelt werden kann, der Mŷthos also Vermittlungsinstanz im mehrfachen Sinne und Grade ist: Er macht Geschichte ebenso wie Geschichten erfahrbar. Und dies ist der doppelten Traditionsverbundenheit des Mŷthos geschuldet. Dieser Gedanke erinnert an das, was Hans Robert Jauß für die Rezeptionsästhetik hinsichtlich der „Rekonstruktion des Erwartungshorizontes“ bemerkt, „vor dem ein Werk in der Vergangenheit geschaffen und aufgenommen wurde“, und der es „ermöglicht […], Fragen zu stellen, auf die der Text eine Antwort gab, und damit zu erschließen, wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann“.27 Nimmt man dies für den Spezialfall Mŷthos an, so kommt diesem hier also eine Form der sýstasis tôn pragmáton von Geschichte zu – etwas, das mit Ricoeur sehr wohl denkbar, im aristotelischen Modell jedoch nicht vorgesehen ist. Bereits angesprochen wurde die Problematik, dass eine kontinuierliche Parallele wohl ein Nacheinander von Ereignissen in eine konsonante Folge bringen kann. Doch bleibt sie eine Struktur innerhalb ihrer selbst schuldig. Eine Möglichkeit, dieses Derivates habhaft zu werden, wäre eine Bestimmung des Mŷthos als Feld, die hier kurz als Ausblick entworfen werden soll. Der Begriff des Feldes will dabei durchaus Disziplinen-übergreifend verstanden werden, auch wenn das zentrale Movens für seine Wahl darin _____________ 26 27
Eliot 1982: 39f. Jauß 21979: 136.
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liegt, dass das Feld, anders als der Horizont, vom Individuum her bestimmt werden kann. Denn der Horizont ist als transzendentale Grundstruktur der Erfahrung aus phänomenologischer Sicht ein vom Subjekt nicht aktiv beeinflussbares Moment, sondern die Voraussetzung dafür, dass ihm überhaupt etwas (Gegenständliches) erscheinen kann.28 Anders als der Horizont ist das Feld darüber hinaus immer neu bestimmbar. Es wird zwar auf bisherige Erfahrungen rekurrierend bestimmt, birgt also eine Entwicklung, bei der das Moment der Verschmelzung aber nicht im Vordergrund steht. Dies hat den Vorteil, dass vergangene Felder abrufbar bleiben – im Sinne einer Tradition oder Wirkungsgeschichte –, anders als im Fall der Wirkungsgeschichte jedoch nicht das Problem des Zusammenfallens im aktuellen Akt der Rezeption hervortritt. Gadamer notiert zur Wirkungsgeschichte: Der zeitliche Abstand [...] läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß.29
Nicht der „unendliche Prozess“, sondern der jeweilige Prozess im „Unendlichen“ ist es, den das Feld beschreiben soll. Denn nur so ist es möglich, die Ordnung des Panoramas der Geschichte auch auf der Ebene des Vergleiches fruchtbar anzugehen. Mŷthos als Feld müsste daher als Einschreibung jeweiligen Verstehens von lebensweltlichen Entwicklungen in Text und die Konservierung desselben verstanden werden. Der Raum, der durch den Horizont vorgegeben ist, würde in Felder unterteilt durch jeweilige Mythopoemata, die den Mŷthos in sich bergen. Dies lässt sich zum Beispiel mit Michail Bachtin und seinen Überlegungen zum Chronotopos denken. Bachtin definiert als Chronotopos [d]en grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungen […] Für uns ist es wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur.30
_____________ 28
29
30
Zur grundlegenden Horizontalität des intentionalen Bewusstseins vgl. Edmund Husserl: Hua III: 57; zur Welt als Universalhorizont aller Horizonte vgl. Husserl 21999 (EU: 28f.). Zur Lebenswelt als Erfahrungshorizont und Möglichkeitsspielraum vgl. Hua I: 22. Gadamer 61990: 282. Zur Problematik der Wirkungsgeschichte vgl. auch Gander 2002: 260f. „Wenn der Kontext der Lebenswelt – in den sich ein Text einschreibt und den er damit zugleich modifiziert – als Zusammenhang der vorgängigen wie aktuellen, individuellen wie geschichtlich-gesellschaftlichen Verweisungsbezüge unter dem Stichwort Wirkungsgeschichte ins Spiel gebracht wird, so bedeutet das aber nicht, daß damit Wirkungsgeschichte in die Funktion einer Welt- oder Universalgeschichte überführt werden soll. Wirkungsgeschichte aktualisiert sich vielmehr partikular und zugleich plural in der Vielfalt von Geschichten, die sich darin als Mannigfaltigkeit der Diskurse konstituiert.“ (Gander 2000: 261.) Bachtin 2008: 7.
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Der Mŷthos wäre als Topos zu fassen, der in seinen Variationen (also als Mythopoem) durch alle Chronotopen hindurch gefunden werden kann (was seine Eigenschaft des Entwerfens einer kontinuierlichen Parallele beschriebe, vgl. Abb. 3), denn: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hier, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar. Der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.31
Er funktioniert hierbei – so, wie es für die aristotelische Poetik entwickelt wurde – als Struktur, die immer wieder aufgegriffen wird und sich so durch die Jahrhunderte fortpflanzt, ganz im Sinne von Gilles Deleuzes Modell des Rhizoms. Der Mŷthos eint so verschiedene Chronotopen und verbindet sie miteinander. Bestimmt man nun Mythopoemata als einzelne Chronotopen, so kann man diese kontinuierliche Parallele, die durch den Prozess der Mythentransformation entsteht, in einzelnen Abschnitten betrachten und so einen Vergleich anstrengen, der in vielerlei Hinsicht instruktiv ist. Wie wir bereits sagten, war die Aneignung des realen historischen Chronotopos in der Literatur ein komplizierter, diskontinuierlicher Prozeß. Angeeignet wurden immer nur bestimmte – unter den jeweiligen historischen Bedingungen zugängliche – Aspekte des Chronotopos, und es bildeten sich lediglich bestimmte Formen der künstlerischen Widerspiegelung des realen Chronotopos heraus. Diese – zunächst produktiven – Genreformen haben sich später zur Tradition verfestigt und lebten auch dann beharrlich weiter, als sie bereits ihre realistisch-produktive und adäquate Bedeutung gänzlich eingebüßt hatten. Hieraus erklärt sich auch, daß in der Literatur Phänomene, die völlig verschiedenen Zeiten entstammen, koexistieren, was dem literarhistorischen Prozess einen außerordentlich komplexen Charakter verleiht.32
Literaturwissenschaft aber kann durch eine Öffnung zu den aufgezeigten philosophischen Ansätzen und Lesarten von Mŷthos und dessen Funktionen und vermittels die Gegenüberstellung der jeweiligen Felder einzelner Werke auch soziologische, historische und kulturelle Entwicklungen und Parameter vermitteln. Ganz im Sinne Eliots. Es könnten somit über einen Mŷthosvergleich verschiedene Disziplinen Erkenntnisse eben ihrer jeweiligen Disziplin gewinnen. Die mythische Methode wäre somit eine Methode der Vermittlung und des Verstehens, die auf der Grundlage einer Annäherung an den Text über die Philosophie auch außerhalb der Literaturwissenschaft zu einer Analyse von weit mehr als Texten gereichte. _____________ 31 32
Bachtin 2008: 7f. Bachtin 2008: 8.
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Für diese – auf die eine oder andere Weise – komparatistischen Unternehmungen33 jedoch soll die vorliegende Untersuchung lediglich einige Grundgedanken bereitstellen. War es doch ihr Ziel darzustellen, wie im Ausgang von Joyce, Aristoteles und Ricœur und ihrer jeweiligen Konzeptionen des Mŷthos das Diktum zu denken ist, der Ulysses als myth sub specie temporis nostri bediene sich einer gewissen „mythischen Methode“.
_____________ 33
Denkbar wäre mithin eine gattungstheoretische Untersuchung, oder auch ein auf Luhmanns Kommunikationstheorie basierende Annäherung, die anhand der drei Funktionen die Frage nach der Kommunikations und den Kommunikationswegen von Texten stellt.
Literaturverzeichnis
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Register Adorno, Theodor W., 36, 39, 172 Akt des Lesens, 52, 54, 114, 131, 137f., 140f., 157, 161, 168, 171f. Als ob, 112f., 128f., 135f., 149, 157 anagnórisis, 90, 168 Aristoteles, 6ff., 55ff., 111, 114, 116ff., 120, 123f., 128, 130, 136, 140, 142, 148, 154, 157ff., 161ff. Augustinus, 104, 107f., 125, 149, 150, 152f. Autor, 6, 8, 11, 14f., 34, 47, 88, 110, 113, 115ff., 138ff., 157 Aktor, 75, 110, 113, 117, 134 Autorverständnis, 171 Bachtin, Michail Michailowitsch, 170, 175, 176 Barthes, Roland, 11, 49ff., 116, 141 Begriffsnetz, 118, 122, 124, 153 Bloom, Leopold, 10, 21ff., 28, 30, 32ff., Blumenberg, Hans, 2ff., 12, 138, 166 Cassirer, Ernst, 120 Charakter, 21, 36, 42, 46, 49, 56f., 61ff., 68, 74, 76ff., 82, 84, 87, 91, 93, 98, 100, 104, 110, 118, 122f. diánoia, 74ff., 79f. êthos, 74ff., 80 Chronotop, 166, 170, 173, 175f. Circumtextus, 1f., 7, 53, 92, 103, 135, 157f., 161ff., 166ff. Contextus, 1f., 7, 53, 92, 103, 135, 153, 157, 161f., 166f., 170ff. Dedalus, Stephen, 10, 23, 28, 30, 37ff., 44ff. Deleuze, Gilles, 176 Dilthey, Wilhelm, 106f., 110, 124 écriture, 11, 49, 163 Eliot, T. S., 5, 7ff., 20, 24, 27, 50f., 102, 158, 162, 171, 174, 176 Ellmann, Richard, 16, 20f., 23, 34 Epos, 8, 15, 21, 23, 39, 57, 69f., 77, 83, 86ff., 92ff., 128f., 170 Erfahrung, 23, 62, 68, 98, 106ff., , 110, 112ff., 116, 120, 124, 137f., 142ff., 152f.,156, 175
Erfahrungsraum, 81, 107ff. Erwartung, 86, 94, 105, 107ff., 125, 140, 153, 161, 168 Erwartungshorizont, 107, 108, 109, 138, 139, 187, 208, 219 Erzählen, 3, 6f., 11, 33, 35, 43, 54, 57, 62, 88, 99, 100, 106, 110, 113f., 119, 124, 149, 154, 156 Erzähler, 33, 35, 118, 132, 170 Erzählung, 2, 6ff., 14, 25f., 28, 31, 40, 43, 54, 56ff., 64, 92, 97, 100, 106, 109, 110f., 113ff., 118f., 122, 124, 126f., 129ff., 136f., 140, 147, 149, 154ff., 158, 165, 167, 173ff. Ethik, 66, 74, 123, 159 Fabel, 6, 10, 24, 51, 57, 69, 84, 88, 95, 99, 104, 119, 122f., 130f., 137, 141, 158, 174 Fabelkomposition, 7, 52, 98, 103, 110, 112, 117, 119, 128ff., 132, 134, 136, 140f., 147, 150, 158, 163, 171 mise en intrigue, 7, 134, 162 plot, 69, 75, 88, 95f., 99, 102, 165 sýstasis tôn pragmáton, 6f., 55, 63f., 68f., 72ff., 76f., 81, 89f., 94, 98, 103, 110f., 113, 117, 120, 128f., 156, 158, 162, 171, 174 Fiktion, 76, 112, 123, 132, 145, 147, 148, 150ff., 164 Fricke, Harald, 2, 166 Fuhrmann, Manfred, 55, 62, 70, 84, 88f., 95 Funktion, 1f., 4ff., 10, 14f., 24, 49ff., 68f., 88, 99f., 102, 118, 120, 128f., 132, 135, 152f., 156, 158, 160, 163f., 166ff., 170f., 175f., Gadamer, Hans-Georg, 69, 103, 107, 113, 115, 116, 137f., 140, 142, 147, 166ff., 170, 175 Geertz, Clifford, 120f., 138 Genette, Gerard, 5, 42f., 52, 115, 163f., 167 Gerüst, 8, 10, 15, 24, 51
196 Geschichte, 1ff., 5ff., 11, 49, 51, 53, 80, 82, 90, 92, 97, 99, 102f., 106ff., 114ff., 119, 122, 124f., 128ff., 137, 139ff., 148ff., 165f., 170, 172ff., Gilbert, Stewart, 17, 20, 22f., 25, 28, 30f., 34f., 37, 41, 51 groundplan, 27, 50, 52f., 162 Habermas, Jürgen, 106 Halliwell, Stephen, 59, 70, 84, 89, 95f., Handlung, 10, 16, 21, 22ff., 28f., 32, 35f., 41, 44ff., 52, 55, 62ff., 69, 70ff., 103ff., 110ff., 119ff., 134ff., 141ff., 157ff., 162, 167, 172 prâgma, 55, 74ff. prâxis, 60, 64, 74ff., 80, 100, 103, 110, 114f., 119, 128, 136, 159, 162 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 57, 93 Heidegger, Martin, 9, 58, 108, 114, 124ff., 150ff., Hermeneutik, 109, 115f., 137f., 146f., 156 hermeneutisch, 7, 12, 14, 51, 102f., 106, 115, 138, 150, 166, 171 Texthermeneutik, 58, 115, 159, 168 Historiographie, 1ff., 63, 73, 79, 82, 102, 110, 137, 154f., 157, 165 Homer, 15, 21, 28, 31, 37ff., 42, 44ff., 56f., 96f., Horizont, 11, 138f., 142ff., 166, 170, 175 Horkheimer, Max, 36, 39, 173 Husserl, Edmund, 105, 111, 139, 150, 159, 162, 175 Ingarden, Roman, 139, 153, 163 Inszenierung, 20, 24, 28, 39, 51 Interpretation, 3, 7, 12, 16f., 24ff., 37, 43, 54, 58, 68f., 69, 82, 84, 92, 104, 114, 120ff., 129, 135, 144f., 148, 152f., 155f., 163 Intertextualität, 14, 16, 27, 115, 163, 166ff. Iser, Wolfgang, 48, 52, 62, 90, 138ff., 153, 165, 168, 172 Janko, Richard, 71, 75, 95 Jauß, Hans Robert, 138f., 174 Jens, Walter, 5, 51 Joyce, James, 5f. 8f., 11f., 14ff., 20ff. 141, 160f., 163f., 172, 177 Kannicht, Richard, 73, 92 Kant, Immanuel, 9, 105, 112, 132, 151 kátharsis, 62, 65, 67, 70, 77, 90, 100, 114, 136 Kenner, Hugh, 22f., 30, 38, 41, 46 Komödie, 57, 64, 70, 89
Register Konfiguration, 14, 52, 77, 110ff., 118, 124, 128ff., 134f., 137, 140f., 155, 157, 161f., 168, 171f., Konkretisation, 139, 163 kontinuierliche Parallele, (continuous parallel), 5, 9, 14ff., 27, 46f., 50f., 158, 170f., 174, 176 Korrektur, 92, 140, 170 Koselleck, Reinhart, 9, 80, 105, 107ff., 138 Krise, 105, 107, 109, 168 Kristeva, Julia, 163 Lamb, Charles, 20, 43f., 47 Lebenswelt, 81, 105, 110ff., 115ff., 120, 142, 145, 147, 153, 159, 166, 175 Leerstellen, 52, 140, 153 Luhmann, Niklas, 177 Lukács, Georg, 11, 47, 135 MacIntyre, Alasdair, 114f. Methode, 5ff., 14f., 20, 27, 33, 50f., 58, 69, 102f., 114ff., 122, 146f., 152, 161f., 166, 168, 171, 176f. mímesis, 63ff., 68ff., 73f., 76f., 81, 117, 162 Darstellung, 20, 23, 27, 29ff., 33, 44, 47, 49, 55ff., 60ff., 73f., 80f., 88, 92ff., 98, 105, 116, 123, 128, 130, 132, 143, 145, 155, 158f., 163ff.,172 mímesis práxeos, 63f., 68ff., 73f., 76f., 81, 117, 162 Nachahmung, 24, 46, 52, 55ff., 60ff., 80, 89, 92, 95, 97ff., 103f., 111, 117, 123, 128ff., 158 Mímesis-Zirkel, 6f., 58, 68, 70, 77, 102f., 104, 109f., 113f., 116, 134, 154, 160f., 173 Moderne, 5, 7f., 11ff., 20, 27, 33, 35, 43, 48, 52, 67, 173 Möglichkeit, 5, 12, 25, 37, 63, 65, 67, 69, 74, 80ff., 90, 96, 98, 100, 104, 105ff., 112, 114, 117, 120f., 124, 136ff., 137, 143, 146, 148, 151f., 157, 166f., 170, 174 Motiv, 34, 39, 90ff., 118, 119, 162, 167 mythische Methode (mythical method), 5, 7, 9, 10ff., 20, 27, 50f., 115, 152, 161f., 171, 176f., Mŷthos passim diploûs, 83ff., 95f., 99 haploûs, 83ff., 95, 99 als Kern, 4, 52, 88, 90ff., 97, 107, 120, 128, 136, 156, 167f., 172 Mythopoem, 14, 43, 46, 50, 176 peplegménos, 83ff., 95, 99
Register myth sub specie temporis nostri, 14, 23, 27, 29f., 43f., 50, 52f., 100, 137, 158, 161, 170ff., 177 traditional tale, 6ff., 54, 128, 163 Narration, 6, 152 Narrativ, 148 Narrativität, 102, 112, 124, 134, 142, 148, 150, 152 Noema, 159, 162, 163 Noesis, 159, 162 Nostos, 10, 22, 28f. Notwendigkeit, 64, 71, 79, 84, 114, 124, 154 Odyssee, 5, 8ff., 12, 14f., 17, 20ff., 27ff., 36ff., 41ff., 50ff., 86f., 96, 161, 164, 170 Odysseus, 10, 20ff., 27ff., 36ff., 46, 53, 161, 173 Peripetie, 85ff. Platon, 31, 55ff., 63, 67, 74, 76, 147 Poetik, 6f., 12, 53ff., 100, 103, 110ff., 117, 119, 123f., 135, 144, 146, 150, 154, 157, 162ff., 170, 173, 176, poíesis, 16, 62, 64, 76f., 89, 100, 103, 111, 128, 130, 136, 159, 162f. Pope, Alexander, 38 Pound, Ezra, 8ff., 16, 24, 26f., 51 Präfiguration, 77, 110, 112, 114f., 117, 124, 152 Präsenstext/Hypertext, 92, 165 Prätext/Hypotext, 5f., 12, 26f. 92, 165, 167 Publikum siehe Zuschauer Refiguration, 82, 110ff. 129, 134, 137f., 141, 147, 149, 155, 157, 168 Repräsentation, 3, 12, 43, 63f., 66f., 69, 73, 165f. Rezeption, 12f., 16, 52, 68ff., 76f., 82f., 113f., 117, 121, 131, 135f., 144, 160, 164f., 167, 171, 174f. Rezeptionsästhetik, 12, 16, 27, 70, 138, 170, 174 Ricœur, Paul, 6f., 14, 42, 52ff., 58, 68, 70, 76f., 82f., 102ff. 168, 171, 177 Saussure, de Ferdinand, 117ff., 153 Schapp, Wilhelm, 106, 124, 150, 158, 166 Schematismus, 74, 129, 132, 140f. Schmitt, Arbogast, 66f., 70, 76, 82, 84ff., 89, 95f., 98 Schütz, Alfred, 81, 111, 120 Seidensticker, Bernd, 91, 170 Sein zum Tode, 124, 151f.
197 Semantik, 111, 116f., 120, 122, 125, 127, 130, 147ff., Semiotik, 115f., 133, 144, 147, 153, 163 Senn Fritz, 5, 15, 21, 23, 36, 46, 49 Šklovskij, Viktor Borisovič, 48, 50, 168, 172 Spur (trace), 6, 8, 39, 54, 82, 103, 149f., 152ff., 161, 164, 172 retracer, 156 Symbol, 37, 121, 138, 152f. Symbolik, 111, 117, 120ff. 127, 130, 148f. Telemach, 10, 23, 28, 38f., 44, 161 Telemachie, 10, 21, 28 Textus, 2, 7, 53, 92, 103, 135, 157, 161f., 166f., 170, 172 theoría, 76f, 100, 103, 114, 119, 128, 136, 159, 163 tò polýmython, 69, 87, 92, 94, 96, 129, 136 Tradition, 6, 11, 14f., 27, 43, 46, 53, 68, 89f., 98, 100f., 109f., 115, 117, 120, 125f., 128, 132f., 135, 140, 145, 150, 157f., 160, 163, 172f., 175f. Tragödie, 5, 57, 64, 68ff., 77, 81, 86, 88f., 91ff., 104, 128, 130, 157ff., 162 Transposition, 6, 15, 23, 29, 43f., 50, 52, 90, 160, 171 Transtextualität, 5, 12, 115, 163, 166f. Ulysses, 5, 8ff., 115, 135, 141, 161, 164, 171f., 177 Variation, 2, 5, 17, 43f., 52, 90, 93, 107, 110, 165, 167, 172, 176 Vermittlung, 6, 7, 11, 26, 53, 54, 64, 69, 81, 102f., 109, 111, 113ff., 120, 124, 128ff., 135, 137f., 141, 144, 152f., 160, 164f., 167, 173, 176 Verstehen, 12, 62, 102, 106f., 113ff., 124f., 128, 134, 136, 138f., 142f., 156f., 168, 171, 175f., White, Hayden, 156 Wirklichkeit, 15, 47, 63, 73f., 81f., 98, 111, 120, 137, 145, 147, 157 Zeit, 9, 11, 22, 23, 31, 49, 52, 54, 69, 72, 76, 93, 106, 108ff., 113ff., 124, 126f., 130f., 136ff., 144, 149, 153, 158, 162, 170, 172f., 175f., Zeit und Erzählung, 6f., 58, 68, 77, 102, 104, 112, 134, 148, 150ff., 161, 164, 190, 210, 221 Zuschauer, 31, 58, 62, 64, 70, 73, 77, 90, 93, 103, 113, 118, 123, 128, 168, 173 Zymner, Rüdiger, 2, 166
we need a myth we need an amethyst bridge we need a high hanging cliff jump, fall, and lift we can make it but we need a myth we need a path through the mist like in our beds, we were just kids like what was said by our parents a myth guess what we’re after is just this we need a myth i feel my heart’s like a fist words spilling out of the blessed lips of any prophet or goddess i need a myth brought back to life by a kiss scrape away grey cement show me the world as it was again as it was in a myth a red ribbon to reconnect the lady’s head to her neck and to forget that her throat was ever slit guess what we’re after is just this it’s a myth oh, and i’m sick of all these picture books that try to steal some old reflections for their light but desperate measures point to desperate times
and that’s why we need a myth we’re cut adrift and we need a mass uplift the world is trembling and weeping just at the point of believing in a myth the sun that shines on my head the moon that lights me to bed we’re two identical twins inside of a myth i heard the voice of a friend on lethe’s banks, wading in and he said well, before i forget we need a myth and as we lean in to kiss to get two nails through the wrist to get covered in blood and get covered in spit and to forgive if all we’re taught is a trick why would this feeling persist? and with the truth closing in i must insist we need a myth — Okkervil River, We Need A Myth