Geschöpflichkeit und Freiheit: Ein Zugang zum Schöpfungsgedanken im Ausgang von der kritischen Philosophie Kants [1 ed.] 9783428509409, 9783428109401

Die Technisierung unserer Welt schreitet fort. Mit ihr erweitern sich die Möglichkeiten des Menschen, in die Natur einzu

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German Pages 410 Year 2003

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Geschöpflichkeit und Freiheit: Ein Zugang zum Schöpfungsgedanken im Ausgang von der kritischen Philosophie Kants [1 ed.]
 9783428509409, 9783428109401

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Stephanie Bohlen· Geschöpflichkeit und Freiheit

Philosophische Schriften Band 53

Geschöpflichkeit und Freiheit Ein Zugang zum Schöpfungs gedanken im Ausgang von der kritischen Philosophie Kants

Von

Stephanie Bohlen

Duncker & Humblot . Berlin

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Katholischen Fakultät der Universität Freiburg / Breisgau gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Katholische Fakultät der Universität Freiburg / Breisgau hat diese Arbeit im Jahre 2000 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-10940-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Vorwort Die Naturwissenschaften sind zu den Wissenschaften geworden, die unser Denken bestimmen. Von ihnen erwarten wir uns Antworten auf die Fragen nach unserem eigenen Sein und nach dem Sein überhaupt. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach unserem Sein kommt in dem Begriff der Geschöpflichkeit zur Sprache, einem Begriff, der nur im Kontext des Glaubens an die Geschaffenheit des Seins überhaupt sprechend wird. Da der Begriff der Schöpfung kein naturwissenschaftlicher Begriff ist, ist es für uns zum Problem geworden, uns noch als Geschöpfe Gottes anzusehen. Darum geht die vorliegende Schrift der Frage nach, auf welchem Weg denn der Schöpfungsgedanke überhaupt noch als eine vernünftige Deutung von Sein überhaupt verständlich gemacht werden kann. Im Rückgriff auf die kritische Philosophie Kants werden die unterschiedlichen Deutungen von Sein als Natur und Schöpfung in Korrelation zu unterschiedlichen Begriffen der Zeit gesetzt. Dadurch wird deutlich, daß der naturwissenschaftliche, für das Verstehen von Sein als Natur grundlegende Zeitbegriff eine Abwandlung der ursprünglichen Zeiterfahrung darstellt. Im Ausgang von Kants Zeittheorie wird dann einerseits nachgewiesen, daß der Begriff der Schöpfung in sich nicht widersprüchlich ist. Denn er hebt nicht auf den Anfang von Zeit in einer naturwissenschaftlichen Bedeutung des Begriffs ab. Andererseits wird der Schöpfungsgedanke in seiner Funktion für das vernünftige Denken selbst zur Bestimmung gebracht. Darin hat die für den Gedankengang der Arbeit entscheidende These, nach der der Schöpfungsglaube sein eigentliches Fundament in der praktischen Vernunft hat, ihr Fundament. Von ihr her erschließt sich der Weg zu einem theologischen Paradigmenwechsel, der für ein künftiges Gespräch mit den Naturwissenschaften von Bedeutung sein könnte. Die Arbeit wurde als Habilitationsschrift von der Katholischen Fakultät der Universität Freiburg / Breisgau angenommen. Angeregt wurde die Arbeit von Herrn Professor Dr. Bernhard Casper. Ihm gilt mein herzliches Wort des Dankes. Freiburg i. Br., August 2002

Stephanie Bohlen

Inhaltsverzeichnis A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung ....................

15

I. Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit ................................

15

1. Die zwei Kulturen .........................................................

15

2. Die Naturwissenschaften und die Frage nach der Freiheit...................

18

3. Die geschichtlichen Wurzeln der Unterscheidung von Natur und Freiheit, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ...........................

22

4. Die Theologie vor der Spaltung von Subjektivität und Objektivität .........

26

5. Auf dem Weg in ein Gespräch...................................... . .......

30

II. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften............

36

1. Die Naturwissenschaften vor dem Paradox der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

2. Naturwissenschaftliche Konzeptionen der Zeit .............................

38

a) Der Zeitbegriff I. Newtons.. . . . . . . . . . . ... . . . . . . . .. ... . ... . . . . .. . . . . . ... .

38

b) Das Zeitkonzept A. Einsteins ...........................................

42

c) Die Geschichte des Universums nach A. Friedmann .....................

43

d) St. W. Hawkings Theorie eines Universums ohne Grenzen..............

45

e) Das Problem der Zeit und die Thermodynamik..........................

47

f) Das Problem der Zeit und die Theorie der dissipativen Systeme .........

48

3. Die Naturwissenschaften und die erlebte Zeit...............................

50

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

1. Von der Zeitlosigkeit der Wissenschaften zur subjektiven Zeit ..............

53

2. Phänomenologische Konzepte der Zeit .....................................

56

a) Husserls "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" ...............

56

b) Heideggers Phänomenologie der Zeitigung des Daseins .................

59

c) Die ursprüngliche Zeiterfahrung als Ansatzpunkt für ein Gespräch von Natur- und Geisteswissenschaften.......................................

68

d) Heideggers Einsicht in die Zeitlichkeit des Daseins und die transzendentalphilosophische Frage Kants - Anmerkungen zu Heideggers Kantauslegung ........ ........ .... ...... ........................................

70

8

Inhaltsverzeichnis

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft .....

79

I. Kants Bestimmung des Wesens der Zeit .......................................

79

1. Die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit und das Wesen der Zeit .......

79

2. Kants Konzeption der Zeit als transzendentaler Anschauungsform .. . . . . . . . .

80

a) Kants transzendentaler Idealismus ......................................

80

b) Die empirische Realität der Zeit .......... . .......... . .......... . .......

83

c) Zur Kritik an Kants Theorie der Zeit ....................................

86

3. Ansätze zu einer Phänomenologie der Zeitigung von Zeit in der Philosophie Kants ......................................................................

89

11. Die Funktionalität des Verstandes .............................................

90

1. Die "zwei Stämme des Baumes der Erkenntnis" ............................

90

2. Kants Theorie der Funktionalität des Verstandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

a) Die Affektibilität des Menschen und das Verstehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

b) Der Verstand als Vermögen der Synthesis ...............................

95

c) Die Objektivität wissenschaftlicher Urteile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

d) Die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins als der ermöglichende Grund der Synthesen des Verstandes ............................

99

e) Zu Kants Absage an die Aufhebung von Sein in Subjektivität ........... 103 f) Die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins und der zeitliche Vollzug der Synthesis ................................................... 106

g) Zur Schematisierung der Verstandesbegriffe ......................... . .. 108 3. Die Grenzen unseres Verstehens ............................................ 112 a) Der Verstand als der ermöglichende Grund von Natur................... 112 b) Das Problem der Dinge an sich ......................................... 115 c) Vom wissenschaftlichen zum transzendentalphilosophischen Sprachgebrauch .................................................................. 121 d) Die Unendlichkeit des Fragens nach den Dingen an sich und der Urteilsvollzug ................................................................. 122 e) Die Bedeutung der Unterscheidung von Noumena und Phaenomena im Kontext der theoretischen Philosophie Kants ............................ 124 f) Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Betrachtung von Gegenständen 126

g) Kants Theorie der intellektualen Anschauung........................... 128 4. Kants Problematisierung des Schöpfungsbegriffs in der "Kritik der reinen Vernunft" .................................................................. 131

Inhaltsverzeichnis

9

111. Die Ideen der Vernunft........................................................ 135 1. Kants Theorie einer funktionalen Rechtfertigung der Vernunftideen ........ 135 a) Die formale Struktur der Logik und die Ideen der Vernunft.............. 135 b) Die regulative Funktion der Ideen......... . ............................. 137 2. Die Befreiung vom Materialismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 a) Zur Problematisierung des reinen "Ich denke" .......................... 139 b) Kants Kritik an einer Auslegung der Substantialität des Ich mittels eines kategorialen Sprachgebrauchs .......................................... 143 c) Zur Auslegung von Sein überhaupt ..................................... 144 d) Das transzendentale Selbstbewußtsein und die ursprüngliche Zeit....... 145 3. Die Befreiung vom Fatalismus............................................. 147 a) Der Glaube des Menschen an die Freiheit und der Schöpfungsgedanke .. 147 b) Das Antinomienproblem ................................................ 150 aa) Das antinomische Wesen der Vernunft.............................. 150 bb) Kants Lösung der dritten Antinomie................................ 153 (I) Die durchgängige Geltung des Kausalgesetzes ......... . .......

153

(2) Kants Absage an komperativische Freiheitskonzepte ........... 156 (3) Von der Möglichkeit des Anfangs...................... . ....... 160 (4) Praktische und transzendentale Freiheit ........................ 163 (5) Freiheit und Kausalgesetz ...................................... 164 (6) Das Subjekt transzendentaler Freiheit.......................... 166 4. Die Befreiung vom Naturalismus........................................... 170 a) Kants Lösung der vierten Antinomie .................................... 170 aa) Die Möglichkeit transzendentaler Freiheit und der Schöpfungsgedanke .............................................................. 170 bb) Das Problem des kosmologischen Gottesbeweises........ . . . ....... 171 cc) Die Möglichkeit der Schöpfung .................................... 172 b) Eine Welt ohne Anfang? - Zu Kants Auflösung der ersten Antonomie ... 174 5. Das transzendentale Ideal.................................................. 177 a) Die Abgründigkeit der Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 177 b) Die Frage nach der Möglichkeit von Schöpfung in den vorkritischen Schriften Kants ......................................................... 180 aa) Kants Problematisierung des Gottesbegriffs "causa sui" ............ 180 bb) Weltbaumeister oder Weltenschöpfer ....................... . ....... 181 cc) Der Realgrund aller Möglichkeiten ................................. 185 dd) Vom Realgrund aller Möglichkeiten zum transzendentalen Ideal.... 191 ee) Das Problem der Realisierung des Gottesgedankens ................ 195

10

Inhaltsverzeichnis

C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit ......................... 199 I. Das Angebot der praktischen Philosophie ..................................... 199 11. Kants Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200 1. Zur Problematik eudaimonistischer Ethikkonzepte ......................... 200 a) Das Streben des Menschen nach Glückseligkeit .......... . .............. 200 b) Glückseligkeit und Sittlichkeit .......................................... 201 c) Die Unbestimmtheit des Begriffs der Glückseligkeit .................... 204 d) Kants Kritik an der empiristischen und rationalen Moralphilosophie seiner Zeit ................................................................. 207 2. Die Unbedingtheit der sittlichen Verpflichtung ............................. 208 a) Kants Philosophie - eine Philosophie des gelingenden Lebens .......... 208 b) Die Unableitbarkeit der sittlichen Verpflichtung......................... 211 3. Die formale Ethik Kants und ihre Entformalisierung ........................ 214 a) Die Notwendigkeit einerformalen Ethik................................ 214 b) Die Formel des kategorischen Imperativs und ihre Umformungen ....... 217 aa) Die Vorschriften der Klugheit und der Imperativ der Sittlichkeit .... 217 bb) Die allgemeine Gesetzesformel .................................... 218 cc) Die Selbstzweckformel ............................................. 222 dd) Die Reich-der-Zwecke-Formel ..................................... 223 ee) Die Naturgesetzesformel ........................................... 224 4. Zum Problem der Beurteilung von Handlungsmaximen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226 III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit ................................... 232 1. Zum Problem der Deduktion von Sittlichkeit ............................... 232

2. Die zirkuläre Struktur der Sittlichkeit ...................................... 234 a) Der An-spruch der Sittlichkeit und die Notwendigkeit subjektiver Entsprechung .............................................................. 234 b) Kants Lehre vom "Faktum der Vernunft" und die Endlichkeit des Menschen .............................................................. 238 3. Zur Deduktion der Sittlichkeit in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ..................................................................... 240 a) Die Freiheit als Voraussetzung der Sittlichkeit .......................... 240 b) Kants Aufweis der Möglichkeit von Freiheit in der Grundlegungsschrijt

243

4. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit nach der "Kritik der praktischen Vernunft" .................................................................. 247 a) Die Sittlichkeit - ratio cognoscendi der Freiheit ........................ 247 b) Die sittliche Erfahrung - Grunderfahrung der Menschlichkeit ........... 251

Inhaltsverzeichnis

11

IV. Die Menschlichkeit des Menschen ............................................ 253 1. Die Bestimmung des Menschen zur Moralität .............................. 253

2. Selbstsein, Autonomie und Moralität ....................................... 256 3. Das Problem des Bösen .................................................... 262 a) Zur Problematisierung des Kantischen Autonomiebegriffs .............. 262 b) Die Deutung des Bösen in der Religionsschrijt .......................... 264 aa) Vom Grund des Bösen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 bb) Das Böse und die Freiheit .......................................... 266 cc) Von der Persönlichkeit im Menschen............................... 269 dd) Geschaffen zur Freiheit? ........................................... 274 V. Kants Personbegriff ........................................................... 276 1. Von der Persönlichkeit im Menschen ....................................... 276

2. Person, Persönlichkeit und Menschheit ..................................... 277 3. Zur Geschichte des Personbegriffs ......................................... 278 a) Von der Substanzontologie zur Metaphysik der Freiheit ................. 278 b) Denken in unterschiedlichen Ordnungen ................................ 283 VI. Der Mensch: Ebenbild Gottes ................................................. 289 1. Das Wesen aufrichtiger Vernunft ........................................... 289

2. Der Mensch als Analogon Gottes . . .. . . . . . . . . . .. . . .. . . . .. . .. .. . . .. . . .. .. .. .. 291 3. Die Idee des heiligen Willens .............................................. 296 4. Die Primordialität der Idee des Heiligen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 298 5. Die Primordialität der Idee der Heiligkeit und die Geschöpflichkeit des Menschen ........................................................ . . . . . . . . .. 300 VII. Die Möglichkeit einer teleologischen Deutung des Seins und der Schöpfungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 304 1. Das Problem der teleologischen Deutung des Seins ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 304

a) Die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes . . . . . .. 304 b) Die Möglichkeit einer teleologischen Deutung des Seins und die Verbindlichkeit des Sittengesetzes .......................................... 308 c) Die Frage nach der möglichen Übereinstimmung von Zwecken der Freiheit und Naturgesetz .................................................... 310 d) Die Grundlegung des Übergangs von dem Gesetz der Natur zur Gesetzgebung der Freiheit in der "Kritik der Urteilskraft" ...................... 312 e) Die Hoffnungsstruktur menschlichen Handeins ......................... 313

12

Inhaltsverzeichnis 2. Vom "Endzweck der Schöpfung" .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 315 3. Die Bedeutung der Urteilskraft für die teleologische Deutung der Natur .... 317 a) Bestimmende und reflektierende Urteilskraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 317 b) Zum Problem des Aufstiegs vom Besonderen zum Allgemeinen ........ 318 c) Mechanische und teleologische Naturbetrachtung ....................... 320 aa) Das Problem der Organismen ...................................... 320 bb) Die Antinomie der reflektierenden Urteilskraft............. . ....... 323 cc) Zur Rechtfertigung der teleologischen Naturdeutung ............... 325 4. Die teleologische Naturdeutung und der Gottesgedanke .................... 327

D. Der Mensch: geschaffen zur Freiheit ... . ............ . ........ . .......... . . . ..... 331

I. Der höchste Zweck der Vernunft .......................................... . ... 331 I. Von der Menschlichkeit des Menschen ..................................... 331

2. Kants Lehre vom "Faktum der Vernunft" als Ausgangspunkt für das Sprechen von der Geschöpflichkeit des Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 333 3. Die Geschaffenheit der Welt ............................................... 336 4. Der Mensch: geschaffen zur Freiheit ....................................... 337 11. Der kategorische Imperativ Kants und der Schöpfungsgedanke von E. Levinas

339

I. Kants Frage nach den Ordnungen des Seins und die Phänomenologie - Ver-

such einer Bestimmung ihres Verhältnisses ................................. 339 2. Der Gedanke der Schöpfung in der Philosophie von E. Levinas ........ . . . .. 344 a) Levinas Destruktion des alten Sprechens von der Schöpfung ............ 344 b) Ansätze zu einem schöpfungstheologischen Paradigmenwechsel im Denken von E. Levinas ................................................. 346 3. Zur philosophischen Reflexion auf das Sprechen von der Schöpfung ....... 353 a) Von Kants Philosophie der Freiheit zu einer Phänomenologie der Gerechtigkeit? ............................................................. 353 b) Levinas Fundierung der Freiheit in der Sittlichkeit des Menschen ....... 357 aa) Die Levinassche Konzeption der Innerlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 357 bb) Zur temporalen Deutung der Innerlichkeit.......................... 358 cc) Diachronie und Geschöpflichkeit des Menschen.................... 360 dd) Der Rückgang in den Grund der Freiheit im Denken von E. Levinas

362

4. Von der Autonomie des Subjekts zur Heteronomie des Selbst. . . . . . . . . . . . . .. 365 5. Vom "Faktum der Vernunft" zum Ruf des Anderen......................... 368

Inhaltsverzeichnis III. Die kritische Philosophie Kants und das Problem der Schöpfung

13 371

1. Der Glaube an die Schöpfung und die Wissenschaften...................... 371 2. Die eigentliche Theologie: eine Theologie der Freiheit ..................... 372 a) Kants Problematisierung menschlicher und göttlicher Freiheit. . . . . . . . . .. 372 b) Von der Vorzeitigkeit zur Zeitlichkeit der Freiheit ....................... 373 c) Von der Weltursache zum lebendigen Gott.............................. 374 3. Kants Philosophie der Freiheit als Ansatzpunkt für ein gewandeltes Sprechen von der Schöpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 378 a) Die Erschließung des Schöpfungs gedankens in der sittlichen Einsicht ... 378 b) Der Aufweis der Möglichkeit des Schöpfungsgedankens durch die theoretisch-spekulative Vernunft........................................ 381 Siglenverzeichnis ...... . ..................... . ........................................ 385 Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 386 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 406

A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung I. Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit 1. Die zwei Kulturen

Es mag Zeiten gegeben haben, in denen es noch unproblematisch war, an Gott, den Schöpfer, zu glauben; Zeiten, in denen die ganze Natur von nichts anderem zu sprechen schien als davon, daß ihr Sein seinen Grund nur in Gott haben kann. I Doch die Deutung der Natur als vor aller Zeit gesprochenes "Wort" des Gottes, der den Menschen dann auch in Zeit und Geschichte angesprochen und ihm seinen Bund angeboten hat, ist fraglich geworden. Denn der Mensch hat derart in die Natur eingegriffen, daß es kaum noch die Möglichkeit gibt, sie nicht nur als Produkt menschlichen Schaffens zu erfahren. Es ist nicht erforderlich, Beweise dafür vorzulegen, daß dem Menschen fast alles möglich geworden ist. Der Satz "anything goes" ist schon lange zum Leitwort unserer Zeit geworden. 2 Indem der Mensch aber zu dem geworden ist, der scheinbar alles machen kann oder doch eines Tages können wird, ist das Fundament des Glaubens an den Schöpfer brüchig geworden. Fast hat es den Anschein, die Begriffe "Natur", verstanden als das Material, aus dem der Mensch sich selbst seine Welt erschafft,3 und "Schöpfung" seien disjunktive Begriffe,4 eine Deutung der Natur als Schöpfung gebe es nicht. Dagegen macht es sich die Theologie zur Aufgabe, "Natur als Gottes Schöpfung" verständlich zu machen. 5 Doch wird sie ihrem Anspruch gerecht werden I Vgl. u. a.: Augustinus, Confessiones - Bekenntnisse (lat.-dt.), übers. von J. Bemhart, München 31966, XI. Buch, 4, 6. 2 Vgl. dazu auch B. Casper; Zur Bedeutung und zum Gebrauch des Wortes Natur im abendländischen Denken, in: Der umstrittene Naturbegriff. Person-Kirche-Sexualität in der kirchlichen Morallehre, hg. von F. Böckle, Düsse1dorf 1987, 31-44. 3 Ch. Gremmels spricht von einer "zweiten Schöpfung", deren Subjekt der Mensch sei, nicht ohne darauf aufmerksam zu machen, daß der Mensch, der die Stelle des Schöpfers eingenommen habe, nun auch in noch nie gegebener Radikalität verantwortlich zu machen sei für das, was durch ihn geschieht. Ch. Gremmels, Der Gott der zweiten Schöpfung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971. 4 Zu der Problemstellung vgl.: G. Scherer; Welt - Natur oder Schöpfung?, Darmstadt 1990. 5 J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 35. Vgl. Ch. Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderung des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1991,347.

16

A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

können? Kann der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich gemacht werden, und zwar ohne daß die Unterscheidung von theologischem und naturwissenschaftlichem Sprechen darin aufgehoben wird?6 Neben der Philosophie ist es vor allem die Literatur, die die Unterordnung der Natur unter unser Interesse an Produktivität in Frage stellt. Von daher ist auch zu verstehen, daß einige Theologen unserer Tage eher geneigt sind, das Gespräch mit den Literaten zu suchen, die es als ihre Aufgabe ansehen, an eine von technischen Eingriffen noch verschonte Natur zu erinnern, als mit den Naturwissenschaftlern, ohne deren Erkenntnisse es unmöglich gewesen wäre, die Natur in jener Art in den Griff zu bekommen, die M. Heidegger dazu bewogen hat, unser Zeitalter als das der "Machenschaften" zu bestimmen. 7 Heidegger ist zwar nicht der einzige Denker, der unser Interesse an der Machbarkeit von allem, was möglich ist, zur Sprache gebracht hat. 8 Deutlicher als bei anderen Philosophen, mit denen ihn die Kritik an unserer Zeit verbindet, ist aber seine Zuwendung zur Dichtung und der in ihr erinnerten Naturerfahrung. Doch die Abwendung von den Naturwissenschaften und die Zuwendung zur Literatur ist, sofern man sich von ihr die Errnöglichung einer ursprünglichen Naturerfahrung erhofft, durch und durch problematisch. Auch die Theologie stellt sich mit ihr ganz auf die eine Seite einer Kluft, die sich in unserem Dasein nur als Spaltung unserer eigenen Rationalität bemerkbar machen kann. 1959 veröffentlichte C. P. Snow dazu ein Buch mit dem Titel "The Two Cultures".9 In ihm gab er zu bedenken, daß unser Leben von zwei unterschiedlichen Kulturen bestimmt sei, der Kultur der Literaten und literarisch interessierten Geisteswissenschaftler auf der einen Seite und jener der Naturwissenschaftler auf der anderen Seite. Eindringlich forderte Snow zum Gespräch auf, damit die Scheidung von Geistes- und Naturwissen6 N. Fischer hält das für unmöglich. Vgl. N. Fischer; Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? In: Glaube im Kontext naturwissenschaftlicher Vernunft, hg. von R. Isak, Freiburg 1997,62-96, bes. 63. Zum Stand des Gesprächs von Theologie und Naturwissenschaften vgl.: Der Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Ein bibliographischer Bericht, hg. von J. Hübner, München 1987. 7 M. Heidegger; Beiträge zur Philosophie (Vorn Ereignis), hg. von F.-w. von Hemnann, Frankfurt/M. 1989 (GA 65),126-134. 8 Vgl.: Th. W. Adorno/M. Horkheimer; Dialektik der Aufklärung, in: M. Horkheimer; Gesammelte Schriften Bd. 5: "Dialektik der Aufklärung" und Schriften 1940-1950, hg. von G. Schrnid Noerr, Frankfurt/M 1987,26, 127, 144 ff.; M. Horkheimer; Traditionelle und kritische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 4: Schriften 1936-1941, hg. von A. Schmidt, Frankfurt/M. 1988, 162-216, 164 ff., 208 f.; Th. W. Adorno, Über Technik und Humanismus, Gesammelte Schriften Bd. 20/ 1: Vennischte Schriften I, hg. von R. Tiedemann unter Mitwirkung von G. Adorno, S. Buck-Morss und K. Schulz, Frankfurt/M. 1986,310-317; H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, übers. von A. Schrnidt, Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1989, 18 f., 36 f., 168 f. u. ö.; J. Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt/M. 15 1991. 9 C. P. Snow, The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge 1959 (dt. Ausgabe: ders., Die zwei Kulturen: literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967).

I. Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit

17

schaften überwunden werde. In der 2. Auflage seines Buches (1963) brachte Snow dann seine Hoffnung zum Ausdruck, eine "dritte Kultur" könne die Kluft von Geistes- und Naturwissenschaften überbrücken. In seiner 1996 veröffentlichten Abhandlung, die den programmatischen Titel "Die dritte Kultur" trägt, führt J. Brockman dazu aus, daß das von Snow geforderte Gespräch der Geisteswissenschaftler mit den Naturwissenschaftlern zwar immer noch nicht stattfinde. lO Es sei aber auch nicht mehr erforderlich, da die Naturwissenschaftler von sich aus dazu übergegangen seien, allgemeinverständlich zu sprechen. Darin sieht Brockman den Ansatz zu einer neuen Naturphilosophie, der er auch eine grundlegende Bedeutung für die Selbstbestimmung des Menschen zuspricht. Nach Brockman werden also die Geisteswissenschaften durch die Wende der Naturwissenschaften zur Allgemeinverständlichkeit obsolet. Auch die Aufgabe, die sie als die ihre beanspruchen, nämlich die Frage nach dem Menschen und dessen Wesen zu stellen, wird nun den Naturwissenschaften übertragen, deren Anspruch, die eigentlichen Wissenschaften zu sein, für Brockman außer Frage steht. Die Anzahl der Veröffentlichungen, die eine allgemeinverständliche Einführung in die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über unsere Welt geben wollen, insbesondere über die Entstehung des Kosmos und des Lebens, scheinen die These Brockmans zu bestätigen. Zu erinnern ist unter anderem an St. W. Hawkings Schrift "Eine kurze Geschichte der Zeit". Der Naturwissenschaftler beklagt, daß die Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert zu mathematisch geworden seien und nun nur noch von den Wissenschaftlern selbst verstanden werden könnten. Doch es sei zu erwarten, daß jene einheitliche Theorie, auf die er hinarbeite, nicht nur für Mathematiker und Wissenschaftler verständlich sei. "Dann werden wir uns alle - Philosophen, Naturwissenschaftler und Laien - mit der Frage auseinandersetzen können, warum es uns und das Universum gibt. Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft denn dann würden wir Gottes Plan kennen".ll Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und dem des Universums ist für Hawking demnach eine Frage, deren Beantwortung durch die Naturwissenschaften erfolgen wird. Selbst die Antwort auf die Frage, ob die Welt geschaffen ist, erwartet sich Hawking eher von den Naturwissenschaftlern als von den Theologen 12. In einer Replik auf Brockman hat J. Mittelstraß dennoch eindringlich vor einer solchen, mit dem Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit auftretenden Naturwissenschaft gewarnt und statt dessen eine wirklichkeitsnahe Forschung in den gegebenen wissenschaftlichen Disziplinen gefordert. 13 Doch die Forderung nach Wirk10 J. Brockman, Die dritte Kultur. Das Weltbild der modemen Naturwissenschaft, München 1996. II St. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Reinbek bei Hamburg 1991,218. 12 Vgl. dazu ebd. 179. 13 J. Mittelstraß, Dritte Kultur? Kein Bedarf. Eine Replik auf lohn Brockman, in: Die Zeit, Nr. 6 (1998), 43.

2 Bohlen

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

lichkeitsnähe wirft in Anbetracht der Spaltung von Geistes- und Naturwissenschaften die Frage auf, welche Bedeutung das Wort "Wirklichkeit" denn hat. Kann für UnS nur das als wirklich gelten, was durch die Naturwissenschaften erkannt werden kann? Oder gibt es ,jenseits" des naturwissenschaftlich Erkennbaren eine Wirklichkeit, die einer naturgesetzlichen Bestimmung von sich aus widerspricht? Ehe nicht gesagt werden kann, welche Bedeutung des Begriffes "Wirklichkeit" als die gültige anzusehen ist, kann auch bezüglich der Frage, ob den Geisteswissenschaften in bezug auf die Selbstbestimmung des Menschen eine eigene Aufgabe zukommt oder nicht, keine Entscheidung getroffen werden. Folglich kann auch nicht entschieden werden, ob die Philosophie und mit ihr die Theologie im Gespräch der Wissenschaften überhaupt noch eine Bedeutung hat oder ob sie schon lange obsolet geworden ist. Von daher sehen wir es als eine dringliche Aufgabe an, den Begriff "Wirklichkeit" zu problematisieren und nach den Griinden der Unterscheidung der Wirklichkeit, die zu erforschen die Sache der Naturwissenschaften ist, VOn der Wirklichkeit, die nur noch einer literarischen Erinnerung wert zu sein scheint, nachzufragen, um dadurch Möglichkeiten zur Überwindung der Spaltung der Wirklichkeit in die Sicht zu bringen, die, soll es nicht zu einer Spaltung der menschlichen Rationalität kommen, nur als eine angesehen werden kann. Unsere Nachfrage nach dem Begriff "Wirklichkeit" oder auch dem korrelativen Begriff "Sein" soll dann als Vorfrage fungieren, um nach der Geschöpflichkeit Unserer selbst und der Geschaffenheit von Sein überhaupt fragen zu können. 14 Dabei sind wir unS dessen bewußt, daß unsere Fragestellung die Frage Heideggers nach der Einheit des Begriffes VOn Sein in der Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Seinsweisen, unter denen insbesondere die Seinsweisen der Natur (res extensa) und des Geistes (res cogitans) für uns bestimmend geworden sind, erneut aufgreift. 15 Wir erwarten UnS VOn seiner Phänomenologie, die wir als Methode auch Unserem Philosophieren zugrundelegen, entscheidende Anregungen zur Lösung des Problems. Der phänomenologischen Methode Heideggers folgend, setzen wir voraus, daß das Denken ein VOn Grund auf geschichtliches ist, welches den Fragen, die sich ihm aufdrängen, nur dadurch nachgehen kann, daß es ihnen bis in ihre geschichtlichen Wurzeln nachgeht.

2. Die Naturwissenschaften und die Frage nach der Freiheit

Die Erfahrung der möglichen Unterscheidung von Wahrheiten und der entsprechenden Spaltung von Rationalität ist kein Problem nur des 20. Jahrhun14 Zu der Fragestellung vgl. auch B. Casper, Was kann die Rede von Schöpfung bedeuten?, in: Der Kosmos als Schöpfung. Zum Stand des Gesprächs zwischen Naturwissenschaft und Theologie, hg. von J. Dorschner, Regensburg 1998, 159 -173. 15 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hg. von F.-W. von Herrrnann, Frankfurt/M. 1975 (GA 24), 22. Zu der Fragestellung vgl. auch B. Casper, Was kann die Rede von Schöpfung bedeuten?, 159-173.

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derts. Snows These von den zwei Kulturen hat ihr geschichtliches Pendant in G. E. Lessings Begriff des "garstigen Grabens", der die Vernunftwahrheiten von den Geschichtswahrheiten trennt. 16 Voraussetzend, daß die eigentlichen Wahrheiten nur die Vernunftwahrheiten sein können, da nur sie dem Anspruch der Vernunft auf die Möglichkeit, das als gültig Angesehene auch begründen zu können, entsprechen, ordnet Lessing die Geschichtswahrheiten den Vernunftwahrheiten, die positive Religion der natürlichen Religion unter 17 . In der Unterordnung der Geschichtswahrheiten unter die Vernunftwahrheiten werden die Geschichtswahrheiten zu den uneigentlichen Wahrheiten erklärt. Dennoch spricht sich in ihr auch die Einsicht aus, daß den Geschichtswahrheiten ihre Bedeutung für den Menschen nicht schlechthin abgesprochen werden kann, und sei es nur, daß sie aufgrund ihrer Anschaulichkeit, d. h. ihrer Nähe zum gelebten Leben, dem "gemeinen Menschenverstand" eher entsprechen als die Vernunftwahrheiten. Geht man der Einsicht in die Unterschiedlichkeit von Vernunft- und Geschichtswahrheiten weiter nach, wird man daher mit Notwendigkeit aufmerksam auf die Verteidigung der Eigenart des gelebten Lebens, die schon zu Lebzeiten I. Newtons, mit dessen Namen der Übergang von der Naturforschung zur Naturwissenschaft verbunden ist, einsetzt. Am 28. April 1686 legte Newton der Royal Society in London seine "Philosophiae naturalis principia mathematica" vor. 18 Die Bedeutung der Schrift, welche eine Darstellung der Grundgesetze der Bewegung enthielt, wurde schon zu Zeiten Newtons erkannt; mit ihr schien die Sprache der Natur endlich verständlich geworden zu sein. 19 Für Newtons Gesetze, in denen bestimmten Bewegungen bestimmte Kräfte zugeordnet werden, wodurch die Bewegungen ihre kausale Begründung erhalten, ist die Tatsache grundlegend, daß es sich bei ihnen um zeitunabhängige, da für alle Zeiten gültige Gesetze handelt. Das hat zur Folge, daß mittels der Newtonschen Gesetze sowohl die vergangene als auch die zukünftige Geschichte unserer Welt errechnet werden kann. Ware es möglich, den Zustand der Welt in einem Augenblick vollständig zur Bestimmung zu bringen, könnten alle anderen, sowohl die vergangenen als auch zukünftigen Zustände errechnet werden. Es käme zu einer Erkenntnis, welche die ganze Geschichte unseres Universums einbegreifen würde. Es war vor allem P.-S. de Laplace, der den Naturwissenschaften eine solche 16 G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders. Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. von P. Rilla, Bd 8: Philosophische und theologische Schriften 11, Berlin 1956, 14. 17 Vg!. G. E. Lessing, Über die Entstehung der geoffenbarten Religion, in: ders., Gesammelte Werke in zehn Bänden, hg. von P. Rilla, Bd. 7: Philosophische und theologische Schriften I, Berlin 1956, 280 f. 18 Deutsche Ausgabe: l. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre, mit Bemerk. und Ein!. hg. von J. Ph. Wolfers, Oppenheim/Berlin 1872, repr. Darmstadt 1963. 19 Vg!. l. Prigogine/l. Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, 5. erw. Aufl., München/Zürich 1986,33.

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Erkenntnis als ihr Ideal vor Augen hielt. 2o Auf sie haben die Naturwissenschaften aus zu sein, auch wenn eine vollständige Bestimmung eines gegebenen Zustandes der Welt faktisch unmöglich sein mag?! Es ist zu verstehen, daß die Philosophen, die den naturwissenschaftlichen Ansatz Newtons aufgriffen, die Welt als Maschine begriffen. Zur Veranschaulichung ihres Wesens führte man die Vorstellung einer Uhr an, die, ist sie einmal aufgezogen, für alle Zeiten ihren Gang geht. Uns kommt es nicht darauf an, der entsprechenden Vorstellung von Gott als einem Uhrmacher, die allgemein gängig war, im einzelnen nachzugehen. Erwähnt sei nur eh. Wolff, dessen Philosophie für die Vermittlung der scholastischen Theologie in das Denken des 17. und 18. Jahrhunderts nicht unbedeutend war. Auch er bestimmt die Wahrheit der Welt als die einer Maschine, in der alles, was geschieht, durch die Art, in der ihre Teile zusammengesetzt sind, vorbestimmt ist, und daher mit Notwendigkeit geschieht. "Die Welt ist eine Maschine", konstatiert Wolff und fährt fort: "Eben deswegen ist in der Welt Wahrheit, weil sie eine Maschine ist. ,.22 Entsprechend veranschaulicht auch er das Wesen der Welt anhand einer Uhr, die mit Notwendigkeit ihren Gang geht. Bei der auch von Wo1ff angeführten Vorstellung von Gott als dem Uhrmacher, die sich in Anbetracht des Maschinenwesens der Welt nahe legt, handelt es sich um eine Vorstellung, die bis in unsere Tage vor allem seitens der Naturwissenschaften Zustimmung erfährt. 23 Denn sie veranschaulicht ein schöpfungstheologisches Modell, das die Eigengesetzlichkeit einer rein naturwissenschaftlich zu erklärenden Welt anerkennt, ohne deren transzendente Abhängigkeit von Gott, ihrem Schöpfer, in Frage zu stellen. Dennoch ist die unter dem Namen des Deismus subsumierte theologische Konzeption problematisch. Denn in ihrem Kontext gibt es zum einen keine Möglichkeit, neben der transzendenten Abhängigkeit der Welt von Gott auch dessen Immanenz in der Welt zu denken. Zum anderen kann der Mensch sich im Kontext eines solchen Modells auch nur noch als einen Teil der Maschine verstehen. Es gibt dann für ihn nicht mehr die Möglichkeit, sein Handeln anders als das eines Automaten zu begreifen. Jeder Mensch aber, der den Anspruch erhebt, als er selbst gehandelt zu haben und daher auch für sein Handeln verantwortlich zu sein,

P.-S. de Laplace, Essai philosophique sur les probabilites, Paris 1814. Vg!. I. Prigoginell. Stengers, Dialog mit der Natur, Kap. 11, 4: Der Laplacesche Dämon, 81-84. 22 eh. Wolf!, Vemünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Gesammelte Werke 1,2, mit einer Ein!. u. einem krit. App. hg. von Ch. A. Corr, Hildesheim/Zürich/New York 1983, §§ 556 und 557. 23 In seinem Gefolge steht auch noch der Ansatz A. Peacockes, der Gott nach dem Modell eines Komponisten denkt, welcher eine Fuge komponiert, deren Endgestalt er selbst nicht von Anfang an absehen kann. Dadurch wird zwar das Problem des Zufalls in das Modell eingebracht, die Frage ist nur, ob man dadurch der Freiheit Gottes und auch des Menschen gerecht werden kann. Vg!. A. Peacocke, Gottes Wirken in der Welt. Theologie im Zeitalter der Naturwissenschaften, übers. v. E. Diekmann, Mainz 1998, 122; ders., Creation and the World of Science, Oxford 1979, 105 f. 20

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hat auch auf eine Selbstauslegung gesetzt, die der These, er sei nur ein Automat, von Grund auf widerspricht. Doch kann man eine solche Selbstauslegung auch vor der wissenschaftlichen Vernunft rechtfertigen? Oder hat jeder Mensch, der sich nicht nur als einen Teil der den Gesetzen der Mechanik unterworfenen Natur versteht, auch schon auf eine antiwissenschaftliche Naturauffassung gesetzt? Die Frage nach der Möglichkeit eigenverantwortlichen HandeIns wurde schon zu der Zeit, als Newtons Mechanik sich als Fundament der Naturwissenschaften durchzusetzen begann, virulent. D. Diderot, dem man sicher keine antiwissenschaftliche Haltung nachsagen kann, hielt es für unmöglich, alle Empfindungen und Tätigkeiten des Menschen auf die einer Maschine zu reduzieren. 24 Im Namen des gemeinen Menschenverstandes erhob er Einspruch gegen eine rein mechanistische Deutung der Welt, die er durch die Betonung der Eigenart des Lebendigen in Frage stellte. Seine Forderung, dem Phänomen des Lebens gerecht zu werden, wurde unter gewandelten geschichtlichen Bedingungen im 19. Jahrhundert erneut aufgegriffen. Insbesondere H. Bergson forderte dazu auf, die Wissenschaften, deren eigentliche Gestalt die Mechanik sei, im ganzen in Frage zu stellen, da sie sich als eine Folge des menschlichen Willens, die Natur zu beherrschen, darstelle. Darin formulierte er eine Kritik an den neuzeitlichen Wissenschaften, die für deren philosophische Deutung wegweisend werden sollte, wonach die Neuzeit eine Zeit der Herrschaft des Menschen über die Natur ist, zu der sich der Mensch selbst durch seinen Begriff der Wissenschaften ermächtigt hat. Der Aufweis der Grenzen wissenschaftlicher Rationalität erfolgt bei Bergson durch den Nachweis, daß die Wissenschaften Zeit nur als Abfolge von augenblicklichen Zuständen, nicht aber als Dauer begreifen können. Nur dort, wo es den Naturwissenschaften möglich gewesen sei, die Natur in den Horizont der von ihnen vorentworfenen Zeit einzustellen, seien sie nicht gescheitert. 25 Das Schöpferische der Natur, das er in der Möglichkeit zur Entstehung von Neuem gegeben sieht, hätten die Naturwissenschaften nie begreifen können. Da aber die schöpferische Natur ihrem Wesen nach dem menschlichen Leben entspreche, dessen Zeit die der intuitiv zu erfahrenden Dauer sei, gelte es, von dorther zu einer "anderen Wissenschaft" vorzustoßen. 26 Eine solche Wissenschaft konnte sich bislang im ganzen der Naturwissenschaften nicht durchsetzen. Statt dessen kam es dazu, daß die Spaltung von wissenschaftlicher Erkenntnis und intuitiver Erfahrung des Menschen, die Diderot noch überbrücken zu können glaubte, zu einer Kluft wurde, in Anbetracht derer nur noch die Abgrenzung der Philosophie von den Wissenschaften möglich schien. Als Sache der Philosophie galt nun nur noch das Leben selbst, das verstehen zu 24 Vgl. u. a. D. Diderot, Unterhaltung zwischen D' Alembert und Diderot, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 1, Berlin 1961,511-524, bes. 518 f. 25 H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1912,344 f. 26 Vgl. H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Meisenheim 1948, 44 f.

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können man den Wissenschaften absprach. Eine solche Haltung findet ihr Pendant nicht nur in den Ansätzen einer Theologie, die jede Relevanz der Naturwissenschaften für eine Hermeneutik des Lebens in Frage stellt. Ihr scheint auch Heideggers These von der Fundierung der Wissenschaften in einer "Ent-Iebung der Welt,m, auf die an anderer Stelle zurückzukommen sein wird, zu entsprechen. Von daher ist auch zu verstehen, daß Heidegger seitens der Naturwissenschaften, u. a. durch I. Prigogine und I. Stengers, eine antiwissenschaftliche Naturauffassung unterstellt wird 28 , die zur Folge hat, daß es nicht für erforderlich angesehen wird, seine phänomenologischen Ansätze zu einer Bestimmung des Verhältnisses von Natur- und Geisteswissenschaften überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. In ihrem Vorwurf reduzieren die genannten Wissenschaftler Heideggers phänomenologische Kritik des naturwissenschaftlichen Denkens auf eine Variante der Wissenschaftskritik Bergsons. Eine solche Reduktion muß aber schon in Anbetracht der Tatsache, daß Heidegger insbesondere in seinen frühen Freiburger Vorlesungen seine eigene Fragestellung von der Bergsons abgrenzt29, zweifelhaft sein. Unbeschadet dessen, daß die Philosophie Bergsons insofern für Heidegger bedeutsam geworden ist, als in ihr der "garstige Graben", der Natur- und Geisteswissenschaften scheidet, eine temporale Auslegung erfährt, die für Heideggers eigenen phänomenologischen Ansatz grundlegend werden sollte, gilt es daher, die Fragestellung Heideggers und seinen Ansatz zur Verhältnisbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaften in der Abgrenzung zu Bergson sichtbar zu machen.

3. Die geschichtlichen Wurzeln der Unterscheidung von Natur und Freiheit, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften Der Abbruch des Gesprächs mit den Naturwissenschaften ist von Heidegger her nicht zu rechtfertigen. Denn ihm geht es in seiner Kritik des wissenschaftlichen Denkens auf keinen Fall darum, einen Intuitionismus zu vertreten, der ihm geeignet erschiene, das Lebendige an sich selbst zu bedenken. Ein solcher Intuitionismus könnte nur im Gegensatz zum wissenschaftlichen Rationalismus entworfen werden. Darum wird er sich auf keinen Fall als jene Brücke darstellen, die den Übergang von den Natur- zu den Geisteswissenschaften möglich macht. Eine solche Brücke kann nur gefunden werden auf dem Weg einer Besinnung auf die Ge27 M. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: ders., Zur Bestimmung der Philosophie, hg. von B. Heimbüschel, Frankfurt 1M. 1987 (GA 56157), 84 ff. 28 I. Prigogine / I. Stengers, Dialog mit der Natur, 38 ff. 29 Vgl. u. a. M. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, hg. von C. Strube, Frankfurt1M. 1993 (GA 59), 23-29.

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schichte der Philosophie, d. h. im Rückgang in jene geschichtlichen Grundentscheidungen, durch die unser Denken bestimmt ist. Dazu wurde schon gesagt, daß Heidegger zufolge der Rückgang in die Geschichte an die Wurzeln der Unterscheidung von Natur (res extensa) und Geist (res cogitans) zu gehen hat, die ihre philosophische Grundlegung durch R. Descartes gefunden hat und die dann von I. Kant in seiner kritischen Philosophie aufgegriffen wurde, um von ihr her den Weg zu einer Lösung des Problems, das die Frage "Was ist der Mensch?", die Grundfrage des Philosophierens 3o , in sich begreift, zu eröffnen. Nach Kant fordert das Problem, das der Mensch sich selber ist, uns dazu auf, Freiheit in Anbetracht der Naturgesetzlichkeit, die alles zu bestimmen scheint, zu postulieren, und zwar Freiheit als Autonomie, als Möglichkeit der Selbstbestimmung des Menschen. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß Kants Autonomiebegriff für das neuzeitliche Selbstverständnis des Menschen grundlegend geworden ist. Auch die Theologie wird nicht umhin können, die Autonomie des Menschen anzuerkennen, unbeschadet dessen, daß ihr der Begriff lange Zeit suspekt war31 , schien er doch für eine grenzenlose Freiheit des Menschen zu sprechen, als deren Pendant man die Entgrenzung der Herrschaft des Menschen über die Natur ansehen zu können glaubte. Insbesondere die in der Tradition des Naturrechtsgedankens stehende katholische Theologie ging davon aus, daß das Handeln des Menschen nur dann als rechtens anzusehen ist, wenn es der Ordnung des Seins oder der Natur entspricht. Den Autonomiebegriff kritisierend, forderte man die Verpflichtung des Menschen auf die Ordnung des Seins. Dabei wurde Kant unterstellt, in seiner Erkenntnistheorie werde Sein als durch das Subjekt konstituiert, mithin hergestellt, gedacht. Dadurch werde das Subjekt zum Grund allen Seins. Folglich rechtfertige der Kantische Ansatz die Herrschaft des Menschen als des Subjekts über die Natur als die Gesamtheit der Objekte. Doch handelt es sich bei der Kantischen Philosophie wirklich um eine Philosophie der Herrschaft, in der der Graben, der die Wirklichkeit der Natur von der des Geistes oder der Freiheit scheidet, zu einer scheinbar unüberbrückbaren Kluft wird? Oder arbeitet Kant eine Verhältnisbestimmung von Natur und Freiheit aus, die ein Gespräch von Natur- und Geisteswissenschaften möglich macht, in dem dann auch erneut von der Natur als einer Schöpfung gesprochen werden könnte?

30 I. Kant, Logik A 25. Die Schriften Kants werden nach der im Anhang angegebenen Ausgabe von W. WeischedeI zitiert. Angegeben sind ferner die Stellen aus der AkademieAusgabe [AAl, Berlin 1902 ff. 31 Vgl. K. Müller, Wenn ich "ich" sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbewußter Subjektivität, Frankfurt/M. u. a. 1994, 15. Weiterführende Literatur zur theologischen Rezeption von Kants Autonomiebegriff findet sich bei E. Schockenhoff, Das Autonomieverständnis Kants und seine Bedeutung für die katholische Moraltheologie, in: Ethische Theorie praktisch. Der fundamental-moraltheologische Ansatz in sozialethischer Entfaltung, hg. von F. Furger, Münster 1991,66-83, bes. Anm. 37 und 44.

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Rationale Theologie kann die Transzendentalphilosophie Kants nicht umgehen. Das gilt auch für die Schöpfungstheologie. Zwar wurde die Aufgabe, die sich dadurch für die Theologie stellt, erkannt. Nachdem noch J. Moltmann die Ausarbeitung einer gewandelten Schöpfungstheologie im Horizont einer "nichtsubjektivistischen Metaphysik" gefordert hae 2 , kam es zu einer gewandelten Beurteilung der am Subjekt interessierten Philosophie, die nicht unbedingt als Ermöglichung eines Subjektivismus zu gelten hat, da in ihr das Subjekt auch in seinem Weltbezug gedacht wird. Da insbesondere Kant nicht nur den Weltbezug des Subjektes zur Sprache bringt, sondern auch nach der Möglichkeit eines gewandelten Bezuges fragt, der dadurch begründet ist, daß sich dem Subjekt, das sich auf den Standpunkt der Freiheit stellt, der Begriff des Seins entgrenzt, d. h. von seiner Begrenzung auf die Natur als das Ganze der Objekte der Wissenschaften befreit, dürfte sein Denken von einem besonderen Interesse für die Theologie sein. Entsprechend hat auch eh. Link festgehalten, daß die Philosophie Kants dazu die begrifflichen Mittel bereitstellt. 33 Dennoch steht eine Abhandlung zu den in den kritischen Schriften ausgearbeiteten Ansätzen für eine Schöpfungstheologie noch aus. Zwar hat Heidegger schon in den Vorlesungen vor "Sein und Zeit" gefordert, Kants Denken nicht auf "das klappernde Gerippe" einer Erkenntnistheorie zu reduzieren, sondern seine Philosophie als Entwurf zu einer Theologie zu deuten. 34 Angeregt von der Wende zu einer metaphysischen und theologischen Kantinterpretation, die von Heidegger zum Durchbruch gebracht wurde, hat dann G. Picht eine Deutung der kritischen Philosophie Kants als eines Ansatzes zur Grundlegung einer Religionsphilosophie vorgelegt. 35 Neuere Abhandlungen beweisen, daß Kants kritisches Denken in der Tat als Religionsphilosophie gedeutet werden kann?6 Zu nennen ist diesbezüglich insbesondere die Abhandlung von R. Wimmer zu Kants Religionsphilosophie 37 . Sie kann allerdings auch als paradigmatisch gelten für die Tatsache, daß der Schöpfungs gedanke Kants, sofern es um dessen kritisches Denken geht, kaum Beachtung findet. 38 Das Interesse an der kritischen Philosophie 32 33

J. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 63. Vgl. eh. Link, Schöpfung, 339.

34 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, hg. von W. Bröcker und K. Bröcker-Oltmanns, Frankfurt/M. 1985 (GA 61), 7. Auf die Kritik der rein erkenntnistheoretischen Deutung Kants geht ausführlich ein: G. Funke, Die Wendung zur Metaphysik im Neukantianismus des 20. Jahrhunderts, in: ders., Von der Aktualität Kants, Bonn 1979, 181-237. 35 G. Picht, Kants Religionsphilosophie, Stuttgart 1985. Die Vorlesung beschränkt sich auf eine Auslegung der theoretischen Philosophie Kants. An anderer Stelle äußert sich Picht selbst kritisch zu Kants Begriff der Autonomie. Vgl. dazu G. Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte (Vorlesungen und Schriften), Stuttgart 1989,91. 36 Eine Übersicht gibt: N. Fischer, Zur neueren Diskussion um Kants Religionsphilosophie, in: Theologie und Glaube 83 (1993), 170 - 194. 37 R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990. 38 Im Index findet sich das Wort "Schöpfung" nicht einmal. Das Problem der Schöpfung wird auch nicht behandelt durch: R. Langthaler, Kants Ethik als "System der Zwecke". Per-

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Kants und ihren religionsphilosophischen Thesen gilt der praktischen Philosophie Kants, deren Einheit mit seiner theoretischen Philosophie nicht in der Art thematisiert wird, die erforderlich wäre, um der von Kant vorausgesetzten Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie39 gerecht zu werden. Andererseits hat die vorkritische Schöpfungstheologie Kants ihre Besprechung erfahren40, und zwar im Kontext jener Kant-Deutungen, die sich dessen Philosophieren von seinen geschichtlichen Wurzeln her verständlich machen wollen. 41 Die Ausklammerung des Schöpfungsgedankens aus der Deutung der kritischen Philosophie Kants ist aber insofern nicht zu vertreten, als sich für Kant die Frage, ob Freiheit, d. h. Autonomie überhaupt möglich ist, auch daran entscheidet, ob der Schöpfungsglaube auf eine Art gedeutet werden kann, die geschöpfliche Freiheit denkbar macht. Die Erarbeitung der Grundlagen einer kritischen und d. h. an der Freiheit interessierten Schöpfungstheologie stellt also einerseits ein Desiderat der Kantforschung dar,42 andererseits eine Forderung, die sich aus der Tatsache ergibt, daß ein Gespräch der Theologie mit den Naturwissenschaften, in dem es um die Geschöpflichkeit des Menschen und die Geschaffenheit der Natur gehen soll, philosophisch nur in einem Denken fundiert werden kann, in dem die Scheidung von Natur und Geist in ihren Wurzeln greifbar wird. Auch in den theologischen Abhandlungen, in denen man neuerdings auf Kant zu sprechen kommt, spricht sich, unbeschadet aller Anerkennung seiner Bedeutung für das neuzeitliche Selbstverständnis des Menschen, eine kritische Beurteilung des Autonomiegedankens aus, die sich mit der Forderung verknüpft, die theologische Fundierung menschlicher Freiheit sichtbar zu machen, wobei nicht gesehen wird, daß Kant selbst die Frage, unter welchen Bedingungen der Gedanke der Schöpfung mit dem der Autonomie zu vereinbaren ist, selbst auf-

spektiven einer modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" und Ethikotheologie, Berlin/New York 1991. 39 Vgl. KPV A 216 (AA Bd. 4,119). 40 Zu nennen ist insbesondere H.-G. Redmann, Gott und Welt. Die Schöpfungstheologie der vorkritischen Periode Kants, Göttingen 1962. 41 Vgl. H. Rust, Kant und das Erbe des Protestantismus. Ein Beitrag zu der Frage nach dem Verhältnis von Idealismus und Christentum, Gotha 1928; J. Bohatec, Die Religionsphilosophie in der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft". Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen, Harnburg 1938; W. Schultz, Kant als Philosoph des Protestantismus, Hamburg-Bergstedt 1960 (Theologische Forschung, Bd. 22); Fortführende Literatur nennt: A. Winter, Kant zwischen den Konfessionen, in: ThPh 50 (1975), 1-37; Ders., , Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants, in: Kant über Religion, hg. von F. Ricken und F. Marty, Stuttgart/Berlin/ Köln 1992, 17 - 51. 42 Eine Ausarbeitung der Bedeutung der Schöpfungstheologie Kants für seinen Freiheitsgedanken findet sich nur in der Arbeit von W. Ertl, Kants Auflösung der "dritten Antinomie". Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre, Freiburg/München 1998. In der genannten Schrift wird Kants Schöpfungsgedanke allerdings nicht darauf befragt, ob er einen Begriffswandel in der Theologie erforderlich macht. Vgl. auch K. E. Kaehler, Freiheit und Schöpfung. Zu einern Problem der Kritik der praktischen Vernunft, in: Akten des Siebenten Intern. Kant-Kongresses, hg. von G. Funke, Bonn 1991,525 - 533.

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wirft und ein gewandeltes Sprechen von der Schöpfung fordert. 43 Schon von daher ist es fraglich, ob es ausreicht, den Kantischen Entwurf der Autonomie mit einem schöpfungstheologisch fundierten Begriff der Freiheit zu konfrontieren, um dadurch der Herrschaft des Menschen über die Natur Grenzen zu setzen, ohne unser Sprechen von Schöpfung von der Philosophie Kants her kritisch zu überdenken.

4. Die Theologie vor der Spaltung von Subjektivität und Objektivität Das Bestreben, der Herrschaft des Menschen über die Natur mittels der Schöpfungstheologie Grenzen zu setzen, hat eine lange Geschichte. In der Einleitung zu seiner Auslegung der Schöpfungserzählungen macht C. Westermann darauf aufmerksam, daß die Texte von der Schöpfung, die man endgültig abtun zu können glaubte, im Anstieg zur zweiten Phase des technischen Zeitalters wieder Gehör finden. "In der ersten Phase des technischen Zeitalters waren es Vorgänge im Bereich der Naturwissenschaft und Technik, die die Argumente für die Bestreitung des Schöpfungsglaubens lieferten; in der zweiten Phase ist es ein Vorgang im Bereich der Naturwissenschaften und der Technik, der den Anlaß zum Zitieren der Schöpfungsgeschichte gibt!,,44 Westermanns Beobachtung ist nicht zu bestreiten; die Erzählungen von der Schöpfung werden wieder zitiert, und zwar mit der Absicht, der Herrschaft des Menschen über die Natur, die sich ganz offensichtlich gegen den Menschen selbst gewendet hat, wieder Grenzen zu setzen. Daß man dabei auf den Glauben setzt, ist schon insofern nicht selbstverständlich, als die Theologie ihre Mitverantwortung für die Auslegung des Menschen als das seiner selbst bewußten Subjekts und die dadurch ermöglichte Beherrschung der Natur durch den Menschen nicht verleugnen kann. Von daher ist es durchaus fraglich, ob sich die Theologie der naturwissenschaftlich-technischen Beherrschung der Natur überhaupt erwehren kann. Das wird auf keinen Fall gelingen, solange die Theologie sich nur darauf beschränkt zu betonen, die Unterwerfung der Natur durch den Menschen sei nicht von dem Herrschaftsauftrag der Schöpfungserzählung her zu begriinden. 45 Zwar wird man gegen einen derartigen Vorwurf einwenden können, daß die Erzählung auch davon spricht, daß der Herrschaft des Menschen von Gott her Grenzen gesetzt waren, die der Mensch nicht geachtet hat. 46 Doch daß es mit der Einstellung des Herrschaftsauftrags in das Ganze der biblischen Urgeschichte nicht 43 V gl. u. a. E. J. Bauer; Die Schöpfungs wirklichkeit als ontische Bedingung der Möglichkeit personaler Freiheit. Zum Schöpfungsverständnis nach Thomas, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 42 (1997), 7 -28. 44 C. Westennann. Schöpfung, erw. Studienausgabe, Stuttgart 1983 (Themen der Theologie, Bd. 12), 8. 45 Vgl. C. Amery. Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums. Reinbek bei Harnburg 1972. 46 G. Liedke. Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie, Stuttgart 31985, 69 f.

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getan ist, ist schon aus der Tatsache ersichtlich, daß Heidegger und, seinen Ansatz aufgreifend, G. Picht aufweisen konnten, daß der Selbstentwurf des Menschen als eines autonomen Wesens ohne sein schöpfungstheologisches Fundament geschichtlich nicht verstanden werden kann. Der Schöpfungsglaube erkennt das Ganze des Seienden als ein in seinem Sein durch Gott begründetes an. Das Geschehen der Gründung des Seienden, so führt Heidegger in seinen "Beiträgen zur Philosophie" aus, werde gedeutet durch den Begriff der "pro-ductio", welcher im Kontext des Schemas von actus et potentia, essentia und existentia verständlich werde. 47 In ihm komme das Geschaffene nur noch zur Sprache als Produkt ("Gemächte,,48) dessen, der es gemacht, d. h. verursacht habe. "Auch wenn man ein grobes Ausdeuten der Schöpfungsidee sich versagt, so bleibt doch wesentlich das Verursachtsein des Seienden".49 Damit korreliere die Auslegung Gottes als der Ursache schlechthin, der causa suL Die Auslegung des Seienden als eines Verursachten einerseits und Gottes als der Ursache schlechthin andererseits ist nach Heidegger der geschichtliche Grund dafür, daß Descartes sich genötigt erfuhr, nach dem Grund schlechthin zu fragen, in dem das Denken, in dem Sein gegeben ist, sein Fundament hat. Als der Grund schlechthin gilt ihm das Subjekt aufgrund jener Selbstgewißheit, die sich in dem Satz "cogito, sum" ausspricht. 5o Von ihm her ist dann auch die Objektivität der Objekte zu begründen. Ihrer kann man sich in den Grenzen sicher sein, in denen die Objekte als deutliche vorstellbar sind. 51 Von daher vertritt Heidegger die These, seit Descartes könne nur noch das als seiend gelten, was das Subjekt sich als Objekt deutlich vor- und derart sicherstellen kann. Und oben wurde schon gesagt, daß das nur bei jenen Sachverhalten der Fall ist, die mittels mathematischer Gesetze zu beschreiben sind. Unter solchen Voraussetzungen aber kann die Frage nach der Subjektivität des Subjektes, seiner Freiheit, und mit ihr die nach dem Sinn des menschlichen Daseins nicht mehr Sache der Wissenschaften sein. Die Unterscheidung von Mensch und Natur wird zur unüberbrückbaren Kluft, welche die Objekte der Wissenschaften auf der einen Seite von der Menschlichkeit des Menschen, nach der wissenschaftlich nicht einmal gefragt werden kann, auf der anderen Seite scheidet. 47 M. Heidegger; Beiträge zur Philosophie, 126 f.; Ders., Grundprobleme der Phänomenologie, 108-171, bes. 167 f. Vgl. dazu ausführlicher G. Pö[tner; Martin Heideggers Kritik arn Begriff der creatio, in: Heidegger und das Mittelalter. Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997, hg. von H. Vetter, FrankfurtlM u. a. 1999,61-80. 48 M. Heidegger; Beiträge zur Philosophie, 111. 49 Ebd., 126 ff. 50 Vgl. R. Descartes, Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie, lateinisch-deutsch, hg. von L. Gäbe, Harnburg 1959 (insbes. die zweite Meditation). 51 Vgl. R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, lateinisch-deutsch, kritisch revid., übers. und hg. von H. G. Zekl, Harnburg 1973, 6: "Circa illa tantum objecta oportet versari, ad quorum certarn et indubitatarn cognitionem nostra ingenia videtur sufficere."

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Wir werden auf die Kritik Heideggers und Pichts an anderer Stelle ausführlicher zu sprechen kommen. Sie nötigt dazu, nochmals zu fragen, ob es überhaupt denkbar ist, daß die Theologie die Folgen der Selbstauslegung des Menschen als des seiner selbst gewissen ego cogito destruieren kann, oder ob ihr nur die Möglichkeit gegeben ist, die Spaltung von res cogitans und res extensa, Subjektivität und Objektivität, in ihren eigenen Ansätzen aufzugreifen. Die Schöpfungstheologie des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist den angesprochenen Weg gegangen. So hat F. D. Schleiennaeher den Schöpfungsglauben reduziert auf die Anerkennung der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott, die dem Menschen als religiöses Grundgefühl erschlossen ist. Zwar setzt Schleiennaeher voraus, daß der Mensch sich nur in eins mit der Natur, deren Teil er ist, als abhängig erfahren kann. Da es sich bei dem religiösen Grundgefühl aber um ein existentielles Phänomen handelt, können die Wissenschaften nach Schleiermacher weder an ihm, noch an der Auslegung der Natur als Schöpfung ein Interesse haben. Auch nach R. Bultmann kann der Grund des Schöpfungsglaubens nur das "existentielle Selbstverständnis des Menschen" sein, was nach eh. Link zu einer Aufhebung der Schöpfung in die Geschichte führt. 52 Zwar sei ein solcher Vorwurf in bezug auf K. Barths schöpfungstheologische Konzeption ·nicht berechtigt. Sein Entwurf einer Schöpfungstheologie stehe aber noch insofern im Gefolge Schleiennachers, als auch für ihn das Sprechen von der Schöpfung seinen Anhalt nur finden könne in den geschichtlichen, d. h. existentiellen Erfahrungen des Menschen. 53 Daraus folge für Barth, daß die Aussagen der Naturwissenschaften für die Schöpfungstheologie nicht als relevant zu betrachten sind, was zum Abbruch des Gesprächs mit den Naturwissenschaften einerseits, zur Absage an die natürliche Theologie andererseits geführt habe. Zwar hat die katholische Theologie immer darauf bestanden, "daß Gott [ ... ] mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann,,54. Dadurch kam es in ihr nie zum prinzipiellen Bruch mit den Naturwissenschaften. Doch auch auf Seiten der katholischen Theologie kam es Anfang des Jahrhunderts zu jener anthropologischen Wende, die dazu führte, daß die kosmologische Relevanz des Schöpfungsglaubens nicht mehr mit jener Deutlichkeit zur Sprache kam, deren es bedurft hätte, um der Herrschaft des Menschen über die Natur Grenzen zu setzen. Es ist daher keinesfalls selbstverständlich, daß mit der Einsicht, daß uns die Wissenschaften, sofern sie sich als reine Tatsachenwissenschaften begreifen, keine Auskunft bezüglich des "Sinnes der Welt", d. h. dessen, worum es uns in unserem Handeln denn gehen sollte, und folglich auch bezüglich ethischer Grundfragen ge-

eh. Link, Schöpfung, bes. 334 f. K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. 3,1-4: Die Lehre von der Schöpfung, Zollikon / Zürich 1957 ff. 54 Vgl. H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verb., erw., ins Deutsche übertr. und unter Mitarbeit von H. Hoping hg. von P. Hünerrnann, Freiburg/Basel/Rom/Wien 37 1991, 3004. 52

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ben können,55 eine Zeit begann, in der auch von Seiten der Naturwissenschaften das Gespräch mit der Theologie gefordert wurde. 56 Unter denen, die ein solches Gespräch begonnen haben, ist vor allem W. Heisenberg zu nennen. In seiner Schrift "Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit" hat er davor gewarnt, die Frage nach den Prinzipien der Ethik in Anbetracht des wissenschaftlichen Fortschritts für beantwortet zu halten. Immer noch sei die Besinnung erforderlich, "auf die in der Sprache der Religion ausgedrückte menschliche Grundhaltung, aus der die ethischen Prinzipien stammen"57. Heisenberg fordert demnach, religiöse und naturwissenschaftliche Wahrheit und die ihnen entsprechenden Sprachen zu unterscheiden. Er setzt voraus, daß den unterschiedlichen Sprachspielen, in denen sich die Naturwissenschaften einerseits, die Theologie andererseits bewegen, unterschiedliche Wahrheiten entsprechen, so daß man annehmen kann, daß sie einander gerade aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen können und sollten. Dabei gibt er aber zu bedenken, ob es möglich sein wird, jene menschliche Grundhaltung, die das Fundament der Ethik sein könnte, "noch einmal in der alten religiösen Sprache auszudrücken" 58. Auch uns erscheint es als fraglich, ob die alte religiöse Sprache den "Geschöpflichkeitsdefiziten" unserer Zeit, die in der Beherrschung der Natur durch den Menschen greifbar werden, noch wehren kann. 59 Denn sie scheint immer noch bestimmt zu sein durch die unkritische Übernahme der Scheidung von Natur und Freiheit, deren Folge es ist, daß die Natur nur als das Ganze der Objekte verstanden werden kann, welches mittels der Naturwissenschaften zu erklären ist, und der Mensch als das Subjekt, dessen Freiheitsgeschichte wissenschaftlich nicht einmal in Frage gestellt werden kann. Solange nicht gezeigt werden kann, inwiefern die unterschiedlichen Wahrheiten und die ihnen entsprechenden Sprachspiele sich nicht widersprechen, wird der Mensch Probleme bekommen, sich als ein Geschöpf im Ganzen der Schöpfung, die sich ihm auch als wissenschaftlich zu begreifende Natur darstellt, zu verstehen. Unserer Absicht widersprechen daher alle Ansätze, die der Konstitution einer Einheitswissenschaft von Naturwissenschaften und Theologie das Wort reden. 60 Anders als Brockman vertreten wir aber auch 55 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die tranzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die transzendentale Phänomenologie, hg. von W. Biemel, Den Haag 1954 (Husserliana, Bd. 6), bes. 4 f.; L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Schriften, Bd. I, Frankfurt/M. 1963. 56 Vgl. A. Ganoczy, Schöpfungslehre, 2. erw. Auf!, Düsseldorf 1987 (Leitfaden Theologie, Bd. 10), 149-154. 57 W. Heisenberg, Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von W. Blum, H.-P. Dürr und H. Rechenberg, Abt. C, Bd. 3: Physik und Erkenntnis 1969-1976, München/Zürich 1985,422-439, bes. 438. 58 Ebd.439. 59 A.M.K. Müller; Geschöpflichkeitsdefizite in Naturwissenschaft und Theologie, in: ders./ P. Pasolini / D. Braun, Schöpfungsglaube heute, Neukirchen-Vluyn 1985, 9 - 85. 60 Solche Modelle werden dargestellt von R. Esterbauer; Verlorene Zeit - wider eine Einheitswissenschaft von Natur und Gott, Stuttgart / Berlin / Köln 1996. Zutreffend kritisiert er auch den Ansatz von W. Pannenberg. Unter den Arbeiten Pannenbergs sind zu nennen: Kon-

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nicht die These, eine Aufhebung der Geistes- in die Naturwissenschaften sei erforderlich. Vielmehr fordern wir ein Gespräch, in dem nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Theologie den Unterschied der Sprachen achtet. Doch um einem solchen Gespräch ein sicheres Fundament zu geben, ist aufzuweisen, inwiefern denn das naturwissenschaftliche Sprechen von der Wirklichkeit durch deren theologische Deutung ergänzt werden kann. 61 Dazu ist nicht nur zu verdeutlichen, worin sich denn die Wahrheit der Naturwissenschaften von der der Theologie unterscheidet, sondern auch danach zu fragen, auf welchem Wege denn die Kluft von der einen zur anderen Sprache, der einen zur anderen Wahrheit, überbriickt werden kann. Dabei ist insbesondere das Verhältnis der Sinnfrage, welche sich uns als die Frage nach dem Prinzip der Ethik stellt und die die Theologie als ihre Sache beansprucht, zum naturwissenschaftlichen Verständnis der Wirklichkeit zu bedenken. Dazu setzen wir voraus, daß das Denken selbst sich nur als ein von Grund auf geschichtliches Denken verstehen kann. Jede Reflexion auf das Denken und seine Möglichkeiten, die Welt zur Sprache zu bringen, begreift in sich eine geschichtliche Besinnung. Darum wird man nicht umhin kommen, der Aufforderung zu einer Besinnung auf die Geschichte der Philosophie, die nicht nur Husserl, sondern auch Heidegger in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eindringlich ausgesprochen haben, nachzukommen. Dabei gilt unser Interesse vor allem jenem geschichtlichen Augenblick, in dem die Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität ihre philosophische Begriindung erfuhr dadurch, daß der Mensch sich selbst als das autonome Wesen deutete, das dem Gesetz der Natur nicht schlechthin unterworfen ist. Unsere Absicht ist es dabei nicht, den neuzeitlichen Selbstentwurf des Menschen in Frage zu stellen. Doch in Anbetracht der Tatsache, daß er trotz seiner theologischen Wurzeln jene Herrschaft des Menschen über die Natur ermöglichte, die dazu führen sollte, daß der Schöpfungsglaube zum Problem geworden ist, halten wir die Zeit für gekommen, daß die Theologie die Herausforderung, die der Autonomiebegriff für sie darstellt, annimmt.

5. Auf dem Weg in ein Gespräch Unsere Frage nach dem möglichen Fundament für ein unseren Glauben an die Geschöpflichkeit des Menschen und die Geschaffenheit der Welt betreffendes Getingenz und Naturgesetz, in: A. M. Müller/W. Pannenberg, Erwägungen zu einer Theologie der Natur, Gütersloh 1970, 33 - 80; Schöpfungstheologie und modeme Naturwissenschaft, in: Gottes Zukunft. Zukunft der Welt. FS für J. Moltmann, hg. von H. Deuser u. a., München 1986, 276-291; Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, bes. 102 ff.; Theologie der Schöpfung und Naturwissenschaft, in: J. Dorschner/M. Heller/W. Pannenberg, Mensch und Universum. Naturwissenschaft und Schöpfungsglaube im Dialog, Regensburg 1995, 146 - 162. 61 Um zu begründen, daß eine solche Ergänzung möglich ist, hat A. Ganocz:y das in den Naturwissenschaften angewandte Komplementaritätsprinzip in die Nähe zur theologischen Analogielehre gebracht (A. Ganoczy, Schöpfungslehre, 153). Es gilt aber, die Berechtigung des analogen Sprechens eigens deutlich zu machen.

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spräch mit den Naturwissenschaften erteilt allen Ansätzen, die nur darauf verweisen, daß Schöpfung ein transzendentales Geschehen bedeute, von dem es schlechthin kein Wissen geben könne, eine Absage. Wer Gott und seine Schöpfungstätigkeit dem schlechthin Unwißbaren zu- und einordnet, immunisiert sich nicht nur wider alle Einreden der Wissenschaften,62 er verurteilt Gott auch zu jenem "Lückenbüßer", der zum Rückzug gezwungen ist, sobald sich die Grenzen des Wißbaren erweitern63 . Um Gottes willen, aber auch um einer gesprächsfähigen Theologie willen, die auch unserer Zeit noch das Ihre zu sagen hat, wollen wir uns der Herausforderung stellen, welche die Naturwissenschaften für die Theologie, insbesondere durch ihre physikalischen Theorien von Anfang und Geschichte der Welt bedeuten. Wer aber einer Herausforderung nicht einfach aus dem Weg gehen will, muß zur Kenntnis nehmen, was der andere zu sagen hat. Denn nur dann kann er auch das, was er als das Seine in das Gespräch einbringen kann und will, auf eine Art formulieren, die dem anderen zu verstehen gibt, daß ihn das, was der andere sagt, auch angeht, von woher es ihm dann auch in seiner Bedeutung für ihn verständlich werden kann. Nur sofern die Rede von der Schöpfung als eine für die Lebenspraxis des Menschen insgesamt bedeutsame ausgewiesen werden kann, ist sie mehr als nur eine "Privatsprache, die man unter Ausschaltung der Vernunft schlicht glauben muß und die im Außen ihrer selbst unverständlich ist,,64. Die Theologie, insbesondere die Schöpfungstheologie, muß sich selbst verständlich machen, indem sie in die Zeit und auf sie zu redet, wobei es problematisch ist, bezüglich dessen von einem "Außen" zu sprechen. Der erste Teil unserer Arbeit, der sich insgesamt als ein einleitender versteht, hat folglich die Funktion, die naturwissenschaftliche, insbesondere physikalische Rede vom Anfang der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Dabei gehen wir aus von A. Einsteins Einsicht in die Verknüpfung von Zeit, Raum und Materie, welche als die grundlegende Einsicht für das zur Zeit gültige Standardmodell des Universums an62 Gegen solche Immunisierungsstrategien wendet sich insbesondere U. Lüke, "Als Anfang schuf Gott ... " Bio-Theologie. Paderbom/München/Wien/Zürich 1997; ders., Unübersichtliche Grenzverläufe. Die Schöpfungslehre angesichts der gegenwärtigen Evolutionsbiologie, in: Herder-Korrespondenz 53 (1999),453-457. 63 Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, Gütersloh 15 1944, 162 f.: ,,Es ist mir ganz deutlich geworden, daß man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann - was sachlich zwangsläufig ist - sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter hinausschieben, wird mit ihnen auch Gott immer weiter weggeschoben und befindet sich demgemäß auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein." 64 H. J. Sander, Das Wort vom Anfang. Die Rede von Gott vor dem Urknall der Zeit, in: ThPh 74 (1999) 161-182, bes. 163. Sander macht zutreffend darauf aufmerksam, daß sich auch das I. Vatikanum (H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse 3017 - 19 und bes. 3033) wider einen solchen Fideismus ausgesprochen hat.

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gesehen werden kann 65 . Diesem zufolge hat das Universum einen Anfang und eine in seinem Anfang selbst begründete Geschichte. Der Anfang stellt sich physikalisch dar als eine Singularität, d. h. ein Zustand, der nicht berechnet werden kann. In ihn rechnend zurückzugehen, ist unmöglich, der Weg ist ungangbar, als sei er durch die Grenze der Berechenbarkeit, die man auch die Plancksche Mauer nennt, verbaut. Es versteht sich, daß die Physik wider sie anzudenken begann. Es kam zur Ausbildung von Weltmodellen, denen gemeinsam ist, daß sie die Anfangssingularität zu beseitigen bestrebt sind. In ihrem Gefolge steht auch das Modell des inflationären Universums. Denn in ihm wird nicht nur von einer inflationären Ausdehnung unseres Universums unmittelbar nach dem Anfang ausgegangen, sondern auch als möglich angesehen, daß es unterschiedliche Universen geben könnte mit ganz unterschiedlichen Geschichten. Auch auf St. W. Hawking wird man zu sprechen kommen müssen, sieht er doch, bestrebt die unterschiedlichen Modelle des Universums zu einer einheitlichen Theorie zu vereinigen, überhaupt keinen Platz mehr für den Schöpfungsgedanken66 . Die Theologie kann keine Entscheidung für oder wider ein bestimmtes Modell des Universums treffen. Denn ihre Rede von der Schöpfung ist kein Kriterium für die Wahrheit eines naturwissenschaftlichen Modells und möchte auch kein solches sein. Deren Kriterien können nur naturwissenschaftlicher Art sein. Die Theologie, die von alters her mit der Philosophie Hand in Hand arbeitet, kann aber nach den Folgen und nach den Bedingungen der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Theoriebildung fragen und sie kann ihre Frage auch auf die Theorien der Entstehung des Universums anwenden. Dabei wird dann aber sichtbar, daß der mit dem Namen Einsteins verbundene Übergang zu den angesprochenen Theorien verknüpft ist mit einem gewandelten Verständnis der Zeit, in der die Zeit in ihrer Abhängigkeit vom beobachtenden Subjekt erkannt und anerkannt wird. Sie wird nun begriffen als ein vom beobachtenden Subjekt und dessen Stellung abhängiger Horizont, in dem Beobachtung möglich, durch den sie aber auch in ihre Grenzen verwiesen wird. Von daher ergibt sich dann die Möglichkeit einer Pluralisierung des Zeitbegriffs, die insbesondere von I. Prigogine und J. Stengers als Weg der Naturwissenschaften auf die Philosophie zu anerkannt wurde. 67 Der entscheidende Schritt in der philosophischen Deutung der Zeit geschieht durch Kant, der in der "Kritik der reinen Vernunft" (KRV) den Nachweis erbringt, daß die als Horizont der auf Beobachtung aufbauenden Erkenntnis der Natur fungierende Zeit eine in der Einbildungskraft des Subjekts erbildete Vorstellung ist. 68 65 Einen ersten Überblick zur Geschichte der Kosmologie geben u. a.: R. Koltermann, Grundzüge der modemen Naturphilosophie. Ein kritischer Gesamtentwurf, Frankfurt I M. 1994,43; W. Wild, Die Entstehung des Kosmos. Zum Erkenntnisstand der modemen Physik, in: Der Kosmos als Schöpfung. Zum Stand des Gesprächs zwischen Naturwissenschaft und Theologie, hg. von J. Dorschner, Regensburg 1998, 15 - 41. 66 St. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 148 f. 67 l. Prigogine / I. Stengers, Dialog mit der Natur, Vorwort, If. 68 KRV B 49 ff.l A 33 ff.

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Zeit bildet sich als Horizont aus, indem ein Subjekt, nach Erkenntnis strebend, auf solches zugeht, das es beobachten will. Von Zeit kann daher nach Kant auch nur in der Anwendung auf solches, das beobachtet werden kann, da es anschaulich gegeben ist, gesprochen werden. Dabei dringt Kant nicht zur Einsicht in die Pluralität der Zeitbegriffe vor. Für ihn kann die Zeitvorstellung nur eine sein, nämlich die einer einheitlichen Abfolge von Zeiteinheiten, die als ermöglichender Horizont unserer Naturerkenntnis fungiert. Daraus kann dann aber gefolgert werden, daß die Erbildung des Zeithorizontes selbst kein Geschehen ist, das in der Zeit geschieht. Für Kant bedeutet das, daß mit solchem zu rechnen ist, das im Horizont von Zeit nicht vorstellig gemacht werden kann: mit dem Geschehen von Freiheit. Für Kant kommt alles darauf an, die Freiheit zu retten,69 und zwar dadurch, daß die Möglichkeit von Geschehnissen, die nicht durch ihre Einordnung in den Horizont der ablaufenden Zeit verständlich zu machen sind, ausgewiesen wird. Alle Akte der Freiheit sind, falls es solche überhaupt gibt, zeitlose, d. h. dem Gesetz der Zeit nicht unterworfene Geschehnisse. 7o Auch Schöpfung kann nur als Geschehen von Freiheit gedacht werden. 71 Das sieht auch Kant: "Die Schopfung (Anfang) entspringt aus freyheit."nVon daher ergibt sich für uns die Aufgabe, die Transzendentalität des Schöpfungsgeschehens verständlich zu machen durch den Nachweis, daß die Zeitvorstellung streng von dem Schöpfungsgeschehen abzusondern ist. Soll Schöpfung überhaupt gedacht werden, kann sie nur gedacht werden als ein Geschehen "vor" aller Zeit, ein Geschehen, das nicht in die abgelaufene oder ablaufende Zeit eingeordnet werden kann. Davon spricht auch schon Augustinus. 73 Anders als Kant stand aber Augustinus noch nicht vor der Aufgabe, die Möglichkeit von solchem, das nicht in der Zeit geschieht, nachzuweisen. Mit dem Ausweis der Schöpfung als einem transzendentalen Geschehen ist aber nur gesagt, was Schöpfung nicht sein kann: ein Geschehen in der Zeit. Soll das Geschehen dennoch eine Bedeutung für uns haben, wird man sich allerdings nicht darauf begrenzen können, auf dessen Transzendentalität zu verweisen, sondern man wird nach Zugängen zu fragen haben, in denen sich der Gedanke der SchöpVgl. KRV B XXVII-XXX; B 5641 A 536; KPV A 181 (AA Bd. 5, 101). Vgl. KRV B 579 ff.1 A 551 ff. 71 Daß Schöpfung nur als freies Handeins Gottes gedacht werden kann, findet in der Schöpfungstheologie allgemeine Anerkennung. Vgl. W Kern, Zur theologischen Auslegung des Schöpfungsglaubens, in: Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, hg. von J. Feiner und M. Löhrer, Bd. 2: Die Heilsgeschichte vor Christus, Einsiedeln/Zürichl Köln 1967, 440 - 545, bes. 494 ff. Vgl. auch N. Fischer, Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? 65 mit Bezug auf W Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 2, 15. 72 Refl. 4142 (AA. Bd. 17,431) sie. Vgl. Kants Bestimmung des lebendigen Gottes als eines freien Wesens, "das aus eigener Willkühr [ ... ] der Welt ihr Daseyn gegeben hat" in seiner Vorlesung über Rationaltheologie (AA Bd. 28, 1001 f.). 73 Vgl. Augustinus, Confessiones, XI. Buch, 627. 69

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fung in unserem Leben selbst als für uns bedeutsam erweist. Wer aber danach fragt, wodurch sich ihm ein Zugang zu dem Geschehen der Schöpfung erschließt oder erschließen könnte, fragt auch nach den Zugängen zu solchen Geschehnissen überhaupt, die nicht in die ablaufende Zeit einzuordnen sind, sondern als Ereignisse der Freiheit unseren Zeithorizont als den äußersten Horizont des Denkens selbst in Frage stellen. Er fragt, ob solche Ereignisse überhaupt möglich sind und als solche gedacht werden können. Kant gibt dazu eine eindeutige Auskunft: nur die Einsicht, zur Sittlichkeit verpflichtet zu sein, kann uns Zugang zur Freiheit verschaffen. 74 Das bedeutet aber, daß Kants kritische Philosophie und der in ihr vertretene "Primat der praktischen Philosophie in ihrer Einheit mit der spekulativen,,75 die Schöpfungstheologie vor die Aufgabe stellt zu fragen, ob es nicht die sittliche Einsicht ist, in der sich uns unsere Geschöpflichkeit und mit ihr die Geschaffenheit der Welt erschließt. Bekommt das Sprechen von der Schöpfung von dort her oder doch primär von dort her seine Bedeutung?76 Gilt unser Interesse im zweiten Teil Kants theoretisch-spekulativer Philosophie, wenden wir uns im dritten Teil seiner praktischen Philosophie zu, um uns von ihr her auf die Möglichkeit eines Sprechens von der Schöpfung verweisen zu lassen. Soll die Verteidigung der Rede von der Schöpfung als einer lebens praktisch bedeutsamen Rede, welche ihrer Strategie nach auf die sittliche Einsicht setzt, nicht doch in eine Immunisierungsstrategie umschlagen, wird es erforderlich sein, zu fragen, ob der Gedanke der sich in der sittlichen Einsicht erschließenden Freiheit als eines zeitlosen Geschehens und mit ihm der Glaube an ein Schöpfungsgeschehen, welches als unzeitlich zu begreifen ist, verständlich gemacht werden kann, und zwar auch hinsichtlich eines naturwissenschaftlich bestimmten Bewußtseins. Nun ist Kants Frage nach der Zeit in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und nochmals gewandelt gestellt worden. Die Arbeit der Phänomenologie galt dem Ausweis, daß die ablaufende, als Horizont der Naturerkenntnis fungierende Zeit sich bildet in der Subjektivität des Subjektes, die man zwar mit Kant als zeitlos ansehen kann, da ihr Vollzug als Bedingung der Möglichkeit horizontaler Zeit nicht mittels derselben vorstellig zu machen ist, die aber eine eigene zeitliche Struktur aufweist, die auszuarbeiten nur mittels einer eigenen Begrifflichkeit möglich ist. Deren Ausarbeitung hat sich insbesondere M. Heidegger zur Aufgabe gemacht. Von seiner Deutung des Daseinsgeschehens als des Geschehens einer ekstatischen Zeitigung, in der sich die Zeit als Horizont des Verstehens erbildet, wird es möglich, die für Heidegger mit dem Sein als der Zeitigung des Daseins einige Freiheit als an sich schöpferisch zu begreifen. 77 74 Nach Kant ist die Sittlichkeit ratio cognoscendi der Freiheit, vgl. KPV A 5, Anm. (AA Bd. 5, 4, Anm.). 75 Vgl. KPV A 215 (AA Bd. 5, 119). 76 Zu der Fragestellung vgl. B. Casper, Was kann die Rede von Schöpfung bedeuten?, insbes. 164-167.

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Von daher legt es sich nahe, das zu fundierende Gespräch mit den Naturwissenschaften nicht allein im Ausgang von Kant zu suchen, sondern auch die Phänomenologie, insbesondere die hermeneutische Phänomenologie Heideggers einzubringen. Das wird dadurch geschehen, daß in dem einleitenden ersten Teil den Zeitmodellen der Naturwissenschaften die Zeittheorien der Phänomenologie an die Seite gestellt werden, um fragen zu können, an welcher Stelle denn Übergänge möglich werden. Dann wenden wir uns, geschichtlich zurückgehend, der Zeittheorie Kants zu, die insofern nicht als das letzte Wort zum Problem der Zeit zu gelten hat, als sie zwar die Subjektivität als den Ursprung der Erbildung horizontaler Zeit, nicht aber diese in ihrer eigenen Zeitigung zu denken vermag. 78 In unserer Ausarbeitung der Grundgedanken der kritischen Theorie Kants kommt es uns dann u. a. auch darauf an, aufzuweisen, daß es möglich ist, die phänomenologische Idee der Zeitigung der Zeit mit Kants Idee der Freiheit zu verknüpfen, d. h. aber das von Kant als zeitlos gedachte Geschehen der Freiheit als ein Geschehen der ekstatischen Zeitigung zu deuten, in dem es in eins mit der Erbildung des Zeithorizontes zur Ausbildung einer Welt kommt, die aber als eine dem Gesetz der Zeit unterworfene Welt durchsichtig gemacht werden kann auf eine andere Welt zu, die man als Welt der Freiheit nur aus ihrer Korrelation zum Schöpfungswillen eines freien Wesens begreifen kann. Es bedarf noch eines Wortes zu den Grenzen der Arbeit, sofern sie sich aus deren Ansatz ergeben. Die Arbeit greift den Ansatz einer hermeneutischen Phänomenologie in ihrer Grundlegung durch M. Heidegger auf. Das hat zur Folge, daß unser Bestreben nicht darauf geht, eine Entscheidung über die Wahrheit des Schöpfungsglaubens in der Art eines Beweises ihrer Faktizität vorzulegen. Abgesehen davon, daß Kant die Unmöglichkeit eines Beweises nachweisen konnte, ist auch das Streben nach Beweisen insofern problematisch, als es sich bei der Rede von der Schöpfung um eine Sprache des Glaubens handelt, mit deren Wahrheit als solcher ihre Unbeweisbarkeit verknüpft ist. Wer phänomenologisch fragt, strebt keine Beweise an, sondern er fragt nach den Zugängen, von denen her sich ein Sachverhalt - und als solcher sei der Glaube an die Schöpfung angesetzt - erschließt, und zwar ursprünglich. Den Grundsatz "fides quaerens intellectum" phänomenologisch wendend, wird er danach fragen, warum das von ihm Geglaubte ihm auch verständlich ist, d. h. eine Bedeutung für ihn hat. Und er wird voraussetzen, daß sich Bedeutungen nur zu verstehen geben in der Korrelation zu den Zugängen, in denen sie sich erschlossen haben oder erschließen werden. 79 Wodurch also finden wir ur77 M. Heidegger; Vorn Wesen des Grundes, in: ders., Wegmarken (1919-1961), hg. von E-W. von Herrrnann, Frankfurt/M. 1976 (GA), 123 -175, bes. 158-167. 78 Daß es auch keinesfalls Kants Absicht war, die Subjektivität des Subjektes als eine sich zeitigende zu denken, ist angesichts der von Heidegger selbst als problematisch erkannten Deutung der KRV durch den Phänomenologen eigens zu betonen. Vgl. M. Heidegger; Kant und das Problem der Metaphysik, hg. von E-W. von Herrrnann, Frankfurt/M 1991 (GA 3), XIV (Vorwort). 79 Vgl. B. Casper; Vollzugssinn und objektgeschichtliche Methode, in: Kirche und Theologie im kulturellen Dialog, hg. von B. Fraling u. a., Freiburg 1994, 33 - 42; St. Bohlen, Un3*

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sprünglich einen Zugang zu unserer eigenen Geschöpflichkeit und zu der Geschaffenheit von Sein überhaupt, wodurch bekommt sie für uns ihre Bedeutung? Mit Heidegger kann man voraussetzen, daß sich die Zugänge zu dem, was es zu denken gilt, nur im Lebensvollzug ergeben können. Das hat zur Folge, daß das Streben nach Verständnis auch in Bezug auf den Glauben an die Schöpfung nur als Rückgang in das Leben selbst vollzogen werden kann. Auslegung des Glaubens kann es nur geben als Auslegung des Lebens, als "Hermeneutik der Faktizität".8o Heideggers Kritik zufolge ist der Lebensvollzug, der für unsere Auslegung des Schöpfungsglaubens bislang der bestimmende war, das "Machen". Danach fällt das Geschaffene mit dem von Gott Gemachten in eins. Sollte es möglich sein, die Einsicht in die sittliche Verpflichtung als einen Lebensvollzug sichtbar zu machen, an dem die Rede von der Geschöpflichkeit des Menschen ihren Anhalt haben kann, dürfte ein "Paradigmenwechsel" in der Theologie möglich werden, der eine Antwort sein könnte auf die angesprochenen Probleme unserer Zeit. Eine andere Grenze der Arbeit ist dazu vorgreifend zu benennen. Die Frage, ob auch in unserer Zeit noch verständlich von der Schöpfung die Rede sein kann, gibt nicht nur die Problematik an, die uns zur Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie bewegt, sondern auch die Hinsicht, unter der sie geschieht. Das hat zur Folge, daß es uns weder darum zu tun ist, eine umgreifende Kantdeutung auszuarbeiten, noch auch die strittigen Punkte der Kantinterpretation eingehend zu behandeln. Uns geht es allein darum, in einem, bewußt an den Texten Kants selbst orientierten Nachvollzug seines Ansatzes Gesichtspunkte für das Sprechen von der Schöpfung ausfindig zu machen.

11. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften 1. Die Naturwissenschaften vor dem Paradox der Zeit

Bevor der Schritt zurück in die Geschichte unseres Denkens vollzogen werden soll, ist daran zu erinnern, daß unser durch und durch technisiertes Verhältnis zur Natur undenkbar wäre, wäre nicht jene Wandlung von der Naturforschung zu den Naturwissenschaften erfolgt, die Kant als die "kopernikanische Wende" der Wissenschaften bezeichnet hatSl . Wer mit den Naturwissenschaften in ein Gespräch über die Frage nach unserer Welt und der Möglichkeit ihrer Deutung als Schöpfung terwegs zu einer lebendigen Theologie. Heideggers Phänomenologie des religiösen Lebens, in: Denkend vom Ereignis Gottes sprechen. Die Bedeutung der Philosophie in der Theologie, hg. von St. Bohlen u. a., Freiburg 1997, 13-32. 80 M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), hg. von K. Bröcker-Oltmanns, Frankfurt/M. 1988 (GA 63). 81 Vgl. KRV B XVI.

11. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften

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eintreten will, kann nicht umhin, sich darüber klar zu werden, inwiefern es nach Ansicht Kants in den Naturwissenschaften einer "Revolution ihrer Denkart" bedurfte, damit sie sich fortan als Wissenschaften in der strengen Bedeutung des Wortes begreifen konnten. Kant setzt die in Frage stehende Wende mit der Einsicht in eins, "daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt. ,,82 Danach sind die Möglichkeiten naturwissenschaftlicher Erkenntnis a priori begrenzt dadurch, daß nur solche Erfahrungen verständlich werden können, die im Horizont von Entwürfen, die die Vernunft selbst hervorbringt, gedeutet werden können. Einerseits sind daher naturwissenschaftliche Einsichten fundiert in der empirischen Erfahrung. Andererseits begründen sich die Einsichten der Naturwissenschaften in den Horizonten des Verstehens, die der Verstand dem empirisch Gegebenen vorwirft. Dabei kann weder rein empirisch noch auch rein logisch bewiesen werden, daß die von der Vernunft entworfenen Horizonte dem empirisch Erfahrbaren auf eine Art vorgeworfen werden können, die dessen Verstehen ermöglicht. Das aber ist erforderlich, soll es Naturwissenschaften als solche Wissenschaften, die nicht nur subjektive Erfahrungen mitzuteilen vermögen, sondern objektiv gültige Aussagen über das Gegebene machen können, überhaupt geben. 83 Für Kant verdichtet sich die Frage nach der Möglichkeit sowohl der Naturwissenschaften als auch der Metaphysik zu der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze apriori. 84 Denn falls es sich bei den naturwissenschaftlichen Sätzen in der Tat um objektiv gültige Aussagen handelt, können sie ihr Fundament nicht allein in der Sinnlichkeit haben, sofern sinnliche Erfahrungen nur subjektive Erfahrungen sein können. Es muß sich um apriorische Sätze handeln. Als objektiv gültige Sätze müssen sie dennoch auf die sinnlichen Erfahrungen anwendbar sein, soll in ihnen überhaupt die Realität, die sich in der Sinnlichkeit gibt, zur Sprache kommen. Für Kants Gedankengang, in dem die Anwendbarkeit der apriorischen Entwürfe der Vernunft auf das sinnlich Gegebene nachgewiesen wird, ist die Einsicht grundlegend, daß es sich bei allen sinnlichen Erfahrungen um Erfahrungen von in räumlicher und zeitlicher Anschauung Gegebenem handelt. Sofern sich Realität überhaupt zu erfahren gibt, gibt sie sich als eine Erscheinung in Raum und Zeit, die als apriorische Anschauungsformen zu deuten sind. Da sie es sind, die eine Anwendung der apriorischen Entwürfe der Vernunft auf das sinnlich Gegebene möglich machen, kann nur solches verstanden werden, das in Raum und Zeit erscheint. Folglich hat das naturwissenschaftliche Verstehen eine Grenze. Es ist begrenzt auf räumliche und zeitliche Erscheinungen. Ob es "jenseits" dieser Grenze überhaupt ein Verstehen geben kann, wird zu fragen sein. KRV B XIII. In der Kritik der reinen Vernunft sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: Wie ist reine Mathematik möglich? Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich? Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Vgl. KRV B XXff. 84 KRV B 19. 82 83

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

Von daher legt es sich nahe, das Gespräch mit den Naturwissenschaften dadurch zu eröffnen, daß die Begriffe von Raum und Zeit geklärt werden. Dabei ist für uns insbesondere die Frage nach der Zeit interessant, da anzunehmen ist, daß sich von dorther die Möglichkeit ergeben könnte, die Naturwissenschaften in das Gespräch mit der Philosophie, und zwar einerseits mit der kritischen Philosophie Kants, andererseits auch mit der an den Fragen zur Zeitigung interessierten Phänomenologie zu bringen. 85 Die Frage, was denn Zeit sei und welche Bestimmungen ihr zugesprochen werden können, ist auch für die Naturwissenschaften unserer Tage eine noch offene Frage. 86 Ihre Klärung ist schon insofern interessant, als die grundlegenden Paradigmenwechsel 87 in den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, die seit der Zeit Kants erfolgten, zu verknüpfen sind mit einem Wandel in den naturwissenschaftlichen Zeitkonzepten. Da es überdies fraglich ist, ob das Geschehen der Schöpfung unabhängig von der Konzeption eines Anfangs der Zeit gedacht werden kann, ist anzunehmen, daß die Theologie gut daran tut, der naturwissenschaftlichen Frage nach der Zeit nachzugehen. Dabei wird sie sich darauf beschränken dürfen, sich die naturwissenschaftlichen Zeitkonzepte dem Ansatz nach anschaulich zu machen, kommt es doch lediglich darauf an zu klären, ob es überhaupt noch möglich ist, von einem Anfang zu sprechen. Voraussetzend, daß einerseits die naturwissenschaftlichen Konzepte einer philosophischen "Übersetzung" bedürfen, um im Gespräch der Wissenschaften für die Theologie bedeutsam werden zu können, andererseits keine philosophische Betrachtung der Zeit die Kantische Auslegung der Zeit als einer apriorischen Anschauungsform umgehen kann, wird insbesondere zu fragen sein, ob Kants Zeittheorie einer naturwissenschaftlichen Kritik standhält.

2. Naturwissenschaftliche Konzeptionen der Zeit a) Der Zeitbegrijf I. Newtons In den "Philosophiae Naturalis Principia Mathematica" führt J. Newton seinen Zeitbegriff ein mit dem Satz "Die absolute, wahre und mathematische Zeit ver85 Zu der Fragestellung vgl. auch M. Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modemen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft, Darmstadt 1998. 86 V gl. die Aufsatzsammlungen: I. Prigogine /1. Stengers, Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten, München/Zürich 1993; Zeit im Wandel der Zeit, hg. von P.c. Aichelbruck, Braunschweig 1988; Klassiker der modemen Zeitphilosophie, hg. von W. Chr. Zimmerli und M. Sandbothe, Darmstadt 1993; Das Rätsel der Zeit, hg. von H. M. Baumgartner, Freiburg/München 1993. Vgl. auch H. Genz, Wie die Zeit in die Welt kam. Die Entstehung einer Illusion aus Ordnung und Chaos, München / Wien 1996 und E. Wölfet, Endet die Zeit? Bemerkungen zum Zeitproblem im Aspekt naturwissenschaftlicher Erschließung, in: Zeit und Schöpfung, hg. von K. Stock, Gütersloh, 1997, 11-40. 87 Vgl. zum Begriff des Paradigmenwechsels: Th. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, aus dem Amerik. von K. Simon, 2. rev. und erg. Aufl., Frankfurt/M. 1995.

11. Ansätze zu einem Paradigmenwechse1 in den Naturwissenschaften

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fließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äusseren Gegenstand. ,,88 Dabei setzt er voraus, daß es keiner Definition der Zeit bedürfe, da allgemein bekannt sei, was denn ,,zeit" sei. Nur dem "Vorurteil", der Begriff der Zeit bedürfe einer empirischen Begründung, widerspricht er eigens. Newton gesteht zu: "Es ist möglich, dass keine gleichförmige Bewegung existire, durch welche Zeit genau gemessen werden kann [ ... ],,89 Dennoch sei uns ein Wissen um die Gleichförmigkeit des Zeitflusses der absoluten Zeit eigen. Der Begriff der Zeit ist demnach nicht aus der Beobachtung von Bewegungen abgeleitet, sondern ermöglicht deren Beobachtung. Dabei ist für Newtons Zeittheorie die Unterscheidung einer wahren, d. h. eigentlichen, von einer uneigentlichen Zeit konstitutiv, wobei er als Kriterium der Eigentlichkeit von Zeit deren Absolutheit, d. h. Unabhängigkeit von allen äußeren Gegenständen benennt. Die wahre Zeit, führt er aus, könne durch nichts Äußeres beeinflußt werden. Darum fließe sie streng gleichmäßig dahin. Die Gleichmäßigkeit des Zeitflusses ist für Newton das Fundament des mathematischen Wesens der Zeit. Denn sie ermöglicht die Einteilung der Zeit in Zeitabschnitte, die ihrerseits streng gleich sind. Derart kann sie als apriorische Grundlage für jede empirische Zeitmessung Anwendung finden. Ehe die naturwissenschaftliche Kritik an der Zeittheorie Newtons darzustellen sein wird, sei darauf aufmerksam gemacht, daß Newtons Zeitbegriff metaphysische Voraussetzungen hat, die ohne die aristotelische Deutung der Zeit unverständlich sind. Aristoteles bestimmt Zeit als ,,zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und Spätere,,9o. Es versteht sich, daß Zeiten gezählt werden können. Von daher legt sich Heideggers Deutung nahe, wonach für Aristoteles das Zählen der Zeit die Grundlage der Bestimmung des Wesens der Zeit ist. "Die Zeit ist das 'Gezählte', [ ... ] Das Gezählte sind die Jetzt91 . In Bezug darauf hat G. Böhme eingewandt, Aristoteles spreche nicht vom Zählen der Zeit, sondern er bestimme die Zeit selbst als Zahl, und zwar als Zahl der Bewegung. 92 Dazu macht Böhme aufmerksam auf eine Stelle aus der aristotelischen Metaphysik, an der Aristoteles erklärt, eine Bewegung könne als Quantum begriffen werden, da das, warum ein Bewegtes bewegt werde, ein Quantum sei. 93 Quantifizierbar, d. h. zählbar, ist demnach die Strecke, welche durch die Bewegung von einem Ort zum anderen bestimmt wird. Analog dazu stellt auch die Zeit ein Quantum dar aufgrund einer Bewegung, die eine Strecke bestimmt. Aristoteles vertritt in der Tat die These, die I. Newton, Mathematische Prinzipien der Naturlehre 25. Ebd., 27. 90 Aristoteles, Physik 219 b 2. Zitierte Ausgabe: Aristoteles, Physik, Bücher I(A)-IV(ß), griechisch-deutsch, übers., mit einer Einl. u. Anm. hg. von H.-G. Zekl, Hamburg 1987. 91 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 15 1979,432, Anm. 1 u. 42l. 92 G. Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt/M. 1974,4 f. und 159-193. 93 Aristoteles, Metaphysik A 13, 1020 a 26 - 32. Zitierte Ausgabe: Aristoteles, Metaphysik, Bücher I(A)-VI(E), griechisch-deutsch, übers. von H. Bonitz, neu bearb, mit Einl. und Komm. hg. von H. Seidel, Hamburg 1978. 88 89

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

Zeit sei Zahl "wie die Grenzen der Strecke,,94 Für Aristoteles stellt sich also die Zeit dar als jene Strecke, die durch zwei Jetzt begrenzt wird, wobei das eine friiher, oder, denkt man von der Ortsbewegung her, näher sei als das andere. Zeit ist also keine Zahl von Jetzten, sondern jene "Erstreckung", die von Jetzten begrenzt wird. Daß Zeit in sich Erstreckung ist, besagt, daß sie ihrem Wesen nach nicht von ihren Grenzen gedacht werden kann. Das Jetzt, führt Aristoteles selbst aus, ist stets entweder noch nicht oder nicht mehr. Soll es überhaupt Zeit geben, kann sie nicht nur aus der Folge, in der sich ein Jetzt an das andere reiht, bestehen. Die Zeit selbst muß also als eine Einheit gedacht werden, damit man ihr Wesen fassen kann, obwohl sie als "Zahl der Bewegung" nur anschaulich wird in der Bewegung von einem Jetzt zum anderen. 95 Newtons Zeitbegriff entspricht nun dem aristotelischen insofern, als auch er von der Einheit der Zeit ausgeht. Er begreift die Zeit nicht als eine Folge von Zeitpunkten, sondern bringt sie als Zeitfluß in den Ansatz, der dann in Zeitabschnitte eingeteilt werden kann. Der eine, absolute Zeitfluß umgreift alle Zeiten, die als Abschnitte der einen Zeit nie deren Grenze sein können, woraus folgt, daß die absolute Zeit ihrem Wesen nach unendlich ist. Newtons Zeittheorie ist aber auch insofern abhängig von der aristotelischen, als in ihr der Realitätsstatus der Zeit bestimmt wird unter Rückgriff auf den Gedanken des Aristoteles, daß es Zeit nur für einen zählenden Verstand geben kann. Auch Newton denkt die Zeit fundiert in einem Verstand, dem des absoluten Wesens. 96 In eins mit dem Raum stellt sich ihm die Zeit als dessen Attribut dar.

Vgl. Aristoteles. Physik, 220 a 16. Die Kritik Böhmes an Heideggers Auslegung des aristotelischen Zeitverständnisses ist im Grunde unberechtigt. Denn auch Heidegger betont die Unmöglichkeit, das aristotelische Jetzt als einen Zeitpunkt zu betrachten. Das Jetzt - so führt Heidegger in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1929 aus, in der er eine ausführliche Auslegung des aristotelischen Zeitbegriffs vorgetragen hat - enthalte in sich selbst die Erstreckung nach dem Noch-nicht und Nicht-mehr. Denn ohne die dem Jetzt eigene Erstreckung, seinen Übergangscharakter, könne Zeit nicht als einheitliche Zeit erfahren werden. Entsprechend hebe Aristoteles das Jetzt als das Grundphänomen der Zeit von der Grenze ab. "Die Zeit als Jetzt ist nicht Grenze, sondern Übergang, und als Übergang mögliche Zahl, mögliche Maßzahl der Bewegung." (M. Heidegger; Die Grundprobleme der Phänomenologie, 334.) Man wird also auf alle Fälle davon auszugehen haben, daß Aristoteles das Jetzt als ein in sich erstrecktes denkt, das nur ist im Übergang vom Noch-nicht zum Nicht-mehr erfahrbar ist. Um aber den Übergang als solchen erfahren zu können, bedarf es nach Heidegger des Horizontes von Früher und Später, der es ermögliche, von unterschiedlichen Jetzten, die aufeinander folgen, zu sprechen. Darin deutet sich nach Heidegger an, daß die Erfahrung der Zeit als einer Jetztfolge eines Horizontes bedarf, in dem sie verständlich wird, eines Horizontes, der selbst ein temporaler ist, worin sich andeutet, daß die als Abfolge gedachte Zeit in einer von ihr zu unterscheidenden, doch nie zu scheidenden Zeit fundiert ist, an die zu erinnern ist, um das Phänomen der Zeit als ganzes in die Sicht zu bringen. 96 Nach I. Newton (Optik, Bd. 3, übers. und hg. von W. Abendroth, Leipzig 1898, 145) ist die Zeit "sensorium Dei". 94 95

11. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften

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Newtons Zeittheorie wurde seitens der Naturwissenschaften in Frage gestellt. Der Zeitfluß der absoluten Zeit würde nach Newton nur anschaulich an einem Körper, auf den keine Kräfte einwirken. Denn nur ein solcher Körper bewegt sich selbst absolut gleichförmig. Da aber im Universum keine solchen Körper ausgemacht werden können, hat dies den Physiker E. Mach dazu bewogen, der newtonschen Zeit ihre wissenschaftliche Bedeutung abzusprechen. "Diese absolute Zeit kann an gar keiner Bewegung abgemessen werden, sie hat also auch gar keinen praktischen und auch keinen wissenschaftlichen Wert, niemand ist berechtigt zu sagen, daß er von derselben etwas wisse, sie ist ein müßiger "metaphysischer" Begriff,.97 In Machs Metaphysikvorwurf ist die Voraussetzung greifbar, Physik habe eine reine Erfahrungswissenschaft zu sein. Da der Begriff der Zeit laut Newton kein empirischer Begriff sei, handele es sich auch nicht um einen physikalischen Begriff, folglich sei er im Kontext der Physik zu überwinden. Doch unbeschadet dessen, daß sich die Naturwissenschaften zu recht als empirische Wissenschaften begreifen, sind sie fundiert in Voraussetzungen, die in ihren empirischen Methoden greifbar werden. Auch die empirische Methode der Quantifizierung setzt einen ermöglichenden Horizont voraus. Die VOn Newton gedachte absolute Zeit fungiert als solcher Horizont, der alle Zeitmessungen ermöglicht. Unbeschadet der metaphysischen Herkunft der Zeittheorie Newtons wurde die Vorstellung eines absolut gleichförmigen Zeitflusses auch auf empirischem Wege falsifiziert,98 und zwar u. a. durch die Relativitätstheorien A. Einsteins. 99 Für Newton gilt es als unbezweifelbar, daß der Zeitfluß der absoluten Zeit durch nichts Äußeres zu beeinflussen ist, auch nicht durch den, der die Zeit mißt. Das aber ist nicht der Fall. In Anbetracht der speziellen Relativitätstheorien Einsteins ist davon auszugehen, daß es sich bei Newtons Zeittheorie um eine Theorie handelt, die in ihrer Gültigkeit begrenzt ist. Sie ist anwendbar nur Unter der Voraussetzung, daß die Bewegungen, die gemessen werden, keine Geschwindigkeit nahe der Lichtgeschwindigkeit haben. Ferner ist sie nur anwendbar Unter der Voraussetzung, daß in der Welt alle Bewegungen, folglich alle Ereignisse, streng determiniert sind. Die Determination aller Naturereignisse ist aber - naturwissenschaftlich betrachtet - nicht unbedingt vorauszusetzen. Die Erkenntnisse der Quantenmechanik sprechen dafür, daß Unsere Welt nicht als eine streng determinierte begriffen werden muß. Die Ansetzung der Welt als einer streng determinierten ist also nur eine mögliche Voraussetzung, welche die Funktion hat, die Anwendung der Gesetze der Mechanik zu ermöglichen und dadurch das Seiende im Ganzen für ein naturwissenschaftliches Er97 E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, reprod. Nachdruck der 9. Auf!. Leipzig 1933, Darmstadt 1988,217. 98 Die Kritik von G. W. Leibniz dagegen ist dagegen primär theologisch fundiert. Dessen Zeittheorie stellt ausführlich dar: G. Böhme, Zeit und Zahl, 195 - 256; Vgl. auch den Sammelband: Zeit und Logik bei Leibniz. Studien zu Problemen der Naturphilosophie, Logik und Metaphysik, hg. von C. F. von Weizsäcker, Stuttgart 1989. 99 Eine grundlegende Einführung in die Relativitätstheorien Einsteins bietet: B. Kanitscheider; Das Weltbild Albert Einsteins, München 1988.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

kenntnis streben zu erschließen. Gültigkeit hat die Zeittheorie Newtons nur insofern, als sie den Horizont bildet, in dem die wissenschaftliche Beschreibung der Welt als einer streng determinierten und den Gesetzen der Mechanik unterworfenen Gesamtheit von Sachverhalten möglich wird.

b) Das Zeitkonzept A. Einsteins

Die Überwindung des Gedankens von der Absolutheit der Zeit, die in A. Einsteins spezieller Relativitätstheorie erstmals zur Sprache gebracht wurde, erzwang die Beobachtung, daß die Lichtgeschwindigkeit immer gleich ist. Auch die Eigenbewegung dessen, der die Zeit mißt, und deren Geschwindigkeit ändern die Lichtgeschwindigkeit nicht. Daraus, daß alle Beobachter die gleiche Lichtgeschwindigkeit (c) messen, unabhängig von ihrer eigenen Bewegung und deren Geschwindigkeit, folgt aber, daß für Beobachter, die sich selbst in unterschiedlichen Relationen zu der Bewegung des Lichts bewegen, die Zeit divergiert, die das Licht braucht, um sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen. Jeder Beobachter hat also seine eigene Zeit. E. Wölfel benennt die Folgen: "Das Gleichzeitigkeitsnetz, das die bisherige Physik über die Welt und ihre Zeit gelegt hatte, zerreißt! Es gibt keine im Vergleich der Beobachter untereinander feststellbare Gleichzeitigkeit: Was für den einen "früher" ist, kann für den anderen möglicherweise ein "später" sein. [ ... ] Die "Welt" zerfällt. ,,100 Einsteins Einsicht in die eigene Zeit jedes Beobachters wirft dann auch die Frage auf, inwiefern man von einer Richtung des Zeitflusses bzw. dessen Erstreckung von der Vergangenheit in die Zukunft überhaupt sprechen kann. Denn nach Einsteins spezieller Relativitätstheorie ist es möglich, daß ein Mensch, der sich subjektiv vorwärts in der Zeit bewegt, sich objektiv einem vergangenen Zeitpunkt nähert, wobei philosophisch dann zu fragen wäre, welche Bedeutung der Begriff der Objektivität in einem solchen Fall hat. Aus Einsteins Einsicht in die Abhängigkeit des Zeitflusses von dem Beobachter und dessen Bewegungen im Raum folgt, daß Raum und Zeit eine Einheit bilden. "Nach der Relativitätstheorie gibt es also keine absolute Zeitmessung, sondern nur eine relative zum Bezugssystem. Alle Aussagen über die Zeit müssen die räumlichen Bedingungen (die Geschwindigkeit) berücksichtigen. Anders gesagt: die Zeit steht in Beziehung zum Raum (in "Relation"), woher die Relativitätstheorie ihren Namen hat. Dasselbe gilt ebenso für den Raum: Er steht in Beziehung zur Zeit"IOI. Das Konzept einer einheitlichen Raumzeit eröffnete den Weg zur Theorie der Äquivalenz von Masse und Energie, die in dem Gesetz E = mc 2 ihre Formulierung fand. Sofern Energie und Masse austauschbar sind, ist auch das Licht dem Gesetz der Gravitation unterworfen. Es gilt also, das Licht und dessen Geschwindigkeit mit der Gravitation und ihrer Beschleunigung von 100

101

E. Wölfel. Endet die Zeit? 23.

R. Koltennann. Grundzüge der modernen Naturphilosophie, 43.

11. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften

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Massen in eins zu denken, was Einstein in der allgemeinen Relativitätstheorie tat. In ihr wurde der Begriff der Gravitation als einer Kraft überwunden und Gravitation erstmals als Folge der Geometrie der Raumzeit gedacht, deren Krümmung durch Masse und Energie Einstein postulierte, ein Postulat, das später durch Beobachtungen bestätigt werden konnte. Dadurch eröffnete sich der Weg zu einem anderen Verständnis des Universums. Seit Einstein ist davon auszugehen, daß Ereignisse nicht nur in Raum und Zeit stattfinden, sondern, daß sie Raum und Zeit krümmen, wobei die Krümmung bei positiven Massen, die Massen einander anziehen lassen, nach innen erfolgt. Das ist in dem von uns beobachteten Universum der Fall. Mit dem Gedanken einer nach innen gekrümmten Raumzeit ist das Modell eines Universums gegeben, das zwar unbegrenzt, aber doch endlich, da nach innen gekrümmt, ist.

c) Die Geschichte des Universums nach A. Friedmann

Newton sah selbst, daß aufgrund seiner Theorie der Gravitation zu erwarten wäre, daß das Universum eines Tages kollabieren wird. Mit dem mathematisch unhaltbaren Argument, das Universum habe aufgrund seiner Unendlichkeit kein Zentrum, in welches die Massen kollabieren könnten, suchte er einer solchen Erwartung zu widersprechen. Auch Einstein sah sich genötigt, eine Konstante einzuführen, um das Universum als statisches beschreiben zu können. Erst seit A. Friedmann ist die Geschichtlichkeit unserer Welt für unser Weltverständnis konstitutiv geworden. Denn er war der erste, der zu dem Gedanken vorstieß, daß unser Universum expandiert und als solches eine Geschichte, die Geschichte seiner Expansion hat. Friedmann ging davon aus, daß die im Raum zu beobachtenden Massen den Raum derart krümmen, daß ein Kollaps des Universums zu erwarten wäre. Daß er noch nicht erfolgt ist, könne nur dadurch erklärt werden, daß die Gravitation eine ihr widerstrebende Kraft hat, die eine Expansion des Universums bedingt. Folglich könne man davon ausgehen, daß das Universum in einem Ereignis seinen Anfang hat, in dem es zu einer starken Entfaltung von Expansionskraft kam. Für das angesprochene Ereignis wurde 1950 der Name "Big Bang", "Urknall" gefunden. Die Theorie eines Universums, das in einem Urknall seinen Anfang nimmt und dann eine Geschichte der Expansion erfährt, die in Abhängigkeit von der im Universum gegebenen Dichte der Materie endlich oder unendlich sein wird, wurde durch eine ganze Anzahl von Beobachtungen bestätigt, die in unserem Kontext keiner eingehenden Besprechung bedürfen 102. Sie gilt zur Zeit als Standardmodell des Universums, wobei sie von diversen Physikern in die Theorie einer inflationä102 Vgl. G.A. Tammann, Die Bestätigung des Urknalls durch Beobachtungen, in: Vom Anfang der Welt. Wissenschaft, Philosophie, Religion, Mythos, hg. von J. Audretsch und H. Mainzer, München 1989, 114-133.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

ren Expansion im Anfang der Geschichte eingetragen wird. I03 Dennoch wirft das Modell Fragen auf. Zum einen ist es aufgrund der Unmöglichkeit, die faktische Dichte des Universums zu messen, nicht möglich, sichere Aussagen über die Zukunft des Universums zu machen. Es bleibt offen, ob das Universum eines Tages kollabieren oder immer weiter expandieren wird. Zum anderen ist nach der allgemeinen Relativitätstheorie zwar davon auszugehen, daß es einen Anfangszustand gegeben hat, an dem die Dichte des Universums und die Krümmung der Raumzeit unendlich waren. Bei ihm handelt es sich aber um eine mathematische Singularität, d. h. einen Zustand, an dem die Naturgesetze keine Gültigkeit mehr haben, so daß es keine Möglichkeit gibt, das Ereignis des Anfangs selbst mathematisch zu begriinden. Die Tatsache, daß mit der Urknall theorie zwar ein Anfang von Raum und Zeit postuliert ist, dieser Anfang aber als naturwissenschaftlich unerklärlich behauptet wird, führte dazu, daß das Modell von Interesse für die Theologie wurde und auch dort allgemeine Anerkennung fand. 104 Das Ereignis des Urknalls und das Geschehen der Schöpfung verbanden sich für viele Theologen und auch Naturwissenschaftler zu einer Vorstellung. Dabei wurde und wird oft unterschlagen, daß der Übergang von der naturwissenschaftlichen Frage nach dem Anfang von Zeit und Raum zum theologischen Sprechen von der Schöpfung nur durch einen Sprung geschehen kann. Der naturwissenschaftlichen Ergriindung eines Geschehens kann nur eine naturwissenschaftliche, d. h. mathematische Begriindung entsprechen. Das gilt auch für den Urknall, den Anfang von Raum und Zeit. Wird im Kontext der Naturwissenschaften nach ihm gefragt, ist die Erkenntnis, daß es sich bei ihm um eine mathematische Singularität handelt, noch kein Grund dafür, den Schöpfungsglauben einzuführen. Darum sollten auch Naturwissenschaftler nicht immer wieder von der ,,zeit der Schöpfung des Universums" sprechen, um die Anfangssingularität zu benennen. Stattdessen sollte die Erfahrung des Scheiterns in der Frage nach einer Erklärung des Anfangs der Zeit für sie zum Grund werden, die Grenzen ihrer Erkenntnis durch eine andere, wiederum naturwissenschaftliche Theorie zu erweitern. Und auch für die Theologie dürfte das Scheitern der Naturwissenschaften nicht der einzige Grund dafür sein, von Gott als dem Schöpfer zu sprechen. Denn in einem solchen Sprechen wird Gott nur jener Raum zugesprochen, den die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung bestimmen. Eines Tages könnte es die Frage sein, ob überhaupt noch Raum für das Sprechen von Gott ist.

103 Vgl. dazu: J. Audretsch, Physikalische Kosmologie I: Das Standardmodell, in: Vom Anfang der Welt, 66-92 und ders.: Physikalische Kosmologie 11: Das Inflationäre Universum oder der kosmologische Münchhausen-Effekt, in: Vom Anfang der Welt, 93 - 113. 104 Vgl. M. Seckler, Was heißt eigentlich Schöpfung? Zugleich ein Beitrag zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft, in: Der Kosmos als Schöpfung. Zum Stand des Gesprächs zwischen Naturwissenschaft und Theologie, hg. von J. Dorschner, Regensburg 1998, 174-214, bes. 184 ff.; W. Kern, Zur theologischen Auslegung des Schöpfungsglaubens, 519 ff.

H. Ansätze zu einem Paradigmenwechse1 in den Naturwissenschaften

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d) St. W. Hawkings Theorie eines Universums ohne Grenzen

Fragen, die Ereignisse "vor" dem Urknall betreffen, können naturwissenschaftlich nicht einmal gestellt werden, insofern der Urknall selbst als der Anfang der Raumzeit unseres Universums zu begreifen ist. Das Gesagte gilt auch für Fragen, die das Ereignis des Anfangs selbst betreffen. Denn sowohl bei dem Anfang als auch dem zu erwartenden Ende des Universums handelt es sich um mathematische Singularitäten, Ereignisse also, in denen die Naturgesetze aufgrund der unendlichen Dichte der Materie, welcher eine unendliche Krümmung der Raumzeit entspricht, keine Geltung mehr haben. Den genannten Singularitäten entsprechen physikalisch die Schwarzen Löcher, deren Existenz durch Beobachtungen von Effekten, die nur von nahezu unendlichen Verdichtungen von Materie ausgehen können, nachgewiesen werden konnten. Entsprechend deutet der Physiker 1. A. Wheeler die Geschichte des Universums: "Die Zeit endet vor dem Urknall am Anfang des Universums; die Zeit endet im Zentrum eines Schwarzen Loches ... Heute nennen wir den Urknall und den Gravitationskollaps die zwei Tore der Zeit. Das erste Tor bedeutet, daß es eine Zeit gibt, vor der keinerlei Vorher existiert. Das zweite Tor bedeutet, daß es eine Zeit gibt, nach der es keinerlei Nachher gibt.,,\05 Die physikalische Deutung des Phänomens der Schwarzen Löcher ist unter anderem verbunden mit dem Namen St. W. Hawking. In der Schrift "Eine kurze Geschichte der Zeit" referiert er die theologische These, die Naturwissenschaften sollten die Geschichte des Universums nach dem Urknall, nicht aber den Urknall selbst, "den Augenblick der Schöpfung", erforschen. I06 Es versteht sich, daß ein solches Ansinnen dem Ethos der Naturwissenschaften von Grund auf zuwider ist. Ein Abbruch des Fragens ist naturwissenschaftlich nicht zu rechtfertigen. 107 Folglich können die Naturwissenschaften nicht anders, als in ihrem Forschen auch auf die Zeit des Anfangs ausgreifen, von der uns bislang noch die "Plancksche Mauer" trennt. Hawking fährt dann auch fort: "Ich war froh, daß ihm der Gegenstand des Vortrags unbekannt war, den ich gerade auf der Konferenz gehalten hatte: die Möglichkeit, daß die Raumzeit endlich sei, aber keine Grenze habe, was bedeutet, daß es keinen Anfang, keinen Augenblick der Schöpfung gibt". \08 In seiner Theorie eines auch zeitlich unbegrenzten Universums greift Hawking die Grundeinsichten der Quantenmechanik auf, von deren Verbindung mit der 105 J. A. Wheeler; Jenseits aller Zeitlichkeit. Anfang und Ende der physikalischen Zeitskala, in: Die Zeit. Dauer und Augenblick, hg. von H. Gumin, H. Meier, München 31992,17. 106 St. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 148. 107 Vgl. K. Popper, Logik der Forschung, Tübingen, 9., verbesserte Auf!. 1989,21, u.ö.; ferner H. Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, Tübingen 1987,4 f. Der Abbruch der Fragens gleicht nach Albert einer der drei unannehmbaren Alternativen des sog. Münchhausen-Trilemrnas, vgl. ebd., 15, Anm. 12; Ders., Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1980, 11 ff. 108 St. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, 148.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

Theorie der Gravitation er sich den entscheidenden Schritt zu einem umfassenden Verständnis des Universums erwartet. Der Quantenmechanik zufolge ist es unmöglich, sowohl den Ort als auch die Geschwindigkeit eines sich bewegenden Teilchens in eins exakt zu bestimmen. Jeder Aussage über ein Teilchen ist also eine Unschärfe zu eigen. Das Unschärfeprinzip stellt den Gedanken eines streng determinierten Universums von Grund auf in Frage. Denn in der Frage nach einer bestimmten Ursache dafür, daß sich ein Teilchen an einem bestimmten Ort befindet, ist vorausgesetzt, daß das Teilchen eine bestimmte und exakt zu bestimmende Geschichte hat. Aus dem Unschärfeprinzip folgt aber, daß ein Teilchen, das quantenmechanisch betrachtet wird, nicht nur eine bestimmte Geschichte hat, sondern alle Geschichten, die ihm möglich sind. Es können also auch Ereignisse geschehen, die derart unwahrscheinlich sind, daß man sie für unmöglich halten wird, anders gesagt: der Begriff der Unmöglichkeit bestimmt sich nun nur noch aus dem der Unwahrscheinlichkeit. Nach R. Feynman folgt daraus, daß ein Teilchen sich nicht nur auf einem, sondern auf allen möglichen Wegen und mit allen möglichen Geschwindigkeiten von einem Ort zum anderen bewegen kann. Dabei ist es auch möglich, daß es sich über kurze Entfernungen sogar schneller bewegt als das Licht. Da unter einem Schwarzen Loch eine Stelle in der Raumzeit zu begreifen ist, die derart gekriimmt ist, daß nicht einmal das Licht von ihm entkommen kann, wäre zu erwarten, daß einem Schwarzen Loch schlechthin nichts entkommen kann. Ist es aber möglich, daß es doch Geschwindigkeiten größer als die Lichtgeschwindigkeit gibt, kann es sein, daß den Schwarzen Löchern Masse abhanden kommt. Nach Hawking kann man das Entkommen von Teilchen aus einem Schwarzen Loch begreifen als Übergang aus der realen Zeit in eine andere Raumzeit, deren Zeitfaktor senkrecht zu dem der realen Zeit anzusetzen ist und die er "imaginäre Zeit" nennt. Die Geschichte eines Teilchens, die in der realen Zeit endet, sobald das Teilchen von dem Schwarzen Loch angezogen wird, würde demnach ihren Fortgang nehmen in der imaginären Zeit. Das bedeutet, daß die Singularität, die für das Teilchen das Ende bedeutet, dadurch aufgehoben werden kann, daß dessen Geschichte unter der Voraussetzung imaginärer Zeit betrachtet wird. Als mathematische Singularitäten unendlicher Krümmung der Raumzeit stellen die Schwarzen Löcher ein Analogon des Anfangs des Universums dar. Von daher lag es nahe, die Frage aufzuwerfen, ob auch die Singularität am Anfang der Geschichte des Universums dadurch aufgehoben werden kann, daß man die imaginäre Zeit in den Ansatz bringt. Entsprechend geht Hawkings Streben dahin, die Geschichte des Universums durch die Summierung solcher Raumzeiten darzustellen, in denen keine Singularitäten vorkommen. Eine solche Summierung von Raumzeiten ist mathematisch in der Tat möglich unter der Voraussetzung imaginärer Zeit. "In der realen Zeit hat das Universum einen Anfang und ein Ende an Singularitäten, die für die Raumzeit eine Grenze bilden und an denen die Naturgesetze ihre Gültigkeit verlieren. In der imaginären Zeit dagegen gibt es keine Singularitäten oder Grenzen"I09. Ohne zeitliche Grenze, argumentiert Hawking, brauche das Universum keinen Schöpfer. "Wenn 109

Ebd., 177.

11. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften

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das Universum einen Anfang hatte, können wir von der Annahme ausgehen, daß es durch einen Schöpfer geschaffen worden sei. Doch wenn das Universum wirklich völlig in sich selbst abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende: es würde einfach sein. Wo wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?"lIo Die Einführung der imaginären Zeit ist kritisiert worden mit dem Argument, es komme auf die Realität und d. h. die reale Zeit an. Eine solche Kritik ist unhaltbar. Zum einen wird in ihr ein Realitätsbegriff vorgebracht, der das Reale mit dem Sein an sich in eins setzt, ohne zu fragen, ob uns Sein an sich, d. h. Realität unabhängig von der Tatsache, daß sie von uns beobachtet wird, überhaupt erschlossen ist. Das aber ist der Quantenphysik zufolge nicht der Fall. Sein, Realität, gibt es für uns nur als beobachtete Realität. Als solche erschließt sie sich uns nur im Kontext jener Voraussetzungen, durch die wir sie uns verständlich machen. Setzungen, die in den Theorien der Naturwissenschaften als deren Voraussetzungen greifbar sind, haben dadurch ihre Berechtigung, daß sie uns die Welt verständlich machen. Eine solche Setzung ist auch die imaginäre Zeit, durch welche die Möglichkeit der mathematischen Beschreibung der Natur erweitert wird. Die Frage ist nur, ob es unmöglich ist, das naturwissenschaftliche Modell eines grenzenlosen Universums, d. h. einer Naturgeschichte ohne Anfang, mit dem Glauben an die Schöpfung zu vermitteln.

e) Das Problem der Zeit und die Thermodynamik

Die Kritik an der Einführung der imaginären Zeit hebt darauf ab, daß mit ihr der Zeitpfeil jener Zeit aufgehoben werde, welche aufgrund der Entropiezunahme als die reale Zeit anzusehen sei. Die Kritik ordnet sich einer Geschichte der naturwissenschaftlichen Zeittheorien ein, die ihren Ausgang von der Zeittheorie Newtons nimmt. Die Mechanik Newtons ist ein zeitsymmetrisches Konzept, in dessen Kontext sich alle Naturereignisse als reversible Vorgänge darstellen. Auch in der Tatsache, daß Einstein die Modi der Zeit, Vergangenheit und Zukunft, für eine subjektiv bedingte "Illusion" hielt, 1II wird greifbar, daß die Theorien, die für die Geschichte der Physik bis in unser Jahrhundert bestimmend waren, alle zeitsymmetrische Theorien waren. Erst durch die Thermodynamik, nach deren zweitem Hauptsatz die Entropie in einem geschlossenen System zunimmt, bis sich das System in einem Zustand extremer Entropie, dem thermodynamischen Gleichgewichtszustand befindet, wurde es möglich, Zeit physikalisch als gerichtete Zeit zu begreifen. Die Entropiezunahme galt nun als das physikalische Prinzip zur BestimEbd., 179. Vgl. die Deutung durch K. Gödel, Eine Bemerkung über die Beziehung zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie, in: Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, hg. von P. A. Schilpp, Stuttgart 1955, Nachdruck: Braunschweig 1979, 406-412. 110 111

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

mung einer Zeitrichtung. Problematisch aber ist bis in unsere Tage, inwiefern eine solche Theorie in die Quantenmechanik eingetragen werden kann. Quantenmechanisch ist von Wahrscheinlichkeiten auszugehen. Das thermodynamische Gleichgewicht ist entsprechend als der wahrscheinlichste unter allen möglichen Zuständen zu begreifen. Der Übergang in Zustände größerer Ordnung, insbesondere der Rückgang in den Anfangszustand, wird dann aufgrund seiner extremen Unwahrscheinlichkeit als eine Bewegung begriffen, die "rückwärts" in der Zeit erfolgt. "Der Grad der Unwahrscheinlichkeit macht also hier den Unterschied zwischen Vorwärts- und Rückwärtslauf der Zeit aus.,,1l2 Daß aber in einer solchen Definition von Zeit der Zustand des thermodynamischen Gleichgewichts mit dem Ende eines Geschehens in eins gesetzt wird, weist darauf hin, daß der Begriff der Zeit als einer vorwärts gerichteten Zeit in der Definition schon vorausgesetzt ist. Eine solche Definition ist ohne den Beobachter des Systems nicht möglich. Aus der quantenmechanischen Grundeinsicht, daß von Realität nur unter der Voraussetzung der Beobachtung gesprochen werden kann, ergibt sich aber eine andere Möglichkeit, Zeit als gerichtete Zeit zu beschreiben. Beobachtung geschieht als Messung von "Verfestigungen", in denen die Realisierung einer Möglichkeit, sei sie nun wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, manifest wird. Von daher können Vergangenheit und Zukunft unterschieden werden. "Die Vergangenheit, zumindest soweit sie durch Verfestigungen belegt werden kann, steht fest; die Zukunft ist offen, durch die Vergangenheit nicht vollständig determiniert.'d13 Genz veranschaulicht den Gedanken: "Ein Dämon, der jetzt die ganze Welt vor sich ausgebreitet sähe, könnte das Gebiet der Vergangenheit von dem der Zukunft trennen: hier Fakten, dort Möglichkeiten". 114 Das angesprochene Jetzt ist aber das Jetzt eines Beobachters, der die Verfestigungen als solche feststellt. Für ihn scheidet sich die Zeit in Vergangenheit und Zukunft. Er trägt seine Zeitlichkeit in die Beobachtung der Realität ein und nur dadurch kann dann auch Zeit als eine "objektive" Bestimmung des - beobachteten - Universums festgestellt werden.

f) Das Problem der Zeit und die Theorie der dissipativen Systeme

Einen anderen Weg zur Brechung der zeitlichen Symmetrie sind I. Prigogine und I. Stengers gegangen in dem Bewußtsein, daß die Scheidung der Vorstellung einer irreversiblen Zeit, die unserem vorwissenschaftlichen Zeiterleben entspricht, von der "zeitlosen" Zeit der Wissenschaften für das Entstehen der "zwei Kulturen", der Entfremdung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften be112 H. J. Fahr; Zeit in Natur und Universum, in: Zeitbegriffe und Zeiterfahrung, hg. von H.M. Baumgartner, Freiburg/München 1994, 11-44, insbes. 33. m H. Genz. Wie die Zeit in die Welt kam, 243. 114 Ebd., 245.

n. Ansätze zu einem Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften

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gründend war. 115 Sie haben aufgewiesen, daß in solchen Systemen, die fern vom thennodynamischen Gleichgewicht sind bzw. von dem Gleichgewichtszustand durch Zufuhr von Energie femgehalten werden, d. h. also in den "dissipativen Systemen", Ordnungsstrukturen auftreten können. "Unordnung und Chaos können sich unter gleichgewichtsfemen Bedingungen in Ordnung verwandeln",116 so bringen Prigogine und Stengers ihre naturwissenschaftliche Grundeinsicht auf eine Fonnel, die der These von der Möglichkeit der Entstehung von Materie aus dem Vakuum, in welchem Quantenfluktuationen anzunehmen das Unschärfeprinzip erforderlich macht, entspricht. In beiden Fällen materialisiert sich Ordnung von sich aus, spontan. Von dort ausgehend ist die Physik, in eins mit dem Anfang von Raum und Zeit nach der Entstehung der Materie fragend, zu dem Gedanken vorgestoßen, die Raumzeit entstünde mit der Materie aus dem Quantenvakuum, folglich "aus nichts". lI7 Die Beschreibung dissipativer Systeme erfolgt mittels einer inneren Systemzeit, die irreversibel ist. Mit ihr wird jedem System eine eigene Geschichte zugesprochen, die in ihrem Gang durch Bifurkationspunkte bestimmt ist, d. h. durch Ereignisse, in denen durch die Realisierung einer bestimmten Möglichkeit die Fortentwicklung eines Systems in eine bestimmte, erst durch das Ereignis selbst detenninierte Richtung erfolgt. Mit der Theorie der dissipativen Systeme wird daher der Gedanke, es gebe nicht nur eine Zeit, sondern jedem System eigne eine Eigenzeit, für die Naturwissenschaften bedeutsam. Er wirft dann die Frage auf, welche Struktur der Zeitigung einem bestimmten System zuzusprechen ist, um das System selbst möglichst umfassend beschreiben zu können. Ferner bekommt die Irreversibilität der Zeit ihre Stellung in den Naturwissenschaften. Sie kann nun nicht mehr nur als jene subjektive "Illusion" gelten, die in einer "zeitlosen" Physik zu überwinden ist, sondern hat sich als eine Setzung erwiesen, die es in der Tat ennöglicht, Phänomene für eine naturwissenschaftliche Beobachtung zu erschließen. Dabei gehen Prigogine und Stengers davon aus, daß die Vorstellung einer gerichteten Zeit ihren primären Anhalt nur an unserem Erleben von Zeit haben kann. "Zeit" gilt ihnen als ein im Grunde vorwissenschaftlicher Begriff, der als solcher Voraussetzung der Naturwissenschaften ist,118 eine Position, die auch c.F. von Weizsäcker vertritt, der schon 1939 darauf aufmerksam gemacht hat, daß die geschichtliche Zeit mit ihrem Unterschied von Vergangenheit und Zukunft in der naturwissenschaftlichen Anwendung des Wahrscheinlichkeits begriffs vorausgesetzt ist. 119 Daraus folgt, daß die Naturwissenschaften insgesamt die Erfahrung gelebter Zeit voraussetzen, wobei aber die Mechanik von jener Irreversibilität der Zeit, die in der Erfahrung des Lebens gegeben ist, absieht. 115

l. Prigogine/l. Stengers, Dialog mit der Natur, 286.

Ebd., 21 u. 152. Vgl. J. D. Colditz, Kosmos als Schöpfung. Die Bedeutung der Creatio ex nihilo vor dem Anspruch moderner Kosmologie, Regensburg 1994, bes. 147. 118 l. Prigogine/l. Stengers, Dialog mit der Natur, 287. 119 C. F. von Weizsäcker, Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft, in: ders., Die Einheit der Natur - Studien, München 41984, 172-182. 116

ll7

4 Bohlen

A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

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3. Die Naturwissenschaften und die erlebte Zeit Die Besinnung auf die Geschichte hat deutlich gemacht, daß eine Vennittlung von naturwissenschaftlichem und philosophischem Denken erforderlich ist, soll die Kluft, die die Wahrheit der Naturwissenschaften von der der Geisteswissenschaften sowie auch der Theologie scheidet, nicht zu einer Spaltung unserer eigenen Rationalität werden. Eine solche Vennittlung scheint möglich geworden zu sein dadurch, daß sich die Naturwissenschaften unserer Tage gezwungen sehen, ihren Gesetzesbegriff anders zu bestimmen. Naturwissenschaftliches Forschen versteht man allgemein als das Fragen nach Naturgesetzen. 120 Dabei gelten die Gesetze der Mechanik als das Grundparadigma naturwissenschaftlicher Gesetze schlechthin. Für alle newtonschen Gesetze gilt aber, daß sie streng deterministisch sind. Als solche begriinden sie die Möglichkeit, künftige und vergangene Naturereignisse zu berechnen. Die Berechnung erfolgt auf der Grundlage eines Zeitbegriffs, in dem Zeit als streng gleichförmiger Zeitfluß verstanden wird, wobei der Zeitfluß als mathematisch symmetrisch zu betrachten ist. Die in der Mechanik Newtons vorausgesetzte Symmetrie der Zeit wurde zur Grundüberzeugung der Naturwissenschaftler, den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft hielt man für ein rein subjektives Phänomen, das zu bedenken nicht Sache der Wissenschaften, sondern der Philosophie, insbesondere der Phänomenologie sei. 121 Die Erkenntnis, daß eine solche Vorstellung von der Gesetzlichkeit der Natur nicht haltbar ist, hat sich erst in unserem Jahrhundert durchgesetzt. In ihm setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Erfassung des Seins mittels detenninistischer Naturgesetze bezüglich ihrer Gültigkeit auf stabile Systeme begrenzt ist. Neben ihnen gibt es solche Systeme, die nur durch eine auf Wahrscheinlichkeiten verweisende Beschreibung zu erfassen sind, wobei man nicht umhin kann, Zeit als gerichtete Zeit in die Beschreibung einzutragen. Das hat zur Folge, daß jene narrative Struktur, die den Geschichtswissenschaften vorbehalten schien, den Naturwissenschaften nun nicht mehr gänzlich fremd ist. Grundlegend dazu war die Einsicht der Quantenmechanik, nach der es unmöglich ist, von einem streng detenninistischen Bezug von Ursache und Wirkung auszugehen. Das führte zum einen zu einem gewandelten Verständnis der Zeit, insofern es möglich wurde, die Zukunft, auf die alle Wahrscheinlichkeitsaussagen bezogen sind, als das "Reich des Möglichen" von der Vergangenheit zu unterscheiden. Zum anderen kam es zu einer Infragestellung des Materiebegriffs. Ist es nicht möglich, einem Teilchen eine bestimmte Bewegungsbahn zuzusprechen, da es sich auf allen möglichen Bahnen bewegt, kann man von ihm als einem Teilchen nur mehr aufgrund eines Mittelungsverfahrens sprechen, in dem aus allen möglichen Bahnen die wahrscheinlichste errechnet wird, um dann von dem Teilchen sprechen zu können, als ob ihm eine bestimmte Bahn eignete. Die Begriffe der Materie und 120 121

V gl. I. Prigogine / l. Stengers, Das Paradox der Zeit, 10 f. Ebd.

11. Ansätze zu einern Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften

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der an die Materie gebundenen Substantialität bringen demnach aber nicht ein "An-sich" der materiellen Welt zur Sprache, sondern entsprechen der Art, in der sich Welt für uns darstellt, und zwar nur in dem Fall, daß wir sie Wahrscheinlichkeiten mittelnd, folglich vergröbernd betrachten. In einer quantenmechanischen Sicht stellt sich die Welt als eine Gesamtheit möglicher Ereignisse dar, die sich nur verfestigen, d. h. materialisieren, indem sie beobachtet werden. 122 Und nur im Kontext einer zu beobachtenden Welt kann dann auch nach bestimmten Ursachen gefragt werden, wobei schon die Fragestellung eine bestimmte Sicht des Beobachters voraussetzt. In der Theorie der dissipativen Systeme wird die deterministische Beschreibung der Welt als Folge einer Vergröberung jener Ereignisse, die sich in quantenmechanischer Sicht nur als mögliche oder wahrscheinliche Ereignisse darstellen, begriffen. Durch eine gewandelte Konzeption der Zeit sollte es möglich werden, den Übergang von einer auf Wahrscheinlichkeiten abhebenden zu einer deterministischen Beschreibung naturwissenschaftlich begründet zu vollziehen. 123 Entsprechend wurde eine innere Systemzeit in den Ansatz gebracht, in der die Ereignisse, die das Geschehen in einem System bestimmen, als irreversible Ereignisse zur Sprache kamen. Seit Prigogine ist es möglich, Systemen eine Geschichte zuzusprechen, die einer narrativen Darstellung bedürfen. Prigogines Ansatz stellt aber nicht nur den Unterschied von narrativer Darstellung und auf Gesetze abhebender Feststellung in Frage, sondern auch den Graben, der die Welt der menschlichen Freiheit von der Welt der Natur trennt. Beide stellen sich ihm dar als instabile Systeme, in denen Bifurkationspunkte auftreten, die dann für die Geschichte des Systems bestimmend werden. Der Augenblick einer menschlichen Entscheidung wird in einer solchen Sicht zu einem Bifurkationspunkt, der Mensch zu einem Teil der Natur. Im Bezug darauf scheinen doch Fragen angebracht. Es kann zutreffen, daß sowohl die Natur als auch der Mensch in ihrem Sein auf Zukunft als das "Reich des Möglichen" ausgreifen. Doch die Einheit von Vergangenheit und Zukunft stellt sich in der Freiheitsgeschichte des Menschen anders dar als in der Geschichte der Natur oder eines Natursystems. Denn nur im Menschen ist die Vergangenheit da als das "Reich der gewesenen Möglichkeiten", von denen her Zukunft erschlossen werden kann. Entsprechend ist auch der Augenblick der menschlichen Entscheidung nicht auf einen Bifurkationspunkt zu reduzieren, sondern er stellt sich dar als das Ereignis, in dem Zukunft und Vergan122 Vgl. dazu H.-P. Dürr; Über die Notwendigkeit, in offenen Systemen zu denken - Der Teil und das Ganze, in: Die Welt als offenes System. Eine Kontroverse um das Werk von lIya Prigogine, hg. von G. Altner, Frankfurt/M. 1986,9-31, bes. 21: "Aus quantenmechanischer Sicht gibt es keine zeitlich durchgängig existierende objektivierbare Welt, sondern diese Welt ereignet sich gewissermaßen in jedem Augenblick neu". 123 R. HohlfeldiR. InhetveenlR. KötterlE. Müller; Der Wissenschaftler und die NaturEin Dialog? Versuch einer kritischen Würdigung der Argumente Prigogines, in: Die Welt als offenes System. Eine Kontroverse um das Werk von lIya Prigogine, hg. von G. Altner, Frankfurt/Mo 1986,32-47,39.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

genheit dadurch eins werden, daß das Leben gelebt wird. 124 Prigogines Ansatz gibt zwar eine Möglichkeit vor, die Einheit von Natur- und Freiheitsgeschichte insofern sichtbar zu machen, als Natur nicht länger als streng determiniertes Gefüge von Ursachen und Wirkungen begriffen werden muß. Er stößt aber nicht zu einer positiven Bestimmung dessen, was Freiheit ist, vor. Schon von daher ist es für die Theologie auch nicht damit getan, unter Rückgriff auf den Ansatz Prigogines Schöpfung als Prozeß zu deuten. 125 Unbeschadet dessen, ist in Bezug auf unsere Frage nach dem möglichen Fundament für das Gespräch der Theologie mit den Naturwissenschaften die Tatsache entscheidend, daß sich durch Prigogine seitens der Naturwissenschaften die Einsicht durchsetzen konnte, daß die vorwissenschaftliehe Zeiterfahrung nicht als eine rein subjektive Erfahrung zu überwinden ist, sondern daß sie in das wissenschaftliche Forschen als eine seiner Voraussetzungen einzutragen ist. Die Wissenschaften können sich nicht von dem Subjekt und dessen vorwissenschaftlichen Erfahrungen verabschieden, eine Tatsache, die die Scheidung von Subjektivität und Objektivität auch von wissenschaftlicher Seite aus fraglich macht. Es ist unstriuig, daß Zeit, allem wissenschaftlichen Fragen voraus, von uns erlebt wird. Es gibt Zeit als Zeit unseres Lebens, als von uns gelebte Zeit. Sie ist insofern gerichtete Zeit, als sie von uns im Vollzug des Lebens als die Einheit erfahren wird, die unsere Möglichkeiten, das, was sein wird, und das, was gewesen ist, eint, und zwar im Übergang des Möglichen in das Gewesene. Daran hat unser Sprechen von der Gerichtetheit der Zeit, die dann als Voraussetzung in das naturwissenschaftliche Forschen Eingang findet, seinen primären Anhalt. Von dorther wird man auch Prigogines Theorie kritisch zu beurteilen haben. Prigogine hält es zwar für gerechtfertigt, die gerichtete Zeit als objektive Zeit zu betrachten. Ist aber die Zeit in ihrer Gerichtetheit eine Voraussetzung der Naturwissenschaften, kann sie durch die Naturwissenschaften keine "objektive" Rechtfertigung erfahren. Als gerichtete Zeit ist die Zeit weder subjektiv noch objektiv, sondern sie ist die Voraussetzung dafür, daß wir Naturereignisse wissenschaftlich und d. h. mit dem Anspruch auf Objektivität deuten können. Ist aber das gelebte Leben der primäre Anhalt für die Erfahrung der Zeit und ihrer Ausrichtung, hat ihm das Interesse der Philosophie zu gelten. Auf welche Art gibt sich Zeit im Leben, welches nur zu Zeiten von wissenschaftlichen Interessen

124 K. Pohl. Geschichte der Natur und geschichtliche Erfahrung. Bemerkungen zu Ilya Prigogines Versuch eines neuen Dialogs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, in: Die Welt als offenes System. Eine Kontroverse um das Werk von Ilya Prigogine, hg. von G. Altner, Frankfurt/M. 1986, 104-123. 125 Dazu sieht sich G. Altner herausgefordert. Vgl. G. Altner; Wer ist's, der alles dieses zusammenhält? Das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaften im Lichte von Prigogines "Dialog mit der Natur", in: Die Welt als offenes System. Eine Kontroverse um das Werk von lIya Prigogine, hg. von G. Altner, Frankfurt/M. 1986, 161-171, 170.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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bestimmt ist? Ereignet sich unser Leben nur in der Zeit oder ereignet es die Zeit selbst? Die Phänomenologie hat sich von ihren Anfangen an die Frage nach der Zeit zur Aufgabe gemacht. Auf ihre Einsichten werden wir in dem folgenden Kapitel zu sprechen kommen.

111. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit 1. Von der Zeitlosigkeit der Wissenschaften zur subjektiven Zeit

Im vorangegangen Kapitel wurden die grundlegenden Ansätze in den Naturwissenschaften angesprochen, die für unser Verständnis des Universums bestimmend geworden sind. Als Leitfaden der Darstellung griffen wir die These Prigogines auf, nach dem es in der Geschichte der Physik seit Newton zu einer Wiederentdeckung der Zeit, insbesondere ihrer Irreversibilität, gekommen ist. Entscheidend dafür waren nicht nur die Einsichten der Thermodynamik, sondern auch die Erkenntnis der Quantenmechanik. Die Anwendung ihres Wahrscheinlichkeitsbegriffs setzt ein Verständnis der Zeit in der Unterschiedenheit ihrer modi voraus. Denn der Begriff der Wahrscheinlichkeit ist mit dem des Möglichen verknüpft, der sich für uns mit der Zukunft verbindet. Die Verbindung selbst ist fundiert in der vorwissenschaftlichen Zeiterfahrung. Nur sofern wir schon darum wissen, daß uns in unseren Möglichkeiten eine noch unbestimmte, da durch unser Handeln zu bestimmende Zukunft gegeben ist, kann der Wahrscheinlichkeitsbegriff begründet mit dem des Zukünftigen verbunden werden. Im Unterschied zum Möglichen stellt sich das Faktische dar als das, worauf der Wahrscheinlichkeitsbegriff nicht anwendbar ist. Damit korreliert die Erfahrung, in das Vergangene nicht mehr bestimmend eingreifen zu können. Von daher hat schon C. F. von Weizsäcker die These vertreten, die Physik baue auf einem in der menschlichen Erfahrung begründeten Vorverständnis der Zeit auf,126 eine These, die unter anderem von· Prigogine und Stengers übernommen wurde. 127 Sie hat Weizsäcker den Vorwurf eingebracht, er rekurriere auf ein subjektives Phänomen, welches der Objektivität der Wissenschaft widerspreche. 128 Wird aber eine objektive Bestimmung der Zeit angestrebt, d. h. eine Bestimmung, in der der Mensch und sein Zeiterleben nicht in den Ansatz kommt, kann man nur auf Naturereignisse rekurrieren, die thermodynamisch betrachtet irreversibel sind. Doch es wäre unmöglich, die Irreversibilität der Naturereignisse einer temporalen Deutung zu un126 C. F. von Weizsäcker, Zeit und Wissen, München/Wien 1992,280. Vgl. ders., Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen, Göttingen 8 1979, bes. 31 - 43. 127 I. Prigogine / I. Stengers, Dialog mit der Natur, a. a. 0., 285 - 290. 128 Vgl. C. F. von Weizsäcker, Die Logik zeitlicher Aussagen und die Grundlagen der Physik, in: Information Philosophie, 3 (1986), 7 - 22, bes. 22; dazu E. Richter, Ursprüngliche und physikalische Zeit, Berlin 1996, 71 ff.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

terwerfen, wäre uns nicht ein Vorverständnis der Zeit gegeben 129. Ist dieses Vorverständnis der ennöglichende Grund der wissenschaftlichen Erforschung von Naturereignissen, kann es sich auch nicht um eine nur durch die Subjektivität der Forschenden bedingte "Illusion" handeln. Es stellt sich vielmehr die Frage nach dem Verhältnis unseres vorwissenschaftlichen Zeitverständnisses zu der Zeitvorstellung, auf die in den Wissenschaften zurückgegriffen wird. Von daher legt es sich nahe, die Frage nach dem Fundament für ein Gespräch der Naturwissenschaften und der Philosophie auf die Frage nach der Zeit zu fokussieren und der Entdeckung oder "Wiederentdeckung" der Zeit jene Besinnung auf die Zeit, die sich in der Geschichte der Philosophie insbesondere mit den Namen Kant, Bergson, Husserl und Heidegger verknüpft, an die Seite zu stellen. Kants Theorie der Zeit, so wie sie insbesondere in der transzendentalen Ästhetik der KRV ausgearbeitet wurde, kann als die "Magna Charta der modernen Zeitphilosophie,,13o gelten. Daß seine Theorie dennoch gerade auf Seiten der Naturwissenschaften auf Ablehnung stößt, die nicht selten zur Folge hat, daß man es nicht für nötig erachtet, Kants Transzendentalphilosophie und die in ihrem Kontext ausgearbeitete Grundlegung der Naturwissenschaften überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, hat seinen Grund darin, daß man Kants Theorie der Zeit als einer subjektiven Anschauungsfonn als eine Subjektivierung der Zeit deutet, die mit dem Objektivitätsanspruch der Naturwissenschaften nicht zu vereinbaren und folglich abzulehnen sei. 13l Wir werden an anderer Stelle, im Kontext einer ausführlichen Darstellung der theoretischen Philosophie Kants, auf dessen Zeittheorie zu sprechen kommen. Vorgreifend sei nur darauf aufmerksam gemacht, daß Kant die Zeit nicht als eine Illusion ansieht, sondern ihr "empirische Realität" zuspricht. 132 Danach hat im Rahmen der empirischen Erfahrung, mithin auch in dem wissenschaftlichen Fragen nach der Natur, die Zeit als real zu gelten. Die empirische Realität der Zeit ist aber für Kant darin begründet, daß es sich bei ihr um eine allen Subjekten gemeinsame Anschauungsfonn handelt, die empirische Erfahrung allererst ennöglicht. Empirische Erfahrung gibt es überhaupt nur dadurch, daß unser Erkennen ein zeitliches ist, d. h. auf solches bezogen, das in der Zeit erscheint. Eine andere Fonn des Erkennens, insbesondere jene reine Wesenserkenntnis, die - falls eine solche überhaupt denkbar ist - nur Gott möglich sein dürfte, kann es für uns nicht geben. 129 Vgl. E. Richter, Ursprüngliche und physikalische Zeit, 73 f. M. Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit, 75. In diesem Kontext unterstellt K. Gödel Kant die These, auch für ihn sei die Zeit nur eine "Illusion", die durch unsere Form der Anschauung bedingt sei und daher keine objektive Realität habe. Vgl. K. Gödel, Eine Bemerkung über die Beziehungen zwischen der Relativitätstheorie und der idealistischen Philosophie, 406-412, bes. 406). Auch J. M. E. McTaggert, der aus sprachanalytischen Gründen die Irrealität der Zeit voraussetzt, glaubt, in der Tradition Kants zu stehen Vgl. J. M. E. McTaggert, Die Irrealität der Zeit, in: Klassiker der modemen Zeitphilosophie, hg. von W. eh. Zimmerli und M. Sandbothe, Darmstadt 1993, 67 - 86. 132 KRV B 52/ A 36. 130 l3l

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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Das Gespräch über die Zeit und mögliche Zeitvorstellungen, das im Gefolge Kants anhob, war dennoch lange Zeit nur bestimmt von der Frage, ob Zeit ontologisch real oder irreal sei 133. Dabei wurden auch Zeittheorien ins Gespräch gebracht, die bewußt vor Kants kritische Philosophie zurückgehen und Zeit als subjektunabhängige Realität begreifen. Auch der Ansatz H. Bergsons kann als eine Rehabilitierung der ontologischen Realität der Zeit verstanden werden 134. Bergson bringt das Zeitdenken aber insofern auf eine andere Ebene der Reflexion, als er die Vorstellung von der Zeit als einer Linie, in der sich eine Zeiteinheit an die andere reiht, als eine "Realisierung" von Zeit begreift, die in Analogie zu unserer Vorstellung vom Raum erfolgt. 135 "Es versteht sich von selbst", führt Bergson aus, "daß man um eine Linie in der Form einer Linie zu apperzipieren, sich außerhalb ihrer stellen, sich das sie umgebende Leere zum Bewußtsein bringen und folglich einen dreidimensionalen Raum denken muß".136 Zeit wird als objektive Zeit real dadurch, daß sie räumlich vorgestellt wird. In solcher Verräumlichung der Zeit begründet sich die lineare Zeitvorstellung. Ursprünglicher aber ist jene "Intuition" der Zeit, in der sich uns Zeit als ,,reine Dauer" gibt. 137 Bei ihr handelt es sich nicht um ein reines Zeitquantum, welches nach Bergson Gegenstand der Naturwissenschaften wäre 138 , sondern es handelt sich um eine qualitativ bestimmte Zeit. Denn in ihr steht das Jetzt in einem Gefüge erinnerter Vergangenheit. Als solches ist es ein Jetzt, das sich im Kontext des Lebensganzen qualitativ bestimmt. Bergson ist sich dabei durchaus dessen bewußt, daß eine Philosophie, die es sich zur Aufgabe macht, Zeit als Qualität zu denken, vor sprachlichen Problemen stehen wird, muß sie doch zu einer ihrer eigenen Sache entsprechenden Strenge des Sagens finden. Mit seiner Forderung nach einer gewandelten Philosophie eröffnet Bergson den Weg zu dem Gedanken einer ursprünglichen Zeit, aus der die linear vorgestellte Zeit, die Zeit der Wissenschaften, abzuleiten ist, wobei Bergson das Geschehen der Ableitung als Verräumlichung von Zeit begreift.

133 134

Vgl. M. Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit, 83-87. Ebd.86.

135 Die Zeittheorie Bergsans wird ausführlich dargestellt durch: L. Giroux, Duree Pure et Temporalite. Bergson et Heidegger, Montreal 1971; R. W. Meyer, Bergson in Deutschland, in: Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. von E. W. Orth, Freiburg/München 1982, 10-64; C. Strube, Bergson und Prigogine - Die naturphilosophische Idee eines zweiten Zeitbegriffs in der Physik, in: Auf der Suche nach der Wirklichkeit, hg. von F. Böversen, Wuppertal 1990; eh. Reuter-Jendrich, Lebensweltliche Zeitlichkeit. Zur problematischen Bedeutung philosophischen Zeitdenkens für lebensweltliche Zeitlichkeit am Beispiel Henri Bergsons -, Köln 1995. 136 H. Bergson, Zeit und Freiheit, Frankfurt/M. 1989,80. 137 Ebd., 61 u.ö. 138 Ebd. 88 ff.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

2. Phänomenologische Konzepte der Zeit a) Husserls "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins"

Auch Husserl führt die Vorstellung von Zeit auf ein von ihm als "Urimpression" bestimmtes intuitives Geschehen zurück. Das geschieht grundlegend in der Vorlesung "Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins". Im § 1 führt Husserl aus, die Frage nach der Zeit sei nicht zu stellen als Frage nach der objektiven Zeit und folglich auch nicht nach der Zeit, von der die Naturwissenschaften sprechen. Das Interesse der Philosophie, insbesondere der Phänomenologie, gelte statt dessen der immanenten Zeit des Bewußtseinsverlaufs 139. Husserl geht von der Einsicht aus, daß jede Objektwahrnehmung mit der einer Dauer verbunden ist. Um nun zu klären, warum die Wahrnehmung von Objekten mit jener der Dauer, d. h. der Zeit verbunden ist, ist nach Husserl der Rückgang auf das wahrnehmende Subjekt erforderlich. Denn das Wahrnehmen, auch das der Zeit, ist ein Vollzug, der in der Immanenz subjektiven Bewußtseins stattfindet und nur dort phänomenologisch aufgeklärt werden kann. Entsprechend fordert Husserl den Rückgang auf das innere Zeitbewußtsein, der nur möglich ist, indem die Frage nach der "objektiven", d. h. bewußtseinstranszendenten Zeit, "ausgeschaltet" wird. 14o Mit der Ausschaltung der Frage nach der Realität der bewußtseinstranszendenten Zeit als solcher ist nicht die These verbunden, es gebe keine objektive Zeit. Der Weg des Rückgangs in das Bewußtsein wird nur der Tatsache gerecht, daß es Zeit für uns nur gibt, sofern sie von uns erfahren, mithin in der Immanenz des Bewußtseins zugänglich wird. Es geht Husserl nun darum zu klären, wie Zeitbewußtsein überhaupt möglich ist. Dabei verknüpft sich für ihn die Frage nach der Möglichkeit des Zeitbewußtseins mit der Frage nach dessen Ursprung. Grundlegend auch für den in der Vorlesung ,,zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" vorgetragenen Gedankengang ist Husserls Einsicht in die intentionale Struktur des Bewußtseins, die durch die Einheit von intentio und intentum bestimmt ist. Unter allen intentionalen Akten ist die Wahrnehmung von besonderem Interesse, da nur in ihr das intentum, der Bewußtseinsgegenstand, originär gegeben ist, d. h. sich in einer Urimpression unmittelbar zu erfahren gibt. Mit der Urimpression setzt der Wahmehmungsprozeß ein, in dem das Objekt als solches konstituiert wird. 141 Doch sie ist nur die "ideale Grenze" des Wahrnehmungs geschehens, dessen Anfang nicht von seinem Vollzug getrennt werden kann. Die Urimpression hat folglich an sich selbst den Charakter eines Übergangs. Er erfolgt durch eine Modifikation des Bewußtseins, die Husserl mit dem Begriff des retentionalen Bewußtseins benennt. Um das Ge139 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893 - 1917), hg. von R. Böhm, Den Haag 1966 (Husserliana Bd. 10),4 f. 140 V gl. ebd., 4: § 1: Ausschaltung der objektiven Zeit. 141 Ebd., 4 f.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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dachte zu verdeutlichen, greift er das schon von Augustinus bedachte Phänomen der Wahrnehmung eines Tones auf. 142 Erklingt ein Ton, klingt er auch schon in unserem Bewußtsein nach als eben erklungener. Im Bewußtsein nachklingend und derart noch gegenwärtig, ist der Ton nur noch in Abschattung gegeben. Entsprechend ordnet Husserl dem Urbewußtsein, das sich in einer Urimpression begriindet, ein retentionales Bewußtsein zu, in dem das intentum zwar als abgeschattetes, doch noch gegenwärtiges gegeben ist. Mit der Konstitution einer ganzen Reihe von Retentionen verwandelt sich das Jetzt, das sich von der Urimpression her bestimmt, in ein vergangenes. Das Zeitbewußtsein stellt sich also nach Husserl dar als ein Zeitfluß, der - in einem urimpressionalen Jetzt anfangend - eine Reihe von Retentionen umgreift, die als Abschattungen des Jetzt begriffen werden können. Die Husserlsche Zeitanalyse verdichtet sich somit in dem Gedanken des Jetzt, gedacht als der Anfang einer Reihe von Retentionen. Das ,,Jetzt" ist für ihn das "Urdatum", von dem her die Zeit verständlich wird. "Wie die retentionale Phase die vorangehende bewußt hat [ ... ], so ist auch schon das Urdatum bewußt - und zwar in der eigentümlichen Form des ,jetzt' - ohne gegenständlich zu sein. Eben dieses Urbewußtsein ist es, das in die retentionale Modifikation übergeht [ ... ], wäre es nicht vorhanden, so wäre auch keine Retention denkbar.,,143 Unbeschadet der Primordialität des Jetzt, der Gegenwart, in dem Husserlschen Zeitkonzept, gelingt es Husserl, die Zeit in ihrer Zeitigung als Fluß sichtbar zu machen. Danach kann es ein Bewußtsein von Objekten nur geben in der Einheit von Impression und Retention, wobei sich das impressionale Bewußtsein fließend modifiziert zu retentionalern Bewußtsein l44 , so daß Wahrnehmung immer schon in Erinnerung übergeht. 145 Husserl unterscheidet dann primäre und sekundäre Erinnerung, Retention und Reproduktion. "Die Modifikation des Bewußtseins, die ein originäres Jetzt in ein reproduziertes verwandelt, ist etwas ganz anderes als diejenige Modifikation, welche sei es das originäre, sei es das reproduzierte Jetzt verwandelt in das Vergangen. ,,146 Die Reproduktion stellt einen eigenen Akt der Erinnerung dar, in der das Reproduzierte als vergangenes erinnert wird. Anders als die Retention, welche die Gegenwart selbst in ihrer temporalen Erstreckung ausmacht, gibt die Erinnerung die Gegenwart als vergegenwärtigte wieder. Ohne die reproduktive Erinnerung kann die Einsicht in die Identität von Objekten nicht verständlich gemacht werden. Denn als mit sich identisch geben sich die Objekte nur, sofern ein Objekt erinnert 142 Augustinus, Confessiones, XI, 27, 34; Zur Augustinischen Zeitanalyse vgl. K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text - Übersetzung - Kommentar, Frankfurt/M. 1993. Zum Verhältnis zwischen Augustinus und Husserl, die u. a. durch die Fokussierung der Zeitanalyse auf das Zeitbewußtsein verbunden sind vgl. F.-W von Herrmann, Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt / M. 1992, bes. §§ 20 - 22. 143 E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 119. 144 Ebd., 29. 145 Ebd., 40. 146 Ebd. 46 f.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

und nochmals erinnert wird und alle Erinnerungen als Erinnerungen an ein Objekt identifiziert werden. An die Reproduktion ist aber auch das Identitätsbewußtsein des Subjektes geknüpft. Denn nur dadurch, daß ein Subjekt sich im Vollzug des Erinnerns der Möglichkeit bewußt werden kann, sich an jede Stelle des Flusses zuriickzuversetzen und sie nochmals zu erzeugen, kann es sich als mit sich selbst identisch ansehen. Damit trägt sich dann auch die Problematik der Unterscheidung von absoluter Subjektivität und selbstbewußtem Subjekt in Husserls Zeitanalysen ein. Husserl geht davon aus, daß der fluß des Bewußtseins, obzwar selbst durch Aufeinanderfolge bestimmt, an sich selbst auch die Bedingung der Möglichkeit des Bewußtseins der Folge darstellen muß. Denn anderenfalls wäre der unendliche Regreß nicht zu umgehen. Darum führt Husserl den Gedanken einer "Selbsterscheinung des Flusses,,147, d. h. einer Selbstgegebenheit der Subjektivität ein, damit ,,[v]on einer Zeit des letzten konstituierenden Bewußtseins [ ... ] nicht mehr gesprochen werden [kann].,,148 Der fluß des Bewußtseins erscheint sich demnach selbst, er ist an sich selbst und für sich selbst offen. Inwiefern aber das selbst zeitlich strukturierte Bewußtsein für sich selbst offen sein kann, vermag Husserl nicht zu sagen, obwohl er das Problem gesehen hat. "Es fragt sich nun aber, ob wir nicht sagen müssen, es walte über allem Bewußtsein im Fluß noch das letzte Bewußtsein [ ... ]. Es ist aber ernstlich zu überlegen, ob man solch ein letztes Bewußtsein annehmen muß, das ein notwendig ,unbewußtes' Bewußtsein wäre".149 Es ist zu fragen, ob Husserl in der zitierten Überlegung in der Tat dem metaphysischen Ideal absoluten Selbstbewußtseins verfällt oder ob seine Worte nicht doch andeuten, daß ein solches Ideal auch ihm zur Frage geworden ist. 150 Dafür spricht, daß Husserl Kants Lehre von der Synthesis der produktiven Einbildungskraft als eine Lehre von der Konstitution der Zeit in der Produktivität des assoziierenden Subjektes sieht, die er zu einer Theorie der passiven Synthesis umzuformen fordert. 151 Ebenso ordnet er in den "Cartesianischen Meditationen" den Aktivitäten des Subjektes eine passive Synthesis zu, deren Prinzip mittels des Begriffs der Assoziation als ein zeitliches bestimmt wird. 152 Mit dem Gedanken der passiven Synthesis wird Husserl im Ansatz der Tatsache gerecht, daß die Konstitution der Zeit selbst, in der sich die Gegenstände des Erkennens geben, nicht von der Aktivität Ebd., 83. Ebd., 78. 149 Ebd., 382 (Beilage Nr. 54). ISO Vgl. dazu R. Bemet. Die ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und Abwesenheit in Husserls Analyse des Zeitbewußtseins, in: Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger. Beiträge von R. Bemet u. a., Freiburg I München 1983 (Phänomenologische Forschungen 14),16-57, bes. 56. 151 E. Husserl. Analysen zur passiven Synthesis (1918-1926), hg. von M. Fleischer, Den Haag 1966 (Husserliana Bd. 11),275 f. 152 E. Husserl. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. und eingel. von S. Strasser, Den Haag 1950 (Husserliana Bd. I), 112 ff. 147

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III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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des seiner selbst bewußten ego cogito her begründet werden kann. Daß sich daraus für das Denken ein Weg ergibt, das Philosophieren im Ausgang vom Selbstbewußtsein auf ein "ursprünglicheres" Denken zu überwinden, wird für die Phänomenologie Husserls selbst allerdings noch nicht bedeutsam. Doch werden Heidegger und Levinas, auf dessen phänomenologischen Ansatz in einem eigenen Kapitel einzugehen sein wird,153 das Problem aufgreifen und das Selbstbewußtsein des Subjektes auf seinen ermöglichenden Grund in Frage stellen. Die für die Husserlsche Phänomenologie fundamentale Einsicht in die Intentionalität aufgreifend, Husserls subjektivitätsphilosophischen Ansatz aber überwindend,154 konnte Heidegger deutlich machen, daß der ermöglichende Grund der Vorstellung der Zeit als eines gerichteten Zeitflusses nur die Zeitigung des Daseins sein kann. Ihr Ursprung ist nicht das Bewußtsein eines Subjektes, auch nicht ein "letztes Bewußtsein", nach dem zu fragen Husserl durch den eigenen subjektivitätsphilosophischen Ansatz noch genötigt ist. Die Zeit ist überhaupt nichts Subjektives. Denn Heidegger weist in "Sein und Zeit" und den Vorlesungen, die auf "Sein und Zeit" folgen, nach, daß die Zeitigung der Zeit das Fundament auch jenes Verhältnisses des Menschen zu sich selbst ist, welches es ermöglicht, von Bewußtseins und Subjektivität zu sprechen 155. Die Zeit ist aber auch kein Objekt, sondern die Bedingung der Möglichkeit der Objektivierung von Seiendem. Heideggers Zeittheorie unterscheidet sich also von anderen Auslegungen der Zeit, auch von der Bergsons und Husserls, dadurch, daß in ihr die Zeitigung der Zeit nicht mehr im Kontext der Subjekt-Objekt-Spaltung gedacht wird. Insofern dadurch ein Weg eröffnet wird, in dem Husserls Frage nach dem Ursprung der Zeit nochmals ursprünglicher gestellt wird, ist Heideggers Phänomenologie für uns von besonderem Interesse.

b) Heideggers Phänomenologie der Zeitigung des Daseins

Philosophieren heißt, nach der Verständlichkeit von Sein fragen. Demnach ist Philosophie als Ontologie zu vollziehen. 156 Die Ontologie umfaßt in sich eine Mannigfaltigkeit regionaler Ontologien, die der Mannigfaltigkeit der Weisen entV gl. Teil D, Kapitel 11. Mit Heidegger soll unter Subjektivitätsphilosophie ein Philosophieren verstanden werden, das sich in einem absoluten Bewußtsein zu begründen trachtet. 155 Vgl. M. Heidegger; Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, hg. von E-W. von Herrmann, Frankfurt/M. 1983 (GA 29/30),237; Ders., Vom Wesen des Grundes, 138; Ders., Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, hg. von K. Held, Frankfurt/M. 1978 (GA 26), 233 f. Eine ausführliche Darstellung der Heideggerschen Fundierung des Selbstverhältnisses in der Zeitlichkeit des Daseins gibt: F.-K. Blust, Selbstheit und Zeitlichkeit. Heideggers neuer Denkansatz zur Seinsbestimmung des Ich. Würzburg 1987. 156 Vgl. M. Heidegger; Die Grundprobleme der Phänomenologie, 15. 153

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spricht, in denen Sein verstanden wird. Sie sind das Fundament der ontischen Wissenschaften, die mit einem, von ihnen selbst nicht begründeten Vorbegriff von Sein, nach dem Seienden einer bestimmten Region fragen. 157 Paradigmatisch macht Heidegger auf den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften aufmerksam. Nur sofern der Unterschied von res extensa und res cogitans schon verstanden ist, kann wissenschaftlich einerseits nach dem Seienden gefragt werden, das dem Begriff der Natur untergeordnet werden kann, andererseits nach dem Seienden, das als res cogitans "Sache" der Geisteswissenschaften ist. Mit seiner Frage nach dem ermöglichenden Grund des Verstehens von Sein in der Mannigfaltigkeit seiner Seinsweisen fragt Heidegger also auch nach dem Fundament der Natur- sowie Geisteswissenschaften. Die Fundamentalontologie, führt Heidegger dazu in "Sein und Zeit" aus, habe die Aufgabe, durch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens von Sein "die Bedingung der Möglichkeit der vor den ontischen Wissenschaften liegenden und sie fundierenden Ontologien selbst" aufzuweisen. IS8 Die Phänomenologie kann ihre Frage nach dem Sein und der Mannigfaltigkeit der Seinsweisen methodisch nur im Ausgang von einer Analytik des menschlichen Seins stellen, das Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen noch unter dem Terminus "Leben" behandelt. Menschsein geschieht als Leben, und zwar als Leben in einer Welt. 159 Nur in solchem Leben ist die Verständlichkeit von Sein gegeben, von woher es Heidegger dann auch als rechtens ansieht, unser Sein "Da-sein" zu nennen. Indem Heidegger die Seinsfrage in einer Analytik des In-der-Welt-seins fundiert, geht er auch in Bezug auf die Frage nach der Zeit einen anderen Weg als Husserl, der sich apriori auf eine Analyse des Bewußtseins verlegt, so daß er Zeit nur als inneren BewußtseinsfIuß in die Sicht bringen kann. 160 Heidegger analysiert nicht das Bewußtsein, sondern das In-der-Welt-sein des Menschen. Dessen Existenz ist dadurch bestimmt, daß in ihr Sein insofern verstanden ist, als der Mensch sich auf sein Sein, sein Existieren selbst versteht. Im praktischen Verhalten des Menschen zu seinem Sein, welches Heidegger mit der Formel des Seins umwillen des eigenen Seins l61 benennt, versteht der Mensch sich aber nicht nur auf sein eigenes Sein, seine Existenz, sondern er versteht auch das Seiende im Ganzen, und zwar unter anderem als Vorhandenes. Das Verstehen von Sein als Vorhandenheit Ebd., 17 f., vgl. ders., Sein und Zeit, 11. Ebd. 159 Vgl. M. Heidegger; Einleitung in die Phänomenologie der Religion, in: ders., Phänomenologie des religiösen Lebens, hg. von M. Jung, Th. Regehly und C. Strube, Frankfurt/M. 1995 (GA 60), 11. 160 Eine Auslegung des Zeitphänomens im Ausgang von den Husserlschen Analysen aber unter Destruktion der Reduktion der Zeit auf ein Bewußtseinsphänomen unternimmt F. -W von Herrmann, Bewußtsein, Zeit und We1tverständnis, Frankfurt/M. 1971, 195-267. Vgl. auch R. Bemet, Origine du temps et temps originaire chez Husserl et Heidegger, in: Revue philosophique de Louvain 85 (1987) 499-521. 161 M. Heidegger; Sein und Zeit, 12. 157 158

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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ist nach Heidegger das ontologische Fundament der Naturwissenschaften, für die das Seiende nur dann als wissenschaftlich befragt gilt, sofern es rein als Vorhandenes angesehen wird. Soll Seiendes als Vorhandenes verständlich werden, muß es nach Heidegger in einem Horizont erscheinen, der ein temporaler ist und dessen Temporalität auf den Begriff der Präsenz gebracht werden kann. Seiendes ist vorhanden, sofern es präsent ist oder vorstellend re-präsentiert werden kann. Die Zeit ist also für Heidegger kein Objekt, sondern der Horizont, in dem es möglich wird, Seiendes als vorhandenes anzusehen. Als solche ist sie der ermöglichende Grund der Objektivierung von Seiendem. Die Zeit ist aber auch nichts Subjektives. Denn die Zeitigung der Zeit ist das Fundament auch jenes Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, welches es ermöglicht, von Bewußtsein, selbstbewußter Identität und Subjektivität zu sprechen. Um das nachzuweisen, weist Heidegger im ersten Teil von "Sein und Zeit" phänomenologisch nach, daß das Sein des Menschen, sein Dasein, eine zeitliche Struktur hat, die als eine Einheit von Ekstasen bestimmt ist. In dem dritten Abschnitt des ersten Teiles, der nicht veröffentlicht wurde, dessen Grundgedanken aber in der Vorlesung vom Sommersemester 1927, "Grundprobleme der Phänomenologie" mitgeteilt wurden l62 , wären dann den Ekstasen der Zeit Schemata zugeordnet worden, die als die Horizonte fungieren, von denen her Seiendes als in der Zeit vorhandenes verständlich werden kann, wodurch bewiesen worden wäre, daß die Zeit der Horizont ist, von dem her Sein, insbesondere Sein als Vorhandenheit verständlich wird und der als solcher die Voraussetzung ist, die wissenschaftliches Fragen nach dem Seienden als rein vorhandenem möglich macht. 163 Dem ersten Teil von "Sein und Zeit" sollte ein zweiter folgen, der nicht veröffentlicht wurde. In ihm wollte Heidegger die Grundzüge einer Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität", d. h. der Problematik der Zeit als des Horizontes, in dem Sein verständlich wird, ausarbeiten. Beabsichtigt war sowohl eine Analyse des Kantischen als auch des Aristotelischen Zeitbegriffs. Auf Aristoteles kommt Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 zu sprechen, um von seinem Zeitbegriff her nachzuweisen, daß die Vorstellung von Zeit als einer Abfolge, in der sich ein Jetzt an das andere reiht, abkünftig ist von einer urspriinglichen Zeit, der Zeit des Daseins, die sich in dem Zeitbegriff des Aristoteles noch insofern zu denken gibt, als Aristoteles den Horizont, der in den Begriffen "friiher" und "später" angesprochen ist, zu bedenken gibt als den Kontext, in dem die Abfolge, in der ein Jetzt auf das andere folgt, verständlich wird, ohne das Verhältnis der Abfolge zu ihrem Kontext selbst zu thema-

162 Zum Verhältnis der Vorlesung vorn Sornrnersemester 1927 zu "Sein und Zeit" vgl.: F.W. von Hernnann, Heideggers "Grundprobleme der Phänomenologie". Zur "zweiten Hälfte" von "Sein und Zeit", Frankfurt/M. 1991. 163 Vgl. dazu die Frage, mit der der veröffentlichte Teil von "Sein und Zeit", schließt: "Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?" Zum Problem der Temporalität vgl. ferner M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 324 ff.

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tisieren. l64 Der in den Wissenschaften vorausgesetzte Begriff der Zeit ist demnach abkünftig von jenem Zeitbegriff, der die zeitliche Struktur menschlichen Dasein selbst zur Sprache bringt. 165 Die Analytik des Daseins bringt die Zeitlichkeit der Lebensbewegung, in der Sein verständlich wird, zum Aufweis, ohne sich dabei apriori in dem Vorurteil zu begründen, Zeit könne grundsätzlich nur als jener eindimensional verlaufende Zeitfluß begriffen werden, in dem Leben geschieht. Die phänomenologische Einklammerung dieser Zeitvorstellung, und nicht nur die von Husserl geforderte Ausklammerung der Frage nach der objektiven, d. h. bewußtseinstranszendenten Realität der Zeit, ist nach Heidegger die Bedingung dafür, daß das Dasein unverstellt in den Ansatz kommen kann. Denn nur dann kann sichtbar werden, daß sich Dasein nicht in der Zeit ereignet, sondern sein Sein zeitigt als seine Zeit. Die Zeit, führt Heidegger dazu in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 aus, sei in bezug auf das Da-sein keine Dimension. Werde sie nur als eine Dimension begriffen und die Dimensionen der Raumzeit nur als ein Rahmen angesehen, in dem Leben geschieht, werde die Sicht auf die Seinsweise menschlichen Daseins verstellt. 166 Auch in den Theorien, die den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft unter Rückgriff auf den Menschen und das Jetzt seiner aktuellen Lebensvollzüge begründen, wird noch von einem an sich gegebenen Zeitfluß her gedacht. Zeit gibt es aber nicht unabhängig vom Dasein und seinen Lebensvollzügen, sondern sie zeitigt sich im Sein des Daseins, in der Existenz. Nur in einer unverstellten Sicht auf die Struktur der Existenz kann sichtbar werden, daß sich im Existieren selbst die Zeitigung von Zeit ereignet, und zwar derart, daß das Dasein, ausgreifend in die Möglichkeiten, die es nicht nur hat, sondern durch die es ontologisch bestimmt ist l67 , sich selbst vorweg ist. Daran hat das Sprechen von Zukunft seinen Anhalt. An sich selbst zukünftig, greift das Dasein die eigene Faktizität auf, um sich von dort her seine Möglichkeiten zu verstehen zu geben. Das Faktische stellt sich entsprechend in der Sicht des Daseins nicht als das nur Vergangene dar, sondern als die gewesenen Möglichkeiten, auf die man zurückgreifen kann. Und nur die eigene Faktizität aufgreifend und in seine Möglichkeiten vorgreifend, ist das Dasein bei sich selbst und anderem Seienden derart, daß es Seiendes als solches "gegenwärtigen", d. h. ihm das Jetzt seiner Gegenwart eröffnen kann. Das JetztSagen, in dem sich das Dasein ausspricht, ist daher nur zu verstehen auf dem Fundament der Tatsache, daß das Dasein in seinen Möglichkeiten auf sich zukommt, darin auf das zurückkommt, was es gewesen ist, und derart bei Seiendem ist. Die Wendungen Auf-zu, Zurück-zu und Sein-bei sind Bestimmungen der Zeitlichkeit des Daseins, die in sich selbst und an sich selbst "außer sich" ist, entrückt in das Noch-nicht-jetzt und Nicht-mehr-jetzt. "Sofern die Zeitlichkeit durch dieses Auf164

165 166 167

Vgl. ausführlich M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 330 ff. Ebd., 22. Ebd., 362 ff. M. Heidegger, Sein und Zeit, 336.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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zu, das Zurück-zu und das Bei bestimmt ist, ist sie außer sich. Die Zeit ist in sich selbst als Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart entrückt. Als zukünftiges ist das Dasein zu seinem gewesenen Seinkönnen, als gewesenes zu seiner Gewesenheit, als gegenwärtigendes zu anderem Seienden entrückt. ,,168 Die der Zeitlichkeit eigene Entrückung nennt Heidegger den ekstatischen Charakter der Zeit. Der Aufweis des ekstatischen Charakters der Zeitigung der Existenz, die Heidegger in "Sein und Zeit" auf die Formel bringt: "Sich-vorweg-sein - im-schonsein-in ... - als Sein-bei ... ,,169 destruiert erstens die Frage nach der Einheit der Zeit, insofern sie von einem einheitlichen Zeitigungsgeschehen her denkt. Darin ist einbegriffen eine Überwindung des Problems, das bislang mit jenem Zeitbegriff verbunden war, der uns als der objektive galt: die Frage nach der Irreversibilität der Zeit. Heidegger hat gesehen, daß die Unurnkehrbarkeit der Zeit nur dann ein Problem ist, wenn Zeit apriori als ein Zeitfluß gedacht wird, in dem ein Jetzt auf das andere folgt. 170 Denkt man Zeit aber von der Existenz des Daseins her als ein ek-statisches Ausgreifen auf das eigene Seinkönnen, stellt sich Zeit von sich aus als gerichtete Zeit dar, deren Richtung sich durch den Primat der Zukunft ergibt, der dem Dasein als jenem Seienden, das ontologisch durch seine Möglichkeiten bestimmt ist, zukommt. 171 Heideggers Ansatz ermöglicht zweitens ein gewandeltes Verständnis der schon von Husserl vertretenen These, daß dem Jetzt ein Übergangscharakter eigen sei. Das Jetzt bestimmt sich für Heidegger primär aus dem Sein-bei, das im Verhalten zum Seienden vollzogen wird. Ein solches Jetzt ist immer schon erstreckt in das Noch-nicht und Nicht-mehr, es kann überhaupt nur in seinem Bezug zu den Möglichkeiten gedacht werden, in denen das Dasein schon in der Welt seiend, sich selbst vorweg ist. Nach dem Aufweis des ekstatischen Charakters der Zeit wendet sich Heidegger der Frage zu, inwiefern die Zeitlichkeit des Daseins als solche die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Sein überhaupt ist, und zwar in der Mannigfaltigkeit möglicher Seinsweisen, unter denen insbesondere die von Natur und Geist zu nennen sind. Die anstehende Frage arbeitet Heidegger eigens aus in der Vorlesung vom Sommersemester 1927, in der die für den dritten Abschnitt des ersten Teiles von "Sein und Zeit" vorgesehene Wende zu ,,zeit und Sein" ausgearbeitet vorgetragen wurde, unter dem Terminus der Temporalität. "Er [der Begriff der Temporalität] meint die Zeitlichkeit, sofern sie selbst zum Thema gemacht ist als Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses und der Ontologie als solcher" 172. Die Behandlung der Problematik der Temporalität klärt die für uns interessante Frage, wodurch es zur Vorstellung einer objektiven, d. h. von aller Bedeutsarnkeit

168 169 170 171 172

M. Heidegger; Die Grundprobleme der Phänomenologie, 377. M. Heidegger; Sein und Zeit, 196.

Ebd.,426. Ebd. M. Heidegger; Die Grundprobleme der Phänomenologie, 324.

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entleeren, eindimensionalen Zeit kommen kann, in der Seiendes als solches eine bestimmte Zeitstelle einnimmt. Heidegger geht davon aus, daß mit der Existenz des Daseins das Faktum gegeben ist, daß das Dasein sich ausspricht. Von ihm her ist auch die Veröffentlichung der Zeit verständlich zu machen. Seinsverständnis gibt es nur als Sprache. Also existiert Da-sein nur in der Sprache und eine Sprache sprechend. Indem das Dasein sich aber ausspricht, sagt es: Jetzt. Wird das Jetzt-sagen im Kontext des vorwissenschaftlichen Verhaltens des Daseins zu Seiendem als solchem erfahren, wird ersichtlich, daß sich darin das Da-sein selbst ausspricht, und zwar als eines, das sich Zeit nimmt als "Zeit, um zu ...". Dem Verstehen von Zeit als einer Zeit, die es sich zu nehmen gilt, um zu tun, was zu tun ist, entspricht einem Verhalten zum Seienden, in dem das Seiende als ein solches in die Sicht kommt, das zu verwenden ist zu solchem, worauf es dem Dasein ankommt, dessen Existenz davon bestimmt ist, daß es ihm in seinem Sein um sein Sein geht, d. h. daß es umwillen seiner selbst ist. 173 Im Kontext seines vorwissenschaftlichen Verhaltens zu Seiendem spricht das Dasein demnach ein Jetzt aus als ein "Jetzt, da es an der Zeit ist, um zu ... ,,174 Entsprechend scheiden sich ihm die Zeiten in geeignete und ungeeignete Zeiten 175 : Zeiten, die sich eignen, um zu tun, was es zu tun gilt, und Zeiten, da es nicht an der Zeit ist, um zu .... Der in der Unterscheidung von geeigneten und ungeeigneten Zeiten greifbaren Bedeutsarnkeit von Zeit aber kann man nicht gerecht werden, solange man Zeit nur als einen Fluß vorstellt, in dem ein Jetzt auf das andere folgt, wobei alle Jetzt gleich-gültig sind. Um die Zeit unverstellt, und d. h. in der ihr eigenen lebensweltlichen Bedeutsarnkeit in die Sicht zu bringen, wird man auch Husserls Einklammerung der Thesis von der transzendentalen Realität der Welt umwillen der reinen Sichtbarmachung der immanenten Welt des Bewußtseins zu verwerfen haben. Statt dessen ist davon auszugehen, daß Dasein als In-der-Welt-sein in einem Verhältnis zu sich selbst lebt, das durch die Sorge um das eigene Sein bestimmt ist. In den Paragraphen 14 bis 18 von "Sein und Zeit" weist Heidegger dann nach, daß die Welt, d. h. die Lebenswelt des Daseins dadurch konstituiert ist, daß ein Seiendes, welches als solches verstanden ist, das verwendbar ist zu solchem, worauf es dem Dasein ankommt, auf anderes Seiendes verweist, und zwar derart, daß es in seiner Bedeutung nur aus dem Ganzen der Verweisungen, die als Verweisungen eines Um-zu verwurzelt sind in dem Umwillen, das das Dasein sich selbst ist. "Das primäre 'Wozu' ist ein Worum-willen. Das 'Um-willen' betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht,,176. Die Verwurzelung der Bedeutsarnkeit von Welt in dem Sein des Daseins 173 M. Heidegger; Sein und Zeit, 353. 174 Vgl. M. Heidegger; Die Grundprobleme der Phänomenologie, 365. 175

M. Heidegger; Sein und Zeit, 414.

176 Ebd., 84.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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umwillen des Seins hat zur Voraussetzung, daß der Begriff "Welt" mit Heidegger ontologisch-existenzial gebraucht wird. Als solcher nennt er nicht die Gesamtheit des Seienden, sondern bringt zur Sprache, daß das Dasein, soll es Seiendes als solches erfahren, eines Horizontes bedarf, von dem her das Seiende verständlich wird. Auch die Erfahrung der Natur als der Gesamtheit des in der Welt vorhandenen Seienden setzt den Horizont "Welt" voraus. 177 Mit seiner These von der Temporalität des Seins fordert Heidegger dementsprechend nicht dazu auf, den Begriff der Realität in den der Zeit aufzulösen,178 sondern sich dessen bewußt zu werden, daß das Verstehen von Seiendem als solchem, unter anderem auch das von Natur, einen Horizont, genannt "Welt", voraussetzt, der eine temporale Struktur hat. Um verständlich zu machen, daß die in dem Umwillen, welches das Dasein selbst ist, fokussierte Welt einen temporalen Sinn hat, d. h. nur von der Zeitigung des Daseins her gedacht werden kann, ordnet Heidegger den Ekstasen der Zeitigung horizontale Schemata zu, die in ihrer einheitlichen Zeitigung den einen Horizont Welt ausmachen. Die Möglichkeit der Zuordnung wird von Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 nicht eigens begründet. Sie hat offensichtlich Kants Einsicht in das Wesen der Zeit, die sich für Heidegger insbesondere im Schematismuskapitel der "Kritik der reinen Vernunft" verdichtet, zur Voraussetzung. Entsprechend werden auch wir an anderer Stelle darauf eingehen. Entscheidend ist in dem nun in Frage stehenden Kontext nur zu sehen, daß sich nach Heidegger Welt im Sein des Daseins selbst als der zeitliche Horizont öffnet, in dem das Leben vollzogen werden kann, und zwar als ein "Sich-vorweg-sein - imschon-sein-in ... als Sein-bei" I 79. Als ekstatisch sich zeitigende, führt Heidegger aus, ist die Zeit in sich selbst außer sich, d. h. offen, und dementsprechend ist das sich zeitigende Seiende eröffnet auf horizontale Schemata hin, von denen her Seiendes als solches begegnen kann. Für das Verstehen des Seienden in seiner Verwendbarkeit ist jenes Schema bedeutsam, welches der Ekstase des Gegenwärtigens zuzuordnen ist: die Präsenz. Denn Seiendes in seiner Verwendbarkeit zu verstehen bedeutet, es auf Präsenz hin zu entwerfen oder ihm von dem in der Zeitigung vorentworfenen Horizont der Präsenz her als einem solchen zu begegnen, das in seinem Um-zu zu gegenwärtigen ist. Indem aufgewiesen wurde, daß es Zeit nur als Zeitlichkeit des Daseins gibt und ihre Zeitigung ekstatisch-horizontal erfolgt, ist der erste Schritt zur Klärung des Problems der Temporalität vollzogen. Demnach eröffnet sich in der Zeitigung der Zeit Welt als jener Horizont, von dem her Seiendes als solches verständlich wird. Da die Eröffnung von Welt mit der Zeitigung der Zeit im Dasein geschieht, gilt sowohl für die Zeit als auch die Welt: "Wenn das ,Subjekt' ontologisch als existierendes Dasein begriffen wird, dessen Sein in der Zeitlichkeit gründet, dann muß gesagt werden: Welt ist ,subjektiv'. Diese ,subjektive' Welt aber ist dann als zeitlich177 178 179

Ebd.,65. Vgl. M. Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit, 108 f. M. Heidegger; Sein und Zeit, 196.

5 Bohlen

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transzendente ,objektiver' als jedes mögliche ,Objekt"d8o. Die Zeit ist kein Objekt, sondern die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Objekten. Nur dadurch, daß sich in der Zeitigung des Daseins Zeit horizontal eröffnet, gibt es die Offenheit von Welt, in der Objekte als solche erfahren werden können. Ohne Dasein gäbe es also keine horizontal eröffnete Zeit, keine Welt. Dennoch sind weder Zeit noch Welt einfachhin subjektiv. Denn das Phänomen der Öffnung von Welt in der ekstatisch-horizontalen Zeitigung des Daseins, das Heidegger unter dem Terminus der Transzendenz denkt, ist das Fundament auch des Selbstseins des Menschen. Denn um sich zu Seiendem als solchem - unter anderem auch zu sich als Selbst - verhalten zu können, bedarf es des offenen Horizontes, von dem her Seiendes in dem ihm eigenen Sein verständlich wird. Darum gibt es jenes Selbstbewußtsein, durch welches der Mensch als Subjekt bestimmt ist, nur aufgrund der Tatsache, daß der Mensch von der Welt her auf sich zuriickkommend für sich selbst "präsent" sein kann. 181 Mit Heideggers Klärung des Problems der Temporalität wird die Fundierung der Zeit im Bewußtsein durchbrochen. Die Zeit wird nun von dem Sein des Daseins her gedacht, wodurch ihre ekstatischhorizontale Zeitigung als der ermöglichende Grund jedes Verhaltens zu Seiendem als solchem, auch des Selbstverhältnisses des Menschen, sichtbar wird. In einern zweiten Schritt ist es nun möglich, eine bestimmte Modifikation der Zeit als den ermöglichenden Grund jenes Verhaltens zu Seiendem, das wissenschaftliche Forschung ausmacht, nachzuweisen. "Objektivität" macht das Ethos der Naturwissenschaften aus. Ein Phänomen gilt als objektiv beschrieben, sofern es in seiner Tatsächlichkeit zur Sprache gebracht ist. Als Tatsachenwissenschaften beschreiben die Naturwissenschaften, was tatsächlich der Fall ist, was zur Folge hat, daß die Welt nur als eine Gesamtheit von Tatsachen zur Sprache kommt. Vorauszusetzen ist ferner, daß alle Tatsachen als gleich-gültig zu begreifen sind, denn ihre Gültigkeit ist allein in ihrer Faktizität begriindet. Um nun aber einen Sachverhalt als eine Tatsache unter anderen ansprechen zu können, bedarf es einer Thematisierung desselben, in welcher er als solcher in die Sicht kommt. Darum kann es keine "Objektivität" geben, ohne entsprechende Haltung zur Welt. Dem entspricht Heideggers These, es sei Sache der Phänomenologie, einen existenzialen Begriff der Wissenschaften auszuarbeiten, in dem die Wissenschaft als Weise der Existenz verstanden werde. Wissenschaftliches Forschen ist eine bestimmte Weise zu existieren, ein Modus, sich zu Seiendem zu verhalten und es als solches zu verstehen. Dabei gilt für alle Modifikationen des Verständnisses, daß sie fundiert sind in einern bestimmten Vorverständnis von Welt, dem ein Verhältnis zur Zeit entspricht. Heidegger führt die mathematische Physik als Paradigma an. Die Physik nimmt das Seiende als ein solches, das in seinem Sein allein auf mathematischem Weg, d. h. durch die Angabe von Quanten bestimmt werden kann. Dafür ist ein Entwurf von Natur erforderlich, in dem Sein und Quantifizierbarkeit in eins fallen, Sein also 180 Ebd., 366. 181

M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 425 f.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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als mathesis universalis gedacht wird. Die mathesis universalis ist freilich dadurch bestimmt, daß in ihr alle Raum- und Zeitstellen gleichgültig sind. Die Abkünftigkeit jener Zeitvorstellung, die für die Naturwissenschaften entscheidend ist, von der ekstatischen Zeitigung des Daseins führt Heidegger entsprechend auf eine Entleerung der Zeit bezüglich ihrer Bedeutsarnkeit zurück. Spricht das Dasein Zeit im vorwissenschaftlichen Verhalten zu Seiendem aus als Zeit, um zu ... , d. h. als bedeutsame Zeit, gilt ihm Zeit in den Wissenschaften nur als eine Abfolge gleichgültiger Zeitabschnitte, analog zum Raum, der sich in den Wissenschaften nur als eine Einheit gleich-gültiger Räume zu erfahren gibt. Nur dadurch also, daß dem Seienden ein Horizont vorgeworfen wird, der als ein Ganzes gleichgültiger Raum-Zeit-Stellen entworfen ist, kann das Seiende sich dann als nur Vorhandenes, als reine Tatsache, die wissenschaftlich erforschbar ist, darstellen. Dazu führt Heidegger in "Sein und Zeit" aus: "Die ,Begründung' der ,Tatsachenwissenschaft' wurde nur dadurch möglich, daß die Forscher verstanden: es gibt grundsätzlich keine ,bloßen Tatsachen' ,,182. Eine Sache, ein Sachverhalt, kann sich als "bloße Tatsache" nur im Kontext eines Vorentwurfs von Raum und Zeit darstellen, der die im vorwissenschaftlichen Lebensvollzug verwurzelte Bedeutsarnkeit der Welt abblendet; Heidegger spricht daher auch von einer "Ent-Iebung der Welt,,183. Dadurch ist das Verhältnis der Welt der Wissenschaften zur Lebenswelt des Daseins und mithin auch das Verhältnis der ursprünglichen Zeit zu der Zeit der Wissenschaften als ein Verhältnis der Abkünftigkeit bestimmt. Zwar begründet Heidegger die "Ent-Iebung der Welt", d. h. die Mathematisierung von Zeit, als eine mögliche existentielle Verhaltung des Daseins mittels der möglichen Uneigentlichkeit seines Seins. Das hat dazu geführt, daß man dachte, Heidegger werte die Zeitvorstellung der Naturwissenschaften ab. Entsprechend glaubt auch M. Sandbothe, der pejorativen Deutung der wissenschaftlichen Zeitvorstellung, die er Heidegger unterstellt, widersprechen zu müssen. Von daher sehen wir uns genötigt, darauf aufmerksam zu machen, daß Heidegger selbst den Unterschied von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit im Sein des Daseins zu dem Zweck einführt, die Möglichkeit der Modifikation von Seins- und Zeitvorstellung verständlich zu machen. Er selbst will den Vollzug von Existenz im Modus der Uneigentlichkeit nicht pejorativ beurteilt wissen. Es ist also nicht gerechtfertigt, Heidegger eine Abwertung der wissenschaftlichen Zeitvorstellung und damit eine antiwissenschaftliche Haltung zu unterstellen. Im Kontext der Heideggerschen Fragestellung kommt es nur darauf an zu sehen, daß die Wissenschaften eine bestimmte Weise der Existenz seitens des Wissenschaftlers voraussetzen, die dadurch bestimmt ist, daß von der Bedeutsarnkeit, die die Welt als die Lebenswelt des Menschen, eines durch die Sorge um sein Sein bestimmten Seienden hat, abgesehen wird. Da sich dadurch Zeit als ein Ganzes an sich gleich-gültiger Zeiten und Raum 182

M. Heidegger, Sein und Zeit, 362.

183 M. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, 84 ff. 5*

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als ein Ganzes gleich-gültiger Räume konstituiert, wirft sich der Wissenschaftler im Absehen von Bedeutsamkeit überhaupt den Horizont vor, in dem dann das Seiende als nur Vorhandenes sichtbar werden kann. Von daher stellt sich nun das Verhältnis der Natur- und Geisteswissenschaften als ein Verhältnis dar, in dem die Geisteswissenschaften insofern auch Wahres zu sagen haben, als sie die Existenzweise des vorwissenschaftlichen Daseins zur Sprache bringen und die Wahrheit seiner Welt, von der die Welt der Naturwissenschaftler als eine abkünftige, durch Abblendung von Bedeutsarnkeit konstituierte ist. Das bedeutet, daß die Wahrheit der Wissenschaften nur eine begrenzte Wahrheit ist. Denn in ihr wird das Seiende nur gesehen unter Abschattung der Tatsache, daß es dem Dasein in allem Verhalten zu Seiendem, auch dem wissenschaftlichen, um das eigene Sein und Seinkönnen geht. Von daher erscheint es dann auch gerechtfertigt, nach solchen Möglichkeiten des Verstehens von Sein zu fragen, in denen die Tatsache, daß es dem Menschen mit Notwendigkeit darum geht, er selbst sein zu können, nicht nur in Abschattung greifbar ist.

c) Die ursprüngliche Zeiterfahrung als Ansatzpunkt für ein Gespräch von Natur- und Geisteswissenschaften

Unsere Darstellung der Grundgedanken der Phänomenologie der Zeit hatte den Zweck, nach möglichen Wegen zu fragen, auf denen Natur- und Geisteswissenschaftler bzw. Theologen aufeinander zugehen könnten, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Seitens der Naturwissenschaftler öffnet sich ein solcher Weg in der Einsicht, daß ihnen nur solches als erkennbar gilt, das quantifiziert werden kann. Jede Quantifizierung aber setzt ein System voraus, in welchem solches, das zu quantifizieren ist, eine bestimmte Stelle einnimmt. Zu den auch für Theologen interessanten Einsichten der Naturwissenschaften dürfte die Einsicht zu rechnen sein, daß solche Systeme von unterschiedlicher temporaler Gestalt sein können. In den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, sah man sich von daher gedrängt, den "Übergang von einer einheitlichen zu einer pluralistischen Konzeption der Physik, die mit heterogenen Zeitkonzepten arbeitet", zu vollziehen. 184 Das wurde für Prigogine zum Beweggrund, eine Theorie der dissipativen Systeme auszuarbeiten, die zur Absicht hat, die unterschiedlichen Zeitkonzepte dadurch zu vereinheitlichen, daß die durch die Thermodynamik entdeckte Irreversibilität der Zeit sowie die von der Quantenmechanik thematisierte Wahrscheinlichkeit in die fundamentalen Gesetze der Physik eingetragen werden. Zwar ist Prigogines These, durch die Entdeckung der Irreversibilität der Zeit in der Physik seien die Naturwissenschaften zu einer "urspriinglicheren", da der Realität selbst korrelierenden Zeitkonzeption vorgedrungen l85 , insofern kritisch zu beurteilen, als sie ein unkritisches 184 185

M. Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit, 70. I. Prigogine 11. Stengers, Dialog mit der Natur, 268.

111. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

69

Verständnis des Verhältnisses von Realität und Erkenntnis impliziert, welches im Widerspruch zu der von Prigogine selbst vertretenen Konzeption eines partizipativen Universums steht. Doch kann man sagen, daß die Physik durch die Entdekkung oder Wiederentdeckung der Irreversibilität der Zeit zu einern Zeitverständnis vorgestoßen ist, in welchem die Erfahrung der Zeit, die in unserem Leben verwurzelt ist, als Voraussetzung einer temporalen Deutung physikalischer Ereignisse durchsichtig wird. Von daher erschien es uns ratsam, die Einsichten der Physik mit der Phänomenologie, die an der ursprünglichen Zeiterfahrung besonders interessiert ist, ins Gespräch zu bringen. Das im Leben selbst gegebene Vorverständnis von Zeit als den ermöglichenden Grund des wissenschaftlichen Verhältnisses zur Zeit und dadurch auch jenes Verstehens von Sein, in dem sich die Naturwissenschaften bewegen, zu deuten, ist eine der Absichten, die Heidegger in "Sein und Zeit" verfolgt. Die Welt der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, setzt Heidegger voraus, ist eine Welt gleich-gültiger Tatsachen. Insofern nun eine Tatsache durch Quantifikation, d. h. durch die Angabe ihrer Stelle in Raum und Zeit, ihre Bestimmung erfährt, korreliert die Gleichgültigkeit aller Tatsachen der aller Zeit- und RaumsteIlen. Die Gleich-gültigkeit aller Zeitstellen ist demnach konstitutiv für das Zeitverständnis der Wissenschaften. Sie wird auch durch die Entdeckung der Irreversibilität der Zeit nicht in Frage gestellt. Derart steht die Zeitvorstellung der Wissenschaften aber in einern Spannungsverhältnis zu der des gelebten Lebens, in dem keinesfalls alle Zeiten als gleich-gültig erfahren werden, gibt es in ihm doch geeignete und ungeeignete Zeiten, wobei sich jede Eignung aus dem Bezug zum Handeln des Daseins bestimmt, welches umwillen seines eigenen Seins und Seinkönnens ist. Der Übergang vorn Zeitverständnis des gelebten Lebens zum wissenschaftlichen Zeitverstehen erfolgt nach Heidegger durch eine Abschattung der Bedeutsarnkeit von Zeit, der eine von Heidegger als "Ent-Iebung der Welt" thematisierte Abschattung der Bedeutsarnkeit von Welt korreliert. In ihr konstituiert sich Zeit als ein Ganzes gleich-gültiger Zeitstellen, in dem dann das Ganze des Seienden als ein Ganzes gleich-gültiger Tatsachen erfahrbar wird. Die These, daß die Zeitvorstellung der Wissenschaften von der Zeiterfahrung des gelebten Lebens abkünftig ist derart, daß sie in einer Abschattung von Bedeutsarnkeit ihren ermöglichenden Grund hat, begreift nun aber in sich die Forderung, Sein nicht einfachhin auf die Tatsächlichkeit von Tatsachen zu begrenzen, sondern einen Seinsbegriff auszuarbeiten, der dem Wesen des Menschen als des Seienden, das als Sein umwillen des eigenen Seins für sich selbst bedeutsam ist, entspricht und den Menschen nicht nur als eine Tatsache unter anderen Tatsachen anspricht. Daran könnte dann auch das Sprechen von der Geschöpflichkeit des Menschen seinen primären Anhalt haben. Uns kommt es daher keinesfalls darauf an, die Theologie und ihr Sprechen von der Schöpfung wider alle Einreden der Naturwissenschaften dadurch zu immunisie-

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

ren, daß das Problem der Schöpfung als eines ausgewiesen wird, das sich naturwissenschaftlich nicht einmal stellt. Sondern wir sehen es als unsere Aufgabe an, danach zu fragen, woher denn das Sprechen von der Schöpfung, dem die Naturwissenschaften keine Bedeutung geben können, als ein bedeutsames ausgewiesen werden kann. In Bezug darauf sehen wir uns von der Debatte um die Zeit, die sowohl in den Naturwissenschaften als auch der Philosophie geführt wird, auf den Menschen als das sich zeitigende Wesen verwiesen. Folglich stellt sich für uns die Frage, ob nicht von der Zeitigung des Daseinsgeschehen her Schöpfung auf eine Art gedacht werden kann, die auch in unseren Tagen noch verständlich zu machen ist. 186

d) Heideggers Einsicht in die Zeitlichkeit des Daseins und die transzendentalphilosophische Frage Kants Anmerkungen zu Heideggers Kantauslegung

In Anbetracht unserer Absicht, einem Gespräch von Schöpfungstheologie und Naturwissenschaften den Boden zu legen im Ausgang von der Transzendentalphilosophie Kants und unter Rückgriff auf die philosophische Reflexion auf die Zeit, welche in der Phänomenologie insbesondere von Heidegger ausgearbeitet wurde, ist es ratsam, vorgreifend einiges zu dem Ansatz unserer Kantdeutung zu machen. Die Anregungen, die insbesondere von Heideggers Phänomenologie her für unseren Gedankengang bestimmend geworden sind, sollen in dem Kontext genannt werden. In der Überwindung des subjektivitätsphilosophischen Standpunktes Husserls denkt Heidegger das Sein des Menschen als In-der-Welt-sein, welches nur ist, indem es sich zeitigt. Im Begriff des In-der-Welt-seins wird der Mensch als das Wesen gedacht, das insofern das Vermögen zur Erfahrung des Seienden als eines solchen hat, als sich in der Zeitigung seines Seins Welt öffnet als der temporale Horizont, in dem Seiendes erfahrbar werden kann. Ohne die Öffnung von Welt im Seinsgeschehen des Daseins gäbe es für uns keine Natur, unabhängig davon, ob den Dingen ein von unserem Dasein unabhängiges Sein eignet. Folglich ist die Eröffnung von Welt die Bedingung der Möglichkeit aller Naturerkenntnis. Indem Heidegger nach ihr fragt, greift er die transzendental philosophische Frage Kants nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auf. 187 Von daher ist auch zu verstehen, daß Heidegger beabsichtigte, im zweiten Teil von "Sein und Zeit" auf Kant zu sprechen zu kommen, wobei er schon in "Sein und Zeit" auf die Nähe der Frage Kants zu der ihn interessierenden Problematik der Temporalität aufmerksam macht. 188 Auf sie hebt er dann auch in seiner Vorlesung von 1929 "Kant und das Problem der Metaphysik" ab. 189 186 Vgl. dazu den Ansatz von B. Casper; Was kann die Rede von Schöpfung bedeuten? 159-173. 187 KRV B 25/ A 12. 188 M. Heidegger; Sein und Zeit, 320.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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In ihr greift Heidegger die Ansätze von H. Heimsoeth 190 und M. Wundt 191 auf und fordert zu einer Interpretation der KRV als einer Schrift zur Grundlegung von Metaphysik auf. 192 Dadurch hat Heidegger die Kantdeutung auf einen Weg gebracht, der insofern auch für unsere Arbeit grundlegend ist, als in ihr allen denen eine Absage erteilt wird, denen Mendelssohns Diktum von Kant als dem "Zermalmer der Metaphysik"193 zum Anlaß geworden ist, das Gespräch mit ihm auch in Bezug auf theologische Fragen abzubrechen. Ohne die von Heidegger vollzogene Wende in der Kantauslegung wäre auch das Interesse der Theologie an Kants kritischer Philosophie, das in den letzten Jahrzehnten zu konstatieren ist, undenkbar. 194 Auch unsere Arbeit ordnet sich in das Ganze der metaphysischen Kantinterpretationen ein. Um nun die Nähe seines Denkens zu dem Kants sichtbar zu machen, legt Heidegger Kants Absicht, Metaphysik als Wissenschaft zu begründen, aus auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens von Sein, insbesondere des Verstehens von Sein als Natur. Die "kopernikanische Wende", durch die nach Kant eine Begründung der Metaphysik als einer Wissenschaft möglich wird, 195 deutet Heidegger dann als jene Wende in der Philosophie, die aus der Erkenntnis folgt, daß das apriorische Verstehen der Seinsverfassung des Seienden, die ontologische Erkenntnis, die Bedingung der Möglichkeit des verstehenden Verhaltens zu Seiendem, der ontischen Erkenntnis, sei. 196 Indem Heidegger die von ihm ausgearbeitete Unterscheidung von ontischer und ontologischer Wahrheit, des Verstehens von Seiendem als solchem einerseits und des Verstehens von Sein (Welt) andererseits zur Grundlage seiner Deutung der Kantischen Transzendentalphilosophie macht, fordert er zu einer Auslegung von Kants KRV auf, in welcher der Begriff der Konstitution - strenger als das bei Kant selbst der Fall ist - auf die Horizonte, in denen Seiendes als solches erscheint, bezogen wird. Daß er dadurch dem Grundgedanken Kants durchaus gerecht wird, geht u. a. aus der Kantdeutung F. Kaulbachs hervor. Auch er hat darauf abgehoben, daß Kants Begriff der Konstitution nicht auf die Gegenstände selbst bezogen zu denken sei, sondern auf die Horizonte, von denen her das sinnlich Gegebene als bestimmter oder bestimmbarer Gegen189 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hg. von E-w' Herrmann, Frankfurt/Mo 1991 (GA 3). 190 H. Heimsoeth, Die metaphysischen Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus, in: Kantstudien 29 (1924) 121 ff.; vgl. ders., Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 4 Bände, Berlin 1966 ff. 191 M. Wundt, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1924. 192 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1-18. 193 M. Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Erster Theil, Berlin 1785, in: Gesammelte Schriften. Band 1II/2., bearbeitet von L. Strauss, Stuttgart/Bad Canstatt 1974, 3. 194 V gl. N. Fischer, Zur neueren Diskussion um Kants Religionsphilosophie, 170 -194. 195 KRV B XlIff. 196 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 11.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

stand verständlich wird. 197 Unter den für den Erkenntnisvollzug konstitutiven Horizonten ist der von Gegenständlichkeit überhaupt der grundlegende. Ihn entwerfend, kommt das Subjekt den Gegenständen, die sich ihm geben, zuvor. Denn alles Erkennen greift auf das sinnlich Gegebene aus mit dem Vorgriff, daß es sich bei ihm um gegenständlich Seiendes handelt. "Dieses Zuvorkommen nimmt die Gestalt einer allgemeinen Gesetzgebung an, mit der das 'Ich denke' den Gegenständen eine Verfassung bzw. ein Grundgesetz auferlegt, das sie zu Gegenständen möglicher Erfahrung macht.,,198 Die Gesetzgebung durch das "lch denke", welche als Entwurf von Horizonten möglicher Erfahrung vollzogen wird, könne auch als eine Anwendung von "Perspektiven" auf das, was sich gibt, verstanden werden,199 wobei die Perspektive der Natur von der der Freiheit zu unterscheiden ist. Kants kritische Philosophie wird daher in der Deutung Kaulbachs zu einer "Philosophie des Perspektivismus", die dem Denkenden die Möglichkeit, in seinem Erkennen unterschiedliche Perspektiven, denen unterschiedliche Standpunkte korrelieren, zu gebrauchen, bewußt machen will. In seinem ausführlichen Kommentar zur KRV hat P. Baumanns den Auslegungen der Transzendentalphilosophie als einer Theorie der "Herstellung" von Erkenntnisgegenständen aus dem Material der Sinnlichkeit widersprochen. 2oo Sie sei eine Folge der Tatsache, daß man die transzendentale Vemunftkritik Kants nicht in den geschichtlichen Kontext eingeordnet habe, der nach Baumanns dadurch bestimmt ist, daß die Grundgedanken scholastischen Philosophierens, unter ihnen die Transzendentalienlehre, in der deutschen Schul philosophie aufgegriffen und von Kant kritisch gewendet werden?O\ Anhand einer Darstellung der Geschichte der

197

41 ff.

F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin/New York 1978,

198 F. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft. Eine Anleitung zum Studium von Kants Kritik der reinen Vernunft, Hildesheim 1981, 36. 199 Ebd .. Vgl. auch: F. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, Teil 1: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, Tübingen 1990, 11-136, bes. 13. 200 Vgl. P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der "Kritik der reinen Vernunft", Würzburg 1997. Nach P. Baumanns (ebd., 14) deutet auch Kaulbach die Vernunftkritik Kants als eine Theorie der Herstellung von Erkenntnisgegenständen. Seine Kritik dürfte ihren Grund in der Tatsache haben, daß Baumanns nur ältere Schriften Kaulbachs anführt. 201 Zur Einordnung der transzendentalen Vernunftkritik in die Geschichte der Transzendentalienlehre vgl. P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 305-389. Insofern P. Baumanns selbst betont, daß Kant die Einheit von Sein und Subjektivität kritisch gewendet denkt, ist die Kritik von N. Fischer, demzufolge es sich bei der Deutung von Baumanns um den "Versuch einer amalgamierenden Kant-Interpretation aus dem Geist und der Perspektive der absoluten Metaphysik des Deutschen Idealismus" handelt, nicht gerechtfertigt. (N. Fischer, Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, in: N. Fischer / D. Hattrup, Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, Paderborn/München/Wien/Zürich 1999,47-230, bes. 51, Anm. 6. Vgl. ders., Die Cardinalsätze der Metaphysik in der Kritik der reinen Vernunft. Fünf Thesen zu Kants "Revolution der Denkart" gemäß den "ersten Gedanken des Copernicus", in: Theologie und Glaube 89 (1999) 349-363, bes. 352, Anm. 8.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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Transzendentalienlehre weist Baumanns nach, daß Kant in der Tat den Ansatz der Transzendentalienlehre aufgreift, nach dem Denken und Sein nur in ihrer Korrelation gedacht werden können. 202 Die Einheit von Sein und Denken werde von Kant als apriori gegebener Bezug von transzendentalem Selbstbewußtsein und transzendentalem Gegenstand, d. h. die Partizipation der reinen Vernunft am Sein überhaupt, gedeutet, welche in dem Satz "Ich denke, ich bin" bewußt vollzogen werde. 203 Auch in unserer Sicht ist eine Auslegung der KRVals einer auf die Herstellung von Erkenntnisgegenständen bezogenen Konstitutionstheorie unhaltbar. Denn nur sofern der Erkenntnisvollzug einseitig von der Spontaneität des Verstandes her gedacht wird, kann es den Anschein haben, durch die Synthesis werde der Erkenntnisgegenstand hergestellt. Kants Erkenntnistheorie wird dann zu einer Theorie der "Herstellung" von Erkenntnisgegenständen durch das erkennende Subjekt aus dem Material, welches die Sinnlichkeit gibt, die Kant sich aufgrund der geschichtlichen Bedingungen seines Denkens vorauszusetzen genötigt sehe, die aber für seinen idealistischen Ansatz streng genommen ohne Bedeutung sei. Die idealistische Aufhebung von Sein in Subjektivität wäre dann eine notwendige Folge des Kantischen Ansatzes; sein kritisches Denken in der Tat der Inbegriff einer Philosophie der Herrschaft. Zwar wird man sagen müssen, daß Kant den Begriff der Synthesis auch auf die Gegenstände anwendet. Das hat zur Folge, daß die Begrenzung der Anwendbarkeit des Begriffs der Konstitution auf die Gegenständlichkeit der Gegenstände nicht erfolgt. Um der zu denkenden Sache willen wird aber auch in unseren Ausführungen vorausgesetzt werden, daß die transzendentalphilosophische Frage nach "unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese apriori möglich sein SOll,,204 nicht nach der Herstellung von Gegenständen, sondern nach der Erstellung der Horizonte fragt, in denen ein Gegenstand zur Bestimmung gebracht werden kann. Denn auch Kant hat sich in der KRV wider eine rein idealistische Auslegung des transzendentalphilosophischen Ansatzes ausgesprochen, und zwar nicht nur in dem Kapitel zur "Widerlegung des Idealismus,,?05 Auch seine Unterscheidung von "intuitus originarius" und "intuitus derivativus" macht eine idealistische Auslegung der KRV, die eine Aufhebung von Sein in Subjektivität zur Folge haben könnte, vom Ansatz her unmöglich. 206 Nach Kant ist es zwar denkbar, daß es einen Ver202 Vgl. dazu das Prinzip, von dem nach Thomas von Aquin in der Frage nach der Wahrheit auszugehen ist: "Illud autem quod primo intellectus concipit quasi notissimum, et in quo ornnes conceptiones resolvit." (Quaestiones disputae, Band I: De veritate, hg. von R. Spiazzi, Turin I Rom 1949, q. 1, a. I). 203 P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 379 f. 204 KRV B 251 A12. 205 KRV B 274 ff. 206 Vgl. KRV B 71 f.; Vgl. auch KRV B 7231 A 695, ferner die in der Kritik der Urteilskraft (KU) B 350 f.1 A 346 f. (AA Bd. 5, 408) getroffene Unterscheidung von "intellectus archetypus" und "intellectus ectypus", sowie den Brief an Marcus Herz vom 21. 02. 1772 (AA Bd. 10, 130).

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

stand geben könnte, "durch dessen Vorstellung die Gegenstände selbst zugleich gegeben, oder hervorgebracht würden. ,,207 In dem Augenblick, in dem ein solcher Verstand einen Gegenstand vorstellen würde, würde er ihn auch als solchen hervorbringen, d. h. erschaffen. Folglich könnte man in bezug auf einen solchen Verstand von einem "intiutus originarius" sprechen. Der Mensch aber kann die Gegenstände, die er sich vorstellig macht, nicht selbst herstellen oder erschaffen. Er kann sich seine Objekte nicht selbst geben, sondern nur solches vorstellen, das ihm gegeben ist, und zwar aufgrund einer Affektion. Die Angewiesenheit darauf, affiziert zu werden, unterscheidet den Menschen von dem "Urwesen", d. h. dem Schöpfer. In ihr wird die Geschöpflichkeit menschlichen Erkennens greifbar. Heidegger hat dann auch im Gegensatz zu der Deutung Kants als eines Erkenntnistheoretikers, für den im Erkennen die Konstitution der Gegenstände als solcher erfolgt, die Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Erkennens betont. Sie werde von Kant gedacht als Angewiesenheit des Menschen auf die Affektion durch das Seiende?08 Obwohl es daher unumgänglich ist, die Bedeutung der Endlichkeit des Menschen, von der noch nachzuweisen sein wird, daß sie auch in der Sicht Kants in dessen Geschöpflichkeit verwurzelt ist, für das Erkennen zu beachten, halten wir es dennoch nicht für gerechtfertigt, nun im Gegensatz zu den kritisierten Auslegungen der Philosophie Kants, in denen die Affektibilität des Menschen marginalisiert wird, eine Unterordnung der Spontaneität des Verstandes unter die Rezeptivität der Sinnlichkeit zu fordern, obwohl Heideggers Kantdeutung mit einer solchen Forderung verknüpft werden könnte?09 Denn - bedingt durch seine eigene Einsicht, daß der Horizont, von dem her Sein verständlich wird, nur die Zeit sein kann - setzt Heidegger voraus, daß Kant nach dem ermöglichenden Grund der Offenheit des Menschen für das Seiende als solches frage. Doch Kant problematisiert die Offenheit des Menschen für das Seiende selbst nicht, sondern er fragt danach, warum der Mensch das Seiende, für das er offen ist, auch verstehen kann. Die Betonung der Rezeptivität ermöglicht es Heidegger, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis auf die der Anschauung zu fokussieren, um dann die Anschauungsform der Zeit als den ermöglichenden Grund unseres Verstehens von Seiendem als solchem aufzuweisen. Insbesondere in der ersten Auflage seines Kant-Buches unterstellt Heidegger Kant, er sei von da aus an die Grenze zu einer Einsicht in die Zeitigung der Zeit als des ermöglichenden Grundes der Offenheit für das Seiende und dessen Sein vorgestoßen. Auf die Zeitigung der Zeit als das Grundgeschehen von Subjektivität habe Kant insbesondere in seiner Deutung der transzendentalen Einbildungskraft hin gedacht, worin man sicher auch eine Folge der Kantdeutung durch Husserl sehen darf. 210 Die Einsicht in die KRV B 145; vgl. KRV B 139. Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 25 ff. 209 Vgl. ebd., bes. 29 f. 210 Vgl. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 275 f.; Heidegger war mit Husserls phänomenologischen Analysen des Zeitbewußtseins wohl vertraut, hatte er doch die von 207

208

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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Zeitigung der Zeit sei allerdings nicht zur Ausarbeitung gekommen, da dazu eine die Substanzontologie in Frage stellende Analytik des Subjekts erforderlich gewesen wäre. 2lI Heidegger hat später selbst gesehen, daß er dadurch seine eigene Fragestellung in das Denken Kants eingetragen hat. Entsprechend grenzt er seinen Ansatz von der 2. Auflage des Kantbuches an von der transzendentalphilosophischen Frage Kants ab. 212 Heideggers Unterordnung der Spontaneität des Verstandes unter die Rezeptivität der Sinnlichkeit ist von Kant her gesehen problematisch. Das gilt aber auch für die Auslegungen, in denen nur die Verstandestätigkeit des Menschen Beachtung findet. Im Widerspruch dazu gehen wir davon aus, daß Kants Denken nur dadurch entsprochen werden kann, daß von zwei "Stämmen der Erkenntnis" ausgegangen wird, die aus einer Wurzel aufragen, die selbst nicht zum Thema des Denkens gemacht werden kann?13 Zwar entstammt nach Kant das Erkennen einerseits einem Erleiden, einer Passivität des Subjektes, die von Kant unter Berufung auf das scholastische Diktum "ornnis cognitio incipit a sensibus..214 als eine Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, an der nicht gezweifelt werden kann, vorausgesetzt wird215 . Soll es Erkenntnis geben, bedarf es der Affektion, was zur Folge hat, daß die Urteile, in denen Erkenntnis zur Sprache kommt, der Materialisierung am sinnlich Gegebenen, von dem der Mensch sich affiziert erfahrt, bedürfen, um objektive Gültigkeit beanspruchen zu können. Doch schon die Rezeption des Affizierenden stellt eine Handlung seitens des Affizierten dar, ohne die es nicht möglich wäre, das Erleiden einem bestimmten Subjekt zuzusprechen, für das Leiden zum Anfang des Fragens, des Strebens nach Erkenntnis, geworden iSt. 216 Kant kommt es nun gerade darauf an, den Übergang von der Passivität zur Aktivität, von der Rezeptivität der Sinnlichkeit zur Spontaneität des Verstandes begreiflich zu machen. Edith Stein ausgearbeiteten "Vorlesungen über das innere Zeitbewußtsein" 1928 selbst herausgegeben. Vgl. dazu E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Einleitung des Herausgebers, XIXff. 211 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, 23 f. und 320; ders., Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. 0., § 34, bes. 192. Zur Kritik vgl. H. Hoppe, Wandlungen in der Kantauffassung Heideggers, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, hg. von V. Klostermann, Frankfurt / M. 1970, 284 - 317. bes. 293 f. Vgl. auch E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriffbei Husserl und Heidegger, Berlin 1967,270 f. 212 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, XIV (Vorwort). 213 KRV B 29/ A 15. 214 Die Formulierung findet man bei Thomas von Aquin: "A sensibilibus incipit humana cognitio", Summa contra gentiles, III, 26, (Summa contra gentiles, Summe gegen die Heiden, Band 3,1, lateinisch-deutsch, hg. und übers. von K. Aigner, lateinischer Text mit Anm. von L. Gerken, Darmstadt 1990,116); vgl. auch Thomas von Aquin, De veritate, H,3,19: "nihil est in intellectu quod non sit prius in sensu". 215 KRVB 1.

216 Vgl. Aristoteles, Metaphysik A 2, 982 b 10, wo das "pathos" des Staunens als Anfang des Philosophierens genannt wird.

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A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

Dazu weist er in der transzendentalen Ästhetik der KRV nach, daß unsere Anschauung eine zeitliche ist. Anschaulich Gegebenes stellt sich darum für uns dar als in der Zeit erscheinendes. Aufgrund dessen, daß unsere Vorstellung von Zeit formal die einer Einheit ist, kann der Verstand an solchem, das in der Zeit erscheint, synthetisierend tätig werden. Da der menschliche Verstand als intuitus derivativus nicht das Vermögen hat, die Dinge von sich aus zu "ersehen", kann er sie sich nur im Ausgang von ihren Bestimmungen verständlich machen. Denn nur sie sind aufgrund der Affektion gegeben. Kant kann nachweisen, daß die Bestimmungen aufgrund der Zeitlichkeit des Affektionsgeschehens mit Notwendigkeit mannigfaltige sind, was zur Folge hat, daß an die Seite der Affektibilität des Menschen die Funktionalität des synthetisierenden Verstandes tritt. Sie ist der zweite Stamm der Erkenntnis, der insofern mit der Affektibilität in einer Wurzel vereint zu denken ist, als er durch die in der Affektibilität begriindete Anschauungsform der Zeit ermöglicht ist. Nachweisend, daß der Mensch sich das Seiende nur dadurch verständlich machen kann, daß er alle möglichen Bestimmungen denkend durchgeht, um unter ihnen jene dem zu erkennenden Seienden zuzusprechen, die ihm als für dessen Sein konstitutiv durchsichtig werden, alle anderen aber abzusprechen, greift Kant den Ansatz der aristotelischen Metaphysik auf, nach dem der Vollzug des Zu- und Absprechens von Bestimmungen, durch den die Einheit der Bestimmungen sichtbar wird, im Urteil vollzogen wird. Von daher ist zu verstehen, daß Kants Erkenntnistheorie, die - daran sei nochmals erinnert - in den Kontext seiner metaphysischen Fragestellung einzuordnen ist, als Urteilstheorie ansetzt. 217 Im Urteil findet sich der zu erkennende Gegenstand versetzt in den Status eines Subjektbegriffs, dem Prädikationen zu- oder abgesprochen werden. In der Synthesis, die darin gegeben ist, daß das Wort "ist" ein Subjekt und seine Prädikate eint, wird sichtbar, daß alles Verstehen in synthetisierenden Handlungen des Verstandes griindet, durch welche die mannigfaltigen Bestimmungen eines Gegenstandes zu einer einheitlichen Vorstellung von ihm vereinigt werden. Aus der Diskursivität unseres Denkens folgt also, daß der Verstand nicht anders denn als synthetisierend tätiger gedacht werden kann. Sein wird nur dadurch verständlich, daß der Mensch mittels des Verstandes eine Synthesis des in der sinnlichen Anschauung gegebenen Mannigfaltigen vollzieht, durch die ihm der Erkenntnisgegenstand in der Einheit seiner Bestimmungen, sowie die Mannigfaltigkeit aller erkennbaren Gegenstände als Einheit einer Welt durchsichtig werden. "Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand [ ... ] Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden.'.218 217 Vgl. P Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 71-86, für den die KRV "von der ersten Seite an eine einzige apperzeptionslogische Urteilstheorie" ist, in der sich die Einheit von Rezeptivität und Spontaneität dadurch erklärt, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption selbst auf einen zweiten Erkenntnisursprung verweist.

III. Zur philosophischen Reflexion auf die Zeit

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Die Funktionalität des Verstandes ist also ermöglicht durch die Affektibilitätsart unserer Sinnlichkeit. Das hat zur Folge, daß solches, das von uns nicht angeschaut, mithin nicht in der Zeit erscheinen kann, auch nicht verstanden werden kann. Es ist schlechthin unmöglich, die Begriffe des Verstandes auf es anzuwenden, d. h. es einer kategorialen Deutung zu unterwerfen, und nur sofern Denken nicht schlechthin mit kategorial-begrifflichem Denken in eins zu setzen ist, gibt es überhaupt die Möglichkeit, solches zu denken, das nicht in der Zeit ist. Die Möglichkeit, solches zu denken, das nicht in der Zeit geschieht, ist der ermöglichende Grund einer philosophischen Rechtfertigung des Schöpfungsglaubens. Denn die Schöpfung geschieht nicht in der Zeit. Darum gibt Augustinus zu bedenken, Gott habe nicht die Welt in der Zeit, sondern die Zeit mit der Welt geschaffen,z19 Das Schöpfungsgeschehen selbst ist das Geschehen, aufgrund dessen überhaupt von Sein und mit ihm auch von Zeit gesprochen werden kann. Als der Grund der Möglichkeit des Sprechens von Zeit kann es selbst nicht in der Zeit geschehen. Kants These, daß mit solchem zu rechnen ist, das nicht in der Zeit geschieht, schafft daher dem Schöpfungsglauben Platz. Die Begrenzung des Wissens, die Kant in der KRVausarbeitet, um dem Glauben Platz zu schaffen,22o richtet sich aber nicht primär auf das Problem der Schöpfung, sondern auf den Glauben des Menschen an seine eigene Freiheit. Die KRV gibt Anlaß dazu, anzunehmen, daß sich für Kant an der Frage nach der Möglichkeit der Schöpfung die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit entscheidet. Das dürfte der Grund dafür sein, daß Kant in den entsprechenden Abschnitten der Kritik der reinen Vernunft die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit sowohl in bezug auf das Schöpfungsgeschehen als auch das menschliche Handeln ausarbeitet. In seinen Schriften zur praktischen Philosophie kehrt Kant den Gedanken dann um: nur sofern der Begriff der menschlichen Freiheit für uns eine Bedeutung bekommt, finden wir auch für unser Sprechen von der Schöpfung einen Anhaltspunkt. Daß ein Mensch er selbst sein möchte, begriindet sein Interesse an der eigenen Freiheit. Darum ist auch die Philosophie, deren mannigfaltige Fragen in der einen Frage nach dem Menschen ihre Wurzel haben, primär an der Freiheit interessiert. ,,[A]lles Interesse ist am Ende ein praktisches",221 gibt Kant dazu in der "Kritik der praktischen Vernuft" (KPV) zu bedenken und bestimmt das Praktische als das aus Freiheit Mögliche. 222 Aus Interesse an der Freiheit, welche sich der Mensch zuspricht, sofern er von sich als einem Selbst spricht, bezweckt die theoretischspekulative Philosophie den Aufweis ihrer Möglichkeit.

218 219 220

KRVB75-76/A51-52. Vgl. Augustinus, De civitate Dei, XI 6. "Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen", KRV B

XXX. 221 222

KPV A 219 (AA Bd. 5, 121). KRV B 828/ A 800.

A. Die Naturwissenschaften und der Glaube an die Schöpfung

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Die Nähe, die das Denken Heideggers zu dem Kants aufweist, begründet sich nicht daraus, daß Kant selbst unterwegs gewesen wäre zu der Einsicht in die Temporalität des Seins. Sie hat ihren Grund in der Tatsache, daß sowohl Kant als auch Heidegger in ihrer Phänomenologie der Zeit zu der Einsicht vorgestoßen sind, daß der Mensch sich zwar als ein Wesen ansehen kann, das in der Zeit existiert, und zwar als ein Seiendes unter anderen Seienden, daß er sich aber auch durchsichtig werden kann als ein Wesen, dem aufgrund seines Seins bestimmt ist, frei zu sein. "Was man ihr [der Vernunft] hiebei allein zumuten kann, wäre bloß: daß sie beweise, es sei in dem Begriffe von einer Schöpfung freier Wesen kein Widerspruch,,223. In dem anstehenden Gespräch mit den Naturwissenschaften ist also in einem ersten Schritt mit Kant nachzuweisen, daß Freiheit, insbesondere geschöpfliche Freiheit, möglich ist. Dazu wird man auf Kants Verteidigung der Freiheit, die sich in dem Gedanken verdichtet, daß der Begriff der Zeit, von dem der Freiheit abzusondern ist, zurückzugreifen haben. In dem Kontext ist es ratsam, mit Heidegger die Zeit, die als der Horizont fungiert, in dem Seiendes sichtbar wird, von der Zeitigung der Zeit selbst zu unterscheiden. Denn dadurch kann dem Geschehen der Freiheit eine temporale Struktur zugesprochen werden, ohne es dadurch in die horizontale Zeit selbst einstellen zu müssen. Wir sind uns dessen bewußt, daß wir dadurch den transzendental philosophischen Ansatz Kants erweitern. Wir werden aber den Nachweis erbringen, daß eine solche Erweiterung durchaus möglich ist. 224 Im zweiten Schritt wird dann im Ausgang von der Freiheit des Menschen, die streng nur als Autonomie gedacht werden kann, ein Zugang zum Schöpfungsglauben zu erschließen sein. In der Kritik, die man seitens der Theologie gegen Kants Begriff der Autonomie vorbrachte und vorbringt, ist ersichtlich, daß man Kant in der Tat unterstellt, für ihn stünde die Geschöpflichkeit des Menschen im Widerspruch zu seiner Freiheit, sofern es sich bei ihr um unbedingte Freiheit oder Autonomie handeln soll. Statt nun die Debatte um Autonomie und Heteronomie nochmals aufzugreifen, ist es an der Zeit zu fragen, ob Schöpfung mit Kant als Ermöglichung von Freiheit verständlich gemacht werden kann. Kann der Mensch sich sowohl als Geschöpf verstehen als auch an die eigene Freiheit glauben? Oder kann er sich als freies Wesen überhaupt nur dadurch begründen, daß er sich als Geschöpf versteht? Das sind die Fragen, denen wir im folgenden nachgehen werden, wobei es unser Anliegen ist, unser Sprechen sowohl von der Freiheit als auch Geschöpflichkeit des Menschen als ein vernünftiges, d. h. auch in einer durch die Naturwissenschaften bestimmten Zeit noch Verständliches auszuweisen.

MdS AB 112 f. Anm. (AA Bd. 6, 280, Anm.). Analog geht auch vor H. Hoping, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von I. Kant, Innsbruck I Wien 1990, 121-128; 153 -165. 223

224

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft I. Kants Bestimmung des Wesens der Zeit 1. Die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit

und das Wesen der Zeit

Vorgreifend wurde in dem ersten Teil der Arbeit angedeutet, daß Kant sich in seiner Grundlegung der Transzendentalphilosophie der Aufgabe stellt, den Gebrauch unterschiedlicher Perspektiven im Erkenntnisvollzug als vernünftig zu rechtfertigen. 1 Den unterschiedlichen Perspektiven korrelieren unterschiedliche Standpunkte, von denen aus das Gegebene in die Sicht zu nehmen ist, um es sich verständlich zu machen. 2 Grundlegend gilt es zwar den perspektivischen Horizont eines bestimmten Subjektes von dem allgemeinen Horizont, den der Mensch als Mensch hat, zu unterscheiden. 3 Das bestimmte Subjekt steht auf einem bestimmten, mithin endlichen Standpunkt. Jedem Standpunkt kann eine bestimmte Perspektive und damit auch ein bestimmter Horizont der Erkenntnis zugeordnet werden. Doch auch der Horizont, den ein Mensch als Mensch hat, ist kein unendlicher Horizont. Auch er ist durch den Standpunkt bedingt, von dem aus das Gegebene in die Sicht genommen wird. In seiner Schrift "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (GMS) gibt Kant dazu zu bedenken, daß ein vernünftiges Wesen sich von "zwei Standpunkten" aus ansehen könne. Zum einen sei es ihm möglich, sich als Teil der Sinnenwelt, folglich als homo phaenomenon, zu betrachten. Es dürfe sich aber auch als Teil der Verstandeswelt ansehen. Als solches stehe es ,,[ ... ] unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet" sind. 4 Ein Wesen, das sich den Gesetzen der Vernunft, die nach Kant nur eine allgemeine, d. h. allen Subjekten als ihnen selbst zu eigene gedacht werden kann, unterstellt sieht, kann sich als autonom, d. h. als frei betrachten. Ist nun die Philosophie an der Freiheit interessiert, wird sie mit Notwendigkeit danach streben, dem Men1 Vgl. F. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft, bes. 27 -41; ders., Philosophie des Perspektivismus, bes. 1l - 22. 2 Grundlegend zu der Deutung der Transzendentalphilosophie Kants als einer Standpunktphilosophie vgl. neben den in Anm. 1 angegebenen Schriften Kaulbachs auch P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 12 ff. 3 Logik A 54 f. (AA Bd. 9, 41). 4 GMS BA 109 (AA Bd. 4, 452); vgl. KPV A 174 f. (AA Bd. 4, 97).

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

sehen die Möglichkeit sichtbar zu machen, unter den alternativen Standpunkten, die Kant in den Begriffen phaenomenale und noumenale Welt benennt,5 und den ihnen korrelierenden Möglichkeiten des Selbstverständnisses wählen zu können, um in solcher Wahl die Freiheit, die in seiner Vernunft verwurzelt ist, unter Beweis zu stellen. Die Unterscheidung von phaenomenaler und noumenaler Welt ist aber nur möglich aufgrund der für das kritische Denken Kants grundlegenden Einsicht, daß es gilt, die Zeit von den Dingen an sich abzusondern. 6 Soll nun im Ausgang von Kants Transzendentalphilosophie ein Gespräch begonnen werden, in dem es um die eine Wirklichkeit und die unterschiedlichen Möglichkeiten, sie deutend zur Sprache zu bringen, geht, wird es darauf ankommen, Kants These von der Möglichkeit der Absonderung der Zeit von den Dingen an sich verständlich zu machen, wobei in einem ersten Schritt Kants Bestimmung der Zeit und ihrer Bedeutung für den menschlichen Erkenntnisvollzug darzustellen ist.

2. Kants Konzeption der Zeit als transzendentaler Anschauungsfonn a) Kants transzendentaler Idealismus

Die in der transzendentalen Ästhetik der KRV ausgearbeitete Theorie der Zeit als reiner Anschauungsform ist der Grundfrage Kants nach der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori unterzuordnen. 7 In ihr dringt das Denken zu jenen apriorischen Erkenntnisvermögen vor, ohne die es weder reine Naturwissenschaften noch Metaphysik gäbe. An Kants Theorie der Zeit kann daher weder das naturwissenschaftliche noch das theologische Denken unserer Tage vorbeigehen, zwingt sie doch dazu, in eins mit dem Realitätsstatus von Raum und Zeit auch das Sprechen von einer Schöpfung im Anfang der Zeit grundlegend zu überdenken. Die Eigenart der Kantischen Theorie der Zeit wird deutlich in Abgrenzung zu den damals gängigen Zeitkonzepten. Mit Newton kommt Kant darin überein, daß 5 G. Mohr konstatiert in bezug auf die KRV: "Die noch 1770 bevorzugte ontologische Rede vom einen "mundus sensibilis" und "mundus intelligibilis" wird durch die vom heterogenen Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit, Verstand) und deren Vorstellungsarten (Anschauung, Begriff) verdrängt." G. Mohr; Transzendentale Ästhetik, §§ 4-8, in: ImrnanueI Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von G. Mohr und M. Willaschek, Berlin 1998 (Klassiker Auslegen, Bd. 17/18), 107 -130, bes. 128. 6 Vgl. KPV A 184 (AA Bd. 5, 102 f.), wo Kant die Bedeutung der in der KRV ausgearbeiteten Absonderung der Zeit von der Existenz der Dinge an sich eigens betont. V gl. auch KPV 169 f. (AA Bd. 5, 94 f.). 7 Vgl. KRV B 19: "Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nun in der Frage enthalten: Wie sind synthetische Urteile apriori möglich?". Vgl. Prol. A 41 (AA Bd. 4, 276), Prol. A 45 (AA Bd. 4, 278).

I. Kants Bestimmung des Wesens der Zeit

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unsere Zeitvorstellung kein empirisches Fundament haben kann. In Bezug darauf wurde schon ausgeführt, daß für Newtons Zeitverständnis die Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Zeit konstitutiv ist, wobei für ihn nur die absolute Zeit die eigentliche sein kann. 8 Die absolute Zeit aber ist keine durch Erfahrung gegebene Zeit, sondern erweist sich als der ermöglichende Grund der Erfahrung von Zeitlichem.

In einer seiner Reflexionen nimmt Kant Stellung zu den damals gängigen Zeittheorien: "Die Zeit ist nichts reales. Clark hielt es vor real als reine Zeit, Leibniz vor einen empirischen Begrif der succession. ,,9 An der zitierten Stelle nimmt Kant Bezug auf einen Brief Clarkes, in dem die von Leibniz vertretene These, Zeit sei ein von der Erfahrung abstrahierter Begriff, verworfen und die Zeit unter Rückgriff auf den Newtonschen Standpunkt als absolute Realität gedeutet wird lO • Newton und Clarke vertreten demnach den Standpunkt, die Zeit sei eine absolute Realität. 11 Dagegen steht die Leibnizsche These von der Zeit als eines Begriffs, der die Relation der Dinge benennt. Eine dritte Möglichkeit wäre es, Zeit als ein Akzidens zu betrachten. Nach Kant ist die Zeit weder ein empirischer Begriff noch eine absolute Realität noch benennt sie nur die Relation (das Verhältnis) der Dinge. 12 Mit dem Newtonianer Clarke lehnt Kant die empirische Deutung der Zeit ab. Für sie und ebenso auch für den Raum gilt, daß sie aus dem empirisch Gegebenen nicht abgeleitet werden können. Denn das empirisch Gegebene ist für uns nur in den Verhältnissen des Neben- und Nacheinanders anschaulich. Fundamental ist dabei das Verhältnis des Nacheinanders, der Sukzession. Denn von unseren Vorstellungen folgt eine Vorstellung auf die andere. Würden uns unsere Vorstellungen nicht im Verhältnis des Nacheinander bewußt, könnten sie nicht unterschieden werden. Insofern aber die Unterschiedlichkeit von Gegenständen nur in Korrelation zur Unterschiedlichkeit unserer Vorstellung von Gegenständen gedacht werden kann, stellt das Nacheinander, welches als solches nur im Horizont der Vorstellung von Zeit erfahren werden kann, die fundamentale Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt dar. Der Gedanke kann auf die Erfahrung von Veränderungen überhaupt, folglich auch auf naturwissenschaftliche Verfahren angewandt werden. 13 Dabei wird deutlich, daß jede Erfahrung von Veränderungen, d. h. Bewegungen überhaupt, die der Sukzession von Zuständen einbegreift. Also haben die nach Bewegungen fragenden Naturwissenschaften die Zeitvorstellung zu ihrer Voraussetzung. Auch die 8

l. Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, 25 ff.

Refl. 4756 (AA Bd. 17,7(0). Der Leibniz-Clarke-Briejwechsel, übers. und hg. von V. Schülier, Berlin 1991,45,65. 11 Vgl. auch Refl. 4673 (AA Bd. 17,642). 12 Vgl. dazu ausführlich G. Mohr, Transzendentale Ästhetik, §§ 4-8,110. l3 Vgl. KRV B 48. Dort fügt Kant an, "daß der Begriff der Veränderung, und, mit ihm, der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist." 9

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6 Bohlen

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Raumvorstellung kann keine vom empirisch Gegebenen abstrahierte Vorstellung sein. Denn um eine Vorstellung als Vorstellung von solchem begreifen zu können, das nicht nur die eigene Innerlichkeit zum Bewußtsein bringt, sondern solches vorstellig macht, das man nicht selbst ist, bedarf es eines apriorischen Vorgriffs auf den Unterschied von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, der nur möglich ist im Kontext einer apriorischen Vorstellung von Räumlichkeit. Für die Apriorizität der Raum- und Zeitvorstellung spricht nach Kant ferner, daß man zwar von allem räumlich-zeitlich Seiendem, nicht aber von Raum und Zeit selbst absehen kann. 14 Folglich könnten Raum und Zeit keine Bestimmungen des anschaulich Gegebenen sein. Es kann sich aber auch nicht um an sich seiende Substanzen handeln. Denn dann könnte nach ihrem Verhältnis zu anderen Substanzen gefragt werden. Andere Verhältnisse als die des zeitlichen Nacheinanders und räumlichen Nebeneinanders aber können nicht gedacht werden. Darum ist die Deutung von Raum und Zeit als an sich seienden Substanzen in sich widersprüchlich. Es gibt dann nur mehr die Möglichkeiten, Raum und Zeit mit Newton als Attribute einer anderen, unendlichen Substanz zu deuten, oder ihren Ursprung in einem menschlichen Vermögen anzusetzen, das vor aller Anschauung von räumlich-zeitlich Seiendem eine Vorstellung von Raum und Zeit entworfen hat. Kant verwirft Newtons Deutung von Raum und Zeit. Denn die absolute Zeit könnte nur dann als Attribut Gottes betrachtet werden, wenn Gott an sich selbst erkennbar wäre. Das aber ist nicht der Fall. Folglich kann bezüglich der Zeit nur die These vertreten werden, bei ihr handele es sich um eine "formale Bedingung apriori aller Erscheinungen überhaupt"15, die ihren Ursprung in der Sinnlichkeit selbst hat. Die Zeit ermöglicht zwar eine Bestimmung der Relationen oder Verhältnisse der Dinge, doch sind die Verhältnisse nur im Kontext der sinnlichen Anschauung gegeben, mithin als solche Verhältnisse zu begreifen, "die nur an der Form der Anschauung allein haften, [ ... ], ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge beigeleget werden können,,16 Zeit gibt es nur als Form der Anschauung. ,,Die bloße Form der Anschauung, ohne Substanz, ist an sich kein Gegenstand, sondern die bloß formale Bedingung desselben (als Erscheinung), wie der reine Raum, und die reine Zeit, die zwar etwas sind, als Formen anzuschauen, aber selbst keine Gegenstände sind, die angeschauet werden (ens imaginarium)."17 In Kants Theorie der Zeit wird also die schon von Newton vertretene Apriorizität der Zeit dadurch begründet, daß sie als Form der Anschauung und d. h. als ermöglichende Bedingung der menschlichen Erkenntnis gedacht wird. Bestritten wird darin die Newtonsche These von der Realität der absoluten Zeit als einem Attribut des absoluten Wesens. Statt dessen wird die Zeit und in eins mit ihr der Raum in der Sinnlichkeit des Subjekts fundiert gedacht. "Die Zeit ist also lediglich 14 KRV B 491 A 32 f. 15 KRV B 501 A 34. 16 17

KRV B 37 f.1 A 23. KRV B 3471 A 291.

1. Kants Bestimmung des Wesens der Zeit

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eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung (welche jederzeit sinnlich ist, d.i. so fern wir von Gegenständen affiziert werden), und an sich, außer dem Subjekte, nichts.,,18 Als solcher kommt ihr der Realitätsstatus der transzendentalen Idealität ZU. 19 Kants Lehre vom transzendentalen Idealismus von Raum und Zeit ist grundlegend für den Gedankengang seiner theoretischen Philosophie?O Er fungiert dort u. a. als "Schlüssel", mittels dessen die Probleme der Schöpfung und der Freiheit, in denen das antinomische Wesen der Vernunft greifbar wird, aufgelöst werden können. Darum werden wir im Kontext der Behandlung der Schöpfungsproblematik noch ausführlicher auf die transzendentale Idealität der Zeit zu sprechen kommen. Um aber dem möglichen Einwand, in Kants transzendentalem Idealismus werde die Zeit als "Illusion" gedacht, zu entgegnen, ist es ratsam, der transzendentalen Idealität deren empirische Realität eigens an die Seite zu stellen.

b) Die empirische Realität der Zeit

Danach kann es Erkenntnis überhaupt nur dadurch geben, daß der Mensch affiziert wird von solchem, das sich zu erkennen gibt. Die Affektibilität hat ihre eigene Form, die sich begründet aus der Art, in der der Mensch sich selbst anschaut, nämlich zeitlich: "Die Zeit ist nichts anderes, als die Form des inneren Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes.'.21 Wir erfahren uns selbst in unterschiedlichen Zuständen, die sich uns in Form der Abfolge ordnen. Nur derart sind wir uns gegeben. Entsprechend setzt alle Selbstanschauung die Anschauungsform "Zeit" voraus. Da andererseits auch alle Anschauung von Gegenständen mit einer Selbstanschauung verknüpft ist und außerdem der Begriff der Anschauung von sich aus auf ein anschauendes Subjekt verweist, ist die Zeit die Bedingung, unter der Anschauung von sinnlich Gegebenem, mithin empirische Erfahrung überhaupt nur möglich ist. Insofern wir nicht anders können, als die Form, in der wir uns selbst anschauen, dem, wodurch wir uns affiziert erfahren, als den Horizont vorzuwerfen, in dem es als bestimmtes oder bestimmbares anschaulich wird, wird alles sinnlich Gegebene den Bedingungen der Zeit unterworfen. Es wird von uns zeitlich angeschaut und in solcher Anschauung in ein Nacheinander eingestellt. Da die Vorstellung von Zeit für alle sinnlichen Anschauungen überhaupt fundamental ist, kann die Zeitvorstellung trotz ihrer transzendentalen Idealität objektive Gültigkeit oder empirische Realität beanspruchen. "Und da unsere Anschau-

KRV B 52/ A 36. Vgl. KRV B 52/ A 36. 20 Vgl. M. Willaschek: Die Idealität von Raum und Zeit und der transzendentale Idealismus. Eine "lückenlose" Interpretation von Kants Beweis in der "Transzendentalen Ästhetik", in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997) 537 - 564. 21 KRV B 49/ A33. 18

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

ung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörte. ,,22 Kants These von der empirischen Realität der Zeit widerspricht solchen Deutungen, nach denen Kant die Zeit zur "Illusion" degradiert. Die Zeit ist insofern keine Illusion, als sich alles, das für uns zum Phänomen wird, in der Zeit gibt. Für Kant kann es keinen Zweifel daran geben, "daß alle Erfahrung raumzeitliche Erfahrung und alle erfahrbare Wirklichkeit raumzeitliche Wirklichkeit ist.,m Selbst solche Erfahrungen, die wir von uns selbst machen, sind raumzeitliche Erfahrungen. Denn auch wir sind uns räumlich und zeitlich gegeben. Von Raum und Zeit kann man aber nur sprechen, sofern Subjekte die Möglichkeit haben, Raum und Zeit als solche Horizonte zu entwerfen, die ihnen in Anschauung fundierte Erfahrung ermöglichen. Kant deutet den Raum als den ermöglichenden Grund der Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, folglich der Deutung von Vorstellungen als Vorstellung von solchem, was das Subjekt nicht selbst ist. 24 "Der Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist.,,25 Auch dem Raum eignet transzendentale Idealität bei empirischer Realität. Die Zeit aber ist die apriorische Bedingung der Möglichkeit von sinnlichen Erfahrungen überhaupt. 26 Als solcher kommt ihr die Priorität vor dem Raum zu. Unbeschadet dessen, daß Kant die Auslegung der Zeit als eines Attributes des absoluten Wesens mit dem Argument der Unerkennbarkeit Gottes und seiner Anschauung der Dinge ablehnt,27 übernimmt Kant Newtons Vorstellung von der Zeit als einem Zeitfluß, in dem ein Zeitabschnitt auf den anderen folgt. Der Zeitfluß ist sowohl nach Newton als auch nach Kant unendlich, da alle Zeitabschnitte nur Teile der einen Zeit darstellen. Von der einen Zeit umgriffen, können die Zeitabschnitte die eine Zeit nicht begrenzen. Statt dessen gehen die materialiter bestimmbaren Zeiten als Teile der einen Zeit durch Einschränkung aus ihr hervor. Anders als die Zeitabschnitte, die man materialiter bestimmen kann, fungiert die unendliche Zeit nur als das, von dem alle begrenzten Zeiten umgriffen sind. Schon 1770 hat Kant Raum und Zeit als "reine Anschauung" bestimmt, in denen "das Unendliche den Grund eines jeden denkbaren und schließlich einfachen Teiles, oder vielmehr jeder Grenze, enthält. Denn nur wenn sowohl ein unendlicher KRV B 52/ A 36. G. Mohr, Transzendentale Ästhetik, §§ 4-8,118. 24 Zu dem Verhältnis von innerem und äußerem Sinn vgl. G. Mohr, Transzendentale Ästhetik, § § 4 - 8, 116 f. und ders., Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Würzburg 1991,92-152. 25 KRV B 42/ A 26. 26 KRV B 50 f. / A 34. 27 K. Düsing, Objektive und subjektive Zeit. Untersuchungen zu Kants Zeittheorie und zu ihrer modernen kritischen Rezeption, in: Kant-Studien 71 (1980) 1-34, bes. 14. 22 23

I. Kants Bestimmung des Wesens der Zeit

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Raum als eine unendliche Zeit gegeben sind, ist jeder beliebige begrenzte Raum und jede beliebige begrenzte Zeit durch Einschränkung anzeigbar, [ ... ],,28. Um ein Seiendes also als bestimmtes oder bestimmbares Seiendes in den Ansatz zu bringen, muß es als eine endliche Größe gedacht werden. Darum ist die Vorstellung von der unendlichen, doch einschränkbaren Zeit die Voraussetzung jeder Bestimmung eines Seienden als solchem. Aus der Tatsache, daß die eine Zeit ihre Teile in sich einbegreift, folgert Kant in der KRV, daß es sich bei ihr nicht um einen Begriff handelt, sondern um eine Anschauung. 29 Denn Begriffe können zwar auch als aus einem Oberbegriff durch Einschränkung abgeleitet betrachtet werden, sind ihrem Oberbegriff aber dann stets untergeordnet, was bei den Zeitteilen und der einen Zeit nicht der Fall ist. Entsprechend bestimmt Kant auch den Raum als Vorstellung apriori, welche die Anschauung von solchen Seienden ermöglicht, die als äußere Seiende, d. h. von dem erfahrenden Subjekt unterschiedene Seiende, erfahren werden. Auch beim Raum handelt es sich nicht um einen Begriff, sondern um eine reine Anschauung, sofern alle materialiter bestimmten Räume nur Teile des einen und unendlichen Raumes sind, der sie in sich einbegreift. Jedes Seiende, das uns erscheint, stellt sich dar als bestimmte Größe. Raum und Zeit ermöglichen zwar die Festsetzung jener Grenzen, von denen ein Seiendes als bestimmte Größe begrenzt wird. Sie selbst stellen aber keine bestimmbaren Größen dar, sondern sind "Größen, und zwar eines Ganzen, was imer nur als Theil eines noch größeren Ganzen vorstellbar ist,,3o. Daraus ist zu folgern: "Raum und Zeit sind nicht Objecte der Anschauung, sondern subjektiv Anschauung selbst das Formale der Verknüpfung der Sinenvorstellung überhaupt.,,31 Obwohl die Zeit in ihrer Unendlichkeit nicht als ein bestimmtes Objekt vorgestellt werden kann, gibt es die Möglichkeit, ihr Wesen dadurch zu veranschaulichen, daß die Zeitfolge "durch eine ins Unendliche fortgehende Linie" vorstellig gemacht wird. 32 Jede Bestimmung von Seiendem als einer bestimmten Größe kann nur geschehen durch Einschränkung des einen Raumes und der einen Zeit. Der durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vorstellig gemachte Zeitfluß muß in unendlicher Iteration unterteilt werden, um jene zeitlichen Grenzen zu bekommen, die ein Seiendes als bestimmte Größe begrenzen. Ebenso muß der eine Raum unendlich unterteilt werden, um aus ihm jene endliche Raumstelle auszugrenzen, die einem bestimmten Seienden qua res extensa eignet. "Alle Erscheinungen haben eine bestimmte Größe [ ... ] Denn die Erscheinungen sind zwischen zwey Grentzen eingeschlossen (Punkte) und sind also selber bestimmte Größen.,,33 Insofern nun 28 29 30

31 32 33

De mundi 67 (AA Bd. 2, 405). KRVB47f./A31 f. Opus postumum (AA Bd. 22, 29). Opus postumum (AA Bd. 22, 30). Vgl. ebd., 13, 19,45 f. KRV B 501 A 34. Refl. 4765 (AA Bd. 17,721).

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

in jedem räumlich-zeitlich Seienden das Geschehen der Einschränkung des einen Raumes und der einen Zeit als unendlich zu iterierendes Geschehen mitgedacht werden muß, gelangt der Mensch in jeder sinnlichen Anschauung in den Bezug zur Unendlichkeit. Trotzdem ist zu betonen, daß Kant einer theologischen Spekulation über die Unendlichkeit von Raum und Zeit ihren Grund genommen hat, indem er ihre Deutung als Attribute Gottes als unhaltbar abgewehrt hat. Seine Deutung von Raum und Zeit als Anschauungsformen apriori stellt daher schon insofern einen bedeutenden Schritt über die Grundstellung Newtons hinaus dar, als Kant die sinnliche Erfahrung als den Kontext, in dem Raum und Zeit zu bedenken sind, nicht transzendiert. 34 Von ihm her stellen sich Raum und Zeit dar als die Bedingungen der Möglichkeit für die Tatsache, daß ein Subjekt sich unterschiedliche Vorstellungen als Vorstellung von Gegenständen zusprechen kann.

c) Zur Kritik an Kants Theorie der Zeit

Kants Theorie der Apriorizität von Raum und Zeit wurde schon zu Zeiten Kants kritisiert. 35 Zum einen wurde die idealistische Deutung der Zeit angegriffen und die These vertreten, Zeit müsse real sein, da Veränderungen nur in der Zeit möglich seien und der Wechsel unserer Zustände beweise, daß es Veränderungen gebe. 36 Dagegen führt Kant an, daß der Wechsel unserer Zustände uns nur gegeben ist, sofern wir uns selbst anschauen, und zwar zeitlich. 37 Insofern ist der Grund des Beweises eine Erfahrungswirklichkeit. Für sie gilt die empirische Realität der Zeit, die deren transzendentaler Idealität nicht widerspricht. Ferner wurde eingewandt, Raum und Zeit seien auch nach Kant durchaus aufhebbar. Denn in der KRV merke er selbst an, ,,[ ... ] daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden".38 Der zitierten Stelle ist zu entnehmen, daß Raum und Zeit nur für denjenigen aufzuheben sind, der sich selbst als Subjekt und die subjektive Sinnlichkeit als Grundlage des Denkens aufgehoben hat. Nach Kant ist nun zwar ein Wesen denkbar, dessen Anschauung nicht sinnlicher Art und dessen Erkennen folglich den Bedingungen von Raum und Zeit nicht unterworfen ist. Für uns aber ist es schlechthin unmöglich, uns auf den Standpunkt Vgl. P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 133 f. Kritische Reaktionen aus der Zeit Kants stellt ausführlich dar: H. Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1892, Nachdruck: Aalen 1970, 400 ff. 36 Zu dem Einwand vgl. KRV B 53/ A 36 f. Genaue Angaben macht G. Mohr, Transzendentale Ästhetik, §§ 4-8,119. 37 KRV B 53 f./ A 37. Vgl. auch den Brief an Marcus Herz vom 21. 2. 1772 (AA Bd. 10, 134). 38 KRV B 60/ A 43. 34

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eines solchen Wesens zu stellen. Würden wir uns nicht zeitlich anschauen, könnten wir uns nicht als Subjekte verstehen, die sich unterschiedliche Vorstellungen als ihre eigenen zusprechen, d. h. auf sich hin vereinigen können. Ohne die apriorische Raumvorstellung wäre es uns unmöglich, Empfindungen als Empfindungen von solchem zu verstehen, das uns äußerlich ist. Denn als reine Rezeptivität begründet die Sinnlichkeit nur eine Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten, die nicht einmal die Unterscheidung von innerlich und äußerlich möglich macht. Schon sie ist nur durch eine anfangliche Aktivität des Subjektes zu erklären, durch die Erbildung jener "entia imaginaria", welche selbst keine Gegenstände sind, sondern die Horizonte, in denen Gegenstände als solche verständlich werden. 39 Insofern Kants Zeittheorie die von Newton ausgearbeitete Konzeption einer Zeit, die in ihrem Zeitfluß nicht von dem, was in ihr ist, mithin auch nicht von dem beobachtenden Subjekt, abhängig ist, übernimmt, hielt man die Deutung von Zeit als einer Anschauungsform in eins mit dem Newtonschen Zeitverständnis für überholt. 40 Die Kantische Auffassung von Zeit wurde von naturwissenschaftlicher Seite insbesondere durch den Übergang zur relativistischen Physik in Frage gestellt. Für diese ist die Einsicht fundierend, daß der Zeitfluß von Seiendem, das sich bewegt, mitbestimmt wird. Dadurch wird die Konzeption einer absoluten Zeit, welche die Grundlage aller Zeitmessungen wäre, hinfällig. Es gibt nicht die eine absolute Zeit, sondern Zeiten, die relational sind zu Bewegungen und sich Bewegendem. Mit der relativistischen Physik wurde ferner die von Kant vorausgesetzte Einheit der Zeit fraglich. Mathematisch ist es nicht nur möglich, sondern infolge der Relativitätstheorie nahezu unumgänglich geworden, von einer Mannigfaltigkeit von Zeiträumen auszugehen, denen Horizonte zugeordnet werden können, d. h. Grenzen, jenseits derer die Ereignisse, die in den Zeiträumen stattfinden, keine Wirkungen zeitigen. Es könnten also Ereignisse geschehen, die fiir uns insofern un-wirklich sind, als sie sich jenseits des Horizontes ereignen, der für unseren Zeitraum die Grenze ist. Dagegen hat schon E. Cassirer Kants transzendentalen Idealismus als eine Theorie der Zeit verteidigt, die mit der relativistischen Physik durchaus kompatibel iSt. 41 In dem Kontext hat auch K. Düsing darauf aufmerksam gemacht, daß es fraglich ist, ob die relativistische Physik den Beweis dafür erbracht hat, daß der Begriff der Zeit ein rein empirischer Begriff ist. 42 Gegen eine solche empiristische Auslegung des Zeitbegriffs spricht, daß schon der Begriff des Ereignisses ohne die Vor39 Vgl. KRV B 347/ A291. Eine ausführliche Besprechung der Frage von Subjektivität oder Objektivität der Zeit findet sich auch bei P. Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt/Main 1972. Bieri geht es um einen Realitätsbeweis der Zeit. Auch nach Kant kann die empirische Realität der Zeit angenommen werden. Von dort her sind aber keine Schlüsse über den Ursprung der Zeitvorstellung selbst möglich. 40 K. Düsing, Objektive und subjektive Zeit, 15, Anm. 35. 41 E. Cassirer; Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, in: ders., Zur modernen Physik, Darmstadt 1957, bes. 67 -90. 42 K. Düsing, Objektive und subjektive Zeit, 14 ff.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

stellung der Möglichkeit temporaler Ordnung unverständlich bleibt. Insofern setzt die Zuwendung zu einem bestimmten Ereignis in der Physik die Vorstellung von Temporalität schon voraus. Angesichts der modernen physikalischen Theorien erscheint es allerdings unabdingbar, streng von unserer Anschauung, d. h. der Anschauung eines bestimmten Wesens, des Menschen, auszugehen. Ihr ist ein bestimmter Zeitraum zuzuordnen, jener Zeitraum, in dem geschehende Ereignisse Wirkungen zeitigen, die von uns beobachtet werden können. Bezüglich der Frage, ob es auch andere mögliche Zeiträume gibt, in denen anderes geschieht, können wir keine Auskunft geben, da solche Ereignisse, falls sie denn geschehen, keine Wirkungen für uns haben. Für uns finden sie nicht statt. Fragen wir als Beobachtende nach den Gesetzen, die unser Universum bestimmen, und nach der Möglichkeit, die erkannten Gesetze zu vereinheitlichen, setzen wir voraus, daß alle Ereignisse, die in der von uns vorstellig gemachten Raumzeit geschehen, für uns in ihren Wirkungen greifbar werden. Wir setzen voraus, daß sie auf uns, die wir selbst ein Ereignis in Raum und Zeit sind, einwirken, da alle Ereignisse überhaupt in ihren Wirkungen verknüpft sind. Nur dann können wir nach dem einen Prinzip fragen, von dem aus alle Ereignisse in der Natur zu erklären sind. Oder wir sehen uns genötigt, mit der These, daß die Natur eine Verknüpfungseinheit von Ereignissen darstellt, auch unser Streben nach einer Erklärung des Ganzen aus einem Prinzip aufzugeben. Die eine Natur bricht uns dann in eine Mannigfaltigkeit von Systemen auseinander, von denen noch nicht einmal gesagt werden kann, daß es sich bei ihnen allen um Systeme der einen Natur handelt. Physikalische Erfahrung ist demnach als empirische Erfahrung nur möglich im Kontext von Zeit, in dem die Konzeption von Zeit in Relation zu den Sachverhalten, denen das Interesse gilt, zu bestimmen wäre. Unter der Bedingung, daß der Zeitbegriff streng auf den einer temporalen Ordnung überhaupt begrenzt wird, ist es dann möglich, an Kants These vom Apriorismus der Zeit festzuhalten, wobei sich die Möglichkeit ergibt, unterschiedlichen Phänomenen unterschiedliche temporale Ordnungen als die Horizonte zuzuordnen, in denen sie verständlich werden. Ein solcher Weg, den die physikalische Kritik an Kants Zeitvorstellung erforderlich macht, trifft sich mit dem Weg, den die phänomenologische Philosophie des 20. Jahrhunderts gegangen ist, und zwar in der Absicht, ein Modell der Zeit zu erarbeiten, in dem das menschliche Leben an sich selbst verständlich wird. Soll das Leben selbst zur Sprache kommen, kann das nur geschehen im Horizont einer Vorstellung von Temporalität, die Zeit nicht auf eine Abfolge von Zeitabschnitten begrenzt, sondern nach anderen Formen der Zeit und ihrer Zeitigung fragt.

I. Kants Bestimmung des Wesens der Zeit

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3. Ansätze zu einer Phänomenologie der Zeitigung von Zeit in der Philosophie Kants Kant unterscheidet zwar das bloß subjektiv gültige Wahrnehmen von Zeitverhältnissen von deren objektiv gültiger Bestimmung. Sie setzt die Anwendung der Kategorien, insbesondere der Kategorie der Kausalität voraus. 43 Denn nur durch die Anwendung der Kategorie der Kausalität ergibt sich eine Folge, in der das Spätere als das Bewirkte mit Notwendigkeit auf das Frühere als das Bewirkende folgend gedacht wird, unabhängig von den Wahrnehmungen eines Subjektes, die nur auf augenblicklich Wahrzunehmendes bezogen sein können. Daß Kant betont, der Übergang zu einer objektiven Zeitvorstellung setze die Anwendung der Kategorie der Kausalität voraus, beweist zwar, daß er objektive Zeitverhältnisse und subjektive Zeitwahrnehmung unterscheiden kann. Mit der Unterscheidung ist aber die Zeitigung des Lebens selbst, die u. a. Heidegger ausgearbeitet hat, noch nicht einmal angesprochen. Ansätze dazu finden sich aber in Kants "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht". Dort kommt Kant auf die Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft zu sprechen, die er in dem Vermögen der Assoziation begründet. "Beide [Respiziens und Prospiziens] gründen sich, sofern sie sinnlich sind, auf die Assoziation der Vorstellungen des vergangenen und künftigen Zustandes des Subjekts mit dem gegenwärtigen, [ ... ]"44 Die Einbildungskraft ist demnach das Vermögen der Assoziation, durch welche sich Vergangenes und Zukünftiges für uns zur Einheit der Zeit verknüpft. Ohne die Möglichkeit der assoziativen Verknüpfung von Vorstellungen und d. h. ohne die Einheit von Vergangenheit und Zukunft konstituieren zu können, hätte das Subjekt auch nicht das Vermögen, sein Leben selbst zu bestimmen. In bezug darauf kommt auch nach Kant der Zukunft der Primat zu. Indem der Mensch sich selbst Zwecke setzt und sich derart auf Zukunft entwirft, kann er sich als ein Wesen betrachten, das sein Leben von sich aus ergreift. Darum ist das Subjekt immer schon an der Zukunft interessiert. Auf Vergangenes sieht der Mensch zurück "nur in der Absicht, um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen; indem wir vom Standpunkte der Gegenwart überhaupt um uns sehen, um etwas zu beschließen, [ ... ],,45. Der Mensch ist demnach ein Wesen, das etwas beschließen oder sich zu etwas entschließen kann. Die Zeit des Entschlusses ist die Gegenwart. Die Gegenwart als Zeit des Entschlusses aber ist in sich aufgeschlossen auf das Vergangene, welches respiziert wird, und das Künftige, welches in Prospektion da ist. Das Vermögen "Erwartung des Künftigen" ist nach Kant entscheidend für den Menschen, sofern er sich "seiner Bestimmung gemäß" verhalten Will. 46 Denn der Mensch ist Mensch nur, sofern er unter unterschiedlichen Zwek43 44 45

46

Vgl. KRV B 234/ A 189; vgl. KRV B 235 f., 247 ff., 257. Anthropologie BA 92 (AA Bd. 7, 182). Anthropologie BA 491 (AA Bd. 7, 186). Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte A 9 (AA Bd. 8, 113).

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

ken wählen kann. Eine Wahl sollte geschehen, indem Zwecke, die gewählt werden können, durchsichtig gemacht werden darauf, ob sie das Leben eines Menschen insgesamt fördern. Folglich begründet sich die Möglichkeit der Wahl, sofern sie denn eine vernünftige Wahl sein soll, in dem Vermögen, das Leben überhaupt in die Sicht zu nehmen, mithin auf die Möglichkeit der Erwartung des Künftigen, die als solche nach Kant auch der Ursprung der menschlichen Sorge um das eigene Sein und Seinkönnen ist. 47 Wird dem Menschen die Möglichkeit der Wahl bewußt, findet er sich "am Rande eines Abgrundes",48 drängt sich ihm doch nun in der Frage, was er den wählen soll, die Frage nach seiner Bestimmung auf. Aus solchen Äußerungen wird man zwar noch keine philosophische Erfahrung der Zeitigung der Zeit im Sein des Menschen erkennen können, aber doch die anfangliehe Einsicht, daß der Mensch das Wesen ist, das auf Zukunft ausgreifend lebt, und zwar derart, daß menschliches Dasein philosophisch nur zur Bestimmung gebracht werden kann, indem Menschsein als Sein umwillen von solchem, worum es dem Menschen geht, in den Ansatz gebracht,49 mithin als primär praktisches Selbstverhältnis begriffen wird. Dennoch halten sich Kants Äußerungen im Horizont einer modalen Zeittheorie. Kant dringt also noch nicht zu der Frage nach einer Vorstellung der Zeit und ihrer Formalität, die in ihrer Entsprechung zum menschlichen Lebensvollzug von jener Zeit zu unterscheiden wäre, in der die Natur als solche verständlich wird, vor. Insofern ist es auch problematisch, Kants Deutung der Einbildungskraft als des Vermögens der Assoziation als einen Vorgriff auf das Denken der Zeitigung der Zeit, die sich die Phänomenologie zur Aufgabe gemacht hat, anzusehen. Dennoch ist die Phänomenologie der Zeit, die im Gefolge E. Husserls von M. Heidegger einerseits, E. Levinas andererseits ausgearbeitet wurde, ohne Kants Theorie der Einbildungskraft kaum denkbar.

11. Die Funktionalität des Verstandes 1. Die "zwei Stämme des Baumes der Erkenntnis" Kants erkenntnistheoretischem Ansatz zufolge hebt alles Erkennen in der Sinnlichkeit an. 50 Sie vermittelt uns eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen, die von 47 Ebd. Man wird darin auch einen Vorgriff auf Heideggers Deutung des Daseins als der Sorge sehen dürfen. Vgl. M. Heidegger Sein und Zeit, bes. § 41. 48 Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte A 7 (AA Bd. 8, 112). 49 Dafiir spricht auch Kants Bestimmung der "Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung" als ein Fragen nach dem höchsten Zweck als dem Zweck, von dem her das Sein des Menschen seine Bestimmung bekommt, Logik A 25 (AA Bd. 9, 25). Vgl. dazu auch H. Fahrenbach, ,,Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung": Kants höchste Sinnbestimmung der Philosophie nach ihrem "Weltbegriff', in: Würde und Recht des Menschen. FS für J. Schwartländer zum 70. Geb., hg. von H. Bielefeld u. a., Würzburg 1992, 35 - 64. 50 KRV BI, KRV B 33/ A 19, KRV B 74/ A 50 u.ö.

II. Die Funktionalität des Verstandes

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uns im Erkenntnisvollzug als eine Mannigfaltigkeit möglicher Gegenstandsbestimmungen in den Ansatz gebracht wird. Diese sind als einheitliche Bestimmungen oder Bestimmungen eines einheitlichen Gegenstandes sichtbar zu machen, soll Erfahrungserkenntnis überhaupt möglich sein. Um seinen Ansatz geschichtlich einzuordnen, verweist Kant in der zweiten Auflage der KRV auf die scholastische Transzendentalienlehre. 51 Der betreffende Abschnitt berechtigt dazu, Kants kritisches Denken unbeschadet anderer Wurzeln auch als eine Umformung scholastischen Gedankengutes zu deuten. 52 Die scholastische Transzendentalienlehre hat u. a. vermittelt durch F. Smlrez, dem die Transzendentalien nicht nur als die allgemeinen Prädikate, die einem Seienden als einem solchen zukommen, gelten, sondern auch als die ersten Grundsätze menschlichen Erkennens, Eingang in die deutsche Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts gefunden hat. 53 Seinen Ansatz kritisch wendend, fordert Kant nun dazu auf, die Transzendentalien nicht als Prädikate der Dinge anzusehen, sondern "als logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntniß der Dinge überhaupt. ,,54 Die TranszendentalienIehre greift dem Gedanken vor, daß für uns der Begriff der Gegenständlichkeit notwendig mit dem der sachhaltig bestimmten Einheit verknüpft ist. 55 Ein Gegenstand ist nur erkennbar, sofern er sich als einer und in sich einheitlicher gibt. Ob es sich aber bei dem Begriff "unum" um ein Prädikat handelt, das den Dingen selbst zugesprochen werden kann, kann daraus nicht einfach gefolgert werden. Denn das würde voraussetzen, daß uns die Dinge selbst anschaulich gegeben sind. Das aber ist nach Kant nicht der Fall. "Denn alle unsere Anschauung [ist] nichts als die Vorstellung von Erscheinung"56, die Erscheinung der Dinge aber muß von den Dingen an sich unterschieden werden. Die Einheitlichkeit der Dinge ist daher zu problematisieren im Ausgang von der in der transzendentalen Ästhetik erarbeiteten Einsicht, daß die Empfindungen als eine Mannigfaltigkeit von Daten geben, die es unmöglich macht, die Einheit der Dinge empirisch zu begründen. Die Einheit des Erkenntnisgegenstandes ist durch keine der Empfindungen als solche gegeben. Darum kann das Denken sie auch Vgl. KRV B 113-116. Vgl. dazu ausführlich P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 289 - 389 und G. Schutz, Veritas est adaequatio rei et intellectus. Untersuchungen zur Wahrheitslehre des Thomas von Aquin und zur Kritik Kants an einem überlieferten Wahrheitsbegriff, Leiden/New York/Köln 1993. Daß Baumanns Kants transzendentalphilosophischen Ansatz von der scholastischen Transzendentalienlehre her verständlich macht, bedeutet nicht, daß er Scholastik und kritische Philosophie amalgamiert. Vgl. dazu aber die Kritik von N. Fischer, Die Cardinalsätze der Metaphysik in der Kritik der reinen Vernunft, 352, Anm. 8 und ders., Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 51, Anm. 6. 53 V gl. M. Enders, Das Transzendenz-Verständnis Martin Heideggers im philosophie geschichtlichen Kontext, in: ThPh 73 (1998) 383-404. 54 KRVB 114. 55 V gl. Thomas von Aquin, Quaest. disp. de Veritate, q 1 a 1. 56 KRV B 591 A 42. 51

52

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

nicht als ein durch empirische Erfahrung gegebenes ontologisches Prädikat voraussetzen, sondern nur von der, auch für die scholastische Transzendentalienlehre fundierenden Einsicht ausgehen, daß es uns schlechthin unmöglich wäre, auch nur danach zu streben, einen Gegenstand als den, der er ist, verstehen zu wollen, würden wir nicht die Mannigfaltigkeit der Empfindungen als eine Mannigfaltigkeit möglicher Gegenstandsbestimmungen in den Ansatz bringen, die auf ihre Einheit durchsichtig zu machen ist. Das ist die Voraussetzung, ohne die es für uns keine gegenständliche Erkenntnis geben könnte. Die Einheit des Gegenstandes kommt nach Kant dadurch in die Sicht, daß das sinnlich Gegebene vereinheitlicht, d. h. synthetisiert wird, und zwar durch ein Vermögen, das der Sinnlichkeit an die Seite zu stellen ist: den Verstand. Um die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand deutlich zu machen, verwendet Kant u. a. die Metapher der "zwei Stämme des Baumes der Erkenntnis", die aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten "Wurzel" stammen. 57 Für Kant handelt es sich bei Sinnlichkeit und Verstand insofern um zwei Vermögen, als in ihnen zwei unterschiedliche Möglichkeiten gedacht werden, welche der einen Einbildungs- oder Vorstellungskraft zukommen. "Die Sinnlichkeit ist die affectibilitaet (passibilitaet) der Vorstellungskraft. Verstand ist die spontaneitaet der Vorstellungskraft. ,,58 Da die "Wurzel" aller Erkenntnis selbst unerkennbar ist,59 kann nur vorausgesetzt werden, daß Sinnlichkeit und Verstand in ihrer Wurzel eins sein müssen, da sie sich im Erkennen selbst als funktionale Einheit erweisen. Entsprechend kommt es Kant auch darauf an, die Einheit der zwei Vermögen als eine funktionale Einheit zu begreifen, durch die es zu der Erkenntnis kommt, nach welcher der Mensch als vernünftiges Wesen strebt. Darauf macht Kant an unterschiedlichen Stellen der KRV aufmerksam, u. a. in der Einleitung zur transzendentalen Logik: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen)."6O Die Stelle bestimmt nicht nur den Verstand als das Vermögen des begrifflichen Denkens, sondern macht auch deutlich, daß die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand es möglich macht, das Erkenntnisgeschehen auf zwei Wegen zu deuten. Zum einen kann von dem anschaulich Gegebenen ausgegangen werden. Um es zu verstehen, bedarf es einer Subsumtion unter solche Begriffe, die nicht aus der empirischen Erfahrung abzuleiten sind, sondern als apriori vom Verstand entworfene Begriffe empirische Erfahrung überhaupt möglich machen, wobei der für das Erkennen schlechthin fundamentale Begriff der der Gegenständlichkeit ist, welcher den der Einheit in sich begreift. Ohne den apriorischen Vorgriff auf Gegenständlichkeit 57

58 59

60

KRV B 29/ A 15. Refl. 212 (AA Bd. 15,81). KRV B 29/ A 15. KRV B 75/ A 51.

11. Die Funktionalität des Verstandes

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wäre es daher unmöglich, das anschaulich gegebene Mannigfaltige auch nur als eine Mannigfaltigkeit möglicher Gegenstandsbestimmungen in den Ansatz zu bringen. Von dem begrifflichen Denken und dessen Apriorizität her stellt sich das Erkennen dar als Materialisierung jener Erkenntnisvorgriffe, die durch die apriorischen Verstandesbegriffe gegeben sind, am anschaulich Gegebenen. Beide Sichtweisen kommen in der KRV zur Sprache.

2. Kants Theorie der Funktionalität des Verstandes a) Die Affektibilität des Menschen und das Verstehen

Kant setzt voraus, daß einerseits das menschliche Erkenntnisstreben nur von solchem initiiert sein kann,61 von dem der Mensch sich affiziert erfährt und daß andererseits solches, von dem die Affektion ausgeht, mit Notwendigkeit der Anschauungsform Zeit unterworfen ist. Das uns Affizierende gibt sich also als ein Datum der Sinnlichkeit, eine Erscheinung in der Zeit. Dann weist Kant nach, daß das Verstehen der Erscheinungen in ihrem Sein durch die Art unserer Affektibilität ermöglicht ist, d. h. daß die Rezeptivität unserer Sinnlichkeit die Spontaneität des Verstandes ermöglicht, ohne daß der Verstand auf die Sinnlichkeit zu reduzieren wäre. Dazu greift Kant den atomistischen Ansatz des Empirismus auf,62 demzufolge alle sinnlich gegebenen Daten atomare Einheiten darstellen, die von sich aus in keiner Relation zu anderen Daten stehen. 63 Man kann die These vertreten, daß der Atomismus durch Kants Konzeption der Zeit seine eigentliche philosophische Rechtfertigung bekommt. Denn nach Kant stellt die Zeit eine ins Unendliche zu vermannigfaltigende Einheit dar, und zwar derart, daß die Unendlichkeit der Zeit in der Unendlichkeit ihrer Teile, den Augenblicken, greifbar wird. Da der Vollzug der Anschauung aufgrund seiner Unterwerfung unter die Anschauungsform der Zeit nur als ein an den Augenblick gebundenes Geschehen gedacht werden kann, gibt die Sinnlichkeit uns nur isolierte Vorstellungen, die als "absolute Einheiten" zu betrachten sind. Es handelt sich um Daten, die von sich aus in keiner Relation zu anderen Daten stehen. Nur insofern die Isolation der Daten aufgehoben werden kann, kann es zu einheitlicher Erfahrung, zur Erkenntnis kommen. "Wenn eine jede einzelne Vorstellung der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert, und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist".64 61

KRV BI; B 33/ A 19; u.ö.

Zu dem Problem vgl. H. Hoppe, Synthesis bei Kant. Das Problem der Verbindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der "Kritik der reinen Vernunft", Berlin / New York 1983, 63 ff. 63 Vgl. J. Locke, An essay conceming human understanding, ed. with an introd., crit. apparatus and glossary by P. H. Nidditch, Oxford 1975,11,2,1. 64 KRV A 97. 62

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Die Möglichkeit der Aufhebung der Isolation der Daten hat zur Voraussetzung, daß auch die Augenblicke nicht nur als isolierte in den Ansatz gebracht werden müssen. Nun begründet die Anschauungsform Zeit von sich aus die Möglichkeit einheitlicher Erfahrung, insofern in ihr Zeit formal als eine Einheit vorgestellt ist, die alle ihre Zeitteile in sich begreift. 65 Die der Anschauungsform Zeit unterworfene Sinnlichkeit vermittelt darum das anschaulich gegebene Mannigfaltige als ein solches, das zur Einheit gebracht werden kann. Alles, was erscheint und in seinem Erscheinen einen bestimmten Zeitteil besetzt, erscheint in der einen Zeit, und kann als solches zur Einheit gebracht werden. Analoges gilt für den Raum. Auch der Raum wird nach Kant formal als eine Einheit vorgestellt. Darum ist das räumlich Erscheinende apriori von der Einheit des einen Raumes umgriffen. Da also mit unserer Affektibilität dem Erscheinenden Raum und Zeit als einheitliche Horizonte des Erscheinens "vorgeworfen" sind, und alle Erscheinungen überhaupt räumliche und zeitliche Erscheinungen sind, können sie zur Einheit gebracht werden. Ohne die apriorische Synthesis aber der Räume und Zeiten zu der einen Raum-Zeit als der wesentlichen Form aller Anschauung wäre es unmöglich, die Mannigfaltigkeit des sinnlich Gegebenen überhaupt zur Einheit zu bringen. Sie ist es daher, die gegenständliche Erkenntnis möglich macht. 66 Bezüglich der Frage nach dem ermöglichenden Grund von Erkenntnis als einheitlicher Erkenntnis führt Kant daher aus: "Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten Einheit der Anschauung, dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welcher jederzeit eine Synthesis des Mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt und schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit der Apperzeption enthält.,,67 Nur dadurch also, daß die Formalität unserer Raum- und Zeitvorstellung in sich den Bezug zur Einheit der Apperzeption begreift, woraus die Möglichkeit folgt, sich das Gegebene als eine Einheit von Mannigfaltigem durchsichtig zu machen, können die Data der Sinnlichkeit verstanden werden. In diesem Sinne ist die Isolation der Augenblicke in der Einheit der Zeit apriori überwunden. Unter der von Kant im "opus postumum" eigens ausgesprochenen Voraussetzung, daß der Augenblick "das Seyn" der Zeit ausmacht 68 und der Augenblick nur eine Mannigfaltigkeit an sich isolierter Daten geben kann, bedarf es allerdings eines Vermögens, welches das anschaulich Gegebene derart zur Einheit bringt, daß es die Einheit des Gegenstandes als solche sichtbar zu machen vermag. Dabei kann es sich nicht selbst um ein in der Sinnlichkeit fundiertes Vermögen handeln. Denn sie ist als Grund der Mannigfaltigkeit des Seins zwar auch der Grund der Möglichkeit zur Vereinheitlichung des Mannigfaltigen, kann aber dessen Vereinheitlichung nicht von sich aus vollziehen. 65 Vgl. dazu Kants Unterscheidung von Anschauungsform und formaler Anschauung, KRV B 161, Anm. 66 Vgl. KRV B 206/ A 165 f. 67 KRV B 144, Anm. 68 Opus postumum (AA Bd. 22, 5).

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"Allein die Verbindung (coniunctio), eines Mannigfaltigen überhaupt, kann niemals durch die Sinne in uns kommen, und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mit enthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und, da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muß, so ist alle Verbindung, wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht [ ... ] eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen würden, um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttätigkeit ist. ..69

b) Der Verstand als Vermögen der Synthesis

Die durch unsere Affektibilitätsart ermöglichte Tätigkeit des Verstandes, welche Kant auch unter dem Begriff der ,,Funktion" behandelt, besteht darin, das Mannigfaltige durch Verknüpfung zur Einheit zu bringen. "Alle Anschauungen als sinnlich beruhen auf Affectionen, die Begriffe also auf Functionen. Ich verstehe aber unter Function die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. ,,70 Der Verstand muß das Mannigfaltige auf solches zu durchsichtig machen, welches unterschiedlichen Vorstellungen gemeinsam ist. Es bedarf folglich eines Vorgriffs auf Allgemeinvorstellungen. Solchen AllgemeinvorsteIlungen entsprechen die Begriffe oder Kategorien, die der Verstand aus eigener Spontaneität entwirft. "Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen Verstandes, eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv.,,7l Diskursives Denken ist demnach solches Denken, das die Einheit seiner Gegenstände eigens in die Sicht zu bringen hat, um verstehen zu können, worum es sich bei dem, das es zu denken gilt, handelt. Dabei ist die Diskursivität unseres Denkens eine unmittelbare Folge der Tatsache, daß wir nicht anders denn zeitlich anschauen können. Wir sind auf unseren Verstand und dessen synthetisierendes Handeln angewiesen. Wer sich einen Gegenstand verständlich gemacht hat, kann im Urteil Auskunft geben, um welchen Gegenstand es sich bei dem, von dem er sich affiziert erfuhr, handelt. Von daher sieht es Kant als berechtigt an, die Tätigkeiten des Verstandes im Ausgang von den Urteils vollzügen sichtbar zu machen. 72 Er setzt also voraus, daß der urteilende Verstand und der begreifende Verstand in ihrer Funktionalität identisch sind. ,,Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedriickt, der reine Ver69 70 71 72

KRV B 130; vgl. Fortschritte A 52 (AA Bd. 11,515); AA Bd. 20, 275 f. u.ö. KRV B 93/ A 68. Ebd. KRV B 94/ A 69.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

standesbegriff heißt.,,73 Den Nachweis, daß eine Synthesis der Sinnesdaten als Bedingung ihrer Möglichkeit in aller Erkenntnis vorausgesetzt ist, erbringt Kant daher in der KRV dadurch, daß er die Verstandestätigkeit in ihrer Korrelation zu dem Urteilen, in dem sich das Verstehen ausspricht, analysiert. In dem Kontext ordnet Kant der Tafel der Urteilsfunktionen dann auch eine Tafel von Verstandesbegriffen, d. h. Kategorien zu, mit der Begründung: "Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann.,,74 Unter Berufung auf Aristoteles stellt Kant seine Tafel der Kategorien aue s Allerdings spricht er seiner eigenen Kategorientafel eine Vollständigkeit zu, die zu beweisen er als Aufgabe der Ausarbeitung des Systems der Transzendentalphilosophie ansieht. 76 Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die in der Kantauslegung umstrittene Frage nach der Vollständigkeit der Kategorientafel zu entscheiden. 77 Unstrittig dürfte aber sein, daß die Frage nur entschieden werden kann in eins mit der Frage, inwiefern es möglich ist, die Verstandesbegriffe am Leitfaden der Urteilsfunktionen zum Aufweis zu bringen. Dazu wird man von den Urteilsvollzügen auszugehen haben. In dem Fall der Beurteilung findet sich der in Frage stehende Gegenstand an die Stelle eines Subjektbegriffs versetzt, dem prädikative Bestimmungen zu- oder abgesprochen werden. Entsprechend hat unser Verstehen seinen Anhalt an den prädikativen Bestimmungen der Gegenstände. "Wir kennen einen jeden Gegenstand nur durch praedicate, die wir von ihm sagen oder gedenken. [ ... ] Daher ist ein Gegenstand nur ein Etwas überhaupt, was wir durch gewisse praedicate, die seinen Begriff ausmachen, uns gedenken.,,78 Entsprechend setzen wir im Erkenntnisvollzug voraus, daß die Mannigfaltigkeit von Daten, welche die Sinnlichkeit gibt, als eine Mannigfaltigkeit möglicher Gegenstandsbestimmungen in den Ansatz gebracht werden kann. In der angeführten Reflexion wird die Sinnlichkeit als das materiale Fundament der Erkenntnis gedacht. Als solches ist sie der ermöglichende Grund der Handlungen des Verstandes, der an dem sinnlich Gegebenen formend tätig wird, wobei die von ihm vollzogene Formung des Gegebenen als Vereinheitlichung (Synthesis) des Mannigfaltigen zu begreifen ist. Die Anschauung gibt uns also die Daten, welche KRV B 105 f./ A 79. KRV B 94/ A 69. 75 KRV B 105 f. / A 80. 76 KRV B 109/ A 83. Zur Ableitung der Kategorien aus der aristotelischen Urteilstafel vgl. auch Prol. A 119 f. (AA Bd. 4, 322 f.). 77 Zur Kritik vgl. K. Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, Hamburg 3 1986; L. Krüger, Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen? In: Kant-Studien 59 (1968), 333 - 356; R. Brandt, Die Urteilstafel, Kritik der reinen Vernunft, A 67 - 76 / B 92-101, Hamburg 1991; M. Wolff, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt/Main 1995; Zur Geschichte der Interpretation der Urteilstafel vgl. P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 265 - 304. 78 Refl. 4634 (AA Bd. 17,616). 73 74

11. Die Funktionalität des Verstandes

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eine materiale Erkenntnis ermöglichen und es ist Aufgabe des Verstandes, das in der Anschauung materialiter Gegebene derart zu formen, daß es verständlich wird als das, was es ist. Dazu bedarf es des Urteilsvollzugs. In ihm werden die Daten der Sinnlichkeit als prädikative Bestimmungen eines in sich einheitlichen Gegenstandes in den Ansatz gebracht. Denn der Urteilsvollzug hat zur Voraussetzung, daß die Bestimmungen als Bestimmungen einheitlicher Gegenstände angesehen werden können. Nur dann kann der dem Gegenstand korrelierende Begriff im Urteil an die Stelle eines Subjektbegriffs gesetzt werden, der durch unterschiedliche Prädikate seine Bestimmung bekommt. Greift man nun den durch Kants Konzeption der Zeit philosophisch begründeten atomistischen Ansatz des Empirismus auf, demzufolge jedes sinnliche Datum von allen anderen unterschieden ist, ist es unmöglich, die Einheit des Gegenstandes, mithin seine Erkennbarkeit, von der Sinnlichkeit her zu begründen. Folglich ist die These, daß das in der Anschauung als Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten Gegebene als Mannigfaltigkeit prädikativer Bestimmungen eines einheitlichen Gegenstandes gedeutet werden kann, eine Voraussetzung des Erkennens, die nur durch den Verstand selbst gesetzt sein kann. In bezug auf die Erkenntnis von Gegenständen kann daher auch nie von unserer Verstandestätigkeit abgesehen werden kann. Denn ohne die synthetisierende Tätigkeit des Verstandes und die vom Verstand selbst gesetzte Voraussetzung allen Verstehens, daß unterschiedliche Vorstellungen als unterschiedliche "Abschattungen"79 solcher Gegenstände begriffen werden können, die in sich einheitlich sind, kann nicht vernünftig nach dem gefragt werden, von dem wir uns affiziert erfahren. "Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich. ,,80

c) Die Objektivität wissenschaftlicher Urteile

Dadurch ist die Einheit des Bewußtseins als der ermöglichende Grund der Erkenntnis ausgewiesen. Daraus kann nun aber keinesfalls gefolgert werden, daß es für Kant überhaupt nur subjektiv gültige Aussagen gäbe. Denn ihm kommt es gerade darauf an, die Objektivität unserer Urteile dadurch zu retten, daß er aufweist, daß unser Urteilen nicht nur in der empirischen Erfahrung fundiert ist, sondern daß die zu erkennenden Gegenstände im Urteil auf eine Art gedacht werden, die insofern eine notwendige ist, als für alle sinnlich anschauenden Subjekte vorausgesetzt werden kann, daß sie sich die Gegenstände nur derart verständlich machen können. 79 Zu dem Begriff, den Kant selbst nicht verwendet, vgl.: E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, hg, von W. Bieme1, Den Haag 1950 (Husserliana Bd. 3), 93 f.

80

KRV B 131.

7 Bohlen

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, unterscheidet Kant Wahrnehmungsurteile als solche Aussagen, die nur in der empirischen Erfahrung fundiert sind, von objektiv gültigen Urteilen. SI Der Anspruch auf objektive Gültigkeit wird darin deutlich, daß das Urteil die Aussage S = P derart setzt, daß darin auch die Unabhängigkeit des ausgesagten Sachverhaltes von dem aussagenden Subjekt gesetzt ist. Für alle Subjekte soll gelten: S = P. Das aber ist nur der Fall, sofern die Notwendigkeit, mit der S = P gilt, nicht nur empirisch begründet ist, sondern aus der Apriorizität des Verstandes gebrauchs folgt, d. h. aus der Notwendigkeit der Regeln, nach denen die Synthesis des Mannigfaltigen, die in dem Urteil S = P greifbar wird, vollzogen wurde. Daß die Vereinheitlichung der Empfindungen, die die Sinnlichkeit gibt, nicht rein assoziativ, sondern geregelt erfolgt, und zwar nach Regeln, die allen sinnlich anschauenden Subjekten gemein sind, ist der Grund der Möglichkeit objektiv gültiger Urteile, die zwar ihren Bezug zur Materialität dadurch haben, daß in ihnen Empfindungen gedeutet werden, deren Notwendigkeit sich aber aus der geregelten Verstandestätigkeit begründet. Für Kant fallen daher objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit in eins. "Wir erkennen durch dieses [das objektiv gültige] Urteil das Objekt [ ... ] durch die allgemeingültige und notwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen; und da dieses der Fall von allen Gegenständen der Sinne ist, so werden Erfahrungsurteile ihre objektive Gültigkeit nicht von der unmittelbaren Erkenntnis des Gegenstandes (denn diese ist unmöglich), sondern bloß von der Bedingung der Allgemeingültigkeit der empirischen Urteile entlehnen, die, wie gesagt, niemals auf den empirischen, ja überhaupt sinnlichen Bedingungen, sondern auf einem reinen Verstandesbegriffe beruht. "S2 Das hat zur Folge, daß von objektiver Gültigkeit nur in bezug auf solche Urteile gesprochen werden kann, in denen eine Synthesis zur Sprache kommt, die vom Verstand und nach den Regeln des Verstandes vollzogen wurde. Als das "Vermögen der Regeln"S3, nach denen die Synthesis zu erfolgen hat, ist der Verstand daher das Vermögen, in dem die Möglichkeit von Erfahrungsurteilen, die mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit getroffen werden, fundiert ist. Kant führt den Gedanken bis zu der Einsicht fort, daß die empirischen Naturwissenschaften auf zwei Fundamenten erbaut sind. Das eine Fundament ist die sinnliche Erfahrung. Das andere Fundament sind die reinen Naturwissenschaften, welche den empirischen Wissenschaften die Regeln vorgeben, nach denen es zu verfahren gilt, u. a. die Regel, Wirkungen auf ihre Wirkursachen zu befragen. Daß Gegebenes als bewirkt angesehen und nach seiner Wirkursache gefragt werden kann, ist empirisch nicht zu beweisen, da es in der Empirie vorausgesetzt wird. Die Voraussetzungen der empirischen Wissenschaften können darum nur als Vorgaben, die im Verstand als dem Vermögen der Regeln gründen, gedeutet werden.

81 82 83

Vg!. KRV B 142. Pro!. A 79 f. (AA Bd. 4, 298 f.). KRVA 126.

11. Die Funktionalität des Verstandes

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d) Die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins als der ermöglichende Grund der Synthesen des Verstandes

Unbeschadet dessen aber, daß alles Erkennen subjektiv bedingt ist, beanspruchen unsere Urteile doch objektive Gültigkeit. Das ist nur dadurch zu rechtfertigen, daß die Synthesis des Mannigfaltigen nicht regellos erfolgt, sondern als eine geregelte Assoziation von solchen Bestimmungen vollzogen wird, die zu Prädikaten eines einheitlichen Gegenstandes zu vereinigen sind. 84 Dazu gilt es, die Einheit des Gegenstandes selbst apriori in die Sicht zu bringen, damit die Synthese seiner Prädikate von dort her geregelt erfolgen kann. Die Synthesis selbst kann nur durch den Verstand geschehen, der insofern vereinheitlichend handeln kann, als er selbst apriori als in sich einheitlicher Vollzug Einheit in der Sicht hat und daher dann auch als Horizont des Erkennens entwerfen kann. "Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen [ ... ], sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist als das Vermögen, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist.,,85 Damit ist die Einheit der Apperzeption, d. h. des Bewußtseins, als der Synthesis überhaupt ermöglichende Einheitspunkt benannt. Unter Bezugnahme auf Kants These, daß "die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anderes sein könne, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen,,86, betont daher H. Hoppe, es sei nicht die Erkenntnis des konkreten Gegenstandes, durch die der Zusammenhang der Vorstellungen vorgebracht werde, sondern der konkrete Gegenstand werde nur erkennbar durch die Synthesis der Vorstellungen unter der Forderung, zu einer Erkenntnis von Gegenständen zu gelangen. 87 Aus der angegebenen Stelle ist zu ersehen, daß nach Kant der Verstand nur insofern Einheit in der Sicht haben kann, auf welche hin er die prädikativen Bestimmungen eines Gegenstandes als Bestimmungen eines einheitlichen Gegenstandes selbst durchsichtig machen kann, als er sich selbst nur als eine Einheit ansehen kann. Warum der Verstand im Vollzug des Verstehens der Einheit, die er in sich ist, die Einheit des Gegenstandes korrelativ an die Seite stellen muß, wird aus dem Urteilsvollzug verständlich. Daß das Gegebene erkennbar wird, hat also seinen Grund darin, daß der Verstand die in seiner Einheit, der Einheit der transzendentalen Apperzeption, begründete Begrifflichkeit zu Regeln auslegt, nach denen die Synthesis des Gegebenen zu einheitVgl. KRV A 104. KRV B 134 f. 86 KRVA 105. 87 Vgl. H. Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, in: Irnrnanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, hg. von G. Mohr und M. Willaschek, Berlin 1998 (Klassiker Auslegen Bd. 17 /18) 159-188; bes.170. 84

85

7*

100

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

lichen Gegenständen zu erfolgen hat. Die vom Verstand selbst ermöglichten Regeln der Synthesis werden in den Urteilsvollzügen sichtbar. Darum deutet Kant das apriorische Handeln des Verstandes in den betreffenden Paragraphen der "transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" im Ausgang von den Urteilsvollzügen und im Rückgang auf die transzendentale Apperzeption des "Ich denke". "Die Apperzeption und ihre Struktur erschließen sich aus dem urteilsförmigen Vollzug. Ohne Kenntnis der Urteilsfunktionen keine Kenntnis der Apperzeption und ihres Funktionsgefüges,,88 begriindet P. Baumanns den Gedankengang der "transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" in der KRV. Der Gedankengang führt von den Urteilsvollzügen zur Einheit der transzendentalen Apperzeption. Sie aber erweist sich im Fortgang des Gedankens als der ermöglichende Grund des Urteilens, mithin als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Die "transzendentale Deduktion" hat von der ersten zur zweiten Auflage der KRV eine grundlegende Umarbeitung erfahren. Auf die sich daraus ergebenden Probleme der Deutung muß nicht eingegangen werden. 89 Denn für uns ist allein entscheidend, daß es Kant sowohl in der ersten als auch zweiten Auflage um den Nachweis geht, daß die Kategorien als apriorische Begriffe des Verstandes einerseits auf das sinnlich Gegebene angewandt werden können, andererseits nur dort auch objektive Gültigkeit erlangen. Derart erweisen sich die Kategorien als "Bedingungen apriori der Erfahrung,,90, ohne die es keine gegenständliche Erfahrung gäbe. Dadurch wird der Nachweis erbracht, daß ,,[d]ie Bedingungen apriori einer möglichen Erfahrung überhaupt [ ... ] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung [sind].,,91 Der Gedankengang der "transzendentalen Deduktion" soll also sowohl in der ersten als auch zweiten Auflage der KRV den Nachweis erbringen, daß die Kategorien Begriffe sind, die aus der Formalität des "Ich denke" abzuleiten sind und als solche im Urteilen greifbar werden. "Alle Verhältnisse des Denkens in Urtheilen sind die a) des Prädicats zum Subject, b) des Grundes zur Folge, c) der eingetheilten Erkenntniß und der gesammelten Glieder der Eintheilung unter einander,m, P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 244. Zu Kants Kategoriendeduktion vg!. die grundlegenden Arbeiten von: P.F. Strawson, Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, aus dem Eng!. von E.M. Lange, Hain 1981; D. Henrich, Die Beweisstruktur von Kants transzendentaler Deduktion, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hg. von G. Prauss, Köln 1973, 90-104; Ders., Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976. Fortführende Literatur findet sich bei H. Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, 188 und W earl, Die transzendentale Deduktion in der zweiten Auflage, in: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von G. Mohr und M. Willascheck, Berlin 1998, (Klassiker Auslegen, Bd. 17118), 189 - 216, bes. 215 f. 90 KRV B 126/ A 94. 91 KRVA 111. 88

89

92

KRV B 98/ A 73.

11. Die Funktionalität des Verstandes

101

merkt Kant dazu an. Sollen die genannten Verhältnisse ihr Fundament in der Formalität unseres Verstandes haben, muß der Verstand selbst als Subjekt, dem Prädikate zugesprochen werden können oder als Grund, der in seinen Folgen greifbar wird, zu verstehen sein. Folglich geht es Kant in der KRV um den Nachweis, daß man von den Urteilsvollzügen zur Struktur des Verstandes zurückgehen kann. Kant setzt in bezug auf die Erkenntnis begründende Vereinheitlichung des Mannigfaltigen voraus, daß der Einheitspunkt, auf den zu die Vereinheitlichung geschieht, nur das Bewußtsein, die transzendentale Einheit der Apperzeption sein kann, eine These, die in der auf die Ableitung der Verstandesbegriffe folgenden Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der KRV zur Ausarbeitung kommt. "Die gegebenen Vorstellungen im Urteile sind nämlich, eine der andern, zur Einheit des Bewußtseins untergeordnet"93, merkt Kant in der Jäschke-Logik an und setzt dann die Formen der Einheit des Bewußtseins in Korrelation zu den Formen des Urteilens. Dem kategorischen Urteil entspreche die Unterordnung des Prädikats unter das Subjekt, dem hypothetischen die Unterordnung der Folge unter den Grund und dem disjunktiven Urteil die Unterordnung des Gliedes der Einteilung unter den eingeteilten Begriff. 94 Das Bewußtsein selbst ist demnach, obzwar ein einheitliches, ein intentional strukturiertes, dessen Grundstruktur, die Einheit von cogito und cogitationes, in der Grundstruktur aller Urteile, S = P, greifbar wird. Man wird mit Baumanns davon ausgehen können, daß schon die Aufstellung der Urteilstafel in Hinsicht auf die in den folgenden Paragraphen zu behandelnde transzendentale Apperzeption erfolgte. Dazu merkt Baumanns an: "Die Apperzeption kann nur als nach logischen Funktionsarten urteilender Verstand thematisch sein. ,,95 Das bedeutet aber auch, daß man dem Verstand und d. h. der transzendentalen Apperzeption nur gerecht werden kann, wenn man sie aus ihrem Vollzug heraus denkt, eine Einsicht, die von entscheidender Bedeutung sein wird für Kants Theorie der Subjektivität. Der Verstand selbst ist durch die Einheit von Subjekt und Prädikat, Grund und Folge, Ganzem und Teil bestimmt insofern, als er nur als das cogito gedacht werden kann, dem cogitationes als seine cogitationes zugesprochen werden können. Daraus folgt, daß die Struktur des Verstandes den Entwurf der Verstandesbegriffe ermöglicht, die der Mannigfaltigkeit des Gegebenen vorzuwerfen ist, soll diese derart vereinheitlicht werden, daß sie für uns verständlich wird und als solche dann in Urteilen mit objektiver Gültigkeit ausgesagt werden kann. Soll das Subjekt das Mannigfaltige als verbunden vorstellig machen, kommt es nicht umhin, einen Einheitspunkt in den Ansatz zu bringen, von dem her und auf den zu das Mannigfaltige als Einheit angesehen werden kann. Das geschieht dadurch, daß das Subjekt sich selbst in allen Vorstellungen als cogito, "Ich denke", 93 94

95

Logik A 162 (AA Bd. 9, 104). Ebd. Vg!. KRV B 98/ A 72; Pro!. A 99 (AA Bd. 4, 311). P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 244.

102

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

unterstellt, wozu es insofern berechtigt ist, als ansonsten cogitationes anzunehmen wären, die keinem cogito eignen. "Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können;,,96 andernfalls gäbe es Vorstellungen, die nicht angeeignet, folglich auch nicht mit anderen Vorstellungen synthetisiert werden könnten. Solche Vorstellungen könnten nicht gedacht werden. "Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine nothwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subject, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.'.97 Das "Ich denke" ist demnach aufgrund der ihm eigenen Einheit die Bedingung der Möglichkeit für die Vereinheitlichung von Erfahrung überhaupt. Dazu führt Kant in dem § 16 der zweiten Auflage der KRVaus: "Denn die mannigfaltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht insgesamt meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewußtsein gehöreten. ,,98 Sollen die mannigfaltigen Vorstellungen, welche die Anschauung gibt, überhaupt synthetisierbar sein, müssen sie in einem Bewußtsein vorkommen können. Dazu muß die Möglichkeit gegeben sein, daß ein Subjekt sich die vorkommenden Vorstellungen selbst zuspricht, d. h. sie sich als seine Vorstellungen aneignet. Also bedarf es eines Subjektes, welches einerseits die Möglichkeit der Aneignung von Vorstellungen hat, andererseits selbst keine Mannigfaltigkeit ist, um jene Verknüpfung des Mannigfaltigen verständlich zu machen, in der gegenständliche Erkenntnis ihr ermöglichendes Fundament hat. Folglich vertritt Kant schon in der ersten Auflage die These: "Nun können keine Erkenntnisse in uns statt finden, keine Verknüpfung und Einheit derselben unter einander, ohne diejeinge Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht, und, worauf in Beziehung, alle Vorstellungen von Gegenständen allein möglich ist. Dieses reine urspriingliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die transzendentale Apperzeption nennen. ,,99 In ihm ist die Vorstellung "ich denke" verwurzelt. Die Grundstruktur der kategorischen Urteile, S = P, kann dem Gesagten zufolge aus der Formalität des Verstandes selbst abgeleitet werden. Analoges gilt für die Struktur der hypothetischen und disjunktiven Urteile, insofern Kants transzendentalphilosophische Deutung der Konvertibilität der Transzendentalien in die Formalität der Urteils- und Verstandesfunktionen eingetragen werden kann. Demnach hat das Subjekt die Möglichkeit zu hypothetischen Urteilen, da es sich selbst, insofern es sich als cogito begreifen kann, als den Grund anzusehen vermag, der als solcher nur in seinen "Folgen", d. h. seinen cogitationes greifbar wird. Daß sich für das Subjekt alle ihm eigenen cogitationes zu einer Einheit, der Einheit seiner Erkenntnis, schließen, ist dann das Fundament der disjunktiven Urteile. Darum ist die Einheit des Verstandes der ermöglichende Grund unserer Erkenntnis. "Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die 96 97

98

99

KRV B 131. KRV B 132. KRV B 132 f. KRV A 107.

11. Die Funktionalität des Verstandes

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Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objective Gültigkeit, folglich daß sie Erkentnisse werden, ausmacht, und worauf folglich selbst die Möglichkeit des Verstandes beruht."lOo Als oberster Grundsatz menschlicher Erkenntnis wird von Kant daher die These vertreten, daß das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen nur verstanden werden kann, sofern es unter die Einheit der Apperzeption gebracht wird, und zwar mittels einer kategorialen Deutung, deren prinzipielle Möglichkeiten in den genannten "Verhältnissen des Denkens in Urteilen" benannt sind. Für die Einheit der Apperzeption gilt, daß sie nur dadurch als Identitätsbewußtsein vollzogen werden kann, daß dem Subjekt vermittels der Kategorien Möglichkeiten zur Synthesis des Mannigfaltigen gegeben sind, deren es sich im Vollzug der Synthesis vergewissert. Entsprechend formiert das Subjekt das Mannigfaltige zu jener Einheit, bezüglich derer es von seiner Erfahrungswelt sprechen kann, indem es im Vollzug der kategorialen Synthesis die Einheit seines eigenen Bewußtseins realisiert. 101

e) Zu Kants Absage an die Aufhebung von Sein in Subjektivität

Um aber als der ermöglichende Grund des VorsteIlens fungieren zu können, muß die Vorstellung "Ich denke" als Identitätsbewußtsein aus geformt werden. Denn nur sofern das Ich sich als mit sich selbst identisches cogito unterstellt, kann es unterschiedliche Vorstellungen (cogitationes) auf sich zu vereinigen. In Anbetracht der Kantischen These, es sei nicht erforderlich, daß die Vorstellung "Ich denke" in allen Vorstellungen bewußt vollzogen wird, haben unter anderem W. Hinsch und D. Sturma eine streng transzendentale Deutung der Kantischen Theorie des Selbstbewußtseins gefordert. Es gehe Kant keinesfalls um empirische Fragestellungen, die das menschliche Bewußtsein betreffen, sondern allein um den Aufweis der Möglichkeit synthetisierender Verstandeshandlungen, die nicht aus der Sinnlichkeit abzuleiten seien. 102 Dadurch haben sie allen empirischen Kantdeutungen eine Absage erteilt. Unbeschadet seiner transzendentalphilosophischen Fragestellung, macht Kant im § 16 der zweiten Auflage der KRV darauf aufmerksam, daß auch die Identität der Apperzeption, "die apriori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht," auf ihre Bedingungen hin in Frage gestellt werden kann. Es kann sich dabei nur um solche Bedingungen handeln, ohne die das Subjekt sich seiner Identität nicht bewußt werden könnte, was zur Folge hätte, daß auch das Denken nicht als selbstKRV B 137. W Hinsch, Erfahrung und Selbstbewußtsein. Zur Kategoriendeduktion bei Kant. Harnburg 1986,52. 102 D. Sturma, Kant über Selbstbewußtsein. Zum Zusammenhang von Erkenntniskritik und Theorie des Selbstbewußtseins, Hildesheim/Zürich/New York 1985,49. 100

101

104

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

referentielles Denken strukturiert sein könnte. I03 Da mit Kant vorauszusetzen ist, daß das empirische Bewußtsein "an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjects"l04 ist, kann Identitätsbewußtsein nur durch einen Wandel in der intentionalen Struktur des Bewußtsein entstehen, der unter anderem von D. Henrich als Vollzug einer Reflexion begriffen wurde, d. h. als Vollzug einer Abwendung von den Objekten, denen das subjektive Interesse ansonsten gilt, und einer Zuwendung zu sich selbst. Henrich deutet Kants Bewußtseinstheorie als Reflexionstheorie, unter Reflexion die mit einer Abwendung von den Objekten verknüpfte Wendung des Subjektes auf sich verstehend. 105 Die Destruktion der Zerstreuung des Bewußtseins ermöglicht aber nach Kant keine Reflexion des Subjektes auf sich, die mit einem Absehen von den Objekten verknüpft wäre, sondern eine Sichtung der Objekte als zu synthetisierender. Nur durch sie wird es dem Subjekt möglich, sich selbst als synthetisierendes zu erfahren und darin dann auch einzusehen, daß der Vollzug der durch es geschehenden Synthese nur möglich ist aufgrund dessen, daß es selbst mit sich identisch ist. Selbstbewußtsein als Identitätsbewußtsein kann es also nur geben für ein Subjekt, welches synthetisierend tätig sein kann, da ihm Mannigfaltiges als synthetisierbares gegeben ist. Von daher ist zu verstehen, daß Kant voraussetzt, daß das Ich sich seiner Identität nur in Anbetracht der durch die Anschauung gegebenen Möglichkeit zur Synthesis des Mannigfaltigen bewußt werden kann. "Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. Das ist aber so viel, als, daß ich mir einer notwendigen Synthesis derselben apriori bewußt bin, welche die urspriingliche synthetische Einheit der Apperzeption heißt, unter der alle mir gegebenen Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen.'d06 Soll es also apriorisches Identitätsbewußtsein überhaupt geben, kann es seinen Anhalt nur haben in einem apriorischen Wissen um die Möglichkeit der Synthesis. "Syn103 M. Hossenfelders Kritik an Kants Selbstbewußtseinstheorie, derzufolge es unmöglich ist, daß die Einheit der Vorstellungen, durch die ein Ich sich der Vorstellungen als seiner eigenen bewußt werden könne, durch den bewußten Vollzug der Synthesis entsteht, verkennt den streng transzendentalphilosophischen Ansatz Kants. Vgl. M. Hossenfelder, Kants Konstitutionstheorie und die Transzendentale Deduktion, Berlin/New York 1978, 104. 104 KRV B 133. 105 D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Subjektivität und Metaphysik, hg. von D. Henrich und H. Wagner, Frankfurt/M. 1966, 188-232, bes. 192. Vgl. ders., Selbstbewußtsein. Kritische Einleitungen in eine Theorie, in: Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I: Methode und Wissenschaft. Lebenswelt und Geschichte, hg. von R. Bubner, K. eramer und R. Wiehl, Tübingen 1970,257 -284. Zur Kritik an der Kantdeutung durch D. Henrich vgl. D. StUmul, Kant über Se1bstbewußtsein, 118 ff., ders., Die Paralogismen der reinen Vernunft in der zweiten Auflage, in: Immanue1 Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von G. Mohr und M. Willaschek, Berlin 1998 (Klassiker Auslegen Bd. 17 /18) 391-411, bes. 401 f. 106 KRV B 135 f.

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thetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als apriori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die apriori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht.,do7 Entsprechend spricht Kant von der "synthetischen Einheit der Apperzeption", in der er den höchsten Punkt der Transzendental-Philosophie ansetzt. 108 Mit dem Aufweis der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins, welche der ursprünglichen Apperzeption entspringt, allein ist also das empirische Selbstbewußtsein nicht zu begründen. Das kann nur geschehen im Rekurs auf den Vollzug der Synthesis selbst, mithin auf das Mannigfaltige, das uns die Anschauung gibt; "also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich".lo9 Zu erinnern ist an der Stelle nochmals an das rein transzendentalphilosophische Interesse Kants. Es geht ihm nicht darum, den auf empirisch gegebene Gegenstände bezogenen Vollzug der Synthese des Mannigfaltigen als Bedingung des Selbstbewußtseins aufzuweisen, sondern nur die Möglichkeit zu einer solchen Synthese. Das Subjekt erfährt sich als mit sich identisches, indem es sich sein Vermögen zur Synthese des Mannigfaltigen durchsichtig macht. Daraus folgt dann aber auch, daß dem selbstbewußten Subjekt ein apriorischer Bezug auf Mannigfaltigkeit zu eigen ist, ohne die Selbstbewußtsein nicht verständlich gemacht werden kann.

In dem Abschnitt zur "Widerlegung des Idealismus" II 0 greift Kant seine eigene Argumentation auf, um von ihr her die Existenz von Gegenständen, die dem Subjekt äußerlich sind, zu beweisen. Das empirische Bewußtsein, stellt er nochmals dar, sei strukturiert als eine Abfolge mannigfaltiger Bewußtseinszustände. In ihm folgt ein Zustand auf den anderen. Kant setzt also voraus, daß ein Mensch sich aufgrund der Zeit, unter deren Bedingung er sich allein anschauen kann, nicht als beharrendes, mit sich identisches Ich gegeben ist, sondern nur als Abfolge von Bewußtseinszuständen. Daß es sich bei den mannigfaltigen Zuständen um Bestimmungen eines mit sich identischen, d. h. in sich beharrlichen Selbst handelt, kann im Rekurs auf die Zustände selbst nicht bewiesen werden. Das Identitätsbewußtsein ist folglich nicht aus der Anschauung eigener Innerlichkeit zu begründen, sondern stellt sich dar als eine Unterstellung von Beharrlichkeit seitens des Verstandes. Da die Existenz von Beharrlichem aus der inneren Anschauung allein nicht zu begründen ist, sieht Kant sich berechtigt, die These zu vertreten, daß innere Erfahrung als Identitätserfahrung nur durch äußere möglich sein könne, folglich äußere Objekte existieren müssen. KRV B KRV B 109 KRV B 110 KRV B 293 f.). 107 108

134. 134, Anm. 133. 274 f. / A 226. Vg!. auch Pro!. A 63 f. (AA Bd. 4, 288 f.), A 70 f. (AA Bd. 4,

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Unabhängig von der Frage, ob dadurch schon die Existenz äußerer Objekte als bewiesen gelten darf oder ob Kant in dem betreffenden Abschnitt der KRV nur sichtbar macht, daß Selbstbewußtsein unmittelbar mit dem Bewußtsein von Objekten verknüpft ist,111 wird doch deutlich, daß Kant zufolge das Subjekt seiner Existenz als eines Selbst nur dadurch bewußt werden kann, daß es sich als ein synthetisierendes versteht, was zur Voraussetzung hat, daß es solches mit in den Ansatz bringt, welches es zu synthetisieren gilt: das Mannigfaltige. Nur indem es sich selbst als das "Ich denke" setzt, durch das mannigfaltige Vorstellungen zur Einheit gebracht werden können, kann es sich als mit sich identisches bewußt werden. Es gibt also kein Selbstbewußtsein für ein Subjekt ohne mögliches Objektbewußtsein, ohne apriorischen Gegenstandsbezug.

f) Die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins und der zeitliche Vollzug der Synthesis

In jener Ausarbeitung der transzendentalen Deduktion, die Kant in der ersten Auflage der KRV vorgelegt,1I2 für die zweite Auflage dann aber gänzlich umgearbeitet hat, knüpft Kant die Erbildung des temporalen Horizontes an die transzendentale Einbildungskraft. 113 In dem Kontext unterscheidet er drei Schritte jener Synthesis, durch die ein Gegenstand als der, der er ist, zur Bestimmung kommt: die Synthesis der Apprehension in der Anschauung, die Synthesis der Reproduktion in der Einbildung und die Synthesis der Rekognition im Begriff. Stellt sich uns ein Gegenstand dar als "das, in dessen Vorstellung verschiedene andere (als) synthetisch verbunden gedacht werden können",114 bedarf es erstens einer Anschauung, die verschiedene Vorstellungen, d. h. unterschiedliche Abschattungen eines Gegenstandes, in eins zu sehen vermag. Dazu ist "erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung derselben" 111 D. Sturma, Kant über Selbstbewußtsein, 52 ff., hat zutreffend darauf aufmerksam gemacht, daß dem Abschnitt zur "Widerlegung des Idealismus" jene transzendentalphilosophische Strenge abgeht, die dem Ansatz Kants entsprechen würde. Streng transzendentalphilosophisch gedacht enthalte der Abschnitt nur ein "Objektivitätsargument", d. h. ein Argument für die These, daß Selbstbewußtsein unmittelbar mit dem Bewußtsein von Objekten verknüpft ist. 112 KRV A 84-130. Zur Deutung vgl.: H. Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, 159-188; ders., Synthesis bei Kant. Das Problem der Verbindung von Vorstellungen und ihrer Gegenstandsbeziehung in der "Kritik der reinen Vernunft", Berlin/New York 1983; W. earl, Die Transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt/M. 1992. 113 Nach M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 160 f., wird die Problematik der transzendentalen Einbildungskraft in der zweiten Auflage zurückgedrängt, da sich von ihr aus die Notwendigkeit ergeben hätte, den subjektivitätsphilosophischen Ansatz der KRV in Frage zu stellen. 114 Refl. 6350 (AA Bd. 18, 676). Vgl. KRV B 137, wonach ein Gegenstand das ist, "in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist".

11. Die Funktionalität des Verstandes

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erforderlich. 115 Sie geschieht in der Synthesis der Apprehension in der Anschauung. Soll das Durchlaufen des Mannigfaltigen zur Grundlage einer einheitlichen Gegenstandsvorstellung werden, müssen die in ihm angegangenen Daten verknüpft werden. Dazu bedarf es einer ständigen Reproduktion solcher Daten, von denen im Vollzug der Synthesis zu anderen Daten fortgeschritten wurde. Dadurch, daß die Apprehension nicht an den Augenblick gebunden ist, sondern nach Kant auch vor- und rückwärts angestellt werden kann,"6 ist es möglich, in der Abfolge der Augenblicke eine Abfolge von Vorstellungen als auf einen Gegenstand bezogen zu betrachten. 117 Das ermöglichende Fundament der reproduktiven Apprehension kann nur die apriorische Gegebenheit der Zeit als einer aufgrund der Einheit ihrer Teile einheitlichen Zeit sein, in der es keine isolierten Augenblicke gibt. Waren nämlich die Augenblicke für den Menschen schlechthin isolierte Zeitstellen, wäre die Isolation der sinnlichen Daten unvermeidlich. Folglich kann man in Anbetracht dessen, daß uns Gegenstände als einheitliche Gegenstände erfahrbar sind, voraussetzen, daß die auf den Gegenstand bezogene Synthesis der Apprehension und Reproduktion in einer reinen Synthesis fundiert ist, durch die sich Zeit als jene Abfolge von Zeitteilen konstituiert, von denen einer nur aus seiner Relation zu allen anderen seine Bestimmung erfährt. Es dürfte die Nähe der Kantischen Theorie der Einbildungskraft zur Husserlschen Theorie der Gegenstandserkenntnis und ihrer Ermöglichung durch unser Zeitbewußtsein sein,"8 die das Interesse Heideggers an Kants Gedanken einer apriorischen Synthesis der Reproduktion bedingt hat. Nach Heidegger dringt Kant mit ihr an jene Grenze des Denkens vor, an der die Einheit von Sein und Zeit sichtbar wird."9 An der Stelle der KRV, an der Kant auf das Reproduktionsvermögen zu sprechen kommt, geht es ihm aber nicht primär um die Frage nach der Zeit als der Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandserkenntnis. Denn er fügt der reproduktiven Synthesis als dritten und entscheidenden Schritt den der Rekognition an. Durch ihn wird die in der reproduktiven Apprehension vollzogene Synthesis zu einem bewußten Vollzug erhoben und dadurch zugleich zu einem Ende gebracht. "Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein [ ... ] und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes KRVA 99. Vgl. Refl. 6313 (AA Bd. 18,614). 117 KRV A 101. 118 Husserl selbst sieht in der Lehre von der Synthesis der produktiven Einbildungskraft, die Kant in der ersten Auflage der KRVausgearbeitet hat, eine "geniale Intuititon", die seiner Lehre von der passiven Produktion als intentionaler Konstitution vorgreife. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 275 f. 119 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 171- 203, bes. 1195 ff. V gl. aber Heideggers Beurteilung seiner Kantdeutung als einer "Uberdeutung", ebd., XIV (Vorwort zur 4. Aufl.). 115

116

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ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann. 120 Ohne daß das Bewußtsein von sich aus Einheit in die Sicht bringt, wäre eine Synthesis des Mannigfaltigen als geregelte Synthesis, in der objektive Erkenntnis gründet, unmöglich.

g) Zur Schematisierung der Verstandesbegrijfe

Im dritten Abschnitt der "Deduktion der reinen Verstandes begriffe" der ersten Auflage der KRV spricht Kant den obersten Grundsatz der menschlichen Erkenntnis aus: "Wir sind uns apriori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntniß jemals gehören können, bewußt, als einer nothwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen [ ... ],,121 Käme uns nicht ein identisches Selbst zu, könnte das Mannigfaltige, das die Sinnlichkeit gibt, nicht zu einer einheitlichen Erfahrungswelt verknüpft werden. Folglich sind wir im Vollzug des Erkennens mit Notwendigkeit in den Stand dessen versetzt, der dem Mannigfaltigen Einheit gibt. Subjektunabhängige Erkenntnis kann es nicht geben. Soll das Mannigfaltige der Anschauung durch uns vereinheitlicht werden, muß unser Verstand in sich die Prinzipien oder Regeln, nach denen die Synthesis zu vollziehen ist, enthalten. Als solche sind die Kategorien anzusehen, woraus folgt, "daß der reine Verstand vermittelst der Kategorien ein formales und synthetisches Principium aller Erfahrung sei, und die Erscheinungen eine nothwendige Beziehung auf den Verstand haben.,,122 Erkennbar ist also nur solches, das vermittelst der Kategorien in den Bezug zur Einheit des Verstandes gebracht werden kann. Das aber ist bei allen Erscheinungen der Fall. Denn indem ein Gegenstand zur Erscheinung wird, erfolgt seine Unterwerfung unter den Horizont der Zeit, der aufgrund unserer Affektibilitätsart der Erscheinung in dem Augenblick des Erscheinens schon vorgeworfen ist. Er ist es, der eine kategoriale Deutung der Erscheinung, mithin ihr Verstehen, ermöglicht. In bezug darauf weist Kant in der "Analytik der Grundsätze" nach, daß die Anwendung der Verstandesbegriffe auf das Mannigfaltige, welches die Anschauung gibt, dadurch ermöglicht ist, daß unsere Vorstellung von Zeit Schemata vorgibt, mittels derer die Kategorien "versinnlicht" werden können. 123 Dazu führt Kant die Urteilskraft ein, jenes Vermögen, mittels dessen eine Erscheinung unter einen apriorischen Begriff oder eine apriorische Regel des Verstandes subsumiert werden kann. Soll die Urteilskraft ihrer Aufgabe nachkommen, muß es nach Kant eine 120 121 122

KRV A 103. KRV A 116. KRV A 119.

123 Zum Folgenden vgl. insb. G. Seel, Die Einleitung in die Analytik der Grundsätze, der Schematismus und die obersten Grundsätze, in: ImmanueI Kant. Kritik der reinen Vernunft, hg. von G. Mohr und M. Willaschek, Berlin 1998 (Klassiker Auslegen Bd. 17/ 18), 217 - 246.

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Sinnlichkeit und Verstand vennittelnde Vorstellung geben, welche eine Anwendung der Verstandesbegriffe auf das sinnlich Gegebene möglich macht. Für Kant kann es sich dabei nur um eine zeitliche Vorstellung handeln. Denn die Zeit als reine Anschauungsform teilt einerseits mit den Verstandesbegriffen deren Apriorizität. Andererseits gibt sie sich in allen Vorstellungen des Mannigfaltigen als solchem zu denken, da sich alles Vorstellen als augenblicksgebunden erweist. "Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein vennittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche als das Schema der Verstandesbegriffe die Subsumtion der letzteren unter die erste vennittelt.,,124 Die Bestimmungen, in denen sich unsere Vorstellung von Zeit konkretisiert, ermöglichen demnach die Schematisierung der Verstandesbegriffe. Kant benennt vier transzendentale Zeitbestimmungen, d. h. solche Vorstellungen, die in unserer Zeitvorstellung einbegriffen sind: Zeitreihe, Zeitinhalt, Zeitordnung, Zeitinbegriff. 125 Vorausgesetzt ist dabei die in der "Transzendentalen Ästhetik" erarbeitete Vorstellung einer einheitlichen Zeit, in der mittels Eingrenzung Abschnitte bestimmt werden können, von denen sich einer an den anderen reiht. Zeit stellt sich uns also dar als von einem Zeitinbegriff umgriffene Zeitreihe, die in Form der Sukzession geordnet ist. Die Zeitteile, durch welche die Reihe konstituiert ist, können dabei gefüllt sein oder nicht, in ihnen kann eine Affektion stattfinden, die sich als eine Empfindung bemerkbar macht, welche einen bestimmten Grad der Intensität aufweist. Die transzendentalen Bestimmungen der Zeit werden dann zur Schematisierung der Kategorien angewandt. Dazu nimmt Kant in der ersten Auflage der KRV Bezug auf die Einbildungskraft. 126 In der zweiten Auflage spricht Kant dann von der Urteilskraft als dem oberen Erkenntnisvermögen, welches in eins mit dem Verstand Erkenntnis ermöglicht. In seiner Kantdeutung von 1929 vertritt Heidegger die These, Kant habe die Einbildungskraft in der ersten Auflage noch als die Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand in die Sicht bringen wollen. Da das Denken der Wurzel aber eine Revolution des Begriffs der Subjektivität bedingt hätte, habe er in der zweiten Auflage die Einbildungskraft dem Verstand zu- und dadurch auch untergeordnet. 127 Im Gegensatz dazu wird man voraussetzen können, daß es Kant sowohl in der ersten als auch zweiten Auflage nicht darum geht, die Wurzel der Erkenntnis selbst sichtbar zu machen. Ihm kommt es nur darauf an, die funktionale Einheit von Sinnlichkeit und Verstand zu denken. Soll es möglich sein, daß die Begriffe des Verstandes zur Deutung des sinnlich Gegebenen angewandt werden, kommt man nicht umhin, davon auszugehen, daß der Verstand selbst seine Begrifflichkeit auf eine Art entwirft, die sie in ein Verhältnis der Entsprechung zu den Möglichkeiten der Sinnlichkeit bringt. 124 125 126 127

KRV B 178/ A 139. KRV B 184 f. / A 145. KRV A 115.

M. Heidegger; Kant und das Problem der Metaphysik, 161.

110

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Unter einern Schema versteht Kant "ein transzendentales Product der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt nach Bedingungen seiner Form (der Zeit) in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, so fern diese der Einheit der Apperception gemäß apriori in einem Begriff zusammenhängen sollten.,,128 Die Bestimmung des Schemabegriffs wird verständlich im Kontext der Kantischen Konzeption des inneren Sinnes. Der innere Sinn ist das Vermögen, welches es dem Menschen ermöglicht, Empfindungen als seine Empfindungen zu erfahren und Vorstellungen als seine Vorstellungen zu begreifen. Denn in ihm ist sich der Mensch selbst anschaulich als das cogito, das durch seine cogitationes bestimmt ist. Um die cogitationes aber als unterschiedliche und dadurch auch vom cogito selbst zu unterscheidende begreifen zu können, ist vorauszusetzen, daß der innere Sinn selbst als ein "Fluß innerer Erscheinungen", mithin zeitlich strukturiert ist. "Die Zeit ist nichts anders als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes.,,129 Da nun Erscheinungen nur als Vorstellungen angeeignet werden können, sofern sie zu Bestimmungen des inneren Zustandes eines Subjektes werden, ist die Zeit "eine Bedingung apriori von aller Erscheinung überhaupt,,130. Zwar kann die Zeit - der Konzeption der "Transzendentalen Ästhetik" zufolge - ihren Grund nur in der Subjektivität des Subjekts, d. h. in dessen Sinnlichkeit haben. Dennoch setzt sie sich selbst voraus, insofern, als auch das Subjekt sich selbst nur aufgrund des Horizontes der Zeit anschaulich werden kann. Also ist zu folgern, daß der Entwurf von Zeit in der transzendentalen Subjektivität erfolgt, und zwar derart, daß er sich als Bedingung der Möglichkeit empirischer Subjektivität zu denken gibt, ein Gedanke, den Kant in der KRV mittels des Begriffs einer Selbstaffektion des Subjektes zu deuten sucht. 131 Im "opus postumum" findet sich dazu die These, die Zeit, die an sich eine Bestimmung des inneren Sinnes sei, setze sich selbst voraus. 132 Es kann uns nicht darum gehen, die Problematik der Konzeption subjektiver Selbstaffektion zu besprechen. 133 Für unseren Gedanken ist nur interessant, daß Kant zu bedenken gibt, daß das Subjekt in sich selbst und aus sich selbst die Bedingungen der Möglichkeit der Aneignung des anschaulich Gegebenen entwirft, unter ihnen die zeitlichen Schemata, die eine Anwendung der Verstandesbegriffe auf das sinnlich Gegebene oder eine Subsumtion des sinnlich Gegebenen unter die Einheit des Verstandes ermöglichen. Die Schemata geben also die Möglichkeiten vor, nach denen Vorstellungen unter die Einheit des Verstandes gebracht werden können, und zwar dadurch, daß sie der KRV B 181/ A 142. KRV B 49/ A 33. 130 KRV B 50/ A 34. 131 KRV B 153: "Er [der Verstand] also übt, unter der Benennung einer transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diejenige Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vennögen er ist, aus, wovon wir mit Recht sagen, daß der innere Sinn dadurch affiziert werde." 132 AA Bd. 21, 85. 133 V gl. dazu P. Baumannns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 200 ff. 128

129

11. Die Funktionalität des Verstandes

111

Fonnalität des inneren Sinnes, d. h. seiner zeitlichen Struktur, entsprechend formiert werden. Folglich hat Kant mittels des Schematismuskapitels der KRV die Grundlage geschaffen, auf der in den Abschnitten, die dem Titel "System aller Grundsätze des reinen Verstandes" subsumiert sind, die kategoriale Deutung der Erscheinungen überhaupt, durch die es zur Erschließung des anschaulich Gegebenen als Natur kommt, besprochen werden kann. Für unsere Frage nach den Möglichkeiten, Schöpfung zu denken, entscheidend ist die Schematisierung, welche die reinen Verstandes begriffe der Realität, Substantialität und Kausalität erfahren. "Realität ist im reinen Verstandesbegrife das, was einer Empfindung überhaupt correspondirt.,,134 Unter der Substanz ist dem Verstandesbegriff nach solches zu verstehen, "das als Subject (ohne ein Prädicat von etwas andenn zu sein) gedacht werden kann"Ys Der Begriff der Kausalität endlich gibt die Möglichkeit einer Ursächlichkeit zu denken, ohne sie dadurch auch ihrer Art nach schon zu bestimmen. 136 Es kommt nun darauf an, den Begriffen der Realität, Substantialität und Kausalität eine Bedeutung zu geben, welche die Subsumtion des sinnlich Gegebenen unter die genannten Kategorien ermöglicht. Die Empfindungen, die uns verrnittels der Sinnlichkeit gegeben sind, verweisen auf solches, das ihnen korrespondiert, auf die Wirklichkeit oder Realität selbst. Nun können unsere Empfindungen von unterschiedlicher Intensität sein, wodurch sich unsere Zeiten als unterschiedlich erfüllte Zeiten geben, bis dahin, daß eine Zeit für uns schlechthin unerfüllt ist. Entsprechend verbindet sich für uns der Begriff der Realität mit dem der Intensität, von dem her deutlich wird, daß unter einem ens reale solches zu verstehen ist, das einem Abschnitt der Zeit eine Füllung gibt, die aufgrund der Intensitätserfahrung als materiale Füllung zu deuten ist, so daß Kant die der Empfindung korrespondierende Realität auch als "die transscendentale Materie aller Gegenstände als Dinge an sich" zur Sprache bringen kann. 137 Auch der Begriff der Substanz erfahrt seine Schematisierung von der Zeit her. "Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit.,,138 Uns ist es nur möglich, dem Begriff der Substanz dadurch eine Bedeutung zu geben, daß wir die Substanz, in Entsprechung zu der selbst als beharrlich vorgestellten Zeit, als das Beharrliche denken, an dem sich der Wechsel ihrer Bestimmungen, der Arten, in denen die Substanz existiert, vollzieht. Endlich erfährt der Begriff der Kausalität seine Schematisierung im Horizont der Vorstellung der zeitlichen Abfolge, in dem verständlich wird, daß ein Seiendes Bedingung aller auf es folgenden Seienden sein kann. 134 135 136

l37 138

KRV B KRV B KRV B KRV B KRV B

182/ A 186/ A 183/ A 182/ A 183/ A

143. 147. 144. 143. 144.

112

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Nur im Kontext unserer Vorstellung von Zeit können demnach den Begriffen Realität, Substantialität und Kausalität derart Bedeutungen zugesprochen werden, daß es möglich wird, sie auf sinnlich Gegebenes anzuwenden. Ohne die zeitlichen Schemata der Einbildungskraft können die Kategorien für uns keine Bedeutung bekommen, vorausgesetzt, daß Bedeutung überhaupt Anschaulichkeit voraussetzt. Kann eine Realisierung der Kategorien aber nur von den Schemata der Einbildungskraft her erfolgen, hat das zur Folge, daß das kategorial-begriffliche Verstehen überhaupt auf solches beschränkt ist, das selbst sinnlich gegeben ist. Daher vertritt Kant die These, aus der Notwendigkeit der Schematisierung der Verstandesbegriffe ergebe sich die Tatsache, "daß, obgleich die Schemate der Sinnlichkeit der Kategorien allererst realisiren, sie doch selbige gleichwohl auch restringiren, d.i. auf Bedingungen einschränken, die außer dem Verstande liegen (nämlich in der Sinnlichkeit).,,139 Unbeschadet dessen, kann es durchaus geraten sein, die Verstandesbegriffe rein logisch zu gebrauchen, sofern man sich nur dessen bewußt ist, daß in einem solchen Gebrauch keine Subsumtion des sinnlich Gegebenen unter die Verstandes begriffe geschieht, mithin auch keine Objekte gedacht werden. "Also sind die Kategorien ohne Schemate nur Funktionen des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Verstand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert.,,14o In ihrem rein logischen Gebrauch bleiben die Begriffe der Realität, Substantialität und Kausalität mit Notwendigkeit leere Begriffe ohne jede Anschaulichkeit. Das aber bedeutet, daß nicht nur von dem "konkreten, bestimmt oder unbestimmt objektbezogenen Verstand" der "abstrakte Verstand" zu unterscheiden ist, sondern auch jene Form der Erschließung des Seins, in der sich uns Sein in Korrelation zu dem System der zeitlich schematisierten Verstandesbegriffe als Natur gibt, von dem Sein, sofern es "an sich" ist, d. h. unabhängig von einer möglichen Anwendung der schematisierten Kategorien bloß gedacht wird.

3. Die Grenzen unseres Verstehens

a) Der Verstand als der ermöglichende Grund von Natur

"In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung.,,141 Danach ist die Form nicht die Ordnung des Seins selbst, sondern

139

KRVB l85f./A 146.

140 KRV B 1871 A 147. 141 KRV B 341 A 20.

11. Die Funktionalität des Verstandes

113

das, wodurch Ordnung möglich wird, d. h. der Horizont, von dem her das Ganze der Erscheinungen als ein geordnetes erfahrbar wird. In bezug auf die Form, welche die Ordnung der Erscheinungen ermöglicht, können unterschieden werden die Anschauungsformen einerseits, die Verstandesbegriffe, welche im Erkenntnisvollzug auf das anschaulich Gegebene angewandt werden, andererseits. In transzendentalphilosophischer Sicht folgt daraus, daß von einer Erkenntnis des Seins nur hinsichtlich der Form, in der Sein verständlich wird, gesprochen werden kann. Kant spricht sich also nicht für eine idealistische Aufhebung von Sein in Subjektivität aus, sondern beweist nur, daß das, was an sich selbst ist, sich uns nur auf eine Art erschließen kann, die bedingt ist durch die Formalität unserer Anschauung und unseres Verstehens. Daraus folgt, daß sich der Gegenstand einem Subjekt, das aufgrund seiner Affektibilitätsart vermögend ist, Gegebenes zeitlich anzuschauen, als ein solcher zu verstehen gibt, der durch Subsumtion unter die auf das zeitlich Gegebene anzuwendenden Kategorien zur Bestimmung gebracht werden kann. Einem solchen Subjekt erscheint der Gegenstand selbst als ein kategorial geordnetes Ganzes, d. h. als Natur. 142 "Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt iSt.,,143 Der Begriff der Natur kann demnach auf die Dinge nur angewandt werden, sofern sie sich als nach allgemeinen Gesetzen geordnetes System zu erkennen gibt. Von der Gesetzlichkeit der Natur aber kann nur in Korrelation zu möglicher Erfahrung, mithin zu unserer Verstandestätigkeit gesprochen werden. "Wir haben es aber hier auch nicht mit Dingen an sich selbst [ ... ] sondern bloß mit Dingen, als Gegenständen einer möglichen Erfahrung zu tun, und der Inbegriff derselben ist es eigentlich, was wir hier Natur nennen.'.!44 Daß die allgemeine Gesetzlichkeit der Natur in unserer Verstandestätigkeit begriindet ist, weist Kant in dem Abschnitt der KRV nach, der den Titel "Analogien der Erfahrung" trägt, indem er die den Urteilsformen korrelierenden Begriffe der Substantialität, Kausalität und den Systemgedanken in ihrer zeitlichen Schematisierung als Bedingung der Möglichkeit der Einheit von Natur auslegt. Dort bestimmt er Natur als den "Inbegriff der Erscheinungen, so fern diese, vermöge eines innern Prinzips der Kausalität, durchgängig zusammenhängen."145 Danach ist Natur zu verstehen als eine Verknüpfungseinheit von Erscheinungen, die durch das Gesetz der Kausalität geordnet ist. Das Gesetz der Kausalität aber kann nicht im Rückgang auf die subjektive Apprehension der Erscheinungen begriindet werden, sondern nur im Rückgang auf die Struktur der transzendentalen Apperzeption. In142 Zu Kants Naturbegriff vg!. die grundlegende Schrift von B. Thö[e, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit der Natur, Berlin 1991; ders., Die Analogien der Erfahrung, in: Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, hg. von G. Mohr und M. Willaschek, Berlin 1998 (Klassiker Auslegen Bd. 17/ 18), 267 - 296. 143 Pro!. A 71 (AA Bd. 4, 294). 144 Pro!. A 75 (AA Bd. 4, 296). 145 KRV A 419, Anm.

8 Bohlen

114

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

dem der Mensch sich im Vollzug der Apprehension von Erscheinungen das Gesetz der Kausalität vorwirft, formt, "verwandelt"l46 oder - mit dem Begriff der Phänomenologie gesprochen - erschließt sich ihm Sein als Natur und nur derart wird ihm Sein überhaupt verständlich. Darum deutet Kant in der ersten Auflage der KRV die Einheit der Apperzeption als "transzendentale[n] Grund der notwendigen Gesetzmäßigkeit aller Erscheinungen in einer Erfahrung", und folgert dann aus seinem Gedankengang: ,,[D]er Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur, und mithin der formalen Einheit der Natur,,147. Dabei unterscheidet Kant an der angegebenen Stelle die transzendentalen Gesetze, durch die Natur überhaupt als Einheit von Phänomenen gegeben ist, nicht von den empirischen Gesetzen, sondern er deutet die empirischen Gesetze als "besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes" 148. Das wurde zu Recht kritisiert. 149 Daß die empirischen Naturgesetze als besondere Bestimmungen der transzendentalen Gesetze des Verstandes angesehen werden können, muß eigens nachgewiesen werden. Der Nachweis erfolgt ausführlich in der "Kritik der Urteilskraft" (KU). Dort erweist sich die Möglichkeit der Besonderung der reinen Gesetze des Verstandes zu empirischen Gesetzen allerdings als ein Postulat, das auf einem theologischen Fundament aufgebaut ist. Darauf wird an anderer Stelle noch einzugehen sein. Unbeschadet der Kritik vermag Kant durch seine Theorie der Funktionalität des Verstandes aber nachzuweisen, daß es ohne Verstand ,,[ ... ] überall nicht Natur, d.i. synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln geben [würde]: denn Erscheinungen können, als solche, nicht außer uns stattfinden, sondern existieren nur in unserer Sinnlichkeit.,,15o Deutlich betont Kant auch in der zweiten Auflage der transzendentalen Deduktion, daß der Mensch durch diese Einsicht an die Stelle des Gesetzgebers versetzt sei, ohne den es unmöglich wäre, überhaupt von Natur zu sprechen. Kant führt aus: "Denn Gesetze existieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhaerieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, so fern es Sinne hat."151 Macht sich der Mensch dadurch aber nicht das Ganze des Seins "gefügig", statt sich selbst in es einzufügen? Pro!. A 105 (AA Bd. 4, 315) Vg!. KRV B XXX. KRV A 127. 148 KRV A 128. 149 Vg!. B. Thöle, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit der Natur, 243 u.ö.; W. earl, Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, 181; H. Hoppe, Die transzendentale Deduktion in der ersten Auflage, 187 f. Vg!. aber Pro!. A 113 (AA Bd. 4, 320). 150 KRV A 126 f. Vg!. Pro!. A 112 f. (AA Bd. 4, 319). 151 KRV B 164. 146 147

H. Die Funktionalität des Verstandes

115

Sowohl auf Seiten der Naturwissenschaften als auch der Theologie verwandelte sich die gestellte Frage bis in unsere Tage in den Vorwurf, die kritische Philosophie sei eine Philosophie der Herrschaft. In ihr werde die Beherrschung des Seins durch den Menschen philosophisch auf eine Art begründet, deren Folge die Aufhebung von Sein in Subjektivität sein könne, welche sich zu Zeiten Kants ankündige und die dann in der idealistischen Philosophie nach Kant auch tatsächlich vollzogen worden sei. Sie stehe nicht nur im vollständigen Widerspruch zum Ethos der Naturwissenschaften, in welchem es doch um die Erkenntnis des Seins an sich selbst gehe. In ihr werde auch der Ethik ihr Fundament entzogen, insofern ethisches Verhalten nur solches Verhalten sein könne, durch das sich der Mensch in die ihm vorgegebene Seinsordnung einfüge, fordert doch die scholastische Theologie: "agere sequitur esse.,,152 Naturwissenschaftler und Theologen, insbesondere katholische Theologen, waren sich daher lange Zeit einig, daß es Kants transzendentalphilosophischem Ansatz um des Menschen willen zu widersprechen gelte. 153 Doch der Vorwurf, nach Kant habe das Erkennen keinen Bezug zu dem Sein selbst als dem Ganzen dessen, das an sich ist, ist einer kritischen Beurteilung zu unterwerfen. Diese kann ihren Ausgang nur von der für den transzendentalphilosophischen Ansatz Kants konstitutiven Grundlegung der Theorie des Verstandes in einer Urteilslogik nehmen, um von dorther die Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten sichtbar zu machen.

b) Das Problem der Dinge an sich

Es wurde gesagt, daß unser Erkennen nach Kant in der Sinnlichkeit anhebt und als solches an den prädikativen Bestimmungen und nur an ihnen seinen Anhalt hat. Das geht auch aus einern Satz seiner Metaphysikvorlesung hervor: "Nur durch Urtheile oder Praedicate können wir alle Dinge erkennen und das Subject ist ein Etwas das durch die Praedicate erkant wird [ ... ]"154 Der Satz darf als Beweis dafür gelten, daß Kant den aristotelischen Ansatz, demzufolge im Urteil ein noch unbestimmtes Seiendes durch Prädikation zur Bestimmung gebracht wird,155 transzendentalphilosophisch wendet.

152 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, III, 69. Nach E. Schockenhoff, Wozu gut sein? Eine historisch-systematische Studie zum Ursprung des moralischen Sollens. I. Thomas und Kant, in: Studia moralia 33 (1995), 87 -120, hier: 98, handelt es sich bei dem genannten Grundsatz um das "Wasserzeichen einer genuin katholischen Ethik", das allerdings einer gewandelten Deutung unterworfen werden kann. 153 Die Ablehnung Kants kann zwar zur Zeit als überwunden gelten. Doch ist das Bestreben greifbar, der von Kant ausgearbeiteten Metaphysik der Freiheit dadurch ein Fundament zu geben, daß man sie an die thomanische Ontologie rückbindet. Vgl. u. a. E. J. Bauer, Die Schöpfungswirklichkeit als ontische Bedingung personaler Freiheit, 7 - 28. 154 AA Bd. 28,1,429. Vgl. AA Bd. 17,616. 155 Vgl. Aristoteles, Peri herrneneias, 16 b 25 ff.

8*

116

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Um aber überhaupt urteilen zu können, bedarf es aber eines Etwas überhaupt, d. h. eines noch unbestimmten, doch bestimmbaren Gegenstandes. "Denken ist das Erkenntniß durch Begriffe. Begriffe aber beziehen sich als Prädikate möglicher Urteile, auf irgend eine Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande.'''56 Die Gegebenheit von unbestimmten, doch bestimmbaren Gegenständen begründet Kant durch seine Affektionstheorie, derzufolge die Sinnlichkeit das Materiale zur Erkenntnis liefert. "Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung. "i57 Werden wir von einem Gegenstand affiziert, wird er für uns zu einer den Anschauungsformen unterworfenen Erscheinung. Als solche ist er insofern bestimmbar, als die Anschauungsformen den Bezug zur transzendentalen Einheit der Apperzeption begründen. Entsprechend kann der Verstand an der Erscheinung, d. h. dem noch unbestimmten Gegenstand, tätig werden, um ihn dadurch zur Bestimmung zu bringen, daß er seine prädikativen Bestimmungen vereinigt. Heidegger versteht unter dem "unbestimmten Gegenstand" den Gegenstand, insofern er noch nicht theoretisch-wissenschaftlich erkannt ist. "Der 'unbestimmte' Gegenstand meint den noch nicht theoretisch-wissenschaftlich erkannten Gegenstand."i5S Heideggers Deutung ist insofern problematisch, als sie unterstellt, der Gegenstand, dem das Erkenntnisstreben gilt, könne theoretisch-wissenschaftlich auf eine Art zur Bestimmung gebracht werden, die es rechtfertigt, von einer Erkenntnis des Gegenstandes selbst zu sprechen. Dagegen spricht Kants Begrenzung unseres theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens auf die Erscheinungen, die er von den Gegenständen selbst unterscheidet, die als Dingen an sich unerkennbar sind. Im Gegensatz zu Heideggers Unterscheidung des noch unbestimmten Gegenstandes von dem wissenschaftlich bestimmten wurde in anderen Auslegungen der KRV die These vertreten, die Wendung "Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung" nenne den Gegenstand, insofern er - absehend von unserem Verstehen - nur als anschaulich gegebener betrachtet werde. i59 Die zitierte Stelle aus der KRV hat dann den Zweck, darauf aufmerksam zu machen, daß von Gegenständen überhaupt nur gesprochen werden kann aufgrund einer apriori vollzogenen Synthese, durch welche der Gegenstand als solcher konstituiert wurde. Wird die Konstitution dann als Formung eines schlechthin amorphen Materials, das an die "materia prima" der Scholastik erinnert, gedeutet, verwandelt sich Kants Erkenntnistheorie zu einer Konstitutionstheorie, die nur noch insofern der These wider156 157

KRV B 941 A 69. KRV B 341 A 20.

158 M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, hg. von I. Görland, Frankfurt1M. 1977 (GA 25), 1Ol. 159 Vgl. die Kritik von P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 205 f. an der Position von H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871, Nachdr.: Hildesheim, Zürich, New York 51987,200,244,376.

11. Die Funktionalität des Verstandes

117

spricht, Objekte seien subjektive Setzungen, als sie voraussetzt, daß die Objektkonstitution in der Sinnlichkeit ihren Anstoß, ihre "Gelegenheitsursache"l60 hat. Die sinnliche Anschauung stellt dann nur noch das Material zur Verfügung, aus dem das Subjekt das Objekt konstituiert, und zwar derart, daß die Möglichkeiten des Subjekts nur noch durch die Forderung begrenzt sind, daß in sich widersprüchliche Objekte nicht konstituiert werden können. Dann wäre der Vorwurf berechtigt, in Kants Denken werde der Mensch zu dem, der von sich aus Natur konstituiert, ohne daß er dabei der Natur selbst in ihrem eigenen Sein zu folgen hätte. Als unstrittig kann allenfalls gelten, daß die Sinnlichkeit das Fundament unseres Erkennens ist. Daraus folgt, daß Erkenntnis für uns schlechthin unmöglich wäre, gäbe es nichts, das uns affiziert. Insofern eine Affektion als Wirkung empfunden wird und eine Wirkung von uns nicht anders denn als verursacht gedacht werden kann, ist man berechtigt vorauszusetzen, daß eine Empfindung auf solches verweist, von dem sie verursacht ist. Eine Erscheinung kann nur Erscheinung von etwas sein, das sich uns als Erscheinung erschließt. Dabei versichern uns die Empfindungen dessen, daß unser Erkennen auf den Gegenstand selbst ausgreift, in dem es seine materiale Grundlage, d. h. seinen Realitätsbezug hat. 161 Folglich grenzt Kant seinen Standpunkt von dem des reinen Idealismus ab mittels der These, "Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren.,,162 Nur dadurch aber, daß die Materie, welche an sich selbst ist,163 gefonnt wird, wird sie für uns verständlich. Um dem Realitätsbezug unseres Erkennens gerecht zu werden, führt Kant den transzendentalen Gegenstand = X ein: "Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann, und daher der nichtempirische, d.i. transzendentale Gegenstand = X genannt werden mag."I64 Erscheinungen sind demnach anschauliche Vorstellungen von dem selbst nicht anschaulichen Gegenstand, die als von dem Gegenstand selbst erwirkt verstanden werden können. Zwar hat man sich dessen bewußt zu sein, daß die Art der Verursachung von uns nicht erkannt werden kann. Dennoch ist von einer Verursachung insofern auszugehen, als es ohne den Gegenstand selbst nicht zu Affektionen käme, von denen unser Streben nach Erkenntnis angestoßen ist. Dar-

161

Streit der Fakultäten A. 118 f. (AA Bd. 7, 71). Vg!. KRV B 186.

162

Pro!. A 62 f.

160

V g!. dazu Kants deutliche Abgrenzung von dem reinen Idealismus, Pro!. A 63 f. (AA Bd. 4, 288 f.), A 70 f. (AA Bd. 4, 293 f.). 164 KRV A 108 f. 163

118

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

um können wir als solche Wesen, die sich affiziert erfahren, voraussetzen, daß unser Erkennen einen Gegenstandbezug hat. "Der reine Begriff von diesem transzendentalen Gegenstande [ ... ] ist das, was in allen unsern empirischen Begriffen überhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d.i. objektive Realität, verschaffen kann.,,165 Also ist man nach Kant berechtigt, von der Tatsache der Verursachung als solcher auszugehen, da der Begriff der Erscheinung von sich aus auf solches verweist, was zur Erscheinung wird. Gegenstände, die von uns als Erscheinungen erkannt werden können, müssen wir auch als Dinge an sich selbst denken. "Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinungen ohne etwas wäre, was uns erscheint.,,166 Eine Erscheinung ist stets Erscheinung von einem Ding, das an sich selbst ist. Darum ist die Lehre von der Sinnlichkeit in sich "die Lehre von den Noumenen im negativen Verstande, d.i. von Dingen, die der Verstand sich ohne diese Beziehung auf unsere Anschauungsart, mithin nicht bloß als Erscheinungen, sondern als Dinge an sich selbst denken muß [ ... ],,167 Das berechtigt nun aber dazu anzunehmen, daß die Erscheinungen keine anderen Dinge sind, als die Dinge an sich, sondern Erscheinungen der Dinge, die an sich sind. Es gibt also weder eine Welt der Dinge an sich, die "hinter" der Welt der Erscheinungen anzusetzen wäre. 168 Es sind auch keine nur durch subjektive Konstitutionen begründeten Dinge, sondern solche Vorstellungen, die, bewirkt von dem transzendentalen Gegenstand selbst, als dessen Erscheinung betrachtet werden kann. Das hat zur Folge, daß die Gegenstände auch in Anbetracht der für sie konstitutiven Verstandestätigkeit weder als von uns geschaffen noch auch als "bloße" Vorstellungen zu denken sind, sondern als Erscheinungen von solchem, das an sich selbst ist. Obwohl also unser Verstehen bedingt, daß alles, was von uns als das, was es ist, zur Bestimmung gebracht werden kann, auch als ein von uns zu seiner Gegenständlichkeit gebrachtes angesehen werden kann, ist doch zu betonen, daß der Erkenntnisvollzug auch der Naturwissenschaften eine Anerkennung des Gegebenseins von Sein überhaupt in sich begreift. Insofern die endliche Vernunft das Gegebensein von Mannigfaltigem voraussetzen [muß], "bleibt sie auf unerkennbares Anderes verwiesen, das ihr, indem es jenseits ihres eigenen Entwurfes liegt, wesenhaft unzugänglich bleibt.,d69 Bei dem Anderen handelt es sich aber nicht um eine "andere Wirklichkeit,,170, sondern es handelt sich um die eine Wirklichkeit, von der anzuerkennen ist, daß sie sich einerseits in Korrelation zu der sinnlichen Anschauung und dem diskursiven Verstehen als Natur erschließt, daß ihr aber andererseits auch die Möglichkeit einer anderen Art der Erschließung in Korrelation zu einer anderen Art des Verstehens zugesprochen werden darf. 165 KRV A 109. 166

KRV B XXVIf. Vgl. KRV B 311/ A 256.

167 KRV B 307. 168 Das betont schon E. Adickes, Kant und das Ding an sich, Berlin, 1924,20 ff. Vgl. auch G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974,44-61. 169 N. Fischer; Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 62. 170 Gegen N. Fischer; ebd. 59.

11. Die Funktionalität des Verstandes

119

Kant setzt also voraus, daß eine Affektion begriffen werden kann als Einwirkung des transzendentalen Gegenstandes auf uns, welche ihre Wirkungen in unserem Bewußtsein zeitigt. Und nur als solcher, d. h. als auf uns einwirkender, kann er uns überhaupt bewußt werden. Der transzendentale Gegenstand ist uns folglich auch nur in seinen Wirkungen gegeben. Im Gegensatz zu den angesprochenen Konstitutionstheorien hat daher Baumanns die These vertreten, daß nach Kant unser Streben nach Erkenntnis nur dem gelten kann, was von uns als das vorauszusetzen ist, von dem unser Erkenntnisstreben angestoßen ist. Dem, wodurch der Mensch dazu bewegt werde, erkennen zu wollen, gelte auch das Erkenntnisinteresse: dem transzendentalen Gegenstand als dem Sein selbst. Baumanns bestimmt daher das von Kant gedachte Wesen der Erkenntnis als "Hingabe" des Menschen an das zu erkennende Sein,17I den Gegenstand selbst, der für uns nur wirklich sei, sofern er auf uns ein-wirke, d. h. uns affiziere, von woher dann auch solche Auslegungen der KRV zu verwerfen seien, die unterstellen, nach Kant gebe es Sein nur durch die Konstitution des Subjektes. Die Dinge sind an sich und von sich aus. Sie sind für uns auch nicht schlechthin unerkennbar, sondern sie können von uns, sofern sie sich uns anschaulich geben, auch objektiv bestimmt, mithin wissenschaftlich erkannt werden. Allerdings hat ihre wissenschaftliche Bestimmung ihr Fundament darin, daß uns die Dinge anschaulich werden oder vorstellig machen, was nur möglich ist, sofern sie auf uns einwirken, d. h. sich in ihren Wirkungen geben. "Wir wissen von den Dingen nichts weiter, als nur die Art, wie wir von ihnen afficirt werden; aber nicht, was in den Dingen ist", 172 führt Kant in seiner Metaphysikvorlesung aus und in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" findet sich die These: "Der Gegenstand der Vorstellung, der nur die Art enthält, wie ich von ihm affiziert werde, kann von mir nur erkannt werden, wie er mir erscheint, und alle Erfahrung (empirische Erkenntnis), die innere nicht minder als die äußere, ist nur Erkenntnis der Gegenstände, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie (für sich allein betrachtet) sind. ,,173 Der Wille zur Erkenntnis stellt sich von daher dar als das Streben, im Ausgang von den Wirkungen zu der Wirklichkeit selbst, den Dingen an sich vorzustoßen. Für Baumanns These von der "Hingabe" des Menschen an das Sein selbst, welches Kant mittels des Begriffs des transzendentalen Gegenstandes nenne, ist grundlegend, daß der transzendentale Gegenstand nicht von den Dingen an sich unterschieden wird. Dafür, daß eine solche Unterscheidung nicht erforderlich ist, sprechen unterschiedliche Stellen aus der KRV, in denen Kant den transzendentalen 171 P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 186. Es sei angemerkt, daß Baumanns mit der von ihm vertretenen These, nach Kant gehe unser Streben nach Erkenntnis auf die Dinge an sich, mit Heideggers These von der Ausgesetztheit in das Sein als einem Grundgedanken der Transzendentalphilosophie Kants überein, nach dem es im Erkennen nur darum gehen kann, sich das Seiende, dem man aufgrund der Geworfenheit ausgesetzt ist, verständlich zu machen. 172 AA Bd. 28, I, 206. 173 Anthropologie BA 26 (AA Bd. 7, 141).

120

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Gegenstand als transzendentales Objekt, Nournenon oder auch als das Ding an sich anspricht. 174 Dagegen spricht, daß Kant selbst betont, der transzendentale Gegenstand könne nicht Noumenon heißen. 175 Darum fordert auch Prauss, den Gegenstand = X von den Dingen an sich zu unterscheiden. 176 Die von ihm geltend gemachte Stelle, KRV A 253, Anm.; macht aber deutlich, daß die Unterscheidung eine funktionale ist, die daraus folgt, daß der Erkenntnisvollzug einerseits als Anwendung der apriorischen Begrifflichkeit des Verstandes auf das Gegebene, andererseits als Subsumtion der Daten der Sinnlichkeit unter die Einheit der transzendentalen Apperzeption gedacht werden kann. Die Anwendung kann nur auf einen Gegenstand überhaupt, von dem her der Verstandes gebrauch seinen Realitätsbezug bekommen und als gegenständliche Erkenntnis verstanden werden kann. Ein solcher Gegenstand ist logisch notwendig. Aus seiner logischen Notwendigkeit kann aber noch nicht einmal auf seine Existenz geschlossen werden. Folglich kann auch die Art seiner Existenz nicht zur Bestimmung gebracht werden. Folglich handelt es sich bei dem transzendentalen Gegenstand auch nur um ein X, dessen Begriff gänzlich leer iSt. 177 Um den Realitätsbezug des Erkennens überhaupt zu sichern, ist es nicht notwendig, den Gedanken des transzendentalen Gegenstandes zu realisieren. Der Begriff des Noumenons dagegen wird nur verständlich aus der Korrelation zum Begriff der Phaenomena. Die Phaenomena können wir verstehen, als die Art, in der sich uns der Gegenstand selbst gibt. Der Begriff begründet sich also aus der Korrelation des Gegenstandes zu unserer Art der Anschauung. Im Begriff des Noumenons wird zwar von unserer Anschauung abgesehen. Es handelt sich also um einen Grenzbegriff, der angewandt wird, "um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken.'.J78 Die Restriktion unserer sinnlichen Erkenntnismöglichkeiten aber hat einerseits zur Folge, daß der Begriff der Nournena für uns ein problematischer ist. Es ist aber nicht notwendig, den Noumena ihre Sachhaltigkeit überhaupt abzusprechen. Im Gegensatz zu dem Begriff des transzendentalen Gegenstandes ist daher der Begriff der Noumena kein sachhaltig leerer Begriff, auch wenn es für uns unmöglich ist, die Noumena in ihrer Sachhaltigkeit zu erkennen. Ein Beweis dafür, daß der transzendentale Gegenstand sich in einer anderen als der unseren, der sinnlichen Anschauung als Einheit der Noumena erschließen würde, kann nicht gegeben werden. Es ist aber auch keinesfalls auszuschließen, daß der Begriff des transzendentalen Gegenstandes in dem der Noumena seine Realisierung erfahren kann.

KRV B 344/ A 288, A 358, u.ö. KRV A 253, Anm. 176 G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 126 f. Prauss deutet die Unterscheidung im Kontext des Übergangs von einer Abbildtheorie zu einer Deutungstheorie des Erkennens, die in der KRV vollzogen werde. Gegen eine Ineinssetzung von Ding an sich und transzendentalem Gegenstand spricht sich auch H. Hoppe, Synthesis bei Kant, 194-204, aus. 177 KRV A 252 f., Anm. 178 KRV B 310 f./ A 255. 174

175

11. Die Funktionalität des Verstandes

121

c) Vom wissenschaftlichen zum transzendental-

philosophischen Sprachgebrauch

In der Praxis ist es nach Kant nicht erforderlich, "wirkliche Dinge", d. h. die an sich seienden Dinge, und deren Erscheinungen zu unterscheiden. Erscheinungen dürfen wir im praktischen Leben" als "wirkliche Dinge" ansehen, "eben weil wir die wirklichen Dinge als jene Gelegenheitsursachen supponiren müssen,,179 Das hat Folgen für unseren Sprachgebrauch. Zwar gilt grundsätzlich, daß "das Objekt in zweierlei Bedeutung" zu nehmen ist, "nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich".18o Das bedeutet, daß man den unterschiedlichen Arten, ein Ding anzusehen, d. h. es entweder als eine Erscheinung zu betrachten oder als ein Ding an sich zu denken, unterschiedliche "Sprachspiele" zuordnen kann. In allem Sprechen von den Dingen müßte auch gesagt werden, auf welches Sprachspiel Bezug genommen wird. 181 In der Praxis aber darf die Unterscheidung der Sprachen bei Seite gestellt werden. Die Naturwissenschaften sind solche Formen der Praxis. Darum sind sie auch berechtigt, die Erscheinungen als Dinge an sich anzusprechen, d. h. Aussagen über Erscheinungen zu machen, als ob es sich um Aussagen über die Dinge an sich handeln würde. Denn sie sprechen die Sprache der Erfahrung, in welcher "Gegenstände der Sinne [ ... ) wie Dinge an sich selbst gedacht [werden)".182 Analoges gilt auch für den Theologen. Auch er darf in seiner Praxis von der Geschaffenheit der Dinge sprechen, ohne in solchem Sprechen die Dinge an sich von deren Erscheinungen zu unterscheiden. Verpflichtet er sich aber einem kritischen Sprachgebrauch, wird er den Begriff der Schöpfung nur noch auf die Dinge als die Dinge an sich oder auf den transzendentalen Gegenstand anwenden. Die Tatsache, daß die Naturwissenschaften als eine Form der Praxis berechtigt sind, von den Erscheinungen zu sprechen, als ob es sich um Dinge an sich handeln würde, gründet darin, daß es für die Naturwissenschaften nur erforderlich ist, "bloß subjektive" Erscheinungen von solchen Erscheinungen, die objektiv, d. h. begrifflich kategorial zur Bestimmung gebracht sind, zu unterscheiden. Kant macht diesbezüglich darauf aufmerksam, daß unterschiedliche Subjekte unterschiedliche Empfindungen von einem Gegenstand haben können. Er unterscheidet dann den "bloß subjektiv" empfundenen Gegenstand von dem Gegenstand selbst oder dem "Ding an sich", das mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit beurteilt wird. 183 Die Unterscheidung bewegt sich in diesem Fall innerhalb der Grenzen der Empirie. 184 Doch auch die objektive Beurteilung eines Gegenstandes kann den GegenStreit der Fakultäten A. 118 f. (AA Bd. 7, 71). KRV B XXVII. 181 Vgl. F. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, 22-26 und 51-64; N. Fischer; Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? 70 ff. 182 Vgl. Fortschritte A 33 (AA. Bd. 20, 269). 183 KRV B 45/ A 29 f.; B 63/ A 45; A 393, B 626/ A 598; B 667/ A 639. 184 Vgl. dazu ausführlich: G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, bes. 47 -51. 179

180

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

stand nur als Erscheinung in den Ansatz bringen. Der kritisch Philosophierende aber hat sich dessen bewußt zu sein, daß der rein empirische Sprachgebrauch der Tatsache nicht gerecht wird, daß uns auch die Dinge, die von uns objektiv beurteilt werden und die als solche denn auch als wissenschaftlich erkennbar zu gelten haben, doch nur in ihren Wirkungen, d. h. als Erscheinungen gegeben sind. 185 Der Begriff der Erscheinung ist daher im transzendentalen Sprachgebrauch anzuwenden, um mit ihm zur Sprache zu bringen, daß in unserer Erkenntnis von Gegenständen überhaupt nie von unseren Anschauungsformen und von der Begrifflichkeit unseres Verstandes abgesehen werden kann. In dem transzendental philosophischen Sprachgebrauch ist der Begriff der Erscheinung oder der Phaenomena auf die Dinge, "sofern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden,,186 zu begrenzen. Insofern Natur die Subsumtion der Gegenstände unter die Einheit der Kategorien voraussetzt, kann sie als Einheit der Phänomene angesprochen werden.

d) Die Unendlichkeit des Fragens nach den Dingen an sich und der Urteilsvollzug

Die konstitutionstheoretischen Deutungen der kritischen Philosophie Kants, in denen man die Lehre von den Dingen an sich nur als ein noch zu überwindendes metaphysisches Relikt betrachtet, werden nur verständlich im Ausgang von Kants These, daß die Dinge an sich uns gar nicht bekannt seien. 18? Ihr korreliert die These von der Begrenzung (Restriktion) unserer Erkenntnis auf die Gegenstände als Erscheinungen. 188 Aufgrund des urteilslogischen Ansatzes Kants wird man sie auf eine Restriktion der Erkenntrris auf die Dinge, sofern sie sich in ihren prädikativen Bestimmungen geben, auslegen können. Zu dem Gegenstand selbst vorzustoßen, kann dem Ansatz der Kantischen Erkenntnistheorie zufolge nur bedeuten, seine Prädikate vollständig zu synthetisieren und sie dann in ihrer Vollständigkeit auf den Gegenstand hin selbst durchsichtig zu machen, von dem vorauszusetzen ist, daß er seinen Prädikaten als deren Subjekt ontologisch vorgeordnet ist und daher auch nicht auf einen reinen Funktionsbegriff reduziert werden kann. 189 Von der Unerkennbarkeit des Gegenstandes an sich ist demnach dann zu sprechen, sofern es im Streben nach Erkenntnis zu der Einsicht kommt, daß der GegenVgl. dazu insb. Fortschritte A 33 (AA Bd. 20, 269). KRV A 248 f. Die Gegenstände, die in der Sprache der Erfahrung als "Dinge an sich" angesprochen werden, sind also in der Philosophie als Phaenomena zu betrachten. Vgl. G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 57 f. 187 KRV B 45/ A 30. 188 Vgl. u. a. KRV B XXIV, XXIX, B 56/ A 39, B 178/ A 139, B 187/ A 147. 189 Das ist nur möglich im Kontext der konstitutionstheoretischen Kantdeutungen, unter denen auch die von F. Kaulbach zu nennen ist (vgl. u. a. ders., Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, 41 ff.). 185

186

Il. Die Funktionalität des Verstandes

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stand prinzipiell nicht end-gültig bestimmt werden kann, und zwar insofern, als entweder eine vollständige Synthese seiner Prädikate unmöglich ist, oder aber der Schritt von den Prädikaten zu dem Gegenstand selbst nur als Sprung vollzogen werden kann, der insofern problematisch ist, als er den Grund seiner Notwendigkeit nicht in den Prädikaten, sondern in der logischen Struktur unseres Denkens hat. Das ist insofern der Fall, als der Vollzug des Prädizierens dadurch ermöglicht ist, daß ein Begriff an die Stelle des Subjektes gesetzt wird, dem Prädikate zugesprochen werden können. Das ist insofern problematisch, als alle möglichen Prädikatsbegriffe eine im Grunde genommen unendliche Mannigfaltigkeit anderer Prädikate in sich begreifen. 190 Geschieht nun Verstehen dadurch, daß einem Gegenstand Prädikate zu- und andere abgesprochen werden, jede Prädikation aber auf eine unendliche Mannigfaltigkeit anderer Prädikate verweist, kann es kein end-gültiges Verstehen geben für ein Wesen, das auf ein diskursives Denken angewiesen ist. Ihm reiht sich ein Prädikat an das andere und es kommt von sich aus an kein Ende im Durchgang durch die Reihe der Prädikate, obwohl es, um überhaupt urteilen zu können, voraussetzen muß, daß sein Gang auf einen Punkt zuführt, der allen Prädikaten als deren Einheitspunkt, deren "substratum", zugeordnet werden kann. In der KRV führt Kant dazu das Paradigma des Begriffs "Körper" ein, um an ihm die Problematik des Urteilens aufzuweisen. Allein aufgrund des logischen Verstandesgebrauchs, sagt Kant, sei nicht zu entscheiden, ob der Begriff "Körper" in dem Urteil "Alle Körper sind teilbar" zu Recht die Stellung des Subjektbegriffs habe. Nur dadurch, daß der Verstand den Begriff von sich aus dem von ihm entworfenen Begriff der Substanz unterwerfe, werde er als einer gesetzt, den es als Subjekt zu betrachten gelte. "Durch die Kategorie der Substanz aber, wenn ich den Begriff eines Körpers darunter bringe, wird er bestimmt: daß seine empirische Anschauung in der Erfahrung immer nur als Subjekt, niemals als bloßes Prädikat betrachtet werden müsse; und so in allen übrigen Kategorien.,,191 Danach ist es die Anwendung der Kategorien, durch die in das Ganze der Begriffe die Unterscheidung von Subjekt und Prädikat eingeführt wird. Die Setzung des Begriffs "Körper" an die Stelle des Subjektes hat ihre Notwendigkeit also nicht in der Empirie, sondern von dem urteilenden Subjekt her, das nicht umhin kann, Bestimmungen als Prädikate eines substantiell gedachten Gegenstandes zu begreifen, versteht es doch sich selbst, sofern es sich als "Ich denke" vorstellt, als das Subjekt, dem seine Bewußtseinsinhalte als seine Prädikate eignen. Da es sich selbst nicht anders denn als Einheitspunkt ansehen kann, ist es gerechtfertigt vorauszusetzen, daß auch die Erscheinungen auf einen solchen Einheitspunkt verweisen. Anhand des paradigmatischen Begriffs "Körper" wird nun aber deutlich, daß sich dem diskursiven Denken alles in prädikative Bestimmungen aufhebt. Von sich aus ist es nicht vermögend, einen Begriff zu erkennen, der mit Notwendigkeit an die Stelle eines Subjekts zu versetzen wäre, da er nicht anders, denn als Subjekt 190

Vgl. Refl. 4634 (AA Bd. 17,616).

191 KRV B 129.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

gedacht werden kann. Entsprechend kommt es in seiner Grundbewegung, dem Durchgang durch die Mannigfaltigkeit möglicher Prädikate, der um deren Synthese willen geschieht, von sich aus an kein Ende, es kann die Synthesis daher auch nicht vollenden. Dennoch kommt es nicht umhin, so zu handeln, als ob die Synthesis vollendbar wäre, insofern es im Urteilen voraussetzen muß, daß der Durchgang durch die zu synthetisierenden Prädikate auf deren Subjekt zu erfolgt. Im Urteilen wird daher deutlich, daß die Bewegung des Verstehens durch eine Voraussetzung ermöglicht ist, die ihre Rechtfertigung nur vom Verstand selbst her erfahren kann. Da der Mensch nicht anders kann, als in dem Verhältnis von Subjekt und Prädikat zu denken, darf er die Unterscheidung des Subjekts von den Prädikaten in seine Erfahrungen eintragen, um dadurch den Horizont zu schaffen, in dem sie ihm verständlich werden. Das gilt nun nicht nur für das Verhältnis des Subjekts zu den Prädikaten, sondern auch für das der Ursache zu ihren Wirkungen und das des Ganzen zu seinen Teilen. Daß Dinge an sich und Erscheinungen zu unterscheiden sind, macht sichtbar, daß es sich bei den Verhältnissen um Horizonte handelt, die der Verstand von sich aus entwirft, um sie dem durch empirische Erfahrung Gegebenen, welches er verstehen will, vorzuwerfen. Im Scheitern, d. h. in der Unmöglichkeit, im Streben nach Erkenntnis an ein Ende zu kommen, deutet sich daher an, daß der Mensch als Verstandeswesen die Empirie transzendieren kann auf solches zu, das zwar nicht begriffen, dennoch aber gedacht werden kann. 192

e) Die Bedeutung der Unterscheidung von Noumena und Phaenomena im Kontext der theoretischen Philosophie Kants

In der Vorrede zur zweiten Auflage der KRV führt Kant aus, die Anschauungsformen seien "nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen" und betont dann, "daß wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, als so fern diesen Begriffen korrespondirende Anschauungen gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Ding an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d.i. als Erscheinung, Erkenntniß haben können [ ... ]"193 Mit der Einführung des Dinges an sich in den Gedankengang der KRV verbindet Kant den Zweck, die Grenze des Erkennens, sofern es denn objektiv gültiges Erkennen ist, zur Sprache zu bringen. "Der Begriff eines Noumenon, d.i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll,'''94 sei notwendig, "um die sinnliche An192 In diesem Sinne kann man, der Baumannsschen Kantauslegung folgend, Erkenntnis als einen sich selbst durchsiehtigen Vollzug der Unbestimmbarkeit des An-sieh-seins des Gegenstandes ansehen. Vgl. P. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, 209. 193 KRV B XXVf. 194 KRV B 310/ A 254.

11. Die Funktionalität des Verstandes

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schauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also, um die objektive Gültigkeit der sinnlichen Erkenntnis einzuschränken" 195. Solche Dinge, die nicht sinnlich angeschaut, sondern nur durch den reinen Verstand gedacht werden können, nennt Kant Noumena, Erscheinungen, sofern sie der Einheit des Verstandes subsumiert wurden, Phaenomena. "Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche.,,196 Entsprechend gibt Kant zu bedenken, der Begriff des Noumenon sei ein rein problematischer Begriff, der aufgrund der Unmöglichkeit, ihn durch sinnliche Anschauung zu realisieren, nicht mit objektiver Gültigkeit ausgesprochen werden könnte. Dennoch sei der Begriff unvermeidlich. Seine Unvermeidlichkeit begründet Kant in der KRV mittels der Funktion des Begriffs. Er ist zu denken, sollen die Grenzen des in der sinnlichen Anschauung fundierten Denkens bewußt werden. 197 Auch in den "Prolegomena" greift Kant den Grundgedanken seiner Affektionstheorie auf, um die Unvermeidlichkeit des Begriffs der Noumena zu begründen. Indem ein Gegenstand als Erscheinung angesehen wird, hat die Sicht ihren Anhalt an der Affektion, in der der Gegenstand auf uns wirkt. Das ist nur möglich, sofern der Affektion ein Affzierendes, der Wirkung ein Wirkendes vorausgesetzt ist. Folglich erkennt der Verstand dadurch, daß er einen Gegenstand als Erscheinung ansieht, ein Ding an sich als Voraussetzung einer solchen Sicht auf die Gegenstände. "Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, [ ... ],,198 Deutlicher noch als in der KRV geht Kant also in den "Prolegomena" davon aus, daß das Dasein von Dingen an sich vorausgesetzt werden kann, auch dort betonend, daß es unmöglich ist, die Noumena zur Bestimmung zu bringen und ihnen dadurch objektive Gültigkeit zu geben. Insofern Kant, insbesondere in den "Prolegomena", die Erkenntnis einer Erscheinung als solcher mit der Anerkennung eines Dinges an sich in eins setzt, wird deutlich, daß Kants Einschränkung sinnlicher Erkenntnis nicht bedeutet, daß ein Teil der Gegenstände objektiv gültig bestimmt werden könnte, ein anderer Teil aber unbestimmbar bliebe. Es geht nicht darum, neben den erkennbaren Gegenständen solche zu denken, die nicht erkannt werden können, sondern allein darum, der Erkenntnis die Möglichkeit abzusprechen, die Dinge als die, welche sie unabhängig von unserer Anschauung an sich selbst sind, in die Sicht zu bringen. Die Unterscheidung von Noumena und Phaenomena hat daher dann auch zum einen den Zweck, dem Denken die Grenzen der Möglichkeit des Begreifens aufzuweisen. Dadurch nötigt sie das Denken aber, anzuerkennen, daß es unmöglich ist, erkennend auf alles auszugreifen. Derart erteilt sie einer Verwandlung von Sein über-

195

Ebd.

196

KRV B 310 f./ A 255. KRV B 312/ A 256. Pro!. A 105 (AA Bd. 4, 315).

197 198

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

haupt in die Gesamtheit kategorial zu begreifender Erscheinungen eine Absage. 199 Es gilt also anzuerkennen, daß der Begriff der Natur nicht mit dem des Seins in eins zu setzen ist, sondern das Sein nennt, sofern es sich uns als Gesamtheit kategorial zu begreifender Phänomene gibt.

f) Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Betrachtung von Gegenständen

Ein Gegenstand kann betrachtet werden als Erscheinung, d. h. als Objekt sinnlicher Anschauung. Er kann aber auch betrachtet werden als Ding an sich selbst. Ein Gegenstand, sagt Kant, habe ,jederzeit zwei Seiten [ ... ], die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird, [ ... ], die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird, welche nicht in dem Gegenstand an sich selbst, sondern in dem Subjekte, dem derselbe erscheint, gesucht werden muß, gleichwohl aber der Erscheinung dieses Gegenstandes wirklich und notwendig zukommt. ,,200 Den zwei Seiten der Betrachtung entsprechen zwei Arten, von dem Gegenstand zu sprechen. Entsprechend sagt Kant, sein Gedankengang nötige dazu, das Objekt in zweierlei Bedeutung zu nehmen. 201 Bei der Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungen handelt es sich also um die Unterscheidung von zwei möglichen Arten der Betrachtung eines Gegenstandes, der zwei mögliche Arten, ihn zu deuten und von ihm zu sprechen, zugeordnet sind. Es handelt sich auf keinen Fall um die Unterscheidung zweier Gegenstände, sondern nur um eine Unterscheidung der Hinsichten auf einen Gegenstand. 202 Gegenstände werden dann als Erscheinungen begriffen, wenn sie als Gegenstände einer sinnlichen Anschauung und einer begrifflichen Erkenntnis betrachtet werden. Sie werden nicht als solche genommen, "wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d.i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. ,,203 Die Vernunft hat demnach die Möglichkeit, davon abzusehen, daß uns als sinnlich anschauenden Wesen die Dinge nur als Erscheinungen gegeben sind, die wir uns mittels unseres Verstandes kenntlich machen. Das vernünftige Erwägen der Dinge, das Kant auch als deren "bloßes Denken" bezeichnet,204 begreift daher in sich den Vollzug des Absehens von der sinnlichen Gegebenheit der Dinge, mithin von jenem Subjektbezug, der gegeben ist, sofern auch nur danach gefragt wird, um welches Ding es sich bei einer Erscheinung hanEbd. Vgl. KRV B XXX. KRV B 55/ A 38. 201 Vgl. KRV B XXVII. 202 Vgl. KRV B XIX, Anm.; B XXVII; A 248 u.ö .. Vgl. F. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft, bes. 27 - 41; ders., Philosophie des Perspektivismus, bes. 17 - 22; G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 32 ff. 203 KRV B 44/ A 28. 204 V gl. u. a. KRV B XXVI. 199

200

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127

delt. 205 Aus der Restriktion unseres Erkenntnisvermögens, die daraus folgt, daß die kategorial-begriffliche Deutung die Dinge nur in ihrer Phänomenalität greift, folgt, daß die Dinge an sich zwar nicht erkennbar sind, doch als solche gedacht werden können. Es gilt folglich anzuerkennen, daß die Wirklichkeit selbst nicht einfachhin mit dem in eins zu setzen ist, was wir von ihr erkennen können. 206 Das "bloße Denken" von Gegenständen, dessen Möglichkeit die Transzendentalphilosophie in die Sicht bringt, ist keine Möglichkeit des naturwissenschaftlichen Denkens. Allerdings kann es im naturwissenschaftlichen Diskurs dazu kommen, daß die Unendlichkeit des Fragens als ein Verweis auf die Tatsache gedeutet wird, daß die Dinge an sich nicht zu erkennen sind. Dann kann sich der Naturwissenschaftler auf den Standpunkt des kritisch aufgeklärten Denkers stellen und sich die Möglichkeit der Unterscheidung der Sichtweisen, in denen die Dinge entweder als Phaenomena anschaulich oder als Noumena denkbar werden, durchsichtig machen, einsehend, daß seine naturwissenschaftliche Sicht der Dinge nur eine begrenzte Sicht ist. Wird in einer solchen Begrenzung des naturwissenschaftlichen Erkennens auf das anschaulich Gegebene nicht doch unterstellt, die naturwissenschaftliche Erkenntnis sei im Grunde genommen uneigentliche Erkenntnis? Das ist nicht der Fall. Zwar geht es Kant darum, die Absolutsetzung der Naturwissenschaften als der einzig wissenschaftlichen Form des Denkens zu kritisieren. Dennoch ist für ihn naturwissenschaftliche Erkenntnis keine uneigentliche Erkenntnis, handelt es sich bei ihr doch um die einzige Form, in der sich dem Menschen die Dinge, und zwar die Dinge selbst zu einer Anschaulichkeit verdichten, die Verstehen möglich macht. In dem Augenblick aber, in dem der Mensch die Erscheinungen als solche, d. h. als Phaenomena begreift - und das ist in allen naturwissenschaftlichen Urteilen der Fall, sofern in ihnen objektive Gültigkeit vorausgesetzt wird - erkennt er auch schon an, daß sich für ihn das Problem der Möglichkeit einer anderen Betrachtung der Dinge als der sinnlichen stellt. Die Restriktion naturwissenschaftlicher Erkenntnis ermöglicht aber keinesfalls einen unproblematischen Übergang zum Glauben. Denn das "bloße Denken", das auf die Noumena geht, vermag das zu Denkende nicht zur Bestimmung zu bringen. Denn alle Bestimmung setzt die Anwendung der Kategorien, insbesondere der Kategorie der Substanz voraus. Für uns gilt nur als bestimmbar, was substantialiter ist, wobei der Begriff der Substantialität zeitlich schematisiert, d. h. in Verknüp205 KRV B 70, Anm; Vgl. G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 38: "Dasjenige, wovon jeweils abgesehen wird, wenn man die Dinge an sich selbst betrachtet, ist genau dies, daß sie als Erfahrungsdinge jeweils Gegenstände von Sinnlichkeit und Verstand eines Subjekts sind." 206 Nach N. Fischer, Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 59, eröffnet sich dadurch die Annehmbarkeit einer anderen Wirklichkeit. Ein solcher Sprachgebrauch ist problematisch. Denn die Dinge an sich sind keine andere Wirklichkeit als die anschaulich gegebenen Dinge, sondern die Dinge, sofern sie nicht begrifflich-kategorial gedeutet sind.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

fung mit dem Gedanken der Beharrlichkeit gebraucht wird. Denn nur dann kann das zu Denkende als eines in den Ansatz kommen, welches sich als an sich beharrliche Substanz, die sich in ihren Akzidentien gibt, zu erkennen ist, und zwar im Vollzug eines Urteilens, der an den prädikativen Bestimmungen des zu Erkennenden seinen Anhalt hat. Das bloße Denken aber kennt keine zeitliche Schematisierung seiner Begrifflichkeit. In ihm werden die Kategorien rein, d. h. ohne zeitliche Schematisierung gebraucht. 207 Das hat zur Folge, daß das bloße Denken, das, was sich ihm zu denken aufgibt, weder urteilend ergreifen noch auch begreifen kann. Das ist der Grund, warum Kant betont, daß es sich bei dem Begriff der Noumena um einen problematischen Begriff handelt, der zum einen die sinnliche Erkenntnis in ihre Schranken verweist und andererseits das Denken darauf hinweist, daß ihm solches zu denken aufgegeben ist, an dem es mit seinem Streben nach einer kategorial-begrifflichen Erkenntnis scheitern wird. Die Folgen, die sich darauf für das Sprechen von der Schöpfung ergeben, benennt Kant selbst in der KPV: "Wenn die Existenz in der Zeit eine bloße sinnliche Vorstellungsart der denkenden Wesen in der Welt ist, folglich sie, als Dinge an sich selbst, nicht angeht: so ist die Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung der Dinge an sich selbst; weil der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden kann. Folglich, wenn ich von Wesen in der Sinnenwelt sage: sie sind erschaffen; so betrachte ich sie so fern als Noumenen.,,208 Es sind also die Phänomene, die als geschaffen angesprochen werden können. Denn sie sind keine anderen Dinge als die Noumenen. Doch indem die Phänomene als Geschöpfe zur Sprache gebracht werden, wird ihnen die Möglichkeit zugesprochen, sie nicht nur als Phänomene, sondern auch als Noumenen zu betrachten, d. h. einen anderen Standpunkt zu ihnen einzunehmen als den der Naturwissenschaften.

g) Kants Theorie der intellektualen Anschauung

Es wurde darauf verwiesen, daß Kant vor allem in den "Prolegomena" die These vertritt, die Betrachtung einer Erscheinung als solcher nötige dazu, ein Ding an sich vorauszusetzen, das in der Erscheinung für uns zur Realität wird. Auch in der KRV merkt er an, der Begriff der Erscheinung sage aus, daß dem von uns sinnlich angeschauten Gegenstand ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand entsprechen müsse. 209 Um einem Gegenstand gerecht zu werden, muß er also in der sinnlichen Anschauung als Erscheinung begriffen werden, doch derart, daß im Begreifen selbst unterstellt wird, daß der Gegenstand an sich keine Erscheinung ist, 207 Vgl. KRV B 595 / A 567, wonach ,,reine Verstandesbegriffe, ohne alle Bedingungen der Sinnlichkeit" "nichts, als die bloße Form des Denkens" enthalten. 208 KPV A 183. 209 KRV B 306/ A 251; vgl. KRV B XVlf.

11. Die Funktionalität des Verstandes

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sondern sich uns nur als solche gibt. Wird ein Gegenstand als Erscheinung in die Sicht genommen, soll er in eins auch durchsichtig werden darauf, daß ihm an sich gesehen ein Sein unabhängig vom Subjekt eignet. Nur dadurch kann sich das Denken als ein Denken der Unbestimmbarkeit des Gegenstandes in seinem An-sichsein durchsichtig werden?lO Das ist der Grund, warum Kant in der KRV den transzendentalen Gegenstand = X einführt, der dort als der empirische Erkenntnis als gegenstandsbezogene, mithin reale Erkenntnis begriindende Begriff der Gegenständlichkeit überhaupt gedacht wird, ohne daß dessen Verhältnis zu den Dingen an sich bestimmt würde. 211 Das ist insofern auch verständlich, als der transzendentale Gegenstand für uns schlechthin = X ist, folglich auch nicht gesagt werden kann, ob er sich für einen Verstand, der vermögend wäre, ihn anzuschauen, zu einer Einheit von Dingen, einer noumenalen Welt, formieren würde. Darauf hebt Kant auch in einer Anmerkung ab, an der er den transzendentalen Gegenstand als den Begriff eines Gegenstandes überhaupt, mittels dessen der Verstand das Mannigfaltige unter dem Begriff eines Gegenstandes vereinigen kann, bestimmt und dann von dem Noumenon unterscheidet: "Das Objekt, worauf ich die Erscheinung überhaupt beziehe, ist der transzendentale Gegenstand, d.i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von Etwas überhaupt. Dieser kann nicht das Noumenon heißen; denn ich weiß von ihm nicht, was er an sich selbst sei, und habe gar keinen Begriff von ihm, als bloß von dem Gegenstande einer sinnlichen Anschauung überhaupt, der also vor alle Erscheinungen einerlei ist.,,212 Anders als der Begriff des transzendentalen Gegenstandes, der sich nur aus der Notwendigkeit, unserem Erkennen überhaupt einen Gegenstandsbezug zu unterstellen, ergibt, wirft daher die Unterscheidung von Noumena und Phaenomena die Frage auf, ob es eine andere als die sinnliche Anschauung gibt, durch die einer Welt noumenaler Gegenstände objektive Realität gegeben werden könnte. Kant selbst wirft die Frage in der angeführten Anmerkung der KRV auf: "Denn wenn uns die Sinne etwas bloß vorstellen, wie es erscheint, so muß dieses Etwas doch auch an sich selbst ein Ding und ein Gegenstand einer nichtsinnlichen Anschauung, d.i. des Verstandes, sein; d.i. es muß eine Erkenntniß möglich sein, darin keine Sinnlichkeit angetroffen wird, und welche allein schlechthin objektive Realität hat, dadurch uns nämlich Gegenstände vorgestellt werden, wie sie sind, da hingegen im empirischen Gebrauche unseres Verstandes Dinge nur erkannt werden, wie sie erscheinen. ,,213 Kant arbeitet dann aus, daß es sich bei der erfragten nicht-sinnlichen Anschauung auf keinen Fall um eine Anschauung handeln kann, zu der der Mensch aufgrund seines Verstandesgebrauchs vermögend wäre. Zwar kann der Mensch den Verstand rein, d. h. unabhängig von der Anschauung gebrauchen. Doch in einem 210 211 212 2I3

P. Baumanns, Kants Theorie der Erkenntnis, 209. KRV A 109. KRV A 253. KRV A 249 f.

9 Bohlen

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

reinen Verstandesgebrauch kommt es nur zu leeren Begriffen, Begriffen ohne objektive Gültigkeit. Unseren Begriffen kann objektive Gültigkeit nur durch ihre Anwendung auf die Data der sinnlichen Anschauung, welche die einzige uns mögliche Form der Anschauung ist, gegeben werden. Daher ist auch der Möglichkeit eines rein transzendentalen Verstandesgebrauchs, insofern es in ihm nicht nur zu leeren, sondern anschaulichen Begriffen kommen soll, nicht gegeben. 214 Nun kann zwar als bewiesen gelten, daß die sinnliche Anschauung die einzige uns mögliche ist, es kann aber doch gedacht werden, daß auch eine nichtsinnliche Anschauung möglich ist, die Kant als intellektuelle Anschauung behandelt. Sprechen wir daher von einem Ding als einem Noumenon ist darunter entweder nur das Korrelat zu dem von uns erkannten Phänomenon zu denken, das selbst in seiner Art zu sein unerkennbar ist (Noumenon im negativen Verstande) oder aber das Korrelat einer anderen als unserer Anschauung, der intellektuellen Anschauung (Noumenon in positiver Bedeutung),z15 Problematisch ist daran nur, daß es nicht nur unmöglich ist, zu beweisen, daß es ein Wesen gibt, das zu einer intellektuellen Anschauung vermögend ist. Für uns ist es sogar unmöglich, die Möglichkeit einer solchen Anschauung einzusehen, da wir uns keinen Begriff von ihrem Vollzug machen können,z16 Entsprechend kann auch nicht bewiesen werden, daß es eine nournenale Welt gibt. Falls es sie aber geben sollte, handelt es sich nicht um eine andere Welt als unsere Lebenswelt, eine Welt, die es außer unserer Welt auch noch gibt, sondern es handelt sich um unsere Welt, betrachtet auf eine Art, die nur durch eine nicht sinnliche, sondern intellektuale Anschauung möglich wäre. Der Gedanke einer möglichen intellektualen Anschauung hat in der KRV allein die Funktion, unsere Anschauung, die keine intellektuale ist, als eine begrenzte zur Sprache zu bringen. Ob es ein Wesen gibt, das zu einer intellektualen Anschauung vermögend wäre, kann nicht gesagt werden. Unbeschadet dessen verbindet sich auch für Kant der Gedanke der intellektualen Anschauung mit dem Begriff des göttlichen Verstandes. Denken wir den Verstand Gottes, sehen wir von der Endlichkeit unseres eigenen Verstandes ab. Unser Verstand ist insofern endlich, als er auf sinnliche Anschauung angewiesen ist. Da die Sinnlichkeit den Dingen ihre Anschauungsform, die Zeit, vorwirft, kann unser Verstand nur synthetisierend tätig werden. Folglich ist unser Verstand diskursiv. Der göttliche Verstand dagegen kann nur als ein intuitiver gedacht werden. "Der Verstand Gottes wird also nicht seyn ein Vermögen zu denken, sondern anzuschauen.,,217 Wir können uns von dem intuitiven Verstand keinen Begriff machen. Sofern Gott aber als ein Wesen gedacht wird, das unbedingt, d. h. den Bedingungen der Zeit nicht unterworfen ist, kann seine Anschauung keine andere als eine intuitive sein. Ferner kann es nicht sein, daß Gott die Dinge in ihrem phänomenalen Sein

215

KRV B 313/ A 257. KRV B 307.

216

Ebd.

2I7

AA28,2,1017.

214

11. Die Funktionalität des Verstandes

131

erkennt. Denn nur in einer sinnlichen Anschauung kann ein Ding überhaupt als Phänomen betrachtet werden. Eine solche Anschauung kann es für Gott nicht geben. Also muß die intuitive Anschauung die sein, die alle Dinge erkennt, wie sie an sich selbst sind. 218 Der Transzendentalphilosoph macht sich also mit der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, Noumenon und Phaenomenon die Möglichkeit zum Problem, die Dinge in einer Art anzuschauen, die, falls sie überhaupt durch ein Wesen vollzogen wird, nur die göttliche sein kann. Der Mensch kann die Dinge nicht mit den Augen Gottes sehen, aber er kann sich in seiner Sicht auf die Dinge, in welcher Sein nur als Natur vorstellig wird, der Möglichkeit bewußt werden, daß sich die Dinge vor Gott, sofern es ihn denn gibt, anders darstellen, einer Möglichkeit, die in der KRV nur problematisch zu denken aufgegeben wird. Kant deutet lediglich an, daß es sein könnte, daß der Begriff der Noumena im Kontext der praktischen Philosophie seine Realisierung erfährt. nach dem Nutzen der KRV fragend, gibt Kant zu bedenken, man könne zwar glauben, der Nutzen sei nur ein negativer, "uns nämlich mit der spekulativen Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinaus zu wagen.,,219 Kant selbst sieht darin einen positiven Nutzen insofern, als die spekulative Vernunft, welche sich über die Erfahrungsgrenzen hinauswagt, die Grenzen der Sinnlichkeit über alles zu erweitern trachtet und dadurch einen reinen Vernunftgebrauch unmöglich macht. Dadurch aber wird auch eine praktische Erweiterung der reinen Vernunft unmöglich. 22o Der reine Vernunftgebrauch aber, wird sich in der Praxis erweisen, muß möglich sein, soll der Mensch sich als ein freies Wesen ansehen können, und zwar derart, daß sich ihm im Ausgang von seiner Freiheit auch die Möglichkeit der Realisierung des Gottesgedankens erschließt. 221 4. Kants Problematisierung des SchöpfungsbegritTs in der "Kritik der reinen Vernunft"

Ehe aber die Frage nach Gott im Kontext der praktischen Philosophie Kants zu stellen ist, gilt es, sich Rechenschaft darüber zu geben, ob die Restriktion unseres Verstandesgebrauchs auf das sinnlich Gegebene das Sprechen von der Schöpfung nicht unmöglich macht. Dazu gibt Kant in der KPV selbst zu bedenken, in der Theologie komme alles darauf an, Gott als das Wesen aller Wesen, mithin als das allgenugsame Wesen zu denken. 222 Demnach ist Gott in seiner Göttlichkeit nur gedacht, sofern er als das ens realissimum angesprochen ist: das Wesen, das alle We218 219 220

AA 28, 2, 1052. KRV B XXIVf. KRVXXX.

221 Vgl. dazu auch N. Fischer, Kants Kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, bes. 54 f. 222 KPV A 180 (AA Bd. 5. 100).

9*

132

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

sen in sich begreift und daher dann auch von keinem anderen Wesen abhängig ist. Würde die Unabhängigkeit Gottes, die in dem Begriff der Allgenugsamkeit angesprochen ist, aufgegeben, würde mit dem Gottesbegriff selbst auch die Theologie unmöglich. Der Unabhängigkeit Gottes aber wird die Theologie dadurch gerecht, daß sie in ihm "die Ursache auch der Existenz der Substanz" sieht. 223 Inwiefern aber kann Gott als der Schöpfer der Substanz gedacht werden? Kant selbst kommt in der KRV ausführlich auf das Problem der Schöpfung zu sprechen. Nachdem er die Schematisierung der reinen Verstandesbegriffe besprochen hat, geht er dazu über, ein "System der Grundsätze des reinen Verstandes" zu erarbeiten, in dem die Grundsätze aufgewiesen werden, die für unsere Erfahrung von Sein als Natur fundierend sind. Zu beweisen gilt es, daß die aus der Formalität des Verstandes abzuleitenden Grundsätze möglicher Erfahrung das Fundament der Gesetzlichkeit der Natur und ihrer Notwendigkeit sind, so daß aus der Formalität des Verstandes ein Natursystem abzuleiten ist, das der empirische Naturerkenntnis ermöglichend vorausgeht. Kant nennt dazu drei Modi, durch die die Zeit ihre Bestimmung erfährt: Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein. "Die drei modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein. Daher werden drei Regeln aller Zeitverhältnisse der Erscheinungen, wonach jeder ihr Dasein in Ansehung der Einheit aller Zeit bestimmt werden kann, vor aller Erfahrung vorangehen und diese allererst möglich machen. ,,224 Dem ersten Modus der Zeit, der Beharrlichkeit, ordnet Kant den "Grundsatz von der Beharrlichkeit der Substanz" zu. Die Folge als Modus der Zeit ist das Fundament des Grundsatzes der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität, das Zugleichsein der ermöglichende Grund des Gesetzes der Wechselwirkung. Die Problematisierung des Schöpfungsgedankens erfolgt insbesondere im Ausgang von dem Problem der Beharrlichkeit der Substanz. Kant setzt voraus, daß die Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen werden kann. Um Zeit wahrzunehmen, bedarf es des Wechsels von solchem, das in der Zeit, die als sie selbst beharrlich vorgestellt wird, erscheint. Darum fundiert Kant unsere Vorstellung von der Zeit als einer an sich beharrenden Zeit, in der aller Wechsel geschieht, in einem Beharrlichen, das als das Substrat alles Realen vorauszusetzen sei. "Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst, d.i. die Substanz (phaenomenon), alles aber, was wechselt oder wechseln kann, gehört nur zu der Art, wie diese Substanz oder Substanzen existieren, mithin zu ihren Bestimmungen.,,225 Erscheinungen sind Erscheinungen in der Zeit. Nur als solche können sie apprehendiert, d. h. in den Bezug zur Einheit des Selbstbewußtseins gebracht werden. "Unsere Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinungen ist jederzeit sukzessiv, und ist also immer wechselnd.,,226 Die Erfahrung des Wechsels 223 224 225

226

Ebd. KRVB219/AI77. KRV B 227/ A 183 f. KRV B 225/ A 182.

11. Die Funktiona1ität des Verstandes

133

als solchem aber setzt die Erfahrung von Beharrlichkeit voraus. Das Beharrliche schlechthin ist nach Kant die Zeit, in der sich aller Wechsel vollzieht. Nun kann die Zeit in ihrer Beharrlichkeit selbst nur an einem Beharrenden vorgestellt werden, "d.i. das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst.,,227 Es ist zwar deutlich, daß Kant glaubt, die Bestimmung einer Erscheinung, welche voraussetzt, daß Grenzen in der Zeit ausgemacht werden, durch welche die Erscheinung einzugrenzen ist, setze die Beharrlichkeit der Zeit voraus, die selbst nur empirisch gegeben sei, insofern sie an einem Beharrlichen vorstellig gemacht wird. Die Argumentation aber kann nur nachvollzogen werden, insofern man Kants These teilt, daß die Zeit nur eine sein kann, mithin also keinen Wechsel kennt, sondern als an sich beharrlich vorgestellt werden muß?28 Dann ist auch einsichtig, daß auch nicht von der Entstehung einer Substanz oder neuer Substanzen gesprochen werden kann. Denn mit dem Entstehen einer neuen Substanz wäre ein Anfang gesetzt, in dem eine schlechthin andere Zeit anheben würde, ohne daß noch die Möglichkeit bestünde, die alte Zeit mit der neuen dadurch zu vermitteln, daß beide einem allgemeinen Gesetz untergeordnet würden. Das aber würde mit der Einheit der Zeit die Einheit unserer Welterfahrung selbst in Frage stellen. "So ist demnach die Beharrlichkeit eine notwendige Bedingung, unter welche allein Erscheinungen als Dinge oder Gegenstände in einer möglichen Erfahrung bestimmbar sind.,,229 Um der Möglichkeit einheitlicher Welterfahrung willen muß also die Welt ihrer Substanz nach eine beharrliche sein, in der keine neuen Substanzen entstehen. Soll es also einheitliche, d. h. alle nur möglichen Erscheinungen überhaupt umgreifende Erfahrung, mithin eine systematische Naturerkenntnis geben können, muß der Möglichkeit, daß schlechthin Neues entsteht, eine Absage erteilt werden. Die Absage trifft nun auch auf den Gedanken der Schöpfung zu, die "als Begebenheit unter den Erscheinungen nicht zugelassen werden kann, indem ihre Möglichkeit allein schon die Einheit der Erfahrung aufheben würde; [ ... ]'.230. Interessant an dem Gedanken Kants ist, daß er seine Absage an den Schöpfungsgedanken im Kontext der "Analogien der Erfahrung" nicht dadurch begründet, daß die Schöpfung empirisch nicht zu beweisen ist, sondern mittels der These, daß sie als Begebenheit unter den Erscheinungen die Einheit der Erfahrung selbst aufheben, folglich ein systematisches Erkennen unmöglich machen würde. Um der Einheitlichkeit unserer Erkenntnis willen darf es keine Begebenheit, die man Schöpfung nennen könnte, geben. Denn eine solche Begebenheit würde die Einheit der Erkenntnis insofern mit Notwendigkeit zerbrechen, als in ihr die Einheit der Zeit aufbräche. Ohne sie aber ist es nicht möglich, alle Erscheinungen überhaupt zur Einheit zu bringen. Also muß die Einheit der Zeit als Bedingung der Möglichkeit systematischer Erkenntnis vorausgesetzt werden. 227 228 229

230

KRV B 226/183. V gl. die Kritik von B. Thöle, Die Analogien der Erfahrung, bes. 277 f. KRV B 232/ A 189. KRV B 251/ A 206.

134

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Für die Naturwissenschaften kann das nur bedeuten, daß sie um der Einheitlichkeit der naturwissenschaftlichen Erklärung von Welt, mithin um ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit willen, den Gedanken der Schöpfung apriori auszuschließen haben, was nur dadurch geschehen kann, daß kein Naturereignis als ein solches in den Ansatz gebracht werden darf, das nicht noch einmal auf seine Bedingungen befragt werden könnte. Das gilt auch und gerade für jene naturwissenschaftliche Singularität, in der unsere Welt ihren Anfang nimmt. Wird sie als der Anfang schlechthin gedacht, stellt sich die Frage nach einer Zeit vor aller Zeit, einer Zeit, die nicht die unsere oder die unserer Geschichte ist. Ist das der Fall, ist es unmöglich, das Ganze des Seins und der Geschichte in unser System naturwissenschaftlicher Erkenntnis einzutragen. Darum ist das Streben, auch die Anfangssingularität selbst in eine Geschichte der Natur einzuordnen, in der sie als ein Ereignis unter anderen gedeutet werden kann, nicht nur verständlich, sondern naturwissenschaftlich auch gerechtfertigt. Da die Begriffe der Realität, Substantialität und Kausalität nur aufgrund ihrer zeitlichen Schematisierung für uns eine Bedeutung bekommen, ist es für uns schlechthin unverständlich, inwiefern eine Substanz als existierend gedacht werden könnte, ohne ihr Beharrlichkeit in der Zeit zuzusprechen. Für uns verknüpft sich also der Gedanke der Substantialität mit dem der Beharrlichkeit, und zwar notwendig. Das aber ist der Grund dafür, daß der Begriff der Schöpfung für uns ein problematischer Begriff ist. Denn in ihm wird die Schöpfung als Entstehung substantiellen Seins gedacht, welches dem eigenen Begriff nach gar nicht entstehen kann, da es mit Notwendigkeit in der Zeit beharrt. Wird dennoch von der Schöpfung substantiellen Seins gesprochen, kann es folglich nur in einer Sprache geschehen, in der der Begriff der Substanz rein logisch verwandt wird. Dann kommt aber mit dem Begriff der Substanz auch dem Gedanken der Schöpfung die anschauliche Bedeutung abhanden, insofern es nun gilt, Schöpfung als ein Ereignis zu denken, bezüglich dessen eine temporale Deutung schlechthin unmöglich ist. Kant macht dann aber darauf aufmerksam, daß die Analogien der Erfahrung "nicht als Grundsätze des transzendentalen, sondern bloß des empirischen Verstandesgebrauchs ihre alleinige Bedeutung und Gültigkeit haben.,,231 Neben dem empirischen gibt es also einen transzendentalen Verstandesgebrauch, der sich daraus rechtfertigt, daß die Dinge einerseits als Phaenomena, andererseits aber als Noumena betrachtet werden können. Die Notwendigkeit, dem Schöpfungsgedanken eine Absage zu erteilen, gilt nur für den empirischen Verstandesgebrauch. An sich widerspricht der Begriff der Substanz dem Gedanken der Geschaffenheit nicht. Denn die Schöpfung der Wesen ist eine Schöpfung der Dinge an sich selbst, "weil der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und der Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden kann.,,232, 231 232

KRV B 223/ A 180 f. KPV A 183 (AA Bd. 5,102).

III. Die Ideen der Vernunft

135

was Kant in der KPV, bezogen auf die denkenden Wesen, betont: "Wenn die Existenz in der Zeit eine bloße sinnliche Vorstellungsart der denkenden Wesen in der Zeit ist, folglich sie, als Dinge an sich selbst, nicht angeht: so ist die Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung der Dinge an sich selbst".233 Von daher ist es zwar ein Widerspruch, zu sagen, Gott sei der Schöpfer der Dinge als Erscheinungen. Folglich ist auch ein Sprechen von Gott als dem Schöpfer der Natur nach Kant in sich widersprüchlich. Es ist aber durchaus berechtigt, von der Geschaffenheit des Seins, d. h. der Substanz, als Noumenon betrachtet, zu sprechen. Soll also der Begriff der Schöpfung auf den der Substanz angewandt werden, muß der Substanzbegriff unabhängig von einer zeitlichen Schematisierung in den Ansatz gebracht werden. Folglich muß auch von dem Schöpfungsgedanken jede zeitliche Vorstellung abgesondert werden. Die Frage ist nur, welche Bedeutung dem Wort "Schöpfung", falls es denn überhaupt noch eine Bedeutung haben soll, dann zukommen würde. III. Die Ideen der Vernunft 1. Kants Theorie einer funktionalen Rechtfertigung der Vernunftideen a) Die formale Struktur der Logik und die Ideen der Vernunft

Ehe Kant den Übergang zur praktischen Philosophie vollzieht, um sie als den Kontext auszuweisen, in dem der Gedanke einer noumenalen Welt realisierbar wird, wirft er die Frage auf, ob eine Erkenntnis dessen, das uns nicht durch die Sinnlichkeit gegeben ist, mittels der Schlußverfahren, die auf unser Urteilen aufbauen, möglich ist. Denn die formale Struktur unserer Logik legt die These nahe, daß nicht nur die Möglichkeiten des Urteilens einen Leitfaden zum Aufweis der Grundhandlungen des Verstandes geben, sondern daß auch eine Analyse der Schlußverfahren Auskunft über unsere Denkungsart geben kann. Obwohl Kant die Möglichkeit einer nicht empirischen Erkenntnis auf dem Weg des Schließens in Abrede stellt, kommt es nicht dazu, daß jene Ideen, die zu denken uns das in der Vernunft verwurzelte Vermögen logischen Schließens nahe1egt, als schlechthin unsinnig abgewiesen würden. Kant bestimmt den Vernunftschluß allgemein als das Verfahren der Einschränkung eines Prädikates, welches im Obers atz in Form einer allgemeinen Regel ausgesprochen wird, auf einen bestimmten Gegenstand. 234 Die Entschränkung des Prädikates, die im Rückgang von dem Schlußsatz zu dessen Obersatz vollzogen wird, kann dadurch fortgesetzt werden, daß die im Obersatz ausgesprochene Regel selbst als beschränkt gedacht wird. Es kommt dann zu einem Prosyllogismus, dem 233

Ebd.

234

KRV B 379/ A 322.

136

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Aufstieg zu allgemeinen und allgemeineren Urteilen, die als die Horizonte fungieren, von denen her ein Gegebenes verständlich wird. Dabei entspricht das Verhältnis der im Obersatz ausgesprochenen Allgemeinheit zu dem Bestimmten aufgrund der Fundierung allen Erkennens in der Affektibilität des Menschen, in der Bestimmtes nur als Bedingtes erfahrbar werden kann, dem Verhältnis der Bedingungen zu dem Bedingten. Sucht man sich nun das in der Anschauung Gegebene, welches aufgrund seiner anschaulichen Gegebenheit nur als ein Bedingtes betrachtet werden kann, dadurch verständlich zu machen, daß man es von seinen Bedingungen her denkt, greift man mit Notwendigkeit auf die Totalität seiner Bedingungen aus, da es nur dadurch zu einem Wissen kommen kann, das insofern als sicheres Wissen gelten darf, als in ihm auf all das ausgegriffen wurde, von dem her ein Gegebenes verstanden werden kann. Soll solches überhaupt möglich sein, kann die Totalität der Bedingungen selbst nicht nochmals in Frage gestellt werden. Sie ist als an sich selbst unbedingt vorauszusetzen, woraus folgt, daß das Streben nach sicherem Wissen von sich aus den Ausgriff auf das Unbedingte fordert. Der Grundsatz der Vernunft in ihrem logischen Gebrauch ist daher nach Kant, "zu dem bedingten Erkenntnis des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.'.235 Ermöglicht der Verstand die Synthesis des anschaulich Gegebenen, so gibt die Vernunft in ihren Begriffen des Unbedingten solches vor, in dem sich die Aussicht auf eine Vollendung der Synthesis, mithin auf ein sicheres Wissen gibt. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen eine solche "Erweiterung" der Verstandestätigkeit zu rechtfertigen ist. Ist es der Vernunft möglich, das kategoriale Verstehen, das sich durch seine Abhängigkeit von der Sinnlichkeit als begrenzt erwiesen hat, zu entgrenzen und den Verstandesbegriff von seiner Einschränkung auf die Sinnlichkeit zu befreien?236 Die drei Grundformen des Urteilens geben in ihrer Korrelation zu der Struktur der transzendentalen Apperzeption unterschiedliche Möglichkeiten vor, Bedingtes in das Verhältnis zu seinen Bedingungen zu setzen: das dem kategorischen Urteil entsprechende Verhältnis von Subsistenz und Inhärenz, die dem hypothetischen Urteil korrelierende Relation der Ursache zu ihren Wirkungen und das Verhältnis der Gemeinschaft, das den Teil in seinem Bezug zum Ganzen sichtbar macht und im disjunktiven Urteil greifbar wird?37 Dementsprechend geht Kant von drei Möglichkeiten aus, das Unbedingte zu denken: "So viel Arten des Verhältnisses es nun giebt, die der Verstand vermittelst der Kategorien sich vorstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird es auch geben; und es wird also erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunctiven Synthesis der Theile in einem System zu suchen sein. ,,238 235 236 237

KRV B 364/ A 307. KRV B 4361 A 409. Vgl. die Kategorien der Relation KRV B 1061 A 80 und KRV B 981 A 73.

III. Die Ideen der Vernunft

137

Kant arbeitet dann aus, daß die genannten Möglichkeiten, das Unbedingte zu denken, den Entwurf einer Trias von Ideen vorgibt, der Idee des vollständigen Subjekts (substantiale), der Idee der vollständigen Reihe der Bedingungen und der Idee eines vollständigen Inbegriffs der Möglichkeiten. 239 Diese Ideen werden zwar mit Notwendigkeit gedacht, ihnen können aber keine kongruierenden Gegenstände an die Seite gestellt werden. 24O Das hat zur Folge, daß die transzendentalen Ideen nicht mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit ausgesprochen werden können. Folglich gibt sich auch in Anbetracht der Vernunftideen zu denken, daß der Mensch das Wesen ist, dem solches zu denken aufgeben ist, dessen er nicht sicher werden kann. b) Die regulative Funktion der Ideen

Kant begriindet den Ausgriff der Vernunft auf das Unbedingte von der Grundbewegung des Denkens, die auf systematisches Wissen geht, her. Indem der Verstand das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung, es seinen Begriffen unterwerfend, nach seinen Regeln ordnet, bringt er es zur Einheit. Doch die Begriffe des Verstandes sind selbst mannigfaltige. Darum bedarf es der Vernunft, um auch die Verstandesbegriffe zu ordnen, und zwar nach den Prinzipien der Vernunft, wodurch den Verstandesbegriffen jene Einheit gegeben wird, die ,,[ ... ] sie in ihrer größtmöglichen Ausbreitung haben können. ,,241 Das Verstehen will sich größtmöglich, d. h. nach Möglichkeit auf alle Erscheinungen überhaupt ausbreiten. Dabei soll es zu einem systematischen Ganzen des Wissens kommen, in dem allen Erkenntnissen eine bestimmte, ihnen mit Notwendigkeit zukommende Stelle zugewiesen werden kann?42 Eine Systematisierung aller Erkenntnisse kann es aber nur geben, sofern der Verstand in seinem Rückgang in die Bedingungen, von denen her er das Bedingte verständlich macht, auf solches zugeht, das seinen Gang apriori orientiert. Die Funktion der Vernunftideen ist es, dem Verstand eine solche Orientierung zu geben. Da sie aber ihre orientierende Funktion für den Verstand auch dann haben können, wenn sie nicht in einem existierenden Wesen zu realisieren sind, handelt es sich um problematische Ideen. Von ihrer Denknotwendigkeit kann also nicht auf die Existenz solcher Wesen, in denen unser Verstehen seine systematische Vollendung erfahren könnte, geschlossen werden. Der Existenz solcher Wesen, die den Ideen des Unbedingten an die Seite zu stellen wären, kann man sich nicht versichern. Um das zu beweisen, gibt Kant zu beKRV B 379/ A 323. Pro!. A 130, vg!. KRV B 391/ A 334. Den genannten Ideen ordnet Kant, KRV B 391 f./ A 334 f. und Pro!. A 130, die Trias von rationaler Psychologie, rationaler Kosmologie und transzendentaler Theologie zu. 240 Pro!. A 126, KRV B 393/ A 336. 241 KRV B 671/ A 643. 242 Vg!. Pro!. A 118, A 123. 238

239

138

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

denken; daß die Vernunftideen keinen Bezug haben können zu einem ihnen entsprechenden Objekt, in welchem sie zu anschaulicher Gegebenheit kommen könnten. Denn Objekte können nur als bestimmte oder bestimmbare angesehen werden, sofern sie als anschaulich gegebene, mithin bedingte begriffen werden. Darum kann kein Objekt einem Vernunftbegriff, in dem Unbedingtes gedacht wird, kongruent sein. Zu der Unmöglichkeit, den Vernunftideen ein kongruierendes Objekt an die Seite zu stellen, führt Kant aus: "Von diesen transzendentalen Ideen ist eigentlich keine objektive Deduction möglich, so wie wir sie von den Kategorien liefern konnten. Denn in der Tat haben sie keine Beziehung auf irgend ein Objekt, was ihnen kongruent gegeben werden könnte, eben darum, weil sie nur Ideen sind. ,,243 Daraus folgt, daß es schlechthin unmöglich ist, einen Vernunftbegriff derart zu vergegenständlichen, daß man seiner als eines sicheren Grundes, eines Bodens, auf den das Gebäude des Denkens zu erbauen ist, gewiß werden könnte. "Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden [ ... ]".244 Das Sprechen von den Vernunftideen kann demnach auch nicht mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit geschehen. "Ideen aber sind noch weiter von der objektiven Realität entfernt, als Kategorien; denn es kann keine Erscheinung gefunden werden, an der sie sich in concreto vorstellen ließen.,,245 Insofern ist die Vernunft als das "Vermögen der Prinzipien,,246, in sich ein "Unvermögen,,247, das dazu nötigt, einzusehen, daß eine Erweiterung sicheren Wissens über die Grenzen der Sinnlichkeit unmöglich ist. Daß den Vernunftideen keine konkreten, mithin anschaulich gegebenen Gegenstände als kongruent zugeordnet werden können, macht eine Vergegenständlichung der Vernunftideen unmöglich, was im Kontext des Gedankengangs der KRV zur Folge hat, daß ihre Rechtfertigung nur von der Funktion, die sie für das Denken selbst haben, erfolgen kann. "Diese Ideale, ob man ihnen gleich nicht objektive Realität (Existenz) zugestehen möchte, sind doch um deswillen nicht für Hirngespinste anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richtmaß der Vernunft ab[ ... ],,248. Ungeachtet dessen, daß die Vernunftideen nicht konkretisierbar sind, haben sie für unser Erkenntnisstreben eine orientierende oder, mit Kant gesagt: regulative Bedeutung. Ihre Funktion ist es, den Verstand auf das auszurichten, ,,[ ... ] in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d.i. ein Punkt, ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz KRV B 393/ A 336. KRV B 672/ A 644. 245 KRV B 595/ A 567. 246 KRV B 356/ A. 247 KRV B 7 und B 22. Ausführlich dazu: N. Fischer; Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 85 f. 248 KRV B 597/ A 569. 243

244

III. Die Ideen der Vernunft

139

außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen. ,,249 Derart fordert die Vernunft uns dazu auf, nach den Ideen, die sie selbst entwirft, auszugreifen, auch wenn apriori ersichtlich ist, daß es unmöglich ist, im Denken der Vernunftideen einen sicheren Boden zu erlangen, auf dem das Gebäude der Philosophie und danach auch das der anderen Wissenschaften aufzubauen wäre, insofern nur solches, das man begreifen und derart in den Griff bekommen könnte, als sicherer Grund gelten dürfte. Der Aufweis der Vernunftideen als problematischer Begriffe hat dann auch den Zweck, der Vernunft ihre eigene Abgründigkeit sichtbar zu machen. Denn soll der Mensch sich seiner Bestimmung bewußt werden, muß er einsehen, daß er sich als vernünftiges Wesen nicht auf einen Grund zu stellen vermag, dessen er sicher sein könnte. Die Begriffe, in denen sich das Unbedingte zu denken gibt, sind an sich abgründig und geben daher keine Sicherheit. Darum kommt die Daseinsbewegung des Menschen im Denken des Unbedingten auch nicht an ein Ende, sondern sie wird als primär praktische an sich selbst freigegeben. Insbesondere in den "Prolegomena" macht Kant darauf aufmerksam, daß das Denken der Vernunftideen und die Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Denkens eine Befreiung des Menschen bedeutet, und zwar von solchen Auslegungen des Seins, aufgrund derer dem Menschen die Verantwortung für sein Handeln, mithin auch seine Freiheit, abzusprechen wäre. Kant nennt den Materialismus, in dessen Kontext der Mensch sich nicht als frei denken kann, den Naturalismus, "der die Natur vor sich selbst genugsam ausgeben will" und den Fatalismus, der von einer "blinden Naturnotwendigkeit" ausgehe und den Begriff einer "Ursache durch Freiheit, mithin einer obersten Intelligenz" nicht kenne. Von ihnen befreie sich die Vernunft selbst im Entwurf ihrer Ideen, denen Raum zu verschaffen sei, und zwar um der Praxis willen. 25o Indem die Vernunft in ihrem Streben nach Sicherheit die Erfahrung macht, daß es keinen sicheren Boden geben kann, vermag sie zu der Einsicht zu kommen, daß es ihr im Grunde genommen nicht um die Beantwortung ihrer spekulativen Fragen geht, sondern allem voran um die Frage, ob der Mensch dazu bestimmt ist, als er selbst, d. h. in Freiheit zu handeln, oder ob er sich selbst nur als einen Teil einer nach einer "blinden Notwendigkeit" geordneten Natur begreifen kann.

2. Die Befreiung vom Materialismus a) Zur Problematisierung des reinen "Ich denke"

Inwiefern die Vernunftideen, obwohl ihnen keine Gegenstände kongruieren, sie also schlechthin unanschaulich, mithin reine Begriffe sind, doch für den Erkennt249

KRV A 644 / B 672.

250

Pro!. A 185 f. (AA Bd. 4, 363).

140

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

nisvollzug unentbehrlich sind, kann nur der Durchgang durch die Trias der Ideen aufweisen. An erster Stelle ist unter ihnen die Idee des Subjektes zu nennen, deren Aufweis im Ausgang von der Fonn des Denkens erfolgt, die im kategorischen Urteil ihr Pendant hat. Dem kategorischen Urteil entspricht die Zuordnung von Prädikatsbegriffen zu einem Subjektbegriff. Das Verhältnis der Prädikate zum Subjekt entspricht der Formalität, die unserem Selbstbewußtsein eignet. Denn als seiner selbst bewußtes Subjekt begreift der Mensch sich als das "Ich denke", als cogito, dem seine cogitationes als prädikative Bestimmungen eignen. Indem sich das "Ich denke" als Subjekt betrachtet, begreift es sich demnach als subsistierend, seine cogitationes als ihm inhärierend. Doch es setzt auch voraus, daß es als Subjekt unterschieden ist von allen ihm inhärierenden cogitationes. Darauf baut R. Descartes seine Antwort auf die Frage nach dem Fundament, auf dem das Gebäude der Wissenschaften zu erbauen ist, auf. Nach Descartes verweisen alle Gedanken (cogitationes) auf ein Denken (cogitatio), dessen Subjekt (cogito) als existierend vorauszusetzen ist, " ego cogito, ego existo,,251. Sofern es Denken gibt, muß ein Ich als Subjekt des Denkens existieren, ist also die "Ureinsicht", die nach Descartes allen Wissenschaften ihr Fundament gibt. Zwar wird man in der Tat nicht daran zweifeln können, daß die Existenz von cogitationes auf eine existierende cogitatio, Gedanken also auf den Vollzug des Denkens verweisen. Die Frage ist nur, ob mit der Einsicht, daß gedacht wird, auch schon die Einsicht gegeben ist, daß ein Ich existieren muß, welchem der Status einer Substanz zuzusprechen ist. Man hat eingewandt, als existierend seien nur die Gedanken und darin der Vollzug des Denkens gegeben, nicht aber ein substantielles Ich, welches denkt. "Es denkt, sollte man sagen, [ ... ] Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt."252 Von daher trifft D. Stunnas These zu, das cogito Descartes sei derart unbestimmt, daß es nicht einmal als Ich, folglich auch nicht als Substanz angesprochen werden könne. Dem entspreche auch der in den "Meditationes" gegangene Denkweg insofern, als Descartes das reine cogito gerade dadurch in die Sicht bringe, daß er alle cogitationes von ihm unterscheide?53 Bewiesen werde dadurch nur, daß, sofern Denken geschieht, auch ein von allem Gedachten zu unterscheidendes Subjekt des Denkens vorauszusetzen ist. Ob es sich dabei aber um eine substantia cogitans handelt, die von sich als einem Ich sprechen kann, könnte nur dadurch entschieden werden, daß es dadurch zur Bestimmung gebracht wird, daß ihm Prädikate, unter anderem auch das der Substantialität, zugesprochen werden. Dazu R. Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, 11, 3. G. C. Lichtenberg, Vermischte Schriften, Bd. I, Göttingen 1844,99; Vgl. F.w.J. Schelling, Schriften 1813-1830, Darmstadt 1976,293 f.; F. Nietzsehe, Jenseits von Gut und Böse, in: Ders., Werke, hg. von K. Schlechta, Bd. 2, München 1966, 579 f. 253 D. Sturma, Kant über Selbstbewußtsein, 24. 251

252

III. Die Ideen der Vernunft

141

aber wäre eine Aufhebung jener Unterscheidung von cogito und cogitationes erforderlich, die für den Denkweg Descartes konstitutiv ist. Von daher wird man sagen können, Kant werde dem in der Subjekttheorie Descartes' angelegten Problem insofern gerecht, als er die These vertritt, dem Ich, welches in Gedanken alle cogitationes von sich abspricht, um sich als reines Subjekt verstehen zu können, komme die Möglichkeit abhanden, sich selbst in concreto vorzustellen. Sogar der Begriff der Substantialität könne nun nur noch per analogiam Anwendung auf das "Ich denke" finden. 254 Sein Gebrauch ist nur noch von der Funktion her zu rechtfertigen, die einer Substanz zukommt. Solches, das subsistiert, also substantialiter ist, und darum auch als Subjekt fungieren kann, ist vorauszusetzen, sofern Denken geschieht. Denn Gedanken können nur als Gedanken eines Subsistierenden gedacht werden, und das Substistierende gilt uns als das Substantielle. Auch das Ich kann seine Identität nur dadurch konkretisieren, daß es sich selbst als eine Substanz denkt und den Begriff der Substantialität für sich schematisiert, d. h. sich selbst als das beharrende cogito, dessen cogitationes wechseln können, auslegt. Der Begriff der Substanz aber ist gänzlich unbestimmt, wird er nicht mittels einer Schematisierung dem Begriff der Beharrlichkeit zugeordnet, damit unter der Substanz das verstanden werden kann, was im Wechsel aller prädikativen Bestimmungen beharrt als mit sich identisches. Der Begriff der Beharrlichkeit aber, greift Kant in den "Prolegomena" den in den "Analogien der Erfahrung" der KRV ausgearbeiteten Gedanken auf, kann nur auf solches angewandt werden, das sich als eine Erscheinung, mithin der Zeit unterworfen gibt. Das reine "Ich denke" aber ist zu unterscheiden von allen Bestimmungen, in denen es sich als Erscheinung gegeben ist. Wird daher das denkende Ich Substanz genannt, ,,[ ... ] bleibt dieser Begriff doch gänzlich leer, und ohne alle Folgen, wenn nicht von ihm die Beharrlichkeit [ ... ] bewiesen werden kann. ,,255 Kant widerlegt auch die These, das denkende Ich sei sich als eine existierende Substanz aufgrund der Erfahrung gegeben, daß es seine cogitationes als seine prädikativen Bestimmungen ansehen kann. Zwar könne vorausgesetzt werden, daß die cogitationes auf ein cogito, ein denkendes Ich, als ihr Subjekt verweisen, doch werde, sofern von einem Ich gesprochen wird, darunter nur ein schlechthin Unbestimmtes gedacht. Für den Menschen kann es also keine Anschauung von sich selbst als dem absoluten Subjekt geben, er wird sich selbst nur anschaulich in seinen prädikativen Bestimmungen. Alle Selbsterfahrung ist begrenzt auf den Menschen als ein in der Zeit existierendes, empirisches Ich. 256 Von daher ergibt sich die Frage, ob die Konzeption reiner Subjektivität überhaupt der philosophischen Kritik standhalten kann. Sie wurde insbesondere durch 254 255 256

Vgl. KRV A 350 f. Prol. A 138 (AA Bd. 4, 335). Vgl. KRV B 399 ff.1 A 341 ff.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

den Empirismus aufgeworfen. Unter der Voraussetzung, daß prinzipiell nur bezüglich solcher Sachverhalte Aussagen möglich sind, die sich als Bewußtseinstatsachen (perceptions) darstellen 257 und das reine Ich keine Bewußtseinstatsache, d. h. kein Objekt des Bewußtseins sein kann, vertritt der Empirist D. Hume die These, man sei nicht berechtigt, von einem Ich zu sprechen, sofern man darunter ein reines, nur durch Selbstbewußtsein bestimmtes Subjekt versteht. 258 In der Tat kann das Subjekt des Denkens als reines Subjekt keine Bewußtseinstatsache darstellen. Der erkenntnistheoretische Ansatz Kants begriindet nun eine Theorie des Selbstbewußtseins, welche mittels der Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Selbstbewußtsein die Problematik des Cartesischen Ansatzes umgeht, ohne der empiristischen Aufhebung des "Ich denke" in das Gedachte das Wort zu reden. Wider den Empirismus macht Kant geltend, daß uns in der Erfahrung Gegenstände als einheitliche Gegenstände gegeben sind. Das wäre nicht möglich, könnte nicht ein Einheitspunkt als gegeben angenommen werden, von dem aus und auf den zu die Synthesis des Gegebenen vollzogen wird. Das ist im Kontext der Subjekttheorie des Empirismus unmöglich. Denn ein Subjektbegriff, der nur die Abfolge der Bewußtseinszustände in die Sicht bringt, hebt auch das Subjekt in eine Abfolge von Bewußtseinszuständen auf, ohne erklären zu können, warum die Zustände selbst ein einheitliches Bewußtsein konstituieren. Ein einheitliches Bewußtsein aber ist vorauszusetzen, soll das Ich denkend das Gegebene zur Einheit bringen können. Da nun einerseits von einem an sich einheitlichen Bewußtsein auszugehen ist, soll Erfahrung überhaupt möglich sein, der empiristische Ansatz andererseits sichtbar macht, daß das empirische Selbstbewußtsein nur als ein Wissen um sich selbst als ein durch cogitationes bestimmtes cogito gedacht werden kann, sieht Kant sich zur Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Bewußtsein genötigt. "Man muß hier das transzcendentale und empirische Bewußtseyn wohl unterscheiden; jenes ist das Bewußtseyn Ich denke und geht aller Erfahrung vorher, indem es sie erst möglich macht. ,,259 Das transzendentale Selbstbewußtsein ist aufgrund der ihm eigenen Einheit die Bedingung der Möglichkeit für die Vereinheitlichung von Erfahrung überhaupt.

m Vg!. D. Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von L. A. Selby-Bigge und P.H. Nidditsch, Oxford 21978, 216 : ..[Wje never can conceive any thing but perceptions." 258 Ebd. 252: ,,[Wjhen I enter most intimately into what I caJl myself, I [ ... j never can catch myself at any time without a perception, and never can observe any thing but the perception." 259 Ref!. 6311 (AA Bd. 18, 610); vg!. KRV A 117, Anm.

III. Die Ideen der Vernunft

143

b) Kants Kritik an einer Auslegung der Substantialität des Ich mittels eines kategorialen Sprachgebrauchs

Sind cogitationes gegeben, ist auch ein cogito, ein Ich denke gegeben. Insofern kann Descartes Einsicht "cogito, sum" auch mit Kant als eine "Ureinsicht" des Denkens begriffen werden. Allerdings macht Kant darauf aufmerksam, daß auch sie insofern einen empirischen Anhalt hat, als vorausgesetzt ist, daß Denken stattfindet. Ohne die Faktizität des Denkens kann nicht einmal der Satz "Ich denke, ich bin" als Ureinsicht aller Wissenschaften ausgesprochen werden. Abgesehen davon, daß auch der Satz "Ich denke, ich bin" ohne empirischen Anhalt am Denken selbst unverständlich ist, kann aufgrund der Unterscheidung des denkenden Ich (cogito) von allen Gedanken (cogitationes), die es als seine Gedanken denkt, eine Bestimmung des cogito, durch die es nicht nur als logische Voraussetzung allen Denkens, sondern als Realität eines denkenden Ich begriffen werden könnte, nur im Ausgang von der empirischen Erfahrung vollzogen werden. "Das, ich denke, driickt den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen. Das Dasein ist dadurch also schon gegeben, aber die Art, wie ich es bestimmen [ ... ] solle, ist dadurch noch nicht gegeben. ,,260 Jede Bestimmung könnte nur erfolgen aufgrund der cogitationes und der ihnen entsprechenden Zustände, in denen sich das denkende Ich befindet. Denn nur sie sind im inneren Sinn anschaulich gegeben, und eine andere als die sinnliche Anschauung ist uns nicht möglich. In bezug darauf führt Kant aus: ,,Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = X, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können, [ ... ]" 261. Das Ich kann sich als als Subjekt des Denkens also nur rein intellektuell entwerfen. In einem solchen Entwurf bringt es sich selbst in Form einer "bloß intellektuellen Vorstellung" seiner selbst in die Sicht. 262 Dadurch denkt es sich zwar auch schon als die Substanz, welcher die Gedanken als seine Akzidentien zuzusprechen sind, d. h. es legt sein Denken nach der Relation von Subsistenz und Inhärenz aus. Dennoch wird es sich in einer solchen Auslegung nie zum anschaulichen Objekt, sondern es setzt sich nur als jenes "Quasiobjekt,,263, welches ihm ermöglicht, die Mannigfaltigkeit der im inneren Sinn gegebenen Bewußtseinszustände auf ein Ich zu als einheitliche, einem Bewußtsein eigene Zustände durchsichtig zu machen. Daß es sich bei dem "Quasiobjekt", in dessen Setzung der Übergang von dem Ich denke als dem logischen Subjekt des Denkens zu dem Ich, das sich selbst aufgrund seiner anschaulichen Gegebenheit als ein bestimmtes Ich, ein Ich selbst, erfahren KRV B 157. KRV B 404/ A 346. 262 KRV B 278. 263 Auch F. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, 43, spricht mit Verweis auf KRV B 672 f./ A 644 f. von "Quasigegenständen". 260 261

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

kann, in der Tat um eine Vorstellung von dem Subjekt selbst handelt, kann im Grunde nur postuliert werden. Insbesondere die Deutung des cogito als einer substantia cogitans, durch die dann eine Entscheidung bezüglich der Frage, welche Bedeutung dem Wort "Sein" oder "Existenz" in bezug auf das Ich zukommt, ermöglicht würde, könnte es nur aufgrund einer intellektuellen Anschauung geben, in der sich das Ich als denkendes Subjekt derart anschaulich würde, daß es der Identität seiner selbst mit sich selbst sicher sein könnte. Eine solche Anschauung gibt es nach Kant für den Menschen nicht. 264 Folglich kann sich der Mensch seiner selbst als eines (reinen) Subjektes nie sicher werden.

c) Zur Auslegung von Sein überhaupt

Das hat zur Folge, daß der Mensch sich als ein selbstbewußtes Ich nur aufgrund dessen gegeben ist, daß er sich als Wesen ansehen kann, auf das die Tatsache verweist, daß Sein uns als Natur, d. h. als eine Einheit des Mannigfaltigen aufscheint. Ist aber die Einheit des Mannigfaltigen der entscheidende Verweis auf die Einheit des Verstandes als deren ermöglichenden Grund, kann vorausgesetzt werden, daß das Subjekt in dem Vollzug, durch den es sich selbst die Einheit seines Bewußtseins durchsichtig macht, in einem zumal jene Einheit der Bewußtseinsgegenstände, d. h. der Natur konstituiert, ohne die es keine einheitliche Erfahrung gäbe. Aufgrund ihres synthetischen Wesens erfolgt die Realisation der Einheit des Bewußtseins nur in der Realisation der Einheit, die in dem Begriff der Gegenständlichkeit überhaupt einbegriffen ist. 265 Von daher wird dann auch verständlich, daß sich das Subjekt nicht nur vor die Frage gestellt erfährt, ob es sich selbst als substantia cogitans auslegen darf, sondern ihm in eins mit seiner eigenen Substantialität die des Seins überhaupt zur Frage wird. Insofern im Erkennen ein Gegenstandsbezug vorausgesetzt werden kann, ist der Mensch genötigt, solches vorauszusetzen, das subsistiert, obwohl das Erkennen im Durchgang durch das anschaulich Gegebene nur von einer möglichen prädikativen Bestimmung zur anderen gelangt und zu keinem Zeitpunkt bei solchem ankommt, von dem es sicher sagen könnte, daß es sich um Subsistierendes handelt. Zwar ist es noch möglich, den Begriff der Subsistenz mit dem der Materialität zu verknüpfen und die Materie als dasjenige anzusetzen, das an sich subsistiert. Doch dann gilt es, sich dessen bewußt zu sein, daß nicht gesagt werden kann, was Materie an sich ist, d. h. unabhängig von unserer sinnlichen Anschauung ist. Nur dadurch, daß sie mit der Vorstellung von Zeit die Möglichkeit eröffnet, Beharrlichkeit als jenen Horizont zu denken, in dem sich Substantialität konkretisiert, hat der Begriff der Materie für uns eine bestimmte Bedeutung.

264

265

KRV B 423. D. Sturma, Kant über Selbstbewußtsein, 52 ff.

III. Die Ideen der Vernunft

145

Kants Einsicht, daß der Begriff der Substanz einerseits der Schematisierung bedarf, um jene Bestimmtheit zu bekommen, in deren Kontext dann das substantiell Seiende als das beharrliche gedacht werden kann, es andererseits aber notwendig ist, das transzendentale Subjekt und mit ihm den transzendentalen Gegenstand von dem Begriff der Beharrlichkeit frei zu machen, bedeutet einen Durchbruch auf eine nicht substantiale Auslegung des Begriffs von "Sein", die sich als Problem stellt, ohne dadurch auch schon als möglich bewiesen worden zu sein. Erinnert sei daran, daß eine solche Auslegung sich in der Behandlung der "Analogien der Erfahrung" auch theologisch als notwendig erwiesen hat, da die Substanz, sofern darunter das durch Beharrlichkeit bestimmte Phaenomenon verstanden wird, nicht entstanden sein oder entstehen kann. Folglich kann der theologische Schöpfungsgedanke philosophisch nur gerettet werden auf dem Fundament der Unterscheidung von Noumena und Phaenomena, d. h. der Möglichkeit, solches zu denken, das der Schematisierung durch die Zeit nicht zu unterwerfen ist.

d) Das transzendentale Selbstbewußtsein und die ursprüngliche Zeit

Nach Kant ist es für uns schlechthin unmöglich, uns den Vollzug des transzendentalen Selbstbewußtseins oder der transzendentalen Apperzeption durchsichtig zu machen, d. h. uns selbst als reines "Ich denke" anzuschauen. Denn dazu bedürfte es einer Anschauung, die nicht den Bedingungen der Zeit unterworfen wäre, einer intellektuellen Anschauung, die uns schlechthin unmöglich ist. 266 Dennoch handelt es sich bei dem Satz "Ich denke" nach Kant um einen Satz, "der schon ein Dasein in sich schließt,,267. Der Kantischen Deutung zufolge dachte Descartes das Wissen des Ichs um seine Existenz aus dem Begriff des cogito schließen zu können. Nach Kant aber ist in dem Bewußtsein "cogito - Ich denke" das Wissen um das eigene Sein unmittelbar eingeschlossen 268 . Das Wissen um das "Ich existiere denkend,,269 läßt aber keine Rückschlüsse auf die Art meiner Existenz zu. Es handelt sich also um eine schlechthin unbestimmte Wahrnahme meiner selbst, die allein darauf verweist, daß es sich bei mir als dem denkenden Ich um eine Realität handelt, die in der Tat existiert. Schon die These aber, daß das "Ich denke" als durchgängig identisches, d. h. als ein in allen cogitationes beharrendes cogito zu verstehen sei, ist nur möglich im Kontext der Erfahrung von Beharrlichkeit überhaupt, die eine Erfahrung von solchem voraussetzen, das außerhalb des "Ich denke" anzusetzen ist. Das Wissen um das "Ich denke - Ich bin" ist daher allein ein Wissen darum, daß ich überhaupt bin. Die Art meiner Existenz ist mir apriori nicht KRV B 33/ A 19; B 75/ A 50; B 146. KRV B 418. 268 KRV B 423, Anm. Man kann sicher davon ausgehen, daß auch Descartes die These vertreten würde, mit der Einsicht cogito sei die des sum cogitans unmittelbar gegeben. Bei dem Gedankengang Descartes handelt es sich nicht um ein Schluß verfahren. 269 KRV B 423, Anm. 266 267

10 Bohlen

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

bewußt27o . An unterschiedlichen Stellen spricht Kant daher auch davon, das Bewußtsein "Ich denke", welches der Grund dafür sei, "daß ich mich Intelligenz nenne,,271 hebe allein darauf ab, daß ich um mein Vermögen der Spontaneität wisse. In dem Übergang von "Ich denke" zum "Ich existiere denkend" hebe der Übergang von der reinen Spontaneität des Denkens zur Rezeptivität der Anschauung, aufgrund derer der Existenz eine Bestimmung gegeben werden kann, an272 . Dagegen sei ich "im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken [ ... ] das Wesen selbst,,273, d. h. die Realität einer schlechthin unbestimmten Spontaneität. Hoping spricht von einem "reine[n] Vollzugswissen", das als "transzendentale Erfahrung" anzusehen sei 274 . Zutreffend macht Hoping darauf aufmerksam, daß nach Kant die Zeitvorstellung nicht auf das reine "Ich denke" angewandt werden kann. Nach Kant ist die Spontaneität des Verstandes außerhalb der Zeit zu denken. Das "Ich denke" wird von Kant nicht auf seinen Vollzugssinn befragt. Jeder Eintrag einer ursprünglichen Zeitlichkeit in die Subjekttheorie Kants stellt folglich einen Schritt dar, der Kants Ansatz erweitert. Dennoch fordert Hoping dazu auf, die Subjektivität des Subjektes selbst zeitlich zu denken. "Wenn transzendentale Apperzeption aber die reinen Zeitverhältnisse in der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft hervorbringt, muß das Dasein in transzendentaler Apperzeption selbst ursprünglich zeitlich sein. Aufgrund des synthetischen Charakters transzendentaler Apperzeption kann dieses Bewußtsein nicht das Bewußtsein eines Daseins sein, das gleichsam neben der Zeit steht,.275. Bei der transzendentalen Apperzeption kann es sich nur um ein Geschehen handeln, das selbst zeitlich strukturiert ist. Denn in der transzendentalen Einbildungskraft wird der Zeithorizont erbildet, und zwar als der Horizont, in dem Identitätsbewußtsein möglich ist. Ferner ist vorauszusetzen, daß es sich bei der Erbildung des Zeithorizontes um den Grundvollzug transzendentaler Subjektivität handelt, also um ein Geschehen, das Kant als einen "Akt" deutet, obwohl er sich dessen bewußt ist, daß das Subjekt selbst nicht das Vermögen hat, den Akt von sich aus zu setzen oder auch nicht. Das ist dann auch der Grund dafür, daß Husserl die Bildung des Zeithorizontes in einer "passiven Synthesis" des Subjektes fundiert gedacht hat, ohne allerdings die Passivität als solche ursprünglich zu denken,z76 Das geschieht anfänglich im Denken Heideggers und dann in jenem Schritt, in dem Levinas die Husserlsche Grundstellung überwindet. Im Gegensatz zu Kant und auch Husserl sehen Heidegger und Levinas, daß die Erbildung des KRV B 157. KRV B 158, Anm. 272 Vgl. KRV B 430. 273 KRV B 429. 274 H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, 127. 275 H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, 127 in Rückgriff auf M. Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, 396. 276 Vgl. R. Kühn, Husserls Begriff der Passivität. Zur Kritik der passiven Synthesis in der Genetischen Phänomenologie, Freiburg/München 1998, bes. 459-512. 270 27I

III. Die Ideen der Vernunft

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Zeithorizontes selbst nicht von der Aktivität des Subjektes her gedacht werden kann, sondern die Endlichkeit seiner Freiheit zu erkennen gibt. Ein Wesen endlicher Freiheit zu sein, bedeutet danach, die Zeitigung des Geschehens, in dem sich der Zeithorizont erbildet, dessen das Ich bedarf, um seiner selbst bewußt sein zu können, nicht von sich aus setzen zu können. Darum ist es auch berechtigt, die Zeitlichkeit der transzendentalen Apperzeption im Rückgriff auf Heideggers Phänomenologie der Zeitlichkeit als fundierend für die Zeit qua Abfolge der Zeiteinheiten anzusehen und mit dem Begriff der ursprünglichen Zeit zu belegen. Obwohl Kant also weder das Philosophieren im Ausgang von dem aktiv gedachten Subjekt in Frage stellt, noch auch die Uraktivität des transzendentalen Subjektes derart problematisiert, daß deren zeitliche Struktur deutlich würde, dringt er doch an die Grenze vor, an der es möglich wird, die Subjektivität des Subjektes zeitlich zu denken. Allerdings wird die Erweiterung des Kantischen Ansatzes mittels einer Phänomenologie ursprünglicher Zeit ihre eigentliche Rechtfertigung bekommen im Kontext der praktischen Philosophie. Bislang kommt es uns nur darauf an, sichtbar zu machen, daß das reine "Ich denke" der ermöglichende Grund aller Verstandeserkenntnis, mithin auch der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, ist. Insofern die Naturwissenschaften die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit selbst zwar als solche anerkennen müssen, nicht aber zum Objekt ihres Erkenntnisstrebens machen können, sehen sie sich im Gedanken des Ich denke an ihre Grenzen verwiesen. Problematisch ist allerdings, daß das Ich denke nur logisch notwendig ist, soll Verstehen überhaupt möglich sein. Welcher ontologische Status dem "Ich denke" zukommt, ist dadurch nicht entschieden, auch wenn der Gedanke "Ich denke" den der Existenz für Kant einbegreift. Dennoch könnte es möglich sein, daß ein Sprechen von der Geschöpflichkeit des Menschen im Ausgang von dem transzendentalen Subjekt möglich würde, sofern dessen Status als einer schlechthin unbestimmten Bedingung der Möglichkeit des Erkennens überwunden werden könnte.

3. Die Befreiung vom Fatalismus a) Der Glaube des Menschen an die Freiheit und der Schöpfungsgedanke

Im Kontext der Rechtfertigung der Vernunftidee eines transzendentalen Subjektes wurde nachgewiesen, daß die Einheit der Natur von sich aus auf die Einheit des Verstandes, die Einheit der transzendentalen Apperzeption, als ihren ermöglichenden Grund verweist. Ohne sie könnte überhaupt nicht von Natur gesprochen werden. Darum ist sie "die Gesetzgebung vor die Natur, d.i. ohne Verstand würde es überall nicht Natur, d.i. synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Erscheinungen nach Regeln geben:,,277 Daraus ist zwar nicht zu folgern, daß es ohne Verstand das 277

10*

KRV A 126 f.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Sein selbst nicht gäbe. Die Gegebenheit von Sein wird von Kant als die Bedingung der Möglichkeit der Affektion, in der alles Verstehen anhebt, vorausgesetzt. Doch in der Affektion gibt sich Sein nur als Mannigfaltigkeit von Sinnesdaten, die es zu verknüpfen gilt, soll Erkenntnis möglich sein. Nur durch das Verknüpfen der Sinnesdaten nach den Regeln des Verstandes erschließt sich Sein als Natur. Der Grund des Verstehens aber kann selbst nicht nur Teil der Natur sein, sondern muß als deren Grund vorausgesetzt werden. Das gilt für die Einheit der transzendentalen Apperzeption, ohne weIche gar kein Verstandesgebrauch möglich wäre. Das "Sein" der transzendentalen Apperzeption selbst aber, wurde deutlich, kann nur analog als substantielles Sein gedacht werden. Im Grunde genommen "ist" es als reiner Vollzug des Denkens. Diesen deutet Kant mit dem Begriff der "Spontaneität,m8. Der Verstand "ist" Spontaneität, da er die Möglichkeit eines Anfangens aus sich selbst heraus hat. Das aber ist das Wesen der Freiheit. 279 Insofern die Spontaneität des Subjektes nicht Teil der Natur, sondern deren ermöglichender Grund ist, folgt aus ihrem Nachweis die Befreiung des Menschen von der ansonsten unumgänglichen materialistischen Auslegung seiner selbst, die ihn auf einen Teil der Natur reduzieren würde. Diese Befreiung macht es dem Menschen möglich, sich als ein Wesen der Freiheit zu denken. In unseren Ausführungen zur Subjekttheorie Kants kam es uns allerdings darauf an, deutlich zu machen, daß der Aufweis der transzendentalen Subjektivität, in der die Auslegung des Menschen als eines freien Wesens ihren ermöglichenden Grund hat, nur einen ersten Schritt auf dem Weg des Denkens darstellt. Ihr folgt als zweiter Schritt der Nachweis, daß transzendentale Subjektivität der empirischen Konkretion bedarf, wäre doch ansonsten das, wodurch Denken geschieht, nur ein X, bezüglich dessen man nicht von einem Ich, weIches denkt, sprechen könnte. Die Konkretisierung transzendentaler Subjektivität erfolgt nun aber mit Notwendigkeit in der phänomenalen Welt. Entsprechend kann auch die These von der Freiheit des Subjektes nur aufrecht erhalten werden, wenn es gelingt, die Freiheit als eine solche zu denken, die in der Welt der Phänomene und d. h. in der Natur als dem Kontext menschlichen Handeins, möglich ist. Soll also menschliche Freiheit positiv gedacht werden können, ist nachzuweisen, daß es möglich ist, sich in Freiheit, d. h. unabhängig von dem Naturgesetz, zu einem Handeln zu bestimmen, das Folgen zeitigt, die in der Natur als dem Kontext unseres Handeins greifbar werden. Nun wäre denkbar, daß Freiheit als von der Natur unabhängige Selbstbestimmung zwar möglich ist, daß aber in der Natur geschieht, was auch ohne Menschen und sein Wollen geschehen würde. Die Möglichkeit der menschlichen Selbstbestimmung wäre dann eine in sich selbst absurde. Denn es geschähe, was geschieht, unabhängig davon, was Menschen wollen oder worumwillen sie handeln. Der Fatalist, der voraussetzt, daß es absurd ist, nach dem Sinn dessen zu fragen, was geKRV B 75/ A 51. Vg!. Pro!. A 152 (AA Bd. 344). Denn Freiheit ist der positiven Bedeutung nach "ein Vermögen, [ ... 1eine Reihe von Begebenheiten von selber anzufangen" (KRV B 582/ A 554). 278

279

III. Die Ideen der Vernunft

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schieht, hätte Recht. Der Befreiung des Menschen vom Materialismus ist daher eine Befreiung von Fatalismus an die Seite zu stellen. Für uns ist dabei von besonderem Interesse, daß das angesprochene Problem der Freiheit als eine der Grundfragen der Schöpfungstheologie angesehen werden kann. Denn theologisch ist Schöpfung nur recht gedacht, sofern sie als freies Handeln Gottes verstanden wird. Das Schöpfungsgeschehen kann keinen anderen Ursprung haben als ein freies Anfangen Gottes aus sich heraus. 28o Von daher kann man einerseits den Schöpfungsgedanken als eine Erinnerung an die Möglichkeit der Freiheit betrachten, die allerdings in einer Zeit, in der die Metaphysik selbst problematisch geworden ist, fraglich geworden ist. Andererseits kann man davon ausgehen, daß nur unter der Voraussetzung, daß der Glaube des Menschen an die eigene Freiheit als vernünftiger Glaube ausgewiesen werden kann, auch der Schöpfungsgedanke philosophisch zu rechtfertigen sein wird. Von daher ist dann auch zu verstehen, daß Kant in der KRV die menschliche Freiheit in eins mit dem Schöpfungsgedanken problematisiert. Das wird allem voran greifbar in dem zweiten Hauptstück des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik, in dem die "Antinomie der reinen Vernunft" ausgearbeitet wird. In seiner Besprechung der dritten Antinomie macht Kant die Möglichkeit, die Welt als aus Freiheit verursacht anzusehen, als den Grund geltend, der es ermöglicht, auch in der Welt Freiheit als möglich anzusehen. Kant verknüpft also den Nachweis der Möglichkeit, Schöpfung zu denken, mit dem Nachweis der Möglichkeit menschlicher Freiheit, woraus man folgern kann, daß für ihn der Glaube des Menschen an die eigene Freiheit nur möglich ist in eins mit dem Glauben an die Möglichkeit der Geschaffenheit von Sein. Obwohl Kant selbst darauf hingewiesen hat, daß die Antinomienproblematik für ihn von entscheidender Bedeutung für seine Wende zum kritischen Denken gewesen sei und die Bedeutung der Behandlung des Antinomienproblems in der KRV von daher unstrittig ist, kommt die Verknüpfung der von Kant angestrebten Rettung der Freiheit mit der Frage nach der Schöpfung in der Kantforschung noch kaum zum Tragen. Zwar hat schon H. Heimsoeth auf die Schöpfungsproblematik in der KRVaufmerksam gemacht. 281 Dennoch wurde ihre grundlegende Bedeutung für den Gedankengang der KRV in der metaphysische interessierten Kantdeutung kaum anerkannt282 und in der Kantforschung, die dem analytischen Ansatz verpflichtet ist, fast ganz verkannt. P. F. Strawson hat zwar den Übergang von der Frage nach einer freien Weltursache zur Frage nach der Freiheit des Menschen geseVgl. Teil A, Anm. 72. Vgl. H. Heimsoeth. Transzendentale Dialektik Bd. 2. Berlin 1967,352-357. 282 J. Schmucker, Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft. Bonn 1990. 332 ff., wirft Heimsoeth eine Uberbewertung der Schöpfungsproblematik vor, da Kant die Frage auf das Problem menschlicher Freiheit einschränke. Das ist aber nicht der Fall. Im Schöpfungsgedanken findet transzendentale Freiheit und mit ihr die menschliche Freiheit ihre theologische Rechtfertigung. 280 281

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

hen und auch erkannt, daß Kant die Möglichkeit der Schöpfung als Argument für die Möglichkeit menschlicher Freiheit verwendet, glaubte die Verknüpfung von Schöpfungs- und Freiheitsproblematik aber kritisieren zu müssen als einen Weg, auf dem des für Kant unmöglich werde, das Problem der Freiheit zu lösen. 283 Zum Thema erhoben wurde die Schöpfungs problematik in ihrer Verknüpfung mit der Freiheitsfrage nur von W. Ertl, dessen Abhandlung den analytisch orientierten Ansätzen der Kantauslegung zugerechnet werden kann. Ihm zufolge wird der Schöpfungsgedanke von Kant zwar aufgegriffen, doch derart funktionalisiert, daß er "de facto zu einem Moment der Reflexion des Menschen über sich selbst und seine Möglichkeiten" wird?84 Seine Beurteilung wirft die Frage auf, woran denn die Rede von der Schöpfung ihren Anhalt haben sollte, wenn nicht an der Reflexion des Menschen über sich selbst. Nur dann, wenn der auf sich reflektierende Mensch wissen darf, daß seine Freiheit keine absurde Freiheit ist, da er sich als Geschöpf verstehen kann, wird das Sprechen von Schöpfung für ihn auch eine Bedeutung haben. Daß der Schöpfungsgedanke eine Funktion für den Menschen als freies Wesen hat, erweist ihn als lebensbedeutsam und befreit den, der von der Schöpfung spricht, von dem Verdacht, nur um einer reinen Spekulation willen nach den Grenzen des Wißbaren zu fragen.

b) Das Antinomienproblem

aa) Das antinomische Wesen der Vernunft Unstrittig ist, daß Kant glaubte, die Möglichkeit der Freiheit sichtbar gemacht zu haben durch seine Lösung der "Antinomie der reinen Vernunft", die er in dem zweiten Hauptstück des zweiten Buches der "transzendentalen Dialektik" ausgearbeitet hat. Der Begriff der "Antinomie" nennt zum einen den Widerstreit von Sätzen, bei denen sowohl die Thesis als auch die Antithesis "gültige und notwendige Gründe der Behauptung an seiner Seite hat. ,,285 In Bezug darauf spricht Kant von den Antinomien. Ansonsten spricht er auch von der Antionomie und versteht darunter das antinomische Wesen der Vernunft selbst, das als solches in dem Widerstreit jener Sätze, die aus der Anwendung ihrer Gesetze folgen, sichtbar wird?86 Der Begriff der Antinomie gibt also zu bedenken, daß die Vernunft in sich durch Gesetze bestimmt ist, die zu scheinbar widersprüchlichen Denkvollzügen Anlaß geben können.

283 P. Strawson, Die Grenzen des Sinns, 179 ff. Zu der Verlagerung der Fragestellung vgl. auch A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit, Beml Stuttgart 1989,65. 284 W. Ertl, Kants Auflösung der "dritten Antinomie", 250. 285 KRV B 4401 A 421. 286 KRV B 452 I A 424.

III. Die Ideen der Vernunft

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Das eine Grundgesetz der Vernunft wurde genannt. Es nötigt die Vernunft dazu, der bedingten Verstandeserkenntnis die Ideen des Unbedingten an die Seite zu stellen, um dadurch die Verstandeserkenntnis zu ihrer angestrebten Vollendung zu bringen. 287 Andererseits aber hat die Vernunft keinen unmittelbaren Bezug zum anschaulich Gegebenen. Anders als der Verstand ist sie nur mittelbar auf Gegebenes bezogen. Ihre Funktion ist es nur, die Erkenntnisse, die der unmittelbar auf das anschaulich Gegebene bezogene Verstand ermöglicht hat und die im Urteil ausgesprochen werden können, zur Einheit zu bringen. 288 Insofern ist es der reinen Vernunft nicht möglich, objektive Erkenntnis von sich aus zu begründen. Die Begriffe, die ihr entspringen, sind daher "bloße Ideen." Aus den unterschiedlichen Möglichkeiten der Vernunft folgt ein Widerspruch, in dem sich die Vernunft mit sich selbst vorfindet. Er ist insofern nicht zu vermeiden, als die Regel, alles, wozu der Verstand kommt, als Bedingtes in den Ansatz zu bringen, sich von der Idee des Unbedingten her rechtfertigt. Der Rückgang in das Bedingte ist fortzusetzen bis zu dem Unbedingten, das nicht auf seine Bedingungen hin in Frage gestellt werden kann. Da nun Verstehen nur auf empirisch Gegebenes bezogen sein kann, im Empirischen aber das Unbedingte nie angetroffen werden kann, wird der Verstand gerade dadurch, daß die Vernunft ihm das Unbedingte vorwirft, in die Unendlichkeit seines Ganges genötigt. Reflektiert daher die Vernunft auf sich selbst, auf ihr eigenes Wesen, erfahrt sie sich selbst als zwiespältig. Es kann sogar dazu kommen, daß sie an sich selbst zweifelt oder ver-zweifelt. 289 Doch die Zweifel der Vernunft an sich selbst halten das Denken nicht nur lebendig. 29o Was ein Unglück für die Spekulation sein mag, könnte auch der praktischen Bestimmung des Menschen zum Glück werden. 291 Dazu macht Kant die unterschiedlichen Interessen der Vernunft sichtbar. Da ist einerseits das Interesse an einer vollständigen Erkenntnis. Sie ist der Beweggrund dazu, einen Anfang schlechthin und mit ihm ein schlechthin Notwendiges vorauszusetzen. Um die Vollständigkeit der Erkenntnis zu ermöglichen, müssen transzendentale Freiheit und das schlechthin Notwendige vorausgesetzt werden. Geschieht das nicht, sieht man sich in einen Rückgang in die Bedingungen genötigt, der an kein Ende kommen kann, was zur Folge hat, daß Vollständigkeit undenkbar wird. "Die Sätze der Antithesis sind aber von der Art, daß sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkenntnissen gänzlich unmöglich machen", kritisiert Kant den empirischen Standpunkt. "Da also die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt, und keinen Anfang, der schlechthin zum Grunde des Baues dienen könnte, so ist ein vollständiges Gebäude der Erkenntnis, bei dergleichen Voraussetzungen, gänzlich unmöglich.,,292 An der Vollständigkeit der Erkenntnis interessiert, empfiehlt es sich

287

KRV B 364/ A 307.

288

KRV B 359/ A 302; B 363/ A 307 f. Fortschritte A 188 (AA Bd. 20, 327). KRV B 434/ A 407. KRV B 492/ A 464. KRV B 502 f./ A 474 f.

289 290 291 292

152

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

für die Vernunft, das Unbedingte anzunehmen und den Antithesen, in denen sich der Standpunkt der reinen Empirie ausspricht, eine Absage zu erteilen. Kant sieht allerdings auch, daß eine solche Annahme dem Interesse an einheitlicher Erfahrung insofern widerstreitet, als es den Absprung aus der Empirie zur Voraussetzung hat. Die Vollendung ihres Gebäudes kann die Vernunft nur dadurch ermöglichen, daß sie die Empirie in ihre Grenzen verweist. Das hat zur Folge, daß der sichere Boden der Empirie nicht mehr als der einzig mögliche des Denkens gelten kann, sondern nur noch als einer, der durch Ausgrenzung aus dem Möglichen begriindet ist, eine Insel, von der man aufbrechen kann, um es mit Kant zu formulieren 293 . Folge eines solchen Aufbruchs wird nicht sein, daß nun andere Dinge sichtbar werden, sondern, daß die Dinge sich selbst in einer anderen Sicht geben können, einer Sicht, die aber von der theoretischen Vernunft nur als Problem verstanden werden kann. Dazu weist Kant nach, daß sich die Thesis und die Antithesis einer Antinomie zwar auf einen Gegenstand beziehen, ihn aber in unterschiedlicher Hinsicht, einerseits als Noumenon, andererseits als Phaenomenon in den Ansatz bringen, wodurch sie unterschiedliche Kontexte vorgeben, in denen nach den Gegenständen gefragt und über sie geurteilt werden kann. Kant nennt vier Antinomien, in denen das antinomische Wesen der Vernunft deutlich wird. Von ihnen sind für uns insbesondere die Antinomien 1, 3 und 4, die unmittelbar die Frage nach der Schöpfung betreffen, interessant. Sie benennt er mittels Thesen und Antithesen, die er in den "Prolegomena" auf die folgenden Formeln bringt: Die Welt hat der Zeit und dem Raum nach einen Anfang (Grenze). Die Welt ist der Zeit und dem Raun nach unendlich. Es gibt in der Welt Ursachen durch Freiheit. Es gibt keine Freiheit, sondern alles ist Natur. - In der Reihe der Weltursachen ist irgend ein notwendiges Wesen. Es ist in ihr nichts notwendig, sondern in dieser Reihe ist alles zufällig 294 . Kant selbst sieht die in den Antithesen ausgesprochene Position als die empiristische an 295 . Für den Empiristen ist also die Welt unendlich. Sie hat keinen Anfang. Ein notwendiges Wesen kann es in ihr nicht geben. Im Gegensatz dazu geht die Metaphysik vor Kant auf noch unkritische Art davon aus, daß die Welt einen Anfang hat und von schlechthin notwendigen Wesen verursacht wurde. Es ist offensichtlich, daß diese Position der Schöpfungstheologie korreliert. Kann sie als Vgl. KRV B 294/ A 235. Pro!. A 144, vgl. KRV B 454, A 426 - B 489, A 461. 295 KRV B 496. G. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, Berlin 4 1969,45-48 ordnet die Position Leibniz zu, die der Thesen Newtons. Der philosophiegeschichtliche Kontext ist für uns nicht von Belang. 293

294

III. Die Ideen der Vernunft

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vernünftig ausgewiesen werden? Das ist die Frage, die in der vierten Antinomie zur Entscheidung steht. Unserer These, daß die Frage nach der Schöpfung Kant zufolge nur in eins mit der Frage nach der menschlichen Freiheit zu entscheiden sein wird, folgend, stellen wir die Besprechung der ersten und vierten Antinomie noch zurück und wenden uns der Frage zu, ob es in der Welt Freiheit geben kann.

bb) Kants Lösung der dritten Antinomie ( 1) Die durchgängige Geltung des Kausalgesetzes

Die dritte Antinomie verhandelt den Streit bezüglich der Frage, ob alles, was in der Welt geschieht, nach Naturgesetzen geschieht. Darin wird u. a. deutlich, daß Kant sich zur Rettung der Freiheit aufgefordert sieht aufgrund der Tatsache, daß es durch Newtons Mechanik grundsätzlich möglich geworden war, alle Veränderungen in der Natur mechanisch zu erklären. Kant war von der Mechanik Newtons nicht nur beeindruckt,296 er setzt sich insbesondere in seinen vorkritischen Schriften mit Nachdruck dafür ein, daß eine wissenschaftliche Naturerklärung im Rückgriff auf sie und nur auf sie zu erfolgen hat. 297 Die Newtonsehen Gesetze sind streng deterministische Gesetze. Als solche wurzeln sie in der These, daß alles, was in der Natur geschieht, notwendig auf Bedingungen folgt, die als verursachend anzusehen sind. Das Naturgesetz setzt Kant in seinen Ausführungen daher dann auch mit dem Kausalitätsprinzip in eins, demzufolge nichts geschieht ohne eine bestimmende Ursache, welche im Verhältnis zu dem Geschehen als vorgängig anzusetzen ist,298 in der Begrifflichkeit der Schul philosophie: eine ratio antecedenter determinans. Danach hat alles, was ist oder geschieht, eine Ursache, auf die es mit Notwendigkeit folgt. Alles ist Teil einer Kette von Wirkungen und Wirkursachen. Dafür, daß das Kausalgesetz, nach dem sich .uns alles zu einer Kette von Wirkungen und Wirkursachen verknüpft, ein Grundgesetz des Verstandes ist, durch welches Natur 296 Kants Lehrer, Martin Knutzen, vermittelte Kant nicht nur die Philosophie Leibnizens, sondern führte ihn auch in das Studium der Physik Newtons ein. Er wies ihn auch auf die Debatte, die Leibniz mit dem Newtonianer Clarke führte hin, in dem es u. a. auch um Probleme der Schöpfungstheologie angesichts der Mechanik Newtons ging. Vgl. dazu die Studie von H. -J. Waschkies, Physik und Physikotheologie des jungen Kant. Die Vorgeschichte seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Amsterdam 1986. 297 Das gilt insb. für seine "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" von 1755, welche der Intention verpflichtet ist, das System der Natur "aus dessen Ursprung allein nach mechanischen Gesetzen" abzuleiten, A IX (AA Bd. 1,221). 298 Der "Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität" lautet: "Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung" (KRV B 233). Das Verhältnis der Ursache zur Wirkung ist dabei durch die Zeitfolge derart geordnet, daß die erstere die letztere als ihre Folge bestimmt (KRV B 234).

154

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

überhaupt möglich wird, findet sich der Beweis in der Besprechung der zweiten Analogie im Kontext der "Analytik der Grundsätze".299 Dort weist Kant nach, daß es des Vorwurfs des Kausalgesetzes bedarf, um Erscheinungen, von denen die eine auf die andere folgt, in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen. Dazu wird vorausgesetzt, daß die Zeit und ihre Ordnung selbst nicht wahrgenommen werden kann. Denn alles, was wahrzunehmen ist, gibt sich in der Zeit. Nur als solches kann es apprehendiert werden. Aus der zeitlichen Apprehension eines Objektes folgt aber nicht, daß auch das Objekt selbst zeitlich geordnet ist, und zwar derart, daß seine Ordnung die Erkenntnis des Objektes selbst bestimmt. "Wenn wir also erfahren, daß etwas geschiehet, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach einer Regel folgt. Denn ohne dieses würde ich nicht von dem Objekt sagen, daß es folge, weil die bloße Folge in meiner Apprehension, wenn sie nicht durch eine Regel in Beziehung auf ein Vorhergehendes bestimmt ist, keine Folge im Objekte berechtiget. ,,300 Mittels des Vorwurfs des Kausalgesetzes wird nun den Objekten unterstellt, daß ihre Ordnung der subjektiven Ordnung der Apprehension objektive Gültigkeit verschaffen kann. Nur dadurch aber ist die Erfahrung von solchem, das geschieht, als objektive Erfahrung möglich. "Also geschieht es immer in Rücksicht auf eine Regel, nach welcher die Erscheinungen in ihrer Folge, d.i. so wie sie geschehen, durch den vorigen Zustand bestimmt sind, daß ich meine subjektive Synthesis (der Apprehension) objektiv mache, und, nur lediglich unter dieser Voraussetzung allein, ist selbst die Erfahrung von etwas, was geschieht, möglich. ,,301 Der Ausgang vom Kausalgesetz als dem Grundgesetz der Natur nötigt dazu, sich alles, was geschieht, dadurch verständlich machen zu wollen, daß man nach seiner Ursache fragt, voraussetzend, daß die Ursache nur als eine solche gedacht werden kann, die dem Geschehen selbst in der Abfolge der Zeit vorzuordnen ist. Insofern objektive Naturerkenntnis aber nur unter Voraussetzung des Kausalgesetzes möglich ist, kann man von dessen durchgängiger Gültigkeit in bezug auf die Natur ausgehen. "Der Grundsatz des Kausalverhältnisses in der Folge der Erscheinungen gilt daher auch vor allen Gegenständen der Erfahrung (unter den Bedingungen der Sukzession), weil er selbst der Grund der Möglichkeit einer solchen Erfahrung ist. ,,302 Dabei fordert die zweite Analogie dazu auf, alle Geschehnisse als bewirkt anzusehen und nach ihren Wirkursachen zu fragen. Auf welche Wirkung aber ein bestimmtes Geschehen zuriickgeführt werden kann, ist dadurch noch nicht entschieden. 303 Eine Entscheidung dariiber kann nur empirisch getroffen werden.

299 300

301 302 303

Vgl. KRV B 233-256/ A l89-2ll. KRV B 240/ A 195. Ebd. KRV B 247/ A 202. Vgl. B. Thöle. Die Analogien der Erfahrung, 274.

III. Die Ideen der Vernunft

155

Obwohl der Beweisgang, den Kant in der zweiten Analogie der Erfahrung ausgearbeitet hat, Probleme in sich begreift,304 ist die Absicht Kants deutlich. Angeregt durch Hume 305 , stellt sich Kant der Frage, ob der Rückgang von den Wirkungen in ihren Wirkursachen einer objektiven Notwendigkeit folgt. Mit Hume kommt er darin überein, daß die Notwendigkeit nicht aus der Wahrnehmung abgeleitet werden kann?06 Soll der Rückgang also überhaupt ein notwendiger sein, ist er in einem Verstandes gesetz zu fundieren. Der Verstand ist es, der uns dazu nötigt, alles als in einer Kette von Wirkungen und Ursachen verknüpft anzusehen. In Bezug darauf sieht Kant, daß die Ordnung des Objektes nur als bestimmend für die Ordnung der Apprehension begriffen werden kann, sofern auch unsere Zeitvorstellung die einer notwendigen Ordnung in sich begreift, nach der "die vorige Zeit die folgende notwendig bestimmt (indem ich zur folgenden nicht anders gelangen kann, als durch die vorhergehende)".307 Kant läßt keinen Zweifel daran, daß er von der durchgängigen Determination des Naturgeschehens ausgeht. "Der Grundsatz des Kausalverhältnisses in der Folge der Erscheinungen gilt daher auch vor allen Gegenständen in der Erfahrung (unter den Bedingungen der Sukzession), weil er selbst der Grund der Möglichkeit einer solchen Erfahrung ist. ,,308 Das Problem der Freiheit kann demnach mit Kant nicht dadurch gelöst werden, daß man Lücken in die Geltung des Kausalgesetzes einführt. Insbesondere der Weg, unter Berufung auf das Unbestimmtheitsprinzip Freiheit in den Naturzusammenhang eintragen zu wollen, ist ungangbar. Denn zum einen ist die Anwendung des Unbestimmtheitsprinzips auf menschliches Handeln und seine Folgen nicht möglich?09 Zum anderen wird dadurch Freiheit zum Naturphänomen verwandelt,310 entsteht doch der Eindruck, Freiheit sei nur ein Begriff für Indetermination, welche in einer an sich durchgängig determinierten Natur zu Zeiten auch möglich ist. Das Problem der Freiheit ist von Kant her gesehen nicht auf das von DetermiZur Kritik an dem Beweis vg!. B. Thöle, Die Analogien der Erfahrung, 283 ff. Vg!. Kants Bemerkung, Hume habe ihn durch seine Theorie der Kausalität aus dem "dogmatischen Schlummer" gerissen, Pro!. A 13 (AA Bd. 4, 260). 306 Vg!. KRV B 2411 A 196. 307 KRV B 2441 A 199. 308 KRV B 2471 A 202. 309 Vg!. dazu A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, 13, mit Berufung auf M. Schlick, Ergänzende Bemerkungen über P. Jordan's Versuch einer quantentheoretischen Deutung der Lebenserscheinungen, in: Erkenntnis 5 (1935) 181-183 und M. Planck, Vom Wesen der Willensfreiheit, in: Seminar: Freies Handeln und Determinismus, hg. von U. Pothast, FrankfurtIM 1978,272-293, bes. 273. 310 Vg!. die Kritik von N. Fischer an den Postitionen von W. Pannenberg und J. Moltmann (N. Fischer, Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen?, 66, Anm. 7 unter Bezugnahme auf W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 147; ders., Kontingenz und Naturgesetz, und J. Moltrrumn, Gott in der Schöpfung, 217). 304

305

156

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

nismus und Indeterminismus zu begrenzen. Denn ihm geht es nicht um die Frage, ob es indeterminiertes Handeln gibt, sondern darum, ob der Mensch in seinem Handeln allein durch das Naturgesetz bestimmt ist oder ob er diesem eine andere Bestimmung, d. h. eine Bestimmung, die aus ihm selbst kommt, entgegensetzen kann. (2) Kants Absage an komperativische Freiheitskonzepte Die Anwendung des metaphysischen Kausalgesetzes auf das Naturgesetz findet sich auch bei Hume, der im Gegensatz zu Kant auch die psychischen Akte dem Kausalzusammenhang der Natur unterordnet. Für ihn sind auch die Willensakte und die aus ihnen folgenden Handlungen des Menschen kausal determiniert, d. h. sie folgen mit Notwendigkeit aus Bedingungen, die ihnen in der Zeit vorgeordnet sind. 311 Dadurch greift Hume dem Standpunkt derer vor, die menschliches Wollen und Handeln durch natürliche Bedingungen, sei es physischer oder psychischer Art, und nur durch sie bestimmt ansehen. Dadurch wird aber dem Menschen die Freiheit entweder ganz abgesprochen oder sie wird darauf begrenzt, daß der Mensch nicht über alle Bedingungen, denen er unterworfen ist, informiert ist, so daß ihm eine Prognose des Handeins unmöglich ist. 3 !2 Doch auch derjenige, der zwar nicht die Möglichkeit hat, sein Handeln zu prognostizieren, doch den Naturbedingungen, denen er unterworfen ist, mit Notwendigkeit folgend handelt, ist unfrei. Die Frage nach der Freiheit betrifft daher auch nicht die der Prognostizierbarkeit von Handlungen, sondern die Frage nach der Möglichkeit, sich von den Bedingungen des Handeins, die durch die Natur gegeben sind, frei zu machen. Daß dabei auch psychische Bedingungen, insofern es sich auch bei ihnen um Naturbedingungen handelt, nicht als Fundament menschlicher Freiheit angesehen werden können, betont Kant in seiner Kritik am Standpunkt des Empirismus, den er "in der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit anzuführen" gedenkt3!3. "Eine Ausflucht darin zu suchen, daß man bloß die Art der Bestimmungsgründe seiner Kausalität nach dem Naturgesetze einem komparativen Begriffe von Freiheit anpaßt (nach welchem bisweilen freie Wirkung heißt, davon der bestimmende Naturgrund innerlich im wirkenden Wesen liegt, [ ... ]) ist ein elender Behelf, womit sich immer noch einige hinhalten lassen, und so jenes schwere Problem mit einer kleinen Wortklauberei aufgelöset zu haben meinen, an dessen Auflösung Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die daher wohl schwerlich so ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte.,,3!4

311 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand [An Enquiry concerning human understanding, dt.], übers. von R. Richter, mit einer Ein!. hg. von J. Kulenkampff, Hamburg 1984, 104 ff. 312 Vgl. dazu die Theorie des epistemischen Indeterminismus, die u. a. von M. Planck vertreten wird. M. Plank, Vom Wesen der Willensfreiheit, 272 - 293. 313 KPV A 168 (AA Bd. 5, 94). 314 KPV A 171 f. (AA Bd. 5, 96).

III. Die Ideen der Vernunft

157

Kants Kritik am Empirismus trifft auch auf die damals gängige, noch unkritische Rationaltheologie zu. Denn auch sie vertritt nach Kant einen komparativen Begriff der Freiheit, insofern sie die sekundären Beweggründe des Handeins von dem primären Grund unterscheiden und als den primären Grund ein von dem Menschen unterschiedenes Wesen ansetzen, von dem dessen Dasein in eins mit der Kausalität seines Handeins abhängig ist. Dadurch, kritisiert Kant, wird der Mensch zu einem "denkenden Automaten" gemacht, der zwar von sich glauben mag, daß er frei sei, in Wirklichkeit aber nur eine "Marionette" Gottes iSt. 315 Die Kritik trifft aber nicht nur den empiristischen Ansatz, sondern auch den theologischen Ansatz eh. Wolffs. Im Kontext der damals ausgetragenen Debatte um den Wollfschen Begriff der Freiheit kann die Eigenart des Kantischen Ansatzes nochmals deutlicher zur Abhebung gebracht werden. Wolff veranschaulicht die Welt als eine Maschine oder Uhr. 316 In einer Maschine erfolgen alle Begebenheiten maschinell, d. h. alles, was geschieht, stellt sich dar als notwendige Folge von Zuständen, die, zeitlich vorgeordnet, das, was ihnen in der Zeit nachgeordnet ist, bestimmen. Die Abfolge der Zustände ist eine notwendige und insofern gewisse. Es kommt, was kommen muß. Die Problematik der Wolffschen Philosophie durchschauend, gibt dessen philosophischer Gegner, J. Lange,31? den Standpunkt Wolffs wieder: "Wofern die geringste Begebenheit in der Welt anders seyn solte, als sie ist, so müste alles in der Welt vorher anders gewesen seyn und müste auch künftig alles anders kommen. Und also müste eine gantz andere Welt seyn, als itzend ist: Gleichwie in einem ähnlichen Fall eine gantz andere Uhr erfordert wird USW.,,318. Lange kritisiert, dadurch werde die Freiheit des Menschen unmöglich gemacht. Denn in einer solchen Welt kann auch der Mensch nur noch mechanisch handeln. Was er auch tut, ist doch nur eine Begebenheit in der Kette der Zustände, die mit Notwendigkeit aufeinander folgen. Lange wirft daher Wolff eine fatalistische Deutung der Geschichte vor, die er mit dem Begriff eines "Spinozismus partialis" belegt, worunter er die Deutung des Geschichtsgangs als eines "nexus rerum physico mechanicus" ohne dessen Fundierung in einer als göttlich gedachten Natur versteht. Wolff hat sich gegen den Vorwurf des Spinozismus dadurch zu verteidigen gesucht, daß er bedingte und unbedingte Notwendigkeit zu unterscheiden forderte 319 . Daß die Welt ist, argumentiert 315 KPV A 181 (AA Bd. 5, 101). 316 eh. Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt [Deutsche Metaphysik], Gesammelte Werke 1,2, mit einer Einl. u. einem krit. App. hg. von Ch. A. Corr, Hildesheim/Zürich/New York 1983, §§ 556 und 557. 317 Zu der Debatte um die Wolffsche Philosophie vgl. B. Bianco, Freiheit gegen Fatalismus, in: Zentren der Aufklärung, Bd. 1, hg. von N. Hinske, Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 15), 111-155. 318 J. Lange, Modesta desquisitio, § 567, in: ders., Kontroversschriften gegen die Wolffische Metaphysik, Hildesheim 1986 (eh. Wolff, Gesammelte Werke, Abt. 3, Bd. 23). 319 eh. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 575.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Wolff, sei keinesfalls notwendig. Auch daß sie auf die Art ist, in der sie ist, kann nur als zufallig angesehen werden. Da die Welt zufällig ist, folgert Wolff, "so müssen auch alle ihre Begebenheiten zufällig seyn. Denn ihre Begebenheiten ereignen sich nur deswegen, weil sie ist,mo. Wolff sieht darin eine Möglichkeit gegeben, die Notwendigkeit der Begebenheiten in der Natur mit ihrer Zufalligkeit zu vereinen 321 . Doch schon Lange hat erkannt, daß Wolff dadurch die Freiheit des Menschen nicht in der strengen Bedeutung des Begriffs anerkennt, und es kann daher keinen Zweifel daran geben, daß die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit in einer mechanisch geordneten Natur auf ihre Lösung drängte, auch insofern, als der Wolffsche Verweis auf die Kontingenz der Welt nicht als ein Argument für die Kontingenz von Begebenheiten, die in der Welt geschehen, mithin für die Freiheit des Menschen, angesehen werden konnte. Auch Kant ist sich dessen bewußt, daß die Deutung der Welt als einer mechanisch geordneten Einheit, kaum noch Platz für die menschliche Freiheit läßt. In seiner vorkritischen Schrift ,,Nova dilucidatio" vertritt er die These: "Wenn alles, was geschieht, nur geschehen kann, wenn es einen vorgängig bestimmenden Grund hat, so folgt, daß alles, was nicht geschieht, auch nicht geschehen kann, weil offenbar kein Grund vorhanden ist, ohne den es doch überhaupt nicht geschehen kann. Weil dies von allen Gründen der Gründe in rückwärtsgehender Ordnung eingeräumt werden muß, folgt: daß alles in natürlicher Verbindung so verkettet und verflochten geschieht, daß, wer das Gegenteil einer Begebenheit oder auch einer freien Handlung wünscht, in seinem Wunsch Unmögliches vorstellt, weil der Grund, der zu seiner Hervorbringung erfordert wird, eben nicht vorhanden ist,,322. Indem Kant von einer Kette der Gründe spricht, in der man rückwärts gehen kann, verwandelt er die mechanische Naturdeutung in eine Ontologie, die auf dem Satz vom zureichenden Grund aufbaut. Was auch geschieht, es hat einen vorgängig bestimmenden Grund (ratio antecedenter deterrninans), warum es geschieht. Es kann also keine Begebenheiten geben, die nicht necessiiert wären. In der KRV wird zwar der ontologische Ansatz kritisch gewendet, die These, daß von allem, was geschieht, zu einem zureichenden Grund, warum es geschieht, zurückzugehen ist, wird aber nicht widerrufen. Für Kant stellt nun der Ansatz Wolffs, d. h. die Übertragung des Kontingenzgedankens von der Welt als ganzer auf solches, das in der Welt geschieht, keine Lösung des Problems der Freiheit dar, wird in ihm doch unterstellt, daß jene moralische Notwendigkeit, die freien Handlungen ihre Bestimmtheit gibt, keine unbedingte Notwendigkeit ist, wodurch sich der Gedanke der Unbestimmtheit in den der Freiheit einträgt. Nach Kant ist in bezug auf solche Taten, die man der Freiheit zusprechen will, nicht anzunehmen, daß sie keine Notwendigkeit hätten, sondern daß der Ursprung ihrer Notwendigkeit ein anderer ist. Darum vertritt er in der 320 321 322

Ebd. § 565. Ebd. § 577. Nov. dil., prop. IX, zitiert nach der Weischedel-Ausgabe, S. 447 ff. (AA Bd. 1, 399).

III. Die Ideen der Vernunft

159

,,Nova dilucidatio" die These, der Begriff der Notwendigkeit sei nicht komparativisch zu verwenden. Statt dessen gelte es, die Notwendigkeit auf ihren Ursprung zu befragen, um von dorther moralische Notwendigkeit und Naturnotwendigkeit unterscheiden zu können. 323 Kant setzt demnach voraus, daß es neben den äußeren auch innere Beweggründe des HandeIns gibt, und daß die inneren Gründe nicht auf äußere, d. h. auf Naturgründe reduziert werden können. In unserem Kontext ist es interessant, daß Kant seinen Gedanken der Freiheit als einer Selbstbestimmung aus inneren Gründen in Analogie setzt zum Schöpfungsgeschehen. Von dem Akt der Weltschöpfung sei vorauszusetzen, daß Gott in ihm mit Bestimmtheit gehandelt hat. Denn der Gedanke eines unbestimmten HandeIns sei mit dem der Göttlichkeit Gottes schlechthin nicht zu vereinbaren. Es muß sich um einen freien Akt handeln, der " durch solche Gründe bestimmt ist, die nicht von einer blinden Wirksamkeit der Natur ausgehen, sondern die Beweggründe seines unendlichen Verstehens einschließen, sofern diese den Willen mit größter Gewißheit lenken,,324. Bestimmend gewesen sein können im Schöpfungsakt demnach nur innere Gründe. In dem Kontext führt Kant dann auch die Unterscheidung ein von Spontaneität als "eine[r] aus einem inneren Grund entsprungene[n] Handlung" und Freiheit als einer in der Spontaneität fundierten Handlung, in der die Vorstellung des unbedingt Guten bestimmend ist. 325 Der Schöpfungsakt ist also zu denken als ein freier Akt, da er keine Bestimmung durch äußere Gründe kennt. Er kann aber nicht verstanden werden als ein Akt, der in seinem Vollzug unbestimmt wäre, sondern nur als ein solcher, der seine Bestimmung von dem Guten, das Gott will, her hat. Die Schöpfungsidee ist nun aber die Idee, von der her jeder Entwurf menschlicher Freiheit zu beurteilen ist. Auch menschliche Freiheit ist nur Freiheit, sofern sie ein bestimmtes Handeln zur Folge hat, d. h. ein Handeln, das vom Willen zum Guten bestimmt ist. Soll solche Freiheit möglich sein, muß nachgewiesen werden, daß der Wille des Menschen aufgrund einer Vorstellung des Guten eine Bestimmung erfahren kann, die ein Handeln aus inneren Gründen, die den äußeren Gründen in ihrer Verbindlichkeit nicht nachzuordnen sind, möglich macht. Darin ist die Problematik der kritisch gewendeten praktischen Philosophie präludiert. In ihr geht es um den Nachweis, daß die Vernunft an sich selbst praktisch sein kann,326 d. h. daß sie den Willen von sich aus zum Guten zu bestimmen vermag, und das, obwohl der Mensch sich selbst als ein durch Naturgründe bestimmtes Wesen gegeben ist. Daraus ist zu folgern, daß für Kant das Handeln nach dem Naturgesetz als auch das Handeln aus Freiheit als ein notwendiges, d. h. gesetzliches in den Ansatz zu Nov. dil., prop. IX (AA Bd. 1,4(0). Nov. dil., prop. IX, zitiert nach Weischedel, S. 453 (AA Bd. 1,4(0). 325 Nov. dil., prop. IX, zitiert nach Weischedel, S. 459 (AA Bd. 1,402). 326 KPV A 3 (AA Bd. 5, 3), A 30 (AA Bd. 5, 15), A 56 (AA Bd. 5, 31), A 72 (AA Bd. 5, 42) u.ö. 323

324

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

bringen ist, und zwar derart, daß eine Reduktion freiheitlichen Handeins auf naturgesetzliches als unmöglich aufzuweisen ist. Es stellt sich dann aber das Problem, inwiefern denn freiheitliches Handeln im Kontext einer durchgängigen Naturgesetzlichkeit möglich sein kann, eine Frage, die Kant mit den Mitteln des vorkritischen Philosophierens nicht zu lösen vermochte. Die Lösung, die er in seiner kritischen Philosophie ausarbeitet, erteilt weder der These von der Kausalgesetzlichkeit der Natur, noch auch dem Glauben an die Freiheit, die streng genommen nur unbedingte Freiheit sein kann, eine Absage, sondern fordert dazu auf, sich bewußt zu machen, daß es möglich ist, Sein einerseits als kausalgesetzlich geordnete Natur anzusehen, andererseits aber damit zu rechnen, daß in dem, was geschieht, Freiheit zum Ausdruck kommt. (3) Von der Möglichkeit des Anfangs

In seiner Besprechung der dritten Antinomie arbeitet Kant eine Lösung des Problems menschlicher Freiheit aus, und zwar auf der Grundlage seines kritischen Ansatzes, demzufolge die Gültigkeit des Naturgesetzes eine Folge dessen ist, daß sich uns das anschaulich Gegebene im Vollzug des Verstehens als Natur erschließt. In unserem Verstehen verknüpft sich uns das Gegebene zu einer Kette von Wirkungen und Wirkursachen. Jede Ursache aber kann auf ihre Ursache hin in Frage gestellt werden. Es ergibt sich also eine Reihe von Ursachen. Wer in ihr zuriickgeht, bewegt sich in einem zumal in der Zeit zuriick. Könnte nun, argumentiert Kant in dem betreffenden Abschnitt der KRV, jede Ursache auf ihre Ursache in Frage gestellt werden, käme man nie an einen Anfang allen Geschehens. Es gäbe zwar eine unendliche Kette von Ursache und höheren Ursachen, nie aber käme man an eine erste Ursache, die keine ihr vorgängige Ursache mehr haben kann. Ohne eine solche könne aber die Faktizität des Geschehenden nicht verstanden werden, greift Kant das Argument der Rationaltheologie auf. Folglich sei die These, daß es sich bei der Naturgesetzlichkeit um die einzig mögliche handelt, in sich widerspriichlich. 327 Also sei eine Ursache anzunehmen, die vermögend ist, "eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist".328 Transzendentale Freiheit ist demnach das Vermögen, von selbst einen Anfang zu setzen. Kant bestimmt sie als das "Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen. ,,329 Danach ist das Anfangen, um das es geht, bezogen auf einen Zustand. Das Selbst bringt sich von sich aus in einen Zustand seiner selbst, d. h. es bestimmt sich in seinem Sein. Eine solche Selbstbestimmung setzt die Unabhängigkeit von den Bestimmungen voraus, die dem Selbst als

328

KRV B 474/ A 446. Ebd.

329

KRV B 473/ A 445. Vg!. Pro!. A 151 f. (AA Bd. 4, 343 f.).

327

III. Die Ideen der Vernunft

161

einem Teil der Natur auferlegt sind. Der negative Begriff der Freiheit als Unabhängigkeit von der Natur führt also zu dem positiven Begriff der Selbstbestimmung oder "absoluten Spontaneität der Ursachen", die Kant auch mit dem Begriff der "transzendentalen Freiheit" benennt,,,330 oder auch der "Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln,,33! hin. An ihrer Möglichkeit ist die Vernunft aus unterschiedlichen Griinden interessiert. Zum einen kann sie ihrem spekulativen Interesse an der Vollendung der Erkenntnis nur dadurch gerecht werden, daß sie von sich aus entwirft, um sich dadurch die Möglichkeit vorzuwerfen, den Rückgang in die Bedingungen in einem Unbedingten zu Ende bringen zu können. Ferner ist der Glaube an das schöpferische Handeln Gottes, sofern es denn nur als ein freies Anfangen aus sich selbst gedacht werden kann, an die genannte Idee geknüpft. Neben dem spekulativen Interesse der Vernunft, nennt Kant das praktische. Die Vernunft als praktische Vernunft ist daran interessiert, den Menschen als ein sich selbst bestimmendes Wesen denken zu können, da sie ansonsten keine Möglichkeit hat, von ihm Rechenschaft für sein Handeln zu fordern. Das aber ist nur möglich, sofern sie den Menschen als ein Wesen ansehen kann, das von sich aus mit sich selbst anfangen kann, mithin frei ist. Insofern griindet sich der praktische Begriff der Freiheit, der den Gedanken der Imputabilität des Menschen zur Folge hat,332 auf den der transzendentalen Freiheit. 333 Nachdem der Mensch ein Wesen ist, das gegen die Annahme Freiheit spricht aber die Einsicht, daß das Unbedingte in der Erfahrung nie angetroffen werden kann, ferner die Tatsache, die Annahme einer Kausalität aus Freiheit die Geschlossenheit der durch das Naturgesetz begriindeten Verknüpfung des Gegebenen destruieren könnte, wodurch "eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung" unmöglich würde. 334 Wird der transzendentalen Freiheit aber eine apriorische Absage erteilt, kann das Denken die Erfahrung niemals zur Vollständigkeit bringen. Denn dann kann keine erste, frei handelnde Ursache gedacht werden, die Reihe selbst könnte nicht als verursacht angesehen werden, würde also in ihrem Dasein fraglich. Von daher gibt es nur die eine Möglichkeit, Freiheit zwar anzunehmen, aber als transzendentale Freiheit zu denken, die nicht Teil der phänomenalen Welt ist, und daher auch nicht die Möglichkeit einheitlicher Erfahrung, die nur auf die Phänomene bezogen sein kann, in Frage stellt. Das macht es erforderlich, eine andere Art der Kausalität anzunehmen, die von der uns bekannten Naturkausalität unterschieden ist. Kant führt sie ein mit dem Begriff der "Kausalität durch Freiheit".335 Freie Kausalität, 330

KRV B 474/ A 446 und B 446/ A.

33! KRV B 561/ A 533. Vgl. u. a. KRV B 476/ A 448. KRV B 561/ A 533: "Es ist überaus merkwürdig, daß auf diese transzendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe". 334 KRV B 478/ A 450. 335 KRV B 589 und B 472/ A 444. 332 333

11 Boh!en

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

merkt er an, sei anzunehmen, auch wenn es unmöglich sein sollte, sie sich verständlich zu machen. Allerdings sei der Begriff der Kausalität aus Freiheit auf die Dinge an sich selbst anzuwenden, der der Naturnotwendigkeit bloß auf Erscheinungen. 336 Kant verlagert dann das Problem von der Frage nach einer ersten Ursache auf die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens. Kann eine erste Ursache angenommen werden, ist es auch möglich, "mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, VOn selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln. ,,337 Zur Veranschaulichung des Gedankens führt Kant paradigmatisch an, daß ein Mensch VOn einem Stuhl aufsteht. Das Aufstehen ist ein empirisch gegebenes Geschehen. Das Subjekt der Handlung, die im Aufstehen vollzogen wird, der Mensch, ist einerseits Teil der empirischen Welt. Als solcher kann er empirische Gründe benennen, die ihn zum Aufstehen bewogen haben. Solche Beweggründe sind vorgängig im Verhältnis zu der Handlung, die geschieht. Entsprechend stellt keine Handlung in einer empirischen Sicht der Dinge einen Anfang schlechthin dar. Dem Subjekt transzendentale Freiheit zuzusprechen, bedeutet nun, die These zu vertreten, das Subjekt sei durch die genannten empirischen Gründe nicht derart bestimmt, daß es ihnen auf alle Fälle zu folgen hat, sondern es könne sich von ihnen befreien, um der Möglichkeit einer Selbstbestimmung willen. Die Frage ist, ob eine solche Möglichkeit der Selbstbestimmung überhaupt gedacht werden kann. Aus dem Paradigma, anhand dessen Kant das Handeln aus Freiheit veranschaulicht, ist zu ersehen, daß der Begriff der Freiheit auf den des Entschlusses bezogen zu denken ist. Der Mensch steht vom Stuhl auf, da er selbst sich dazu entschlossen hat. Im Entschluß zu einer Handlung versetzt sich das Selbst in einen Zustand, der aus dem Entschluß folgt und als solcher nicht Folge VOn solchen Bedingungen ist, die durch die Natur gegeben sind, unbeschadet dessen, daß ein Entschluß als ein Verhalten zu Naturbedingungen gedeutet werden kann. Kant unterstellt also, daß der Mensch sich zu allen empirischen Beweggründen nochmals verhalten kann, und zwar als er selbst. Das Verhalten kann also nicht derart VOn den Gründen bestimmt sein, daß es von ihnen erzwungen wird, SOndern es folgt aus einem Akt der Entscheidung. "Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig VOn der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen. ,,338

336 337 338

Pro!. A 151 (AA Bd. 4, 343). KRV B 477 f. / A 449. KRV B 562/ A 534.

III. Die Ideen der Vernunft

163

(4) Praktische und transzendentale Freiheit An der zitierten Stelle wird dem Menschen die Möglichkeit der Selbstbestimmung zugesprochen. An einer anderen Stelle der KRV vertritt Kant sogar die These, Akte der Freiheit seien durch Erfahrung gegeben. "Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn [ ... ] wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrucke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperative, d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden ...339 Der Mensch wird an der zitierten Stelle begriffen als ein Wesen, das nicht an die Unmittelbarkeit seiner Affekte gebunden ist, da es sich das Ganze seines Lebens vor Augen stellen kann, um dann in Hinsicht auf das Ganze eine vernünftige Wahl zu treffen bezüglich des möglichen HandeIns. Eine analoge Bestimmung des Menschen findet sich in der Abhandlung "Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte". Dort wird das Vermögen des Menschen, seine Wahl in Hinsicht auf das Ganze seines Lebens zu treffen, daran geknüpft, daß in seinem Dasein Zukunft als erschlossene gegeben ist. "Dieses Vermögen, nicht bloß den gegenwärtigen Lebensaugenblick zu genießen, sondern die kommende, oft sehr entfernte, Zeit sich gegenwärtig zu machen, ist das entscheidenste Kennzeichen des menschlichen Vorzuges, um seiner Bestimmung gemäß sich zu entferneten Zwecken vorzubereiten,',340 gibt Kant zu bedenken. Aufgrund der Erschlossenheit von Zukunft ist der Mensch ein Wesen, das zur Wahl von unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten bestimmt ist. Das Wählen von Möglichkeiten, in denen der Mensch entscheidet, wer er ist, ist der Grundvollzug der Praxis. Bestimmend für die Entscheidung, die in einer Wahl getroffen wird, sollte die Vernunft sein, die das Ganze vorstellig macht. Von einer freien Entscheidung in der strengen Bedeutung des Begriffs wird man aber nur dann sprechen können, wenn die Vernunft es dem Menschen ermöglicht, nicht nur den Augenblick der Wahl selbst auf das Ganze des Lebens zu transzendieren, sondern auch das Ganze seines Lebens, seine Lebensart, unabhängig vom Naturgesetz zu bestimmen. Frei in der strengen Bedeutung des Begriffs ist der Mensch nur, sofern er als vernünftiges Wesen selbst entscheiden kann, wer er auf das Ganze gesehen sein will, d. h. welches Grundgesetz er seinem Leben geben will. Ob der Mensch derart frei ist, gilt Kant als "eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, beiseite setzen kön339

KRV B 561 f. / A 533 f.

340

Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte A 9 (AA Bd. Bd. 8, 113).

ll*

164

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

nen.,,341 Kant möchte dadurch nicht sagen, die Frage, ob der Mensch in der Tat frei ist, sei als rein spekulative Frage im Gunde unbedeutend, als gebe es praktische Freiheit auch ohne transzendentale. 342 Gesagt ist lediglich, daß wir uns in der Praxis immer schon als Wesen begreifen, welche die Wahl haben, etwas zu tun oder zu lassen. Das bedeutet aber, daß wir den Standpunkt der Freiheit vorgängig zu unserem Handeln schon eingenommen haben. Wir handeln, als ob wir frei wären. Insofern ist die Frage, ob wir denn frei sind, in der Tat eine spekulative Frage, die in der Praxis bei Seite gestellt wird. Es kann uns als philosophierenden Wesen doch keinesfalls gleichgültig sein, ob wir uns nur für frei halten oder es auch faktisch sind. Insofern enthebt uns der in der Praxis vollzogene Glaube an die eigene Freiheit auch nicht der Frage nach seiner philosophischen Rechtfertigung. (5) Freiheit und Kausalgesetz

Zur Rechtfertigung des Kantischen Ansatzes wird man nochmals auf Kants Affektionstheorie zuriickzugreifen haben, in der das Verhältnis von transzendentalem Gegenstand, und Erscheinungen als ein Kausalverhältnis gedeutet wird. "Denn da diesen [den Erscheinungen], weil sie an sich keine Dinge sind, ein transzendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, daß wir diesem transzendentalen Gegenstande, außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Kausalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird,,343. Die Kausalität, um deren Möglichkeitsnachweis es in der Behandlung der Antinomik der Vernunft geht, wird an der zitierten Stelle jener Eigenschaft des transzendentalen Gegenstandes an die Seite gestellt, "dadurch er erscheint". Das Erscheinen des Gegenstandes selbst ist der Affektionstheorie Kants zufolge als Einwirken auf uns zu denken. Indern wir uns affiziert erfahren, erkennen wir daher den Gegenstand selbst als wirkmächtig an, obwohl wir uns dessen bewußt sind, daß wir über die Art seines Wirkens keine Aussage machen können, da uns nur die Wirkungen in Form der Erscheinungen gegeben sind. "Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d.i. ein Gesetz ihrer Kausalität", konstatiert Kant und fordert, in bezug auf ein Subjekt der Sinnenwelt einerseits einen empirischen Charakter der Kausalität, andererseits einen intelligibelen anzunehmen. "Man könnte den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen. ,,344 KRV B 561 f. / A 533 f. Gegen L. W Beck, Kant's "Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar. Vom Autor überarb. Fassung, übers. von K.-H. Ilting, München 1974, 289, Anm. 40. Abzulehnen ist auch die Deutung von H. E. Allison, nach der die Frage nach der transzendentalen Freiheit insofern beiseite zu setzen ist, als die Idee einer solchen ausreicht, um sich praktisch als frei anzusehen. (H. E. Allison, Kants' Theory ofFreedom, Cambridge, 1990,59-66.). 343 KRV B 566 f. / A 538 f. 344 KRV B 567/ A 539. 341

342

III. Die Ideen der Vernunft

165

Der transzendentale Gegenstand, der für uns nur X ist, sich jedoch einem anderen als unserem diskursiven Verstand zur Einheit der Dinge an sich ordnen könnte, kann demnach als wirkmächtig angesehen werden. Denn in der Erscheinung gibt sich das Ding an sich zu erkennen, und zwar als ein solches, das in seinem Ansieh-sein unerkennbar ist, sich aber in seinen prädikativen Bestimmungen zu erkennen gibt. Da es sich bei diesen um die Modi der Existenz des Dinges selbst handelt, ist das Ding in ihnen wirklich, und als solches wirkt es auf uns ein. Indem nun aber die Dinge an sich auf uns wirken, werden sie uns zur Erscheinung. Derart verwandeln sie sich uns in Natur, wobei wir uns dessen bewußt sein können, daß die Verwandlung keine vollständige ist, da sie das An-sieh-sein der Dinge selbst nicht einbegreift. Dessen bewußt, daß die Wirklichkeit des Gegenstandes selbst, seine Wirkmächtigkeit uns nicht begreiflich werden kann, sehen wir uns dadurch, daß es dennoch möglich ist, sie als gegeben vorauszusetzen, im Stande, grundsätzlich anzunehmen, daß den Dingen an sich eine Ursächlichkeit eignet, die von uns nicht schematisiert, also auch nicht in die Kausalverhältnisse der Natur eingeordnet werden kann. "Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind. Eine solche intelligibele Ursache aber wird in Ansehung ihrer Kausalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen, und so durch andere Erscheinungen bestimmt werden können. Sie ist also samt ihrer Kausalität außer der Reihe; dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden;,,345

In den "Prolegomena" führt Kant den Gedanken nochmals aus: "Ist aber Naturnotwendigkeit bloß auf Erscheinungen bezogen, und Freiheit bloß auf Dinge an sich selbst, so entspringt kein Widerspruch, wenn man gleich beide Arten von Kausalität annimmt, oder zugibt, so schwer oder unmöglich es auch sein möchte, die von der letzteren Art begreiflich zu machen".346

Die Stelle wird gänzlich mißverständlich, sobald man Dinge an sich und Erscheinungen im Sinne einer "Zwei-Welten-Theorie" zu unterschiedlichen Entitäten erklärt. Es geht Kant allein darum nachzuweisen, daß es sich uns, die auf dem Boden der Empirie Sicherheit gefunden haben, nahelegt, die Dinge als Erscheinungen zu betrachten und ihnen dadurch die Gesetze der Natur aufzuerlegen. Es ist aber möglich, die Dinge als solche Erscheinungen zu betrachten, in denen sich die Dinge an sich zu denken geben. In ihrem An-sieh-sein sind die Dinge der Naturnotwendigkeit nicht unterworfen. Entsprechend kann in allem Geschehenden eine Wirkmächtigkeit angenommen werden, die an sich frei ist. 345 KRV B 564 f./ A 536 f. 346 Pro!. A. 151 (AA Bd. 4, 343).

166

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

(6) Das Subjekt transzendentaler Freiheit

Aus unseren Ausführungen ist ersichtlich, daß Kant den Begriff "transzendentale Freiheit" in zweierlei Bedeutungen verwendet347 . Freiheit ist einerseits eine allen Dingen als Dingen an sich zukommende Bestimmung. Denn alle Dinge können einerseits als Erscheinungen betrachtet werden. Dann stellen sie sich von der Anschauungsform Zeit bedingt dar. Als solche bilden sie in ihrer Gesamtheit die Natur, von der aufgrund dessen, daß sie vom Menschen ihre Gesetzesordnung auferlegt bekam, auch als von einer "unfreien,,348 oder "gefesselten Natur" gesprochen werden kann?49 Doch die Dinge können auch als Dinge an sich, d. h. nicht als Erscheinungen, angesehen werden. Dann stellen sie sich nicht als Teile einer in Fesseln gelegten Natur dar, sondern als frei, wobei der Vollzug ihrer Freiheit von uns schlechthin nicht verstanden werden kann. Allerdings ist der Begriff der Freiheit, soll er nicht nur negativ die Freiheit von Fesseln bedeuten, sondern positiv gebraucht werden, mit dem Gedanken vernünftiger Zwecksetzungen verbunden. Freiheit in positiver Bedeutung ist Freiheit zur Setzung von Zwecken, d. h. von solchem, worum es einem Menschen geht oder gehen sollte. Darum kann man von Freiheit in der engeren Bedeutung auch nur bezüglich eines Verstandes sprechen, der vermögend ist, Zwecke zu entwerfen. Entsprechend schränkt Kant den Begriff der transzendentalen Freiheit auf die der intellektuellen Verursachung ein 350 : "Die Idee der Freiheit findet lediglich in dem Verhältnis des Intellectuellen als Ursache zur Erscheinung als Wirkung statt. Daher können wir der Materie in Ansehung ihrer unaufhörlichen Handlung [ ... ] nicht Freiheit beilegen, obschon diese Handlung aus innerem Prinzip geschieht.,,351 Sowohl die Materie in ihrer Gesamtheit als auch die Verstandeswesen, welche Teil der materiellen Welt sind, werden von Kant als von sich aus handelnd, d. h. wirkmächtig gedacht. Das Handeln der Natur aber erfolgt nicht aufgrund intellektueller Selbstbestimmung. Von Freiheit in der engeren Bedeutung kann aber nur gesprochen werden, sofern eine Wirkung, die empirisch gegeben ist, eine intellektuelle Ursache hat. Das ist der Fall, sofern sie Äußerung einer Bestimmung zum Handeln ist, die rein intellektuell erfolgt ist, wobei für Kant die Frage, ob eine rein intellektuelle Willensbestimmung überhaupt möglich ist, in eins fällt mit der Frage, ob es ein Wesen geben kann, das vermögend ist, "von selbst (sponte) anzufangen,,352 oder "einen Zustand von selbst anzufangen,,353. Vg!. dazu schon E. Adickes, Kant und das Ding an sich, 51. KRV BXXVIIf. 349 Vg!. dazu F. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft, 52; ders., Philosophie des Perspektivismus, bes. 17 - 34. 350 Vg!. J. Schmucker, Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft, 326-332. Schmucker beruft sich in seiner Argumentation insb. auf Ref!. 5611-5620 (AA Bd. 18, 252-259). 351 Pro!. A 152, Anm. (AA Bd. 4, 344, Anm.). 352 Pro!. A 152 (AA Bd. 4, 344). 347 348

111. Die Ideen der Vernunft

167

Es wurde beweisen, daß es möglich ist, die Erkenntnis der Dinge als Phaenomena von ihrer Anerkennung als Noumena zu unterscheiden. Auch der Mensch kann sich als noumenon, als Ding an sich ansehen, wodurch er sich von einer materialistischen Auslegung seiner selbst befreit. Das macht es ihm möglich, auch seine Willkür als eine anzusehen, die nicht schlechthin von der Sinnlichkeit ernötigt ist. Da er als reines "Ich denke" seIbst der ermöglichende Grund der Zeitvorstellung ist, existiert er als solches nicht in der Zeit. Folglich kann auch einem Entschluß, der als Akt des "Ich denke" selbst anzusehen ist, keine Stelle in einer als Abfolge gedachten Zeit zugeordnet werden. "Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen. ,,354 Für Kant folgt daraus, daß der Entschluß als ein Akt anzusehen ist, der nicht zu einer bestimmten Zeit anheben kann. "Die Kausalität der Vernunft im intelligibelen Charakter entsteht nicht ,,355 sagt Kant und begründet seine These: "Denn die Bedingung, die in der Vernunft liegt, ist nicht sinnlich, und fängt also selbst nicht an. ,,356 Das hat zur Folge, daß auch das Sprechen von einem Anfang nur daran seinen Anhalt haben kann, daß der vollzogene Entschluß als Entschluß anzusehen ist, der keine Bedingung in der Zeit hat und insofern unbedingt, d. h. unbedingt anfänglich ist. Als Entschluß zu einer Handlung zieht er eine Reihe von Begebenheiten nach sich, die in ihm einen Anfang hat, der aber vom Standpunkt der Empirie nicht als unbedingter Anfang angesehen werden kann, da die Empirie zu solchem nicht vermögend ist. Die zur Ermöglichung von Freiheit anzunehmende Voraussetzung stellt die durchgängige Kausalgesetzlichkeit der Natur nicht in Frage. In einer empirischen Sicht der Dinge, in deren Kontext ein Akt der Entscheidung gar nicht gedacht werden kann, können als Beweggründe nur sinnlich gegebene Antriebe in Frage kommen. Geschieht solches, das nicht von der Sinnlichkeit her begründet werden kann, muß das Geschehen als unerklärlich angesehen werden, ohne daß dadurch auch schon gesagt wäre, daß es prinzipiell unmöglich ist, eine Erklärung ausfindig zu machen. Nur vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus ist es möglich, die Freiheit des Menschen als eines Dings an sich in den Ansatz zur Erklärung des Geschehenden einzubringen, folglich das, was geschieht, als eine Folge dessen zu begreifen, daß ein Mensch sich zu sich selbst und d. h. auch zu seinen sinnlichen Antrieben verhält. Das Problem, vor das Kant das Denken stellt, ist demnach die Einsicht, daß ein kritisches Denken, das den Menschen als "Ich denke" nicht schlechthin von der Natur bestimmt sieht, genötigt ist, mit Ereignissen zu rechnen, deren Bedeutung nicht gedacht werden kann, sofern man im Denken voraussetzt, daß alle Geschehnisse in der Zeit geschehen, wobei Zeit als Abfolge von Zeitabschnitten vorzusteI-

355

KRV B 561/ A 533. KRV B 579/ A 551. Ebd.

356

KRV B 580/ A 552.

353 354

168

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

len ist. Ein Entschluß kann als ein Akt, den ein Selbst von sich aus setzt, nur als ein Ereignis, das nicht in der Zeit geschieht, gedacht werden. "Die reine Vernunft, als ein bloß intelligibles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen", merkt Kant an und fährt fort: "Denn die Bedingung, die in der Vernunft liegt, ist nicht sinnlich, und fängt also selbst nicht an .• .357 Demnach handelt es sich bei den Akten der Freiheit um ein Anfangen des Menschen aus sich selbst, das insofern unbedingt ist, als es von solchem verursacht ist, das schlechthin keine Stelle in der Zeit hat. Der Entschluß selbst ist daher der Zeitfolge nicht unterworfen, obwohl er Wirkungen zeitigt, die in der Zeit greifbar werden. Es ist zu fragen, ob Kants These von der Möglichkeit transzendentaler Freiheit dem naturwissenschaftlichen Denken zu vermitteln ist. In einer rein empirischen Sicht der Dinge können als Beweggründe des Handeins nur sinnlich gegebene Antriebe in Frage kommen. Geschieht solches, das nicht im Rückgang auf Antriebe der Sinnlichkeit begründet werden kann, muß das Geschehen als unerklärlich angesehen werden. Das bedeutet aber nicht, daß eine Erklärung grundsätzlich unmöglich ist. Im Kontext der Empirie kann daher ein freier Akt der Entscheidung zu keiner Zeit in die Sicht kommen. Nur vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie aus ist es möglich, die Freiheit des Menschen als eines Dinges an sich zur Erklärung von solchem, das durch einen Menschen geschieht, einzubringen, folglich das, was geschieht, als eine Folge dessen zu begreifen, daß ein Mensch sich zu sich selbst und d. h. auch zu seinen sinnlichen Antrieben noch einmal verhalten kann. 358 Der Empirist wird sich eine solche Erklärung zwar nicht zu eigen machen können. Sofern er aber Kants These von der Möglichkeit der Absonderung der Zeit von den Dingen an sich zustimmen kann, wird er seine Zustimmung auch einer Erklärung des Geschehenden im Rückgang auf das freie Sich-entschließen des Menschen nicht verweigern können. Kants Aufweis der Möglichkeit der Freiheit beschränkt sich dann auch darauf, eine andere Möglichkeit der Sicht und d. h. der Deutung dessen, was geschieht, zu denken zu geben, und zwar als eine Sicht, mit der man in bezug auf die Deutung des eigenen Lebens rechnen muß. Es geht nicht um den theoretischen Beweis, daß der Mensch frei ist, sondern darum, daß er mit der Möglichkeit rechnen muß, frei zu sein, was zur Folge haben könnte, daß er sich für sein Leben zu rechtfertigen hat. Diese Möglichkeit aber kann nur im Kontext eines Denkens sichtbar werden, das sich mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Absonderung der Zeit von den Dingen an sich auf einen Standpunkt gestellt hat, von dem aus es möglich wird, mit solchen Geschehnissen zu rechnen, die auf dem Fundament der Naturgesetzlichkeit in ihrer Eigenart nicht verständlich gemacht werden können, sondern von sich aus dazu nötigen, zu ihrer Deutung eine andere Form der Gesetzlichkeit in 357 358

1969.

KRV B 579/ A 551. Vgl. dazu auch den Ansatz von B. Weite, Detennination und Freiheit, Frankfurt/M.

III. Die Ideen der Vernunft

169

den Ansatz zu bringen. Dabei kann es keinen Zweifel geben, daß der Naturwissenschaftler seine Deutung des Gegebenen nur vom Standpunkt der Empirie aus vornehmen kann. Folglich kann der Begriff der Freiheit für ihn auch keine Bedeutung bekommen. Er sollte sich aber dessen bewußt sein, daß er dadurch, daß er alles, was geschieht, seiner Forderung nach einer im Naturgesetz fundierten Deutung unterwirft, auch nur in den Grenzen verständlich machen kann, die ihm der empirische Standpunkt vorgibt. Aus der Kantischen Behandlung der Antinomien ergibt sich dann allerdings das Problem, daß eine einzige Begebenheit nun auf unterschiedliche Weisen zu betrachten ist. Zum einen erscheint sie als eine Begebenheit in der Zeitreihe, was es nahelegen würde, nach ihrer Ursache zu fragen und als solche nur eine Ursache als möglich anzusehen, die in der Zeitreihe vorgeordnet ist. Ist die Begebenheit aber als eine Handlung aus Freiheit anzusehen, wird sie nicht verständlich als Wirkung einer Ursache, die ihr in der Zeitreihe vorgeordnet wäre, sondern in ihr setzt ein Wesen, das sich "jenseits" der Zeit selbst bestimmt hat, einen Anfang schlechthin. In bezug darauf vertritt N. Fischer die These, naturgesetzliches Handeln und Handeln aus Freiheit seien dialogisch konstituiert, d. h. er ordnet den Standpunkten, von denen aus eine Deutung von Sein möglich ist, unterschiedliche Sprachspiele ZU. 359 In dem Sprachspiel der Naturwissenschaften gelte es, nach Ursachen zu fragen. Als frei werde ein Mensch angesehen, sofern seine Handlungen nicht auf Ursachen zurückgeführt werden, sondern der Handelnde selbst nach seinen Gründen befragt werde. Daß der standpunktphilosophische Ansatz Kants in der Tat auf die genannte Art zu einer Theorie der Begründung unterschiedlicher Sprachspiele gedeutet werden kann, wurde an anderer Stelle schon deutlich,360 wonach sowohl das schöpferische Handeln Gottes als auch das Anfangen eines Menschen mit sich und aus sich heraus zwar als ein begründetes, nicht aber verursachtes zur Sprache zu bringen sind. Problematisch ist aber die These Fischers, daß es für uns keine Möglichkeit gibt, in einem zumal ein Geschehen sowohl als begründet als auch als verursacht anzusehen, woraus er folgert, daß die Welt einer naturwissenschaftlichen Vernunft nicht als Schöpfung verständlich gemacht werden könne. Sollte das zutreffen, würde auch jedes Gespräch problematisch. Nun ist aber für die naturwissenschaftliche Vernunft, die sich als kritische Vernunft versteht, das Wissen um die Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten, Geschehnisse zu deuten, konstitutiv. Kritisch naturwissenschaftlich zu denken, bedeutet, an jener Grenze zu denken, die nicht dadurch gegeben ist, daß es noch Unerkanntes gibt, sondern dadurch, daß die Art, in der das Erkennbare durchsichtig wird, eine begrenzte ist, die von sich aus auf eine andere Möglichkeit des Sehens verweist, in der in eins mit der Welt als Schöpfung das Handeln des Menschen als freies Handeln angesehen werden kann. 359 N. Fischer; Kann die Theologie der naturwissenschaftlichen Vernunft die Welt als Schöpfung verständlich machen? 70 ff. 360 Vgl. Teil B, Kap. 11.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

4. Die Befreiung vom Naturalismus a) Kants Lösung der vierten Antinomie

aa) Die Möglichkeit transzendentaler Freiheit und der Schöpfungsgedanke Indem der Mensch sich die Möglichkeit transzendentaler Freiheit in die Sicht bringt, spricht er sich die Möglichkeit zu, sein Handeln als Folge einer Selbstbestimmung anzusehen. Im Kontext empirischen Fragens aber kann man nur solche Beweggründe des HandeIns ausfindig machen, die als sinnliche Antriebe verstanden werden können. Daß der Freiheit dennoch keine apriorische Absage zu erteilen ist, ruft der Schöpfungsgedanke in Erinnerung, in dem Gott ein schlechthin anfänglicher Entschluß zugesprochen wird, in dem er sich zu einem Handeln bestimmt, dessen Wirkungen als Sinnenwelt erfahrbar sind. Das schöpferische Handeln Gottes ist von daher als das Grundparadigma freien HandeIns überhaupt zu betrachten. Das hat zur Folge, daß der Mensch, der sich die Möglichkeit, sich als er selbst zum Handeln zu entschließen, auch mit der Möglichkeit zu rechnen hat, daß die Welt durch freien Entschluß geschaffen ist. Und wer an die Schöpfung als eine Möglichkeit nicht glauben kann, der wird auch die Idee transzendentaler Freiheit für ein "Hirngespinst" halten, mithin auch sich selbst nicht als frei ansehen können. "Nur wenn durch eine Handlung etwas anfangen soll, mithin die Wirkung in der Zeitreihe, folglich der Sinnenwelt anzutreffen sein soll (z. B. Anfang der Welt), da erhebt sich die Frage, ob die Kausalität der Ursache selbst auch anfangen müsse, oder, ob die Ursache eine Wirkung anheben könne, ohne daß ihre Kausalität selbst anfängt. Im ersteren Falle ist der Begriff dieser Kausalität ein Begriff der Naturnotwendigkeit, im zweiten der Freiheit. Hieraus wird der Leser ersehen, daß, da ich Freiheit als das Vermögen eine Begebenheit von selbst anzufangen erklärete, ich genau den Begriff traf, der das Problem der Metaphysik ist. ,,361 Wird der Schöpfungsgedanke im Kontext der Kantischen Antinomienbehandlung bedacht, stellt er sich also dar als eine kritische Infragestellung einer rein empirischen Sicht der Dinge und des Menschen und als eine Erinnerung des Menschen an die Möglichkeit der Freiheit, zu der er bestimmt ist. Von daher ist A. Gunkels These zu verstehen, daß die Verlagerung der Fragestellung in der Behandlung des Antinomienproblems von der Frage nach der Freiheit Gottes zur Frage nach der Freiheit des Menschen durch das eigentliche Interesse Kants, nämlich das Interesse an der Freiheit des Menschen, bedingt sei. 362 Daraus ist aber keinesfalls 361 Pro!. A. 152, Anm. (AA Bd. 4, 344, Anm.). Das immanente Handeln Gottes, von dem in der angegebenen Anmerkung die Rede ist, betrifft nicht das Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen, wie Ertl glaubt (W, Ertl, Kants Auflösung der "dritten Antinomie", 117 f.), sondern die göttliche Immanenz. Nach Kant geht jede Spekulation bezüglich der Frage, ob Gott in sich wirkt, d. h. in sich spricht noch ehe er sich schaffend ausspricht, ins Leere. 362 A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, 65.

III. Die Ideen der Vernunft

171

eine Funktionalisierung des Schöpfungsgedankens abzuleiten. 363 Denn daß Kant in der vierten Antinomie auf die Frage nach der Verursachung der Welt, mithin das Schöpfungsproblem, zurückkommt, spricht dafür, daß er nun umgekehrt die als möglich erwiesene menschliche Freiheit als Fundament für den Aufweis der Möglichkeit einer freien Ursächlichkeit, in der die Welt anfängt zu sein, in den Ansatz bringen wird. Allerdings kann der, aufgrund der Möglichkeit transzendentaler Freiheit selbst als möglich anzusehende Schöpfungsgedanke nur problematisch gedacht werden, es sei denn, die menschliche Freiheit kann nicht nur als problematischer Begriff entworfen, sondern als Faktum erfahren werden. Dann würde die faktisch erfahrene Freiheit zu der Erfahrung, in der sich die Möglichkeit anfänglichen Handeins ausweisen und auch der Schöpfungsglaube seine Verwurzelung im Leben erhalten würde.

bb) Das Problem des kosmologischen Gottesbeweises In der vierten Antinomie wendet Kant daher seine Problemstellung zu der Frage nach der Existenz eines schlechthin notwendigen Wesens. Dazu greift er den ersten Schritt in dem von ihm selbst "kosmologischer Gottesbeweis" genannten Gedankengangs auf, in dem "von der zum voraus gegebenen unbedingten Notwendigkeit irgend eines Wesens, auf dessen unbegrenzte Realität" geschlossen wird 364 • Es handelt sich um den Schluß von dem ens necessarium zum ens realissimum, der dem Ausweis des unbedingt notwendigen Wesens (ens necessarium) im Ausgang von dem Bedingten folgt. Dazu wird das Bedingte auf seine Bedingungen in Frage gestellt. Es kommt zu einer Reihe des Bedingten und seiner Bedingungen. Der Gedankengang findet sich u. a. ausgearbeitet in den Wegen des Thomas von Aquin. 365 Er sieht das Seiende, sofern es ist, zwar als notwendig an, doch bedarf es als eines, das auch nicht sein könnte, eines Grundes seiner Notwendigkeit. Für die Reihe der Gründe, von denen her sich das Seiende in der Notwendigkeit seines Seins begründet, aber gilt nach Thomas von Aquin: "Non est autem possibile quod procedatur in infinitum [ ... ],,366. Es wurde gesagt, daß Kant das Postulat des Thomas von Aquin auf das Interesse der Vernunft an der Vollständigkeit der Erkenntnis zurückführt. Die Vernunft selbst macht es dem Verstand zur Vorschrift, den Rückgang in die Bedingungen zu machen, als ob er auf ein erstes Unbedingtes oder NotGegen WErtl, Kants Auflösung der "dritten Antinomie", 250. KRV B 632/ A 604. 365 Thomas von Aquin, S. Th. I, q. 2, a. 3. Zur Deutung vgl. u. a. B. Welte, Religionsphilosophie, hg. von B. Casper und K. KienzIer, Frankfurt 51997, 140-151; A. Wucherer-Huldenfeld, Der dritte Weg des Thomas von Aquin - ein Kontingenzbeweis?, in: ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien 11: Atheismusforschung, Ontologie und philosophische Theologie, Religionsphilosophie, Wien / Köln / Weimar 1997,279-303. 366 Thomas von Aquin, St. Th. I, q. 2, a. 3. 363

364

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

wendiges zuginge, obwohl das Unbedingte in der Reihe der Bedingungen nie angetroffen werden kann. "Die Vernunftidee wird also nur der regressiven Synthesis in der Reihe der Bedingungen eine Regel vorschreiben, nach welcher sie vorn Bedingten, vermittelst aller einander untergeordneten Bedingungen zum Unbedingen fortgeht, obgleich dieses niemals erreicht wird. Denn das Schlechthinunbedingte wird in der Erfahrung gar nicht angetroffen ... 367 Daß das schlechthin Notwendige in der Erfahrung nicht angetroffen wird, mithin auch kein Teil der Reihe der Bedingungen sein kann, hat zur Folge, daß es unmöglich wird zu entscheiden, ob das Unbedingte nur aus subjektiver Notwendigkeit vorausgesetzt wird oder ob ein solches auch existiert. Ein kosmologischer Gottesbeweis ist also nach Kant unmöglich. Dazu kommt noch, daß es den Anschein hat, als sei das Notwendige, das zwar nicht erfahren, dessen Existenz dennoch als subjektiv notwendig, wenn auch nicht beweisbar, angesehen werden kann, als Teil der phänomenalen Welt zu betrachten, da ansonsten unverständlich wäre, inwiefern es das phänomenal Gegebene verursachen könnte. Denkt man also im Ausgang von der Reihe der Bedingungen, stellt sich das schlechthin Notwendige dar als die Bedingung, die den Anfang der Reihe bildet. Das aber ist unmöglich, insofern das Unbedingte dann selbst Teil der Reihe des Bedingten, folglich selbst bedingt wäre. Deshalb muß um der möglichen Vollständigkeit des Rückgangs willen ein schlechthin notwendiges Wesen vorausgesetzt werden, welches aber kein Teil der Reihe sein kann, folglich das Bedingte nur auf eine Art verursacht haben kann, die von empirischer Verursachung gänzlich unterschieden ist.

cc) Die Möglichkeit der Schöpfung Zur Auflösung der Antinomie wendet Kant die genannten Einsichten auf die Frage nach der Abhängigkeit des Seins überhaupt von einem schlechthin notwendigen Wesen an. In der Auflösung der dritten Antinomie ging es darum, Wesen, die Teil der Sinnenwelt sind, eine Kausalität zuzusprechen, die als intelligibel, mithin der Zeit nicht unterworfen, zu denken ist. Nun kommt es darauf an, ein Wesen zu denken, dem eine rein intelligible Kausalität eignet und das selbst kein Teil der Sinnenwelt ist. Dazu unterscheidet Kant nochmals den empirischen von einem transzendentalen Gebrauch der Vernunft. Der empirische Gebrauch der Vernunft hat zur Voraussetzung, daß bezüglich des Strebens nach Erkenntnis nur mit Erscheinungen gerechnet wird. Das hat zur Folge, daß der Rückgang in die Bedingungen von einer Erscheinung zur anderen führt. Ein Abbruch des Fragens könnte nur erfolgen, sofern ein Wesen angetroffen werden könnte, das schlechthin unbedingt wäre. Das aber ist unmöglich. Denn alle Erscheinungen sind aufgrund dessen, daß sie der Anschauungsform Zeit unterworfen sind, nur als bedingte gegeben. 367

KRV B 538/ A 510.

III. Die Ideen der Vernunft

173

Folglich würde ein Abbruch des Fragens einen Sprung aus der Empirie in sich begreifen, der nicht mehr zu rechtfertigen ist, hat man sich einmal auf den Boden der Empirie gestellt. 368 Durchbricht man aber die Grenzen der Empirie umwillen eines transzendentalen Vernunftgebrauchs, hindert nichts daran, ein schlechthin unbedingtes Wesen anzunehmen, von dem man aufgrund der Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit auch annehmen darf, daß in ihm, d. h. in seinem freien Entschluß die Bedingung für die Sinnenwelt als ganze zu sehen ist. Inwiefern aber eine nicht sinnliche, sondern rein intelligible Ursache der Grund der Möglichkeit der Reihe des sinnlich Gegebenen sein kann, ist dadurch noch nicht gesagt. Kant betont, daß der Empirist nicht nur dazu berechtigt, sondern von seinem Interesse an einheitlicher Erfahrung her sogar aufgefordert ist, sich ganz auf den Boden der Empirie zu stellen und danach zu streben, seine Erkenntnisse ohne Ende zu erweitern. Für ihn sollte es weder eine Freiheit geben, die unabhängig von den Naturgesetzen ist, noch auch ein schlechthin notwendiges Wesen, von dem die Welt als ganze abhängig gedacht ist. Insofern ist auch die Ausklammerung des Schöpfungsgedankens aus dem naturwissenschaftlichen Fragen ohne Zweifel berechtigt. Die Einführung des Schöpfungsgedankens in die Naturwissenschaften käme einem Ausbruch aus den Grenzen der empirischen Erfahrung, mithin einem Abbruch des naturwissenschaftlichen Fragens gleich, der allenfalls ein Abbruch auf Zeit sein dürfte. 369 In dem Streben, seine Erkenntnisse unendlich zu erweitern, wird der Empirist voraussetzen, daß er den Rückgang in die Bedingungen als einen unendlichen vor sich hat. Dennoch sollte er sich dessen bewußt sein, daß der Rückgang dadurch zum unendlichen wird, daß die Annahme eines schlechthin Unbedingten als unmöglich vorausgesetzt wird, eine Voraussetzung, die zwar den empirischen Standpunkt als solchen begründet, die aber philosophisch gesehen nicht unbedingt erforderlich ist, sondern sich als eine Begrenzung der Möglichkeiten des Denkens erweist. Diese Begrenzung gilt es insofern kritisch zu überwinden, als sie es unmöglich macht, mit der transzendentalen Freiheit, die im Schöpfungsgedanken zur Frage wird, auch den Menschen als ein freies Wesen in die Sicht zu bringen. An der Freiheit aber ist der Mensch mit Notwendigkeit interessiert, verknüpft sich doch der Begriff des Selbstseins mit dem der Freiheit. Nur sofern der Mensch sich zu sich selbst verhalten kann derart, daß er sich von sich aus solches vorwerfen kann, um das es ihm geht, d. h. sich Zwecke setzen kann, die dann sein Handeln bestimmen, kann er sich auch als Selbst verstehen. Eine solche Selbstauslegung wäre allerdings KRV B 591/ A 563. Ein solcher Abbruch des Fragens ist nach Kant zu rechtfertigen, sofern die Erkenntnis einen Stand erreicht hat, der einem Subjekt in Relation zu seinen Zwecksetzungen hinreichend erscheint. Vgl. J. Simon, Die ethische Dimension des Wissensbegriffs in der europäischen Philosophie, in: Acta Institutionis Phi1osophiae et Aestheticae 15 (1997) 93 - 108, bes. 97. Die Vernunft aber fordert, im Streben nach Erkenntnis nach unbedingter Erkenntnis auszugreifen, von woher jeder Abbruch nur ein Abbruch auf Zeit sein kann. 368 369

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

eine Selbsttäuschung, gingen die Dinge ihren Gang, ohne daß es für den Menschen eine Möglichkeit gäbe, die Geschichte von sich aus zu bestimmen. Kants Behandlung des Antiniomienproblems hat zur Absicht, den Menschen von einem solchen fatalistischen Geschichtsdenken zu befreien, um ihm seine Bestimmung zur Freiheit sichtbar zu machen. Zwar kann man dieser Absicht auch die Befreiung vom Naturalismus zuordnen, doch ist daraus keine einseitige Funktionalisierung des Gottesgedankens zu folgern, ist es doch umgekehrt die Möglichkeit menschlicher Freiheit, von der her man den Schöpfungsgedanken als einen möglichen und auch für den Menschen bedeutsamen ausweisen kann. Will man sich daher nicht auf die Seite derer stellen, für die Kants kritisches Denken nur die Aufforderung in sich begreift, das Erkenntnisstreben auf die Welt der Erscheinungen zu begrenzen und alle anderen Fragestellungen als unwissenschaftlich abtun, wird man doch bezüglich des Sprechens von der Schöpfung stets zu bedenken haben, daß die Geschaffenheit der Welt empirisch nie zu beweisen sein wird. Denn die Empirie ordnet zwar die Erscheinungen zu einer Reihe sukzessiver Bedingungen, aber da die Reihe auf dem Weg der Empirie nie vollständig durchgegangen werden kann, können von dorther auch keine Aussagen über die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Welt von einem schlechthin unbedingten Wesen gemacht werden. Das ist aber in einem zumal auch der Grund, warum empirisch nicht bewiesen werden kann, daß das Sein selbst nicht als geschaffen anzusehen ist. Sollte allerdings die Notwendigkeit des Schöpfungsgedankens auf anderem Wege, dem Weg der Praxis, zu rechtfertigen sein, ist die Abhängigkeit des Geschaffenen vom Schöpfer doch auf alle Fälle anders zu denken als im Kontext einer als Abfolge vorgestellten Zeit. Sie wird daher auch mittels des Herstellungsparadigmas nicht zu veranschaulichen sein. Die Frage ist nur, ob ein anderes Paradigma gefunden werden kann bzw. ob das Paradigma der Sprache, das in der Schrift neben dem des Machens verwandt wird, um den Schöpfungsgedanken zu veranschaulichen,370 philosophisch zu rechtfertigen ist.

b) Eine Welt ohne Anfang? - Zu Kants Auflösung der ersten Antinomie

Mit der Auflösung der ersten Antinomie wird die Lösung des Problems der Freiheit in der Besprechung der Antinomien drei und vier insofern grundgelegt, als in ihr die Frage nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit eines Anfangs der Welt behandelt wird, die in den Antinomien drei und vier zu der Frage nach der Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Verursachung der Welt erweitert wird. Auch in der ersten Antinomie wird das antinomische Wesen der Vernunft in dem Widerspruch von These und Antithese greifbar. Danach widerspricht der These von dem zeitli370 Vgl. A. Deissler; Biblische Schöpfungsgeschichte und physikalische Kosmogonie, in: Vom Anfang der Welt. Wissenschaft, Philosophie, Religion, Mythos, hg. von J. Audretsch und K. Mainzer, München 1989, 176-187, bes. 185.

III. Die Ideen der Vernunft

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chen Anfang der Welt die empiristische Position, nach der die Welt keinen Anfang, d. h. keine Grenze in der Zeit haben kann. Ihr entgegengesetzt ist die These, nach der die Welt einen Anfang in der Zeit hat. 371 Um Kants Auflösung der ersten Antinomie zu verstehen, ist es entscheidend, das von Kant angewandte Verfahren zu beachten. In einem ersten Schritt beweist Kant scheinbar sowohl These als auch Antithese, und zwar dadurch, daß er ihre Gegensätze widerlegt. Danach muß die Welt einen Anfang haben, da es unmöglich ist, Welt anfangslos zu denken. Bewiesen werden kann aber auch, daß die Welt keinen Anfang haben kann, da es unmöglich ist, einen Anfang der Zeit zu denken. Die Beweise sind haltbar, Kant selbst verbürgt sich für ihre Richtigkeie n . Daß es problematisch ist, den Anfang zu denken, ist unmittelbar einsichtig, verknüpft sich der Gedanke doch mit dem einer "leeren Zeit" vor aller Zeit. Eine solche "leere Zeit" aber ist ein "Unding" und kann daher nicht gedacht werden. 373 Das Problem ergibt sich allerdings nur, sofern der Anfang als eine Zeitgrenze angesetzt ist, was insofern problematisch ist, als Begrenzung nur bei Begrenzbarem gegeben sein kann. Die Welt aber ist uns zu keinem Zeitpunkt als eine begrenzte gegeben, sie gibt sich uns nur als eine unendliche Anzahl möglicher Zustände, der eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände korreliert. Andererseits ist es auch nicht möglich, dem Gedanken des Anfangs als einem nicht notwendigen eine Absage zu erteilen. Hätte die Welt keinen Anfang, wäre zu einem gegebenen Zeitpunkt "eine unendliche Reihe auf einander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen,,374. Dann würde ein Rückgang in der Reihe der aufeinanderfolgenden Zustände der Dinge in der Welt nicht nur ins Unbestimmte (in indefinitum) gehen, sondern in der Tat ins Unendliche (in infinitum). Das hätte zur Folge, daß es einen Zustand, in dem die Reihe selbst als Abfolge von Zuständen anfängt, nicht geben könnte. Mithin könnte es auch die Reihe nicht geben. Denn ,,[e]s wird nach der Idee der Vernunft die ganze verlaufene Zeit als Bedingung des gegebenen Augenblicks notwendig als gegeben gedacht. ,,375 Mit dem Begriff des Anfangs höbe sich auch der der Zeit selbst auf. Darin käme es aber auch zur Destruktion des Horizontes, in dem der Regreß möglich ist. Um des Regresses selbst willen ist also anzunehmen, daß der Regreß in indefinitum, nicht jedoch in infinitum gehe 76 , daß also die Welt nicht unendlich ist. Nun betont Kant aber, daß aus dem Satz "Die Welt ist nicht unendlich" nicht auf deren Endlichkeit zu schließen sei. Denn in dem Satz ,,Die Welt ist endlich" werde "mehr" gesagt als zum Widerspruch nötig sei, es werde eine endliche Welt behaup371 372

373 374 375 376

KRV B 454 f. / A 426. Pro!. A 146 (AA Bd. 4, 340). Vgl. KRV B 461/ A 433. KRV B 456/ A 428. KRV B 439/ A 412. Vg!. KRV B 538 f./ A 510 f.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

tet. 377 Der Begriff der Endlichkeit besagt insofern "mehr" als nur den Ausschluß der Unendlichkeit als er den der Begrenzung in sich begreift. Der Gedanke der Grenze aber ist auf den der Totalität nicht anwendbar, wirft er doch notwendig die Frage auf nach dem, was denn jenseits der Grenze gedacht werden kann. In den "Prolegomena" unterläuft Kant die Frage, inwiefern Welt denn als unbegrenzt und doch nicht unendlich gedacht werden kann dadurch, daß er sowohl These als auch Antithese als "falsch" bezeichnet. Sie seien falsch aufgrund der in ihr gegebenen Voraussetzung. Sie ist darin zu sehen, daß mit der Frage nach dem Anfang als zeitlicher Grenze eine Frage an den Weltbegriff herangetragen wird, die an sich nur bezogen auf Begrenzbares gestellt werden kann. Begrenzbar oder bestimmbar aber ist nur, was sich in der Zeit gibt, welche als transzendentale Anschauungsform die Bedingungen der Möglichkeit von Bestimmung überhaupt ist. Die Grundeinsicht teilt Kant auch in seiner Vorlesung über Rationaltheologie mit: "Wo lieget die Ursache dieses dialektischen Scheines? Darin, daß ich eine bloße Form der Sinnlichkeit, eine bloße Formbedingung, ein Phänomenon, nämlich die Zeit, für eine Bestimmung des mundi noumenon ansehe. Alle Erscheinungen sind freilich nur Begebenheiten in der Zeit; aber wenn ich die Actuation der Substanzen selbst, die das Substratum aller Erscheinungen, und folglich auch meiner sinnlichen Vorstellung sind, ebenfalls unter die Regel der Zeit bringen will, so begehe ich einen auffallenden Irrthum, eine !lE'[aßa(JL~ EL~ ano YEVO~. 378 Für die Schöpfungstheologie kann das nur bedeuten, daß das Sprechen vom Anfang als ein nicht auf Noumena bezogenes Sprechen - soll es nicht ganz ausgeklammert werden - streng analog zu erfolgen hat als Verweis darauf, daß die Dinge an sich zwar abhängig sind, die Art ihrer Abhängigkeit aber nicht gedacht werden kann. Insbesondere kann keine Entscheidung darüber getroffen werden, auf welche Art die Aktuierung der Dinge an sich geschehen ist, da es für uns schlechthin unmöglich ist, Akte zu denken, die nicht zeitlich strukturiert sind, das Schöpfungsgeschehen aber nur ein solcher Akt sein kann. Daß es dennoch nicht in sich widersprüchlich ist, solche Akte anzunehmen, erweist sich in den Akten unserer Freiheit. Auch sie sind keine zeitlich strukturierten Akte, sofern man Zeit nur als Abfolge von Zeiteinheiten vorstellt. In einer derart vorgestellten Zeit haben die Akte unserer Freiheit keine Stelle. Nur durch den Übergang zu einer anderen Zeitvorstellung, der Vorstellung der sich ekstatisch zeitigenden Zeit ist es möglich, auch die Akte der Freiheit als zeitliche Akte zu denken. Ihre Zeitigung kann uns dann zum Anhalt werden für ein Sprechen von der Möglichkeit der Schöpfung. Heidegger knüpft die ekstatische Zeitigung der Zeitlichkeit des Dasein an den Augenblick. 379 Im Gefolge Heideggers geht man daher auch in der Theologie dazu über, den Augenblick als den Gegensatz zu der ablau-

377 378 379

Fortschritte A 191(AA Bd. 20, 328). AA Bd. 28,2, 1103 f. M. Heidegger, Sein und Zeit, 328, 385 u.ö.

III. Die Ideen der Vernunft

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fenden Zeit zu denken. 38o Der Augenblick wird dadurch zu einer "zeitlosen Zeit,,381 und als solcher zu der Zeit Gottes, des Schöpfers. Den zeitlosen Augenblick als die Zeit denken, in der Schöpfung geschieht, wird man aber nur können, sofern der Augenblick als ein Zeit konstituierender zu begreifen ist. Das ist mit Kant nicht möglich. Eine solche Möglichkeit kommt aber mit der Phänomenologie in die Sicht, insofern sie die Zeitigung der ekstatischen Zeit als das Geschehen begreift, in dem Zeit als horizontale Zeit erbildet wird. Die Bildung horizontaler Zeit, d. h. die Erbildung von Welt im Dasein des Subjektes, würde dann zum Analogon jener Weltbildung, die sich als Schöpfungsakt zu denken gibt. Schöpfungstheologisch interessant wird dadurch dann aber die Frage, ob denn Akte der Freiheit, in denen die Erbildung von Welt anfänglich geschieht, in unseren Lebensvollzügen, der Praxis unseres Lebens, überhaupt auszumachen sind, Akte, die unserem Sprechen von Schöpfung eine Stelle im Leben, mithin auch Lebensbedeutsamkeit geben können.

5. Das transzendentale Ideal a) Die Abgründigkeit der Vernunft

Kants Deutung der Vernunftideen als regulativer Ideen, die den Verstand in die Unendlichkeit des Fragens nötigen, hat Folgen für den Aufweis Gottes im Ausgang von der Erfahrung der Bedingtheit alles Seienden. Ist uns das Unbedingte zwar aufgegeben, nie aber als solches gegeben, erweist sich der Rückgang in die Bedingungen auf das Unbedingte zu als einer, der nur durch einen Sprung zur Vollendung zu bringen ist,382 der zwar insofern vollzogen werden kann, als ein transzendentaler Gebrauch der Kategorien möglich ist, der aber keine Erkenntnis erbringen kann, da die Kategorien, werden sie nicht schematisiert, für uns leere Begriffe sind. Das dürfte der Grund sein für die kritische Haltung der Theologie zu Kants Transzendentalphilosophie, dachte man doch, Kant destruiere die Gottesbeweise auf eine Art, die es unmöglich mache, den Gottesgedanken überhaupt noch als einen vernünftigen auszuweisen. Dabei wurde die Absicht, mit der Kant in der KRV seine Destruktion der Gottesbeweise ausarbeitet, nicht erkannt. Es geht Kant nicht darum, aller rationalen Theologie eine Absage zu erteilen, sondern darum, sichtbar zu machen, daß es für die Vernunft schlechthin keinen Ausweg gibt, auf dem sie sich von ihrer Abgriindigkeit befreien könnte. 383 Sie ist darin begriindet, daß die Vernunft einerseits Ideen entwirft, die nicht konkretisiert werden können, was zur Folge hat, daß man sich ihrer nicht vergewissern kann, daß sie aber andererseits Vgl. H. J. Sander, Das Wort vom Anfang, 174 f. Vgl. U. Lüke, "Als Anfang schuf Gott ... , 108 spricht von dessen "zeitloser Tiefe", ohne selbst zu fragen, inwiefern denn die zeitlose Tiefe der Zeit die Zeit selbst konstituieren kann. 382 KRV B 665/ A 637. 383 N. Fischer, Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 103-121. 380 381

12

Bohlen

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

dennoch nicht umhin kann, die Ideen als notwendig für den Verstandesgebrauch, mithin für das Streben nach sicherer Erkenntnis anzusehen. Selbst im Denken Gottes, der doch als der Urgrund anzusehen ist, kann sich die Vernunft ihrer selbst nicht sicher werden. Denn, gibt Kant in der KRV zu bedenken, der Gedanke sei kaum zu ertragen, daß das Wesen, welches wir als das höchste unter allen möglichen vorstellen, da es sich selbst als tragenden Grund aller Dinge begreifen kann, sich selber fragt, woher es denn sei. 384 Und doch wird der, der die regressive Synthesis vollzieht, zu der Frage vorstoßen. Indem Kant nachweist, daß die Vernunft sogar im Denken des Unbedingten keinen sicheren Boden für ihr Gebäude finden kann, gibt er zu bedenken, daß das Denken sich selbst nur abgründig gründen kann dadurch, daß es Ideen, unter ihnen die Gottesidee, entwirft, um sich in ihnen als vernünftiges Denken zu begründen, ohne die Problematik, von der die Ideen bestimmt sind, beseitigen zu können. "Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Frager aller Dinge, so unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft,,385. Die angeführte Stelle kann als Beweis dafiir gelten, daß Kants Destruktion der Gottesbeweise in der KRV keinen anderen als den Zweck hat, der Vernunft sichtbar zu machen, daß es keinen Ausweg gibt, auf dem sie sich von ihrer Abgründigkeit befreien könnte. Die Erfahrung der Abgründigkeit der Vernunft aber ist die fundamentale Grundeinsicht des kritischen Denkens, das sich als theoretisches nicht in sich gründen kann und daher auf die Praxis verwiesen ist. 386 Von daher scheint es uns auch unmöglich, die Gottesbeweiskritik der KRV nur von dessen vorkritischen Schriften her zu interpretieren, unbeschadet dessen, daß sich sowohl die Grundgedanken seiner Kritik an den Gottesbeweisen als auch Vorgriffe auf das transzendentale Ideal schon in seinen frühen Schriften, u. a. in der Abhandlung "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (BG) von 1763 und den Metaphysikvorlesungen der 60er und 70er Jahre finden 387 . Dennoch bestimmt der Rückgriff auf die vorkritischen Schriften Kants zur Zeit die Art, in der die katholische Theologie auf den kritischen Gottesgedanken Kants zugeht. Von daher ist es ratsam, auch auf das vorkritische Denken Kants einzugehen, ohne dadurch aber die These vertreten zu wollen, der Gottesgedanke Kants könne aus seiner kritischen Philosophie gelöst werden.

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385

KRV B 641/ A 613. KRV B 641/ A 613.

Vgl. N. Fischer; Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 119. Zu den Metaphysikvorlesungen vgl. R. Theis, Neuer Wein in alten Schläuchen. Kants Behandlung der rationalen Theologie in seinen Vorlesungen über Metaphysik aus den 60er und 70er Jahren, in: Königsberger Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhundert, begründet und hg. von J. Kohnen. Frankfurt u. a. 1994, 127 -159. 386 387

III. Die Ideen der Vernunft

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Unter Berufung auf die Forschungen J. Schmuckers 388 glaubt insbesondere G. B. Sala die These vertreten zu können, die Behandlung der Gottesfrage in der Transzendentalen Dialektik der KRV könne ,,[ ... ] ohne Rückgriff auf die vorhergehende Transzendentale Analytik verstanden werden [ ... ],,389, da ihr genuines Interpretament in der frühen Kritik Kants an der Rationaltheologie seiner Zeit zu finden sei. Dadurch wird einer Auslegung der KRV das Wort geredet, in der die Transzendentale Dialektik von der Transzendentalen Analytik abgespalten wird. Eine solche Spaltung begreift in sich die Scheidung der erkenntnistheoretischen Konzeption Kants, die eine kritische Grundlegung der Naturwissenschaften ermöglichen sollte, von seinen theologischen Interessen, die sich in der Frage verdichten, ob Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Wurde bis in die Anfänge unseres Jahrhunderts die Abspaltung der Transzendentalen Analytik von der Transzendentalen Dialektik primär zu dem Zweck vollzogen, die theologischen Fragen Kants marginalisieren zu können, um einer rein erkenntnistheoretischen Interpretation der KRV willen, konnte Heimsoeth nachweisen, daß sich die erkenntnistheoretische Problematik in der Frage nach der Erkennbarkeit Gottes derart verdichtet, daß es unmöglich ist, in einer Auslegung der KRV von der Transzendentalen Dialektik abzusehen. 39o Im Gefolge Heimsoeths kam es dann zu jenen Auslegungen der KRV, die in ihr primär eine Schrift zur Grundlegung der Metaphysik sahen, deren theologische Fragestellungen nicht ausgeklammert werden können. Interessiert an den Gottesgedanken Kants wandte man sich nun auch den geschichtlichen Bedingungen seines religionsphilosophischen Ansatzes zu. Neben den theologischen Wurzeln seines Denkens galt das Interesse auch den vorkritischen Schriften, von denen her man sich seinen kritischen Gottesgedanken verständlich zu machen bestrebt war. In dem Kontext kam es dann, nun um der Möglichkeit einer rein theologischen Kantdeutung willen, erneut zur Abspaltung der Transzendentalen Dialektik von der Transzendentalen Analytik, die auch von Sala vertreten wird. Sie widerspricht aber nicht nur der Systematik der KRV, in der Analytik und Dialektik zu einem Gedankengang gefügt sind, ohne daß eine der beiden Teile als marginal ausgewiesen würde, sondern steht auch in deutlichem Kontrast zu der Frage, an der sich Kant schon in seinen vorkritischen Schriften interessiert zeigt, nämlich der Frage, ob es gerade in Anbetracht der Naturwissenschaften und ihrer Erkenntnisse noch möglich ist, von Gott als dem Schöpfer der Welt zu sprechen. Uns erscheint es schon von daher unmöglich, erkenntnistheoretische und theologische Interessen Kants zu scheiden. Statt dessen kommt es uns darauf an, 388 J. Schmucker, Die Gottesbeweise beim vorkritischen Kant, in: Kantstudien 54 (1963), 445-463; Ders., Kants vorkritische Kritik der Gottesbeweise. Ein Schlüssel zur Interpretation des theologischen Hauptstückes der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft, Wiesbaden 1983. 389 G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin I New York 1990 (Kantstudien - Ergänzungsheft 122), 11. 390 H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, . Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1966 - 1971.

12*

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

sichtbar zu machen, auf welche Art Kant den Schöpfungsgedanken in Anbetracht der Naturwissenschaften seiner Zeit noch rechtfertigen zu können glaubte. Wir greifen darin die Frage, die Kant vorn Anfang seines Philosophierens an bewegte, auf.

b) Die Frage nach der Möglichkeit von Schöpfung in den vorkritischen Schriften Kants

aa) Kants Problematisierung des Gottesbegriffs "causa sui" Unbeschadet unserer kritischen Anfragen konnten Schmucker und Sala doch nachweisen, daß die Anfänge des Kantischen Philosophierens von der Gottesfrage bestimmt sind. Kant problematisiert insbesondere die Deutung Gottes als der causa sui, in der sich die Vernunft, dem Gedankengang der KRV zufolge von ihrer Abgründigkeit freizusprechen sucht. Schon in der 1755 erschienenen Habilitationsschrift "Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio" kritisiert Kant den Gottesbegriff causa sui als in sich widersprüchlich. "Quoniam vero causae notio natura sit prior notione causati, et haec iIla posterior: idem se ipso prius simulque posterius essit, quod est absurdum,,391. Die Widersprüchlichkeit ergibt sich demnach für Kant aus der temporalen Auslegung des Verhältnisses der Kausalität, die von ihm als eine mit dem Begriff der causa sui notwendig verknüpfte vorausgesetzt wird. Danach kann das Bewirkende nur als das im Verhältnis zum Bewirkten Frühere gedacht werden, was zur Folge hat, daß unter dem Begriff der causa sui solches zu verstehen ist, was zu einer Zeit sowohl früher als auch später ist als es selbst. Daß ein solcher Gedanke widersprüchlich ist, versteht sich. 392 In der Metaphysikvorlesung, die Herder in den Jahren 1762 bis 1764 verfolgen konnte, findet sich eine analoge Argumentation: "Kein Ding hat in sich seinen Grund. Ein Grund ist quo posito, ponitur aliud. Grund und Folge müssen also alia seyn. - Denn wären sie aber dasselbe. Folglich hat kein Ding den Grund in sich. Ein Ding welches den Grund in sich haben soll, hat gar keinen Grund, und von dieser Art ist Gott. Dieser ist keine Folge von etwas anderem. Er hat auch nicht den Grund in sich, folglich ist er ganz ohne Grund...393

Nov. dil., prop. VI (AA Bd. 1,394). Nach Schmucker greift Kant Descartes Gottesbegriff mit der Begründung an, es handele sich um einen konstruktiven Begriff, dessen objektive Bedeutung fraglich sei (l. Schmucker, Kants vorkritische Kritik der Gottesbeweise, 27 mit Bezug auf BG A 191 f. (AA Bd. 2, 156) und KRV A 603). Daß es sich um einen konstruktiven Begriff handelt, schließt aber dessen objektive Gültigkeit nicht aus. Vgl. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, 56 f. Allerdings ist die Deutung des ens realissimum als ens necessarium, sofern es als causa sui verstanden wird, in sich widersprüchlich, kann also unmöglich objektiv gültig sein. 393 AA Bd. 28,1, 13 -14. 391

392

III. Die Ideen der Vernunft

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Gott kann nach Kant nicht als causa sui begriffen werden, da er schlechthin grundlos existiert. Darin kommt Kant durchaus mit der scholastischen Theologie überein, für welche die Existenz Gottes nur eine sein kann, die keines Grundes bedarf. 394 Ferner verwendet Kant ebenfalls in Übereinstimmung mit dem Ansatz der Scholastik den Begriff causa sui als eine Formel der Freiheit, die für ihn sowohl als göttliche als auch menschliche in Frage steht. Der Mensch ist frei, sofern er sich selbst willentlich zum Handeln bestimmen kann. Nur dann ist er Grund seiner selbst. Auch das Schöpfungshandeln Gottes kann, soll es überhaupt angenommen werden, nur als ein freies Handeln gedacht werden. Solches Handeln ist zu verstehen als Äußerung eines Willens, dessen Bestimmung als schlechthin ursprünglich anzusehen ist und als solche nicht nochmals auf eine als ratio antecedenter determinans in den Ansatz zu bringende Wirkursache hintergangen werden kann. Das Problem, vor das der Name causa sui, den es Kant zufolge als Gottesnamen zu verwerfen gilt, das Denken stellt, ist also die Frage nach den Grenzen der Anwendbarkeit des Kausalitätsprinzips, durch deren Lösung eine Entscheidung darüber zu treffen ist, ob schlechthin ursprüngliches, d. h. freies Handeln überhaupt denkbar ist, für welches das schöpferische Handeln als paradigmatisch angesehen werden kann.

bb) Weltbaumeister oder Weltenschöpfer Sowohl die frühe Schrift "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" von 1755 als auch die Abhandlung "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" von 1763 beweisen, daß sich bei Kant von Anfang an naturwissenschaftliche mit theologischen und metaphysischen Fragestellungen verknüpfen. Die Frage, ob denn die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer mit der Mechanik Newtons vereinbar sei, war nicht nur Gegenstand des Briefwechsels zwischen Leibniz und dem Newtonianer Clarke?95 Auch Kant hat in seiner Abhandlung von 1755 dazu Stellung genommen und einen eigenen schöpfungstheologischen Entwurf vorgelegt. 396 Angeregt durch Newton deutet Kant dort die Welt als eine Ordnung, in der alle Bewegungen nach mechanischen Gesetzen erfolgen. Daß es überhaupt Bewegung in der Welt gibt, konnte sich Newton allerdings nur dadurch erklären, daß Gott im 394 Zu dem Gottesbegriff causa sui ausführlich: B. Casper; Der Gottesbegriff "ens causa sui", in: Philos. Jahrbuch 76 (1968/69) 315-331. 395 Der Leibniz-Clarke-Briefwechsel, hg. von V. Schü11er, Berlin 1991. 396 Zur frühen Schöpfungstheologie Kants vgl.: H.-G. Redmann, Gott und Welt. Die Schöpfungstheologie der vorkritischen Periode Kants, Göttingen 1962. Zur Theologie in den vorkritischen Schriften Kants vgl. neben den Anm. 386 f. genannten Schriften von Schmukker und SaIa insbesondere: R. Theis, Gott. Untersuchungen zur Entwicklung des theologischen Diskurses in Kants Schriften zur theoretischen Philosophie bis hin zum Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft. Stuttgartl Bad Cannstadt, 1994.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Anfang alles in Bewegung versetzt hat. Im Gegensatz dazu ist Kant bestrebt, auch den Anfang der Bewegung rein naturwissenschaftlich durch mechanische Gesetze verständlich zu machen. Kant nimmt an, der Anfangszustand der Welt könne als eine Streuung von Materie mit unterschiedlicher Dichte gedacht werden. Die der Materie eigenen Attraktionskräfte bedingen bei einer solchen Streuung von sich aus Bewegung, die die Konstitution einer Ordnung ermöglicht. Kants Theorie des Anfangszustandes der Welt, durch die er auch in die Geschichte der Naturwissenschaften einging, ermöglicht also eine Erklärung der Ordnung der Welt allein durch die der Materie inhärierenden Kräfte. Kant formuliert seinen eigenen naturwissenschaftlichen Standpunkt in einem Imperativ: "Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll. Denn wenn Materie vorhanden ist, welche mit einer wesentlichen Attraktionskraft begabt ist, so ist es nicht schwer, diejenigen Ursachen zu bestimmen, die zu der Einrichtung des Weltsystems, im Großen betrachtet, haben beitragen können,,397. Die eigentliche naturwissenschaftliche Bedeutung der frühen Schrift Kants begründet sich nicht so sehr durch das Modell einer anfänglichen Streuung der Materie, als aus der Tatsache, daß Kant dort dazu auffordert, eine rein naturwissenschaftliche Erklärung der Welt und ihrer Ordnung anzustreben, in der die Möglichkeit eines unmittelbaren Eingreifens Gottes in das Weltgeschehen ausgeklammert wird. Dabei ist für uns interessant, daß Kant sein Bestreben nicht naturwissenschaftlich, sondern theologisch begründet. Kant entfaltet den Argumentationsgang seiner Schrift von 1755 in Abgrenzung zu der Physikotheologie seiner Zeit. Für sie hat der Schöpfungsgedanke sein Fundament in der Erfahrung der Schönheit von Natur, welche die Vernunft dadurch anerkennt, daß sie sich genötigt erfährt, das Seiende im Ganzen als zweckmäßig angeordnet zu beurteilen. Da Zweckmäßigkeit auf einen Zwecke setzenden Verstand verweist, sieht sich die Physikotheologie berechtigt, die Schönheit der Natur als Beweis dafür anzuführen, daß es einen Urheber geben müsse, der die Welt seinem Verstand entsprechend angeordnet habe. Noch in der "Kritik der reinen Vernunft" bringt Kant seine Achtung vor dem physikotheologischen Gottesbeweis zur Sprache: "Er ist der älteste, kläreste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene,,398. Dennoch hält Kant den physikotheologischen Gottesbeweis nicht für einen Beweis in der strengen Bedeutung des Begriffs. Um die Unmöglichkeit auch des physikotheologischen Beweises sichtbar zu machen, weist Kant seiner frühen Schrift "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" darauf hin, daß die Physikotheologen voraussetzen, die Ordnung, d. h. Zweckmäßigkeit der Welt komme ihr nicht mit Notwendigkeit zu. Nur dann, glauben sie, könne man von der Zweckmäßigkeit der Welt auf einen Zwecke setzenden Verstand schließen. Kant selbst gibt die Ansicht der von ihm auch "Verteidiger der Religion" genannten Physikotheologen wieder: "Wenn der Weltbau mit 397 398

AN A XXXIIIf. (AA Bd. 1,230). KRV B 651/ A 623.

III. Die Ideen der Vernunft

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aller Ordnung und Schönheit nur eine Wirkung der ihren allgemeinen Bewegungsgesetzen überlassenen Materie ist, [.. :] so ist der Beweis des göttlichen Urhebers, den man aus dem Anblicke der Schönheit des Weltgebäudes ziehet, völlig entkräftet, die Natur ist sich selbst genugsam, die göttliche Regierung ist unnötig, Epikur lebt mitten im Christenturne wieder auf, [ ... ]"399. Um von der Zweckmäßigkeit der Ordnung des Weltbaus auf einen Zwecke setzenden Verstand schließen zu können, glaubt der Physikotheologe, voraussetzen zu müssen, daß die Zweckmäßigkeit nicht in der Materie begründet sein kann. Denn nur sofern die Materie aus sich keine Ordnung schaffen kann, bedarf es eines Verstandes, der ordnend eingreift. Der Beweis ist also fundiert in einer Scheidung der Materialität des Seins von dessen formaler Ordnung. Um die Annahme einer göttlichen Regierung der Welt zu bekräftigen, führt Kant aus, verweise man seitens der Physikotheologie darauf, daß die Durchsetzung der gottgewollten Ordnung es erforderlich mache, daß Gott zu Zeiten korrigierend in das Weltgeschehen eingreife. Wird aber auch nur in einem Fall ein Eingreifen Gottes in den Gang der Geschichte angenommen, wird nach Kant im Grunde genommen die ganze Natur in ein Wunder verwandelt. "Es wird in der Tat alsdenn keine Natur mehr sein; es wird nur ein Gott in der Maschine die Veränderungen der Welt hervor bringen,,4oo. Dabei ist der Gott in der Maschine, d. h. der im Weltgeschehen immanent tätig gedachte Gott, für Kant nicht der eigentlich göttliche Gott. Denn, argumentiert Kant, der physikotheologische Gottesbeweis und, deutlicher noch, die These von der Notwendigkeit eines Eingreifens Gottes in das Weltgeschehen hat die mit dem Form-Materie-Schema verbundene Annahme zur Voraussetzung, daß die Materialität des Seins der formgebenden Schöpferkraft Gottes widerstreitet, was zur Folge hat, daß die Allmacht Gottes nicht mehr streng gedacht werden kann. Denn "was für einen Begriff wird man sich von einer Gottheit machen können, welcher die allgemeinen Naturgesetze nur durch eine Art von Zwange gehorchen und an und für sich dessen weisesten Entwürfen widerstreiten?"401 Ist Gott aber allmächtig, kann das Geschaffene seinem Ordnungs willen nicht widerstreiten. Entsprechend ist auch nicht zu verstehen, warum Gott in das Weltgeschehen korrigierend eingreifen sollte. Jeder Eingriff könnte nur als Infragestellung seiner Allmacht beurteilt werden. In der KRV greift Kant den Gedanken nochmals auf. Der physikotheologische Gottesbeweis könne nur einen" Weltbaumeister, der durch die Tauglichkeit des Stoffs, den er bearbeitet, immer sehr eingeschränkt wäre, aber nicht einen Weltschöpfer, dessen Idee alles unterworfen ist, dartun [ ... ]"402. Soll daher die Problematik des physikotheologischen Beweises einerseits umgangen, andererseits aber wider die These von einer "Allgenugsamkeit der Natur", d. h. ihrer Unabhängigkeit von Gott, am Schöpfungsgedanken festgehalten werden, 399 400

401 402

AN A XIf. (AA Bd. 1,222). AN A 146 (AA Bd. 1,333). AN A 147 (AA Bd. 1,333). KRV B 655/ A627.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

ist es nach Kant erforderlich anzunehmen, daß die formgebenden Kräfte der Materie selbst eingeschaffen sind. Dadurch wird es möglich, die Ordnung des Weltbaus naturwissenschaftlich zu erklären, ohne dadurch auch die Abhängigkeit der Welt von Gott, ihre Geschaffenheit, zu leugnen. Von daher sieht Kant sich genötigt, Schöpfung als das Geschehen zu denken, in dem Gott die von ihm selbst in eins mit den ihr inhärierenden Kräften geschaffene Materie an sich selbst freigibt. "Und daher kann man mit gutem Grunde setzen, daß die Anordnung und Einrichtung der Weltgebäude, aus dem Vorrate des erschaffenen Naturstoffes, in einer Folge der Zeit, nach und nach geschehe; allein die Grundmaterie selber, deren Eigenschaften und Kräfte allen Veränderungen zum Grunde liegen, ist eine unmittelbare Folge des göttlichen Daseins,,403. Die Welt geht danach ihren Gang, allein bestimmt durch die Gesetze, die der Materie inhärieren. Dennoch ist die Natur nicht "sich selbst genugsam". Denn sie ist abhängig von jenem Verstand, der den Naturstoff derart erschaffen hat, daß die Natur sich nicht anders denn zweckmäßig ordnen konnte. Insbesondere die Einheit der Natur beurteilt Kant als Beweis für einen göttlichen Urheber der Materie und der ihr eigenen Kräfte. In ihr werde sichtbar, "daß ihre wesentlichen Eigenschaften keine unabhängige Notwendigkeit haben können; sondern daß sie ihren Ursprung in einem einzigen Verstande, als dem Grunde und der Quelle aller Wesen, haben müssen,,404. Der Schluß von der zweckmäßigen Ordnung der Natur auf einen Zwecke setzenden Verstand ist also berechtigt. "Der eine Schluß ist ganz richtig: Wenn in der Verfassung der Welt Ordnung und Schönheit hervorleuchten: so ist ein Gott. Allein der andere ist nicht weniger gegriindet: Wenn diese Ordnung aus allgemeinen Naturgesetzen hat herfließen können: so ist die ganze Natur notwendig eine Wirkung der höchsten Weisheit. ,,405 Kant grenzt sodann seinen Gedanken streng von jener Grundhaltung ab, die sich für ihn mit dem Namen Epikurs verbindet. Dem Epikureismus zufolge werde die Natur durch den Zufall, d. h. durch ein "blindes Schicksal" regiert. Im Gegensatz dazu betont Kant, in der Natur gebe es keine Zufalle. Denn in ihr geschehe alles nach notwendigen Gesetzen, welche die Natur dazu bestimmen, alles zweckmäßig anzuordnen. Gerade in ihrer Notwendigkeit griinden die Naturgesetze in Gott. Als solche sind sie "kein selbständiges, und ohne Gott notwendiges, Principium,,406. Fragt man sich, warum Kant seinen theologischen Ansatz streng von dem Epikureismus unterscheidet, gibt sich zu denken, daß der Epikureismus eine Form des Fatalismus ist. Regiert in der Welt nur der Zufall, kann auch der Mensch sich nur als einen solchen betrachten. Ist der Mensch aber nur ein Zufall in der Geschichte, 403 404 405 406

AN A AN A AN A AN A

107 (AA Bd. 147 (AA Bd. 168 (AA Bd. 145 (AA Bd.

1,310). 1,333). 1,346). 1,332).

III. Die Ideen der Vernunft

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die von sich aus ihren Gang geht, wird es für den Menschen unmöglich, sich in seiner Existenz als gerechtfertigt anzusehen. Auch sein Handeln könnte er nur noch als zufällig betrachten. Gibt es keinen, der ihn als ihn selbst will, kommt es auch nicht darauf an, daß der Mensch als er selbst handelt und danach fragt, ob sein Handeln zu rechtfertigen ist. Als eine Form des Fatalismus hebt der Epikureismus die Verantwortung des Menschen auf. Darum grenzt sich Kant streng vom Epikureismus ab, worin Kants kritische Philosophie, welche um der Rettung der Freiheit und mit ihr der Imputabilität des Menschen willen entworfen wurde, präludiert ist. 407

cc) Der Realgrund aller Möglichkeiten Soll die Allmacht Gottes überhaupt als unbedingte gedacht werden können, ist Kants Abhandlung aus dem Jahr 1755 zufolge vorauszusetzen, daß Gott nicht nur die Materie geschaffen, sondern ihr auch die Gesetze eingeschaffen hat, nach denen sich das Weltgebäude ordnet, und zwar mit einer Notwendigkeit. Nur dann ist es nach Kant auch möglich, die Ordnung des Weltgebäudes in ihrer Zweckmäßigkeit als Verweis auf einen Verstand zu deuten, in dem alle Zweckmäßigkeit begründet ist. Kants Ansatz wirft allerdings die Frage auf, inwiefern denn Schöpfung als ein Geschehen gedacht werden kann, in dem mit der Schaffung der Materialität auch die Möglichkeit zu deren Ordnung begründet wird, was zu Folge hat, daß die wirklich existierende Welt als eine Verwirklichung der von Gott geschaffenen Möglichkeiten anzusehen ist. Dazu merkt Kant in der betreffenden Schrift an: "Also ist ein Wesen aller Wesen, ein unendlicher Verstand und selbständige Weisheit vorhanden, daraus die Natur, auch sogar ihrer Möglichkeit nach, in dem ganzen Inbegriffe der Bestimmungen, ihren Ursprung ziehet,,408. Kant spricht sich darin für einen Gottesbegriff aus, in dem Gott als der Grund nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch der Möglichkeit der Welt gedacht wird. 409 407 Vgl. dazu D. Sturma. Autonomie und Kontingenz. Kants nicht-reduktionistische Theorie des moralischen Selbst, in: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, hg. von G. Funke, Bonn 1991,573-587. 408 AN A 148 (AA Bd. 1,334). 409 Es ist offensichtlich, daß Kant dadurch die philosophische Auslegung des Schöpfungsgedankens durch Leibniz kritisiert. Nach Leibniz. Theodizee 111, § 335, "ist Gott keineswegs der Schöpfer der Wesenheiten, solange diese bloße Möglichkeiten sind" (G. W Leibniz. Theodizee [Essais de theodicee sur la bonte de Dieu. la liberte d l'homrne et l'origine du mal, dt.l, übers. von A. Buchenau, Hamburg 2 1968). Gott wählt im Schöpfungsgeschehen aus einer unendlichen Anzahl möglicher Welten eine aus, um sie zu verwirklichen. Seine Macht beschränkt sich in einem solchen Konzept auf das Vermögen der Wahl. die zur Voraussetzung hat, daß es eine unendliche Anzahl möglicher Welten gibt. Ob Gott in seiner Wahl nicht aufgrund einer solchen Voraussetzung derart begrenzt ist, daß von Allmacht nicht gesprochen werden kann, wäre eigens zu fragen.

186

B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

In seiner Abhandlung "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" von 1763 arbeitet Kant nun einen Gottesbegriff aus, in dem Gott als der Grund der Möglichkeiten gedacht wird. Von ihm ausgehend, legt Kant jenen Beweis für das Dasein Gottes vor, den er angesichts der naturwissenschaftlichen Einsicht in die Naturgesetzlichkeit, welche ein Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen als von Grund auf fraglich erweist, für den einzig noch möglichen hielt. Kants Frage nach dem einzig möglichen Beweisgrund für das Dasein Gottes begreift in sich eine Absage an den ontologischen Gottesbeweis, dessen Gedankengang von Anselm grundgelegt wurde410 und der in gewandelter Form von Descartes, aber auch von Leibniz und Spinoza vertreten wurde. 411 In der Ausarbeitung des ontologischen Gottesbeweises durch Descartes, Leibniz und Spinoza geht es darum, aus dem Begriff Gottes auf die Notwendigkeit seiner Existenz zu schließen. Dazu wird ein Gottesbegriff in den Ansatz gebracht, in dem Gott als das vollkommenste Wesen gedacht wird, d. h. das Wesen, das alle möglichen prädikativen Bestimmungen in sich begreift (ens realissimum). Voraussetzend, daß auch die Existenz eine prädikative Bestimmung ist, argumentiert man, Gott müsse mit Notwendigkeit existieren, da er sonst nicht der wäre, als der er gedacht wird. In der Formulierung Kants lautet das Argument: "Ein metaphysisch allervollkommenstes Wesen muß notwendig existieren, denn wenn es nicht existierte, so würde ihm eine Vollkommenheit, nämlich die Existenz fehlen.,,412 Dagegen wendet Kant in der Abhandlung von 1763, seiner Gottesbeweiskritik in der KRV vorgreifend, ein: "Das Dasein ist gar kein Prädikat. ,,413 Ist aber "Dasein" keine prädikative Bestimmung, durch die ein Seiendes als das, was es ist, zur Bestimmung gebracht werden könnte, ist auch der ontologische Gottesbeweis unmöglich, baut er doch auf der Voraussetzung auf, daß Dasein oder Existenz als eine prädikative Bestimmung in den Ansatz gebracht wird. Nach Kant kann der ontologische Aufweis Gottes als des ens realissimum daher nicht als Beweis für dessen Existenz gelten, sondern allenfalls als eine Explikation dessen, was der Name "Gott" dem zu denken gibt, der seine Existenz glaubend voraussetzt. Folglich sieht er sich in der Abhandlung von 1763 aufgefordert, den Beweisgrund sichtbar zu machen, von dem aus das Dasein Gottes noch aufgewiesen werden könnte. Nach Kant kann die Existenz Gottes als des ens realissimum nur als bewiesen gelten, sofern seine Nichtexistenz nicht einmal zu denken möglich iSt. 414 Der Beweis nimmt seinen Ausgang von der Gesamtheit der Möglichkeiten aller Dinge. 410 Anselrn von Canterbury, Proslogion, in: ders., Opera ornnia, Bd. I, hg. F. S. Schmitt, Stuttgart-Bad Canstatt 1984, 89-123. 411 Vgl. D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960. 412 Fortschritte A 127 f. (AA Bd. 20, 303). 413 BG A 4 (AA Bd. 2, 72), vgl. KRV B 626/ A 598. 414 Nov. dil. prop. VI (AA Bd. 1,394) und AA Bd. 28,1, 55.

111. Die Ideen der Vernunft

187

Kant unterscheidet das Formalprinzip des Möglichen von dessen Materialprinzip. Formal ist eine Möglichkeit gegeben, sofern ein Begriff nicht in sich widerspriichlich ist. Material ist eine Möglichkeit gegeben, sofern in einern Begriff ein realer Gehalt gedacht wird. Wird ein Ding also seiner Möglichkeit nach gedacht, wird ein realer Gehalt gedacht. Das ist nach Kant nur möglich, sofern der Gesamtheit denkbarer Gehalte Realitäten entsprechen, die sich uns zu denken geben. Nur dann hat unser Denken Anhalt am materialiter Seienden selbst. Gäbe es kein materialiter Seiendes, gäbe es keine Data, welche denkbar wären. Es gäbe dann weder reale noch ideale Gehalte, folglich wäre es unmöglich, überhaupt zu denken, insofern Denken stets auf zu denkende Gehalte aus ist. ,,[ ... ] also wenn alles Dasein verneinet wird, so wird auch alle Möglichkeit aufgehoben. Mithin ist schlechterdings unmöglich, daß gar nichts existiere.,,415 Folglich kann nach Kant als bewiesen gelten, "daß die Materialgehalte des Möglichen notwendig existieren müssen, damit sie unserem Denken als objektive Realgehalte zur Bildung unserer Möglichkeitsbegriffe gegeben sein können.,,416 Soll es Möglichkeiten und mit ihnen Denkbares geben, kann es nicht sein, daß alles Dasein, d. h. alles wirklich Existierende aufgehoben wird. Insbesondere die Wirklichkeit, mit deren Aufhebung auch alle anderen Möglichkeiten aufgehoben würden, muß mit Notwendigkeit existieren. Nun würde die Aufhebung des Realgrundes aller Möglichkeiten alle Möglichkeiten aufheben. Also muß der Realgrund mit Notwendigkeit existieren, d. h. in Wirklichkeit sein. "Alle Möglichkeit setzet etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklichkeit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde.,,417 Nach Kant stellt die Aufhebung des Möglichen eine Unmöglichkeit dar. Sala hat dazu kritisch angefragt, woran die These, daß es Mögliches gebe, ihren Anhalt finde. Voraussetzend, daß es sich bei der Erkenntnis, daß uns Möglichkeiten zu denken gegeben sind, um eine aposteriorische Erkenntnis handelt, hat er die These vertreten, der Gottesbeweis im Ausgang vom Gegebensein der Möglichkeiten sei als aposteriorischer Beweis zu beurteilen418 . Dagegen ist aber einzuwenden, daß der Ausgang vorn Möglichen mit dem Ausgang vom Vollzug des Denkens selbst eins ist. Sofern überhaupt gedacht wird, werden Gehalte gedacht. Insofern ist der Beweisgrund, von dem aus Kant das Dasein Gottes aufweisen will, das Denken in seiner formalen Struktur. Sofern Denken als Denken von Gehalten vollzogen wird, muß in ihm solches vorausgesetzt werden, von dem her das Denken seinen Realitätsbezug bekommt. Dem wird Kant auch in der KRV dadurch gerecht werden, daß 415

BG A 20 (AA Bd. 2, 79).

416

J. Schmucker, Die Ontotheologie des vorkritischen Kant, Berlin 1980 (Kant-Studien

Ergänzungshefte Bd. 112) 22. 417 BG A 29 (AA Bd. 2, 83). Vgl. Nov. dil. prop VII (AA Bd. 1, 395 f.): "Es gibt ein Seiendes, dessen Dasein selbst seiner eigenen und aller Dinge Möglichkeit vorangeht, das demnach als unbedingt notwendig daseiend bezeichnet werden kann. Es wird Gott genannt." 418 G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, 124.

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

er den transzendentalen Gegenstand als die Voraussetzung, in der die Erkenntnis ihr materiales Fundament hat, einführt. Anders als in der KRV, in der die Einheit der transzendentalen Ideen nicht zur Ausarbeitung kommt, geht er aber in den vorkritischen Schriften davon aus, daß die Materie als eine anzusehen ist, die eines Realgrundes bedarf, aus dem sie folgt. "Weil das notwendige Wesen den letzten Realgrund aller anderen Möglichkeiten enthält, so wird ein jedes andere Ding nur möglich sein, in so fern es durch ihn als einen Grund gegeben iSt.,,419 Nun kann ein Ding auf unterschiedliche Art durch anderes begründet sein, entweder indem es sich zu seinem Grund als eine Bestimmung verhält oder auch indem es aus ihm folgt. Anders als der Bestimmung eines Dinges, kommt der Folge ein eigenes substantielles Dasein zu. Kant führt die unterschiedlichen Möglichkeiten an: "Da die Data zu aller Möglichkeit in ihm anzutreffen sein müssen, entweder als Bestimmungen desselben, oder als Folgen, die durch ihn als den ersten Realgrund gegeben sein, so sieht man, daß alle Realität auf die eine oder andere Art durch ihn begriffen sei.,,42o Dadurch gibt Kant unterschiedliche Möglichkeiten vor, das Verhältnis Gottes zu den Dingen zu denken. Die Dinge, die sich in ihrer Gesamtheit als Natur zu erkennen geben, könnten attributive Bestimmungen Gottes sein, in denen Gott selbst seine Existenz zum Vollzug bringt. Eine solche Deutung des Verhältnisses von Gott und Natur findet sich bei Spinoza. Dem Pantheismus Spinozas zufolge, stellt sich das Verhältnis Gottes zu den Dingen dar als Verhältnis der einen Substanz zu den ihr inhärierenden Akzidentien, wobei der Existenzvollzug der Substanz in ihren Akzidentien sichtbar wird. Daraus folgt, daß alle Ereignisse, die in der Natur stattfinden, als Existenzvollzüge der einen göttlichen Substanz zu begreifen sind. Kant führt dazu aus: "Weil die realitaet, die in allen Dingen theilweise angetroffen wird, in Gott zusammengedacht wird, so entspringt daraus der spinozism: daß alle Dinge Gott inhäriren, weil ihr Wesen nur als theil seines Wesens wesentlich iSt.,,421 Der Unterschied von Gott und Natur und mit ihm auch der Unterschied von Gott und Mensch, sofern der Mensch Teil der Natur ist, wird dadurch aufgehoben, wodurch eine Vergöttlichung des Menschen grundgelegt wird, gegen die sich Kant nicht zuletzt um der Ethik willen wendet. Entsprechend fordert er sich in der KRV selbst zu einem strengen Sprachgebrauch auf. Das Verhältnis der Realitäten zum Inbegriff des Realen sei nicht das der Teile zum Ganzen, sondern das der Folgen zum Grund422 . Eine ausführliche Begründung, warum das transzendentale Ideal als Realgrund zu denken ist, arbeitet Kant in der KRV nicht aus. Allerdings findet sich eine Begründung in der Reflexion 3889, in der Kant nochmals darauf abhebt, daß ,,[d]ie höchste realitaet [ ... ] nicht darin [besteht], daß al419 BG A 29 (AA Bd. 2, 83). 420

BG A 34 (AA Bd. 2, 85).

421 Refl. 6404 (AA Bd. 18, 706). Vgl. G. B. Sala. Kant und die Frage nach Gott, 249; J.

Schmucker; Kants vorkritische Kritik, 71 f. 422 KRV B 607/ A 579.

III. Die Ideen der Vernunft

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les in ihr sey, sondern durch ihr [=sie] als einern grund"423. Als Begründung führt Kant an, daß die höchste Realität (summum ens) selbst als Bedingung der Möglichkeit der Einschränkungen, durch die alle anderen Realitäten ihre Bestimmung erfahren, selbst nicht eingeschränkt werden kann. Das Unbeschränkbare aber kann nicht durch Synthese des Beschränkten konstituiert werden, sondern hat vor allem Beschränkten ontologische Priorität. Dadurch ist das Verhältnis Gottes zu den Dingen als das eines Grundes zu seinen Folgen bestimmt, wodurch es möglich ist, den Folgen aufgrund ihres eigenen substantiellen Seins eine Selbständigkeit zuzusprechen, ohne sie dadurch auch als "allgenugsam", da in sich selbst gründend, zu betrachten. Kant sieht die Möglichkeit als gegeben an, die Einheit der Natur dadurch zu begründen, daß er sie als gegründet in dem einen Realgrund aller Möglichkeiten denkt. Daß der Grund der Möglichkeit aller Dinge einer ist, der nur als in sich einheitlicher gedacht werden kann, wird demnach greifbar in der Natur, die insofern eine einheitliche ist, als in ihr alles zweckmäßig angeordnet ist. Ihre Zweckmäßigkeit beweist nach Kant, daß "die innere Möglichkeit der Materie selbst, nämlich die Data und das Reale, was diesem Denklichen zum Grunde liegt, nicht unabhängig oder vor sich selbst gegeben sei; sondern durch irgend ein Principium, in welchem das Mannigfaltige Einheit, und das Verschiedene Verknüpfung bekommt, gesetzt sei, [ ... ]"424. In dem Kontext greift Kant dann seine Kritik an der Physikotheologie seiner Zeit nochmals auf. Auch in der Schrift von 1763 besteht er darauf, daß die Ordnung der Natur auf die Gesetze der Materie hin zu erklären sei. Die Materie ist demnach das zu verwirklichende und sich verwirklichende Mögliche. Die Physikotheologie aber glaubt nur unter der Voraussetzung, daß es unmöglich sei, alle Anordnungen in der Natur naturwissenschaftlich zu erklären, von Gott sprechen zu können. Derart sei sie fundiert in einem theologischen Vorurteil, das "den Faulen einen Vorzug vor dem unermüdeten Forscher giebt durch den Vorwand der Andacht und der billigen Unterwerfung unter den großen Urheber, in dessen Erkenntniß sich alle Weisheit vereinbaren muß. ,,425 Der Abbruch naturwissenschaftlichen Fragens ist für Kant also keinesfalls ein frommes Verhalten, sondern Frömmelei, die sich unter dem Vorwand andächtigen Staunens des Fragen enthebt, in dem allein es auch zu einem eigentlichen, d. h. vor der Vernunft zu rechtfertigenden Gottesbegriff kommen kann. Die kritisierte Physikotheologie sei nur eine Art "feinerer Atheismus", "nach welchem Gott im eigentlichen Verstande als ein Werkmeister und nicht als ein Schöpfer der Welt, der zwar die Materie geordnet und geformet, nicht aber hervorgebracht und erschaffen hat, angesehen werde.,,426

423 424 425 426

Refl. 3889 (AA Bd 17, 328). BG A 66 (AA Bd. 2, 100). BG A 109 (AA Bd. 2,119). BG A 116 (AA Bd. 2, 122 f.).

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Im Fortgang des Gedankens entwirft Kant dann das Modell einer zweifachen Abhängigkeit der Dinge von ihrem Realgrund. Dazu unterscheidet er moralische und unmoralische Abhängigkeit. Die Abhängigkeit der inneren Möglichkeit der Dinge von ihrem Realgrund ist eine unmoralische Abhängigkeit. Denn sie folgt nicht aus einem Akt des Willens, sondern ist im Wesen Gottes selbst begründet. Gott begreift in sich selbst die innere Möglichkeit der Dinge. Da er nicht anders kann als sich selbst und d. h. die Möglichkeit der Dinge zu wollen, will er auch, daß das Mögliche sei. Derart gibt er ihm auch die Möglichkeit, sich zu verwirklichen. Daß die Dinge nur sind, da Gott sie als solche gewollt hat, sind sie moralisch abhängig von ihm. Ihre moralische Abhängigkeit aber ist fundiert in einer unmoralischen. Theologisch folgt daraus, daß das Geschehen der Schöpfung selbst ein zweifaches ist, insofern sich Gott, der Inbegriff des Möglichen, das Mögliche vorwerfen muß, um es wollen und als gewolltes verwirklichen zu können. Dabei macht Kant schon in der Schrift von 1763 darauf aufmerksam, es sei schlechterdings unmöglich einzusehen, wie ein Wesen in sich den Grund der Möglichkeit anderer Dinge enthalten könne. 427 Zwar trägt die Annahme der Unterscheidung von moralischer und unmoralischer Abhängigkeit eine Scheidung in das Wesen Gottes selbst ein. Denn sie geht davon aus, daß die Naturordnung, die "selbst in der Möglichkeit der Dinge [liegt],,428, nur insofern vom Willen Gottes abhängig ist, als Gott nur das von ihm und durch ihn Begründete wollen kann. Daß er aber die Ordnung der Natur begründet, ist keine Frage des Willens, sondern durch sein Wesen gegeben. Doch nur im Kontext einer solchen Theorie kann die Allmacht Gottes und mit ihr seine "Allgenugsamkeit" recht gedacht werden. Dazu kritisiert Kant den Ansatz von Leibniz, dem zufolge die innere Möglichkeit der Dinge der Natur "für sich unabhängig und ohne einen fremden Grund sei,,429 und besteht darauf, daß die Natur auch bezüglich ihrer inneren Möglichkeiten kein an sich unabhängiges Prinzip darstelle. Ihre Abhängigkeit ist aber nicht auf den Willen, sondern das Wesen Gottes bezogen. In bezug darauf hat Kant schon in einem Fragment von 1753 "Über den Optimismus" die These vertreten, Leibniz setze dadurch, daß er Gottes Schöpfungshandeln als einen Akt der Wahl des zu Verwirklichenden aus der unendlichen Anzahl des Möglichen denke, ein "ewiges Schicksal", von dem auch Gott im Schöpfungsgeschehen abhängig sei. Dem Prinzip "ewiges Schicksal" setzt nun Kant das "Wesen Gottes" entgegen, von dem er das Sein, sowohl seiner Möglichkeit als auch Wirklichkeit nach abhängig denkt. Und es ist unmittelbar einsichtig, daß allein von einer Welt, die nur von Gott abhängig ist, auch angenommen werden darf, daß sie auf eine Art "gut" genannt werden kann, die keine Komparation kennt. Mit der Unterscheidung von moralischer und unmoralischer Abhängigkeit der Weltordnung dringt der Gedanke einer doppelten Verursachung der Welt in die 427 428 429

BG A 184 (AA Bd. 2, 153.). BG A 73 (AA Bd. 2, 103). BG A 93 (AA Bd. 2, ll2).

III. Die Ideen der Vernunft

191

Schöpfungskonzeption ein. Gott ist einerseits Ursache der Welt, sofern er als der Realgrund alle Möglichkeiten in sich, d. h. in seinem Wesen, begreift. Er ist andererseits Ursache der Welt, sofern er durch freien Entschluß die in ihm begriffenen Wesenheiten aktualisiert.

dd) Vom Realgrund aller Möglichkeiten zum transzendentalen Ideal Nach der Veröffentlichung der Abhandlung "Der einzig mögliche Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes" von 1762 begann jene Wandlung in Kants Denken, die zur kritischen Philosophie führte. Der Gottesbeweis von 1763 geht aus von dem Begriff des Möglichen. Der Begriff des Möglichen, dessen Realität mit dessen Materialität eins ist, kann aber nur in Abhängigkeit von der Erfahrung entworfen werden, setzt er doch die Erfahrung des Denkens von realen Gehalten voraus, zu dem ein Mensch nur aufgrund dessen bewogen werden kann, daß er sich affiziert erfahrt. "Das reale der möglichkeit ist zugleich das materiale derselben, und unser Begrif von demselben erstrekt sich so weit wie das einfache unserer Empfindungen [ ... ]", merkt Kant dazu in Reflexion 3756 an. 430 Die durch Erfahrung vermittelten Materialgehalte der Möglichkeiten sind begrenzte Realitäten. Als solche sind sie durch ihre Schranken bestimmt. Einschränkung wiederum ist nur möglich aufgrund des Unbeschränkten. "Alle negationes sind Schranken. Die Schranken überhaupt sind nur möglich durchs unbeschränkte. Demnach ist das Unbeschränkte das, wodurch alles andre möglich iSt.,,431 Die Einschränkung, durch die eine begrenzte Realität zur Bestimmung kommt, ist zum einen als eine Eingrenzung der an sich unbegrenzten Anschauungsformen zu denken. Aus ihr geht das zu Bestimmende als eines, das in der Zeit ein noch Unbestimmtes ist, hervor, das nicht nur dadurch zur Bestimmung zu bringen ist, daß ihm eine bestimmte Stelle in der Zeit zugesprochen wird, sondern das auch auf seine Sachhaltigkeit zu befragen ist. Als solches stellt es sich dar als eine begrenzte realitas, die ihre Bestimmung zu bekommen hat durch die Einschränkung eines Inbegriffs von Realität. Das ist der Standpunkt, von dem aus der Entwurf der Lehre vom tranzendentalen Ideal der KRV erfolgt. Die Annahme eines unbegrenzten Realitätsgrundes stellt sich in ihrem Kontext dar als eine Bedingung der Möglichkeit unseres Verstehens von Dingen als sachhaltig bestimmten Dingen. Als solche hat das transzendentale Ideal nur subjektive Gültigkeit; "von rationalen sätzen können wir nur durch Analysin subjectivam gründe geben. e.g. Von dem Satz, daß ein Wesen nothwendig existire, weil nemlich unsere Gedanken von einer Möglichkeit ohne alle Wirklichkeit [widersprechend] nichtig sind, indem alle Möglichkeit von etwas wirklichem muß geborgt werden".432 Entsprechend kritisiert Kant nun auch seinen eigenen, 430 431 432

Refl. 3756 (AA Bd. 17,284). Refl. 3811 (AA Bd 17,300 f.). Refl. 3931 (AA Bd. 17, 353).

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

vorkritischen Gottesbeweis. Er könne nicht die objektive, sondern nur die subjektive Notwendigkeit der Annahme des Daseins Gottes beweisen. Es sei die Natur der menschlichen Vernunft, die dazu nötige, ein Wesen anzunehmen, das der Grund von allem Möglichen ist, weil ansonsten keine Erkenntnis möglich sei 433 . Daraus ist zu ersehen, daß der vorkritische Begriff des Realgrundes aller Möglichkeiten zum transzendentalen Ideal verwandelt seine Stelle im kritischen Denken Kants bekommt. Sala, für den die vorkritische Destruktion der Gottesbeweise das Interpretament auch für die kritische Rationaltheologie Kants ist, streitet ab, daß der transzendentale Idealismus der KRV für die Verwandlung des Kantischen Gottesgedankens bedeutsam ist. 434 Doch es ist offensichtlich, daß der Rückgriff auf den vorkritischen Gottesbegriff in der KRV nur insofern möglich ist, als der Gedanke eines Wesens, das alle Realität in sich begriindet, als eine Idee der Vernunft aufgewiesen werden kann, deren Notwendigkeit daraus abzuleiten ist, daß der Verstand einer solchen Idee bedarf, um sich als widerspruchsfreies Denken begreifen zu können. Seinen Ansatz eines Aufweises der Funktionalität des Verstandes im Ausgang von den Urteilsfunktionen folgend, führt Kant den Gottesgedanken in der KRVein im Ausgang vom disjunktiven Urteil. Das disjunktive Urteil ist insofern die Grundlage aller systematischen Erkenntnis, als in ihm der Zuspruch eines Prädikats, der umwillen der Bestimmung eines Gegenstandes erfolgt, verknüpft ist mit dem Absprechen des entgegengesetzten Prädikats. Könnte ein Gegenstand sowohl Aals auch -A sein, wäre es möglich, daß solches existiert, das in sich selbst widerspriichlich ist. Soll es aber vernünftiges Denken überhaupt geben, ist das Widerspruchsprinzip als dessen Grundgesetz anzusehen. Folglich ist vorauszusetzen, daß kein Gegenstand Bestimmungen aufweisen darf, die einander widersprechen oder im Widerspruch zum Ganzen der Erkenntnis stehen. Im disjunktiven Urteil kommt also die grundlegende Voraussetzung unseres Denkens als eines systematischen, mithin wissenschaftlichen zur Sprache. Mit Baumgarten vertritt nun Kant die These, auf alle Individualbegriffe sei das Prinzip der durchgängigen Bestimmung anzuwenden435 . Da das Existierende nur das individuell Seiende sein könne, sei davon auszugeben, daß alles Existierende ontologisch durchgängig bestimmt sei. Insofern ist die durchgängige Bestimmbarkeit eines Seienden die Bedingung seiner Realmöglichkeit. 436 Allerdings widerspricht Kant Baumgarten in bezug auf dessen Ansicht, aus der Möglichkeit einer durchgängigen Bestimmung eines Gegenstandes könne auch auf dessen Existenz AA Bd. 28, 2, 1034 G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, 230. 435 Vgl. A.G. Baumgarten, Metaphysica, 7. Aufl., reprographischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1779, Hildesheim 1963, §§ 54 f. und 307 f. Baumgarten sieht das Individuationskriterium als Existenzkriterium an. Das ermöglicht ihm die Durchführung eines ontologischen Gottesbeweises, vgl. dazu ebd. § 818. 436 KRV B 599/ A 571 f. 433 434

III. Die Ideen der Vernunft

193

geschlossen werden. Sein, so Kant, kann nicht zur realen, d. h. materialen Bestimmung eines Gegenstandes angeführt werden. "Sein ist offenbar kein reales Prädikat".437 Entsprechend kann ein Gegenstand materialiter durchgängig bestimmt sein, ohne daß dadurch schon eine Entscheidung bezüglich seiner Existenz getroffen wäre. Folglich ist es unmöglich, aus einem der Begriffe "ornnitudo realitatis" oder "ens realissimum" auf die Existenz eines Wesens zu schließen, das alle möglichen Bestimmungen in sich begreift. Der ontologische Gottesbeweis ist kein Beweis in der strengen Bedeutung des Begriffs. Dennoch ist der Begriff der "omnitudo realitatis", anders als der in sich widersprüchliche Begriff der "causa sui", nicht einfach zu verwerfen. Seine Rechtfertigung kann allerdings nur von dem Verstand her erfolgen, d. h. es ist die Funktion, die ein solcher Begriff für das Funktionieren des Verstandes hat, aufzuweisen. Da als realmöglich nur individuell Seiendes angesehen werden kann, greift unser Erkenntnisstreben nach einer durchgängigen Bestimmung dessen, was es zu erkennen gilt, aus. Um einen Gegenstand faktisch durchgängig zu bestimmen, wäre zwar ein Durchgang durch alle nur möglichen Prädikate erforderlich. Nur sofern ein solcher erfolgt wäre und die Tätigkeit des Verstandes darin zu ihrer größtmöglichen Ausbreitung gekommen wäre, könnte auch mit Sicherheit gesagt werden, daß alle dem Gegenstand zugesprochenen Prädikate einstimmig in sich und mit dem Ganzen der von uns zu machenden Erfahrung sind. Das wird zwar zu keiner Zeit der Fall sein. Doch sofern die Bestimmung eines Gegenstandes mit dem Anspruch erfolgt, alle nur möglichen Prädikate, die ihn von anderen Gegenständen unterscheiden, anzuführen, wird mit Notwendigkeit auf die omnitudo realitatis ausgegriffen. Das gilt für jede Form des Denkens, die Gegenstände in ihrer Realität, ihrer Sachhaltigkeit erkennen will. Daß dies in unserem Denken der Fall ist, begründet Kant mittels seiner Affektionstheorie. Sich affiziert zu erfahren, bedeutet, eine Empfindung zu haben. In ihr gibt sich Sein als Materialität, die - setzt Kant auch in den kritischen Schriften voraus - nur als eine realiter bestimmte gedacht werden kann. Entsprechend geht es uns im Erkennen darum, das, von dem wir uns affiziert erfahren, hinsichtlich seiner Realität zur Bestimmung zu bringen. Wir beschränken uns also nicht darauf, ein Seiendes als ein quantum anzusehen, sondern fragen danach, welche qualitas einem quantum zukommt. Dazu aber bedarf es des Ausgriffs auf ein "All der Realität". Ein Gegebenes zu verstehen, bedeutet nach Kant, im "All der Realität" jene Schranken aufzurichten, die es in seinem Sein begrenzen und von anderem Seienden abgrenzen. Kant selbst macht darauf aufmerksam, daß die Einschränkung der Allheit auf einen bestimmten Gegenstand der Eingrenzung des Unbegrenzten entspricht, die für die sinnliche Anschauung konstitutiv ist, insofern sie fordert, das Gegebene als eines anzuschauen, das in der Unendlichkeit von Raum und Zeit einen endlichen Raum und eine endliche Zeit besetzt, welche ihrerseits aus dem unendlichen Raum und der unendlichen Zeit durch Einschränkung konstituiert wer437

KRV B 617/ A 598.

13 Bohlen

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

den. Nur aufgrund von Unendlichkeit kann also ein Gegebenes als endliches, mithin bestimmbares angeschaut werden, und seine Bestimmung kann nur im Ausgriff auf ein Unendliches, auf die omnitudo realitatis, erfolgen. Indem die Realbestimmung eines Gegenstandes als Einschränkung des Unbeschränkten erwiesen wurde, kommt das Denken an seinen höchsten Punkt, an dem der erkenntnistheoretische Ansatz selbst als Zugang, den das kritische Denken zum Gottesgedanken eröffnet, durchsichtig wird. "Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transzendentales Substratum zu Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes, daher alle mögliche Prädikate der Dinge genommen werden können, enthält, so ist dieses Substratum nichts anderes, als die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis).,,438 Mit dem Begriff ist der Gottesname genannt und der Gottesgedanke in seiner Funktion für den Verstand gedacht. Aus der Tatsache aber, daß ein Mensch in der Frage nach dem, wodurch er affiziert wurde, nicht umhin kann, im Ausgriff auf die omnitudo realitatis zu fragen, kann jedoch in bezug auf deren ontologischen Status keine Folgerung gezogen werden. Insbesondere kann nicht gesagt werden, ob das "Wesen aller Wesen" überhaupt existiert. Bei der omnitudo realitatis handelt es sich nach Kant daher um ein "transzendentales Ideal", welches "vor ihr [aller Erfahrung] (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntniß möglich zu machen. ,,439 In dem angeführten Satz aus der KRV ist ersichtlich, daß der Begriff der omnitudo realitatis insofern von der kritischen Wende betroffen ist, als der darin gedachte Gottesbegriff nur noch funktional, von der durch ihn gegebenen Ermöglichung der Erfahrungserkenntnis her, gerechtfertigt wird, ohne daß dadurch auch der Anspruch erhoben wäre, einen Beweisgrund für die Existenz eines Wesens, das alle Realität in sich begreift, gegeben zu haben. Die anband des Subjektbegriffs ausgearbeitete Problematik aller transzendentalen Ideen trifft also auch den Gottesgedanken. Auch er kann nicht konkretisiert und dadurch vergegenständlicht werden. In den Ausführungen Kants zum transzendentalen Ideal ist zwar ersichtlich, daß sich der Begriff der omnitudo realitatis insofern von dem des Subjekts unterscheidet, als sich reine Subjektivität aus der Unterscheidung zu allen prädikativen Bestimmungen bestimmt, die omnitudo realitatis dagegen alle Prädikate in sich begreift. Ist das reine Subjekt also schlechthin unbestimmt und unbestimmbar, handelt es sich bei dem Begriff der omnitudo realitatis um den einzigen Fall eines durch sich selbst durchgängig bestimmten Begriffs, in dem Allgemeines gedacht wird44o• Unbeschadet dessen kann auch das transzendentale Ideal, das "Wesen aller Wesen", von uns nicht "in concreto" vorgestellt werden. Denn dem Unbeschränkten kongruiert mit Notwendigkeit kein Ge438 KRV B 603 f. / A 575 f. 439 Pro!. A 204, Anm. (AA Bd. 4, 373 Anm). 440 Vg!. KRV B 604/ A 576.

III. Die Ideen der Vernunft

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genstand, der nur aufgrund von Einschränkung an sich selbst sichtbar werden kann. "Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann, [ ... ],,441. Von daher kann man Kant als gescheitert ansehen in der Absicht, den einzig möglichen Beweisgrund für die Existenz Gottes in die Sicht zu bringen. Bewiesen werden kann nur die Notwendigkeit des Gottesbegriffs für den Vollzug begrifflichen Denkens. Rationale Theologie kann sich, stellt man sich auf den Boden der kritischen Philosophie Kants, nur noch verstehen als transzendentale Theologie, die problematisch von dem höchsten Wesen als dem Inbegriff der Realität spricht, da sie zwar einerseits nachweisen kann, daß der Gottesbegriff weder in sich widersprüchlich ist, noch auch dem Ganzen der Erfahrung widerspricht, sondern solche möglich macht, andererseits aber einsehen muß, daß sie in ihren Beweisansprüchen bezüglich der Existenz eines solchen Wesens nur scheitern konnte. Allerdings macht Kant darauf aufmerksam, daß die Unentbehrlichkeit der transzendentalen problematischen Theologie erst in der Moraltheologie eigentlich sichtbar werde, bezüglich derer sie die Aufgabe habe, die Vernunft durch eine Befreiung von der Sinnlichkeit zu sich selbst zu bringen442 . Da der Übergang zur Moraltheologie aber nur verständlich ist, sofern sich die Theologie nicht im Beweis des von ihr Gedachten in sich selbst schließen kann, erweist sich das Scheitern am Ende als der Anfang eines Weges, den es sowohl um der Göttlichkeit Gottes als auch der Menschlichkeit des Menschen willen noch zu gehen gilt.

ee) Das Problem der Realisierung des Gottesgedankens Es ist verständlich, daß Kants funktionalistische Rechtfertigung des Gottesgedankens seitens der Theologie kritisiert wurde, insbesondere durch Sala: "Das realste Wesen der Ontotheologie ist zur (bloßen) Bedingung unseres Begreifens der durchgängigen Bestimmtheit der Dinge als bestimmte Ausschnitte des Gesamtrealen geworden,,443. Die Kritik betrifft nicht den Gottesgedanken, den Begriff der omnitudo realitatis. Sie betrifft die These, die Notwendigkeit des transzendentalen Ideals begründe sich nur aus der Struktur unseres logischen Denkens, so daß der Begriff keine objektive Gültigkeit beanspruchen könne. 444 Zweifellos ist Salas Kritik zutreffend, Kants Rechtfertigung des Gottesgedankens rekurriere nur auf die KRV B 669/ A 641. Vgl. Ebd. 443 G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, 242; vgl. J. Schmucker; Das Problem der Kontingenz der Welt. Versuch einer positiven Aufarbeitung der Kritik Kants arn kosmologischen Argument, Freiburg 1969,39. 444 Vgl. auch AA Bd. 28, 2, 1034. Und die Refl. 3937 (AA Bd. 17,349),3976 (AA Bd. 17, 372 f.), 3985, (AA Bd. 17,376),4039 (AA Bd. 17,393 f.). 441

442

13*

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

Voraussetzungen, die in unserem Denken gesetzt sind, sofern es denn logisches Denken ist. Die Frage ist nur, ob dadurch eine Reduktion des Gottesgedankens stattfindet, suggeriert doch Salas Kritik, Kants Religionsphilosophie sei als eine "Ent-göttlichung" Gottes anzusehen, da der göttliche Gott nur der Gott der Ontotheologie sein könne. Man wird kaum umhin können zu sehen, daß die Aufweise des Daseins Gottes, die in der Geschichte der Ontotheologie vor Kant ausgearbeitet wurden, nur dann noch als Fundament für eine mögliche Rationaltheologie gelten können, wenn nachgewiesen werden kann, daß sie als Beweise zu rechtfertigen sind. Daß dies nicht der Fall ist, hat Kant durch seine Destruktion der Gottesbeweise deutlich machen können. Da sowohl der kosmologische als auch physikotheologische Gottesbeweis insofern auf dem ontologischen aufbauen, als sie im zweiten Schritt dazu auffordern, das Unbedingte, dessen Denknotwendigkeit im ersten Schritt des Beweisganges nachgewiesen wurde, mit dem ens realissimum in eins zu setzen, um von dort aus auf die Existenz des Unbedingten, das zu denken notwendig ist, zu schließen, vennögen auch sie die Existenz Gottes nicht zu "beweisen".445 Folglich wird das Denken sein Scheitern bezüglich aller Bestrebungen, Gottes Dasein zu beweisen, anerkennen müssen. Soll der Gottesgedanke dennoch als ein vernünftiger Gedanke ausgewiesen werden, kann seine Rechtfertigung nur noch darauf abheben, daß es sich um einen Gedanken handelt, der für die Vernunft unentbehrlich ist, insofern sie sich nur im Ausgriff auf ihn als Vennögen eines Denkens begründen kann, für das das Prinzip der Widerspruchsfreiheit als Grundgesetz zu gelten hat. Ein Ideal der reinen Vernunft, führt Kant aus, habe "keine Beglaubigung seiner Realität aufzuweisen [ ... ] als die Bedürfnis der Vernunft, vermittelst desselben alle synthetische Einheit zu vollenden. Da es also nicht einmal als denkbarer Gegenstand gegeben ist, so ist es auch nicht als ein solcher unerforschlich; vielmehr muß es, als bloße Idee, in der Natur der Vernunft seinen Sitz und seine Auflösung finden und also erforscht werden können. ,,446 Die Frage nach einer möglichen Beglaubigung des Gottesgedankens findet ihre Auflösung, indem einerseits der These, das Wesen aller Wesen könne derart vorstellig gemacht werden, daß man seine Existenz mit objektiver Gültigkeit aussagen könne, eine Absage erteilt wird, andererseits aber die subjektiven Gründe genannt werden, die uns als vernünftige Wesen dazu bewegen, mit der Möglichkeit zu rechnen, daß auch existieren könnte, worauf wir mit Notwendigkeit ausgreifen, sofern wir danach streben, das uns Affizierende auch zu verstehen. Insofern sich das Denken nur mittels des Gedankens einer omnitudo realitatis als widerspruchsfreies Denken begründen kann, ist es unmöglich, den Gottesgedanken für entbehrlich zu erklären. Das gilt auch für die Naturwissenschaften. Denn auch sie streben nach systematischer Erkenntnis, die als vollständige nur dann gegeben wäre, wenn das zu Erkennende zu einer end-gültigen Bestimmung 445 446

Vgl. ausführlich KRV B 631 / A 603 ff. KRV B 642/ A 614.

111. Die Ideen der Vernunft

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gebracht werden könnte. Da das zu keiner Zeit der Fall sein wird, ist der wissenschaftliche Diskurs ad infinitum fortzusetzen, was für die, die an dem Diskurs beteiligt sind, nur bedeuten kann, daß sie alle Erkenntnisse, die zur Sprache kommen, als nur relativ anzusehen haben. Die Unendlichkeit des Diskurses kann dadurch zum Verweis darauf werden, daß der Gottesgedanke sich apriori zugedacht hat als eine Idee, die dem Streben nach Erkenntnis Orientierung gibt. Und wer sich orientiert erfährt, kann dann auch danach fragen, ob es sich bei dem ihn Orientierenden, jener Idee, auf die er als einen focus imaginarius hinsieht, um eine "bloße Idee" handelt. Die Realisierung des transzendentalen Ideals kann aber nun nicht dadurch geschehen, daß dem Gottesbegriff ein bestimmter Gegenstand an die Seite gestellt wird. Denn einen solchen Gegenstand, welcher der Idee kongruent wäre, kann es nicht geben. Es kann noch nicht einmal gedacht werden, daß es einen bestimmten Gegenstand geben könnte, in dem das Wesen, welches alle möglichen Bestimmungen in sich begreift, vorstellig würde. Soll es also überhaupt die Möglichkeit geben, über die in Frage stehende Grenze des Denkens zu kommen, kann es sich auf keinen Fall um eine Erweiterung der Spekulation handeln, durch die es der theoretischen Vernunft möglich würde, das transzendentale Ideal doch noch vorstellig zu machen. Doch es ist denkbar, daß der orientierenden Funktion der Ideen für das Denken eine sinngebende Bedeutung für das Leben, das im praktischen Handeln vollzogen wird, an die Seite zu stellen ist. Danach könnte es sein, daß der Mensch nicht nur im Ausgriff auf die omnitudo realitatis denkt, sondern daß er sein Leben auch auf eine Art lebt, in der greifbar wird, daß er mit der, von der theoretischen Vernunft aufgewiesenen Möglichkeit rechnet, daß ein Wesen aller Wesen existieren könnte, ein Wesen, das aufgrund der Möglichkeit transzendentaler Freiheit als der Urgrund allen Seins anzusehen wäre. Durch ein solches Leben bekäme die Realität des Wesens aller Wesen eine Beglaubigung, welche die theoretische Vernunft zwar nicht als eine Erweiterung ihres spekulativen Gebrauchs deuten könnte, aber doch als ein "ihr fremdes Angebot,,447 anerkennen dürfte, das insofern auch für sie von Interesse ist, als darin sichtbar würde, daß es der Vernunft nicht nur darum geht, das Denken durch ihre Ideen zu orientieren, sondern auch darum, dem Leben einen Sinn zu geben, worin die Frage nach dem Sinn der Daseinsbewegung der Vernunft, die nicht anders kann als nach den Ideen auszugreifen, ihre Auflösung erführe. Die Sinngebung, die das Leben durch die Vernunftideen erfährt, kann ihren primären Anhalt nur an der Idee des Subjektes haben, also an jenem Entwurf, in dem der Mensch sich als ein Wesen deutet, das als "Ich denke" dem Naturgesetz nicht unterworfen, mithin frei ist. Da der Mensch sich selbst oder sich als Selbst nicht auf Natur reduzieren muß, sondern als frei ansehen kann, wird er sich in seinem 447

KPV A 218 (AA Bd. 5, 121).

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B. Der Schöpfungsglaube als Problem der theoretisch-spekulativen Vernunft

praktischen Handeln nicht von der Forderung, für sein Handeln Rechenschaft zu geben, freisprechen können. Er muß mit der Möglichkeit, verantwortlich zu sein für das, was durch ihn geschieht, rechnen. Die Frage nach ihrer Möglichkeit der Verantwortlichkeit des Menschen wird von Kant positiv entschieden in eins mit der Frage nach der Möglichkeit einer Verursachung von Sein. Damit ist der Grund gelegt für ein Denken, das dem Menschen sichtbar macht, daß er sich nur insofern als realiter frei ansehen kann, als er auch mit seiner Geschöpflichkeit rechnet. Als Geschöpf darf er dann auch darauf bauen, daß ihn kein "blindes Schicksal" regiert, sondern ein Wesen, das in seiner Vernunft alles vernünftig geordnet und angeordnet hat. Daß sich ihm das in Frage stehende Wesen nun nochmals in Form des transzendentalen Ideals, von dem her sich sein Denken als ein vernünftiges begründet, zu denken gibt, ermöglicht es ihm, sein Dasein, das er als ein vernünftiges zu leben bestrebt ist, in den Kontext des Seins überhaupt einzustellen, das er als ein vernünftig geordnetes ansehen darf, wobei er sich dessen bewußt sein sollte, daß es seine eigene Freiheit ist, die das Interesse an der Vernünftigkeit des Seins begründet.

C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit I. Das Angebot der praktischen Philosophie In der einen Frage nach dem Menschen selbst verknüpfen sich für Kant die Fragen, was der Mensch wissen kann, was er tun sollte und worauf er hoffen darf'. In der Frage nach den Möglichkeiten des Wissens, die in dem rationalen Teil der Naturlehre zu behandeln sind, wird der Mensch sich in seinem Selbstsein zur Frage. Auch in der Sittenlehre, die in Korrelation zur Naturlehre sowohl einen empirischen als auch einen rationalen Teil in sich begreift, 2 geht es um das Selbstsein, steht doch nun die Frage an, ob der Mensch sich als er selbst, d. h. allein aufgrund seiner Vernunft, dadurch zum Handeln bestimmen kann, daß er sich dessen Beweggriinde vorwirft. Nur sofern die reine Vernunft als "für sich allein praktisch", d. h. an sich selbst gesetzgebend angesehen werden kann,3 wird man auch dem Menschen die Möglichkeit einer Selbstbestimmung zusprechen können, und nur dann wird es auch möglich sein, ihn als frei anzusehen. Andernfalls könnte sich der Mensch zwar theoretisch als ein vernünftiges und d. h. freies Wesen ansehen, die Praxis würde aber beweisen, daß er nur nach solchen Gesetzen handeln kann, die ihm die Natur auferlegt. Folglich wäre die in der theoretischen Philosophie als möglich erwiesene Freiheit doch nur eine scheinbare Freiheit, die für die Praxis keine Bedeutung hätte. Die in der theoretisch-spekulativen Philosophie ausgearbeitete "Rettung der Freiheit" wird daher nun in der praktischen Philosophie dadurch ergänzt, daß der Nachweis der Möglichkeit erbracht wird, die Vernunft als an sich selbst gesetzgebend anzusehen. Kant selbst spricht von einem "fremde[n] Angebot", welches die praktische Philosophie der theoretischen um deren Ergänzung willen macht. 4 Wer allerdings in der Ergänzung der Theorie durch die Praxis nur einen Nachtrag zu dem, was die Spekulation zu der Frage nach dem Menschen zu sagen hat, sieht, hat den Grundgedanken Kants nicht verstanden. Denn für Kant ist der Mensch ein primär durch praktische Interessen bestimmtes Wesen. 5 Folglich findet Logik A 25 (AA Bd. 9, 25). Vgl. KRV B 832 f. / A 804 f. Zur Systematik der Philosophie Kants vgl. GMS BA IV (AA Bd. 4,387). Vgl. KRV B 868 f. / A 840 f.; KU BA XIff. (AA Bd. 5, 171 ff.) u.ö. 3 KPV A 45 (AA Bd. 5, 25), vgl. A 56 und 81 (AA Bd. 5, 31,46); GMS BA 125 (AA Bd. 4, 461). 4 KPV A 218 (AA Bd. 5, 121). 5 Vgl. KPV A 215 -219 (AA Bd. 5, 119-121). I

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

sich das Denken in einem Zirkel. Die Theorie macht um ihrer Ergänzung willen den Übergang zur Praxis erforderlich. Die im Ausgang von der Praxis vollzogene Selbstbestimmung des Menschen aber erweist sich im Vollzug des Übergangs selbst als primordial, so daß sich die theoretisch-spekulative Deutung menschlichen Seins nun als der praktischen Philosophie funktional zu- und untergeordnet erweist.

11. Kants Moralphilosophie 1. Zur Problematik eudaimonistischer Ethikkonzepte

a) Das Streben des Menschen nach Glückseligkeit

Auch in der praktischen Philosophie gilt es, die Freiheit und mit ihr das Selbstsein des Menschen wider solche Ansätze zu verteidigen, die den Menschen auf einen Teil der Natur reduzieren, indem sie davon ausgehen, daß nicht der Mensch sich selbst die Beweggriinde des Handelns vorwirft, sondern daß sie ihm von der Natur vorgeworfen sind. Die Verteidigungsstrategie Kants ist in Analogie zu seiner Behandlung der Naturwissenschaften in der theoretischen Philosophie dadurch bestimmt, daß er den naturalistischen Ansatz aufgreift, um dessen Berechtigung einerseits, seine Grenzen andererseits aufweisen zu können. Dazu geht Kant davon aus, daß alle Menschen mit Notwendigkeit nach Glückseligkeit streben. Man könne davon ausgehen, daß das Streben nach Glückseligkeit allen Menschen eigen sei, und zwar von Natur aus. "Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsverrnögens.,,6 Menschsein, erkennt auch Kant an, bedeutet, nach Glück zu streben. Dadurch stellt sich Kant auf den aristotelischen Standpunkt. 7 Darum treffen solche Interpretationen der praktischen Philosophie Kants, in denen unterstellt wird, der Philosoph fordere dazu auf, das Streben nach Glück schlechthin aufzugeben, den Gedanken Kants nicht. 8 Das KPV A 46 (AA Bd. 5, 25); vgl. GMS BA 42 (AA Bd. 4, 415). Vgl. Aristoteles, De anima 433 a 16 f.; Nik. Ethik, 1140 A 28; 1138 B 22 f. Dazu vgl. u. a. Th. Nagel, Aristotele on Eudaimonia, in: Essays on Aristotle's Ethics, hg. von A. Oksenberg Rorty, Berkeley /London 1980, 7 -14; M. Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Darmstadt 1993, bes. 1- 21; R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, Versuch über Ethik, Stuttgart 1990, bes, 73 - 84. 8 Der Vorwurf des ethischen Rigorismus Kants, der auf Schiller zurückgeht, wurde u. a. erhoben durch G. WF. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe, hg. von H. Glockner, Bd 19, Stuttgart-Bad Cannstatt 4 1965,590 ff. und A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. von A. Hübscher, Wiesbaden 1950, 624; A. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, hg. von A. Hübscher, Wiesbaden 1950, 133 f. Er verbindet sich mit dem Vorwurf, nach Kant sei es unumgänglich, 6

7

H. Kants Moralphilosophie

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geht deutlich hervor aus einer Replik Kants auch den Vorwurf eh. Graves, nach Kant müsse die Beobachtung des moralischen Gesetzes als der einzige Endzweck des Menschen, folglich auch als der einzige Zweck des Schöpfers angesehen werden. In bezug darauf führt Kant aus: "Nach meiner Theorie ist weder die Moralität des Menschen für sich, noch die Glückseligkeit für sich allein, sondern das höchste in der Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und Zusammenstimmung beider besteht, der einzige Zweck des Schöpfers".9 Danach ist auch das Glück oder die Glückseligkeit dem Menschen vom Schöpfer als ein Zweck vorgegeben, den er aufgrund seiner Geschöpflichkeit zu erstreben hat. Doch im Streben nach Glück folgt der Mensch einem Gesetz, das ihm die Natur auferlegt. Als Naturwesen kann er nicht anders, als glücklich sein zu wollen. 10 Nun ist es für Kant undenkbar, daß der Mensch, das vernünftige Wesen, nur dazu bestimmt sei, dem Gesetz der Natur zu folgen. 11 Von daher vertritt er die These, daß nicht das Streben nach Glückseligkeit allein die Menschlichkeit des Menschen ausmacht, sondern das Faktum, daß der Mensch vermögend ist, sein Streben nach Glück mit dem nach der Sittlichkeit zu verknüpfen, und zwar derart, daß er sein Streben nach Glück dem Sittengesetz, welches die Vernunft auferlegt, unterordnet. Für die Philosophie, deren Aufgabe es ist, den Menschen zu seiner Bestimmung zu bringen, kommt es entsprechend darauf an, die Möglichkeit einer Unterordnung des Glücksstrebens unter das Gesetz der Sittlichkeit auszuweisen. Das geschieht in einer Abfolge von Gedankenschritten, in denen insbesondere die Unmöglichkeit, das Streben nach Sittlichkeit aus dem nach Glück abzuleiten, nachgewiesen wird, und zwar im Ausgang von dem Begriff der Glückseligkeit und dessen Unbestimmtheit.

b) Glückseligkeit und Sittlichkeit

Kant versteht unter Glückseligkeit der KRV zufolge "die Befriedigung aller unserer Neigungen,,12. Auch in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (GMS) bestimmt er den Begriff der Glückseligkeit als gänzliche Befriedigung aller Bedürfnisse und Neigungen des Menschen. 13 Das Streben nach Glückseligkeit kann sein Streben nach Glück um der Moralität willen zu unterdrücken, so noch bei W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim 1Wien 1 Zürich 1973, 145. Vgl. auch G. Funke, "Achtung fürs moralische Gesetz" und Rigorismus 1 Impersonalismus-Problem, in: Kant-Studien 65 (1974) 45-67, bes. 63 ff. Zur Kritik vgl. R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 44 ff. 9 Gemeinspruch A 210 (AA Bd. 8, 279). 10 V gl. KPV A 45 (AA Bd. 5, 25); MdS A 172 (AA Bd. 6, 482); KU B 3891 A 384 f. (AA Bd. 5, 430). II Vgl. GMS BA 4 f. (AA Bd. 4, 395) und KU B 388 ff.1 A 383 ff. (AA Bd. 5, 429 ff.). 12 KRV B 8341 A 806; vgl. auch B 8281 A 800 (AA Bd. 3, 520). 13 GMS BA 46 (AA Bd. 4, 418), wonach "zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist."

202

c. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

dem Menschen nur durch seine sinnliche Natur aufgegeben sein. Sie ist es, welche den Menschen geneigt macht, nach solchem zu streben, von dem er Befriedigung erwarten darf. Wer Teil der Natur ist, strebt mit Notwendigkeit nach der Befriedigung seiner Neigungen, er will zufrieden sein können. Im Begriff der Glückseligkeit wird nun jener Zustand gedacht, in dem alle Bedürfnisse befriedigt sind, woraus eine größtmögliche Zufriedenheit des befriedigten Menschen folgt. Von daher ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, den Begriff der Glückseligkeit zu bestimmen. Zum einen kann auf die Befriedigung aller Bedürfnisse abgehoben werden. Das geschieht nicht nur in der zitierten Stelle aus der GMS, sondern u. a. auch in der KU. Dort wird die Glückseligkeit bestimmt als "der Inbegriff aller durch die Natur außer und in uns Menschen möglichen Zwecke desselben [ ... ]; das ist die Materie aller seiner Zwecke auf Erden.,,14 Möglich ist auch, die Glückseligkeit mittels des Zustandes der Zufriedenheit, der aus der Erreichung aller Zwecke, die dem Menschen auf Erden zu erstreben aufgegeben sind, verständlich zu machen. Glücklich wird man dann den nennen dürfen, der Zeit seines Lebens mit sich selbst, d. h. seinem Leben als ganzem zufrieden ist. 15 Für die praktische Philosophie stellt sich nun allerdings das Problem, daß die Zufriedenheit dem Menschen mit sich selbst unterschiedliche Gründe haben kann. Zufrieden kann ein Mensch zum einen sein, da er sich in einem Zustand befindet, der durch die Befriedigung seiner naturgegebenen Bedürfnisse bestimmt ist. Zufriedenheit mit sich selbst kann aber auch eine Folge des Wissens sein, das Rechte getan, d. h. moralisch gehandelt zu haben. Derjenige, führt Kant in "Die Metaphysik der Sitten" (MdS) aus, der sich bewußt sei, seine Pflicht getan zu haben, befinde sich in einem Zustande, den man Glückseligkeit nennen könne. In ihm sei die Tugend ihr eigener Lohn. 16 Auch an anderer Stelle deutet er moralisch gute Handlungen als einen Grund der Selbstzufriedenheit, welche bezogen sei auf die eigene Person, nicht aber deren Zustand. Glaubt man, das eigene Handeln als moralisch gut beurteilen zu dürfen, kann man demnach mit sich selbst zufrieden sein, und zwar unabhängig davon, in welchem Zustand, d. h. in welchen Lebensbedingungen man sich findet. Selbst in dem Fall, daß es einem in bezug auf die Befriedigung seiner Neigungen nicht gut geht, wird man, davon geht Kant aus, eine Zufriedenheit mit sich selbst verspüren. Glückseligkeit stellt sich dann ein als "die Lust, aus dem Bewußtseyn seiner Selbstrnacht zufrieden zu seyn"l7. Aus der Wendung ist zu ersehen, daß das Bewußtsein, moralisch gut zu handeln, eins ist mit dem Bewußtsein, seiner selbst mächtig zu sein, d. h. sich selbst das Gesetz seines Handeins gegeben zu haben. Das Glück, das darin erfahren wird, aber ist ein ganz anderes KU B 391 (AA Bd. 5, 431). Vgl. MdS A16; 169 (AA Bd. 6, 387; 480); GMS BA 6; 12 f. (AA Bd. 4, 396; 399); KPV A 40, 45; 224 (AA Bd. 5, 22, 24; 124). 16 MdS A VIII (AA Bd. 6, 377). 17 Refl. 7202 (AA Bd. 19,276-282). Vgl. Refl. 6616 (AA Bd. 19, lll); Refl. 6867 (AA Bd. 19, 186); Refl. 6907 (AA Bd. 19, 202f.). 14

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11. Kants Moralphilosophie

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Glück, als jenes, das die Befriedigung aller Neigungen bedingt. Denn es hat einen anderen Ursprung: die Moralität des Menschen. "Moralität ist die Idee der freyheit als eines Princips der GlÜckseeligkeit,,18. Kants hat zwar keine Möglichkeit, den Unterschied, der die Selbstzufriedenheit, welche in der Selbstmächtigkeit verwurzelt ist, von jenem Glück, das aus der Befriedigung aller Neigungen folgt, scheidet, auch sprachlich zu greifen. Doch es ist deutlich, daß das eine Glück daraus folgt, daß der Mensch zu sich selbst als einem seiner selbst mächtigen, d. h. freien Wesen gefunden hat, im anderen Fall kommt er nur als Naturwesen zu seiner Bestimmung. 19 In Kants Moralphilosophie geht es nicht darum, die Verknüpfung von Sittlichkeit und Zufriedenheit in Frage zu stellen. Entscheidend ist nur, daß das Fundierungsverhältnis erkannt und die Priorität der Sittlichkeit anerkannt wird. Aus der Sittlichkeit kann zwar zu Zeiten Zufriedenheit folgen. Dennoch ist es für Kant undenkbar, daß Sittlichkeit um der Zufriedenheit willen erstrebt wird. Denkbar ist für ihn nur, daß aus der um ihrer selbst willen erstrebten Sittlichkeit und dem darin fundierten Wissen, auf das Gute aus gewesen zu sein, jene Zufriedenheit folgt, welche einen Menschen, der die Sittlichkeit als den obersten Wert, dem alle anderen Werte unterzuordnen sind, anerkannt hat, dazu bewegen wird, sein Leben im ganzen als gut, lebenswert oder - in der Sprache unserer Zeit gesprochen - als sinnvoll zu beurteilen. Wer das tut, ist sich aber auch des Unterschieds der Zufriedenheit, die aus der in der Sittlichkeit fundierten Sinnerfahrung folgen kann, von der mittels Bedürfnisbefriedigung erreichten Zufriedenheit bewußt sein, auch wenn es in der Lebenspraxis von Fall zu Fall problematisch sein dürfte, mit Sicherheit zu sagen, worin denn die eigene Zufriedenheit ihren Grund hat. Ethikkonzepte, in denen die Sittlichkeit als ein Wert angesehen wird, der nur um des Glückes, das aus ihr folgen kann, angestrebt wird, verkennen nach Kant die Unbedingtheit der Verpflichtung, welche die Sittlichkeit auferlegt. Um den Nachweis zu erbringen, daß Sittlichkeit unbedingt verpflichtet, ist nochmals auf den Begriff der Glückseligkeit, der nun begrenzt gedacht werden kann als ein dem Begriff der Bedürfnisbefriedigung korrelierender Gedanke, einzugehen, um dann deutlich zu machen, daß die Sittlichkeit in der Tat um ihrer selbst willen erstrebt wird.

Refl. 7202 (AA Bd. 19, 276 - 282, bes. 279). In der Refl. 7202 (AA Bd. 19, 276-282, bes. 278 f.) vertritt Kant die These, ,,[d]ie G1ückseeligkeit [sei] nicht etwas empfundenes, sondern Gedachtes. Es ist auch kein Gedachtes. Es ist auch kein Gedanke, der aus der Erfahrung genommen werden kann, sondern der sie allererst moglich macht." Dazu führt R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 54, aus, in der Reflexion werde die in der Empfindsamkeit des Subjekts fundierte Deutung der Glückseligkeit um ihrer intellektuellen willen zurückgedrängt. Dann werde die Glückseligkeit als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung bestimmt. Glückseligkeit sei demnach eine Form, in der das Leben selbst erfahren wird, ein sich selbst habendes Leben, das sich im Ganzen als gut weiß. 18

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

c) Die Unbestimmtheit des Begriffs der Glückseligkeit

Bezüglich des Strebens nach Glückseligkeit oder eudaimonia spricht Kant selbst in der KPV vom "epikurischen Prinzip der Glückse1igkeitslehre", dem er das "reine Vernunftprinzip der Sittenlehre" entgegensetzen will. 2o Das ist uns Anlaß, im Rückgang auf Epikur zu fragen, warum Kant es für erforderlich hält, die Empirie als mögliches Fundament der Ethik zu verwerfen. Ansatz auch der epikureischen Ethik ist die Frage nach dem Gut, das von allen Menschen als das höchste Gut erstrebt wird. Als solches führt Epikur die eudaimonia an, wobei für ihn nur der glücklich genannt werden kann, der mit Lust leben kann. Lust als Freiheit von Unlust bestimmend, benennt Epikur die Freiheit von der Unlust als das höchste GUt. 21 Bei ihm handelt es sich um das materiale Prinzip, von dem her dann eine "Ethik", d. h. eine Lehre vom guten Leben oder eine praktische Weisheitslehre, zu begründen ist. Kant verallgemeinert den epikureischen Ansatz, der im Streben nach Lust ein materiales Prinzip als Fundament der Ethik benennt, auf alle materialen Ethikkonzepte, die er als empirische Konzeptionen beurteilt. "Alle praktische Principien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben.'.22 Um seine Kritik zu verdeutlichen, weist Kant darauf hin, daß Epikur die Lust als den unmittelbaren Grund der Bewegungen des Willens ansetze. Dadurch mache er das Streben des Menschen von der Empfänglichkeit des Subjektes abhängig. "Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, begründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts [ ... ],,23 Die Lust folgt demnach daraus, daß eine Sache als existierend oder der Möglichkeit nach existierend vorgestellt wird. Dadurch wird das Glück abhängig gemacht von der Sache und deren möglicher Existenz einerseits und dem Vermögen des Subjektes, sich die Existenz einer Sache vorzustellen und in einem solchen Vorstellen Lust zu empfinden, andererseits. Und nur in bezug auf ein solcher Art empfängliches Subjekt kann überhaupt von Lust gesprochen werden. Die Empfänglichkeit des Subjekts aber ist verwurzelt in dessen Sinnlichkeit als der Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Subjekt durch eine Vorstellung affiziert wird.

KPV A 70 (AA Bd. 5,41) Zur Epikureischen Ethik vgl. insb. M. Farschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Darmstadt 1993; M. Hassenfeider, Die Philosophie der Antike III: Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985 (Geschichte der Philosophie, hg. von W. Röd, Bd. 3). 22 KPV A 38 (AA Bd. 5, 21). 20

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KPV A 40 (AA Bd. 5, 22).

11. Kants Moralphilosophie

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Kant macht auf die Folgen aufmerksam, die sich von daher aus der materialen Bestimmung des höchsten Gutes ergeben. Als Empfindungen sind Lust und Unlust stets auf das Individuum bezogen, welches sie empfindet. Von daher dringt mit der Ineinssetzung des Begriffs der Glückseligkeit mit dem der Lust ein individualisierendes Prinzip in die Konzeption des Endzweckes ein. Darum insistiert Kant auch darauf, daß es sich bei der Glückseligkeit stets um die eigene handle, weshalb man das "epikureische Prinzip der Glückseligkeitslehre" auch das der "Selbstliebe" nennen könne. "Also sind alle materiale Prinzipien, die den Bestimmungsgrund der Willkür in der [ ... ] Lust oder Unlust setzen, so fern gänzlich von einerlei Art, daß sie insgesamt zum Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit gehören.,,24 Dadurch möchte Kant nicht unterstellen, daß alle materialen Ethikkonzepte, insbesondere das Epikurs, ein Streben nach eigener Lust begriindeten, welches der im Interesse an der Allgemeinheit fundierten Tugend widerstreiten würde. Kant erkennt durchaus an, daß nach Epikur ein glückliches Leben ohne Tugend undenkbar sei. 25 Unbeschadet dessen ist für ihn die Empfänglichkeit des Subjektes, die, verwurzelt in der Sinnlichkeit, nur einem individuellen Subjekt zugesprochen werden kann, das Prinzip einer solchen Ethik. Das hat zur Folge, daß es unmöglich wird, die Individualität aus der Bestimmung des höchsten Gutes auszuklammern. "Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an [ ... ],,26 Durch die Verknüpfung von material zu bestimmender Glückseligkeit und Lustempfindung dringt also ein individualisierendes Prinzip in die Bestimmung des höchsten Gutes ein, das es unmöglich macht, von ihm her zu einem unbedingten, d. h. allgemeingültigen Gesetz des HandeIns zu kommen. Man müsse einsehen, gibt Kant dazu zu bedenken, daß ein unbedingt verpflichtendes Gesetz den Grund seiner Verbindlichkeit "nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen der Welt, darin er gesetzt ist," haben könne, "sondern apriori lediglich in den Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung griindet, so fern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach, auf empirische Griinde stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann. ,,27 Nun könnte man einwenden, es sei von der Annahme ausgegangen worden, daß alle Menschen von Natur aus nach Glück streben. Folglich sei das Glücksstreben nicht zu individualisieren. Doch dazu merkt Kant an, daß selbst für den Fall, daß alle Menschen in bezug auf das höchste von ihnen zu erstrebende Gut zu einem einhelligen Urteil kämen, ihre Einhelligkeit dennoch keinen Grund hätte, der sie als notwendig ausweisen würde. Sie wäre nur zufallig und könnte als solche stets in Frage gestellt werden. Außerdem könnte ein einhelliges Urteil nur dadurch er24 25 26

27

KPV A 40 f. (AA Bd. 5, 22). KPV A 44 (AA Bd. 5, 24). KPV A 46 (AA Bd. 5, 25). GMS BA VIII (AA Bd. 4, 389).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

möglicht werden, daß das zu erstrebende Gut möglichst allgemein, folglich noch unbestimmt benannt wird, etwa durch die Verknüpfung des Begriffs der Glückseligkeit mit dem der andauernden, d. h. auf das ganze Dasein bezogenen Zufriedenheit. 28 In einer solchen Forderung wird das Grundproblem des Begriffs der Glückseligkeit greifbar, der, soll er den von allen Menschen zu erstrebenden Endzweck nennen, einer Bestimmung bedarf, die nur materialiter und d. h.- empirisch erfolgen kann. Da der Begriff der Glückseligkeit nur auf das ganze Dasein bezogen gedacht werden kann, ist es für ein endliches Wesen, dem das Ganzsein des Daseins stets zukünftig ist, schlechthin unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen, was es in seinem Streben nach Glück will. "Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. ,,29 Ebenso unmöglich ist es, die Handlungen, mittels derer Glückseligkeit erlangt würde, genau zu bestimmen. Das ist der Grund dafür, daß der Begriff der Glückseligkeit, dessen Elemente "insgesamt empirisch sind,,3o, nicht zu einer Bestimmung gebracht werden kann, die dem Anspruch auf Sicherheit standhält. Daraus folgt, daß es in bezug auf die Glückseligkeit keinen Imperativ gibt, "der im strengen Verstande geböte, das zu tun, was glücklich macht,,31. Nur in einem solchen streng gebietenden Imperativ aber kann das Prinzip einer Ethik gefunden werden, insofern apriori sicher ist, daß "ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse. ,,32 Die Unmöglichkeit, den Begriff der Glückseligkeit genau zu bestimmen, sowie die Mittel zur Glückseligkeit zu benennen, wertet Kant als Indiz dafür, daß die Bestimmung des Menschen nicht in der Glückseligkeit zu finden ist. Denn, argumentiert er, es wäre in sich widerspriichlich, wäre es dem Menschen aufgegeben, die Glückseligkeit um der eigenen Menschlichkeit willen zu erstreben, ohne daß er sich dessen versichern könnte, worin denn seine Glückseligkeit bestünde?3 Interessant an der Argumentation Kants ist, daß sie voraussetzt, daß das Sein des Menschen und mit ihm das Sein überhaupt nicht in sich widerspriichlich sein kann, eine Voraussetzung, die an anderer Stelle auf ihre Berechtigung zu befragen sein wird. 28 Vgl. dazu u. a. Kants Bestimmung der Glückseligkeit als "Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet" KPV A 40 (AA Bd. 5, 22); vgl. KPV A 45; A 224 (AA Bd. 5, 24; 124); MdS A 16, A 168 f. (AA Bd. 6, 387; 480 f.). 29 GMS BA 46 (AA Bd. 4, 418). 30 Ebd. 31 GMS BA 47 (AA Bd. 4, 418). 32 GMA BA VIII (AA Bd. 4, 388). 33 GMS BA 5 (AA Bd. 4, 395). Vgl. KU B 388 ff./ A 383 ff. (AA Bd. 5,429 ff.).

11. Kants Moralphilosophie

207

d) Kants Kritik an der empiristischen und rationalen Moralphilosophie seiner Zeit

Kant kritisiert zwar primär den Ansatz Epikurs. Doch seine Kritik verbindet sich mit Einwänden gegen den Empirismus seiner Zeit. Dabei hebt Kant insbesondere darauf ab, daß die empiristische Affektenlehre die den Willen bestimmenden Gründe als innere, psychologische Gründe ansetzt, ohne sie von anderen Naturgründen grundsätzlich zu unterscheiden. Desbezüglich könnte sich Kant insbesondere berufen auf D. Humes Schrift "Untersuchungen über die Prinzipien der Moral", in der die Bestimmung des Menschen zum Guten eigens in einem Affekt fundiert wird. Die Vernunft, führt Humes dort aus, gebe dem Menschen zwar die Einsicht in die unterschiedlichen Möglichkeiten des Verhaltens an die Hand. Damit der Mensch sich aber nützlich verhalte, sei ein Gefühl geltend zu machen, bei dem es sich um nichts anderes handeln könne, als um "Sympathie mit dem Glück der Menschheit und Unwille über ihr Unglück,,34. Ethisches Handeln ist demnach ein in der Sympathie mit der Menschheit fundiertes nützliches Handeln. Ein solcher Ansatz ist nach Kant problematisch, da das in den Ansatz gebrachte Fundament der Ethik, die Sympathie mit dem Glück der Menschheit, als ein Gefühl verstanden wird, das sich nicht prinzipiell von anderen natürlichen Affekten unterscheidet bzw. der Unterschied selbst gänzlich unbestimmt bleibt. Für alle natürlichen Affekte gilt, daß sie den Menschen auf eine irrationale Art bestimmen. Von seinen Gefühlen bewegt, erfahrt der Mensch sich gerade nicht als ein Wesen, das sich selbst rational, d. h. aus eigener Vernunft, bestimmen kann. Insofern ist auch die Konzeption D. Humes, für Kant nur "ein elender Behelf, womit sich noch immer einige hinhalten lassen, und so jenes schwere Problem mit einer kleinen Wortklauberei aufgelöset zu haben meinen, an dessen Auflösung Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die daher wohl schwerlich so ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte ...35 Das Problem, das der Empirismus nur oberflächlich und d. h. im Grunde gar nicht löst, ist das Problem der Freiheit, die nur dann an sich selbst gedacht ist, wenn sie nicht auf einen komparativen Begriff gebracht wird, sondern als unbedingte Freiheit in den Ansatz kommt. Das wird nur dann der Fall sein, wenn der Bestimmungsgrund des Willens, der als Folge der Freiheit des Menschen begriffen wer34 D. Hume, Untersuchungen über die Prinzipien der Moral. Übers., mit einer Einleitung und Register versehen von C. Winkler, Hamburg 1955, 137. Obwohl auch nach Hume eine rationale Beurteilung des Handelns möglich ist, kann ihm zufolge der Verstand zwar Aussagen bezüglich der Mittel, durch die bestimmte Zwecke erwirkt werden können, machen, er vermag aber die höchsten Zwecke nicht aus sich festzusetzen. Vgl. zur Ethik Humes u. a.: W. H. Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moralsense-theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984; B. Gräfrath, Moral Sense und praktische Vernunft. David Humes Ethik und Rechtsphilosophie, Stuttgart 1991 (mit einer Abgrenzung des Humeschen Ansatzes von den Ethiken R. M. Hares und J. Rawls); Ch.-G. Park, Das moralische Gefühl in der britischen moral-sense Schule und bei Kant, Diss., Tübingen 1995. 35 KPV A 172 (AA Bd. 5, 96).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

den kann, von allen Naturgründen, die den Menschen ansonsten zum Handeln bewegen, streng unterschieden und die Unterscheidung selbst philosophisch begründet werden kann. Kants Einwände treffen ferner auch die rationale Moralphilosophie eh. Wolffs und mit ihr dann auch den scholastischen Ansatz zur Begründung der Moralität. Den scholastischen Ansatz aufgreifend, faßt eh. Wolff die Natur als eine Ordnung. Der Mensch, selbst Teil der Natur, empfinde Lust, sofern er Ordnung als solche erkenne. 36 Die Empfindung von Lust ist nach eh. Wolff zwar nicht nur in der Sinnlichkeit, sondern durchaus auch im Verstand fundiert. Denn die Erfahrung von Ordnung als solcher setzt ein Verstandesurteil voraus. Doch der Verstand kann nur tätig werden an den Daten, die ihm mittels der Sinnlichkeit gegeben sind. Von Kant her ist daher der Ansatz eh. Wolffs nicht nur insofern zu kritisieren, als für eh. Wolff der unmittelbare Grund der Strebebewegung des Menschen die Lustempfindung ist, sondern auch, da die Verstandestätigkeit, welche als Ursache der Lustempfindung der mittelbare Bestimmungsgrund des Willens ist, an die Sinnlichkeit gebunden ist. 37 Denn daraus folgt, daß der Bestimmungsgrund des Willens selbst kein rein rationaler ist38 . Dagegen will Kant beweisen, daß die Vernunft den Willen unmittelbar, nicht nur vermittels des Gefühls der Lust, bestimmen kann, oder anders gesagt, "daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann,,39.

2. Die Unbedingtheit der sittlichen Verpflichtung

a) Kants Philosophie - eine Philosophie des gelingenden Lebens

Im Gegensatz zu allen eudaimonistischen Ethikkonzepten, denen zufolge der Wille nur mittelbar durch die Pflicht in Bewegung gesetzt wird, insofern sich das Streben nach Glück mit der Einsicht verbindet, daß das Glück nur unter der Bedingung der Pflichtbeachtung zuteil werden kann, vertritt Kant die These, die "Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu sein) [sei] die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unserer Be-

36 eh. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 404: "Indem wir die Vollkommenheit anschauen entstehet bey uns die Lust, daß demnach die Lust nichts anders ist, als das Anschauen der Vollkommenheit [ ... ]". 37 Auf das Verhältnis der Ethik Wolffs zu der Kants geht ausführlich ein: eh. Schräer; Naturbegriff und Moralbegründung. Die Grundlegung der Ethik bei Christian Wolff und deren Kritik durch Immanuel Kant. Stuttgart u. a. 1988. Die geschichtlichen Wurzeln der Ethik Wolffs stellt dar: C. Schwaiger; Das Problem des Glücks im Denken Christian Wolffs. Eine quellen-, begriffs- und entwicklungsgeschichtliche Studie zu Schlüsselbegriffen seiner Ethik. Stuttgart-Bad Canstatt 1995. 38 Vgl. eh. Wolff, Deutsche Metaphysik, § 878. 39 KPV A 45 (AA. Bd. 5, 25).

11. Kants Moralphilosophie

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werbung um Glückseligkeit, mithin das oberste Gut,,40. Was uns auch immer als Wert gilt, so daß wir es als Zweck unseres HandeIns begreifen können, steht demzufolge unter der Bedingung der Tugend. Sie ist das oberste Gut, dem alle anderen Güter untergeordnet sind. Nun wird der, der von einem anderen Menschen sagen will, er lebe auf die rechte Art, kaum noch den Begriff der Tugend verwenden. Nicht nur der Begriff gilt als veraltet, es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß der Mensch, der noch tugendhaft sein will, allgemein als einer angesehen wird, der kein Kind unserer Zeit ist. Im Gegensatz dazu hat u. a. M. Scheler gefordert,41 dem Begriff seine urspriingliche Bedeutung zuriickzugeben. Der Begriff der Tugend, betont auch P. Stemmer, korreliere in seiner Bedeutung dem griechischen Begriff der arete. "Von einem Menschen zu sagen, er habe Arete, bedeutet [ ... ] nichts anderes als daß er gut ist,,42. Wer also tugendhaft lebt, lebt auf eine gute Art. Nun geht der Begriff der arete im griechischen Denken eine Verbindung ein mit dem der eudaimonia. Folglich gilt das als gut, was ein glückliches, d. h. gelingendes Leben befördert. Eine materiale Bestimmung der Tugend oder der Tugenden kann dann nur dadurch erfolgen, daß ein Verhalten oder Verhaltungen darauf befragt werden, ob sie für das Glück förderlich sind. Dazu bedarf es allerdings eines Begriffes vom Glück, d. h. vom gelingenden Leben. 43 Von daher ist die Grundthese der aristotelischen Ethik zu verstehen, nach der das Gute nur das sein kann, was alle wollen. 44 Alle wollen auf eine gute Art leben. Sie wollen, daß ihr Leben gelingt. 45 Das gelungene Leben ist nun für Aristote1es KPV A 198 (AA Bd. 5,110). Vgl. M. Seheler, Zur Rehabilitierung der Tugend. In: Ders., Vorn Umsturz der Werte, Abhandlungen und Aufsätze, Bem. 4 1955, (GS 3) 13 - 31. 42 Art. "Tugend" von P. Stemmer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 10, Basel 1998, 1532. 43 Auch für Platon kann es keinen Zweifel daran geben, daß die Tugend glücklich macht und darum auch angestrebt wird. Vgl. Platon, Gorgias 507 c 8 ff.; Euthydemas 282 c 9 ff.; Politeia I 352 d - 354 a sowie die Debatte um den Nutzen der Gerechtigkeit, Politeia I 344 a 3 -6, 347 e 2 ff. u.ö. Aufgrund der Verknüpfung von Glück, Gerechtigkeit und dem Guten, das von Platon als transzendentaler Begriff in den Ansatz gebracht ist, kommt es in seiner Philosophie zu keiner endgültigen Bestimmung der Tugend. Mit den Begriffen Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit nennt Platon lediglich die Begriffe, die für eine Materialisierung des Tugendgedankens leitend werden könnten, insofern sie sich als Mittel erweisen, durch die das Leben in der Polis zu einern gelingenden, d. h. guten werden könnte. V gl. Politeia 427 c 6-434 d 2. 44 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094 a I ff. 45 In Bezug darauf wird die These vertreten, Aristoteles entwerfe eine "Moral des Gewollten" und kenne "den Begriff des Gesollten, wie wir ihn haben, nicht" (A. W H. Adkins, Merit and Responsibility. A Studiy in Greek Values, Oxford 1960). Dagegen hat U. Wolf, Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre, in: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, hg. von O. Höffe, Berlin 1995, 1995 (Klassiker Auslegen Bd. 2), 83 - 108, 83, zutreffend eingewandt, Aristoteles frage nach dem guten Leben und intendiere eine Grundlegung der Moral durch den Nachweis, "daß das Leben der moralischen Tugenden, das sich im Tun des Gesollten manifestiert, genau das ist, was auch das wahrhaft glückselige Leben ausmacht." 40

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14 Bohlen

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

eines, in dem der Mensch sein Dasein als vernünftiges Wesen verwirklicht. 46 Dazu bedarf es der Ausbildung einer Haltung, in der die Daseinsbewegung des Menschen im ganzen durch die phronesis bestimmt ist, welche mit Sicht auf das gute Leben im Ganzen gut raten kann. 47 Die Haltung der Tugend ist also ein Mittel, um glücklich zu werden. Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, im einzelnen auf die aristotelische Ethik einzugehen. Auch ihre Rezeption durch die scholastische Theologie und die Rationaltheologie des 17. und 18. Jahrhunderts ist nicht Gegenstand unseres Interesses. Denn der Grundansatz, demzufolge Tugend als ein Mittel zum Glück gefordert ist, verwandelt sich in ihr und auch in allen Ethikansätzen unserer Zeit, die den Menschen primär als ein nach Glück strebendes Wesen in den Ansatz bringen,48 nicht. Es hat nun den Anschein, als zerbräche die Verbindung von Tugend und Glück, Sittlichkeit und gutem Leben im Denken Kants, der alle eudaimonistischen Ethikkonzepte verwerfend den Begriff der Tugend an den der Pflicht bindet. Die Vorwürfe sind bekannt: Sie verdichten sich von Anfang an auf die Frage nach dem Verhältnis von Pflicht und Neigung, Sollen und Wollen. Man kritisiert Kants Pflichtethik als der menschlichen Natur widersprechend und setzt ihr eine Ethik des gelungenen Lebens entgegen, die man insbesondere in der aristotelischen Ethik ausgearbeitet sieht. 49 Selbst wer zugesteht, daß Kants Theorie des Pflichtgefühls nicht unbedingt die Aufforderung in sich begreift, des Glücks gänzlich zu entsagen, wird sich doch der Frage stellen müssen, ob die auf den Pflichtbegriff erbaute Ethik, für welche die Unterscheidung von Sollen und Wollen konstitutiv ist, auch vermögend ist zu sagen, inwiefern das, was uns als unsere Pflicht auferlegt ist, mit unserem Streben nach einem gelungenen Leben denn zu vermitteln sei. Andere bezweifeln, daß es eine unbedingt gebotene Pflicht, ein die Geschichte transzendierendes "Du sollst!" überhaupt gibt und fordern dazu auf, die Frage, auf welchem Weg denn gelungenes Leben möglich sei, als eine geschichtliche Frage in der strengen Bedeutung des Begriffs zu stellen. 50 In Anbetracht derartiger Kritik ist es erforderlich, einige der Stellen, an denen Kant seinen Tugendbegriff ausarbeitet, anzusprechen, um den Ansatz Kants deutlich sichtbar zu machen. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1098 a 1 ff. Ebd. 1140 a 28; 1138 b 22 f. 48 Vgl. die Aufsatzsammlungen: Die Frage nach dem Glück, hg. von G. Bien, StuttgartBad Canstatt, 1978; Glück und Ethik, hg. von J. Schummer, Würzburg 1998; und: R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, Stuttgart 1989; J. Drescher, Glück und Lebenssinn. Eine religionsphilosophische Untersuchung, Freiburg / München 1991. 49 Die Entgegensetzung stellt in Frage: O. Hö!fe. Ausblick: Aristoteles und Kant - wider eine plane Alternative. In: Die Nikomachische Ethik, hg. von O. Höffe, Berlin 1995 (Klassiker Auslegen 2), 277 - 304. 50 Vgl. u.a: M. Sandei, Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, hg. von A. Honneth, Frankfurt/M. 1993, 18-35; A. Maclntyre, Ist Patriotismus eine Tugend? Ebd. 84-102, bes. 90-94. 46 47

11. Kants Moralphilosophie

211

Nach Kant ist ein tugendhafter Mensch einer, dessen Wille übereinstimmt mit seiner Pflicht, wobei die Übereinstimmung in einer festen Gesinnung begründet ist51 . Die Festigkeit der Gesinnung ist mithin konstitutiv dafür, daß man einen Menschen als tugendhaft oder gut ansprechen kann. Tugend ist auch für Kant der Begriff für eine Haltung, die auf den Charakter eines Menschen bezogen ist52 . Ein tugendhafter Mensch lebt mit dem festen Willen, das Gute zu tun. Das Gute aber ist nach Kant das, wozu ein Mensch sich verpflichtet weiß. 53 Insofern verknüpfen sich im Denken Kants die Begriffe des Guten, der Tugend und der Pflicht. Die Verbindung von Tugend und Glück, Tugend und gelingendem Leben, ist dennoch auch in Kants Denken insofern gegeben, als die Pflicht für Kant nur eine Verpflichtung des Menschen durch sich selbst und auf sich selbst, auf seine eigene Vernunft sein kann. Denn sie ist es, die dem Menschen ihr Gesetz als Pflicht zuwirft. 54 Im tugendhaften Handeln erweist der Mensch sich mithin als einer, der vermögend ist, seiner Vernunft zu folgen. Er erweist sich also als seiner selbst mächtig, d. h. als ein Selbst in der engen Bedeutung des Begriffs. Die Philosophie, deren Fragen sich in der Frage nach dem Menschen und seiner Bestimmung vereinigen,55 macht dem Menschen die Möglichkeit des Selbstseins durchsichtig. 56 Insofern es nun für Kant undenkbar ist, ein Leben als gut anzusehen, in welchem sich ein Mensch nicht auch als seiner Selbst mächtig erweist, handelt es sich auch bei der Philosophie Kants um eine Philosophie des gelingenden Lebens, in der das Se1bstsein des Menschen als Bedingung der Möglichkeit dafür, sein Leben als gut, d. h. sinnvoll betrachten zu können, anerkannt wird. 57 Das gelingende Leben aber ist nicht eines, in dem einer nur einfachhin glücklich ist, sondern das, in dem ein Mensch sich als Selbst, mithin als frei ansehen kann.

b) Die Unableitbarkeit der sittlichen Verpflichtung

Kant bestimmt die Tugend als "die Würdigkeit glücklich zu sein,,58 Darin deutet sich an, daß Kant in dem Glück, das einem im Leben widerfährt, eine Aufforde51 Vgl. MdS A 28; 46 (AA Bd. 6, 394; 405); KPV A 149 f. (AA Bd. 5, 84); REL B XXV; B 53/ A 49 (AA Bd. 6,14; 47). 52 Vgl. REL B 53/ A 49 (AA Bd. 6, 47); Anthropologie B 291/ A 293 (AA Bd. 7, 308). 53 MdS A 28 ff. (AA Bd. 6, 394 f.), wonach Tugend "die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht" ist. 54 GMS BA 13; 20 (AA Bd. 4, 399, 403); KPV A 144; 282 (Bd. 5, 81, 158). 55 Logik A 25 (AA Bd. 9, 25). 56 Vgl. dazu auch Kants Bestimmung der Philosophie als der "Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vemunft, Logik A 23 (AA Bd. 9, 23) bzw. "von der Beziehung aJler Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft, KRV B 867/ A839. 57 V gl. dazu ausführlich R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 19 - 27. 58 KPV A 198 (AA Bd. 5,110).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

rung an den Menschen erkennt. Glücklich zu sein, ist nicht an sich der Endzweck des Menschen, der Mensch sollte die Erfahrung, daß er glücklich ist, auch vor sich rechtfertigen können. Als rechtens kann er das Widerfahrnis von Glück aber nur begreifen, sofern er es in Entsprechung zu seinem eigenen sittlichen Verhalten bringen kann. Darum ist die Sittlichkeit "diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, d.i. keiner andern untergeordnet, ist (originarium)."s9 Indem Kant das oberste Gut als das bonum originarium bestimmt, hebt er darauf ab, daß die Tugend insofern ein unbedingter Wert ist, als sie von keinem anderen Gut abgeleitet, sondern nur in jener Ursprünglichkeit, mit der sie uns verpflichtet, auf- und ausgewiesen werden kann. Daraus folgt, daß unser Streben nach Tugend auch nicht aus unserer Daseinsbewegung, die auf Glückseligkeit geht, abzuleiten ist. Die Verpflichtung zur Tugend ist also kein abgeleitetes, sondern ein schlechthin primordiales Faktum, das mit dem Menschen und seinem Willen zum Selbstsein gegeben ist. Denn nur als moralisches Wesen kann der Mensch nach Kant freies Selbst sein,6oeine These, die insbesondere von G. Prauss kritisiert wurde und daher an anderer Stelle eigens zu besprechen sein wird. 61 Insofern die Tugend als das oberste Gut auf die oberste Bedingung aller Werte überhaupt ist, ist sie auch das oberste Kriterium für die Beurteilung von Handlungen. Sogar das Streben nach Glück, von dem man auch Kant zufolge voraussetzen darf, daß es alle Menschen in ihrem Dasein bestimmt, kann von uns nur unter der Bedingung als gut beurteilt werden, daß es in den übergeordneten Kontext des Strebens nach einem tugendhaften Leben eingeordnet werden kann. An sich ist das Streben nach Glück weder moralisch noch amoralisch, sondern dem Menschen von Natur aus aufgegeben. Moralisch zu beurteilen ist es nur insofern, als es sich um ein Aussein auf jenes Glück handelt, dessen ein Mensch würdig sein kann oder nicht, wobei das Kriterium der Würde die Tugend oder Sittlichkeit ist. Den epikureischen Ansatz verwerfend, bestreitet Kant daher, daß die Tugend nur als ein Mittel zum Glück angestrebt werden könne. Ihm geht es darum nachzuweisen, daß das Pflichtgefühl, welches vom Menschen gerade nicht fordere, nach dem Glück zu streben, sondern danach, der Glückseligkeit, die ihm zuteil wird, auch würdig zu sein, den Willen unmittelbar bewegen kann, d. h. unabhängig davon, ob sie ihm ein glückliches Leben verspricht oder nicht. Verkennt der epikureische Ansatz die unbedingte Verpflichtung, die uns durch die Sittlichkeit auferlegt ist, wird aber auch der stoische Ansatz der Unbedingtheit der sittlichen Verpflichtung nicht gerecht. Dem stoischen Ansatz zufolge ist die Zufriedenheit ein Zustand, der mit der Tugend verknüpft ist. 62 Für den Gedanken Kants ist entscheidend, daß jener glückliche Zustand, in dem die Tugend ihr eigener Lohn ist, nicht der Beweggrund zur Befolgung des Sittengesetzes ist. Er mag sich einstellen oder 59

Ebd.

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GMS BA 87, 98 (AA Bd. 4, 440, 447). Vgl. Teil C, Kap. IV,2. MdS A VII (AA Bd. 6, 377).

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1I. Kants Moralphilosophie

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auch nicht, auf jeden Fall ist der Mensch dazu verpflichtet, sittlich zu handeln und nach Tugend zu streben. Die Sittlichkeit soll um ihrer selbst willen gewollt werden und nicht, da man sich von ihr Glück erhoffen kann und sei es nur die Zufriedenheit, die aus dem Selbstbewußtsein eines tugendhaften Menschen folgen mag. Alle Entwürfe, in denen der Gedanke der Tugend mit der Erwartung von Glück, Zufriedenheit, mithin der Erwartung eines Lohnes oder - korrelativ - von Sanktionen verbunden wird, sind dem Kantischen Entwurf also von Grund auf entgegengesetzt. Um die Unabhängigkeit der sittlichen Verpflichtung von allen Lohnerwartungen deutlich zu machen, führt Kant mögliche Fälle an, bezüglich derer man mit guten Gründen das Urteil aussprechen kann, ein Mensch habe wider jene Neigungen, die ihm aufgrund seines naturhaften Strebens nach Glück vorgegeben seien, gehandelt, u. a. den Fall eines Menschen, der sein Leben aus Pflichtgefühl lebt, obwohl er es nicht lieben kann. 63 Daß ein Mensch sterben will und doch fühlt, daß er verpflichtet ist zu leben, ist für Kant ein Hinweis darauf, daß das Pflichtgefühl von Lusterwartungen unabhängig ist. Doch auch dagegen könnte man einwenden, daß man nicht beurteilen kann, ob ein solcher Mensch nicht doch noch leben will und sei es nur aus dem Grunde, daß er sich davon einen "Lohn" erhofft, wobei auch die Teilhabe am Dasein Gottes eine Form des erhofften Lohnes sein kann. Kant besteht zwar darauf, daß das Pflichtgefühl unabhängig von Lohn- bzw. Lusterwartungen sei, aber er ist sich auch dessen bewußt, daß die Fälle, die er zu dessen Veranschaulichung anführt, keinen Beweis seiner These darstellen. Dennoch widerspricht er der These, daß Lohn- oder Sanktionserwartungen als der Grund der Moralität anzuerkennen seien. Das Pflichtgefühl, führt Kant dazu aus, gebe dem Willen jene Bestimmung, die ihn in Bewegung versetzt, noch ehe dem Menschen ein Zweck vorgesetzt sei. Es bewege ihn also auch unabhängig von jeder Lusterwartung. Kant gesteht zwar zu, daß es schlechthin unmöglich sei, durch Erfahrung auch nur einen einzigen Fall auszumachen, in dem aus Pflicht gehandelt wurde. 64 Insofern könnte es sein, daß unser Handeln nicht nur in einer Anzahl von Fällen, sondern in allen möglichen Fällen durch die Erwartung von Lohn oder Sanktionen bestimmt ist. Von daher ist es unmöglich, einen Beweis für die Unableitbarkeit des Strebens nach Sittlichkeit aus dem nach Glück auf empirischem Wege zu erbringen. Statt dessen destruiert Kant die epikureische Zuordnung von Lusterwartung und Tugend, derzufolge ein sittliches Dasein nur um der aus der Tugend folgenden Lust willen erstrebt wird, indem er sie als in sich widersprüchlich erweist. Die Argumentation Kants hebt darauf ab, daß die Möglichkeit sittlichen Handeins unter der Voraussetzung einer Ableitung der Sittlichkeit aus dem Glücksstreben nicht verständlich gemacht werden kann. Denn wäre sittliches Handeln ein Mittel zum

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GMS BA 10 (AA Bd. 4, 397). GMS BA 28 (AA Bd. 4, 407).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Glück ist, müßte zum einen der Mensch einen bestimmten oder doch prinzipiell bestimmbaren Begriff des Glücks haben, um sich selbst von ihm her zur Sittlichkeit bestimmen zu können. Der Begriff des Glücks aber ist kein endgültig bestimmbarer Begriff. Zum anderen ist die Ableitung des Strebens nach Sittlichkeit aus der Erwartung von Lust oder Unlust insofern in sich widersprüchlich, als ein Mensch, der sich von einer tugendhaften Handlung Lust erwartet, einen Begriff von Tugend haben muß. Da der Begriff gegeben sein muß, ehe man ihn mit der Erwartung von Lust verbinden kann, kann sein Ursprung nicht in der Lusterwartung selbst gefunden werden. Die Vorstellung sittlichen Daseins ist nach Kant daher eine unableitbare Vorstellung, deren Ursprung nur in der apriorischen Vernunft des Menschen selbst gegeben sein kann. Kants Standpunkt begreift die These in sich, daß der Mensch sich auch zu seinen eigenen Lohn- und Sanktionserwartungen noch einmal verhalten kann, und zwar derart, daß er nur solche Erwartungen verinnerlichen wird, von denen er wollen kann, daß sie sein Handeln bestimmen werden. Das ist nur bei solchen Erwartungen der Fall, die ein Handeln befördern, das als tugendhaft angesehen werden kann. Zwar wird der Mensch als ein geschichtliches Wesen mit Notwendigkeit von solchen Erwartungen bestimmt, deren Verinnerlichung geschehen ist, noch ehe er sie wollen konnte oder nicht. Soll er dennoch als ein freies Wesen angesehen werden können, ist aufzuweisen, daß er sich auch zu den ihm geschichtlich vorgegebenen Sanktionserwartungen verhalten, d. h. sie auf ihr Moralität hin beurteilen kann.

3. Die formale Ethik Kants und ihre Entformalisierung a) Die Notwendigkeit einer tonnaten Ethik

Daß die Frage, ob Sittlichkeit um ihrer selbst willen oder nur als ein Mittel zu menschlichem Glück erstrebt werden kann, noch keinesfalls als entschieden gelten kann, wird u. a. in der Kritik greifbar, die man bezogen auf Kants ethischem Ansatz vortragen zu müssen glaubte. Schon A. Schopenhauer hat wider Kant die These vertreten, die Bedeutung des "Du sollst!" gründe stets in dessen Bezug zu einer Lohnerwartung. 65 Die Kritik trifft Kants Ethik in ihrem Grund. Denn falls der Anspruch "Du sollst!" nur mittels des Bezugs zu einem Lohn zu begründen ist, ist die These, daß das Pflichtgefühl unabhängig von dem Streben nach Glück sei, unhaltbar, insofern der Lohngedanke nur von dorther verständlich ist. Daß Schopenhauers These immer noch aktuell ist, belegt die empirische Psychologie, die jene Mechanismen, durch welche Lohnerwartungen sowie ihr Pendant, die Erwartung von Sanktionen, verinnerlicht werden, aufweisen konnte. Danach stellt sich die Tatsache, daß der Mensch sich in einer unbestimmten Anzahl von Fällen auf 65

A. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlagen der Moral, 133 f.

11. Kants Moralphilosophie

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ein Sollen hin angesprochen fühlt, wobei er das Gefühl hat, der Anspruch käme "von innen", d. h. aus ihm als ihm selbst heraus, dar als Folge der Verinnerlichung von Sanktionserwartungen66 . Doch auch in der Philosophie wurde die Kritik Schopenhauers aufgegriffen und bezweifelt, daß die Vernunft von sich aus vermögend ist, einen unbedingten Wert zu setzen, der es unmöglich macht, daß ein Mensch im Vollzug des Wertens nicht in einen unendlichen Regreß gerät. Das könne nur geschehen durch die Sinnlichkeit. Gehe man deshalb mit Epikur davon aus, daß derjenige, der Lust empfindet, sich als glücklich beurteilen darf, spreche man dem Gefühl der Lust den Vollzug einer unmittelbaren Wertung zu, der keine Vernünftelei widersprechen könne. 67 Unser Werten ist dann aber im Grunde irrational fundiert. Dadurch wird nun aber deutlich, warum Kant, den Epikureismus kritisierend, die ihn bewegende Frage aufwirft, ob die reine Vernunft an sich selbst praktisch, d. h. gesetzgebend sein kann. 68 Denn nur sofern nachgewiesen werden kann, daß die reine Vernunft, d. h. die Vernunft in ihrer Formalität, das Vermögen ist, durch das der Wert, der uns als das höchste Gut anspricht, gesetzt wird, kann man die These vertreten, daß unser Werten insgesamt ein rationaler Vollzug ist, was dann zur Folge haben wird, daß der Mensch sich selbst, nicht nur in seinen theoretischen, sondern auch praktischen Vollzügen als ein rationales Wesen ansehen kann. Ethikbegründungen, die von dem Sanktions- oder Lohngedanken ausgehen, dagegen stellen in Abrede, daß der Mensch sich gerade in seinem Streben nach Sittlichkeit als ein vernünftiges, d. h. zu rein vernünftiger Selbstbestimmung fähiges Wesen erweist. Auf philosophischer Seite hat u. a. E. Tugendhat in seinen "Vorlesungen über Ethik" die dem Standpunkt der empirischen Psychologie entsprechende These vertreten, auch das ,,Du sollst!", welches das Pflichtgefühl zuspricht, und dem das Be66 Nach behavioristischer Auffassung hat das moralische Verhalten des Menschen (moral behavior) seinen Ursprung in der Konditionierung der Vermeidung solcher Verhaltungen, die von der Gesellschaft mit Sanktionen belegt sind. Moralität ist demnach die Folge von Sanktionserwartungen, mithin von Angst. Grundlegend dazu. B. F. Skinner; Jenseits von Freiheit und Würde, Reinbek bei Harnburg 1973. In der entwicklungspsychologischen Sicht J. Piagets ist für die Ausbildung des Verpflichtungsgefühls und des Moralbewußtseins die Sanktionierung bestimmten Verhaltens durch die Erwachsenen, die von einern Heranwachsenden geachtet werden, konstitutiv. Die Achtung vor den Erwachsenden aber wird mit der Zeit überwunden zugunsten einer Achtung vor dem Gesetz, das einer autonomen Gesetzgebung entspringt und als solches in der gegenseitigen Achtung der gesetzgebenden Subjekte gründet. Obwohl Piaget selbst keine Begründung dafür gibt, warum sich Subjekte gegenseitig achten sollten, spricht er sich gegen Kants These aus, die Moralität könne vorn Standpunkt der Empirie aus schlechthin nicht begründet werden. Vgl. dazu J. Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt/Main 21976, (zu Kant S. 109). Der Ansatz Piagets wurde aufgegriffen von L. Kohiberg und zu einer Stufentheorie der Ausbildung der Moralität ausgearbeitet. Vgl. L. Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, hg. von W. Althof, Frankfurt/Main 1995. 67 Vgl. dazu M. Hossenfelders Begründung des epikureischen Standpunktes. M. Hossenfelder; Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epikureismus und Skepsis, 105. 68 KPV A 45 (AA Bd. 5, 25), vgl. A 56 und 81 (AA Bd. 5, 31, 46); GMS BA 125 (AA Bd. 4, 461).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

wußtsein "Ich muß" des sich verpflichtet fühlenden Menschen entspricht, sei "nur zu verstehen auf der Basis einer Sanktion, die eintritt, wenn ihr zuwider gehandelt wird".69 Bei der erwarteten Sanktion handelt es sich nach Tugendhat um die Scham, welche immer eine Scham vor den anderen ist. 70 Verpflichtet fühlen kann sich also nur der, der sich auch vor anderen schämen kann. Nur er hat ein Gewissen. Die Ausbildung des Gewissens aber hat als Vorgang der Verinnerlichung von Sanktionserwartungen nach Tugendhat empirische Griinde. Nun könnte man zwar einwenden, daß ein Mensch sich einer Tat schämen kann, obwohl er sich sicher sein darf, daß er keine Empörung zu erwarten hat. Es ist sogar möglich, daß er auf eine Art handelt, über die sich alle anderen empören, die er selbst dennoch für notwendig hält. Solche Handlungen sprechen zwar auch nach Tugendhat dafür, daß ein Mensch sich selbst bestimmen kann, und zwar auch wider alle Sanktionserwartungen. Dennoch könne in keinem Falle gesagt werden, ob seine Selbstbestimmung nicht doch von verinnerlichten, dem Menschen selbst nicht einmal bewußten Sanktionserwartungen bedingt war. Insofern aber die Verinnerlichung von Sanktionserwartungen empirische Griinde hat, stellt sich das Fundament der Tugendhatschen Ethik als ein empirisches, mithin nicht als ein rein rationales dar. Dagegen geht es Kant um den Aufweis, daß die Vernunft selbst dem Menschen ihr Gesetz auferlegen kann. Das Problem, ob unser Werten ein empirisches oder rein rationales Fundament hat, wird von Kant selbst angesprochen, wobei er auf die aristotelisch-scholastische Theorie unterschiedlicher, doch im Menschen zu einer Einheit verknüpfter Vermögen zuriickgreift. Die Begrifflichkeit der Scholastik aufgreifend, die Sinnlichkeit und das in ihr verwurzelte Streben nach Glück dem unteren Begehrungsvermögen zuordnet, merkt Kant an. "Alle materiale praktische Regeln setzen den Bestimmungsgrund des Willens im unteren Begehrungsvermögen, und, gäbe es gar keine bloß formale Gesetze desselben, die den Willen hinreichend bestimmeten, so würde auch kein oberes Begehrungsvermögen eingeräumt werden können.,,7l Nur sofern man von einem Begehrungsvermögen, d. h. der Möglichkeit einer Bestimmung des Willens sprechen kann, die nicht an die Sinnlichkeit gebunden ist, sondern rein rational erfolgt, kann der Mensch sich selbst als ein auch in seinen praktischen Vollzügen rationales Wesen ansehen. Da alle materialen Bestimmungsgriinde sinnlicher Art sind, dürfte das nur der Fall sein, sofern es möglich ist nachzuweisen, daß der Wille formal bestimmt sein kann, insofern die Vernunft ihm ihre Formalität auferlegen kann. Die Notwendigkeit einer formalen Ethik begriindet sich daher nach Kant zum einen aus dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit, den er jeder Ethik unterstellt,72 zum anderen aber aus dem Willen des Menschen, sich als ein Wesen anseE. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt! Main 1993,59. 70 Ebd. 7l KPV A 41 (AA Bd. 5, 22).

69

72

V gl. GMS BA VIII (AA Bd. 4, 389).

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hen zu können, welches in seinem Leben auch in bezug auf seine Willensbestimmung auf die Vernunft bauen kann. b) Die Formel des kategorischen Imperativs und ihre Umformungen

aa) Die Vorschriften der Klugheit und der Imperativ der Sittlichkeit Der von Kant geforderte Übergang von einer materialen zu einer formalen Bestimmung des höchsten Gutes findet seinen unmittelbaren Ausdruck in der Konzeption des Pflichtgefühls, die Kant in der GMS entworfen und in der KPVerneut vorgetragen hat. In der GMS definiert Kant die Pflicht als "Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz ,.73. Danach können nur solche Handlungen sittlich genannt werden, die aus pflicht geschehen. Der Definition zufolge stellt das pflichtgefühl nur eine einzige Forderung: Handle sittlich, d. h. handle aus Achtung vor dem Gesetz! Dabei kann es sich bei dem Gesetz nur um das Grundgesetz der Sittlichkeit handeln. Die Forderung des Pflichtgefühls, im Handeln das Gesetz der Sittlichkeit zu achten, gibt die Grenzen vor, in denen Handlungen als sittlich oder moralisch gut beurteilt werden können. Nur solche Handlungen sind demnach gut zu nennen, die nach Maximen geschehen, welche dem Grundgesetz der Sittlichkeit unterzuordnen sind. Die Maxime sittlichen Handeins lautet: Ich will das, was ich tue, tun, nicht nur in, sondern aus Achtung vor dem Grundgesetz der Sittlichkeit,74 d. h. mit dem Willen, durch mein Handeln jenem Anspruch, den mir mein Pflichtgefühl zuspricht, zu entsprechen. Mit der These, das pflichtgefühl stelle nur eine einzige Forderung, die der Sittlichkeit oder Tugend, greift Kant einen Gedanken auf, der schon bei Crusuis zu finden ist. Denn auch Crusuis setzt voraus, daß es den Menschen darum gehe, glücklich zu sein. Für die Glückseligkeit aber gilt, was für alle Zwecke gilt: ihrer teilhaftig wird man nur durch die Wahl der rechten Mittel, welche keine Sache der Pflicht ist, sondern eine der Klugheit. Sie sagt uns, welche Mittel zu wählen sind, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Zweck handelt, den wir uns selbst gesetzt haben, oder um einen Zweck, der uns aufgrund unserer Natur gesetzt ist. Von den Vorschriften der Klugheit aber ist die Forderung der pflicht zu unterscheiden. Es gibt nur eine Pflicht, nach Tugend zu streben. 75 Kant ordnet den Vorschriften der Klugheit die sprachliche Form des hypothetischen Imperativs zu, der "die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor[stellt]".76 Die pflicht dagegen gebietet die Achtung vor GMS BA 14 (AA Bd. 4, 4(0). Vgl. GMS BA 20 (AA Bd. 4,403); KPV A 130; 231; 270 (AA Bd. 5, 73,128,151) u.Ö. 75 D. Henrich, Über Kants früheste Ethik, Kant-Studien 54 (1962/63) 404-431, 415. 76 GMS BA 40 (AA Bd. 4, 414). Vgl.: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral A 96 (AA Bd. 2, 298). 73

74

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

dem Sittengesetz. Dabei bezieht sich die Forderung, die das Pflichtgefühl aufstellt, nicht auf eine Handlung, die als Mittel zu einem Zweck geboten wird, sondern stellt "eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig [vor]'m. Im Pflichtgefühl wird erfahrbar, daß es eine Handlung gibt, die es zu vollziehen gilt, und zwar unabhängig davon, welche Zwecke uns gesetzt sind oder wir uns gesetzt haben. Anders als bei allen Vorschriften der Klugheit handelt es sich bei der Forderung des Pflichtgefühls um ein unbedingtes Gebot um einen kategorischen Imperativ. Entscheidend ist, daß Kant den kategorischen Imperativ als unbedingtes Gebot einer Handlung deutet. Aufgrund dessen, daß er auch vom "Imperativ der Sittlichkeit,,78 spricht, ist es möglich, die Forderung des Pflichtgefühls auf die sprachliche Wendung zu bringen: "Achte die Sittlichkeit!". Es ist die Achtung selbst, die das Pflichtgefühl gebietet, und zwar derart, daß es darin auch vor die Aufgabe stellt, der Achtung vor dem Sittengesetz in allem Handeln und durch es Realität zu geben. Dadurch ist formal das Fundament einer allgemein verbindlichen Ethik aufgewiesen. Da der Begriff der Glückseligkeit einer Konkretisierung bedarf, die nur empirisch erfolgen kann, kann aus dem Streben nach Glück kein Imperativ abgeleitet werden, "der im strengen Verstande geböte, das zu tun, was glücklich macht,,79. Nur in einem streng gebietenden Imperativ aber kann das Prinzip einer Ethik gefunden werden, insofern apriori sicher ist, daß "ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse".80 Als absolut notwendig spricht sich uns im Pflichtgefühl die Achtung vor dem Sittengesetz zu. Nur sie kann das Prinzip einer allgemein verbindlichen Ethik sein, vorausgesetzt, es ist möglich, den Begriff des Sittengesetzes, der bislang nur formal eingeführt wurde, nun zur Bestimmung zu bringen.

bb) Die allgemeine Gesetzesformel Mit seiner Kritik am Eudaimonismus intendiert Kant den Beweis, daß die Sittlichkeit ihr Fundament nicht in der sinnlichen Natur des Menschen, sondern nur in dessen Vernunftnatur haben kann. In dem Gefühl, zu sittlichem Handeln verpflichtet zu sein, spricht sich dem Menschen der Anspruch der Vernunft selbst zu, dem wider alle Forderungen, welche die Natur ihm auferlegt, Geltung zu verschaffen ist. Allerdings bestimmt Kant die Achtung, die das Pflichtgefühl gebietet als ein "Gefühl", wobei er anmerkt: "Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbst77 78

79 80

GMS BA 40 (AA Bd. 4, 414). GMS BA 43 (AA Bd. 4, 416). GMS BA 47 (AA Bd. 4, 418). GMS BA VIII (AA Bd. 4, 389).

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gewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art [ ... ] spezifisch unterschieden.,,81 Soll Kants Ansatz nicht doch mit dem eudaimonistischer Ethikkonzepte in eins fallen, muß gezeigt werden können, daß sich das Pflichtgefühl von allen anderen Empfindungen, welche uns aufgrund unserer Sinnlichkeit zukommen, zu unterscheiden ist. 82 Es gilt also, sich der Aufgabe zu stellen, das von der Möglichkeit, Lust zu empfinden, gänzlich unabhängige Pflichtgefühl als eine Befindlichkeit oder sogar als die Grundbefindlichkeit der Vernunft selbst durchsichtig zu machen.

Kant selbst spricht zwar an keiner Stelle von einer oder der Grundbefindlichkeit der Vernunft. Bei dem Begriff der Grundbefindlichkeit handelt es sich um einen Begriff Heideggers, der darunter eine Geworfenheit des Daseins zu verstehen, in der sich dem Menschen sein eigenes Sein und Seinkönnen und mit ihm Sein überhaupt erschließt. 83 Unter einer Grundbefindlichkeit der Vernunft ist demnach eine Geworfenheit zu denken, in der sich der Mensch nicht nur als vernünftiges Wesen selbst durchsichtig wird, sondern die auch von der Vernunft selbst zugeworfen ist. Heidegger selbst betont, daß Kant im Pflichtgefühl die Art denke, in der das Gesetz sich als solches, d. h. als Achtung gebietendes, offenbare, und zwar derart, daß darin in einem zumal der Fühlende sich selbst offenbar werde, und zwar als moralische Person. 84 "Ich unterwerfe mich in der Achtung vor dem Gesetz mir selbst als dem freien Selbst. In diesem Mich-Unterwerfen bin ich mir offenbar, d. h. bin ich als ich Selbst.,,85 Das Pflichtgefühl kann man also mit Heidegger als eine das Selbst für sich selbst eröffnende oder erschließende Geworfenheit betrachten, die nur von der Vernunft selbst erwirkt, d. h. aber aus dem Selbst des Menschen zugeworfen gedacht werden kann. Inwiefern es zu rechtfertigen ist, davon zu sprechen, daß die Vernunft selbst dem Menschen eine Geworfenheit zuwerfen kann, wird die Besprechung der Kantischen Lehre vom Faktum der Vernunft erweisen. Kant unterscheidet das Streben nach Glückseligkeit als jenes Streben, das dem Menschen von Natur aus zu eigen ist, von dem Aussein des Menschen auf das, was zu wollen die Vernunft uns auferlegt. Da die Vernunft nur daran interessiert sein kann, daß dem Vernünftigen Geltung verschafft wird, fordert sie die Achtung für den Vernünftigen, das nach Kant nur in dem, was von allen vernünftigen Wesen als GMS BA 17, Anm. (AA Bd. 4, 401). Dabei scheidet der Verstand als Fundament des Pflichtgefühls apriori aus. Denn er kann nur bezogen auf die Sinnlichkeit tätig sein. Folglich gilt es, auch die Lust, die ein Mensch daraus empfangen kann, daß er die Natur als vernünftig geordnet beurteilen darf, nicht als das Fundament der Ethik in den Ansatz zu bringen. 83 M. Heidegger, Sein und Zeit, § 40: Vgl. auch: ders., Vom Wesen des Grundes, 166; ders., Was ist Metaphysik?, in: ders., Wegmarken (GA 9), hg. von E-W. von Herrmann, Frankfurt/M. 1976, 103-122; ders., Die Grundbegriffe der Metaphysik, 99 ff. 84 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 191 f. 85 Ebd.192. 81

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

gültig anzusehen ist, bestehen kann. Die Achtung vor dem Allgemeingültigen zu fordern, bedeutet nach Kant, den Menschen dazu zu verpflichten, die Wahl von Handlungsmaximen der Bedingung möglicher Allgemeingültigkeit oder Gesetzmäßigkeit zu unterwerfen. Ist der Begriff der Pflicht nicht ein leerer Begriff, führt Kant in der GMS aus, kann nur "die allgemeine Gesetzmäßigkeit überhaupt" als das gedacht werden, "was dem Willen zum Prinzip dient, und ihm auch dazu dienen muß,,86. Um seine These zu belegen, beruft Kant sich nochmals auf den gemeinen Menschenverstand. Danach gilt eine Handlung allgemeinen dann als sittlich zu rechtfertigen, wenn der Handelnde von sich sagen kann, er habe nach Maximen gehandelt, von denen man wollen kann, daß alle Menschen sie sich zu eigen machen. Ein endliches Wesen, das sich als vernünftiges Wesen gefordert fühlt, sich für sein Handeln vor sich und anderen zu rechtfertigen, kann sich die Forderung zusprechen: "Ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. ,,87 Dem entspricht der Imperativ, der sich als Forderung der Vernunft im Pflichtgefühl einem endlichen, doch vernünftigen Wesen zuspricht: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. ,,88 Bei ihm handelt es sich um das oberste Prinzip der Ethik Kants. Die Achtung vor dem Sittengesetz realisiert demnach nur derjenige, der den kategorischen Imperativ als eine Aufforderung, die an den eigenen Willen gestellt ist, anerkennt und entsprechend zu handeln gewillt ist. Wer das tut, weiß sich in der Wahl seiner Handlungsmaximen auf den Standpunkt der Allgemeingültigkeit verpflichtet. Das angegebene Prinzip bringt Kant in unterschiedlichen Wendungen zur Sprache, von denen die angeführte, als "allgemeine Gesetzesformel" bekannte Wendung der GMS die grundlegende ist. Sie wird in der KPVaufgegriffen. "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne," lautet die entsprechende Formulierung in der KPv. 89 Nach Kant ist "die allgemeine Gesetzesformel" bei der Beurteilung von Handlungen auf ihre Moralität zugrunde zu legen. Also handelt es sich bei ihr auch um das Prinzip, von dem her die Rechtfertigung des eigenen Handeins als eines moralischen zu erfolgen hat. "Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben überhaupt. ,,90 Demnach ist eine Handlung dann moralisch zu rechtGMS BA 17 (AA Bd. 4, 402). Ebd. 88 GMS BA 52 (AA Bd. 4, 421). 89 KPV A 54 (AA Bd. 5, 30). Vgl. GMS BA 81 (AA Bd. 4, 436 f.); MdS AB 25, A V, A 18 (AA Bd. 6, 225 f., 376, 389); Zum ewigen Frieden B 88/ A 82 (AA Bd. 8, 377); Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie A 501 (AA Bd. 8, 420) u.ö. 90 GMS 57 (AA Bd. 4, 424). 86 87

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fertigen oder sittlich gut, wenn sie nach Maximen erfolgt ist, von denen der Handelnde wollen kann, daß sie zu Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden. Da nun der Mensch als geschichtlich existierendes Wesen immer schon bestimmte Maximen gewählt hat, begreift die Forderung der möglichen Gesetzmäßigkeit der Handlungsmaximen in sich den Anspruch, die schon gewählten Maximen auf ihre Verallgemeinerbarkeit zu überpriifen, was nur dadurch geschehen kann, daß die Frage, ob man auch wollen kann, daß sie allgemeines Gesetz werden sollte, als Kriterium ihrer Vernünftigkeit auf sie angewandt wird. Da sowohl die Rechtfertigung zu wählender als auch die Überprüfung schon gewählter Handlungsmaximen nur in Form einer moralischen Argumentation erfolgen kann, handelt es sich bei dem kategorischen Imperativ zugleich um das Grundprinzip moralischen Argumentierens, das die Achtung vor der Allgemeinheit zu seiner Voraussetzung hat. 9l In der GMS überführt Kant die allgemeine Gesetzesformel in andere Formeln, welche die eine Forderung des kategorischen Imperativs auf mannigfaltige Art zur Sprache bringen. 92 Nicht nur die Funktion, sondern auch die Anzahl der Formeln des kategorischen Imperativs bei Kant ist strittig. 93 HJ. Paton94 unterscheidet drei Hauptformeln, die Gesetzes-, die Zwecke- und die Autonomieformel, und zwei Nebenformein, die Naturgesetzesformel und die Reich-der-Zwecke-Formel. Im Gegensatz dazu gehen andere von vier Formeln aus, wobei sie der allgemeinen Gesetzesformel den Status der Grundformel zusprechen. 95 Auch R. Wimmer unterscheidet die Trias von Gesetzesformel, Selbstzweckformel und Reich-der-ZweckeFormel von der Typisierung der Gesetzesformel in der Naturgesetzesforme1. 96 Es ist offensichtlich, daß die Formeln unterschiedlich systematisiert werden können. Für uns ist entscheidend, daß die Gesetzesformel die Forderung des kategorischen Imperativs in bezug auf die Formalität der Vernunft selbst ausspricht und die 91 R. Wimmer, Die Doppelfunktion des kategorischen Imperativs in Kants Ethik, in: KantStudien 73 (1982), 291-320, vertritt die These, bei Kants kategorischem Imperativ handle es sich um zwei fundamental verschiedene Prinzipien: Das Grundprinzip moralischen Argumentierens und ein Verfahren zur Prüfung von Handlungsmaximen. Da es sich bei der Prüfung von Handlungsmaximen aber um eine Form moralischen Argumentierens selbst handelt, kann nicht erkannt werden, inwiefern die von R. Wimmer betonte Unterscheidung für Kants Ansatz konstitutiv wäre. 92 Vgl. F. Kaulbach, Immanuel Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988, 94-100. 93 Vgl. R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche, FrankfurtIM 1980, 174-184. 94 H.J. Paton, Der kategorische Imperativ. Eine Untersuchung über Kants Moralphilosophie, Berlin 1962. 95 Vgl. G. Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Ethik, Tübingen 21967, 79ll5.; J. Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: ders., Ges. Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, 140160; O. Höjfe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 31 (1977),354-384. 96 R. Wimmer, Die Doppelfunktion des kategorischen Imperativs in Kants Ethik, 295 f.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Selbstzweckfonnel der Fonnalität der Vernunft eine Materie zuordnet. 97 Mit ihr wird in einem zumal das genannt, worin der kategorische Imperativ seinen ermöglichenden Grund hat. "Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm, allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes liegen. Nun sage ich. Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, [ ... ],,98 Darin ist genannt, woran die Vernunft aufgrund ihrer fonnalen Struktur allem voran interessiert ist. Von daher ergibt sich eine enge Verknüpfung der beiden Fonneln. Darum sehen wir es als berechtigt an, in einem ersten Schritt die Umfonnung der allgemeinen Gesetzesfonnel in die Selbstzweckfonnel zu besprechen.

cc) Die Selbstzweckfonnel In der GMS fonnuliert Kant die allgemeine Gesetzesfonnel zu der bekannten Selbstzweckfonnel um, die folgendennaßen lautet: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andem jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. ..99 Die Selbstzweckformel wird demnach der Tatsache gerecht, daß die Fonnel des kategorischen Imperativs, die aus einer rein fonnalen Bestimmung des obersten Prinzips der Sittlichkeit folgt, einer materialen Grundlegung bedarf. 100 Soll der kategorische Imperativ das oberste praktische Prinzip sein, argumentiert Kant, bedarf es eines unbedingten Zweckes, von dem her er als unbedingter Imperativ begriindet werden kann, da auch der Wille, der sich in dem obersten praktischen Prinzip griindet, nur als ein Aussein auf einen Zweck begriffen werden kann. Daß die Vernunft die allgemeine Gesetzmäßigkeit von Handlungen überhaupt fordert, so daß fonnal betrachtet die Vernünftigkeit der Handlungsnonnen in deren möglichen allgemeinen Gesetzmäßigkeit besteht, wird nur verständlich, insofern der Vernunft selbst die Forderung der Achtung vor der Allgemeinheit zugesprochen wird. Diese Forderung kommt in der zweiten Fonnel zur Sprache. Sie fordert dazu auf, den Menschen als ein Wesen zu achten, das aufgrund seiner Vernunft ein Subjekt von Zwecksetzungen sein kann, d. h. sein Handeln selbst bestimmen kann und auch soll, und zwar derart, daß er seine Selbstbestimmung auch zu rechtfertigen hat. Sie fordert also dazu auf, nicht nur sich selbst als moralisch verpflichtetes Wesen zu begreifen, sondern auch 97 GMS BA 64 (AA Bd. 4, 427). Vgl. F. Kaulbach, Immanuel Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 81.

98

Ebd.

GMS BA 67 (AA Bd. 4, 429). Zur Deutung vgl. ins. W. P. Mendonca, Die Person als Zweck an sich, in: Kant-Studien 84 (1993), 167 -184. 100 GMS BA 64-66 (AA Bd. 4, 427 -429). 99

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die anderen als der Möglichkeit nach moralisch handelnde Menschen zu begreifen. Die Vorstellung des Menschen als eines Zwecks an sich selbst ist der Grund des kategorischen Imperativs als des obersten Prinzips der Moralität. Insofern in der Selbstzweckformel der kategorische Imperativentformalisiert wird, ist davon auszugehen, daß der formale Ansatz der Ethik Kants ein methodologisches Prinzip darstellt. 101 Die Ausklammerung aller materialen Beweggriinde des Willens ist also keinesfalls der erste Schritt zur Grundlegung einer bloß formalen Ethik, der man dann ein materiales Ethikkonzept entgegensetzen könnte, 102 sondern nur ein methodisches Prinzip, um jene Bewegung auf das sittlich Gute zu, die rein in der Vernunft begriindet ist, aufzuweisen. Aufgrund der Methode wird die Daseinsbewegung des Menschen als einer sittlichen Persönlichkeit in einem ersten Schritt nur formal greifbar. Der formalen Bestimmung ist eine materiale in einem zweiten Schritt an die Seite zu stellen. In ihr entformalisiert sich die Verpflichtung auf das Sittengesetz zu der Pflicht zur Achtung vor dem Menschen, der als vernünftiges Wesen seine Zwecksetzungen verfolgt. Der formale Aspekt der Sittlichkeit, der in der Gesetzesformel zur Sprache kommt, und der materiale Aspekt werden von Kant zu der einen "Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens" vereinigt. I03

dd) Die Reich-der-Zwecke-Formel Die "Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens" entspricht der "Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt."I04 Würde hat ein Wesen nach Kant, sofern es selbst Zwecke setzen kann. Als solches kann es sich selbst das Gesetz seines Dasein geben. Dieser Würde kann nur durch die Forderung entsprochen werden, "daß jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können,,105. Das ist nur möglich, sofern alle Zwecksetzungen in eine Verknüpfung gebracht werden, deren Folge es ist, daß die Gesamtheit aller Zwecksetzungen als eine von allen vernünftigen 10l Vgl. dazu R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, bes. Kap. 1.3.7: Der angebliche Formalismus der Kantischen Ethik, 200-206. Von einer Dualität, die die Ethik Kants bestimmt, geht noch F. Schroeter aus und fordert dann in Abgrenzung zu J. Rawls Kantrezeption eine Dekonstruktion der Kant unterstellten Theorie der formalen Bestimmung des Willens. F. Schroeter, Kants Theorie der formalen Bestimmung des Willens, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993) 388-407. 102 In dem Kontext ist insb. der Ansatz von M. Scheler zu nennen. M. Seheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 4. Aufl., hg. von M. Scheler, Bem 1954 (Ges. Werke Bd. 2). 103 GMS BA 70 (AA Bd. 4, 431). 104 GMS BA 76 f. (AA Bd. 4, 434).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Wesen geteilte und insofern allgemeine angesehen werden kann. Entsprechend führt nach Kant die "Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als eins allgemein gesetzgebenden Willens" von sich aus zu dem Begriff eines Reichs der Zwecke, worunter die "systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze" zu verstehen ist. 106 Der in der Formalität der Vernunft verwurzelten Forderung der möglichen Verallgemeinerbarkeit eigener Zwecksetzungen entspricht also materialiter die Achtung vor allen vernünftigen Wesen als Zwecken an sich selbst, welche ihre Realisierung nur dadurch erfahren kann, daß die Zwecksetzungen auch der anderen geachtet werden. Das ist der Fall, sofern alle an der Gesetzgebung, durch welche das Dasein der Menschen zur Bestimmung kommt, beteiligt werden. Mit der Idee der Selbstzwecklichkeit aller Menschen und der mit ihr verknüpften Idee eines möglichen Reiches der Zwecke wirft die Vernunft eine unbedingtes Umwillen vor, das nach Kant von sich aus willens bestimmend fungiert, folglich an sich selbst gesetzgebend ist. Wer dem Gesetz folgt, wird sich und alle anderen Menschen als zwecksetzende Subjekte achten. Er wird seine eigenen Zwecksetzungen also in Übereinstimmung mit denen der anderen zu bringen bestrebt sein. Folglich ordnet sich ihm sein eigenes Streben nach Glück in das aller Menschen ein.

ee) Die Naturgesetzesformel Eine andere Funktion hat der Übergang von der Gesetzesformel zur Naturgesetzesformel. Er dient nicht der Materialisierung, sondern der Veranschaulichung der Forderung des kategorischen Imperativs. Die Naturgesetzesformel lautet nach der GMS: "handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte. ,,107 In der KPV wird die vorgenommene Umformung zur Naturgesetzesformel eigens begriindet. Kant macht dazu auf das Problem aufmerksam, das die Handlungen, deren Maximen auf ihre Sittlichkeit hin überpriift und gerechtfertigt werden sollen, in der Sinn welt geschehen. Das Sittengesetz aber ist ein unbedingt gebietendes Gesetz. Es ergibt sich dadurch ein Problem in der Anwendung des Sittengesetzes auf bestimmte Handlungen, das Kant in Analogie setzt zu dem Problem der Anwendung der Verstandesbegriffe auf das anschaulich Gegebene, das er in der KRV mittels des Gedankens der Schematisierung der Verstandes begriffe löst. 108 Um bestimmte, d. h. bedingte Handlungen unter das Sittengesetz, das im kategorischen Imperativ zur Sprache kommt, subsumieren zu können, bedarf es einer

105 106 107 108

GMS BA 84 (AA Bd. 4, 438). GMS BA 74 (AA Bd. 4, 433). GMS BA 52 (AA Bd. 4, 421). KRVB 176-187/A 137-147.

11. Kants Moralphilosophie

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"Versinnlichung" des Sittengesetzes. Eine solche Versinnlichung aber stellt ein Problem dar. Denn in der theoretischen Philosophie wurde bewiesen, daß es unmöglich ist, Kausalität aus Freiheit zu schematisieren, da alle Schemata, mittels derer Kausalität zu versinnlichen wäre, ihr Fundament in der Zeitvorstellung haben. Diese aber gilt es von der Kausalität aus Freiheit abzusondern. Das aber hat zur Folge, daß die Anwendung der Kausalität aus Freiheit auf die Sinnenwelt und auch die Subsumtion von Handlungen, die in der Sinnenwelt geschehen, unter das Sittengesetz nicht mittels des Entwurfs zeitlicher Schemata erfolgen kann. Soll aber Kausalität aus Freiheit als eine Kausalität möglich sein, die einem in der Sinnenwelt existierenden Wesen zukommt, kann die Frage nach der Anwendung des Sittengesetzes auf die Sinnenwelt nicht bei Seite gestellt werden, würde doch ansonsten der Begriff der Freiheit zu einem leeren Begriff. In Kants Behandlung der "Antinomien der reinen Vernunft" wurde die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit dadurch entschieden, daß nachgewiesen wurde, daß es möglich ist, sich auf einen Standpunkt zu stellen, von dem aus das, was geschieht, nicht nur als in der Zeit geschehend und d. h. dem Naturgesetz unterworfen sichtbar wird, sondern auch durchsichtig als möglicher Ausdruck einer Freiheit, deren Vollzug selbst unzeitig ist, obwohl das, was durch sie geschieht, in der Zeit greifbar wird. In der praktischen Philosophie nun kehrt sich der Gedankengang um. Nun kommt es nicht darauf an, sich die Natur als Ausdruck von Freiheit durchsichtig zu machen, sondern den Übergang von der Freiheit, deren Bestimmung des Willens nach dem Sittengesetz keine sinnliche sein kann, zur Sinnenwelt dadurch zu ermöglichen, daß das Grundgesetz der Freiheit in Form eines Naturgesetzes vorstellig gemacht wird. Kant selbst spricht von einer "Typisierung" des Sittengesetzes, die dessen Schematisierung ersetzen SOIl.109 Indem das Sittengesetz nach dem Typus des Naturgesetzes gedacht werde, werde die praktische Urteilskraft in Stand gesetzt, eine geschehene oder geschehende Handlung dem Gesetz der Sittlichkeit zu subsumieren und sie auf ihre Moralität hin in Frage zu stellen. "Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich ansehen könntest." 11 0 Die Beurteilung von Handlungen auf ihre Moralität hin setzt also voraus, daß das Sittengesetz in den Ansatz gebracht wird, als ob es sich bei ihm um ein Naturgesetz handeln würde. Dazu wird man von der Materialität der Natur abzusehen haben und nur auf deren Formalität, d. h. Gesetzlichkeit sehen zu können. Ihrer Form nach ist die Natur eine systematische Verknüpfung von Erscheinungen, in der das, was geschieht, mit Notwendigkeit geschieht. Es kommt folglich darauf an, nun die Zwecksetzungen vernünftiger Wesen und die ihnen entsprechenden Hand109 Vgl. KPV A 122 (AA Bd. 5, 69). Dazu R. Wimmer, Universalisierung in der Ethik, 175 -177, 180 f. HO KPV A 122 (AA Bd. 5, 69).

15 Bohlen

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

lungen, die zu systematisieren das Sittengesetz fordert, als solche Geschehnisse zu begreifen, die mit Notwendigkeit stattfinden, wobei die Notwendigkeit nun aber nicht in der Naturgesetzlichkeit gründet,sondern in der Unbedingtheit des Sittengesetzes selbst. Es stellt sich von daher die Aufgabe, die Verknüpfung von Handlungen, welche geschehen, als eine aufgrund der Unbedingtheit der Sittlichkeit selbst notwendige zu betrachten. Das aber ist nur möglich, sofern auf dem Fundament des Sittengesetzes der Entwurf einer sittlichen Welt, d. h. derIdee eines Reiches der Zwecke, erfolgt, in der alles, was geschieht, in Entsprechung zu dem Anspruch erfolgt, den die Sittlichkeit selbst als einen unbedingten stellt. Dann wird das Reich der Zwecke von uns "nach der Analogie mit einem Reiche der Natur" vorgestellt. 111 In dem Reich der Zwecke fanden aufgrund der Unterordnung aller unter eine allgemeine Gesetzgebung nur noch solche Handlungen statt, die in Entsprechung zum Anspruch der Sittlichkeit stehen. Dadurch wird der Anspruch der Sittlichkeit zu jener Macht, die den Menschen in seiner sittlichen Daseinsbewegung ebenso unbedingt bestimmt, wie das in bezug auf seine natürlichen Daseinsbewegungen durch das Naturgesetz der Fall ist. Die Überführung der allgemeinen Gesetzesformel in die Naturgesetzesformel fügt dem Gebot der Sittlichkeit kein anderes Gebot hinzu. Aber sie macht darauf aufmerksam, daß die Unterwerfung des eigenen Willens unter das Pflichtgefühl den Ausgriff des sittlichen Selbst auf eine sittliche Welt in sich begreift. Darin wird deutlich, daß Sittlichkeit nur in einer Welt gelebt werden kann. Wurde in der theoretischen Philosophie sichtbar, daß sich der Mensch nicht in sich schließen kann, da er sich die Einheit seines Selbstbewußtseins nur als apriorisches Vermögen zur Synthesis, d. h. zur Realisierung von Welt durchsichtig machen kann, wird nun sichtbar, daß auch das sittliche Selbstbewußtsein als das Vermögen zum Entwurf einer sittlichen Welt ein von Grund auf we1tbezogenes ist. Der Mensch, der sittlich leben will, wird auch wollen, daß die Welt eine sittliche sei. Zwar ist es schlechthin unmöglich, mit Bestimmtheit zu sagen, welche Gestalt eine sittliche Welt, falls es sie gäbe, denn hätte. Daß der Mensch dennoch nicht umhin kann, nach einer solchen Welt auszugreifen, wirft allerdings die Frage auf, ob die Hoffnung auf eine Welt, die man mit Kant auch "Reich Gottes" nennen darf, 112 berechtigt ist. 4. Zum Problem der Beurteilung von Handlungsmaximen Die von Kant vorgenommene Verknüpfung des formalen mit dem materialen Fundament der Sittlichkeit widerspricht jeder formalistischen Interpretation des Kantischen Ansatzes. Zu konstatieren ist allerdings auch ein Widerspruch zu Kants GMS B 84 (AA Bd. 4, 438). Zu dem Begriff "Reich Gottes" vgl.: A. Habichler, Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Studie zur kantischen ReichGottes-Idee, Mainz 1991; R. Langthaler, Kants Ethik als "System der Zwecke", 48, 57, 7579 u.ö.; R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 197 - 206. 111

112

II. Kants Moralphilosophie

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eigener Bemerkung, die Umformungen des kategorischen Imperativs hätten nur die Funktion, die Idee der Vernunft der Anschauung und den Gefühlen näherzubringen. 113 Obwohl sich in der Idee eines vernünftigen Wesens als eines Zweckes an sich die Forderung des kategorischen Imperativs materialisiert, ist die Idee doch streng genommen noch keine anschauliche Idee. Denn von sich als einem Zweck an sich kann sich kein Mensch eine anschauliche Vorstellung machen. Auch ist es uns nicht möglich, sich die Idee des Reiches der Zwecke zu anschaulichen. Unbeschadet dessen wird der allgemeinen Gesetzesformel durch ihre Materialisierung in der Selbstzweckformel eine Bedeutung für die Lebenspraxis zugesprochen, insofern durch sie zur Sprache kommt, daß der Verpflichtung zur Sittlichkeit der und nur der nachkommt, der sich das eigene Sein und das der anderen Menschen darauf durchsichtig macht, daß es sich eigentlich um das von Zwecken an sich handelt, und d. h. um das freier Wesen, die als sie selbst ihr Dasein zur Bestimmung zu bringen haben. Nach Kant sind die Idee der Würde eines vernünftigen Wesens und die mit ihr verbundene Idee eines möglichen Reiches der Zwecke also grundsätzlich der Gesetzesformel bei der Beurteilung von Handlungsmaximen an die Seite zu stellen. Eine Maxime ist also nicht nur darauf zu befragen, ob sie verallgemeinert werden kann,1I4 sondern auch darauf, ob sie mit der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens übereinstimmt oder nicht. 115 Konnte es in der rein formalen Bestimmung der Sittlichkeit noch den Anschein haben, als ermögliche die Gesetzesformel eine Beurteilung von Handlungsmaximen allein durch das Widerspruchsprinzip - was zur Folge hätte, daß alle Maximen als unmoralisch anzusehen wären, die, betrachtet als Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung in sich widersprüchlich sind - wird nun sichtbar, daß sich der Widerspruch, der bei einer Verallgemeinerung von Maximen entstehen kann, nicht auf eine Widersprüchlichkeit der Maxime selbst bezieht, sondern darauf, daß die Maxime nicht mit der Idee einer alle Menschen zu einer Menschheit einigenden Gesetzgebung übereinstimmt. Daß es sich sowohl bei der Selbstzweckformel als auch der Reich-der-ZweckeFormel um materiale Entfaltungen des kategorischen Imperativs handelt, ermöglicht also eine Beurteilung von Handlungsmaximen mittels einer materialen Betrachtung, in der es um die Frage geht, ob die gewählte Maxime im Widerspruch zur Idee des Menschen als eines Zweckes an sich steht. Eine solche Betrachtung ist allerdings insofern problematisch, als in ihr die Wahl einer bestimmten MaGMS B 81 (AA Bd. 4; 437). Der gegen Kants Ethik vorgebrachte Einwand eines "leeren Formalismus", in dem nur die Möglichkeit, eine Maxime zu verallgemeinern ohne dadurch den Willen in einen Widerspruch zu sich zu versetzen, als Beurteilungskriterium sittlichen Wollens in den Ansatz gebracht werde, geht zurück auf G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 135 (Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, Bd. 7, Stuttgart-Bad Canstatt 4 1964, 193 ff.). 115 So auch E. Schockenhoff, Das Autonomieverständnis Kants und seine Bedeutung für die katholische Moraltheologie, 73. Il3

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

xime, d. h. eine bedingte Handlung ins Verhältnis zu setzen ist zu jenem unbedingten Anspruch, der sein Fundament in der Selbstzwecklichkeit oder Würde des Menschen hat, um überhaupt beurteilen zu können, ob die bedingte Handlung dem unbedingten Anspruch entspricht. Da es streng genommen unmöglich ist, das Bedingte ins Verhältnis zum Unbedingten zu setzen, hält Kant es für ratsam, bei der Überpriifung von Handlungsmaximen nur die Formalität des kategorischen Imperativs in den Ansatz zu bringen. 116 Das ist einer der Griinde, warum man Kants Ethik als rein formal oder formalistisch kritisieren zu müssen glaubte. Im Gegensatz dazu ist nochmals zu betonen, daß der Formalität des kategorischen Imperativs in der Idee der Selbstzwecklichkeit des Menschen ein materiales Fundament gegeben ist. In der KU hebt Kant unter den Grundsätzen des Verstandes gebrauchs daher denn auch das Prinzip hervor, "aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt),,117 zu urteilen. Auch die Anwendung der Gesetzesformel in der Beurteilung von Handlungsmaximen macht ein solches Sichversetzen in einen allgemeinen Standpunkt erforderlich, welches nur dadurch geschehen kann, daß der Urteilende sich auf den Standpunkt der anderen oder, falls es möglich wäre, aller anderen Menschen versetzt. 118 Nur dann kann er sich verhalten, als ob er von einem allgemeinen Standpunkte aus urteilen könnte und würde. Das Sichversetzen in den Standpunkt der anderen hat nach Kant also die Funktion, alles einem Menschen Mögliche zu tun, um sich auf jenen allgemeinen Standpunkt hin zu bewegen, der nicht nur im anderen Menschen, sondern auch im eigenen Selbst gefunden werden kann. Von daher kann nun eine Beurteilung bestimmter Handlungsmaximen vorgenommen werden. Als ein Paradigma sittlichen Handeins wird von Kant selbst ein Mensch eingeführt, der sein Leben nicht lieben kann und sich dennoch entschließt, sich nicht zu töten, da er sich zu leben verpflichtet fühlt. 119 Das Prinzip, sich selbst zu töten, um einem Leben, das nur noch Elend verspricht, aus dem Weg zu gehen, kann durchaus als allgemeines Gesetz gedacht werden. Die Verallgemeinerung ist also an sich möglich. Das Prinzip steht folglich nicht im Widerspruch zum kategorischen Imperativ als einem rein formalen Prinzip. Dennoch ist eine Selbsttötung nach Kant ein unsittlicher Akt. Um die Unsittlichkeit einer Selbsttötung zu begriinden, hat R. Wimmer darauf aufmerksam gemacht, daß das Gesetz, nach dem eine Selbsttötung als sittlich zu beurteilen wäre, allen die Möglichkeit zuzusprechen hätte, sich aus Selbstliebe zu töten. Ein solches Gesetz aber stünde im Widerspruch zu dem Naturgesetz. Denn in der Natur sei die Selbstliebe zur Förderung des Lebens da. Obwohl also in beiden Fällen die Selbstliebe Endzweck wäre, ergäben sich zwei unterschiedliche Reiche der Zwecke, die in Widerspruch zueinander 116 117

118 119

Vgl. KPV A 48 (AA Bd. 5, 27); GMS BA 95 (AA Bd. 4, 444). KU B 159/ A 157 (AA Bd. 5, 295). Vgl. auch Anthropologie B 167 (AA Bd. 7, 228); Logik, AA Bd. 9, 57. Vgl. GMS BA 9 f. (AA Bd. 4, 397 f.).

11. Kants Moralphilosophie

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stünden. Das sei nach Kant unmöglich. 120 Das von R. Wimmer ausgearbeitete Verfahren zur Beurteilung von Handlungsmaximen ist insofern problematisch, als in ihm solche Maximen als unsittlich verworfen werden, die im Widerspruch zum Naturgesetz stehen. Nur für den Fall, daß das Sollen aus dem Sein abzuleiten wäre, könnte aber das Naturgesetz als Fundament der Beurteilung sittlicher Maximen fungieren. Die Unableitbarkeit des Sollens aus dem Sein aber setzt Kant mit Hume voraus. 121 Einen anderen Ansatz zur Interpretation des Paradigmas vertritt J. Ebbinghaus. 122 Er geht davon aus, daß die Selbsttötung jede zukünftige Maximenwahl eines Subjekts unmöglich machen würde. Nun könnte es sein, daß das Leben grundsätzlich mehr Unlust als Lust verspricht. Würden sich alle zur Maxime machen, sich aufgrund dessen, daß das Leben mehr Unlust als Lust verspricht, selbst zu töten, würde die Selbsttötung aller die Wahl von Maximen überhaupt unmöglich machen. Dadurch würde dann auch die Sittlichkeit selbst, die sich in der Wahl von Maximen äußert, selbst destruiert. Das hat zur Folge, daß die Maxime, sich selbst zu töten, sofern das Leben mehr Unlust als Lust verspricht, für Kant in jedem Fall gesetzlos ist. Das aber ist nur einsichtig unter der Voraussetzung, daß die Möglichkeit der Sittlichkeit einen unbedingten Wert darstellt, was nur dann der Fall ist, wenn der Mensch selbst als ein zur vernünftigen Wahl von Maximen fähiges Wesen selbst geachtet wird. Insofern handelt es sich bei der Interpretation von Ebbinghaus auch nicht um eine rein formale Argumentation. Man wird also davon auszugehen haben, daß für Kant die Sittlichkeit selbst und mit ihr dann auch die Beurteilung sittlichen Handeins ihr Fundament in der Achtung vor der Selbstzwecklichkeit des Menschen, vor seiner Würde, hat. Zweifellos interessant ist auch die Frage, ob sich aus dem Kantischen Ansatz Folgen für ein Verhalten zu solchen Menschen, die im Begriff sind, sich selbst zu töten, ergeben. Von Kant her dürfte man sich gefordert sehen, den Willen eines Menschen, der vorhat, sich selbst zu töten, da er sich vom Tod ein Ende seiner Not erwarten kann, zu achten, ist er doch Ausdruck dessen, daß der andere Mensch ein nach Glück strebendes Wesen ist, das zweckorientiert handeln kann. In seinem zweckorientierten Handeln kann aber auch sichtbar werden, daß er die Möglichkeit zu sittlichen Zwecksetzungen hat. Tötet er sich, macht er nicht nur seinem Leben, sondern auch der Möglichkeit der Sittlichkeit, insofern sie in ihm selbst lebendig 120 R. Wimmer, Die Doppelfunktion des kategorischen Imperativs in Kants Ethik, 309311; ders., Universalisierung in der Ethik, 340 ff. 121 D. Hume, A Treatise of Human Nature, hg. von L.A. Selby-Bigge und P. H. Nidditsch,

Oxford 21978,469 f. Vgl. KRV B 375/ A 318 f. ,,[I]n Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird." Vgl. KRV B 575/ A 547; Pro!. A 153 f. (AA Bd. 4, 344 f.); GMS BA 62 (AA Bd. 4, 427). 122 J. Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, 153.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

ist, ein Ende. Unbeschadet dessen also, daß der Todeswille eines anderen zu achten ist, wird man daher seinem Vorhaben um der allgemeinen Sittlichkeit willen eine Absage erteilen. Insbesondere eine Mitwirkung an seinem Tod verbietet die Achtung vor seiner Selbstzwecklichkeit, seiner Menschenwürde. Sie ist es allerdings auch, die es gebietet, seine Not zu sehen und in den Grenzen, die der Imperativ der Sittlichkeit vorgibt, entgegenzuwirken. 123 Der Ansatz Kants wirft allerdings die Frage auf, welcher Status denn solchen Menschen zukommt, denen die Möglichkeit zu Zwecksetzungen nicht oder nicht mehr gegeben ist, da sie kein Selbstbewußtsein, folglich auch kein Vermögen zum selbständigen Vernunftgebrauch haben. Sicher könnte man einwenden, daß es nicht rechtens sei, einem Menschen den selbständigen Vernunftgebrauch aufgrund empirischer Daten abzusprechen, kann doch sein Selbstsein nur als noumenale Gegebenheit angesehen werden. Da aber das Selbstsein eines Menschen auf seine Realisierung in der phänomenalen Welt angelegt ist, ist zu bezweifen, ob das angeführte Argument Bestand haben kann. Man wird daher kaum umhin können, den Gedanken der Selbstzwecklichkeit zu erweitern und in dem anderen Menschen nicht nur ein der Möglichkeit nach vernünftiges Wesen zu sehen, das selbst Zwecke setzen kann, sondern daß er als Mensch von sich aus dazu auffordert, die Zwecksetzungen, die man selbst hat, auf ihre Sittlichkeit zu befragen. Der andere Mensch ist, sogar für den Fall, daß er selbst keine Zwecke setzen kann, doch einer, welcher in seinem leibhaftigen Dasein der Möglichkeit nach zur Sittlichkeit auffordert. Ihm kommt daher eine Würde zu, die sich auch aus der Korrelation zu den Menschen, mit denen er da ist, begründet. 124 Im Widerspruch gegen die These, Kant fordere dazu auf, vom Streben nach Glück Abstand zu nehmen, um eines rein tugendhaften Daseins willen,125 hat Kant selbst betont, daß die Glückseligkeit zwar ein der Tugend nachgeordneter Wert, aber dennoch ein Konstituens des höchsten qua vollendeten Gutes ist. Die Einführung des Begriffs des vollendeten Gutes (bonum consummatum), nach der die Tugend "noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen ist; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert [ ... ],,126, ermöglicht es Kant der Deutung R. Wimmers zufolge, trotz der Überordnung der Tugend über die Glückseligkeit die auf 123 Zu den Folgen, die sich daraus für das Verhalten zu einem Notleidenden ergeben vgl. u. a. E. Schockenhoff, Sterbehilfe und Menschenwürde. Begleitung zu einem »eigenen Tod«, Regensburg 1991; ders., Den eigenen Tod annehmen. Sterbehilfe und Sterbebeistand aus theologischer Sicht, in: Hilfe zum Sterben? Hilfe beim Sterben!, hg. von H. Hepp, Düsseldorf 1992, 108-126; ders., Ethik des Lebens. Ein theologischer Grundriß, Mainz 1993, bes. 328 ff. 124 Vgl. dazu die Erwägungen von J. Hoff, Von der Herrschaft über das Leben - Zur Kritik der medizinischen Vernunft, in: Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium, hg. von J. Hoff und J. in der Schmitten, Reinbek 1994,270-331. 125 Vgl. Teil C, Anm. 8. 126 KPV A 198 (AA Bd. 5, 110).

11. Kants Moralphilosophie

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Glückseligkeit gehende Daseinsbewegung des Menschen anzuerkennen. Danach ist die Tugend weder nur ein Mittel, um glückselig zu werden, noch auch kann die Erfahrung der Glückseligkeit aus dem Streben nach Tugend abgeleitet werden. Statt dessen kommt es der Deutung des Kantischen Begriffs des höchsten Gutes durch R. Wimmer zufolge darauf an, die beiden Konstituenten des höchsten Gutes, Glückseligkeit und Sittlichkeit, in einen Bezug zu bringen, der dem von Bedingtem und Bedingung entspricht. 127 Danach ist die Tugend als das bonum originarium von unbedingtem Wert. Selbst unbedingt, ist sie die Bedingung, der das Streben nach Werten überhaupt unterzuordnen ist. Unterschiedliche Werte mögen uns von Natur aus als erstrebenswert gelten, da wir uns von ihnen eine Befriedigung unserer Neigungen erwarten dürfen. Doch in allem Streben haben wir uns zu fragen, ob unser Streben nach solchem, das uns Glück verspricht, mit dem Anspruch der Sittlichkeit in Einklang zu bringen ist. Kant erkennt mithin an, daß es sich bei Tugend und Glückseligkeit um irreduzible Komponenten des höchsten Gutes handelt. Zwar wird die Sittlichkeit um ihrer Selbst willen gewollt. Das Streben nach ihr kann nicht aus dem nach Glück abgeleitet werden. Doch auch das Streben nach Glück ist ein unableitbares Konstituens des Menschen. Kann nun die unbedingte Verpflichtung durch die Tugend deutlich gemacht werden, ergibt sich unter der Voraussetzung der Irreduzibilität von Tugend- und Glückseligkeitsstreben die Frage, welche Form das Streben nach Glück denn annehmen wird in dem Augenblick, in dem die sittliche Verpflichtung eingesehen wird. Dabei kann ausgeschlossen werden, daß die Verpflichtung zur Tugend mit der Forderung, das Streben nach Glück aufzugeben, zu verknüpfen ist. Statt dessen ist von einer Verwandlung des Glücksstrebens auszugehen, die sich aus dessen Unterordnung unter die sittliche Verpflichtung ergibt. Sittlich zu handeln, bedeutet, in seinem Handeln die anderen als Zwecke an sich selbst anzuerkennen, d. h. als solche Subjekte, die zu eigenen Zwecksetzungen fähig sind. Wer sich zur Sittlichkeit verpflichtet erkennt, wird daher in seinem eigenen Streben nach Glück auch die Zwecksetzungen anderer beachten. Folglich wird er sein eigenes Streben nach Glück in den Kontext des Strebens aller Menschen, von dem vorauszusetzen ist, daß auch es auf Glück ausgerichtet ist, einstellen, und zwar derart, daß er das allgemeine Streben nach Glück als das primäre Gut, dem er sein Streben nach eigenem Glück ein- und unterzuordnen hat, ansehen wird. Dadurch verwandelt sich das Streben des Menschen nach Glück von einem nur auf ihn selbst bezogenen Streben zu einem Streben, das als Teil der Daseinsbewegung aller Menschen gedeutet werden kann. Die für die empiristische Ethik grundlegende These, es komme darauf an, das größtmögliche Glück aller Menschen anzustreben, da man von Natur aus ein Interesse auch an dem Glück der anderen habe, erfährt von daher gesehen durch Kant 127 Vgl. R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 27 unter Berufung auf KPV A 198 (AA Bd. 5, 110), wonach die Tugend die "oberste Bedingung alles dessen [ist], was uns wünschenswert erscheinen mag mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit".

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

eine gewandelte Grundlegung. Denn nach Kant ist es die Sittlichkeit, die es zur Pflicht macht, sich das größtmögliche Glück aller Menschen zur eigenen Aufgabe zu machen. Wer sein Streben nach eigenem Glück in den Kontext des Strebens nach dem größtmöglichen Glück aller einordnet, orientiert sich in seinem Handeln mit Notwendigkeit an einer idealen Welt, in der alle möglichst glücklich sein können, da alle ihr Streben nach eigenem Glück in eine Verknüpfung mit dem Streben der anderen gebracht haben, wodurch sie sich selbst als sittliche Subjekte, d. h. als Zwecke an sich selbst, mithin frei, erweisen. Die ideale oder auch noumenale Welt wird von Kant, da es sich auch bei ihr um eine durch Verknüpfung bestimmte Einheit handelt, in Analogie zu dem Reich der Natur als das Reich der Zwecke gedacht. Sein Grundgesetz ist das Sittengesetz, das von dem, der es einsieht fordert, sein Streben nach Glück mit dem der anderen zu verknüpfen. Uns kommt es darauf an, das Geschehen der Gesetzgebung der Vernunft, in welchem dem Menschen sein Sein als ein der Möglichkeit nach sittliches erschlossen wird, als den Anhaltspunkt eines Sprechens von der Geschöpflichkeit des Menschen und der Geschaffenheit von Sein überhaupt zu deuten. Da sich uns die Frage nach einem solchen Anhaltspunkt im Kontext der Tatsache stellte, daß der Schöpfungsglaube einem durch den Ansatz der Naturwissenschaften bestimmten Denken kaum noch zu vermitteln ist, ist es nun unumgänglich, das Kantische Sprechen von der menschlichen Freiheit, die sich in der Sittlichkeit erschließt, als vernünftig auszuweisen. Denn nur sofern auch ein Naturwissenschaftler der Deutung des Menschen als eines sittlichen und freien Wesens zustimmen kann, dürfte es auch möglich sein, mit ihm auf der Grundlage der kritischen Philosophie Kants danach zu fragen, ob der Glaube an die Schöpfung eine Option ist, die man als vernünftig ansehen darf.

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit 1. Zum Problem der Deduktion von Sittlichkeit

Dem Wesen nach ist der Mensch ein vernünftiges Wesen. Folglich wird der Mensch dadurch eigentlich er selbst, daß er der Vernunft Macht über sein eigenes Dasein verschafft. Das aber ist nur möglich, sofern die Vernunft in seinem Dasein ihren Anspruch, zur daseinsbestimmenden Macht werden zu wollen, dem Menschen als einem endlichen Wesen zusprechen kann. Das geschieht nach Kant im Pflichtgefühl, welches ein "durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl" ist 128• Die These, daß nur die Vernunft selbst es sein kann, welche das Pflichtgefühl erwirkt, beweist Kant, indem er aus der Formalität der Vernunft selbst den kategorischen Imperativ deduziert als den Anspruch, der sich im Pflichtgefühl einem endlichen Wesen als unbedingtes "Du sollst!" zuspricht. In ihm erweist sich die 128

GMS BA 17, Anm. (AA Bd. 4, 401).

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

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Vernunft selbst als der Möglichkeit nach gesetzgebend. Es wäre nun noch nachzuweisen, daß es sich bei der Gesetzgebung der Vernunft um eine reale Möglichkeit handelt, eine Möglichkeit, die im Dasein eines Menschen zur Wirklichkeit werden kann. Dazu wäre der Nachweis zu erbringen, daß die Vernunft derart auf den Willen eines endlichen Wesens einwirken kann, daß es zu einer rein vernünftigen Willensbestimmung kommt, der sich alle anderen Beweggründe menschlichen Daseins unterordnen. Um der Unterordnung aller sinnlichen Triebfedern des Handeins unter den Imperativ der Vernunft willen, muß dem Menschen die Möglichkeit gegeben sein, sich von allen sinnlichen Triebfedern frei zu machen. Folglich kann Sittlichkeit nur für ein freies Wesen eine reale Möglichkeit sein. Man darf begründet annehmen, daß Kant in der Ausarbeitung der GMS noch daran dachte, die Faktizität der Sittlichkeit beweisen zu können dadurch, daß er sie aus der Freiheit deduziert. Denn die Rechtfertigung des kategorischen Imperativs, in der die Frage, ob der Imperativ wirklich stattfindet oder stattfinden kann, entschieden werden soll, wird von Kant dort als Deduktion angekündigt. 129 Die Verwendung des Begriffs begründet sich aus der Analogie zu der in der KRV ausgearbeiteten Deduktion der Verstandesbegriffe. In ihr ging es um die Berechtigung der Anwendung der apriorischen Verstandes begriffe auf das anschaulich Gegebene, mit der Formulierung Kants: um die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. 130 Auch das oberste Prinzip der Moralität ist nach Kant ein synthetisches Urteil aprioriY1 Denn in ihm wird ein Anspruch, der apriori gilt, dem Menschen als einem endlichen, doch vernünftigen Wesen zugesprochen. Kant spricht von einer Synthesis des Begriffs der Sittlichkeit mit dem Begriff der Vernunft überhaupt, also auch der endlichen Vernunft. Die Anwendung des Sittengesetzes auf den Menschen als vernünftiges, doch endliches Wesen, bedarf der Rechtfertigung, ist doch denkbar, daß Wesen von endlicher Vernunft überhaupt nicht sittlich sein können, folglich auch nicht sein sollen. Kant ist sich selbst dessen bewußt, daß die Deduktionsproblematik in der theoretischen Philosophie nur durch ,jahrelange Bemühung,d32 zu lösen war, entsprechende Probleme erschweren nun auch in der praktischen Philosophie die Ausarbeitung des Gedankens. 133 Folglich ist auch die Deutung der Kantischen Deduktionsbestrebungen schwer. Das dürfte der Grund dafür sein, daß sie in der Kantdeutung umstritten sindY4 Der Streit betrifft sowohl die Frage, ob Kant einen Beweis der Faktizität von Sittlichkeit erbringen oder nur deren Möglichkeit rechtfertigen wollte, als auch die GMS BA 59 (AA Bd. 4, 425). KRV B 19, Pro!. A 41, 45 (AA Bd. 4, 276, 278). 131 GMS BA 99 (AA. Bd. 4, 447). 132 Pro!. A 44 (AA Bd. 4, 277). 133 GMS BA 50 (AA Bd. 4, 420). 134 Einen Überblick über die unterschiedlichen Ansätze findet man bei A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, 169-174. 129

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Frage, ob Kant zur Zeit der Ausarbeitung der GMS noch glaubte, Sittlichkeit deduzieren zu können oder sogar deduziert zu haben 135 oder auch nicht. Daran knüpft sich dann eine Debatte, ob Kant in der Deduktion der Sittlichkeit gescheitert ist, ob sein Scheitern der Grund für eine gewandelte Ausarbeitung der Moralität in der KPV war 136 , oder ob die Ansätze der Schriften im Grunde doch einem Gedankengang verpflichtet sind. I37 Ehe es daher unsere Aufgabe sein wird, dem Problem der Deduktion der Sittlichkeit in der GMS und dem gewandelten Ansatz der KPV nachzugehen, ist die Struktur des Anspruchs der Sittlichkeit deutlicher zum Aufweis zu bringen. Denn nur von ihr her kann verständlich gemacht werden, warum Kant in der KPV mittels seiner These vom Sittengesetz als einem "Faktum der Vernunft" seinen eigenen Deduktionsbestrebungen selbst eine Absage erteilt.

2. Die zirkuläre Struktur der Sittlichkeit a) Der An-spruch der Sittlichkeit und die Notwendigkeit subjektiver Ent-sprechung

Das Vernünftige kann nach Kant nur sein, was vor allen vernünftigen Wesen als gültig gerechtfertigt werden kann. Wer sich als vernünftiges Wesen ansieht, fühlt sich daher von dem Allgemeingültigen auch schon angesprochen, weiß sich auf dieses verpflichtet. Die Verpflichtung kann in den eigenen Willen aufgenommen werden. Entsprechend führt Kant die Unterordnung unter das Pflichtgefühl auf einen Willensakt zurück, der als Grundakt der Sittlichkeit anzusehen ist. Die Achtung vor dem Sittengesetz legen wir selbst uns auf und "als von uns selbst uns auferlegt, ist es [das Sittengesetz] doch eine Folge unsers Willens" 138. Daß wir uns das Sittengesetz auferlegen, ist, obzwar eine Folge des Willens, doch kein Akt der Willkür. Denn dadurch entsprechen wir einem uns zugesprochenen Anspruch. Wir verschaffen dem Macht, das von sich aus in uns machten will. Entsprechend ist das Pflichtgefühl einerseits ein durch die Vernunft, d. h. durch die Subjektivität des Subjektes selbstgewirktes Gefühl, andererseits aber "als Wirkung des Gesetzes aufs Vgl. GMS BA 112 (AA Bd. 4,454). Grundlegend: H. J. Paton, Der kategorische Imperativ; Vgl. D. Henrich, Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Grunde der Dunkelheit des letzten Abschnittes von Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", in: Denken im Schatten des Nihilismus, FS für W. Weischedel, hg. von A. Schwan, Darmstadt 1975,55 -112; K. Ameriks, Kants Deduction of Freedom and Morality, in: Journal ofthe History ofPhilosophy 19 (1981), 53 -79; G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt/M. 1983,60, 120 und 230 ff. u. a. 137 L. W Beck, Das Faktum der Vernunft, in: Kant-Studien 52 (1961), 271-282; B. Högemann, Die Idee der Freiheit und das Subjekt. Eine Untersuchung von Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten''', Königstein / Ts. 1980 u. a. 138 GMS BA 17, Anm. (AA. Bd. 4, 401). 135

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III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

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Subjekt" zu verstehen l39 . Danach fühlt das Subjekt sich zur Achtung vor dem Sittengesetz, die es als Wirkung des durch seine Vernunft selbst Erwirkten auf es selbst fühlt, verpflichtet. Ein solcher Ansatz ist nur möglich, sofern das Subjekt in sich den Unterschied von rein vernünftiger Subjektivität und endlichem, doch vernünftigem Subjektsein auszutragen hat, jenen Unterschied, den Kant in seiner theoretischen Philosophie als Spannung von transzendentaler und empirischer Subjektivität ausgearbeitet hat. Legt sich das Subjekt das Sittengesetz auf, tut es nichts anderes als der Möglichkeit einer rein vernünftigen Selbstbestimmung, die es nur als in der transzendentalen Subjektivität begründet ansehen kann, zuzustimmen, und zwar als einer Möglichkeit, auf die es hin zu leben gilt. In seinem Aufsatz "Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft" hat D. Henrich auf die von Kant gedachte zirkuläre Struktur der Sittlichkeit aufmerksam gemacht. Danach bedarf das Gute der Zustimmung. Ohne sie kann es nicht als solches sichtbar werden. Indem das Selbst dem Guten als solchem zustimmt, bestimmt es sich selbst dazu, dem Anspruch, von dem es sich getroffen fühlt, entsprechen zu wollen. Dadurch aber begründet es sich als das Selbst, das sein Dasein als Aussein auf das Gute leben will. "Indem die sittliche Einsicht weiß, was das Gute ist, weiß sie auch, daß das Selbst sich auf es hin schon versteht oder daß es sich auf es hin zu verstehen hat, um selbst zu sein [ ... ]. Man kann sagen, daß es sich in ihr als Selbst allererst konstituiert.'d4o Zwar ist die Anwendung des Begriffs der Konstitution auf das Geschehen der Selbstwerdung des Menschen problematisch. Setzt man aber mit Kant voraus, daß derjenige, der philosophiert, nach dem eigentlichen Selbstsein des Menschen fragt, wird man von der GMS her sagen können, daß der Mensch nach Kant eigentlich er selbst wird, indem er sich jene Verpflichtung auf das Allgemeingültige auferlegt, welche die Einsicht, daß es sich darin um das Vernünftige, mithin Gute handelt, ermöglicht. Daraus ergeben sich nun Folgen für die rechte Deutung des Kantischen Autonomiegedankens. 141 Selbstbestimmung (Autonomie) kann für ein vernünftiges Wesen nur sittliche Selbstbestimmung sein l42 , die als Zustimmung zu solchem anerkannt wird, was sich von sich aus als das Gute in die Sicht bringt. Man trifft daher die Absicht Kants nicht, sofern man ihm unterstellt, er wolle den Menschen von allem, das ihn einfordert, befreien. 143 Das ist nicht der Fall, denn das Sittengesetz Ebd. D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hg. von G. Prauss, Köln 1973, 223 - 254, bes. 230. 141 Die Bedeutung des Autonomiegedankens für die Philosophie Kants wird u. a. darin greifbar, daß er Autonomie im "Opus postumum" mit Philosophie in eins setzt (AA Bd. 21, 106). 142 GMS BA 87, 98,104 f. (AA Bd. 4, 440, 447, 450). 143 Vgl. E. Schockenhoff, Das Autonomieverständnis Kants und seine Bedeutung für die katholische Moraltheologie, 71: "Die Forderung nach Autonomie des Ethischen entspringt deshalb nicht einern Emanzipationsstreben des Menschen aus allen sittlichen Bindungen. Sie ist vielmehr von der unbedingten Sorge diktiert, die ethische Motivation reinzuhalten und 139

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

wird eingesehen als eine unbedingte Forderung, die an den Menschen ergeht. Diese Forderung aber kommt als Forderung der Vernunft aus dem Menschen selbst. Daß in Kants GMS greifbar wird, daß es problematisch ist, die Selbstwerdung des Menschen im Geschehen der sittlichen Einsicht auf dem Fundament des transzendentalphilosophischen Ansatzes verständlich zu machen, dürfte der Grund dafür sein, daß D. Henrich auf S. Kierkegaard Bezug nimmt,l44 für den das Selbst jenes Wesen ist, das sich zu sich selbst verhalten muß. 145 Kierkegaards Ansatz aufgreifend hat Martin Heidegger den Menschen als das Seiende begriffen, dem es in seinem Sein um sein Sein geht,146 der also ein primär praktisches Verhältnis zu sich selbst hat. Dabei ist der Mensch für Heidegger das Seiende, das durch sein Sein, seine Praxis, bestimmt, wer es selbst iSt. 147 Das Sein des Menschen deutet Heidegger dann als Einheit von Entwurf und Geworfenheit, die These vertretend, daß der Entwurf "geworfener Entwurf" iSt. 148 Danach kann der Mensch aus sich selbst sein eigenes Sein nur entwerfend deuten, da seine Geworfenheit ihm einen solchen Entwurf ermöglicht, derart, daß der Entwurf einem Anspruch entspricht, der sich in der Geworfenheit zugeworfen hat. 149 Es legt sich nahe, Kants Theorie des Pflichtgefühls von Heideggers Begriff menschlichen Daseins her zu deuten. Dafür spricht zum einen, daß Heidegger selbst das Pflichtgefühl als ein das Selbst für sich selbst offenbarendes Gefühl deutet, ihm also das Wesen einer Grundstimmung zuspricht, ISO worauf an anderer Stelle eingegangen wurde. Zum anderen ergab unsere Deutung der theoretischen Philosophie Kants, daß Kant in der KRV Freiheit dadurch zu retten bestrebt ist, daß er die Möglichkeit solcher Akte des Subjektes nachweist, die nicht in der Zeit geschehen und doch in ihren Wirkungen in der Zeit greifbar werden. In seinen praktischen Schriften betont Kant die Bedeutung, welche die Möglichkeit der Absonderung der Zeit von der reinen Subjektivität für die Praxis des Menschen hat. 151 Danach gibt es überhaupt nur den einen Weg zur Rettung der Freiheit: Die Unterscheidung des Seins des Menschen als eines Daseins in der Zeit (homo phaenomenon) von seinem den sittlichen Standpunkt hervortreten zu lassen." Vgl. auch N. Fischer, Zur Kritik der Vernunfterkenntnis bei Kant und Levinas. Die Idee des transzendentalen Ideals und das Problem der Totalität, in: Kant-Studien 90 (1999), 168 -190, bes. 187; ders., Kants kritische Metaphysik und ihre Beziehung zum Anderen, 214. 144 D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, 252, Anm. 5. 145 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, übers. von E. Hirsch, Regensburg 1954 (Ges. Werke, 24./25. Abt.), 8 f. 146 M. Heidegger, Sein und Zeit, 12. 147 Vgl. ebd., 317 ff. 148 Ebd. 223; vgl. auch § 31,142-148. 149 Die Rückführung der Geworfenheit auf einen Zuwurf des Seins findet sich deutlich in den Schriften Heideggers nach der Kehre. Vgl. dazu F.-w. von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", Frankfurt/M. 1994. 150 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 191 f. 151 KPV A 169 f., 184 (AA Bd. 5, 94 f., 102 f.).

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

237

Dasein als Ding an sich (homo noumenon).152 Nur sofern das Subjekt sich als Ding an sich selbst ansehen kann, kann es sein Dasein als eines begreifen, das nicht unter Zeitbedingungen steht und das daher durch rein vernünftige Gesetze bestimmt werden kann. 153 Als Wesen der Freiheit ist das Subjekt den Zeitbedingungen nicht unterworfen, die Akte seiner Freiheit geschehen also nicht in der Zeit, sofern Zeit als Abfolge von Zeiteinheiten vorgestellt wird. Dennoch ist eine Verknüpfung der Akte der Freiheit mit deren Wirkungen in der Zeit anzunehmen. 154 Soll eine solche Verknüpfung gedacht werden können, wird man - den Kantischen Ansatz erweiternd nicht von einer Absonderung der Zeit von der Freiheit, sondern von der Zuordnung der als Abfolge vorgestellten Zeit zu einer anderen, die Abfolge fundierenden Zeit auszugehen haben, die Kant noch nicht zu denken vermochte. Auszugehen ist von jener Zeitigung der Zeit in der Einheit von Entwurf und Geworfenheit, die von der Phänomenologie, insbesondere der Phänomenologie Heideggers gedacht wurde. Von Heidegger her gesehen, kann es sich auch bei dem Pflichtgefühl nur um eine Befindlichkeit handeln, in welcher die Geworfenheit des Daseins zur Bestimmung gelangt. Das kann nur geschehen sein durch einen Zuwurf, in dem sich übereignet hat, was durch das Dasein entwerfend anzueignen ist, und zwar derart, daß es in seinem Entwurf der eigenen Geworfenheit und darin dann auch dem Zuwurf selbst entspricht. Bezüglich des Pflichtgefühls stellt sich die Einsicht in das Sittengesetz als ein solcher Zuwurf dar. Denn das Sittengesetz kann nur einsichtig werden, sofern es sich von sich her als das Fundament praktischer Vernunft in die Sicht bringt. Das geschieht im Pflichtgefühl, indem das Gesetz selbst den Anspruch auf Achtung erhebt, "so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.,,155 Der Zuwurf wird dann entwerfend angeeignet, wenn sich der Mensch dem Anspruch auf Achtung des Sittengesetzes eigens unterwirft, d. h. ihm den eigenen Willen unterstellt. "Der Gegenstand der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unseres Willens [ ... ]"156. Derart kann die sittliche Verpflichtung in der ihr eigenen zirkulären Struktur, derzufolge die Pflicht nicht von außen kommt und dennoch keine willkürliche Setzung ist, kein "Gemächte" des Subjekts sein, sondern das, von dem her das Subjekt zu sich selbst kommen kann. Die zirkuläre Struktur der Selbstwerdung des Menschen muß unverständlich bleiben, solange man von einer Philosophie her denkt, in deren Kontext sich entweder das Gute als Wirkung des Subjektes oder das Selbst als vom Guten Erwirk152 Vgl. insbes. F. Ricken, Homo noumenon und homo phaenomenon, in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M. 1989,234-252; F. Kau/bach, Immanuel Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 139 -150. 153 KPVA 170-174 (AA Bd. 5, 95-97). 154 Vgl. auch den Ansatz von H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, 152, 156. 155 GMS BA 17, Anm. (AA Bd. 4, 401). 156 Ebd.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

tes darstellt. Das ist der Fall in jenem Philosophieren, welches Zeit nur als Abfolge von Zeiteinheiten und nicht als Zeitigung in der Einheit von Entwurf, Geworfenheit und Zuwurf denken kann. Wird Zeit nur als Abfolge von Zeiteinheiten begriffen, kann das Subjekt nur entweder Bewirkendes oder Wirkung des Guten sein. Es bleibt dann unverständlich, inwiefern das Gute im Pflichtgefühl als das eingesehen werden kann, was das Selbst schon angesprochen hat und doch der Zustimmung bedarf, um als das Gute "sein", d. h. zum Grund menschlichen Daseins werden zu können. Zeit als Zeitigung zu denken, war für Kant noch undenkbar. Darum mußte die Eigenart der sittlichen Einsicht für ihn problematisch bleiben. Daß er dennoch nicht umhin kann, das Pflichtgefühl sowohl als von dem Subjekt als dem vernünftigen Subjekt erwirkt und auf es einwirkend zur Sprache zu bringen, beweist aber, daß er die zirkuläre Struktur der sittlichen Einsicht erkannt hat. In der Erweiterung des Kantischen Ansatzes von Heidegger her gibt sich dann aber auch zu denken, daß es sich bei der sittlichen Einsicht um das schlechthin primordiale Geschehen menschlichen Daseins handelt. In ihm zeitigt sich der Mensch als Wesen der Freiheit, indem er seiner Geworfenheit, in der sich ihm der Anspruch des Guten zuspricht, entsprechend Sein als eines erschließt, das sich ihm als der Kontext seiner Praxis unter dem Imperativ der Sittlichkeit gibt. Die Zeitigung menschlicher Freiheit in der Einheit von Entwurf und Geworfenheit ist ein Geschehen, das nicht im Kontext der als Abfolge vorgestellten Zeit gedacht und daher von den Naturwissenschaften auch nicht zur Sprache gebracht werden kann. Die theoretische, die Naturwissenschaften gründende Vernunft aber kann die Notwendigkeit, Freiheit zu denken, von sich aus einsehen, auch wenn sie es nicht vermag, dem negativen Begriff der Freiheit eine positive Bedeutung zu geben. Derart denkt sie auf die Grenze zu, an der sich dann der Begriff der Freiheit mit dem der Sittlichkeit verknüpfen kann. b) Kants Lehre vom "Faktum der Vernunft" und die Endlichkeit des Menschen

Von daher ist dann auch die These berechtigt, mit der Einsicht, daß das Subjekt nur dadurch es selbst werden kann, daß es sich das Sittengesetz auferlegt, dringe Kant zu einer anfänglichen Einsicht in die wesenhafte Endlichkeit des Menschen vor. Allerdings gilt es darauf aufmerksam zu machen, daß im Sittengesetz nur der Anspruch greifbar wird, den die Vernunft selbst, d. h. das Innerste des Menschen, zuwirft. Nur dadurch ist es möglich, die Unterordnung unter den Anspruch der Vernunft mittels des Begriffs der Autonomie zu deuten. Im Pflichtgefühl ist der Mensch auf sich selbst, auf seine eigene Vernunft, verpflichtet. Ihn verpflichtet also weder das als Natur Gegebene, noch auch ein Gebot Gottes. 157 Endlich ist er 157 Vgl. schon KRV B 847/ A 817, wonach wir "Handlungen nicht darum für verbindlich halten [sollenl, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum für göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind."

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

239

folglich auch nicht oder nicht nur dadurch, daß ihm von der Natur oder von Gott her nur Grenzen gesetzt wären, sondern insofern, als er sein Sein, welches er praktisch ergreift, nur als eines ansehen kann, das im Aussein auf eine Möglichkeit besteht, von der er sich angesprochen weiß, der Möglichkeit sittlichen Seins, ohne daß er den Anspruch der Sittlichkeit selbst willentlich gesetzt hätte. Für uns kann es keinen Zweifel daran gegeben, daß Kant voraussetzt, daß der Mensch vom Anspruch der Sittlichkeit getroffen wird, unabhängig davon, ob er es will. Der Ursprung der Sittlichkeit ist demnach nicht in einem voluntativen Akt zu sehen, sondern in einem Geschehen, durch welches der Wille getroffen wird durch solches, das unbedingt und d. h. apriorisch auch in Bezug auf alle Willensakte des Menschen, verpflichtend ist. Der Mensch hat allerdings das Vermögen, dem Anspruch zuzustimmen oder nicht. Von daher ist es interessant, daß Tugendhat in seinen "Vorlesungen über Ethik" die These vertritt, Kants praktische Philosophie habe eine voluntative Prämisse, die es bewußt zu machen gelte. ISS Denn Kants Gesetz der Sittlichkeit sei nur insofern als das Gebot, das die Vernunft selbst dem Willen auferlegt, anzusehen, als vorausgesetzt werde, daß der Mensch vernünftig sein will. Daß es Moralität nur für ein Wesen gibt, das vernünftig sein will, bringt Kant allerdings nicht eigens zur Sprache. Das aber ist insofern verständlich, als der Mensch, der philosophiert, die eigene Vernunft auch schon achtet. Philosophieren kann überhaupt nur derjenige, der vernünftig sein will. Und nur er kann sich selbst das Sittengesetz zum Grundgesetz seines Handelns machen. Von daher wird dann auch verständlich, daß Kant selbst die Unterordnung unter das Pflichtgefühl zwar auf einen Willensakt zurückführt. Insofern trifft die These, Moralität müsse eigens gewollt werden, um für den Menschen bestimmend werden zu können, auch auf den Kantischen Ansatz zu. Allerdings besteht er darauf, daß sich uns das Wollen der Sittlichkeit im Pflichtgefühl als ein notwendiges erschließt. Denn ein vernünftiges Wesen versetzt sich in den Widerspruch zu sich selbst, will es nicht vernünftig sein. Auf sich selbst als vernünftiges Wesen verpflichtet, ist der Mensch auch zur Sittlichkeit verpflichtet. Für Kant ist es also undenkbar, daß das Sittengesetz eingesehen wird, ohne daß es sich auch für ein vernünftiges Wesen als eines erschließen würde, dem man entsprechen sollte. Dem "Du sollst!" kann sich also kein vernünftiges Wesen, welches Einsicht in das Sittengesetz hat, einfachhin verschließen. Der Aufnahme des eingesehenen Sollens in das eigene Wollen aber kann es eine Absage erteilen, eine Tatsache, der Kant dadurch gerecht zu werden sucht, daß er den Bezug des Sittengesetzes zum menschlichen Willen als einen synthetischen bestimmt. 1S9 Die Unmöglichkeit einer rein voluntativen Begründung der Sittlichkeit bringt Kant selbst in der KPV dadurch zur Sprache, daß er das Sittengesetz als ein ,,Faktum der Vernunft" deutet. l60 Die Wendung spricht aus, daß die Vernunft selbst in 158

159 160

E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 70. GMS BA 99 (AA. Bd. 4, 447). KPV A 72 (AA Bd. 5, 42); MdS A 67 (AA Bd. 6, 252).

240

C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

sich ein Faktum begreift, das allen vernünftigen Wesen unmittelbar erschlossen ist: die Verpflichtung zur Sittlichkeit. Nur von dorther wird es möglich sein, Freiheit als positive Freiheit zu denken. Kant betont, es handle sich dabei zum einen um das einzige Faktum der Vernunft und es sei zum anderen unmöglich, dieses aus anderen, für die Vernunft ersichtlichen Sachverhalten ("Datis der Vernunft") "herauszuvernünfteln,,161. Die Verpflichtung zur Sittlichkeit ist demnach für das Selbst durchsichtig, ohne daß die Möglichkeit einer Ableitung von einem anderen theoretisch einsichtigen Sachverhalt gegeben wäre. Denn es handelt sich bei ihr nicht um einen Sachverhalt unter anderen, keine Tatsache im Ganzen der Tatsachen, welche die Natur ausmachen. Kant erteilt mit seiner These von dem Faktum der Vernunft seinen eigenen Bestrebungen, die Sittlichkeit deduktiv beweisen zu wollen, die noch in der GMS greifbar sind, eine Absage. Eine solche Deduktion ist nicht nur unmöglich, sie ist auch unnötig, da die Pflicht zur Moralität an sich selbst durchsichtig ist. Falls das Sittengesetz eingesehen wird, wird es auch als verpflichtend, und zwar unbedingt verpflichtend, angesehen, wobei Kant vor allem in der Religionsschrift betont, daß allen Menschen die Möglichkeit gegeben ist, sich ihre Verpflichtung durchsichtig zu machen. 162 Unbeschadet dessen, daß sich uns bedingt durch unsere Erweiterung des Kantisehen Ansatzes von der Phänomenologie Heideggers her, Kants Lehre vom Faktum der reinen Vernunft als Lehre zu sehen gab, die das Wesen der sittlichen Einsicht trifft, halten wir es für berechtigt, Henrichs Urteil, demzufolge Kants Lehre vom Faktum der Vernunft die "reife Gestalt seiner Lehre" darstellt, zu teilen. 163 Die Forschungsdebatte nötigt uns allerdings dazu, der Verwandlung des ethischen Ansatzes Kants noch genauer nachzugehen.

3. Zur Deduktion der Sittlichkeit in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" a) Die Freiheit als Voraussetzung der Sittlichkeit

Kant selbst konnte nicht umhin, die "Dunkelheit" seiner Deduktionsbestrebungen einzugestehen. l64 Das Dunkel wird sich auch nur dem klären, der in seiner Deutung Kants eigenen Anmerkungen zum Aufbau des Gedankens folgt. In der Vorrede zur "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" gibt Kant als Absicht der Schrift an, das oberste Prinzip der Moralität nicht nur aufzusuchen, sondern auch KPV A 56 (AA Bd. 5, 31). REL B 19/ A 17 f. (AA Bd. 6, 28). 163 D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft,227. 164 Pro!. A 15 f., A 46 (AA Bd. 4, 261, 278). 161

162

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

241

festsetzen zu wollen. Eine philosophische Festsetzung kann nur dadurch geschehen, daß die Gültigkeit des Prinzips nachgewiesen wird. Das oberste Prinzip der Moralität wird dann in dem ersten Abschnitt der Schrift durch den Begriff der Pflicht eingeführt und im zweiten Abschnitt als Verpflichtung auf den kategorischen Imperativ zur Bestimmung gebracht. Der kategorische Imperativ spricht ein "Du sollst!" aus, das dem Anspruch nach ein unbedingtes ist. Die Frage ist aber für Kant, ob der kategorische Imperativ auch stattfindet. 165 Die Gedanken der ersten zwei Abschnitte sind demnach noch hypothetisch. Falls es überhaupt ein oberstes Prinzip der Moralität gibt, wird es der Form nach im kategorischen Imperativ zu greifen sein. Stattfinden kann der kategorische Imperativ aber nur, falls es möglich ist, daß der Mensch sich selbst ein unbedingtes Sollen zusprechen kann, und zwar apriori. Kant selbst gibt den Stand der Einsicht in den Begriff der Sittlichkeit, der Ende des zweiten Abschnittes der GMS erreicht ist, an: "Der schlechterdings gute Wille, dessen Prinzip ein kategorischer Imperativ sein muß, wird also, in Ansehung aller Objekte unbestimmt, bloß die Form des Wollens überhaupt enthalten, und zwar als Autonomie, [ ... ],,166 Der schlechterdings gute Wille, welcher als Inbegriff des Guten das Sittliche ist, ist demnach ein formal bestimmter Wille. Seine Formalität kommt im kategorischen Imperativ zur Sprache. Ein Wille, der sich die Forderung des kategorischen Imperativs zum Beweggrund des Wollens gemacht hat, hat die ihm eigene Möglichkeit ergriffen, "sich selbst zum allgemeinen Gesetz zu machen,,167. Einen solchen Willen nennt Kant "autonom". Danach begreift der Begriff der Autonomie einerseits den der Selbstgesetzgebung in sich, andererseits die Verpflichtung auf die mögliche Verallgemeinerbarkeit der eigenen Gesetzgebung. Eine Deduktion der Sittlichkeit hätte also zum einen die Aufgabe, die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung des Menschen zu beweisen und andererseits nachzuweisen, daß das Gesetz, welches der Mensch sich als er selbst gibt, nur in der Selbstverpflichtung auf das Sittliche bestehen kann. Kants Ausführungen zur "Autonomie des Willens als oberste[m] Prinzip der Sittlichkeit,,168 beweisen, daß Kant annahm, das Prinzip der Autonomie sei analytisch aus dem Begriff der Sittlichkeit abzuleiten. 169 Die Verknüpfung von Autonomie, Freiheit und Sittlichkeit im Denken Kants wurde insbesondere von G. Prauss kritisiert. 17o Verständlich wird sie nur im Ausgang vom Wesen der Sittlichkeit selbst. Den Begriff der Sittlichkeit knüpft Kant nun an den Grundakt des guten Willens, durch den sich der Wille selbst das Gesetz auferlegt, nur solche Handlungsnormen für sein Handeln als gültig anzusehen, von denen er wollen kann, daß sie allen zum Gesetz werden. Findet Sittlichkeit also überhaupt statt, kann sie nur 165

166 167 168 169 170

GMS B A 59 (AA Bd. 4, 425). GMS BA 95 (AA Bd. 4, 444). Ebd. GMS BA 87 (AA Bd. 4, 440). GMS BA 96 (AA Bd. 4, 445). G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 34 f.

16 Bohlen

242

c. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

durch Se1bstgesetzgebung, Autonomie, geschehen. Ein vernünftiges Wesen aber wird sich, sofern es sich überhaupt autonom bestimmen kann, das Vernünftige als das, in dem sein Dasein gründen sollte, zusprechen. Folglich ist die Sittlichkeit eines vernünftigen Wesens als Unterwerfung unter den kategorischen Imperativ zu deuten. In der Verpflichtung auf die Sittlichkeit gibt der Mensch der Vernunft jene Macht, die sie im Dasein eines vernünftigen Wesens haben sollte. Dadurch wird der Mensch als vernünftiges Wesen er selbst. Die Frage Kants ist daher nicht die, ob Autonomie und Sittlichkeit eins sind, sondern, ob Sittlichkeit überhaupt stattfindet. Das ist nach Kant nicht nur der Fall, sofern Menschen faktisch sittlich handeln, und das Gute tun, sondern sofern der Grundakt der Sittlichkeit selbst stattfindet, d. h. sich Menschen als endliche, doch vernünftige Wesen den kategorischen Imperativ zum Gesetz ihres Willens machen, also das Gute wollen. Nun kann der kategorische Imperativ gedacht werden, die Frage ist aber, ob ein endliches Wesen ihn auch als verpflichtend ansehen kann. Das ist dann der Fall, wenn ein endliches Wesen sich als frei betrachten kann. Denn wäre es nicht frei, wäre Autonomie ein leerer Begriff. Kann ein Mensch sich nicht autonom bestimmen, kann er sich auch nicht zum Guten bestimmen. Darum kann kein Zweifel daran sein, daß der Imperativ der Sittlichkeit den Menschen nur verpflichten kann, sofern der Mensch frei ist. Die Freiheit ist unstrittig Voraussetzung der Sittlichkeit. Darum ist für Kant "ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei".l?l Soll Sittlichkeit also keine bloße Idee sein, muß Freiheit vorausgesetzt werden können. Für den Ansatz der GMS folgt daraus, daß auf die Ausarbeitung des kategorischen Imperativs und seiner Verknüpfung mit dem Gedanken der Autonomie als einer analytischen hätte nachgewiesen werden können, daß derartige Imperative in der Tat stattfinden, da sich der Mensch als endliches Wesen verpflichtet wissen kann. Dazu hätte nachgewiesen werden sollen, daß der Mensch frei ist, obwohl er ein endliches, sinnlich bedingtes Wesen ist. Ein Nachweis der Freiheit als geschehender Freiheit aber ist unmöglich. Also kann auch keine Deduktion der Sittlichkeit aus der Freiheit erfolgen. Wider die Freiheit des Menschen werden von unterschiedlichen Seiten Einwände vorgebracht, insbesondere von den Empiristen, die den Menschen als Teil der Natur ihrem Gesetz unterworfen ansehen. Also nimmt Kants Weg zur Rechtfertigung des Imperativs der Sittlichkeit als eines für den Menschen gültigen Imperativs seinen Ausgang von einer Unterscheidung des negativen Begriffs der Freiheit als der Freiheit von dem Gesetz der Natur, von deren positivem Begriff. Ferner gibt er zu bedenken, es gebe "ein drittes", auf das der positive Begriff der Freiheit von sich aus hinweise. 172 Von ihm her sei die Verknüpfung von Freiheit und Sittlichkeit verständlich zu machen. A. Gunkel nimmt an, das "dritte" sei die intelli-

171

172

GMS BA 98 (AA Bd. 4, 447). GMS BA 99 (AA Bd. 4, 447).

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

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gible Welt. 173 Er beruft sich dazu auf folgende Stelle aus der GMS: "Und so sind kategorische Imperative möglich, dadurch, daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz apriori vorstellt [ ... ],,174. Von der Deutung A. Gunkels her stellt sich die Frage, inwiefern Kant glauben konnte, die Idee der Freiheit schaffe von sich aus die Idee einer intelligiblen Welt, d. h. der Begriff der Freiheit sei analytisch mit dem einer intelligiblen Welt verknüpft.

b) Kants Aufweis der Möglichkeit von Freiheit in der Grundlegungsschrift

Kant bringt unterschiedliche Argumente für die Freiheit vor, die in ihrer Verknüpfung verständlich werden, sofern man sich bewußt macht, daß sich der Philosoph als Anwalt derer versteht, die den Rechtsanspruch des Menschen auf Freiheit wider die, welche sie bezweifeln, einklagen. "Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei,,175, setzt Kant voraus. Denn Menschen urteilen nicht nur darüber, was ist oder geschehen ist, sondern auch darüber, was hätte geschehen sollen. In solchen Urteilen sprechen sie sich selbst die Möglichkeit zu, das, was durch sie geschieht, d. h. ihr Handeln zu bestimmen. Es hätte keinen Sinn, auch nur zu fragen, was geschehen sollte, würden die Fragenden die Möglichkeit der Selbstbestimmung nicht voraussetzen, d. h. sich als frei ansehen. Nun ist es möglich einzuwenden, es sei doch denkbar, daß der Mensch zwar glaubt, frei zu sein, es aber darum noch nicht ist. Seine Freiheit könnte nur eine Tauschung sein, die dadurch bedingt ist, daß zwar die unmittelbaren Ursachen seiner Daseinsbewegungen in ihm zu finden sind, er mittelbar aber doch von einer höchsten Ursache bewegt ist, angesichts derer er sich doch nur als eine "Marionette" verstehen darf. 176 Das ist nach Kant in den empiristischen Ansätzen der Fall, die Freiheit zwar auf Unabhängigkeit von äußeren Ursachen begrenzen, darin aber sowohl innere als auch äußere Ursachen der Natur zurechnen. 177 Der Mensch kann also aus sich wollen, d. h. innerlich bewegt sein. Das ihn Bewegende aber ist doch A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, 178. GMS BA 11l (AA Bd. 4, 454). 175 GMS BA 113 (AA Bd. 4, 455). 176 KPV A 181 (AA Bd. 5, 101). 177 Hume erklärt zwar die "Sympathie mit dem Glück der Menschheit" (D. Hume, Untersuchungen über die Prinzipien der Moral) zur Grundlage der Ethik, das Gefühl der Sympathie ist aber in seinem Denken insofern unterbestimmt, als es nicht grundlegend von allen anderen Gefühlen unterschieden wird. 173 174

16*

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

die Natur, angesichts derer er nur "Automat" iSt. 178 Den Status einer Marionette spricht aber auch die Theologie dem Menschen zu, sofern sie seinen Willen als eine causa secunda begreift, ohne eine grundsätzliche Unterscheidung des menschlichen Willens von den anderen causae secundae in der Natur auszuarbeiten. In der Frage nach der Freiheit des Menschen vom Gesetz der Natur geht es Kant im Grunde genommen auch um die Frage, ob der Mensch, trotz seiner Abhängigkeit von einem höchsten Wesen, frei sein kann, oder ob er nur die Marionette Gottes ist. Wird Sein überhaupt auf Natur reduziert, ist es undenkbar, daß der Mensch sich selbst ein anderes Gesetz gibt als es ihm im Naturgesetz gegeben ist. Daher ist der Philosoph gefordert, der Reduktion von Sein auf Natur eine Absage zu erteilen. Folglich ist es nach Kant Aufgabe der spekulativen Philosophie nachzuweisen, daß der Begriff Natur Sein nur in einer begrenzten Bedeutung sichtbar macht. Die Grenzen sind dadurch bestimmt, daß von Natur nur gesprochen werden kann, sofern darin auf menschliche Anschauung Bezug genommen wird. Die menschliche Anschauung aber ist eine endliche. Ihre Endlichkeit gibt sich darin zu denken, daß ihr nur solches anschaulich wird, von dem sich ein Mensch affiziert erfährt. Die Spekulation hebt aber nicht nur darauf ab, daß dem Menschen nur solches anschaulich gegeben ist, von dem er sich affiziert erfahrt, sondern auch darauf, daß es dem Ich aufgegeben ist, das Affizierende zu verstehen. Es war möglich, den Verstand als einen spontan tätigen zu bestimmen, der seine Begriffe von sich aus entwirft, und zwar apriori, d. h. vor der Affektion durch solches, das ihnen unterzuordnen ist. Die Spontaneität des Verstandes und das in ihr ermöglichte begriffliche Denken ist als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, insbesondere der Erfahrung von Natur, aus ihr nicht abzuleiten. In ihr kann daher ein Hinweis auf die Freiheit des Menschen als eines Verstandeswesens gesehen werden, die allerdings rein negativ bestimmt ist als Freiheit des Verstandesgebrauchs von der Natur. Die Verstandesbegriffe dienen nur dazu, "sinnliche Vorstellungen unter Regeln zu bringen und sie dadurch in einem Bewußtsein zu vereinigen,,179, was zur Folge hat, daß die Verstandes begriffe nur in der Anwendung auf das anschaulich Gegebene funktionieren. Die Spontaneität des Verstandes wurde aber der spekulativen Philosophie zum Hinweis auf die Spontaneität der Vernunft, die von sich aus ihre Ideen entwirft. In ihnen greift das Denken auf Unbedingtes aus. Als Ideen des Unbedingten können die Vernunftideen nicht auf das Bedingte angewandt werden. Dennoch sind sie für das Denken schlechthin notwendig, geben sie doch jene Punkte vor, an denen sich das Denken mit Notwendigkeit orientiert, sofern es sich das Gegebene verständlich machen will. Unter den Vernunftideen ist an erster Stelle die Idee transzendentaler Subjektivität zu nennen. In ihr wird das reine "Ich denke" gedacht, welches vorauszusetzen ist, soll es begriffliches Denken, d. h. Denken, dessen Grundvollzug die Synthesis 178 179

KPV A 181 (AA Bd. 5, 101). GMS BA 108 (AA Bd. 4,452).

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

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des anschaulich Gegebenen ist. Im Vollzug der Synthesis kann daher dem Menschen bewußt werden, daß "sein Ich, so wie es an sich selbst geschaffen sein mag" allen Bewußtseinszuständen, sofern sie denn als seine bewußt sind, als subsistierend zugeordnet werden kann. 180 Das subsistierende Ich als das reine "Ich denke" ist der ermöglichende Grund des Vollzugs der Synthesis, mithin der Erkenntnis überhaupt. Darum kann es selbst nicht als Teil der durch Synthesis begründeten Welt sein. "Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, als Intelligenz [ ... ], nicht als zur Sinnen- sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen [ ... ]"181. Es wurde ausgeführt, daß sich für Kant daraus zwei unterschiedliche "Standpunkte", von denen aus der Mensch sich betrachten kann, ergeben. Zum einen kann sich der Mensch auf den Standpunkt der Sinnenwelt stellen. Von ihm aus wird er sichtbar als ein durch Sinnlichkeit bestimmtes Wesen, das seinen Verstand gebrauchen sollte, um das sinnlich Gegebene zu verstehen. Der Verstand gibt sich in einer solchen Sicht zu denken als ein Vermögen, daß der Sinnlichkeit funktional zugeordnet ist. Er kann sich aber auch betrachten als ein Wesen, dem eine Spontaneität eignet, die es ihm möglich macht, denkend das, was begreifbar ist, zu transzendieren. Betrachtet der Mensch sich selbst sowohl als homo phaenomenon als auch als homo noumenon, trägt er in seine Selbstauslegung jene grundlegende Unterscheidung in der Deutung der Dinge, die gedacht werden können als Dinge an sich selbst, obwohl sie für uns nur erkennbar werden, sofern sie sich uns als Erscheinungen geben, ein. Diese wurde in der theoretischen Philosophie begriindet im Ausgang von dem Faktum der Affektion. Danach gilt es anzuerkennen, daß die Dinge, die uns anschaulich gegeben sind "Vorstellungen" von solchem sind, das an sich selbst ist. "Sobald dieser Unterschied [ ... ] einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns affizieren, wir ihnen nicht näher treten, und, was sie an sich sind, niemals wissen können.,,182 Da die zitierte Stelle die These nahe legen mag, die noumenale Welt sei von Kant gedacht als eine "Hinterwelt", sei nochmals betont, daß für Kant die Unerkennbarkeit der Dinge an sich eine Folge dessen ist, daß für uns ein Ding nur erkennbar ist, insofern es uns affiziert. Es sind die Dinge an sich, die uns affizieren. Indem wir die Affektionen als von den Dingen an sich bewirkte begreifen, setzen wir die noumenale Welt nicht nur als logische Voraussetzungen, sondern als an sich existierende Gegenstände, ohne aber eine Aussage über die Art der Existenz machen zu können. Auch der Mensch kann nicht nur ein rein logisches Subjekt des Denkens voraussetzen, sondern auch dessen Existenz annehmen. Es ist ihm aber nicht möglich, die Art der Existenz eines reinen Subjektes als eines 180 181 182

GMS BA 107 (AA Bd. 4, 451). GMS BA 108 (AA Bd. 4, 452). GMS BA 106 (AA Bd. 4, 451).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

solchen zur Bestimmung zu bringen. Weder die These von der Existenz einer Welt der Dinge an sich, noch auch die eines reinen, doch existierenden Subjektes hat nun aber mit Notwendigkeit zur Folge, daß man eine "Hinterwelt" der Noumena annehmen muß. Statt dessen geht es darum, sich bewußt zu machen, daß die sinnlich gegebene Welt nur unter der Voraussetzung als eine Welt der Phänomene begriffen werden kann, daß man den Vollzug der Existenz der Noumena an das Affektionsgeschehen bindet, d. h. annimmt, daß die Dinge an sich, insofern sie existieren, uns auch affizieren. Das hat zur Folge, daß sie sich für uns auf eine Art ordnen, die durch unsere Erkenntnisart bedingt ist. Uns ist es schlechthin unmöglich, Sein anders denn in der durch unsere Erkenntnisart bedingten Phänomenalität zu schauen. Daß wir den Dingen an sich nicht näher kommen können, bedeutet, daß es uns unmöglich ist, die Grenze der Phänomenalität zu durchbrechen, um uns in die Dinge "hineinzuschauen" oder "hineinzuempfinden". Entsprechend ist für uns die intelligible Welt nur negativ bestimmt. 183 Allerdings ist uns ihr Grundgesetz bekannt. Insofern kann sie uns in unserem Wollen Orientierung sein. Der orientierenden Funktion der Idee der intelligiblen Welt ist eine motivierende an die Seite zu stellen. In der theoretischen Philosophie war der Nachweis möglich, daß der Verstand durch die von der Vernunft entworfenen Ideen in eine unendliche Erkenntnisbewegung gezwungen ist. Die Vernunftideen sind es, die den Verstand in die Unendlichkeit des Fragens nötigen. Analog dazu bedingt die Idee der intelligiblen Welt ein Streben nach dem sittlich Guten, das an kein Ende kommen kann, da es im Bewußtsein vollzogen wird, daß die uns anschaulich gegebene Welt nicht die ist, in der die Sittlichkeit selbst das Gesetz ist, nach dem alle handeln. Der regulativen Funktion der Vernunftideen in der theoretischen Philosophie entspricht also eine motivierende Funktion der Idee der intelligiblen Welt. Sie ist unentbehrlich für das Streben des Menschen nach dem Guten, das von ihr her zu einem unendlichen wird. Das ermöglicht es nun dem Menschen, sich als ein Wesen anzusehen, das sein Handeln in einem Willen fundieren kann, der sich an einer denkbaren Welt, der Welt der Sittlichkeit orientiert. 184 "Auf diese Weise wird auch die Möglichkeit eines Imperativs von der Art des kategorischen erkennbar, der fordert, daß die Maximen, die sich der konkrete, der Sinnenwelt angehörende Mensch als Regeln seines HandeIns vorstellt, in der Perspektive der Gesetzlichkeit der Intellektualwelt zu priifen, zu rechtfertigen und zu wählen sind. So wird im Wortlaut des kategoriGMS BA 120 und BA 127 (AA Bd. 4, 458 und 462). Für den Gedankengang Kants entscheidend ist, daß der Mensch, der sich als Intelligenz, d. h. als homo noumenon, ansieht, auch schon als Teil einer intelligiblen oder noumenalen Welt begreift. Die Einordnung des homo noumenon in eine noumenale Welt bedürfte einer ausführlichem Begründung, setzt sie doch voraus, daß die Idee transzendentaler Subjektivität nur in Einheit mit der transzendentaler Objektivität, d. h. auf dem Fundament auch des Weltbezugs des reinen "Ich denke" verstanden werden kann. Die Einheit der transzendentalen Ideen wird in den praktischen Schriften Kants nicht nochmals ausgearbeitet. Sie ist aus der KRV in die praktische Philosophie einzutragen. 183

184

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

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schen Imperativs die Einheit der beiden Weltperspektiven zur praktischen Synthese gebracht", deutet F. Kaulbach den Eintrag der Kantischen Philosophie des Perspektivismus in die Praxis. 185 Für ihn ist der Mensch das Wesen, das im Übergang lebt derart, daß ihm aufgegeben ist, "über den Stand des Naturwesens zu demjenigen der sittlichen Welt überzugehen, um von dem letzteren aus sich nach ,rückwärts' wendend seinen eigenen Natur-Stand als den zu deuten, der immer zur Freiheit über-geht.,,186 Man wird Kants Diktum vom "Bürger zweier Welten" von dorther zu verstehen haben. Unsere Ausführungen gingen aus von der Frage, ob Kant glauben konnte, eine Deduktion der Sittlichkeit ausgearbeitet zu haben. Vorausgesetzt wurde, daß eine Deduktion den Zweck hat, ein synthetisches Urteil apriori als möglich auszuweisen. Bezüglich der Sittlichkeit galt es daher zu fragen, ob es möglich ist, daß der Mensch sich selbst als ein endliches, doch vernünftiges Wesen den kategorischen Imperativ zuspricht, d. h. als ein Sollen begreift, das an ihn gerichtet ist. Die Frage wird man insofern positiv entscheiden können, als die theoretisch-spekulative Vernunft die Spontaneität des Verstandes als den entscheidenden Hinweis darauf beurteilen durfte, daß der Mensch aufgrund seiner Vernunft zu einem Denken fahig ist, welches einer eigenen, apriorischen Gesetzlichkeit folgt, so daß man ihn aufgrund der Apriorizität der Funktionalität des Verstandes als im "Innersten" frei von den Naturgesetzen ansehen kann. Kann der Mensch sich selbst als frei ansehen, muß er annehmen, daß er dem "Du sollst!" der Sittlichkeit, von dem er sich im Pflichtgefühl angesprochen erfahrt, aus eigener Freiheit entsprechen kann. Folglich kann er den Anspruch der Sittlichkeit als einen begreifen, der ihm gilt.

4. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit nach der "Kritik der praktischen Vernunft" a) Die Sittlichkeit - ratio cognoscendi der Freiheit

In der KPV wird der in der GMS ausgearbeitete Ansatz nicht verworfen. Doch erfahrt die Fragestellung eine Umkehrung. Das bedeutet nun aber nicht, daß Kant sich in seinen Deduktionsbestrebungen als gescheitert ansah. Allerdings spricht Kant in der KPV davon, die von ihm angestrebte Deduktion der Sittlichkeit sei "vergeblich" gewesen. 187 Auch in seiner Schrift von 1788 geht Kant davon aus, daß nur der Mensch sittlich verpflichtet sein kann, der frei ist. Freiheit ist Voraussetzung der Sittlichkeit. Denn zu einem Sollen kann nur der verpflichtet sein, der dem Anspruch des Sol185 186 187

F. Kaulbach, Immanuel Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 140 f. Ebd. 143. KPV A 82 ( AA Bd. 5, 47).

248

C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

lens durch ein Können auf seiner Seite auch entsprechen kann. 188 Insofern ist die Freiheit "ratio essendi" der Sittlichkeit. 189 Auch die Verknüpfung von Freiheit und sittlicher Selbstgesetzgebung wird in der KPVanalog zu dem Gedankengang der GMS ausgearbeitet. Ein freier Wille kann demnach nur ein solcher Wille sein, der seinen Bestimmungsgrund nicht in einem von der Natur gesetzten Zweck hat, sondern in einem Zweck, den die Vernunft selbst zu erstreben vorgibt. Folglich grenzt Kant auch in der KPV die materialen Zwecke, die in ihrer Gesamtheit in der Natur des Menschen begriindet sind, von dem einen Zweck der Vernunft ab, der durch die Formalität der Vernunft selbst vorgegeben ist und daher auch nur in einem formalen Gesetz die rechte Versprachlichung erfahren kann. Ein freier Wille ist demnach ein Wille, der das formale Gesetz der praktischen Vernunft, den kategorischen Imperativ, zum Bestimmungsgrund hat. Dadurch ist auch der KPV zufolge Freiheit unmittelbar mit Sittlichkeit verknüpft, Autonomie kann es nur als sittliche Selbstbestimmung geben. War die Grundlegungsschrift aber von dem Bestreben bestimmt, die Möglichkeit der Sittlichkeit dadurch zu beweisen, daß sie aus der selbst problematischen Freiheit deduziert wird, geht Kant nun davon aus, daß der Aufweis des Sittengesetzes selbst das Geschehen ist, in dem die reine Vernunft sich von sich her als gesetzgebend erweist. Soll es überhaupt ein praktisches Gesetz geben, das unbedingt gebietet, kann es nur ein Gesetz sein, das in seiner Formalität die der Vernunft zur Sprache bringt. Indem die praktische Philosophie ein solches Gesetz benennt und nachweist, daß in ihm das ausgesprochen wird, was die Vernunft selbst als das zu Wollende fordert, weist sie nach, daß es ein unbedingt gebietendes Gesetz gibt und in ihrem Nachweis spricht sie das Gebot der Vernunft denen zu, die als Philosophierende vernünftig sein wollen. Das Gebot der Vernunft einsehen kann umgekehrt ein vernünftiges Wesen nur, sofern es auch dessen verpflichtendes Wesen erkennt und anerkennt. Folglich ist das Geschehen, in dem die Philosophie das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft im kategorischen Imperativ benennt, in sich auch das Geschehen, in dem sich die reine, an sich praktische Vernunft als unmittelbar gesetzgebend erweist. Erweist sich aber die Vernunft im Philosophieren als an sich selbst praktisch, ist der Gedankengang der GMS umzukehren. Denn dann kann es nicht darum gehen, die Möglichkeit der Sittlichkeit nachzuweisen. Statt dessen wird man von dem Wissen um das "Du sollst!" der Sittlichkeit auszugehen haben. War es in der Grundlegungsschrift noch die Frage, ob Freiheit überhaupt möglich ist, wird nun die sittliche Einsicht als "ratio cognoscendi" der Freiheit gedacht und als Ausgangspunkt für eine Rechtfertigung des Glaubens an deren Möglichkeit in den An188 Vgl. dazu Anthropologie BA 38 (AA Bd. 7, 148), wonach der Mensch aus dem moralischen Bewußtsein des "Du sollst!" auf ein Können schließen kann, "denn das Unmögliche wird ihm die Vernunft nicht gebieten". Vgl. KPV A 54, 283 (AA Bd. 5, 30, 132); REL B 43/ A 39 (AA Bd. 6, 45); Zum ewigen Frieden B 71 / A 66 (AA Bd. 8, 370). 189 KPV A 5, Anm. (AA Bd. 5,4, Anm.).

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

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satz gebracht. 190 Von dort her kommt Kant auf seine Deduktionsbestrebungen in der Grundlegungsschrift zurück. Das moralische Gesetz selbst sei aufzustellen "als ein Prinzip der Deduktion der Freiheit". 191 Seine Aufstellung enthebe der Notwendigkeit, Freiheit als Kausalität der reinen Vernunft apriori zu rechtfertigen. Denn mit ihr werde die von der spekulativen Vernunft nur negativ gedachte Kausalität zur positiven Bestimmung gebracht. Derart beweise das moralische Gesetz, daß die Kausalität der reinen Vernunft eine reale Möglichkeit ist. 192 Im problematischen Begriff der Freiheit werde dadurch eine "objektive und obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte Realität verschafft". 193 Auch in der KPV hebt Kant hervor, daß Freiheit und Sittlichkeit "Wechselbegriffe" seien. 194 Folgerte er in der GMS daraus nur, daß kein Begriff als Grund des anderen anzusehen sei, problematisiert er das Verhältnis nun dadurch, daß er die Frage aufwirft, "wovon unsere Erkenntnis des unbedingt Praktischen anhebe, ob von der Freiheit oder dem praktischen Gesetz,,195. Es geht dabei um die Fra= ge, wodurch der Reflexion ein Weg in den Zirkel von Freiheit und Sittlichkeit gewiesen ist. Die Auskunft Kants ist eindeutig. Es kann nur das moralische Gesetz sein, das uns unmittelbar bewußt ist. "Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz apriori, [ ... ]"196 Danach ist es die Vernunft selbst, die sich im Philosophieren ihren Platz im Dasein des Menschen verschafft. Sie drängt sich auf als eine, die den Menschen in die Pflicht nimmt oder schon genommen hat. Denn wer vernünftig sein will, hat sich der Verpflichtung auf das Allgemeine schon unterworfen. Für ihn ist die Sittlichkeit schon zur Realität geworden. Die Bestimmung des Gesetzes der Moralität als eines Faktums der Vemurift scheint für die These vom "naturalistischen Fehlschluß,,197 zu sprechen, nach der Kant Moralität in der Natur, gedacht als einer Gesamtheit von Fakten, verwurzelt denkt. Dadurch werde Kant der Eigenart der sittlichen Einsicht nicht gerecht, die dem Menschen ein "Du sollst!" vorstellig mache, das aus der Natur als dem, was ist, schlechthin nicht abzuleiten sei. Da schon D. Hume die Unableitbarkeit des KPV A 5, Anm. (AA Bd. 5,4, Anm.). Vgl. KPV A 52 f. (AA Bd. 5, 29 f.). KPV A 83 (AA Bd. 5, 48). 192 Vgl. ebd. 193 KPV A 85 (AA Bd. 5, 49). 194 GMS BA 105 (AA Bd. 4,450); vgl. KPV A 52 (AA Bd. 5, 29). 195 KPV A 52 f. (AA Bd. 5, 29). 196 KPV A 56 (AA Bd. 5, 31). Vgl. KPV A 72 (AA Bd. 5, 42). 197 Vgl. insbesondere: H. Ilting, Der naturalistische Fehlschluß bei Kant, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie, hg. von M. Riedei, Bd. 1, Freiburg 1972, 79 - 97. 190

191

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Sollens aus dem Sein konstatiert habe l98 , bedeute die Position Kants einen Rückschritt in der Debatte um die Eigenart der sittlichen Einsicht. Nun betont Kant allerdings, es handle sich um "kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft" I 99. Danach gilt es, die Gesamtheit empirischer Fakten von dem einen nicht empirisch gegebenen Faktum zu unterscheiden. Das hat zur Voraussetzung, daß der Begriff "Faktum" nicht auf empirische Daten begrenzt gedacht werden darf. Fakten sind solche Gegebenheiten, die gewußt werden können. Wissen aber kann einerseits anschaulich Gegebenes betreffen, andererseits auf unmittelbare Einsicht bezogen sein. Das einzige Faktum der Vernunft aber ist der Vernunft unmittelbar, d. h. ohne eine Form der Anschaulichkeit bewußt, was nur verständlich wird, sofern man das moralische Gesetz als das Selbstbewußtsein reiner praktischer Vernunft ansieht, eine Möglichkeit, die Kant selbst zu bedenken gibt?OO Reflektiert demnach reine Vernunft auf sich selbst, kann sie zu der Einsicht kommen, daß sie als praktische, d. h. durch ein Umwillen bestimmte Vernunft, nur das Vernünftige wollen kann. Das Vernünftige ist das der Möglichkeit nach für alle Gültige. Die Vernunft ist also eine, die nur das Allgemeine und d. h. Verallgemeinerbare wollen kann. Sie ist an sich selbst auf das Allgemeine aus. Soll es daher eine unmittelbar durch die Vernunft geschehende Bestimmung des Willens geben, kann sie nur in der Ausrichtung des Willens auf das Allgemeine bestehen. Mit der Deutung der Sittlichkeit als des Faktums der Vernunft wird dem menschlichen Bewußtsein ein Urdatum zugeordnet, das mit Sicherheit als gegeben vorausgesetzt werden kann, obwohl es schlechthin unmöglich ist, eine Erklärung dazu ausfindig zu machen. Begreifen zu wollen, warum der Mensch ein Interesse an der Moralität hat, würde bedeuten, danach zu fragen, warum er er selbst sein will. Der Wille des Menschen zum Selbstsein ist der Punkt, von dem das Philosophieren auszugehen hat. Mit dem Vollzug des Philosophierens ist er auch schon gesetzt. Denn Philosophieren bedeutet, danach zu fragen, wer der Mensch ist. 201 Wer an sich als einem Selbst interessiert ist, wird auch selbstbestimmt handeln wollen. Er hat unabhängig davon, ob er faktisch frei ist oder nicht, darauf gesetzt, daß das, was geschieht, durch ihn geschehen könnte, d. h. daß es möglich ist, daß er sich als Bestimmungsgrund seiner Handlungen anzusehen hat. Für einen solchen Menschen stellt sich die Frage nach der Freiheit nicht als eine theoretisch zu entscheidende, hat er sich doch praktisch dafür entschieden, in seinem Leben mit der Möglichkeit der Freiheit zu rechnen. Nun ist unmittelbar zu sehen, daß die praktische Entscheidung für die Freiheit nur für den Fall zu einem Grund werden kann, auf den das Dasein bauen kann, daß 198 D. Hume, A Treatise of Human Nature, 469 f.; vgl. G.E. Moore, Principia Ethica, Stuttgart 1970. 199 KPV A 56 (AA Bd. 5, 31). 200 Vgl. KPV A 52 (AA Bd. 5, 29). 201 Logik A 25 (AA Bd. 9, 25).

III. Das Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit

251

es nicht möglich ist, sie durch theoretische Einwände zu destruieren. Darum tritt der Philosoph auch in der KPVauf die Seite derer, die praktisch unter der Idee der Freiheit handeln, d. h. in ihrem Handeln beweisen, daß sie sich insofern als frei ansehen, als sie ihren eigenen Willen als Beweggrund ihres Handeins deuten. Seine Aufgabe ist es nun, ihren praktischen Anspruch auf Freiheit wider die zu verteidigen, die theoretische Zweifel an der Möglichkeit der Freiheit vorbringen. Zum Zwecke der Verteidigung reicht es aus, nachzuweisen, daß Freiheit auch theoretisch nicht unmöglich ist. Denn dann ist es berechtigt, im Leben praktisch auf die Möglichkeit der Freiheit zu setzen, d. h. sich selbst als ein Wesen zu betrachten, das verantwortlich ist für das, was durch es geschieht.

b) Die sittliche Erfahrung - Grunderfahrung der Menschlichkeit

Mit der Deutung des Sittengesetzes als des einzigen Faktums der Vernunft ist die Moralität zu dem Datum erklärt, das dem Denken, sofern es denn vernünftiges Denken sein will, allem voran gegeben ist. Dies macht sichtbar, daß der Mensch als vernünftiges Wesen nur seiner Bestimmung nach lebt, sofern er moralisch leben will, da er nur dadurch der Vernunft Macht in seinem Dasein verschaffen kann. Der Weg, den die Philosophie dazu denkend geht, ist genauer besehen ein Umweg. Denn statt unmittelbar von dem Faktum der Vernunft auszugehen, nimmt sie ihren Ausgang von den Fakten, die uns mittels unserer sinnlichen Erfahrung gegeben sind, um von ihr her in die Bedingungen ihrer Möglichkeit zurückzugehen. Dabei gelangt sie bis zur Einheit des Verstandes, der sich als ein spontan tätiges Vermögen erweist. In Anbetracht der Spontaneität des Verstandes sieht sie sich berechtigt, den Menschen als im Innersten frei anzusehen. Es ist ihr aber nicht möglich, dem Begriff der Freiheit, der sich ihr dadurch als Problem aufdrängt, eine positive Bedeutung zu geben. Die Einsicht, daß eine positive Deutung des Freiheitsbegriffs nur möglich wäre, könnte das Grundgesetz der Freiheit sichtbar gemacht werden, ist die Grenze, die theoretischspekulativ nicht überschritten werden kann. Eine positive Bedeutung kann dem Begriff der Freiheit nur dadurch zugeordnet werden, daß Freiheit von dem her, worum es ihr gehen sollte, zu bestimmen ist. Nun kann zwar theoretisch weder das Umwillen der Freiheit sichtbar gemacht werden, noch kann bewiesen werden, daß es ein solches Umwillen für die menschliche Freiheit überhaupt gibt. Anders ist das in der Praxis. Wer von sich sagt, er habe seinem Willen folgend gehandelt, spricht von sich als einem freien Wesen. Fragt er sich, was denn durch sein Handeln geschehen sollte, kommt es nach Kant zur sittlichen Einsicht, in der sich das "Du sollst!" mit der Pflicht, sein Handeln vor sich und allen anderen rechtfertigen zu können, verbindet. Da sich nur der verpflichtet fühlen kann, der sich als frei ansieht, hat der, der sich der Verpflichtung zur Sittlichkeit unterwirft, die Frage nach der Freiheit praktisch gelöst. Er hat sich nach Kant dazu entschieden zu glauben, daß dem Sollen ein Können seinerseits ent-

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

spricht, würde seine Entscheidung zur Sittlichkeit doch sonst in sich selbst widersprüchlich sein. Die sittliche Einsicht ist folglich dadurch bestimmt, daß sie den Entwurf einer Idee von Freiheit ermöglicht, in dem Freiheit eine positive Bedeutung hat. Sie stellt sich nun dar als die Möglichkeit, sich selbst zur Sittlichkeit zu bestimmen. Entsprechend ist der Einsprung in den Zirkel von Sittlichkeit und Freiheit, auf den die theoretisch-spekulative Philosophie nur problematisierend hinweisen könnte, auch unmittelbar möglich durch die Anerkennung des einzigen Faktums der Vernunft als eines solchen, d. h. als eines Urdatums, das allen Menschen gegeben ist, ohne daß seine Gegebenheit nochmals er- oder begründet werden könnte. Daß der Mensch sich zur Sittlichkeit verpflichtet weiß, beweist ihm danach, daß er ein freies Wesen ist. Man wird sich fragen können, ob ein naturwissenschaftlich denkender Mensch jenen Schritt, den Kant von der Grundlegungsschrift zur KPV geht, mitgehen kann. Auch der Naturwissenschaftler kommt nicht umhin, sein Handeln zu rechtfertigen. Rechtfertigt er aber sein Handeln dadurch, daß er es als ein der Möglichkeit nach allgemein gültiges Handeln ausweist, hat er sich schon auf den Standpunkt der Sittlichkeit gestellt. Das aber bedeutet, daß er jene Verpflichtung, die im kategorischen Imperativ ausgesprochen ist, schon als solche anerkannt hat. Auch er hat sich also praktisch schon auf den Standpunkt eigener Freiheit gestellt. Allerdings enthebt die praktische Realisierung des Begriffs der Freiheit den Naturwissenschaftler und mit ihm keinen Menschen der Frage, ob es sich bei dem Begriff der Freiheit um einen handelt, der auch von der theoretisch-spekulativen Vernunft gerechtfertigt werden kann. 202 Die Realisierung der Freiheit durch die praktische Vernunft stellt sich als Erweiterung unserer Erkenntnismöglichkeiten dar. Gegen sie könnte sich die theoretische Vernunft aussprechen. Es wäre denkbar, daß die reine Vernunft jede Erweiterung unserer Erkenntnis, die die Grenzen der Theorie transzendiert, als reine Spekulation abzutun hätte. Das ist in bezug auf die Idee einer Kausalität aus reiner Vernunft insofern nicht der Fall, als der Begriff einer causa noumenon, d. h. der Begriff eines Wesens mit freiem Willen, von der spekulativen Vernunft als ein möglicher Begriff ausgewiesen werden konnte. Die Erweiterung der Theorie mittels der Praxis hat ihren ermöglichenden Grund also darin, daß auch die theoretisch-spekulative Vernunft den Begriff der Freiheit zu denken vermag. Kants Sprechen von der Freiheit wird der naturwissenschaftlichen Vernunft also nur verständlich gemacht werden können, sofern sie den Ansatz der kritischen Philosophie Kants zum Kontext ihres eigenen Denkens macht. Nur dann wird sie auch Kants Schritt von der Freiheit des Menschen als homo noumenon zu dessen Geschöpflichkeit mitgehen können.

202 Vgl. KRV B 561 f.I A 533 f. und unsere Deutung der Stelle Teil B, Kap. III., 3., b), bb), (4).

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

253

IV. Die Menschlichkeit des Menschen 1. Die Bestimmung des Menschen zur Moralität

In der Entformalisierung des kategorischen Imperativs wurde die Selbstzwecklichkeit des Menschen als materiales Fundament einer möglichen Ethik aufgewiesen. In bezug auf diese des Menschen argumentiert Kant in der GMS: "So stellt sich der Mensch notwendig sein eigenes Dasein vor; so fern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip [ ... ]"203. Danach kann ein Mensch sich nur als Zweck an sich ansehen im Rückgang auf seine eigene Vernunft. Nun kann aber die Vernunft nur dann als der Grund einer Selbstzwecklichkeit, die es nur als unbedingte geben kann, gedacht werden, sofern sie das Dasein eines Menschen unbedingt zu bestimmen vermag. Ist das der Fall, wird der Wille rein vernünftig, d. h. autonom bestimmt. "Autonomie ist die Beschaffenheit eines Willens, dadurch derselbe ihm selbst [ ... ] ein Gesetz ist. ,,204 Grundlegend für die Kantische Ineinssetzung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung ist dabei die These, daß Freiheit als eine Art der Ursächlichkeit nicht schlechthin gesetzlos sein kann, da sie ihre Folgen ansonsten nur zufällige wären. 205 Eine rein vernünftige Willensbestimmung aber erwies sich nur möglich als eine Bestimmung des Willens nach dem kategorischen Imperativ. "Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen als so, daß die Maxime seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien. ,,206 Folglich ist ein autonomer Wille nur möglich als ein durch den kategorischen Imperativ bestimmter, mithin moralischer Wille. Autonomie ist für Kant daher nur als Moralität denkbar. 207 Das hat nun zur Folge, daß Kant sich in anderen Schriften genötigt sieht, eine eindeutigere Bestimmung der Selbstzwecklichkeit auszuarbeiten. Eine Einführung in den Gedanken findet man in Kants Abhandlung ,,Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte". Danach kommt die Philosophie nicht umhin, von der Existenz des Menschen als eines denkenden Wesens (animal rationale) auszugehen. Denn würde der Mensch nicht als denkendes Wesen existieren, gäbe es auch keine GMS BA 66 (AA Bd. 4, 429). GMS BA 87 (AA Bd. 4, 440). 205 Vgl. GMS BA 96 f. (AA Bd. 4,446): "Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding." 206 GMS BA 87 (AA Bd. 4, 440). 207 Vgl. GMS BA 85 ff. (AA Bd. 4, 439 f.). 203

204

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Philosophie. Die Abhandlung veranschaulicht nun die Geschichte der Menschwerdung des Menschen als Geschichte des Übergangs vom animal rationale zum animal morale. Sie ist in einem zumal die Geschichte der Befreiung des Menschen von den Fesseln der Natur zu jener Freiheit, die nur in der Moralität real wird. Als Naturwesen wird der Mensch affiziert von den Dingen. Nach Kants Geschichtsentwurf ist die Affektion anfangs eine unmittelbare. Die Dinge, die Lust versprechen, fesseln den Menschen ganz. Im ersten Schritt der Geschichte seiner Menschwerdung aber durchbricht der Mensch die Unmittelbarkeit der Affektion dadurch, daß er sich mittels der Einbildungskraft unterschiedliche Objekte vorstellig macht, um unter ihnen wählen zu können. Zwar gibt ihm noch die Natur die Zwecke seines Strebens vor. Indem er sich aber mittels der Einbildungskraft unterschiedliche Naturzwecke vorstellig macht, kann er sich selbst als eines Wesens, das die Möglichkeit der Wahl hat, bewußt werden. Die Wahlfreiheit wird demzufolge von Kant in der Einbildungskraft des Menschen verwurzelt, mithin in der theoretischen Vernunft. Insofern der Mensch also animal rationale ist, kann er sich auch als animalliberum ansehen, sofern er unter Freiheit nur die Freiheit der Wahl von Zwecken, die insgesamt Naturzwecke sind, versteht. Ohne seinen Gedanken selbst zu problematisieren, merkt Kant an, daß der Mensch, der sich seines Vermögens zur Wahl von Zwecken bewußt wird, sich auch als ein Wesen durchsichtig wird, welches auf Möglichkeiten, d. h. auf Zukunft ausgreift. Einem solchen Wesen wird dann aber auch der Tod zur Realität. Darin, daß Kant eigens darauf aufmerksam macht, wird man eine anfängliche Einsicht in das Faktum sehen dürfen, daß das Ergreifen von Möglichkeiten in der Wahl von Zwekken apriori von der Möglichkeit des Todes, die auf den Menschen zukommt, umgriffen ist. Von ihr her wird sichtbar, daß die Wahl durch ein Wesen zu geschehen hat, dem es als einem endlichen darum geht, es selbst sein zu können. Indem der Mensch sich dessen bewußt wird, daß es ihm um sein Sein geht und er derart für sich selbst Zweck ist, ordnet sich ihm die Natur als Mittel zu seinen Zwecksetzungen unter?08 Kant vertritt nun die These, es sei zwar möglich, die Natur als Mittel anzusehen. Wer sich aber selbst als Zweck an sich ansehe, erwarte auch von anderen als solcher geschätzt zu werden. Ohne den Übergang von der Selbstzwecklichkeit des 208 Kant geht es nicht darum, zur Unterwerfung der Natur unter die Zwecksetzungen des Menschen aufzurufen. Ihm gilt die Beherrschung der Natur durch den Menschen als ein Faktum der Geschichte, das philosophisch gedeutet werden kann als Folge dessen, daß die Selbstzwecklichkeit des Menschen der ermöglichende Grund dafür ist, daß auch die Dinge der Natur als Zwecke gegeben sein können. Denn nur vernünftige Wesen können sich selbst Zwecke setzen, darum können auch nur sie als Zwecke an sich selbst angesehen werden. Alle anderen Zwecke sind für Kant nur relativ. Ihr Wert begründet sich aus der Relation, die sie zu einem zwecksetzenden Wesen haben. Klammert man den mit dem Schöpfungsgedanken verbundenen Gedanken eines zwecksetzenden höchsten Wesens noch ein, kann also von der Wertigkeit der Natur nur in Relation zum Menschen gesprochen werden. Derart ist ihr Wert ein bedingter, der des Menschen aber ein unbedingter.

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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einzelnen Menschen zu der aller zu begründen, konstatiert Kant: "Und so war der Mensch in eine Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen [ ... ] getreten [ ... ] nämlich in Ansehung des Anspruchs, Selbstzweck zu sein, von jedem anderen auch als ein solcher geschätzt, und von keinem bloß als Mittel zu anderen Zwecken gebraucht zu werden. ,,209 Der Abhandlung zufolge ist der Mensch Zweck an sich, sofern er als vernünftiges Wesen anderes auf seine Existenz zu instrumentalisieren kann. Dabei sieht Kant es nicht als notwendig an, die Tatsache, daß der, der sich aufgrund seiner Vernunft als Zweck an sich ansieht, auch andere als solche schätzt. Doch ist die dadurch gegebene Verknüpfung von Vernunft und Moralität keinesfalls unproblematisch. In der Tugendlehre zur "Metaphysik der Sitten" arbeitet Kant den Gedanken deutlicher aus. Dort bestreitet er, daß der Mensch allein dadurch, daß er sich selbst Zwecke setzen könne, als der höchste Zweck der Natur anzusehen sei. Das gebe ihm nur einen äußeren Wert. "Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt [ ... ],,210 Analog dazu merkt er in der KPV an, der Mensch sei nicht schon dadurch von einem höheren Wert als das Tier, daß er Vernunft habe, "wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet. 2ll Der Instinkt der Tiere dient deren Bedürfnisbefriedigung. Dazu dient auch die Vernunft, sofern sie als instrumentelle Vernunft verstanden werden kann. Das ist der Fall, sofern die Vernunft als theoretische Erkenntnisse darüber entscheidet, welche Mittel es zu ergreifen gilt, um bestimmte Zwecke zu erreichen?12 Der Übergang zur Praxis erfolgt dann, indem aus der theoretischen Erkenntnis der Mittel-Zweck-Relationen Regeln gefolgert werden, die zu Maximen des Handeins werden können. Unter anderem wird die instrumentelle Vernunft auch Auskunft darüber geben, was es denn zu tun gilt, um glücklich zu werden, d. h. welche Mittel zu ergreifen sind, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Derart der Bedürfnisbefriedigung des Menschen dienend, unterscheidet sich die instrumentelle Vernunft in ihrer Funktion nicht von dem Instinkt der Tiere.

Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte A 11 (AA Bd. 8, 114). MdS A 91 f. (AA Bd. 6,434 f.). 211 KPV A 108 (AA Bd. 5, 61). 212 Kant selbst verwendet den Begriff "instrumentelle Vernunft" zwar nicht, aber er unterscheidet in seiner "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" A 96 (AA Bd. 2, 298) die Notwendigkeit der Mittel von der der Zwecke und an anderer Stelle die Vernunft als das Vermögen, die rechten Mittel zu beliebigen Zwekken zu ergreifen, von ihrer Möglichkeit, das Sittengesetz vorstellig zu machen. Vgl. GMS BA 40 (AA Bd. 4, 414). 209

210

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Sofern es dem Menschen nur um sein Glück geht, lebt er als ein Verstandeswesen, welches ganz Teil der Natur ist. Seine Bedürfnisse befriedigend, folgt er dem Gesetz der Natur. Nur indem er sich davon mittels seiner Vernunft frei macht, wird er zu einem Wesen von einem Wert, der den aller Naturwesen transzendiert: zu einem Wesen mit Würde. Dazu bedarf es allerdings einer Verwandlung der Vernunft von einer bloß instrumentellen Vernunft zu dem Vermögen, in dem die Freiheit ihre Wurzeln hat. Es handelt sich dabei um jene Vernunft, die nicht nur das Vermögen der Erkenntnis von Zweck-Mittel-Relationen ist, sondern die Einsicht in den Zweck aller Zwecke ermöglicht, die Selbstzwecklichkeit des Menschen, durch die das menschliche Vermögen der Wahlfreiheit jene Orientierung durch einen unbedingt zu wählenden Zweck bekommt, bezüglich derer erst von Freiheit, auch von der Wahlfreiheit in der engeren Bedeutung des Begriffs gesprochen werden kann. Denn nur dadurch, daß der Vollzug der Wahl orientiert geschieht, unterscheidet er sich von reiner Willkür. Als das die Lebenspraxis des Menschen orientierende Vermögen kann die Vernunft aber nur aufgrund dessen angesehen werden, daß sie dem Menschen bewußt macht, daß er vernünftig, d. h. dem kategorischen Imperativ folgend handeln soll, da er nur von dort her zu sich finden kann. Denn insbesondere in der Selbstzweckformel und der mit ihr verknüpften Reich der Zwecke-Formel wird sichtbar, daß der kategorische Imperativ, in dem die Gesetzlichkeit der Vernunft selbst zu Sprache kommt, ein Umwillen vorgibt, das aus der Naturgesetzlichkeit nicht abzuleiten ist. Nur dadurch, daß der Mensch sich selbst den kategorischen Imperativ einsichtig macht, bricht für ihn die Möglichkeit auf, sich selbst als vernünftiges, d. h. sittliches Wesen (animal morale) zu verstehen.

2. Selbstsein, Autonomie und Moralität Kants ethischer Ansatz wurde in seinen unterschiedlichen Ausarbeitungen vorgestellt. In dem Kontext wurde deutlich, daß es für Kant keinen Zweifel daran geben kann, daß der Mensch, dessen Interessen aufs Ganze gesehen praktische sind,213 nur zu sich findet, sofern er seinen Willen autonom bestimmt, eine autonome Willens bestimmung aber nur eine moralische sein kann. Kants Verknüpfung von Selbstsein, Autonomie und Moralität wurde insbesondere von G. Prauss widersprochen. Da seine Kritik den Kern des Kantischen Gedankens trifft, wird sie im folgenden Abschnitt in ihren Grundzügen vorgestellt und besprochen. Dazu greifen wir die grundlegenden Einsichten, die sich im Durchgang durch die GMS und die KPVergaben, nochmals auf, um dadurch den Ansatz Kants mittels ihrer kritischen Besprechung nochmals deutlicher sichtbar zu machen.

213 Vgl. KPV A 219 (AA Bd. 5, 121), wonach "alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist."

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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Prauss hat darauf aufmerksam gemacht, daß Kant einerseits die These vertrete, eigentliches Selbst sei der Mensch "nur als Intelligenz".214 Das Bewußtsein des Menschen von sich selbst als einem intelligenten Wesen sei nach Kant der Grund, warum der Mensch sich selbst einen freien Willen zuspreche. Für Prauss ist es fraglich, ob man von der Intelligenz des Menschen, einem theoretischen Vermögen, unmittelbar zu dem Begriff eines freien Willens übergehen kann. Die Kritik betrifft also erstens den Übergang von der Theorie zur Praxis. Problematisch ist der Ansatz Kants für Prauss zweitens insofern, als Kant das Selbstsein des Menschen, gedeutet als Selbstzwecklichkeit, an dessen Moralität knüpft, wodurch er den Willen zum Selbstsein als Willen zur Moralität deute. Kommt dem Urteil Henrichs zufolge in Kants Lehre vom Faktum der reinen Vernunft die Einheit von Selbstwerdung und Sittlichkeit treffend zur Sprache,215 handelt es sich für Prauss in ihrer Ausarbeitung um eine "Verzweiflungstat", zu der sich Kant aufgrund seines Scheiterns in der Frage nach der Gesetzlichkeit von Freiheit genötigt sah, ohne durch sie das Problem lösen zu können. 216 Um seine Kritik zu verdeutlichen, nimmt Prauss Bezug auf die aristotelische Theorie der menschlichen Vernunft. Nach Aristoteles ist die praktische Vernunft bewegt durch das, worauf das Streben geht: das Glück. Nach Aristoteles, deutet Prauss dessen Ansatz, bringe die Vernunft selbst den Menschen nicht zur Bewegung des Strebens. Die Triebfedern des Handeins seien für Aristoteles im Irrationalen verwurzelt. 217 Das gilt für alle eudaimonistischen Ethikkonzepte. Sie alle setzen auf irrationale Triebfedern. Von daher wird aber nur nochmals deutlicher, worum es Kant in seiner Frage, ob die reine Vernunft an sich selbst praktisch sei, geht. Vernunft ist nur dann an sich selbst praktisch, wenn der Ursprung der Strebebewegung des Menschen nicht außerhalb ihrer anzusetzen ist, sondern das Vernünftige selbst zum Beweggrund des Willens, auch des endlichen Willens des Menschen werden kann und es keiner sinnlichen Triebfedern dazu bedarf. Folglich ist in einem ersten Schritt zu fragen, ob man Kants These von der an sich selbst willensbestimmenden Vernunft zustimmen kann, um dann in einem zweiten Schritt die Frage nach der Bedeutung der Moralität für die Willens bestimmung des Menschen stellen zu können. Um nachzuweisen, daß die Vernunft als an sich selbst willensbestimmend angesehen werden kann, arbeitet Kant unterschiedliche Argumente aus, die im Kontext unserer Gedanken zur Deduktionsproblematik in den Schriften zur praktischen Philosophie angesprochen wurden. Als fundamental für die Argumentation als 214 Vgl. G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 34 f. mit Bezugnahme auf GMS BA 117 (AA Bd. 4, 457). 215 D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, 228 - 233. 216 G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 67. 217 Ebd. 47 - 50; mit Bezugnahme auf Aristoteles, De anima 433 a 16 f. und Nikomachische Ethik 1139 a 35 ff. 17 Bohlen

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

ganze, die nun nicht nochmals zu rekapitulieren ist, darf die Erkenntnis angesehen werden, daß der Mensch sich als Sinnenwesen in unterschiedlichen "Empfindungszuständen" vorfindet. Nur als ein empfindender und daher auch unterschiedlich befindlicher ist er sich selbst gegeben. Seine Befindlichkeiten sind dadurch bedingt, daß er, in die Natur geworfen, von ihr in seinem Dasein auch bestimmt wird. Kant führt dazu aus: "Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt)" seien nicht Teil dessen, was der Mensch zu verantworten habe, habe er sie doch nicht ,seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen' zuzusprechen?18 Damit führt Kant die Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichem Selbstsein explizit in das Denken ein und verknüpft den Begriff des eigentlichen Selbstseins mit dem Problem der Verantwortung. Dadurch ist die Bedeutung der Frage nach dem Selbstsein des Menschen vorgegeben. Nur sofern der Mensch eigentlich er selbst ist, ist er auch für sein Handeln verantwortlich. 219 Sollte es überhaupt nicht möglich sein, vom Menschen als einem eigentlichen Selbst zu sprechen, gibt es auch keine Verantwortung. Kant rechnet zwar damit, daß Menschen auf eine Art handeln, die dazu führt, daß man ihre Taten allgemein als Folgen ihrer Empfindungszustände, mithin als naturbedingt anzusehen pflegt. In solchen Taten handeln Menschen nicht eigentlich als sie selbst. Von der Natur getrieben tun sie nur das, wozu sie durch die Natur bestimmt sind. Als sie selbst handeln Menschen nur dann, wenn sie sich zu ihren eigenen Zuständen nochmals verhalten, indem sie solche Bedingungen, die als naturgegebene Triebfedern des Handeins gelten können, eigens zu Maximen ihres Handelns machen oder auch nicht. Darum betont Kant, "die Freiheit der Willkür [sei] von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden [könne], als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen [habe]. ,.220 Danach ist der freie Wille des Menschen derart beschaffen, daß er sich zu den Triebfedern verhalten kann insofern, als er sie in seine Maximen aufnehmen kann oder nicht. Entschließt er sich, einer Triebfeder zu folgen, kann man davon sprechen, er habe willentlich auf die Art, die ihm durch die Triebfeder vorgegeben ist, gehandelt. Möglich ist es aber auch, einem Trieb nicht nachzugeben. Der Entschluß, einem Trieb zu folgen oder auch nicht, ist aus dem Trieb selbst nicht abzuleiten. Er hat seinen eigenen Ursprung. Ihn sieht Kant in der Freiheit des Willens verwurzelt. "So allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. ,,221 Von Verantwortung kann also nur insofern gesprochen werden, als sich Menschen zu den Bedingungen, denen sie unterworfen sind, als sie selbst verhalten können. Das gilt auch für das Streben nach Glück. Bei ihm handelt es sich um eine 218 219 220 221

GMS BA 117 f. (AA. Bd. 4,457 f.). Vgl. MdS A 180/B 210 (AA, Bd. 6, 321 Anm.). REL B 12/ A 11 (AA Bd. 6, 23 f.). REL B 12/ All (AA Bd. 6, 24).

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Bestimmung, die uns aufgrund unserer Sinnlichkeit auferlegt ist. 222 Uns verantwortlich fühlen müssen wir uns aber nur für solche Strebebewegungen, zu denen wir uns verhalten können. Soll das in bezug auf das Streben nach Glück der Fall sein, ist vorauszusetzen, daß uns die Antriebe der Natur zwar Triebfedern des Handeins sind, doch keine naturbedingte Triebfeder eine Handlung schlechthin erzwingen kann. 223 Daß es möglich ist, die Antriebe der Sinnlichkeit nicht als schlechthin zwingend anzusehen, da das Naturgesetz nicht im Widerspruch zur Möglichkeit der Freiheit steht, wurde in der KRV nachgewiesen. 224 Die Argumente des Nachweises werden in den Schriften zur praktischen Philosophie zwar nochmals angeführt, die Frage ist aber nun nicht nur, ob der Mensch sich zu seinen Triebfedern in Freiheit verhalten kann, so daß man ihm die Freiheit der Willkür zusprechen kann, sondern ob es denkbar ist, daß eine Willens bestimmung, in der eine Strebebewegung ihren Anfang nimmt, zustande kommt, ohne daß die Natur daran beteiligt wäre, mithin allein durch die Vernunft bedingt. Denn nur dann wird man Freiheit nicht nur mit Willkür in eins zu setzen haben, sondern kann sie in einer positiven Bedeutung des Begriffs als vernünftige Selbstbestimmung oder Autonomie begreifen. Kant entscheidet die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit eindeutig: "Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst, im Urteile der Vernunft, Triebfeder, und, wer es zu seiner Maxime macht, ist moralisch gut. ,,225 Er vertritt demnach die These, das moralische Gesetz ermögliche eine Willens be stimmung, die das Streben in Bewegung bringt, mithin ein Wollen zur Folge hat, das schlechthin aus keinem Naturtrieb abzuleiten ist. 226 Nun kann sich der Mensch aber schon im Vollzug des vernünftigen Denkens als von sich aus tätig ansehen. Denn die Vernunft entwirft als theoretisch-spekulative Vernunft von sich aus jene transzendentalen Ideen, die dem sinnlich Erfahrbaren an die Seite zu stellen sind. Aufgrund seiner Unableitbarkeit aus den sinnlichen Erfahrungen sind die transzendentalen Ideen als "Produkt" einer Tätigkeit der reinen Vernunft anzusehen. Das gilt auch für die Idee der Sittlichkeit. Auch sie ist von der Vernunft selbst "erwirkt", also deren "Produkt". Unsere Gedanken zur zirkulären Struktur der Sittlichkeit ergaben allerdings, daß die These von dem Faktum der Vernunft durchaus gedeutet werden kann als Konzept eines Entwurfs, in dem die Vernunft solches vorstellig macht, was in ihr gegeben ist. Der Entwurf der Vernunft geschieht in Korrelation zu einer Geworfenheit, die dem sich zuwerfenden Anspruch der Vernunft selbst entspricht. Denn es ist möglich, Kants Lehre vom Faktum der Vernunft als Verweis auf die Einsicht zu deuten, daß die Vernunft im Sittengesetz solches zur Sprache bringt, was sich ihr zugesprochen hat, von dem sie sich angesprochen weiß. Das wurde uns zum Anlaß, das Geschehen, in dem sich 222 223 224 225 226 17*

KRV A 800/B 828; KPV A 108 (AA Bd. 5, 61) u.ö. KRV B 562/ A534; REL B 10 ff. 1A 10 ff. (AA Bd. 6, 23 f.). KRV B 566-5691 A 538-541. REL B 121 A 11 (AA Bd. 6, 24). KPV A 128 (AA Bd. 5, 72).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

das Faktum der Vernunft als solches zuspricht, nicht nur mit Kant als Geschehen "außerhalb" der als Abfolge vorgestellten Zeit zu deuten, sondern an das Geschehen der Zeitigung urspriinglicher Zeit zu binden. Die Zeitigung urspriinglicher Zeit geschieht, sofern dem Menschen sein Sein als ein der Möglichkeit nach sittliches, mithin freies durchsichtig wird. Unter den Vernunftideen findet sich nun u. a. die Idee einer Ursächlichkeit, die von der Naturkausalität zu unterscheiden ist. Da "eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d.i. ein Gesetz ihrer Kausalität" haben muß,227 konnte vorausgesetzt werden, daß auch die von der Naturkausalität zu unterscheidende Kausalität ein Gesetz aufweist, nach dem sie wirkt. Dadurch wurde in einem zumal vorausgesetzt, daß die in Frage stehende Kausalität auch von der Willkür zu unterscheiden ist. Ferner konnte von der theoretischen Vernunft die Möglichkeit nachgewiesen werden, daß der Mensch sich selbst jene Kausalität aus Freiheit zuspricht, insofern er handelt, als ob er frei wäre. Er sieht sich selbst also in seiner Praxis als eine "frei wirkende Ursache,,228 an. Die Frage ist aber, ob es auch zu rechtfertigen ist, die freie Wirkursächlichkeit des Menschen in einer Tätigkeit der Vernunft fundiert zu sehen und davon zu sprechen, daß der Mensch aufgrund seiner Vernunft und nur aufgrund ihrer das Vermögen freier Wirkursächlichkeit hat. Kant setzt nun voraus, daß der Wille nur als einer gedacht werden kann, der durch Intentionalität bestimmt ist, d. h. dadurch, daß er auf ein Gewolltes, ein Objekt geht. Mannigfaltige Objekte sind dem Willen aufgrund der Sinnlichkeit des Menschen gegeben. Sie alle führen zu einer heteronomen Willensbestimmung des Menschen. Nun ist auch der autonom bestimmte Willen des Menschen ein intentionaler. Als solcher braucht er ein Objekt. Die Frage, ob der Mensch sich als Selbst ansehen kann, stellt sich für Kant daher als das Problem, ob die Vernunft selbst dem Willen ein Objekt vorstellig machen kann, wodurch seine Intentionalität eine Formung erführe, die von der Vernunft selbst bedingt wäre. Ein solches Objekt findet Kant in der Vernunftidee der Selbstzwecklichkeit des Menschen und der mit ihr unmittelbar verknüpften Idee eines Reiches der Zwecke, die als Materialisierung der Formalität der Vernunft selbst angesehen werden kann. 229 Nur das Reich der Zwecke intendierend, will der Wille das Vernünftige. Nur in ihm sieht er das Umwillen, von dem her er die Bestimmung bekommt, derer es bedarf, um ihn in Bewegung zu versetzen. Das bedeutet dann allerdings auch, daß es keines Naturantriebes bedarf, um den Menschen dazu zu bewegen, das Reich der Zwecke zu intendieren und selbst als ein Mitglied in dem angestrebten Reiche sein zu wollen. Allein die Einsicht, daß die Vernunft ein solches Wollen gebietet, sollte der Grund sein, auf die Verwirklichung des Reiches der Zwecke aus zu sein. Das bedeutet aber, daß der Mensch als vernünftiges Wesen dadurch er selbst wird, daß er seine Intentionalität ausrichtet auf das Reich der Zwecke. Allerdings betont Kant, daß 227 228 229

KRV B 567/ A 539. GMS BA 119 (AA Bd. 5,458). KRV B 861; GMS BA 70 (AA Bd. 4,431).

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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der Begriff des Reiches der Zwecke ein rein negativer Gedanke sei. Die praktische Vernunft könne sich in die Verstandeswelt nur hineindenken, es gebe keine Möglichkeit, in die Verstandeswelt hineinzuschauen oder sich hineinzuempfinden. 230 Das bedeutet, daß das Reich der Zwecke nicht zu einer konkreten Vorstellung gebracht werden kann. Eine Konkretisierung ist also schlechthin unmöglich. Lediglich das Gesetz, nach dem ein Reich der Zwecke zu verwirklichen wäre, kann benannt werden. "Der Begriff einer Verstandes welt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken, welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch notwendig ist, sofern ihm nicht das Bewußtsein seiner Selbst, als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d.i. frei wirkende Ursache, abgesprochen werden SOll.,,231 Nun hat G. Prauss die These vertreten, in Kants Deutung der Menschlichkeit als Selbstzwecklichkeit sei zwar der Ansatz zu einer moral-neutralen Begründung von Menschlichkeit gegeben. Sie sei aber von Kant nicht ausgearbeitet worden. Stattdessen habe Kant die Selbstzwecklichkeit in der Moralität fundiert. Dadurch sei er in einen Zirkel geraten, demzufolge der Mensch einerseits nur aufgrund der Moralität als Zweck an sich anzuerkennen sei, andererseits die Anerkennung der Selbstzwecklichkeit des Menschen als Bedingung der Möglichkeit von Moralität gedacht werde. 232 In seinem Aufsatz "Kants Problem der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft" kritisiert Prauss: "Wäre der Mensch nur dadurch Zweck an sich selbst, daß er sich das Moralgesetz auferlegt, so würde Kant mit diesem Äquivalent für den kategorischen Imperativ sagen: moralisch verpflichtet sei jeder von uns dadurch, daß auch jeder andere moralisch verpflichtet sei - eine Fonnulierung, die das Moralgesetz bereits voraussetzt und von daher circulär ist.,,233 Statt Freiheit, Selbstzwecklichkeit und Moralität unmittelbar zu verknüpfen, fordert er dazu auf, Vernunft auch ohne das Moralgesetz als an sich selbst praktisch, mithin als Fundament der Freiheit zu denken. Die Kritik von Prauss fordert dazu auf, der Frage nachzugehen, ob der Gedanke der eigenen Selbstzwecklichkeit den der Selbstzwecklichkeit auch aller anderen in sich begreift. Denn falls das der Fall sein sollte, kann sich ein Mensch nur dann als Subjekt von Zwecksetzungen ansehen, wenn er in einem zumal auch alle anderen als solche achtet. Kant geht nun davon aus, daß der, welcher sich das Moralgesetz auferlegt, darauf setzt, ein Subjekt von Zwecksetzungen zu sein, welches nicht nur das Vennögen hat, sich unterschiedliche Naturzwecke vorstellig zu machen, um wählen zu können, sondern das auch vennögend ist, alle Naturzwecke auf die Seite zu stellen, um der Vernunft selbst und ihrer Forderung Platz zu verschaffen. Fordert ein solches Wesen die anderen GMS BA 118 (AA Bd. 4, 458). GMS BA 119 (AA Bd. 4, 458). 232 Vgl. dazu: G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, bes. 126-160. 233 G. Prauss, Kants Problem der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, in: Kant-Studien 72 (1981), 286- 303, bes. 297. 230 231

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auf, ihn als Zweck an sich anzuerkennen, wird seine Sprache die des Appells sein. Denn von den anderen fordernd, ihn als Selbstzweck anzuerkennen, appelliert er mit Notwendigkeit an sie als an solche Wesen, die vermögend sind, ihre Selbstliebe, die ihnen alles auf sich zu verzwecken gebietet, um der Anerkennung eines anderen in seiner Selbstzwecklichkeit willen bei Seite zu stellen. Da ein solcher Appell nicht auf die Selbstliebe der anderen bauen kann, muß er auf deren Vernunft setzen, die er dadurch praktisch anerkennt, ohne den Beweis ihrer Realität einklagen zu können. Wer also als Zweck an sich, d. h. als Person anerkannt werden will, muß auch die anderen als Personen anerkennen. Im Grunde genommen wird darin aber nur die Vernunft als eine an der Allgemeinheit interessierte, mithin moralische anerkannt. Nach unserer Deutung trifft es zu, daß nur der sich das Moralgesetz auferlegen kann, der auch alle anderen zur Moralität verpflichtet, d. h. sich deren Moralität zum Zweck macht. Ob der Andere sich aber selbst verpflichtet sei, und in solchem Wissen von sich selbst her gesehen verpflichtet ist, kann grundsätzlich nicht beurteilt werden. Darum kann man sich die Sittlichkeit anderer zwar zum Zweck machen, man kann sie aber nie für sich einfordern. Unbeschadet dessen hat die Moralität dennoch insofern eine zirkuläre Struktur, als der Mensch sich nur als Zweck an sich ansehen kann, sofern er voraussetzt, daß alle Menschen aufgrund ihrer Vernunft als Selbstzwecke zu achten, mithin zur Würde berufen sind. In der GMS führt Kant dazu aus, jeder Mensch stelle sein eigenes Dasein als das eines Zweckes an sich selbst vor. "So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor.,,234 Danach ist es die Vernunft selbst, die den Übergang von der Vorstellung der Selbstzwecklichkeit eines Menschen zu der aller anderen ermöglicht. Dem Vernunftgrund aber wird nur in der Moralität Platz verschafft. Nur wer sich das Moralgesetz auferlegt, kann sich als Zweck an sich, d. h. als Person, deren Freiheit die der Autonomie ist, ansehen, auch wenn für Prauss der Gedanke, daß Autonomie nur durch Moralität möglich sein soll, "völlig unverständlich" sein mag. 235

3. Das Problem des Bösen a) Zur Problematisierung des Kantischen Autonomiebegriffs

Freiheit bedeutet nach Kant: Gesetzgebung des Willens, die von einem Selbst als ihm selbst vollzogen wird. 236 Zu unterscheiden sind dabei Akte der Gesetzgebung, in denen die Vernunft durch solches bestimmt ist, das nicht aus ihr selbst entGMS BA 67 (AA Bd. 4, 429). G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 140. 236 GMS BA 104 f. (AA Bd. 4, 450): "Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe". 234 235

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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springt, und solche Akte, in denen die Vernunft rein tätig wird. Nur in Bezug auf die reine Tätigkeit der Vernunft kann man von freier Gesetzgebung in der strengen Bedeutung des Begriffs sprechen. Derartige Gesetzgebungsakte setzt Kant in seiner Grundlegungsschrift mit moralischen Akten in eins. Freie Selbstgesetzgebung ist daher für ihn nur denkbar als moralische Gesetzgebung. 237 Der Begriff der Moralität aber kann nur verständlich gemacht werden aus seiner Korrelation zum Guten. Ein moralisches Wesen ist ein Wesen, das das Gute will. Ermöglicht ist der Wille zum Guten nach Kants KPV darin, daß das Bewußtsein ein Wissen um das Sittengesetz als ein solches Gesetz in sich begreift, das von sich aus den Anspruch erhebt, geachtet und in solcher Achtung gewollt zu werden. Ist aber einerseits die freie Selbstgesetzgebung, Autonomie nur als moralische Gesetzgebung denkbar und andererseits Moralität geknüpft an den Willen zum Guten, stellt sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen. c.L. Reinhold hat schon zu Zeiten Kants bezweifelt, daß Kants Begriff der Autonomie mit der Freiheit des Menschen zum Bösen zu vereinbaren sei. Zwar gibt Reinhold selbst zu bedenken, Kant habe auch böse Handlungen stets als zurechenbare Handlungen angesehen, mithin als freiwillig anerkannt. Dadurch, daß Kant aber einerseits Handlungen aus Pflichtbewußtsein als Folgen vernünftiger Willensbestimmung ansetze und andererseits das Pflichtbewußtsein selbst als von d~r Vernunft bewirkt ansehe, müsse "die dem praktischen Gesetze widersprechende Handlung [ ... ] jederzeit der Naturnotwendigkeit unterworfen sein .•.238 In einer dem Gesetz widersprechenden Handlung wäre es demnach nicht die Vernunft, die den Willen bestimmt, sondern die Natur. 239 Folglich ist die Handlung Folge einer heteronomen Willensbestimmung. Das aber bedeutet, daß sie nicht zugerechnet werden kann. Reinholds Kritik hat ihre Nachfolger gefunden. Nicht nur Goethe, Schiller und Herder, sondern auch Windelband, Troeltsch und Cassirer sahen in Kants erstem Stück der Religionsschrift eine Übernahme der Erbsündenlehre, die dem kritischen Denken nicht standhalten kann, da die These vom radikal Bösen in der menschlichen Natur mit dem kritischen Freiheitsbegriff nicht zu vereinbaren sei. 240 Unter Bezugnahme auf den 2. Band der Reinholdschen "Briefe über die Kantische Philosophie" hat G. Prauss in seiner Arbeit "Kant über Freiheit als Autonomie" von 1983 die Frage aufgeworfen, ob nicht Kants These vom analytischen Verhältnis von Freiheit und Moralität dazu nötige, dem Menschen die VerantworVgl. KPV A 55 und A 127 (AA Bd. 5, 31 und 93). c.L. Reinhold. Briefe über die Kantische Philosophie, hg. von R. Schmidt, Bd. 2, Leipzig, 21790, 297. 239 Vgl. GMS BA 89 (AA Bd. 4, 441): "Wenn der Wille irgendworin anders, als in der Tauglichkeit seiner Maxime zu einer eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin wenn er, indem er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus. Der Wille gibt alsdann sich nicht selbst, sondern das Objekt durch sein Verhältnis zum Willen gibt diesem das Gesetz." 240 Vgl. dazu ausführlich H. Hoping. Freiheit in Widerspruch, 52 f. 237 238

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

tung für das Böse abzusprechen. Denn sofern Freiheit und Moralität analytisch verknüpft seien, könne das moralisch Böse "bloß als Wirkung von Natur und keineswegs als Handeln zustande kommen,,241. Handlungen, die Prauss auf selbstbestimmte Handlungen begrenzt, gäbe es nur aufgrund der Willensbestimmung zur Moralität. Im Gegensatz zur Grundlegungsschrift, denke Kant in seiner Religionsschrift das Böse als aus der Freiheit entspringend. Dadurch werde die für die Grundlegungsschrift fundamentale These von der analytischen Verknüpfung von Freiheit und Moralität überwunden. Allerdings scheitere Kant in der Aufgabe, Freiheit als Freiheit zum Guten und Bösen zu denken, da dazu das Verhältnis von Freiheit und Moralität als ein synthetisches, folglich Freiheit moralneutral zu entwerfen gewesen wäre. 242 Soll demnach gedacht werden können, daß der Mensch auch für das Böse, das durch ihn geschieht, verantwortlich ist, wäre es nach Prauss erforderlich, der Analytizität von Moralität und Freiheit eine Absage zu erteilen. Seine Kritik an dem Kantischen Ansatz kann allerdings nur beurteilt werden, nachdem der Gedankengang der Religionsschrift vor Augen gestellt wurde.

b) Die Deutung des Bösen in der Religionsschrift aa) Vom Grund des Bösen Klammert Kant die Frage nach dem Bösen in der GMS und auch in der KPV noch aus, nimmt er in seiner Abhandlung "Über das radikal Böse in der menschlichen Natur", die 1792 in der "Berlinischen Monatsschrift" erschienen war und dann als erstes Stück in seine Religionsschrift "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" aufgenommen wurde, ausführlich dazu Stellung. 243 Die Argumentation der Abhandlung ist fundiert in jener Bestimmung der Begriffe des Guten und Bösen, die Kant in der KPVausgearbeitet hat, "daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetz [ ... ], sondern nur [ ... ] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse,,244. Gut ist eine Handlung demnach, sofern sie dem Moralgesetz entspricht, böse, sofern sie im Widerspruch zu ihm geschieht. Das Moralgesetz aber gebietet es, für das eigene Handeln nur solche Maximen zur Regel zu machen, deren Verallgemeinerung man wollen kann. 245 Folglich kommt es in der moralischen Beurteilung auch nicht auf die Handlungen an, sondern auf die sie regelnden Maximen. Der Grund des Bösen, führt Kant daher in der genannten Abhandlung aus, könne "nur in einer Regel, die 241 G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 81. Seiner Argumentation wird vorgegriffen von H. Reiner; Pflicht und Neigung, Meisenheim 1951,69. Vgl. auch Ch. Schulte, Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988,28-32. 242 G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 98 - 100. 243 Zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. Ch. Schulte, Radikal böse, 13 - 21. 244 KPV A 110 (AA Bd. 5, 62). 245 KPV A 54 (AA Bd. 5, 30).

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht, d.i. in einer Maxime" gefunden werden?46 Böse wird man einen Menschen also nur nennen können aufgrund dessen, daß er sich solche Maximen zur Regel gemacht hat, die dem Sittengesetz widersprechen, deren Verallgemeinerung also nicht gewollt werden kann. "Man nennt [ ... ] einen Menschen böse, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen in ihm schließen lassen. ,,247 Kant problematisiert zwar den Rückschluß von erfahrbaren Handlungen auf die sie regelnden Maximen und ihre Aufnahme in den Willen. Es sei unmöglich, einen Handelnden aufgrund der Erfahrung mit Sicherheit als bösen Menschen zu beurteilen. Nicht einmal sich selbst könne man sicher als böse beurteilen, wäre doch dazu die Möglichkeit eines sicheren Rückschlusses von einer "mit Bewußtsein bösen Handlung, apriori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime, und aus dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist", nötig. 248 Warum das auch für moralisch gutes Handeln gilt, hat Kant in der GMS ausgearbeitet. 249 Unbeschadet dessen ist es für Kant unabdingbar zu postulieren, daß von bösen Maximen gesprochen werden kann, wäre es doch ansonsten schlechthin unmöglich, Menschen als frei anzusehen. Ware der Grund des Bösen, das durch das Handeln eines Menschen geschieht, keine Maxime sondern nur ein Naturtrieb, "so würde der Gebrauch der Freiheit ganz auf Bestimmung durch Natursachen zurückgeführt werden können: welches ihr aber widerspricht. ,,250 Kant erkennt also, daß der Begriff der Freiheit nur zu retten ist, sofern der Mensch als ein Wesen angesehen werden kann, das für seine Handlungen insofern zur Rechenschaft gezogen werden kann, als es sein Handeln durch Maximen regelt, die gut oder böse sind. Frei ist der Mensch, da er selbst entscheidet, welche Maximen er sich zur Regel macht. Das hat zur Folge, daß sich das Problem des Bösen nun verdichtet zu der Frage, warum ein Mensch denn gesetzeswidrige Maximen in den eigenen Willen aufnimmt. In bezug darauf ist aus einer Anmerkung zur Religionsschrift zu ersehen, daß Kant davon ausgeht, daß die praktischen Regeln im Vollzug ihrer Aufnahme in den Willen zu einem einheitlichen Lebensentwurf synthetisiert werden dadurch, daß bestimmte Maximen höheren und höchsten Maximen untergeordnet werden. Folglich nötigt die Frage nach dem Grund für die Aufnahme gesetzeswidriger Maximen zu einem Rückgang in die Bestimmungsgründe des Willens, der zwar auf einen ersten Grund, jenen "einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist,,251 zu246 247 248 249

250 251

REL BA 7 (AA Bd. 6, 21). REL BA 5 AA Bd. 6, 20). REL BA 6 (AA Bd. 6, 21). GMS BA 26 (AA Bd. 4, 406). REL BA 7 (AA Bd. 6, 21). REL BA 6 (AA Bd. 6, 20).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

geht, zu keiner Zeit aber dort ankommen wird. Das Grundproblem der theoretischen Erkenntnis wird daher nun auch in der Praxis greifbar. Einerseits kommt man nicht umhin, sich das Leben eines Menschen dadurch verständlich zu machen, daß man in die Gründe seiner Daseinsbewegungen zurückgeht. Also wird man eine Handlung, die einem böse vorkommt, dadurch zu verstehen suchen, daß man nach den Gründen fragt, die einen Menschen bewogen haben können, die Maxime, nach der er handelte, in seinen Willen aufzunehmen. Sollte man Grund haben, auch die Maxime als böse anzusehen, wird man nicht umhin können, sie dadurch zu beurteilen, daß man ihre Wahl als Folge übergeordneter, mithin höherer Maximen deutet. Das Urteilen käme auch bezüglich der Lebenspraxis nur an ein Ende, sofern das Fragen nach Gründen zu dem Grund aller Gründe vordringen könnte, d. h. im Fall der Praxis zu der höchsten Maxime, von der her die Lebenspraxis eines Menschen als ganze zu beurteilen wäre. Der erste subjektive Grund aller Maximen aber ist unerforschlich, da er nicht aus ihm untergeordneten Maximen abgeleitet, mithin auch nicht durch Rückgang in die Gründe erforschbar ist. Folglich sieht man sich auch in bezug auf die Beurteilung der Praxis in einen regressus ad infinitum genötigt. Von daher kann die Frage nach dem Bösen empirisch grundsätzlich nicht gelöst werden. Daß der Mensch überhaupt böse sein kann, ist folglich keine empirische Aussage, sondern ein Postulat der praktischen Vernunft, die um der Zurechnungsfähigkeit von Handlungen willen einen Akt der Freiheit, in dem eine höchste gesetzeswidrige Maxime zum Grund des eigenen Handeins gemacht wird, als Ursprung des Bösen voraussetzt, wäre es doch ansonsten nicht möglich, die Lebenspraxis eines Menschen überhaupt als Ausdruck von Freiheit anzusehen. Darum stellt Kant einleitend heraus, daß in der Frage, ob der Mensch von Natur aus böse sei, welchem er in seiner Religionsschrift nachzugehen beabsichtige, der Begriff der Natur angewandt werde zur Benennung des ersten subjektiven Grundes der Annehmung der Maximen. 252 Es geht also um die in der Subjektivität verwurzelte Bedingung der Möglichkeit zur Annahme einer bösen als der höchsten Maxime des Daseins, welche Annehmung nur als Akt der Freiheit verstanden werden kann. Auch der subjektive Grund selbst muß um der Zurechenbarkeit des Bösen durch einen Akt der Freiheit begründet sein. "Dieser subjektive Grund muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein (denn sonst könnte der Gebrauch, oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes, ihm nicht zugerechnet werden, und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen),,253. bb) Das Böse und die Freiheit Von daher ergibt sich der Grundzug der Kantischen Aneignung der ErbsündenIehre. In der theologischen Tradition der Erbsündenlehre wird der Hang des Men252 253

REL BA 7 (AA Bd. 6, 21). REL BA 6 f. (AA Bd. 6, 21).

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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schen zum Bösen als angeboren vorgestellt. Das ist für Kant unmöglich. Denn es geht nicht an, daß "böse Handlungen, die ein anderer (Adam) vor uns gethan [ ... ] hat, gänzlich inputirt werden.,,254. Die Notwendigkeit der Inputabilitäten des Bösen nötigt dazu, es einem Menschen als ihm selbst zuzusprechen. Der "gemeine Begriff der Inputation" ist für Kant ein unmöglicher. 255 Folglich kann es sich bei dem Sprechen um das Angeborensein des Bösen nur um ein uneigentliches Sprechen handeln. Angeboren ist das Böse nur insofern, als es "vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht,,256. Demnach ist auszugehen von den Handlungen eines Menschen. Sie verweisen von sich aus auf einen "Urakt" der Freiheit, in dem ein Mensch sich allem Handeln voran zum Guten oder Bösen entschieden hat. Spricht Kant von einem subjektiven Grund des Bösen als einem Actus der Freiheit, hat er den Menschen als Teil der Menschheit vor Augen. Als solcher ist der Mensch geworfen in eine Menschheitsgeschichte, in der die Entscheidung zum Bösen allen Akten seiner Freiheit vorauf gefallen ist. ,,Er ist von Natur böse, heißt so viel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet. ,,257 Dabei nimmt Kant an, der Hang zum Bösen sei derart "mit der menschlichen Natur verwebt,,258, "daß er als allgemein zum Menschen, (also als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf,,259, von woher er auch ein "angebornes" Böses genannt werden kann. Für die Allgemeinheit des Bösen, welche es rechtfertigt, von ihm zu sprechen, als ob es dem Menschen angeboren sei, führt Kant die Empirie als Beweis an. 2OO Die Bosheit aber kann keine empirische Tatsache sein, ist es die Moralität doch auch nicht. 261 Folglich kann Kant die Allgemeinheit des Bösen nicht beweisen. Umso deutlicher wird aber von daher die Intention Kants. Ihm kommt es nicht darauf an, nachzuweisen, daß alle Menschen böse sind. Das glaubt er mit der Tradition der Theologie voraussetzen zu können. Für ihn ist der Theologie auch darin Recht zu geben, daß nicht Gott, sondern der Mensch selbst Urheber des Bösen sei. Der Ursprung des Bösen kann nur die freie Tat eines Menschen sein. Im Gegensatz zur Tradition der Erbsündenlehre insistiert Kant aber darauf, daß das Sprechen von dem angeborenen Hang zum Bösen nur ein uneigentliches sei. Denn mit dem Erbsündengedanken werde zeitlich vorgestellt, was an sich nicht zeitlich zu denken. Mittels seiner These, daß das Bösewerden des Menschen an sich keinen Ursprung in der Zeit haben kann, da es sich um einen Akt der Freiheit handelt, unterläuft Kant die für die Erbsündenlehre konstituive These von der Vererbung des Hanges zum Bösen, um das Böse dem Men254 255 256 257 258 259 260 261

Refl. 8090 (AA Bd. 19,632-635, bes. 634). Ebd. REL BA 6 (AA Bd. 6, 21). REL B 27/ A 24 (AA Bd. 6, 32). REL B 23/ A 21 (AA Bd. 6, 30). REL B 21/ A 19 (AA Bd. 6, 29). REL B 27/ A 24 (AA Bd. 6, 32). Zur Kritik vgl. eh. Schulte, Radikal böse, 83 - 88.

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c. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

schen selbst zurechnen zu können. Der Erbsündengedanke weist daher lediglich in Form uneigentlichen Sprechens darauf hin, daß jedem Menschen als Menschen die Möglichkeit zum Bösen gegeben ist, und zwar ohne daß der Mensch einen Grund dafür benennen könnte, warum er böse werden kann. "Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können; und doch ist die urspriingliche Anlage, [ ... 1eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne. ,,262

Die Aneignung der theologischen Tradition der Erbsündenlehre durch Kant ist demnach durch die Absicht bestimmt, die Vorstellung einer Vererbung der Disposition zum Bösen als uneigentlich zu deuten, um die Freiheit als den Ursprung des Bösen denken zu können. 263 Das bedeutet nun aber, daß man in der Frage nach dem Bösen in der Tat auszugehen hat von einem Akt der Freiheit, in dem ein Mensch sein Leben auf eine höchste, gesetzeswidrige Maxime griindet. Von daher stellt sich die Frage, ob Kant darin die in der Grundlegungsschrift noch vertretene These von einer analytischen Verknüpfung von Freiheit und Moralität in der Religionsschrift widerrufen hat. Noch in der MdS insistiert Kant darauf, eigentlich sei nur ,,[d]ie Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft [ ... ] ein Vermögen, die Möglichkeit, von ihr abzuweichen, ein Unvermögen,,264. Der Kontext, in dem eine solche Aussage verständlich wird, ist Kants Unterscheidung eines negativen Begriffs der Freiheit von ihrem positiven Begriff. Der negative Begriff der Freiheit nennt die Unabhängigkeit vom Naturgesetz, d. h. "die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit,,265. In seinem negativen Begriff der Freiheit entwirft Kant daher eine moralneutrale Freiheit, die Freiheit der Willkür. Freiheit, betont Kant in der KRV ist ihrem negativen Begriff nach "Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen".266 Es handelt sich um eine Freiheit, deren Vollzug nach empirischen Gesetzen geschieht und die insofern als gesetzlos anzusehen ist. Davon ausgehend, daß sich positiv gedachte Freiheit und Gesetzlosigkeit widersprechen 267 , denkt Kant die "Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen" als die eine Voraussetzung jeder Selbstbestimmung. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit jeder Selbstbestimmung, welche nur geschehen kann durch Unterordnung unter ein anderes Gesetz, d. h. als Auto-nomie. Die Aufhebung der Gesetzlichkeit, REL B 47/ A 43 (AA Bd. 6,43). Zu Kants Aneignung der Erbsündenlehre vgl. J. Bohatek, Die Religionsphilosophie Kants in der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft"; Gnijjke, Kants Deutung des Sündenfallmythos, in: Erfahrung, Glaube und Moral, hg. von J. Lang und G. Hasenhüttel, Düsseldorf 1982, 103 -122; H. Hoping, Freiheit in Widerspruch, 197 -208. 264 MdS AB 28 (AA Bd. 6, 227). 265 KRV A 533 f./B 561 f. 266 KRV B 581 f. 267 GMS BA 96 f. (AA Bd. 4, 446). 262

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IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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in der die Freiheit in reine Zufälligkeit übergeht, ist von daher gesehen keine Möglichkeit des Menschen, kein Vermögen, sondern ein Unvermögen. Dagegen setzt Kant das Vermögen des Menschen, seiner Freiheit selbst eine Bestimmung zu geben, das Vermögen der Autonomie. Für ihn kommt es nicht nur darauf an, "die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit" als Möglichkeit einer moralneutralen Freiheit aufzuweisen, sondern dariiber hinaus nachzuweisen, daß der Mensch sich ein anderes Gesetz als das der Natur geben kann, nach dem er sein Handeln regelt. Das Problem der Kantischen Philosophie ist folglich nicht die Einheit von Freiheit und Selbstgesetzgebung (Autonomie)268, sondern die Deutung der Autonomie als einer moralischen. Denn ein analytisches Verhältnis von Freiheit und Moralität gibt es nur bezogen auf den positiven Begriff der Freiheit, der Autonomie. In Bezug auf ihn geht Kant davon aus, daß ein vernünftiges, mit dem Vermögen vernünftiger Selbstbestimmung begabtes Wesen sich kein anderes Gesetz geben kann als das, in dem sich die Vernunft selbst ihren Anspruch, zum Grundgesetz menschlicher Lebenspraxis werden zu wollen, vorwirft. Das ist nach Kant im kategorischen Imperativ der Fall, insofern in ihm vernünftiges Wollen als Wille zur Allgemeingültigkeit auch des Handeins geboten wird. Das gute Handeln ist demzufolge das vernünftige Handeln, der gute Mensch, der stets vernünftig handeln will. Ein böser Mensch kann dann nur als einer gedacht werden, der zwar um den Anspruch der Vernunft weiß, sich aber dennoch zugesteht, zu Zeiten wider die eigene Vernunft zu handeln, d. h. sich trotz seines Wissens um seine Verpflichtung zur Moralität von den sinnlichen Antrieben bestimmen läßt, und zwar freiwillig. "Der Satz: der Mensch ist böse, kann nach dem Obigen nichts anderes sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt, und hat doch die (gelegenheitliche) Anweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. ,,269

cc) Von der Persönlichkeit im Menschen Auch ein böser Mensch ist sich demnach des Moralgesetzes bewußt. Darum greift Kant in seiner Religionsschrift seine Lehre vom Moralgesetz als einem "Faktum der reinen Vernunft" nochmals auf, wonach uns das Sittengesetz apriori als ein solches gegeben ist, das uns dadurch, daß es sich uns als verpflichtend zuwirft, von sich aus in eine Daseinsbewegung versetzt, die auf das Gute geht. Daß der Mensch sich seiner Verpflichtung zur Sittlichkeit apriori bewußt ist, macht seine Persönlichkeit aus, die Kant in der "Religionsschrift" als eine ursprüngliche "Anlage" des Menschen dessen animalitas und rationalitas an die Seite stellt und dabei 268 In der Kritik an Kants Moralphilosophie wird sowohl Kants Ineinssetzung von Freiheit und Autonomie als auch die Deutung der Autonomie als einer moralischen angegriffen, ohne daß die dadurch gegebenen Probleme streng unterschieden würden. Die Plausibilität des Kantischen Gedankens aber ist davon abhängig, daß die Ineinssetzung von Freiheit und Autonomie als Fundament der Deutung Freiheit als moralischer Autonomie angesehen wird. 269 REL B 26 f. / A 24 (AA Bd. 6, 32).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

betont: "Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet). Aber, daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maximen aufnehmen, der subjektive Grund hierzu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein, und daher den Namen einer Anlage zum Behuf derselben zu verdienen.'mo Persönlichkeit ist der Mensch also, insofern er um die Verpflichtung zur Moralität weiß. Als solcher kann er sich auf sich selbst als Persönlichkeit entwerfen, da ihm die Anlage gegeben ist, die Verpflichtung zur Moralität, um die er weiß, auch zu wollen. Der Wille zur Moralität selbst aber ist ein unerforschlicher Grund des Guten, den es vorauszusetzen gilt, um Handlungen als zurechnungsfähig ansehen zu können. Der Anlage zum Guten widerstreitet nun nach Kant ein "natürlicher Hang zum Bösen", der aber nicht mit der Neigung des Menschen, seinen sinnlichen Antrieben zu folgen, identisch ist. Kant betont nachdrücklich, daß auch die animalitas des Menschen, d. h. seine Sinnlichkeit eine Anlage zum Guten ist. Auch sie fördert die Moralität des Menschen, sofern sie ihr untergeordnet wird. Der natürliche Hang zum Bösen aber wird von Kant als der subjektive Grund dafür eingeführt, daß die an sich gebotene Unterordnung sowohl der animalitas als auch der rationalitas des Menschen unter dessen Moralität in ihr Gegenteil verkehrt werden kann. Zwar unterscheidet Kant drei Stufen der Verkehrung des Verhältnisses in der Bestimmung des Willens durch sinnliche Antriebe einerseits, die Triebfeder des Moralgesetzes andererseits. Den Begriff der Bösartigkeit aber begrenzt er auf jene Verkehrung, die darin besteht, daß die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz anderen nachgesetzt wird271 , und zwar in einem Akt der Freiheit, könnte doch ansonsten kein Mensch als bösartig angesehen werden. Nach Kant hat also der Mensch die Freiheit, die Triebfeder der Sittlichkeit den Antrieben der Natur unterzuordnen, wodurch er der Forderung zur Moralität ihre Unbedingtheit nimmt. Um die Verpflichtung zur Sittlichkeit zu wissen, ohne sie praktisch auch als eine unbedingte anzuerkennen, ist für Kant eine Verkehrung der Ordnungsverhältnisse, durch die sich der Mensch von seiner eigentlichen Bestimmung abkehrt. "Folglich ist der Mensch (auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt. ,,272 Dabei kann sich der Mensch von dem Problem des Bösen auch nicht dadurch freisprechen, daß er seine Vernunft als begrenzt deutet. Denn die Vernunft gebietet die Moralität an sich derart, daß der, der das "Du sollst!" einsieht, nicht an der Unbedingtheit der ihm zugesprochenen Verpflichtung zweifeln kann. Dennoch kann er die ihm an sich einsichtige Verpflichtung den Beweggriinden, die ihm durch die Sinnlichkeit vorgegeben sind, nachordnen, und zwar in einem freien Akt, der an sich unerforschlich ist. 270 271

272

REL B 18 f.1 A 17 (AA Bd. 6, 28). REL B 231 A 20 (AA Bd. 6, 30). REL B 341 A 30 (AA Bd. 6, 36).

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

271

Sollen die Begriffe gut und böse überhaupt eine Bedeutung haben, ist ein Akt der Freiheit anzunehmen, in dem der Mensch sich selbst zum Guten oder auch zum Bösen bestimmt. "Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben,,273. Danach kann ein Mensch gut genannt werden, sofern er das moralische Gesetz zum Bestimmungsgrund seines Willens gemacht hat, d. h. nach dem Grundsatz lebt, sich nur solche Maximen zu wählen, deren Verallgemeinerung er wollen kann. Ein Mensch ist nach Kant böse, sofern er zwar weiß, daß er nach dem genannten Grundsatz leben sollte, doch sich selbst die Freiheit nimmt, die Moralität zu Zeiten anderen Bestimmungsgründen nachzuordnen 274 . Zwar kann auch nach Kant kein Mensch das Böse um seiner selbst wollen 275 , möglich ist für ihn aber, daß ein Mensch die Ordnung in den Bestimmungsgründen willentlich verkehrt. Von dem systematischen Ansatz Kants her ist der faktische Vollzug einer Nachordnung, d. h. das faktische Schuldigwerden, nicht beweisbar. Zwar ist um die Zurechenbarkeit von Schuld willen zu postulieren, daß ein Mensch sich sowohl zum Guten als auch Bösen entscheiden kann. Ob es aber einen faktisch bösen Menschen gibt, kann nicht gesagt werden. Denn auch die faktische Moralität nur eines einzigen Menschen kann nicht sicher bewiesen werden. Von daher kann man es als ein Systembruch beurteilen276, daß Kant die These vertritt, die Erfahrung erweise den Menschen als ein Wesen, das unzweifelhaft dem Bösen zuneige, und zwar derart, daß man vom Bösen als einem angeborenen Bösen sprechen kann, auch wenn es sich darin um ein uneigentliches Sprechen handelt. Denn an sich müsse ,jede böse Handlung [ ... ], wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre. ,,277 Man kann sich fragen, warum denn die Menschen, und zwar alle Menschen, dazu neigen, den unbedingten Anspruch der Sittlichkeit zu Zeiten den Triebfedern ihrer Sinnlichkeit unterzuordnen. Warum erkennt ein vernünftiges Wesen den Anspruch der Sittlichkeit als einen unbedingten und erkennt doch seine Unbedingtheit faktisch nicht an? Kant geht darauf nicht ein. Die Frage "unde malum" wird von ihm also nicht endgültig beantwortet. Wird aber der Ursprung des Bösen derart nachdrücklich in der Freiheit angesetzt, kommt man nicht umhin, auch die Überwindung des Bösen, welche Kant als eine Umkehr der Gesinnung deutet, in der Freiheit zu verwurzeln. Dazu merkt Kant an, die Bekehrung zum Guten könne nur "durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen" bewirkt werden und fragt dann: "Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene 273 274 275 276 277

REL. B 48/ A 45 (AA Bd. 6,44). REL. B 26 f. / A 24 (AA Bd. 6, 32). REL. B 31/ A 28 (AA Bd. 6, 35). V gl. eh. Schulte, Radikal böse, 99 ff. REL B 42/ A 38 f. (AA Bd. 6,41).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Kräfte diese Revolution zustande bringt, und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns tunlich ist. ,.218 Danach ist aus der Verpflichtung zur Sittlichkeit zu folgern, daß der Mensch auch sittlich sein kann. In Anbetracht faktischer Bosheit bedeutet das, daß anzunehmen ist, daß der Mensch sich selbst revolutioniert, d. h. von sich aus zum Guten bekehren kann. "Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können. ,,279 Das hat Auswirkungen auf unser Sprechen von der Schöpfung des Menschen. Der Mensch ist nicht einfachhin gut geschaffen, sondern zum Guten geschaffen, d. h. er hat die Anlage zum Guten280 , die Kant mit der Idee des moralischen Gesetzes in eins setzt 281 . Dadurch bestimmt er das Faktum der reinen Vernunft von sich aus als eine Anlage, die der Mensch sich nicht selbst gibt, sondern die ihm gegeben ist, das Urdatum unserer Vernunft ist in der strengen Bedeutung des Begriffs Datum, Gabe. Der Mensch, der sich von daher als Geschöpf durchsichtig wird, darf sich erkennen als einer, der sich in seiner Menschlichkeit selbst gegeben und aufgegeben ist. Auch widerspricht nach Kant dem Gedanken der Autonomie also keinesfalls der einer religiösen Begriindung der Menschlichkeit des Menschen. Dafür spricht auch, daß Kant die "urspriingliche moralische Anlage in uns" als eine Anlage deutet, die auf eine göttliche Abkunft verweist. 282 Daß wir uns dessen bewußt sind, daß wir uns zur Moralität bestimmen sollen und können, kann uns zum Hinweis auf unsere göttliche Herkunft, d. h. unsere Geschöpflichkeit werden. Der Anlage zum Guten widerstreitet die Erfahrung des Bösen. Es ist interessant, daß Kant von ihr ausgeht, auch wenn sein System dadurch einen Bruch bekommt. Ein Philosophieren, das sich der Erfahrung des Bösen nicht stellt, könnte auch zu der Frage nach der Menschlichkeit des Menschen kaum noch Stellung nehmen. Das gilt auch, wenn das Böse an sich nicht beweisbar ist. Das Böse kommt mit dem Guten darin überein, daß sein Ursprung nur in der Freiheit des Menschen anzusetzen ist. Geschöpft zu sein bedeutet für den Menschen, sowohl die Anlage zum Guten als auch die Möglichkeit, böse zu werden, in sich zu haben. Das aber bedeutet, daß die Möglichkeit des Bösen als eine Schöpfungsrealität anzuerkennen ist. Als Geschöpf hat der Mensch die Möglichkeit, böse zu werden, insofern, als sein Wille kein heiliger Wille ist. Das "Du sollst!" begreift in sich nicht nur ein "Du kannst", sondern auch ein "Du mußt nicht,,?83 Nur dadurch, daß der Mensch REL B 54/ ASO f. (AA Bd. 6,47). REL B 60/ ASS f. (AA Bd. 6, 50). 280 REL. B 48/ A 45 (AA Bd. 6, 44). 281 REL. B 18/ A 17 (AA Bd. 6, 28). 282 REL. B 58 f. / A 54 f. (AA Bd. 6, 50). 283 Daß das Sollen nach GMS BA 102, BA 111 (AA Bd. 4, 449, 453 ff.) Index der Endlichkeit des menschlichen Willens ist, steht nicht im Widerspruch zu der These, daß der Mensch aufgrund der Endlichkeit seines Willens auch böse werden kann. Die Kritik von H. Hoping, Freiheit im Widerspruch 201, Anm. 758, an der Deutung von H. Meyer; Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zu Kants Kritischer Freiheitslehre. Diss. München 1979, 271, 278

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IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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auch anders als gut sein wollen kann, erweist sich der kategorische Imperativ als das Grundgesetz der Freiheit. Daß der Mensch böse werden kann und Menschen faktisch böse sind, verweist demnach darauf, daß die Freiheit des Geschöpfs vom Schöpfer unbedingt gewollt ist. Unbeschadet dessen, daß Kant die Entscheidung des Menschen zum Guten, die sich in Anbetracht der faktischen Bosheit der Menschheit als eine Umkehr zum Guten zu denken gibt, als eine Pflicht des Menschen deutet, der die Möglichkeit, sich von sich aus zu bekehren, korrelieren müsse, spricht er von ihr als "eine[r] Art von Wiedergeburt,,284 oder "eine[r] neue[n] SChöpfung,,285. Daß der Mensch sich "durch eigene Kraftanwendung" zum Guten kehren kann, ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Eine solche Selbstbekehrung muß nach Kant möglich sein, könnte doch dem Menschen ansonsten die Tatsache, daß er noch nicht gut ist, nicht als Schuld angerechnet werden. Dennoch handelt es sich um eine "Zumutung".286 Denn auf welchem Weg ein böser Mensch aus sich selbst heraus ein guter Mensch werden kann, "übersteigt alle unsere Begriffe".287 Der Anerkennung der Faktizität des Bösen, die an sich unbeweisbar ist, korreliert nun die Einsicht, daß eine Bekehrung zum Guten aus eigener Kraft zwar aus systematischen Griinden zu postulieren, lebenspraktisch aber kaum möglich sein dürfte. Darum entwirft die Vernunft solche Ideen, die zwar nicht "innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft" ihre Stätte haben, doch an diese angrenzen. Unter ihnen ist vor allem die Idee der Gnade zu nennen, mit der Gott vollendet, was im Menschenleben "bloßes Werden" ist. 288 Der Begriff der Gnade bekommt dadurch seine Stellung im Kantischen System. 289 Kants Sprechen von einer "Revolution" bzw. "Neuschöpfung" des Menschen begriindet sich in seiner Absicht, die Zeitvorstellung von den Akten der Freiheit abzusondern. Das aber ist für Kant nur zum Teil möglich. Denn die Vorstellung eines Geschehens, in dem der Mensch sich umkehrt, setzt den Gedanken der Zeitfolge voraus, nach der das, wovon der Mensch sich abkehrt, dem, welchem er sich zukehrt, vorhergeht. Das aber hat zur Folge, daß das Bösesein des Menschen als vorgängig gedacht werden muß, was nur im Kontext eines uneigentlichen Sprachgebrauchs möglich ist. Von daher kann man in Kants Absicht der Absonderung der Zeitvorund O. Platenius, Schellings Fortführung der Lehre Kants vorn Bösen. Ein Beitrag zur Religionsphilosophie des Deutschen Idealismus, Diss. Hilchenbach 1928, 10, trifft daher nicht. 284 REL B 54/ A 50 (AA Bd. 6,47). 285 Ebd. Vgl. Der Streit der Fakultäten, A 157 (AA Bd. 7, 92). 286 REL B 61/ A 57 (AA Bd. 6, 51). 287 Die Möglichkeit der Umkehr ist nach O. Platenius, Schellings Fortführung der Lehre Kants vorn Bösen, 20, eine "ad hoc erfundene Annahme", durch welche Kant die Radikalität des Bösen aufhebe. Vgl. auch eh. Schulte, Radikal böse, 210. 288 REL B 100/ A 94 (AA Bd. 7, 75). 289 Vgl. dazu H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, 208, insb. seine Kritik an G.B. Sala, Kant und die Theologie der Hoffnung. Eine Auseinandersetzung mit R. Schaefflers Interpretation der Kantischen Religionsphilosophie, in: ThPh 56 (1981) 92-110. 18 Bohlen

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

stellung von dem Geschehen der Umkehr auch die Aufforderung sehen, eine Phänomenologie der Kehre des Menschen zum Guten auszuarbeiten, für die nicht die Abfolge der Zeit, sondern deren Zeitigung als Horizont der Deutung fungiert. Im Kontext unserer Fragestellung kann das nur im Ansatz geschehen. Als primordial anzusehen ist das Ereignis, in dem der Mensch sich seiner Verpflichtung zur Sittlichkeit bewußt wird, die sittliche Einsicht. Sie wurde an anderer Stelle in ihrer zirkulären Struktur besprochen. Danach wird die Verpflichtung zur Sittlichkeit eingesehen als eine, die gegeben ist, noch ehe sie eingesehen werden kann. Mit der sittlichen Einsicht verknüpft ist daher das Bewußtsein, daß die Unterordnung unter die Pflicht grundsätzlich zu spät geschieht, wobei sich das zu spät nicht als eine Stelle in der Abfolge der Zeit zu denken gibt, sondern aus seinem Bezug zu dem bestimmt, was man mit E. Levinas als ein "tiefes Einst, niemals genügend Einst,,290 bestimmen könnte, demzufolge sich mit der sittlichen Einsicht das Bewußtsein verknüpft, daß die Unterordnung unter die Pflicht grundsätzlich zu spät kommt. 291 Dabei gibt sich das Zu-spät nicht als eine Stelle in der Abfolge der Zeit zu denken, sondern wird aus seinem Bezug zu dem unvordenklichen Einst bestimmt. Ordnet sich der Mensch aber grundsätzlich der Pflicht zu spät unter, stellt sich ihm das Geschehen der Unterordnung als das einer Umkehr dar, in dem er sich zu dem, was er sein sollte, befreit. Daß die Befreiung aber zu spät geschieht, muß der Mensch sich selbst zurechnen, kann er die Tatsache, daß sittliche Einsicht derart spät Folgen für sein Dasein zeitigt, doch nur dadurch begründen, daß er wider sie "vernünftelt" hat. Für uns interessant ist nun, daß Kant die Umkehr des Menschen zum Guten, durch welche er menschlich wird, eine Neuschöpfung nennt. Dabei vertritt er allerdings die These, es handele sich um ein Schöpfungsgeschehen, das der Mensch selbst zu erwirken hat, soll es ihm auch zugerechnet werden können. Von einer Schöpfung zu sprechen ist aber dennoch insofern zu rechtfertigen, als die Umkehr zum Guten nur geschehen kann, sofern das Sein des Menschen mit der Möglichkeit, sich als Noumenon anzusehen, die Möglichkeit der Freiheit in sich begreift, in welches es quer zu der verlaufenden Zeit und sie durchbrechend, zur sittlichen Einsicht kommen kann.

dd) Geschaffen zur Freiheit? Anhand der Religionsschrift Kants wird ersichtlich, daß Kant die Einsicht in die sittliche Verpflichtung als eine Erfahrung deutet, die er mit dem Begriff der Neuschöpfung verknüpft. Von daher ist die These zu rechtfertigen, daß der Mensch sich seiner Geschöpflichkeit bewußt werden kann, sofern er die Erfahrung macht, 290 E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hg. und eingel. von W. N. Krewani, Freiburg/München 1983, 228. Vg. Ders.• Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. übers. von Th. Wiemer, Freiburg 1 München 1992,235. 291 Vgl. auch REL. B 981 A 91 f. (AA Bd. 6, 74).

IV. Die Menschlichkeit des Menschen

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daß er sich zum Guten bekehren kann, obwohl er in einer Welt lebt, die einerseits durch die Gesetzlichkeit der Natur bestimmt ist und andererseits durch eine Geschichte, die ihn in das Böse, welches geschehen ist und geschieht, verstrickt. Sowohl von der Naturgesetzlichkeit als auch von der Verstrickung in das Böse kann der Mensch sich befreien, und zwar dadurch, daß ihn die Sittlichkeit als unbedingtes "Du sollst!" anspricht. Das Geschehen, in dem der Mensch erkennt, daß er dem Anspruch der Sittlichkeit entsprechen sollte, kann mit Kant als Erfahrung einer Neuschöpfung, mithin als primordiales Geschehen der Erschließung menschlicher Geschöpflichkeit gedeutet werden. Dagegen könnte nun der Einwand erhoben werden, daß Kant sich doch gegen alle Formen der Heteronomie ausspricht, worunter für ihn auch eine theonome Begriindung des Sittengesetzes zu subsumieren ist. Theonomie als Form der Heteronomie aber widerspricht der menschlichen Autonomie. Wird man Kant daher nicht doch allein dadurch gerecht, daß man ihm eine "schroffe Abwehr einer theonomen Moralbegriindung" unterstellt,292 die dann am Ende eine Ablehnung des Kantischen Ansatzes durch die Theologie zur Folge haben wird? Allerdings unterscheidet Kant den reinen Religionsglauben von dem statuarischen Kirchenglauben. Für ihn kommt es darauf an, den statuarischen Kirchenglauben im Ausgang von dem reinen Religionsglauben zu kritisieren, um ersteren in letzteren verwandeln zu können. 293 Eine heteronome Willensbestimmung wäre gegeben, handelte es sich bei den Geboten Gottes um Statuten, die uns auferlegt wären, ohne daß es uns möglich wäre, ihren verpflichtenden Charakter unmittelbar einzusehen. Handelt es sich aber um Gebote, deren verpflichtender Charakter für uns unmittelbar einsichtig ist, "weil wir dazu innerlich verbindlich sind",294 kann man nicht von heteronomer Willensbestimmung sprechen, unabhängig davon, ob das Gebot uns nur in unserem Inneren anspricht oder auch vermittelt durch die Kirche und ihren Glauben, der für die Verbindlichkeit des Gebotes keine Bedeutung hat. Zweifellos wird man den Anspruch der Sittlichkeit auch zu einer heteronomen Gesetzgebung machen, sofern man davon ausgeht, der Mensch sei Mensch auch ohne die sittliche Verpflichtung, die ihm dann durch Gott in sein Inneres gelegt und derart auferlegt werde. Ein solches Denken aber hat die Vorstellung der als Abfolge gedachten Zeit zu ihrem Fundament, die von dem Schöpfungsgedanken abzusondern ist. In ihm kommt es darauf ein, den Menschen als das Wesen zu sehen, dem eine Möglichkeit gegeben ist, die seine Menschlichkeit ausmacht, die Möglichkeit, sich das Sittengesetz aufzuerlegen. Mit Kant wird man diese Mög292 Das geschieht u. a. durch E. Schockenhoff, Das Autonomieverständnis Kants und seine Bedeutung für die katholische Moraltheologie, 75 f. 293 Vgl. REL B 145-182/A 137-173 (AA Bd. 6,102-124); Streit der Fakultäten A 43 f., 73 f. (AA Bd. 7, 36 f., 49) u.ö. Vgl. dazu ausführlich: R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, 168 - 185. 294 KRV B 847/ A 817.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

lichkeit als die eigentliche Schöpfungsrealität begreifen können. Denn in ihr ist dem Menschen das Vermögen eingeschaffen, sich von sich aus zum Guten zu bekehren, ohne daß es eines Eingreifens Gottes in seine Lebensgeschichte und in die Menschengeschichte überhaupt noch bedürfte, analog zu der Natur, die ihre Abhängigkeit von einem höchsten Wesen gerade dadurch beweist, daß sie sich von sich aus ordnet. Unsere Deutung der Sittlichkeit des Menschen als der eigentlichen Schöpfungsrealität begreift allerdings die These in sich, daß der Mensch nicht Mensch wäre ohne die Möglichkeit der Sittlichkeit. Von daher ist es ratsam, Kants Verständnis des Menschen und seiner Menschlichkeit nun im Kontext der Geschichte des Personbegriffs zu besprechen.

V. Kants Personbegriff 1. Von der Persönlichkeit im Menschen Kant greift die traditionelle Bestimmung menschlichen Seins auf, insofern auch er im Menschen eine Person, d. h. ein Rechtssubjekt sieht, d. h. ein Subjekt, das für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden kann. "Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. ,,295 Die Verwendung des Personbegriffs entspricht an der angeführten Stelle dem in der Rechtslehre geläufigen. 296 Personen sind Rechtssubjekte, d. h. Subjekte, die zur Rechenschaft gezogen werden können. Kant problematisiert den Personbegriff aber nun insofern, als er zu bedenken gibt, daß ein Mensch zwar aufgrund seiner Vernunft als frei angesehen werden kann, da es sich bei ihm aber um ein endliches Vernunftwesen handelt, ist seine Freiheit keine Freiheit schlechthin, sondern erweist sich als mannigfaltig behindert dadurch, daß die Sinnlichkeit Triebfedern vorgibt, nach denen Menschen zu handeln pflegen. Waren die Taten der Menschen allein von solchen sinnlichen Antrieben abzuleiten, könnte man nicht davon sprechen, daß Menschen als sie selbst handeln. 297 Von daher stellt sich die Frage, ob man trotz der sinnlichen Antriebe, die Menschen bewegen, überhaupt davon sprechen kann, daß Handlungen von Menschen als von ihnen selbst begangen werden. Nur dann wird es auch möglich sein, den Begriff der Person auf Menschen anzuwenden, handelt es sich doch sonst bei ihnen nur um denkende "Automaten".298

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MdS AB 22 (AA Bd. 6, 223). Vgl. W. Schild. Artikel "Person IV: Recht", in: HWPh, Bd. 7, Sp. 322-338, hier: 322 f. Vgl. MdS A 178/B 207 f. Anm. (AA Bd. 6, 321 Anm.). KPV A 181 (AA Bd. 5, 101).

V. Kants Personbegriff

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Darum verbindet Kant den Begriff des Personseins mit dem der Freiheit. 299 Person, eigentliches Ich selbst ist der Mensch, insofern er frei ist. "Die Frage, ob die Freyheit möglich sey, ist vielleicht mit der einerley, ob (der Mensch) eine wahre Persohn sey und ob das Ich in einem wesen von äußeren bestirnungen moglich sey,,300; gibt Kant zu bedenken. Der Mensch ist nur Person, sofern er sich aufgrund seiner Vernunft selbst bestimmen kann. Nur dann ist er frei. In Kants Frage, ob die Vernunft an sich selbst praktisch sei,30) entscheidet sich daher die Frage, ob der Mensch überhaupt eine Person ist. Indem Kant von der Persönlichkeit in einer Person spricht, bestimmt er das Verhältnis des Menschen, als eines Sinnenwesens, zu sich selbst als einem Vernunftwesen als ein Verhältnis der Innerlichkeit. Das Innere einer Person ist deren Persönlichkeit. Die Existenz des Menschen aber ist daran gebunden, daß er sich äußert, und zwar in einem Handeln, das in der Sinnenwelt geschieht. Der Übergang von der Vernunftwelt in die Sinnenwelt wird dadurch als das Ereignis einer Veräußerlichung gedacht, durch welches das Innere einer Person einen bestimmten Ausdruck bekommt. Sittliches Handeln ist der Ausdruck, in dem die Vernunft und mit ihr die Freiheit des Menschen, die in der theoretischen Philosophie nur negativ gedacht werden konnte, sich selbst zur Bestimmung bringt, wodurch sie sich selbst Realität verschafft. Von daher wird deutlich, daß es nicht möglich ist, die Begriffe Menschheit und Persönlichkeit nur der intelligiblen, die Begriffe Mensch und Person nur der sinnlichen Welt zuzuordnen. 302 Wer Kant eine Scheidung von phänomenaler und noumenaler Welt unterstellt, die den Menschen in ein Glied der Sinnenwelt einerseits, eine Persönlichkeit andererseits spaltet, verkennt, daß es Kant darum geht, dem Menschen bewußt zu machen, daß ihm aufgegeben ist, in seiner sinnlichen Existenz das Vernünftige, welches für Kant nur das allgemein Menschliche sein kann, sichtbar zu machen. 2. Person, Persönlichkeit und Menschheit

Der Begriff der Persönlichkeit entspricht dem der Menschheit. Daher spricht Kant auch von dem Bewußtsein der Menschheit in der eigenen Person. 303 Von da299 Grundlegend zum Personbegriff Kants: J. Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen, Stuttgart u. a. 1968; M. Forschner, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei Immanuel Kant, München 1974; M. Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart, Weimar 1992, bes. 265286; D. Sturma, Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität. Paderbom u. a. 1997. 300 Refl. 4225 (AA Bd. 17,464 f.). 301 Vgl. GMS BA 33 (AA Bd. 4, 410); KPV A 92, 110, 163 (AA Bd. 5,42,62,91). 302 Dagegen spricht sich auch F. Ricken aus, Homo noumenon und homo phaenomenon, 234-252. 303 KPV A 157 (AA Bd. 5, 88).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

her ergibt sich auch die in der GMS verwendete Formel: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. .. 304 Die Menschheit nennt sowohl das Innere der eigenen Person, d. h. die Persönlichkeit, als auch das aller anderen Personen. Wer sich auf die in ihm gegebene Möglichkeit, eine Persönlichkeit zu werden, entwirft, wird den eigenen Willen und dessen Bestimmbarkeit der Form der Allgemeinheit unterordnen, d. h. sich in der Bestimmung seines Willens auf die Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesen als eines allgemein gesetzgebenden Willens hin entwerfen. Derart sich die Möglichkeit einer allgemeinen Gesetzgebung vorwerfend, sieht sich der Mensch als Teil einer intelligiblen Welt. Sie wird ihm zu dem Umwillen, von dem her er sich zum Handeln bestimmt. Der Begriff der Menschheit nennt aber nicht nur das Innere eines Menschen, sondern auch die Gemeinschaft aller Menschen, in der die Forderung nach Allgemeingültigkeit zum Bestimmungsgrund des Daseins aller werden soll. Wer die Persönlichkeit in sich achtet, achtet auch alle anderen Menschen, d. h. er begreift sie als Zwecke an sich selbst, die das Vermögen zu eigenen vernünftigen Zwecksetzungen und zu einer eigenen vernünftigen Gesetzgebung haben. Derart wird die Achtung vor der eigenen Persönlichkeit zum Grund der Achtung vor den Menschen und ihren Zwecksetzungen. Nun sind die Zwecke, die Menschen als sinnliche Wesen sich machen, insgesamt abzuleiten von dem Streben nach Glückseligkeit, das man bei allen sinnlichen Wesen als gegeben anzunehmen hat. Dadurch kann sich das eigennützige Streben nach Glück, das den Menschen als ein vernünftiges, doch endliches Wesen bestimmt, verwandeln in ein uneigennütziges Streben nach dem Glück aller. Wird ein Mensch sich also als Persönlichkeit durchsichtig, hat er auch Grund, sich das Glück aller zu seinem Zweck zu machen. Sollte daher unsere These zu belegen sein, daß der, weIcher sich zur Sittlichkeit verpflichtet weiß, sich auch als Geschöpf deuten wird, kann aus der Kantischen Ineinssetzung von Persönlichkeit und Menschheit gefolgert werden, daß das Wissen um die eigene Geschöpflichkeit das um die Verpflichtung auf alle anderen Menschen in sich begreift. Geschöpf ist der Mensch nur mit den anderen, und zwar derart, daß er in eine Daseinsbewegung genommen ist, die ausgreift danach, daß alle Menschen menschlich, und d. h. auch glücklich leben können.

3. Zur Geschichte des PersonbegritTs a) Von der Substanzontologie zur Metaphysik der Freiheit

Indem Kant den Begriff der Person mittels des Gedankens der Imputabilität durch seine rechtliche Bedeutung bestimmt, steht er in der Tradition jener Anwen304

GMS BA 66 f. (AA Bd. 4, 429 f.).

V. Kants Personbegriff

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dung des Personbegriffs, deren Wurzeln bis in die Antike reichen. 305 Auch dort ist die Anwendung des Begriffs im Rechtswesen zu belegen. Seine philosophische Ausarbeitung erfährt der Begriff der Personalität aber vorrangig in der mittelalterlichen Theologie. Dort greift man den Begriff der Person auf, um einerseits Ungeschiedenheit und Unterschiedlichkeit der drei göttlichen Personen denken zu können, und andererseits, um das Sein Christi zur Bestimmung zu bringen. 306 In der einen Gottheit können Vater, Sohn und Geist unterschieden werden, obwohl sie in ihrem Wesen eins sind. Gott lebt als eine Natur in drei Personen?07 Zu fragen war ferner, inwiefern in dem einen Sohn, Jesus Christus, Menschlichkeit und Göttlichkeit vereinigt gedacht werden können. Das Konzil von Chalcedon fand dazu die Formel von den zwei Naturen, die einer Person zugesprochen werden können. 30s Im Kontext der Debatte um die Person Jesu Christi kommt es zur Ausarbeitung der bekannten boethianischen Personenbestimmung. Nach Boethius gilt: "Persona est naturae rationabilis individua substantia".309 Boethius führt demnach Rationalität, Individualität und Substantialität als Konstituenten von Personalität an. Die Substantialität der Person wird dann mit dem Begriff der Subsistenz belegt. Danach ist die Person auf die Art der Subsistenz, und als solcher kommt ihr aufgrund ihrer Rationalität Eigenverantwortlichkeit zu. Thomas von Aquin greift den boethianischen Personenbegriff auf. Auch für ihn begründet sich die Möglichkeit, eigenverantwortlich zu handeln in der Rationalität des Menschen. Als Grund der Eigenmächtigkeit des Menschen (dominium sui actus) ist sie Grund seiner Freiheit. 310 Richard von St. Victor kritisiert zwar, daß Boethius auf den Substanzbegriff zur Bestimmung der Person zurückgreift. 311 Die Orientierung an einer Ontologie der Substanz, welche mit der Natur in eins gesetzt wird, wird aber auch von ihm nicht durchbrochen. Das gilt auch für Thomas von Aquin, der dadurch, daß er den Menschen als substantia prima deutet, auf dessen Individualität abhebt. Für ihn ist der Mensch Person, sofern er individuell subsistiert,312 und zwar als natura rationalis, d.h. als ein freies Wesen, das für sein Handeln verantwortlich ist. 305 Vgl. M. Fuhnnann, Art. ,,Person I: Von der Antike bis zum Mittelalter", in: HWPh, hg. von J. Ritter und K. Gründer, Darmstadt 1989, Sp. 269-283; Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modemes Menschenbild, Darmstadt 21997; R. Spaemann, Personen: Versuche über den Unterschied zwischen "etwas" und ,jemand", Stuttgart 1996,25 -42. 306 Vgl. G. Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg 21997, 101-126. 307 Die Verwendung des Personenbegriffs wird von der antiken Grammatik her verständlich, die unterschiedliche Rollen im Sprachgeschehen unterscheidet und in Bezug darauf von Personen spricht. Vgl. R. Spaemann, Personen, 35 f. 308 Vgl. H. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse, Nr. 300-303,141 ff. 309 A. M. S. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium, cap. 3, in: ders., Die theologischen Traktate (lat.-dt.), übers., eingel. und mit Anm. vers. von M. Elsässer, Harnburg 1988,74. 310 Thomas von Aquin, S.th. I, 29,2. 311 Richard von St. Viktor, De Trinitate, 4,6, hg. von J. Ribaillier, Paris 1958. 312 Thomas von Aquin, S.th. I, 30,4.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Obwohl dadurch der substanz-ontologische Ansatz nicht durchbrochen wird, wird doch schon bei Thomas greifbar, daß Menschen aufgrund ihrer Eigenverantwortlichkeit, d. h. Freiheit, sich von allen anderen Substanzen unterscheiden. Aufgrund ihrer Vernunft sind sie nicht nur, sondern können sich zu ihrem Sein nochmals verhalten. Daneben ist das Bestreben deutlich, das christologische Problem durch die Einführung des Begriffs der Würde zu lösen, und zwar im Rückgriff auf die Verwendung des Begriffs in der Rechtslehre. 313 Von daher wird dann der Ansatz Alexander von HaIes verständlich. Er unterscheidet drei Möglichkeiten, das Sein des Menschen zur Sprache zu bringen, "ita enim distinguuntur haec tria: persona, individuum, subiectum, quod ,persona' ad mores refertur et est nomen moris, ,individuum' pertinet ad rationalem, ,subiectum' ad naturalem,,314. Der Begriff des Individuums, der sich durch alle die Bestimmungen, die ein Seiendes von allen anderen unterscheidet, konstituiert, ist für den Menschen bezogen auf die Rationalität. Sie unterscheidet den Menschen von allen nur naturhaft Seienden, mit denen er das Sein als subiectum gemein hat. Der Begriff der Person aber nimmt Bezug darauf, daß der Mensch ein moralisches oder sittliches Wesen ist. Als solchem kommt ihm schon nach Alexander von HaIes Würde zu. Zwar ist vorauszusetzen, daß ein Mensch als Person auch ein "individuum" und ein "subiectum" ist, d. h. daß ihm sowohl Rationalität als auch Substantialität eignen. Seine Personalität kann aber nicht darauf reduziert werden. "Das personale Sein wird also zwar durch die besonderen Merkmale des Naturhaften und Vernunfthaften mitkonstituiert, seine eigentliche Bestimmung aber erhält es durch die ,Würde', die im ,moralischen Sein' begriindet liegt, und das heißt nach der scholastischen Begrifflichkeit: in der Freiheit selbst", führt Kobusch dazu aus?15 Für die Geschichte des Freiheitsbegriffs bestimmend wurde dabei insbesondere jene Tradition der Scholastik, in der dann auch F. Suarez steht. Auch er greift die Lehre vom esse morale auf und führt sie durch eine eingehende Bestimmung der ontologischen Eigenart moralischen Seins fort. Dabei betont er, daß die in der Freiheit fundierte Moralität des Menschen weder auf dessen Natur, d. h. sein Sein qua subiectum, noch auf eine nur gedachte Relation des Aktes zur vernünftigen Natur reduziert werden könne, ,,[ ... ] quia in hoc esse libero fundatur totum esse morale, 313 Vgl. u. a. Wilhelm von Auxerre, Summa aurea I, tr. VI, 81 und VIII, 11, hg. von J. Ribaillier, Paris 1980 ff. 314 Alexander von Haies, Glossa in quattuor lib. I sent. Petri Lombardi, dist. 25, 244, hg. PP. Collegii S. Bonaventurae, Florenz 1951. 315 Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 25. Zwar gilt es dazu kritisch anzumerken, daß sich Moralität für Alexander von Haies primär aus der Anerkennung der Anderen begründet und nicht aus jener freien Selbstbestimmung, für die das Urteil der Anderen nicht Beweggrund des eigenen Willens sein kann. Dennoch kann man Kobuschs These, die Personbestimmung durch Alexander von HaIes sei insofern von Bedeutung, als es in ihr zu einer Durchbrechung der nur an der Substanz und dem substantiell Seienden interessierten Ontologie komme, als zutreffend ansehen.

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quod est aliquid reale in actibus,,316. Das moralische Sein stellt also eine Realität von eigener Art dar, deren Fundament nur die Freiheit sein kann 317 . Die Bedeutung der Entdeckung des personalen Seins im 13. Jahrhundert, aufgrund dessen dem Menschen Würde zuzusprechen ist, sieht Kobusch daher dann auch in der Durchbrechung einer nur an der Substanz und dem substantiell Seienden interessierten Ontologie aristotelischer Prägung. Man wird sagen dürfen, mit der Personalität des Menschen werde entdeckt, daß es ,jenseits" des substantiell Seienden solches gibt, welches nur in einer Begrifflichkeit zur Sprache gebracht werden kann, die dem Vollzug menschlicher Freiheit entspricht. Nach einer solchen Sprache, die ihrem Wesen nach durch Freiheit bestimmt ist, wird eigens zu fragen sein. Freiheit wird von Suarez als Wahlfreiheit gedacht: "Voluntarium consistit in determinatione ad unum, liberum vero in indifferentia ad utrumque,,318. Wahlfreiheit (indifferentia) ist demnach die Voraussetzung dafür, daß der Wille überhaupt vor die Aufgabe der Entscheidung gestellt ist. Jede Entscheidung stellt sich dem Denkenden dar als Bestimmung des Willens, von den unterschiedlichen Möglichkeiten, die er wählen könnte, eine zu ergreifen - eine Bestimmung, die sich nur der Wollende selbst auferlegen kann, wäre doch ansonsten die Fundierung moralischen Seins in der Freiheit nicht gegeben. In der Entscheidung determiniert der Mensch also als er selbst und d. h. frei seinen Willen. Freiheit und Determination stellen also für Suarez keine Gegensätze dar, sondern ein Fundierungsverhältnis, in dem der Begriff der Determination auf der Grundlage einer Phänomenologie menschlicher Freiheit von dem Akt der Entscheidung des Willens für eine bestimmte Möglichkeit her entworfen ist. Eine solche Selbstbestimmung kann nur dann vernünftig erfolgen, wenn mittels der Vernunft das Gute als das vorstellig gemacht werden kann, um das es in allen Entscheidungen für bestimmte Güter im Grunde genommen gehen sollte. Dabei kommt der suarezianische Ansatz mit dem der thomanischen Scholastik darin überein, daß jede Entscheidung eine Entscheidung für das Gute darstellt, welches nur die Vernunft vorstellig machen kann. In diesem Kontext ist es interessant, daß schon Suarez die These aufgestellt hat, der Mensch könne aufgrund seiner Vernunft auch dann noch sittlich handeln, wenn es das göttliche Gesetz nicht gäbe. 319 Dem göttlichen Gesetz kommt demnach allenfalls die Funktion zu, die Moralität des Menschen zu sichern, es begriindet sie nicht. Das geschieht allein durch die Freiheit, die als Freiheit zum Guten zu betrachten ist.

316 F. Suarez, De voluntario et involuntario 1,3,17,172 a. Die Schriften F. Suarez' werden zitiert nach: ders., Opera omnia, hg. von C. Berton, Paris 1856-61. Vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 56. 317 F. Suarez, De verito 17 b; De voluntario et involuntario I, 3, 17, 172 a; De Deo uno et trino 11, 3,3,1,325, u.ö. 318 F. Suarez, De Deo uno et trino I, 3, 24, 173. 319 F. Suarez, De bonitate I, 2,10,282.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Indem Suarez die Freiheit als Fundament der Moralität begreift und die Moralität wider alle nominalistischen Theorien dem Anspruch der Vernunft unterwirft, legt er die philosophischen Grundlagen des neuzeitlichen Freiheitsbegriffs. Der Weg der Geschichte führt dann auch von ihm zur deutschen Schulphilosophie sowie der protestantischen Metaphysiktradition des 17. und 18. Jahrhunderts bis hin zu Kant. 320 Auch für ihn ist Freiheit einerseits zu begreifen als Wahlfreiheit, die ihr ermöglichendes Fundament darin hat, daß der Mensch sich zu allen äußeren Bestimmungen noch einmal verhalten kann. Als solcher hat er die Möglichkeit, seinen Willen selbst zu bestimmen. Er ist frei, sich selbst zu determinieren. Zu unterscheiden sind also die Determinationen, die dem Menschen als einem Teil der Natur auferlegt sind, von jeder Determination, die er sich selbst gibt. Dabei unterscheidet sich dann der Kantische Ansatz insofern grundlegend von der Tradition, als er nicht einfach davon ausgeht, daß der Mensch frei ist, sondern daß ihm die Freiheit selbst zum Problem geworden ist. Daß die Freiheit des Menschen für Kant derart fraglich werden konnte, hat seinen geschichtlichen Grund in dem Übergang von der Naturforschung zur Naturwissenschaft, mit der das Ganze der Natur zu jener Ordnung wurde, die durch die Gesetze der Mechanik und nur durch sie geregelt ist. Als Teil der Natur ist auch der Mensch dem Mechanismus unterworfen, erweist auch er sich nur als Teil der einen Maschine, die man Natur nennt, als denkenden "Automat"321. Soll er sich dennoch sein Handeln selbst zurechnen können, muß er als Person, welche in der Natur und ihrem Gesetz unterworfen handelt, dennoch frei sein von dem Mechanismus Natur?22 Indem Kant von der "Persönlichkeit,,323 des Menschen oder auch der "Menschheit in seiner Person,,324 spricht, weist er auf ein "Innerstes" im Menschen hin, welches als frei gedacht werden kann und angesichts dessen es möglich ist, Handlungen als Äußerungen von Freiheit zu begreifen. Kants Denken erweist sich dann auch darin als in der geschichtlichen Tradition des Personbegriffs verwurzelt, als er von dem freien, sich selbst zum Guten bestimmenden Wesen als einem ens morale spricht, wodurch auch in seinem Denken die moralitas der substantialitas und rationalitas als Konstitutivum menschlichen Seins an die Seite gestellt wird. Im Gegensatz zu der Tradition, für welche die Freiheit noch nicht derart zur Frage werden konnte, da sich für sie der Begriff der Verursachung noch nicht auf den der mechanischen Bewirkung verengt hatte, erkennt nun aber Kant deutlich, daß es nicht ausreicht, dem Menschen die Möglichkeit zur freien Willensbestimmung zuzusprechen und ihn derart als das ens morale zu begreifen, sondern daß man in Anbetracht der Naturwissenschaften nicht mehr umhin kommt, die Möglichkeit der Determination des Menschen durch sich selbst, die Möglichkeit der Autonomie, eigens auszuweisen. 320

321 322 323 324

Vgl. Th. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 67. KPV A 181 (AA Bd. 5, 101). KPV A 155 (AA Bd. 5, 87). Ebd.; vgl. REL B 15-201 A 14-18 (AA Bd. 6, 26-28). GMS BA 66 f. (AA Bd. 4, 429 f.).

V. Kants Personbegriff

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Fragt man sich nach den geschichtlichen Gründen, die dazu führten, daß der Begriff "Sein" sich auf den der Substantialität reduzierte, wird auffällig, daß in der Tat jene Tradition, die Kobusch mit der Entdeckung der Personalität des Menschen in eins setzt, seit Aristoteles im Schatten einer an der Natur interessierten Ontologie steht. Entsprechend ist die Begrifflichkeit der Metaphysik durch und durch naturontologisch bestimmt, was zur Folge hat, daß einer gewandelten Erfahrung der Natur ein Wandel in der Sprache der Metaphysik entspricht. Das gilt auch und insbesondere für den Begriff der determinatio, der mit der Neuzeit in den Kontext eines Naturbegriffs eingestellt wird, gemäß dem unter Natur das Ganze der durch deterministische Gesetze verknüpften Erscheinungen zu verstehen ist. In ihm stellt sich jede determinatio dar als Bestimmung zu einer Bewegung, deren Vollzug mit Notwendigkeit erfolgt. Der Begriff der Determination tritt nun in den Gegensatz zu dem der Freiheit. Das Naturgesetz scheint zu dem alles beherrschenden Gesetz zu werden, das Freiheit unmöglich macht. Der neuzeitliche Naturbegriff zwingt daher dazu, nicht nur die Eigenart moralischen Seins, sondern auch die Möglichkeit der Freiheit nochmals in Frage zu stellen. Nun kann der Mensch sich nur dann als frei ansehen, wenn er nicht aufgrund seiner Substantialität, durch welche er am Sein Anteil hat, auch dem Mechanismus der Natur schlechthin unterworfen ist. Das Problem, das sich dadurch stellt, löst Kant in der KRV mittels des Nachweises, daß der Substanzbegriff sowohl auf das transzendentale Subjekt als auch das transzendentale Objekt nur analog anzuwenden ist. Denn der Begriff der Substanz realisiert sich für uns mittels seiner Schematisierung durch die Zeitvorstellung. Dabei verknüpft er sich mit dem der Beharrlichkeit, der eine Deutung des Seins als einer durch mechanische Gesetze geregelten Natur ermöglicht. Ist aber auf das transzendentale Subjekt, mithin auf den Menschen als homo noumenon, die Zeitvorstellung nicht anwendbar, kann es auch nicht als Teil der Maschine Natur angesehen werden. Die KRV, sagt Kant selbst, habe den Beweis erbracht: "daß die Naturnotwendigkeit, welche mit der Freiheit des Subjekts nicht zusammen bestehen kann, bloß den Bestimmungen desjenigen Dinges anhängt, das unter Zeitbedingungen steht, [ ... ]"325. Als Ding an sich steht der Mensch nicht unter Zeitbedingungen. Als solcher ist er nicht Teil der Maschine Natur. b) Denken in unterschiedlichen Ordnungen

Für Kant gibt es nur einen gangbaren Weg zur Rettung der Freiheit: die durch die Deutung der Zeit als einer subjektiven Anschauungsform apriori fundierte Unterscheidung von noumenalem und phänomenalem Sein. Auf den Menschen bezogen ermöglicht sie zwei unterschiedliche Standpunkte, von denen aus der Mensch sich in seinem Sein unterschiedlich durchsichtig wird. Daraus, daß der Mensch noumenales und phänomenales Sein, Verstandes- und Sinnenwelt unterscheiden kann, folgert Kant in der Grundlegungsschrift, ein vernünftiges Wesen habe "zwei 325

KPV A 174 (AA Bd. 5,97).

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sind. ,,326 Von daher hat vor allem F. Kaulbach Kants kritische Philosophie als eine Standpunktphilosophie gedeutet, in der es um die Rechtfertigung unterschiedlicher Perspektiven geht, denen unterschiedliche Arten der Erschließung von Sein als Welt entsprechen. Ihm ist u. a. P. Baumanns gefolgt. Auch von uns wurde ihr Ansatz aufgegriffen, um ihn mit dem phänomenologischen Gedanken der Erschließung von Sein zu verknüpfen. 327 Die Rettung der Freiheit erfolgt demnach in der kritischen Philosophie Kants dadurch, daß die Möglichkeit, einen Standpunkt einzunehmen, der nicht der der Empirie ist und von dem aus sich Sein nicht als Gesamtheit empirischer Fakten erschließt, ihre Rechtfertigung erfährt. Dazu werden zum einen die Grenzen der Empirie bestimmt. Wer sich auf den Standpunkt der Empirie stellt, kann Welt nur auf begrenzte Art erschließen, wobei die Grenzen durch unsere Anschauungsformen bedingt sind. In Anbetracht dessen ist ein anderer Standpunkt denkbar, dessen Einnahme von seiner Bedeutung für unsere Lebenspraxis her zu rechtfertigen ist. Denn nur der, der den Standpunkt der Empirie verläßt und sich auf den der Freiheit einläßt, kann den Menschen als ein Wesen ansehen, das für sein Handeln verantwortlich ist. Korrelativ zu den genannten Begriffen spricht Kant auch von der Ordnung der Natur einerseits, jener der Freiheit andererseits. Philosophiegeschichtlich gesehen, steht Kant damit in der Tradition der Deutung von Welt als eines "ordo rerum", die, von Platon philosophisch begründet, durch die Scholastik zum Fokus des Seins- und Weltverständnisses wurde, bis sie im Anfang der Neuzeit einen Wandel erfuhr, der auch im Denken Kants greifbar wird. Für Platon fällt bekanntlich das Geschehen der Schöpfung mit dem der Ordnung des Ungeordneten in eins. Danach verwandelt Gott das, was in ordnungsloser Bewegung ist, aus der Unordnung zur Ordnung. 328 Gott ist es, der allem seine Ordnung gibt, und die Welt ist gut, insofern sie eine geordnete ist. Theologisch gesehen ist aber die Ineinssetzung des Schöpfungsgeschehens mit dem Akt einer an[anglichen Ordnung des Ungeordneten unzureichend, da Gott in ihr von einer vorgegebenen, ungeordneten Materie abhängig gemacht wird. Er wird, mit Kant gesprochen, nur als "Weltbaumeister", nicht aber als "Weltenschöpfer" gedacht. 329 Von daher ist zu verstehen, daß schon in der scholastischen Philosophie, die den Ansatz Platons aufgreift, das Streben zu erkennen ist, das Schöpfungsgeschehen nochmals ursprünglicher zu denken. In diesem Kontext wird der Begriff des 326 327

328 329

GMS BA 108 f. (AA Bd. 4, 452). Vgl. Teil B, Kap. H., 3., b). Platon, Timaios 30 a 1- 6. KRV B 655/ A 627.

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"ordo" sowohl für die Hoch- als auch Spätscholastik zu dem Schlüsselbegriff ihrer Weltdeutung. Als paradigmatisch kann die Ausarbeitung des ordo-Gedankens durch Thomas von Aquin gelten, demzufolge die Formen aller Dinge und mit ihnen ihre Ordnung im göttlichen Verstand er-bildet und im Schöpfungsgeschehen derart materialisiert werden, daß die Welt, in der sich der Mensch vorfindet, als Abbild einer urbildlichen Welt verstanden werden kann. 33o Von daher bestimmt sich dann die Aufgabe des Menschen. Er ist gefordert, sich das, worin er sich vorfindet, als ein geordnetes Ganzes, welches Abbild einer gottgewollten Ordnung ist, mittels seiner Vernunft durchsichtig zu machen, wodurch es ihm möglich wird, die vorfindliche Ordnung, die keine schlechthin gute ist, der im göttlichen Verstand erbildeten zu nähern. Von daher ergibt sich dann der Ansatz jener ontologisch fundierten Ethik, nach der menschliches Handeln als gut zu beurteilen ist, wenn in ihm die Zustimmung zum Willen Gottes dadurch vollzogen wird, daß es umwillen einer Annäherung an die gottgewollte Ordnung geschieht. Vermittelt durch die Spätscholastik findet der Ansatz Eingang sowohl in die Schulphilosophie331 als auch in die Theologie des 18. Jahrhunderts?32 Obwohl durch den Nominalismus die Übereinstimmung von menschlichem Verstand und göttlichem Willen von Grund auf fraglich wurde, sah man sich doch nicht genötigt, den ordo-Gedanken aufzugeben. Statt dessen kam es zu der im 18. Jahrhundert gängigen Deutung der Welt als einer Maschine, die man zweifellos als eine Adaption des ordo-Gedankens an das wissenschaftliche Bewußtsein der Zeit verstehen kann. Allerdings kommt es in ihm auch zu einer Verwandlung des Gedankens, deren Folgen für die Ontotheologie nicht zu übersehen sind. 333 Im Anfang der Neuzeit wird der Begriff der Ordnung zu einem methodologischen Begriff. Im Kontext seiner Frage nach den Methoden, die wissenschaftliche, d. h. sichere Erkenntnisse ermöglichen, gibt R. Descartes zu bedenken, es komme darauf an, in der rechten Ordnung zu denken, "die darin besteht, alles das vorauszuschicken, wovon der fragliche Satz abhängt, bevor man für ihn selbst irgendeinen Schluß zieht. ,,334 Die Ordnung der Beweisgründe aber hat ihr Fundament nach Descartes in den Gesetzen unseres Erkennens, dessen Übereinstimmung mit der Ordnung der Dinge noch zu beweisen wäre. 335 Der darin anhebende Wandel im ordo330 Thomas von Aquin, S.th. I q, a.2., S.th. I q, 44a 3, Vgl. Summa contra gentiles 3,76 n. 2521, 2526 u.ö. 331 eh. Wolf!, Deutsche Metaphysik, §§ 132, 156,717 -724; ders., Philosophia prima sive ontologia, hg. von J. Ecole, Frankfurt 1736, Nachdr. Darmstadt 1962, §§ 472 ff.; A. G. Baumgarten, Metaphysica, Halle 31750, 19 ff., 140. 332 Vgl. u. a. H. S. Reimarus, Abhandlung von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, Hamburg 51781, 546, 556, 624, 631. 333 Es wäre zu fragen, ob die Verwandlung des Ordo-Gedankens durch den Nominalismus ermöglicht ist insofern, als sie die Scheidung von Seins- und Vernunftordnung als möglich ansieht. 334 R. Descartes, Meditationen, 12 f. 335 R. Descartes, Brief an Mersenne vom 24. 12. 1640, ffiuvres, Bd. 3, 266.

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C. Die Geschöpflichkeit des Menschen und die Sittlichkeit

Gedanken wird auch bei P.-H. Th. d'Holbach greifbar. Für ihn ist die Ordnung der Welt keine objektive Gegebenheit, sondern eine Folge der subjektiven Sicht der Dinge. 336 Von daher wird nun Kants These verständlich, die "allgemeine Ordnung der Natur" habe ihren ermöglichenden Grund im Verstand, "insofern er alle Erscheinungen unter seine eigenen Gesetze faßt,,337. Von der Naturordnung kann danach nur insofern gesprochen werden, als in solchem Sprechen unser Verstand als das Vermögen, den Erscheinungen eine gesetzliche Verfassung zu geben, vorausgesetzt ist, wobei der Verstand in seiner funktionalen Zuordnung zu der Art unserer Affektibilität zu denken ist. Der Kantische Ansatz zu einer Theorie der Ordnungen des Seins wird deutlicher sichtbar, sofern man ihn von dem Leibnizens abgrenzt. Leibniz begreift Raum und Zeit als die Horizonte, in denen Ordnung möglich ist, sofern in ihnen allem eine bestimmte Stelle zugewiesen werden kann. Der Raum, führt Leibniz aus, sei "eine Ordnung, nicht allein für die wirklichen, sondern auch für die möglichen Dinge, wenn man diese betrachtet, als ob sie existierten", und führt dann die Realität des Raumes auf Gott zurück. 338 "Das Beste wird also sein zu sagen, daß der Raum eine Ordnung, Gott aber deren Quelle ist. ,,339 Das gilt analog auch für die Zeit. Als Horizont der Ordnung der Dinge hat auch sie nach Leibniz ihre Quelle in Gott.

Im Kontext unserer Besprechung des Kantischen Raum- und Zeitbegriffs wurde ausgearbeitet, daß Kant den Ursprung der Vorstellung von Raum und Zeit nicht in Gott, sondern in der Affektibilität des Subjektes ansetzt. Die Anschauung ist formal von der Art, daß sie in sich den Horizont erbildet, in dem das anschaulich Gegebene sich als geordnetes zu erkennen gibt. Der ermöglichende Grund der Raumund Zeitvorstellung ist demnach nicht Gott. Nicht in ihm, sondern in der Subjektivität des Subjektes entspringen die Horizonte des Verstehens, und zwar derart, daß alles, was in ihnen zur Erscheinung wird, eine Gesetzlichkeit aufweist, die aus der des Verstandes selbst folgt. Die Naturordnung ist also die Art, in der Sein mittels unseres Verstandes zur Erschlossenheit kommt. Unter der Voraussetzung aber, daß die Vernunft nicht nur funktional dem Verstand zugeordnet ist, sondern auch an sich selbst tätig werden kann, ist es möglich, daß die Ordnung des Verstandes nur eine Ordnung ist, der eine andere an die Seite zu stellen ist, die ihren Ursprung in einer reinen Tätigkeit der Vernunft, d. h. einer rein vernünftigen Gesetzgebung hat. Daraus ergibt sich für Kant die Möglichkeit, der Unterscheidung von Ordnungen des Seins340 eine RechtP.-H. Th. d'Holbach, Systeme de la nature, Paris 1821, Neudruck 1966,1,66-84. Pro!. § 38 (AA Bd. 4, 322). 338 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. 3. Aufl., übers., eingel. und hg. von E. Cassirer, Hamburg 1915, 133 f. 339 Ebd. 133 f.; vgl. 236. 340 Vgl. auch Pascals Lehre von den Ordnungen des Seins (8. Pascal, Pensees, hg. von L. Brunschvigg, Paris 1951, bes. Nr. 793; ders., De l'esprit geometrique, in: ders.,