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German Pages [268] Year 2021
Chiara Pasqualin Maria Agustina Sforza (Hg.)
Das Vorprädikative Perspektiven im Ausgang von Heidegger
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495823965
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B
Chiara Pasqualin Maria Agustina Sforza (Hg.) Das Vorprädikative
ALBER PHILOSOPHIE
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Chiara Pasqualin Maria Agustina Sforza (Hg.)
Das Vorprädikative Perspektiven im Ausgang von Heidegger
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Chiara Pasqualin, Maria Agustina Sforza (Eds.) The Pre-Predicative Dimension Perspectives Starting from Heidegger The question of the meaning of the concept of the »pre-predicative« has not yet been systematically explored within Heidegger research. This is a key concept that pervades Heidegger’s entire thinking, from his early lectures to his later works. The essays in the present volume explore the multifaceted character of the pre-predicative dimension and examine it in connection with the central topics of Heidegger’s philosophy such as pre-theoretical experience, the power of language, the pre-reflexive understanding of Being, pre-logical truth and the role of poetry in the constitution of meaning.
The Editors: Chiara Pasqualin (1985) studied philosophy in Padua and at the Scuola Galileiana di Studi Superiori. In 2013 she received her PhD from the Universities of Padua and Innsbruck with a dissertation on affectivity, thinking and language in Martin Heidegger’s thought. She subsequently worked as a postdoctoral researcher in the Department of Philosophy at the University of São Paulo (USP) in Brazil. She is currently a postdoctoral fellow and lecturer at the Institute of Philosophy at the University of Koblenz-Landau. Maria Agustina Sforza (1986) studied philosophy at the University of Buenos Aires (UBA) and at the Leibniz University of Hannover. From 2016 to 2019 she was a scholarship holder of the graduate school »Herausforderung Leben: Dynamics of Pluralization and Normalization« at the University of Koblenz-Landau, where she wrote her dissertation on the question of animality in Martin Heidegger’s thinking. She is currently a lecturer at the Leuphana University of Lüneburg.
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Chiara Pasqualin, Maria Agustina Sforza (Hg.) Das Vorprädikative Perspektiven im Ausgang von Heidegger Die Frage nach dem Sinn des Begriffes des »Vorprädikativen« wurde innerhalb der Heideggerforschung bislang nicht systematisch erforscht. Dabei geht es um einen Schlüsselbegriff, der Heideggers gesamtes Denken, von den frühen Vorlesungen bis hin zu seinem Spätwerk, durchzieht. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes gehen den vielfältigen Dimensionen des Vorprädikativen nach und untersuchen sie im Zusammenhang mit wichtigen Themen der Philosophie Heideggers wie der vortheoretischen Erfahrung, der Leistung der Sprache, dem prä-reflexiven Verstehen des Seins, der vorlogischen Wahrheit und der sinnbildenden Rolle der Dichtung.
Die Herausgeberinnen Chiara Pasqualin (1985) studierte Philosophie in Padua und an der Scuola Galileiana di Studi Superiori. 2013 wurde sie an den Universitäten Padua und Innsbruck mit einer Dissertation zum Thema Affektivität, Denken und Sprache im Werk Martin Heideggers promoviert. Anschließend arbeitete sie als PostDoc am Philosophischen Institut der Universidade de São Paulo in Brasilien. Derzeit ist sie Habilitationsstipendiatin und am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau als Lehrbeauftragte tätig. Maria Agustina Sforza (1986) studierte Philosophie an der Universität von Buenos Aires und an der Leibniz Universität Hannover. Von 2016 bis 2019 war sie Stipendiatin der Graduiertenschule »Herausforderung Leben: Dynamiken der Pluralisierung und Normalisierung« an der Universität Koblenz-Landau, in deren Rahmen sie ihre Dissertation über die Tierfrage im Denken Martin Heideggers anfertigte. Derzeit ist sie an der Leuphana Universität Lüneburg als Lehrbeauftragte tätig.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49110-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82396-5
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Bermes
9
Das Vorprädikative – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
13
Sprache Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden? Überlegungen zur Sprache und Mit-Teilung . . . . . Andreas Beinsteiner
53
Das Vorprädikative als Sprechanregung Grundzüge der Heidegger’schen Interpretation der Rhetorik Diego D’Angelo
77
. .
Die hermeneutische Wende zur Sprache Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Subtext von Martin Heideggers Sein und Zeit . . . . Matthias Flatscher
95
Bedeutung Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz . . . . . . Giovanna Caruso
123
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Inhalt
Vorprädikative Wahrheit? Zwischen Sein und Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anne Kirstine Rønhede
141
Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Yuliya Tsutserova
161
Faktizität Metabolé des Vorprädikativen Faktizität und die ontischen Wurzeln der Prädikation . . . . . . Bernardo Ainbinder / Ovidiu Stanciu »Geist« und »als« Die Verwindung des Menschen im Dasein zwischen Scheler und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Giovanni Gurisatti Das Vorprädikative als das »Pathische« Ein Vergleich zwischen der »großen Stille« bei Heidegger und dem »Sagen« bei Lévinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chiara Pasqualin Die Autoren
191
213
237
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
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Vorwort Christian Bermes
Der philosophische Reiz der Phänomenologie ist bis heute vielfältig und nicht auf einen einzigen Aspekt zu reduzieren. Erinnert sei an nur einige Momente, die die phänomenologische Analyse bis heute auszeichnen: die Intentionalität als Grundmoment des Bewusstseins; der Primat der Beschreibung als einer qualitativen Erfassung von Wirklichkeit, mit der wir verstrickt sind; die Reduktion als Einklammerung einer vergegenständlichenden Weltsetzung und Öffnung einer Sphäre des Sinns; oder die Blickwendung auf die Lebenswelt als originäre Gewissheit von Selbst- und Weltbezügen. Zu dieser Liste kann auch das ›Vorprädikative‹ bzw. der Rückgang auf eine eigenständige Sphäre des Vorprädikativen gezählt werden. Und auch hier eröffnet die Phänomenologie eine originäre Perspektive auf die Problemstellung. Denn in einem ersten und einfachen Sinne könnte man schlicht darauf verweisen, dass das Vorprädikative in der philosophischen Tradition stets bedacht wurde, wenn auch unter anderem Namen. Differenzsetzungen wie ›Theorie‹ und ›Praxis‹, ›Anschauung‹ und ›Begriff‹ oder ›Erfahrung‹ und ›Erkenntnis‹ ließen sich problemlos als Differenzen zwischen einer Sphäre des Prädikativen und einem Bereich des Vorprädikativen verstehen. Und doch intendiert die Phänomenologie auch hier einen neuen und eigenen Zugang. Wenn Husserl von der Phänomenologie erwartet, dass »die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung« »zur Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen sei« 1 und wenn er im ›Prinzip aller Prinzipien‹ ausführt, »dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in 1 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, hrsg. von S. Strasser, Den Haag, Springer, 21963, 77.
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Christian Bermes
denen es sich da gibt« 2, dann kann deutlich werden, was später unter dem Titel einer »Theorie der vorprädikativen Erfahrung« 3 eingefordert wird. Dabei weiß Husserl sehr genau um die Einwände, die auch Heidegger gegenüber erhoben werden, wenn das Vorprädikative zum Thema wird: Welchen Primat soll das Vorprädikative besitzen, wenn es doch ›nur‹ das gegenüber Urteil und Prädikation Vorgängige ist? Welchen Wahrheitsanspruch kann das Vorprädikative einklagen, wenn Wahrheit doch allein im Urteil zum Ausdruck kommt? Oder in welchem Verhältnis steht das Vorprädikative zur Sprache – ist es als sprachlos zu begreifen, ist es auf die Sprache hin geöffnet oder muss es gar als sprachkritisch verstanden werden? Diese Fragen drängen sich auf, sie sind einschlägig und sie sind wichtig. Gleichwohl aber handelt es sich um Fragen, die von konzeptionellen Vorannahmen geleitet sind. In ihnen kommen bereits Festlegungen und Sichtweisen zum Ausdruck, die als solche nicht thematisch werden. In einem solchen Zugang ist die Differenz von ›Vorprädikativem‹ und ›Prädikation‹ eine gleichsam theoretisch gesetzte Differenz. Der Phänomenologie, und dies scheint eine der Pointen zu sein, geht es um das Vorprädikative jedoch nicht in schlichter Opposition zur Prädikation, sondern darum, dass die Unterscheidung vollzogen werden muss – und dieser Vollzug selbst weist sich als vorprädikativ aus. In einer Außenperspektive mag sich eine Differenz zwischen Vorprädiktivem und Prädikativem zeigen, von außen mag man auch Brücken, Übergänge oder Schnittstellen zwischen dem Vorprädikativen und dem Prädikativen suchen; doch der Sinn des Vorprädiktiven erschließt sich nur von innen, aus der Perspektive des Vollzugs, der genau in diesem Sinne auch als vorprädikativ bezeichnet werden kann. Die Frage nach dem Vorprädikativen stellte sich im frühen 20. Jahrhundert in durchaus verschiedenen Konstellationen und an verschiedenen Orten – freilich nicht immer unter diesem Topos (man denke nur an das Konzept des Lebens in der Lebensphilosophie, den Begriff des Verstehens in der Hermeneutik oder auch an Wittgen2 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. 1. Halbband: Text der 1.–3. Aufl., Husserliana III/1, neu hrsg. von K. Schuhmann, Den Haag, Springer, 1976, 51. 3 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert und hrsg. von L. Landgrebe, Hamburg, Meiner, 61985, 21.
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Vorwort
steins Überlegungen im Kontext des Regelverstehens als eines Regelfolgens). Besonders prominent ist jedoch die Frage nach dem Vorprädikativen in der Phänomenologie erörtert worden; und hier nicht zuletzt von Heidegger und im Anschluss an seine Überlegungen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen sich mit Heidegger auseinander, sie bleiben natürlich nicht bei dessen Position stehen, sondern versuchen, die Fragestellung als eine Herausforderung philosophisch neu zu erschließen. Da die Beiträge nicht auf ein Werk Heideggers beschränkt sind, gelingt ihnen nicht nur eine Synopse der Heideggerschen Philosophie, sondern zugleich eine Entfaltung der Problemstellung über die Grenzen isolierter Fragestellungen hinweg – vielleicht sogar ein neuer Blick auf das Vorprädikative als philosophisches Problem. Der Keim dieser Überlegungen entstand in der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität in Landau, in der die Herausgeberinnen sowie einige Beiträgerinnen aktiv waren oder noch sind. Die Graduiertenschule in Landau begreift sich als ein offener Denkraum, in dem die Phänomenologie erprobt und weiterentwickelt wird, und so ist es eine besonders glückliche Fügung, dass sich in diesem Band auch weitere Kollegen aus verschiedenen Ländern an diesem Projekt beteiligen.
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Das Vorprädikative – eine Einführung 1 Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
Die Aufgabe einer grundlegenden Untersuchung des Begriffs des »Vorprädikativen« im Werk Martin Heideggers könnte zunächst unbegründet erscheinen, da der Ausdruck als solcher bei Heidegger selbst im Vergleich zu anderen Termini – wie z. B. Sein, Verstehen, Wahrheit – nur höchst sporadisch vorkommt. Es ist dennoch kein Zufall, dass gerade jener Ausdruck in entscheidenden theoretischen Zusammenhängen auftaucht und dort unmissverständlich eine Schlüsselstellung einnimmt. Der vorliegende Band ist der Überzeugung entsprungen, dass der Begriff des Vorprädikativen auf Heideggers gesamtem Denkweg einen entscheidenden systematischen Ort hat, der bislang zum Teil anerkannt 2, jedoch weder als Ganzer erfasst noch detailliert analysiert wurde. Daraus folgt, dass eine Rekonstruktion lediglich im Blick auf Passagen, in denen der Terminus konkrete Anwendung findet, vor allem aus zwei Gründen unzureichend wäre. Einerseits würde eine bloße Rekonstruktion der Okkurrenzen zu keiner hinreichenden Erkenntnis dahingehend führen, in welchem Zusammenhang der Begriff des Vorprädikativen mit anderen Kernbegriffen der Philosophie Heideggers steht. Dabei bliebe unbeachtet, dass dieser Begriff in Heideggers Behandlung verschiedener Themen eine wesentliche, obgleich nicht immer explizite Rolle spielt. Andererseits würde ein rein
Heideggers Werke werden nach der seit 1975 im Verlag Klostermann (Frankfurt am Main) erscheinenden Gesamtausgabe unter der Sigle GA und Bandnummer zitiert. 2 Das Vorprädikative nimmt in der Tat eine Schlüsselstellung insbesondere im Kontext der Auseinandersetzung mit Heideggers Sprachauffassung in Sein und Zeit ein (siehe Abschnitt 3. der vorliegenden Einleitung). Weitere Literaturangaben werden in der vorliegenden Einleitung und in den einzelnen Beiträgen dieses Sammelbandes jeweils dort angeführt, wo der Begriff des Vorprädikativen in Verbindung mit spezifischen Themen der Philosophie Heideggers gesetzt wird, wie das Phänomen des Verstehens, die Welt, die Wahrheit oder die Beziehung zwischen Dasein und Sein u. a. 1
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Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
terminologisches Nachverfolgen nicht dazu beitragen, die unverminderte Relevanz dieses Begriffes im späten Denken Heideggers zu bemessen, wo, obwohl der Terminus als solcher kaum vorkommt, sich das Phänomen jedoch unter anderen Ausdrucksformen und Denkfiguren Heideggers verbirgt und in unterschiedlichen Weisen explizieren lässt. Eine Thematisierung des Begriffes des Vorprädikativen verlangt daher eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, welche auf Heideggers Anfänge und sein Projekt einer auf das vortheoretische Erleben gerichteten Urwissenschaft zurückgeht und sich von der Fundamentalontologie bis zum Ereignisdenken ausdehnt. In unserer Einführung möchten wir die Hauptetappen dieser Begriffsgeschichte konturieren und dabei hervorheben, mit welchen Grundfragen und Motiven des Denkens Heideggers der Begriff des Vorprädikativen jeweils zusammenfällt. 3
1.
Frühe Freiburger Vorlesungen
Obwohl in den ersten Freiburger Vorlesungen (1919–1923) das Wort »vorprädikativ« noch nicht vorkommt, lassen sich genug Anzeichen dafür finden, dass sich der Begriff, der später mit jenem Terminus ausgedrückt wird, bereits in den Jahren, in denen Heidegger als Assistent Husserls tätig war, 4 in einer Entstehungsphase seiner Ausarbeitung befindet. Das Wort, das in dieser Phase dem Ausdruck »vorprädikativ« am meisten ähnelt, ist das »Vortheoretische«, welches in der Kriegsnotsemester-Vorlesung 1919 eingeführt wird. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine bloß terminologische, sondern um eine begriffliche Verwandtschaft, die es erlaubt, in Heideggers Im Folgenden werden wir uns dem Vorprädikativen in verschiedenen Hinsichten annähern: Als Begriff wird dessen Bedeutungsgehalt analysiert, als Terminus wird dessen konkrete Anwendung beachtet, als Phänomen wird es auch in thematischen Zusammenhängen untersucht, bei denen der Ausdruck als solcher nicht vorkommt. Anschließend wird das Vorprädikative als Kennzeichen von Heideggers methodischer Herangehensweise am Beispiel der formalen Anzeige und des späteren Sagens des Seins in Betracht gezogen. 4 Zum Vergleich zwischen Heideggers und Husserls Deutung des Zusammenhanges zwischen vorprädikativer Erfahrung und prädikativer Ebene siehe insb.: Alejandro G. Vigo, »Categorías y experiencia antepredicativa en el entorno de Sein und Zeit«, Studia Heideggeriana, 2, 2012, 71–128; Vincenzo Costa, »Esperienza antepredicativa e adeguazione in Heidegger«, Rivista di Filosofia Neo-Scolastica, 107 (3), 2015, 537– 555. 3
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Das Vorprädikative – eine Einführung
früher Umgrenzung des »vortheoretischen« Feldes 5 eine erste Erarbeitung des Begriffes des Vorprädikativen zu verorten. Der Gebrauch des Begriffspaares vortheoretisch/theoretisch nimmt im Grunde die Idee vorweg, dass das, was zur reflexiv-objektivierenden Haltung (zum Theoretischen) gehört – dem die Aussage bzw. das Urteil als ein konstitutives Moment eignet – weniger ursprünglich ist als diejenige (vortheoretische) Verhaltensweise, welche ein unmittelbares, nicht unbedingt thematisches, an der Bedeutsamkeit orientiertes faktisches Leben beschreibt. Der Terminus »vortheoretisch« wird von Heidegger in der Vorlesung von 1919 auf eine bestimmte Erlebnisweise bezogen, nämlich auf die gewöhnliche Art und Weise, wie sich das menschliche Leben zum jeweils Erfahrenen konkret verhält. 6 Dementsprechend lässt sich behaupten, dass der Begriff des Vorprädikativen in seiner ersten Erarbeitungsetappe vorwiegend mit dem Ontischen, d. h. mit dem konkreten Leben und dessen Vollzugsweisen, in Zusammenhang steht. Bei genauerer Betrachtung lässt sich das 1919 beschriebene vortheoretische »Umwelterlebnis« 7 als ein vorprädikatives Erlebnis lesen. Welche sind die Aspekte, die das vortheoretische Erlebnis zu einem vorprädikativen machen? Kennzeichnend ist zunächst die unmittelbare Anteilnahme desjenigen, der erlebt, an dem von ihm Erlebten. In dieser Erlebnisart »bin ich mit meinem vollen Ich dabei« 8, bin ich mitgenommen und berührt von dem, was ich erfahre. In der theoretischen Erlebnisweise dagegen nimmt der Erlebende eine distanzierte Haltung dem Erlebten gegenüber ein, 9 welches zu einem von außen feststellbaren und in Aussagen zu beschreibenden Gegenstand, zu einem Ding unter Dingen, gemacht wird. Die innere Beteiligung des erlebenden und geschichtlich situierten Ichs am Erleb-
5 Zum Begriff des Vortheoretischen siehe: Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt am Main, Klostermann, 2000. 6 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 1–117, hier 98. 7 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 70–73. 8 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 75. 9 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 98: Im bloßen »Dingerlebnis […] zeigt sich […] ein merkwürdiger Bruch zwischen Erleben und Erlebtem«.
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Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
ten beinhaltet zudem eine unbezweifelbare affektive Konnotation, 10 welche in den frühen Freiburger Vorlesungen immer stärker hervortritt. 11 Daher lässt sich das Vorprädikative von diesem Moment an nicht mehr vom Affektiven, d. h. vom Bereich der Stimmungen und der befindlichen Seinsverfassung des Menschen, trennen. Dieses vortheoretische Erleben ist für Heidegger nicht blind oder irrational, da es immer an Bedeutungen ausgerichtet ist. Das Erlebte ist für mich ein »Bedeutsames«, 12 d. h. es kommt mir unmittelbar als etwas entgegen, das eine spezifische Funktion in einem bestimmten praktischen Kontext hat – wie z. B. das Katheder als dienliches Möbelstück, von dem aus der oder die Lehrende spricht. 13 Diese nicht reflektierte Gerichtetheit auf die Bedeutsamkeit, welche das Umwelterlebnis auszeichnet, zeigt, dass und wie das menschliche Leben in einem ständigen Verstehensprozess, in einem andauernden Bedeutsamkeitsverstehen, engagiert ist. Dass das Leben sich gerade aufgrund dieses spontanen Versenktseins in die Bedeutsamkeit als ein an sich verstehendes Leben erweist, wird in den ersten Freiburger Vorlesungen zunehmend offensichtlich. 14 Das Moment der verstehenden Orientierung des Lebens an der Bedeutsamkeit – ein Moment, das in der späteren Definition des Vorprädikativen entschei-
So wird z. B. das Aufgehen der Sonne im Umwelterlebnis nicht als ein neutraler Naturvorgang betrachtet, sondern unmittelbar als »freundlich« erlebt (vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 74). 11 Die Tatsache, dass sich das Erfahrene dem Erlebenden immer in einer Stimmung gibt, wird mehrmals in den späteren Freiburger Vorlesungen betont. Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, 45; Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 159; Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, 98 und 134 und 196; Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, 119 und 137–138; Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, 90–91. 12 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 72–73. 13 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 71. 14 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, 185–187; Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 166; Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, 253 und 265; Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, 171–172; Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, 99–100. 10
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Das Vorprädikative – eine Einführung
dend wird – ist also frühzeitig im Begriff des Vortheoretischen angezeigt. Dass das Vortheoretische das Bedeutungsfeld des Vorprädikativen präfiguriert, wird weiterhin durch den Zusammenhang bestätigt, den Heidegger zwischen dem Umwelterlebnis und dem theoretischen Erlebnis erkennt. Das letztere ist für Heidegger weniger ursprünglich als das vortheoretische Erlebnis, da jenes nur als eine außerordentliche Modifikation des gewöhnlicheren Lebenszustandes 15 der unmittelbaren Beteiligung des Erfahrenden am Erfahrenen entsteht. Die »Theoretisierung« hat – mit anderen Worten – ihren »Ursprung« im Leben; 16 das Theoretische ist »das Entlebte, selbst erst Entsprungene« 17. Das Präfix »vor-« im Wort »vortheoretisch« hat also eindeutig dieselbe Funktion wie das »vor-« im »Vorprädikativen«: Beide drücken die höhere Ursprünglichkeit des an der Bedeutsamkeit orientierten Lebens in Bezug auf die theoretisch-konstatierende Verhaltensweise aus. 18 Das, was Heidegger in der Vorlesung von 1919 dem »Umwelterlebnis« zuerkennt, kann auf das »faktische Leben« aus der Vorlesung von 1919/20, 19 auf die »faktische Lebenserfahrung« der Vorlesungen von 1920 und 1920/21, 20 auf das »Sorgen« der 1921/22 gehaltenen Vorlesung 21 und letztlich auf den »besorgenden Umgang« aus der Vorlesung von 1923 22 übertragen werden. An all diesen Versuchen, die gewöhnliche vortheoretische Haltung des Lebens zum Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 88: »Wir sehen dann zum mindesten vorläufig, daß wir häufig, und sogar zumeist, umweltlich erleben. […] [T]heoretisch dagegen sind wir nur in Ausnahmenfällen eingestellt«. 16 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, S. 91. 17 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, S. 96. 18 Zu Heideggers frühem Umsturz der Vorherrschaft des Theoretischen zugunsten der Entdeckung der vortheoretischen und vorlogischen Erfahrung vgl. insb.: Jesús Adrián Escudero, »Der junge Heidegger und der Horizont der Seinsfrage«, Heidegger Studien, 17, 2001, 93–116. 19 Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 58, 54–56. 20 Vgl. u. a. Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 36; Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, in: Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, 1–156, hier 8. 21 Vgl. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, 90–99. 22 Vgl. Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, 100–104. 15
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Ausdruck zu bringen, kann man den vorprädikativen Charakter aufweisen. In den ersten Freiburger Vorlesungen hat Heidegger eine Erlebnis- bzw. Erfahrungsweise im Blick, in der das Selbst auf eine bestimmte Weise immer (praktisch und affektiv) betroffen wird und in der es eine ständige Ausrichtung auf die Bedeutsamkeit 23 – ein unablässiges spontanes und unreflektiertes Verstehen – gibt. Diese Erfahrungsweise, auf welche sich die ersten Freiburger Vorlesungen konzentrieren, wird immer wieder als eine ursprünglichere Verhaltensweise in Bezug auf die theoretische Einstellung betrachtet, welche insbesondere die naturwissenschaftliche Forschung auszeichnet. 24 Dies wird auf eine prägnante Weise in der Vorlesung von 1920/21 in einem Passus formuliert, der eine Vorwegnahme dessen darstellt, was Heidegger bei seiner späteren Einführung des Terminus »vorprädikativ« explizieren wird. Heidegger bemerkt hier zunächst, dass »das ›ist‹ der theoretischen Prädikation« und das »›ist‹ der vollzugsmäßig radikalen [?] Selbstheit [?] (Existenz) [?] unvergleichbar auseinanderliegen«, d. h., dass der Akt des Prädizierens und der vortheoretische Lebensvollzug zwei nicht gleichursprüngliche Momente sind. 25 Ferner fügt Heidegger hinzu, dass das theoretisch prädikative »ist« »nur ein Abfall« gegenüber dem existenziell vollzugsmäßigen »ist«, dass also das in der Prädikation Ausgedrückte lediglich das Resultat eines entlebten Existenzvollzuges sei. 26 Die auf den natürlicheren Lebensvollzug gerichtete Aufmerksamkeit führt Heidegger dazu, sich bereits in der Vorlesung von 1919 die Frage zu stellen, welche Methode angemessen ist, um sich dieser Lebenssphäre anzunähern. Es ist erneut der Begriff des Vortheoretischen, der sich als dafür dienlich erweist, die besondere Herangehensweise der Philosophie an das von ihr ausgewählte Thema zu bezeich-
Vgl. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, 104–110; Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 82; Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, 13; Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, S. 90–93; Heidegger, Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik, GA 62, 93–94 und 409; Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, 86 und 93–97. 24 Vgl. u. a. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, 93– 97 und 261 und Heidegger, Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik, GA 62, 450. 25 Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 147 [sic]. 26 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 148. 23
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Das Vorprädikative – eine Einführung
nen. 27 Denn diese nähert sich ihrem Thema, indem sie es vortheoretisch versteht. Dies besagt, dass die Philosophie das Leben nicht von außen als einen Gegenstand beschreibt, sondern sich in den Lebensstrom – in die Lage des jeweils erlebenden Ichs 28 – »versetzt«, 29 die verstehende Dynamik des Lebens von innen verfolgt und diese in ein explizites Verständnis übersetzt. Dieses der Philosophie eigene Verstehen wird in den frühen Freiburger Vorlesungen in unterschiedlichen Begrifflichkeiten – u. a. »hermeneutische Intuition« 30, »phänomenologisches Verstehen« 31, »immanente Erhellung« 32 – gefasst, obwohl im Grunde dabei immer dasselbe Phänomen zur Sprache kommt. Aus dem vortheoretischen Status der Philosophie folgt die Notwendigkeit, eine Sprache heranzuziehen, die nicht auf eine Vergegenständlichung des Lebens, seine Beschreibung als etwas Vorliegendes und in feststellenden Aussagesätzen Fassbares zielt. Die Überlegung, welche Sprache dem Philosophieren adäquat wäre, führt Heidegger dazu, die Begrifflichkeit auf eine neue Weise – jetzt im Sinne der »formalen Anzeige« 33 – zu definieren. 34 Gerade als formal-anzeigende erweist sich die philosophische Sprache als eine vorprädikative. Es Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 96–97. 28 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 87: »Wir betrachten nun nicht mehr den objektivgeschichtlichen Zusammenhang, sondern sehen die Situation so, daß wir mit Paulus den Brief schreiben. Wir vollziehen mit ihm selbst das Briefschreiben bzw. diktieren«. 29 Zu diesem Sich-versetzen vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 60, 74 und 99. 30 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 117. 31 Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, 254–256. 32 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, 171. 33 Vgl. insb. Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 63– 65. 34 Zur »formalen Anzeige« vgl.: Theodorus Christiaan Wouter Oudemans, »Heideggers ›logische Untersuchungen‹«, Heidegger Studien, 6, 1990, 85–105; Daniel O. Dahlstrom, »Heidegger’s Method: Philosophical Concepts as Formal Indications«, The Review of Metaphysics, 47 (4), 1994, 775–795; Georg Imdahl, Das Leben verstehen: Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen (1919 bis 1923), Würzburg, Königshausen und Neumann, 1997; Eric Sean Nelson, »Die formale Anzeige der Faktizität als Frage der Logik«, in: Alfred Denker, Holger Zaborowski (Hg.), Heidegger und die Logik, Amsterdam/New York, Rodopi, 2006, 31–48; Theodore Kisiel, »Die formale Anzeige als Schlüssel zu Heideggers Logik der philosophischen Begriffsbildung«, in: Heidegger und die Logik, 49–64; Mat27
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handelt sich um eine Sprache, welche keine prädikative Funktion hat, d. h. nicht darauf abzielt, objektive Sachverhalte zu definieren. Diese Sprache der Philosophie setzt sich vielmehr zum Ziel, einerseits mögliche Deutungsrichtungen und Sinnzusammenhänge vorzuzeichnen, deren Interpretationsvollzug jedoch jedem Einzelnen überlassen bleibt, andererseits, das Leben in seiner Vollzugsbewegung (einer Bewegung, die immer durch besondere Stimmungen bestimmt wird und sich in einem besonderen geschichtlichen Kontext ereignet) zu erfassen. 35 Die ersten Freiburger Vorlesungen, in denen das Instrumentarium der formalen Anzeige ausgearbeitet wird, erlauben es uns daher, eine neue und wichtige Facette des Vorprädikativen hervorzuheben: Als vorprädikativ lässt sich nicht nur der vortheoretische Charakter des Lebens, sondern auch der nicht objektivierend-definitorische Sprachstil des neuen Philosophieprojekts Heideggers bezeichnen.
2.
Marburger Vorlesungen
Die Untersuchung der vorprädikativen Dimension und Vertiefung des Begriffs wird in den Marburger Vorlesungen fortgesetzt. Diese weitere Erarbeitung findet im Kontext einer ausführlichen Thematisierung des Phänomens des λόγος statt – eines Phänomens, für das Heidegger in seiner Marburger Zeit ein vorrangiges Interesse zeigt. Um sein Anliegen dabei richtig zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass bereits in der Vorlesung von 1923/24 die Überzeugung reift, dass »der λόγος ἀποφαντικός […] nicht der λόγος überhaupt, nicht einmal der entscheidende [ist]« 36. Bei seiner Analyse der aristotelischen Abhandlung De interpretatione stellt Heidegger fest,
thew I. Burch, »The Existential Sources of Phenomenology: Heidegger on Formal Indication«, European Journal of Philosophy, 21 (2), 2013, 258–278. 35 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 86. 36 Vgl. das ganze Zitat: »Aber der λόγος ἀποφαντικός ist nicht der λόγος überhaupt, nicht einmal der entscheidende, wenn er auch in der Geschichte des Selbstauslegens des Denkens in allen Fragen […] die Oberhand und führende Rolle hat« (Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 25). Diese implizite Kritik des Vorrangs des λόγος ἀποφαντικός verknüpft sich mit einem seit den ersten Freiburger Vorlesungen ausgedrückten Verdacht gegen die »überlieferte Ontologie«, welche dem Theoretischen den Vorrang gebe (vgl. Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, GA 63, 91–92).
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dass der λόγος ἀποφαντικός nur ein Modus des λόγος sei, 37 da dieser, wie Aristoteles zeige, nicht primär ἀποφαντικός, sondern σημαντικός sei. 38 Die apophantische Funktion des λόγος besteht darin, das Seiende als Seiendes zu zeigen. 39 Dieses Aufzeigen ist aber darauf gerichtet, das Seiende in seinem »So-Dasein« 40 – rückblickend könnten wir sagen: in seinem Vorhandensein – sehen zu lassen. Die semantische Funktion des λόγος liegt hingegen im σημαίνειν, im »Bedeuten« 41, und lässt sich daher als vorprädikativ bezeichnen. Die Analyse dieser Funktion bildet eine – implizite – Grundabsicht der Vorlesung aus dem Jahr 1924 über die Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Darin geht Heidegger auf die Weisen des natürlichen und alltäglichen λόγος ein, d. h. desjenigen λόγος, der zwar σημαντικός, aber noch nicht ἀποφαντικός ist und der eine detaillierte Besprechung in der aristotelischen Rhetorik erfährt. 42 In diesem natürlichen und alltäglichen λόγος muss, so Heidegger, der ursprüngliche Boden gesehen werden, aus dem der theoretische λόγος – also der ὁρισμός, welcher wiederum eine ausgezeichnete Weise des λόγος ἀποφαντικός ausmacht – hervorgeht. 43 Von diesem Gesichtspunkt aus wiederholt die Vorlesung von 1924 eine Strategie, welche Heidegger bereits in den früheren Vorlesungen angewandt hat: die Strategie der Fundierung des Theoretischen im Vortheoretischen – eine Vorgehensweise, auf die er auch in Sein und Zeit zurückgreift, um den Zusammenhang zwischen dem apophantischen Als der Aussage und dem existenzial-hermeneutischen Als, also zwischen dem Prädikativen und dem Vorprädikativen, zu bestimmen. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass der λόγος, den Heidegger in der Vorlesung von 1924 im Blick hat, nicht im Sinne der Vgl. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 21. Vgl. Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 181: »Nicht jeder λόγος ist ἀποφαντικός. Wohl aber ist jeder λόγος σημαντικός. Aristoteles handelt darüber in ›De Interpretatione‹, Kap. 4 […] Jede Rede ist als Rede σημαντική: σημαίνειν heißt: bedeuten«. 39 Vgl. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 20. 40 Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 21. 41 Vgl. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17, 14. Vgl. auch Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 181. 42 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 110. Vgl. dazu auch Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 181: »Aristoteles weist darauf hin, daß die Mannigfaltigkeit von Reden, die zwar verständlich sind, […] aber doch nichts sehen lassen, in die Rhetorik und Poetik gehören«. 43 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 36–41. 37 38
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ratio bzw. des geistig-theoretischen Vermögens verstanden wird. Denn das Wort λόγος wird von Heidegger als »Sprache« übersetzt. 44 Unter diesem Gesichtspunkt wird der λόγος vor allem als ein ontisches Phänomen betrachtet, nämlich als der konkrete Prozess des Sprechens im Sinne eines Ausdrucks- und Kommunikationsgeschehens. Dennoch gilt es zu betonen, dass Heidegger im λόγος nicht nur die Momente des Sich-Aussprechens und des Mitteilens (des Sprechens mit den Anderen oder des »Miteinandersprechens«) sieht. 45 Der Redner ist derjenige, der durch sein Sprechen die δόξα, die Ansicht der Zuhörer (mit den Worten von Sein und Zeit: die »Ausgelegtheit« des Publikums), ausbildet. 46 Der rhetorische λόγος ist vor allem aufgrund seines privilegierten Bezuges zu der Dimension des πάθος 47 dazu fähig, auf das κρίνειν, auf die hermeneutischen Prozesse der Zuhörer einzuwirken. Er kann somit die Art und Weise, wie die Mitmenschen verstehen und auslegen, bestimmen und gestalten. Es wurde gesagt, dass der rhetorische λόγος an sich σημαντικός und daher durch eine semantische vorprädikative Funktion ausgezeichnet sei. Man kann folgerichtig behaupten, dass diese vorprädikative Funktion des λόγος gerade in der »Ansicht-Bildung« besteht, 48 d. h. in der Bildung der geteilten Bedeutungen, an welchen sich eine bestimmte πόλις bzw. menschliche Gemeinschaft ausrichtet. 49 In dieser Hinsicht scheint die Funktion des rhetorischen λόγος die vorprädikative Funktion des dichtend-poietischen λόγος vorwegzunehmen, welche sich mit der »Aufstellung einer Welt« aus Heideggers späterem Kunstwerksaufsatz identifizieren lässt. 50 1924 erkennt Heidegger dem λόγος also nicht nur eine Ausdrucksfunktion zu, sondern zugleich jenen sinnbildenden Charakter, welcher in seinem späteren Denken einen immer größeren Raum einnehmen wird. Obwohl der Fokus der Vorlesung von 1924 auf der Sprache als ontischem Phänomen liegt (was auch die Originalität dieser VorVgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 18. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 19–20, 50, 61 und 341. 46 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 118 und 163. 47 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 162–165, 170 und 176–177. 48 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 163. 49 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 139. 50 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, GA 5, 1–74, hier 30–31. 44 45
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lesung ausmacht), kann man bereits in diesen frühen Überlegungen Heideggers eine gewisse Sensibilität für die ontologische Kehrseite des Phänomens »Sprache« verspüren, und zwar für die Dimension dessen, was dann in Sein und Zeit als »Rede« bezeichnet wird. Die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik bietet Heidegger die Gelegenheit, auf eine ontologische Grundfunktion des λόγος – die Funktion des δηλοῦν τὸ συμφέρον (des Offenbar-machens des »Zuträglichen«) – hinzuweisen. 51 Diese Funktion vollzieht sich in einem Prozess des Überlegens (der sogenannten »Umsicht«) 52, in dem das jeweils begegnende Seiende als etwas interpretiert wird, was zu einem bestimmten praktischen Ziel beiträgt. 53 Wenn in diesem Kontext vom λόγος die Rede ist, bezeichnet dieser nicht primär dieses oder jenes konkrete Gespräch, sondern die nicht theoretisch-abstrakte, sondern praktisch ausgerichtete Überlegung, welche jeden alltäglichen Umgang mit dem Seienden leitet. Ein so verstandener λόγος scheint auf die Funktion der »Rede« – die bedeutungsmäßige Gliederung der Verständlichkeit – hinzuweisen. Diese Gliederung der Bedeutsamkeit ist Bestandteil desjenigen ontologischen Prozesses von Verstehen und Auslegen, welcher in Sein und Zeit gerade als ein vorprädikativer angesehen wird. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Vorlesung von 1924 eine implizite und entscheidende Erarbeitung des Begriffes des Vorprädikativen enthält, nicht nur, weil sie die sinnbildende Funktion der Sprache einbezieht, sondern auch, weil hier schon früh die bedeutungs-gliedernde Funktion der Rede angedeutet wird. Als solcher erscheint der Terminus »vorprädikativ« zum ersten Mal in der Vorlesung von 1925/26 im Rahmen einer Erörterung des λόγος, welcher Aristoteles’ De interpretatione zugrunde liegt. 54 Heidegger bekundet hier, das Thema seiner Betrachtung sei der λόγος ἀποφαντικός, wenngleich das eigentliche Ziel ein anderes ist. Was eigentlich besprochen wird, ist das Fundament der Aussage, und die Frage nach diesem Fundament entsteht, sobald man ein Verständnis dafür gewinnt, dass das »Worüber« der Aussage schon im Voraus Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 46–47. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 63. 53 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 58–61. 54 Zu dieser Erörterung des λόγος vgl. Franco Volpi, »Σημαίνειν, λέγειν, ἀποφαίνεσθαι als ἑρμηνεύειν. Die Ontologisierung der Sprache beim frühen Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles«, in: Enno Rudolph, Heinz Wismann (Hg.), Sagen, was die Zeit ist. Analysen zur Zeitlichkeit der Sprache, Stuttgart, Metzler, 1992, 21–42. 51 52
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zugänglich bzw. aufgeschlossen sein muss. 55 Die Tafel, von der ich zum Beispiel die Eigenschaft des Schwarzseins prädiziere, muss von Anfang an »verständlich« (d. h. als etwas zum Schreiben) sein, muss »schon in eine Deutung gestellt« und »be-deutet« sein. 56 In welchem Grundverhalten des Daseins findet dieser primäre Zugang statt? Auf diese Frage antwortet Heidegger, dieser apriorische Zugang habe in einem »bedeutenden Verhalten« 57, in einem Verhalten, das im Grunde ein Verstehen sei, statt. Ein solches Verstehen zeichne sich durch die »Als-Struktur« 58 aus, da in diesem das Dasein das Umweltding »aus dem Wozu seiner Dienlichkeit her« 59, d. h. als dienlich-für entdeckt. Das jeweils verstandene »Wozu« sei »weder je erst thematisch gewonnen noch überhaupt thematisch bedacht« 60, und dies im Unterschied zur Prädikation, in der die Thematisierung ausdrücklich ist. Es ist gerade diese verstehende Bewegung, welche Heidegger als »vorprädikativ« 61 bezeichnet, weil sie vor der Prädikation liegt und deren Struktur allererst ermöglicht. 62 Heidegger stellt also einen »Fundierungszusammenhang« 63 zwischen der Dimension des Verstehens und der des sprachlichen Aussagens fest, der dort weiter präzisiert wird, wo der Aussagesatz als eine Modifikation der »ursprünglichen hermeneutischen Als-Struktur« 64 gedeutet wird. 65 Diese Modifikation hat den Charakter einer Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 143. Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 144. 57 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 148. 58 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 144 und 150 (Fußnote 6). 59 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 144. 60 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 154. 61 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 144. 62 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 145. 63 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 152. 64 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 158. 65 Zu Heideggers These vom abgeleiteten Charakter der Prädikationsstruktur in Bezug auf die Vorlesung von 1925/26 siehe: Günter Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Tübingen, Mohr Siebeck, 2013, 40–51. Das Verständnis des Vorprädikativen hängt in der Vorlesung von 1925/26 mit Heideggers Behandlung des Wahrheitsphänomens eng zusammen. Vgl. dazu: Carl Friedrich Gethmann, »Heideggers Wahrheitsbegriff in seinen Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von Sein und Zeit (§ 44)«, in: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt am Main, 1989, 77–106; Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil. Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heideggers, Wien, Passagen, 1994, 129–163; Jean-François Courtine, »Les ›Recher55 56
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»Nivellierung« 66, weil das, was a priori als etwas Dienliches-für verstanden wird, auf ein bloß Vorhandenes reduziert wird. Dementsprechend verwandelt sich das verstehende Bedeuten in eine »reine einfache Dingbestimmung« 67. Heidegger zeigt, dass es durch die Prädikation zu einer Verwandlung der Seinsweise des begegnenden Dinges kommt. 68 In der Aussage »die Kreide ist weiß« wird die ursprüngliche Seinsart der Kreide, nämlich deren Sein als Gebrauchsding, »auf dieses durchschnittliche Vorhandensein [eingeebnet]«. 69 Diese nivellierende Verwandlung eines Seienden in die Seinsart der Vorhandenheit ist die spezifische Leistung der Prädikation – eine Leistung, die Heidegger als »Bestimmung« definiert. 70 Das Bestimmen, welches als der Grundzug des Theoretischen betrachtet werden kann, erweist sich als ein »abgeleitetes Phänomen« 71 in Bezug auf das primäre Entdecken, das sich im Verstehen als »nicht-theoretisches Verhalten« 72 vollzieht. 73 Die Vorlesung von 1925/26 interpretiert die Als-Struktur des Verstehens als die »hermeneutische Grundstruktur des Seins« des Daseins. 74 Man sieht dabei, wie der Terminus »vorprädikativ« ausdrücklich verwendet wird, um die hermeneutische Grundverfassung ches logiques‹ de Martin Heidegger: De la théorie du jugement à la verité de l’être«, in: Jean-François Courtine (Hg.), Heidegger 1919–1929. De l’hermenéneutique de la facticité à la métaphysique du Dasein, Paris, Vrin, 1996, 7–31; Mario Ruggenini, »La finitude de l’existence et la question de la verité: Heidegger 1925–1929«, in: Heidegger 1919–1929, 153–177; Holger Zaborowski, »Wahrheit, Sein und Zeit. Zu Heideggers Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26 Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA 21)«, in: Heidegger und die Logik, 161–183; Gaetano Chiurazzi, »Die Antezedens der Wahrheit. Heidegger und die Aristotelische Definition der apophantischen Rede«, Existentia: International Journal of Philosophy, 17 (1–2), 2007, 1–17. 66 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 154. 67 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 153. 68 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 159. 69 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 158. 70 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 158. 71 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 160. 72 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 159. 73 Den Fall der bestimmenden Aussage »die Kreide ist weiß« unterscheidet Heidegger von dem der Aussage »die Kreide ist zu sandig«, welche noch nicht theoretisch ist, weil sie »auf das schreibende Verhalten, d. h. auf den primären Umgang des Schreibens selbst [bezogen ist]« (Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 157). Zu dieser Unterscheidung vgl.: Alfred W. E. Hübner, Existenz und Sprache. Überlegungen zur hermeneutischen Sprachauffassung von Martin Heidegger und Hans Lipps, Berlin, Duncker und Humblot, 2001, 79–83. 74 Vgl. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 150 (Fußnote 6)
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des menschlichen Lebens als verstehendes Seiendes zu bezeichnen. Heidegger geht aber noch einen Schritt weiter und behauptet, dass diese hermeneutische Struktur das sei, was die Sprache fundiere, »sofern Sprache nur möglich ist dadurch, daß es Verständnis gibt, d. h. Dasein, zu dem die Struktur des Verstehens gehört« 75. Diese allgemeinere Feststellung, die sich auf den Zusammenhang von Sprechen und Verstehen bezieht, lässt sich als eine Konsequenz von Heideggers methodischer Zurückführung der Aussage auf das Verstehen lesen. Heideggers Absicht liegt darin, zu betonen, dass die Sprache primär aus ihrer Verschränkung mit der Dimension der Bedeutung und nicht von der nur abgeleiteten Funktion des objektivierenden Bestimmens her bedacht werden müsse. Mit anderen Worten, Heidegger will darauf hinweisen, dass die Sprache ihrem Wesen nach ein hermeneutisches Phänomen ist und kein theoretisches. 76 Aber nicht nur dies: Indem Heidegger das Vorprädikative als »verstehendes Bedeuten« 77 erfasst, scheint er diejenige semantische Grundfunktion zu rehabilitieren, welche laut Aristoteles der λόγος an sich, der λόγος σημαντικός, besitzt. Diese semantische Grundfunktion kann vor dem Hintergrund von Heideggers Rede von einer die Sprache ermöglichenden »Grundstruktur des λόγος« 78 gelesen werden – einer Struktur, welche erneut den Bereich der »Rede« in Sein und Zeit anzudeuten scheint.
3.
Sein und Zeit
Nach der Marburger Vorlesung von 1925/26 taucht der Terminus »vorprädikativ« erst in Heideggers erstem Hauptwerk Sein und Zeit wieder auf. Dort sind zwei Einträge zu finden, die einander ergänzen, jedoch unterschiedliche Interpretationen bezüglich der Rolle des geHeidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 151. Vgl. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 361–362: »Das Reden über … steht auch nicht primär im Dienste eines forschenden Erkennens, sondern das redende Offenbarmachen hat zunächst und zumeist den Sinn der auslegenden Appräsentation der besorgten Umwelt und ist zunächst gar nicht auf Erkenntnis, Forschung, theoretische Sätze und Satzzusammenhänge zugeschnitten. Es ist deshalb grundverkehrt, die Analyse der Sprache beim theoretischen Satz der Logik oder dergleichen anzusetzen […]«. 77 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 150. 78 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 127. 75 76
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nannten Begriffes in Heideggers Argumentation zulassen. Im Rahmen der Ausarbeitung des Existenzials des Verstehens und seiner apriorischen Verfassung in § 32 wird als »vorprädikativ« zunächst der ontisch-besorgende »Umgang« mit dem Zuhandenen bezeichnet, der dem theoretisch-prädikativen Erfassen des innerweltlich Vorhandenen vorausgeht. 79 In diesem Sinne weist das Vorprädikative auf eine ontische Erlebnisart hin, von der bereits in den frühen Freiburger Vorlesungen die Rede war. Dieses umsichtige, handlungsleitende Zutunhaben mit dem Zuhandenen bezeichnet Heidegger wiederum in Sein und Zeit als verstehend-auslegend und weist es dadurch einer existenzial-ontologischen Sphäre der Sinnkonstitution zu. Dass die vorprädikative, besorgende Sicht verstehend-auslegend ist, bedeutet für Heidegger zweierlei. Erstens bedeutet es, dass jedes Begegnen von zuhandenem Zeug ein Begegnen von Etwas als Etwas ist. 80 Das Zuhandene wird dementsprechend unthematisch als dieses oder jenes (und zwar als etwas um … zu) ausgelegt, ohne dass sich dieses Zeugverständnis in einer Prädikation ausdrückt. Zweitens bedeutet es, dass im vorprädikativen Umgang mit dem Seienden das Ausgelegte als ein Aussprechbares bzw. als ein in einem Ausspruch Gliederbares gegeben ist. 81 Der zweite Aspekt, also die Interpretation des Vorprädikativen als Ursprungsdimension der prädizierenden Artikulation, wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass Heidegger in § 33 schreibt, die Aussage sei »kein freischwebendes Verhalten, das von sich aus primär Seiendes überhaupt erschließen könnte« 82, sondern im umsichtig Entdeckten verwurzelt. Beide Aspekte zeigen, dass es einen ontologischen Fundierungszusammenhang gibt zwischen dem existenzial-hermeneutischen Als des vorprädikativen »schlichten Sehens« des Zuhandenen und dem prädikativen apophantischen bzw. aufzeigenden Als der Aussage. 83 Kurzgefasst ist vorprädikativ in den genannten Paragraphen der verstehende, d. h. durch die Als-Struktur vorgezeichnete Umgang mit dem Zuhandenen, auf dem jede prädizierende Artikulation gründet. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 198. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 199. 81 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 204. 82 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 208. 83 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 210. Die Schwierigkeiten, welche die Exegese dieses vorprädikativen »schlichten Sehen[s]« aufwerfen, diskutiert insb. Andreas Graeser in seinem Aufsatz: »Das hermeneutische ›als‹. Heidegger über Verstehen und Auslegung«, Zeitschrift für philosophische Forschung, 47 (4), 1993, 559–572. 79 80
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Darüber hinaus legen viele Wendungen Heideggers in § 34, wo es um Rede und Sprache geht, nahe, dass das Vorprädikative mit der spezifischen Leistung des Existenzials der Rede identifizierbar ist. 84 Diese Interpretation gründet auf Heideggers Behauptung, die Artikulation der befindlichen Verständlichkeit, wofür die Rede als »existenzialontologisches Fundament der Sprache« zuständig ist, 85 liege vor der thematischen Aussage. Dabei gibt er zu verstehen, dass vorprädikativ insbesondere jene Gliederungsfunktion der Rede ist, die allererst so etwas wie ein in der Sprache ausdrückbares Bedeutungsganzes entstehen lässt. 86 Gerade an dieser Stelle, an der die Sprache eine sichtbare Rolle in Sein und Zeit zu spielen beginnt, wird der Begriff des Vorprädikativen zu einem Gegenstand großer Kontroversen innerhalb der Heideggerforschung. 87 Die Streitfrage um diesen Begriff lässt sich wie folgt ausdrücken: Ist die Sprache in Sein und Zeit insgesamt nur als ein Ausdrucksinstrument der vorprädikativen Weltartikulation aufzufassen – und dadurch als ein sekundäres Phänomen? Oder weist vielmehr das Vorprädikative auf eine nicht propositionale Dimension der Sprache selbst? Einerseits gibt es Interpreten, die für eine pragmatistische Sprachauffassung plädieren und Heidegger das Vorhaben unterstellen, den vorprädikativen Ursprung der Sprache auf eine vorsprachliche, praktische Ebene zurückführen zu wollen. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten, die Heidegger selbst nach der sogenannten »Kehre« durch ein neues und ursprünglicheres Verständnis der Sprache habe lösen wollen. 88 Eine zweite Lesart insistiert darauf, der Ausdruck »vorprädikativ« in Sein und Zeit verweise auf etwas, das zwar noch Vgl. Christoph Henning, »Vorprädikativ«, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 11, Basel, Schwabe, 2001, 1197. 85 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 213–214. 86 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 214. 87 Einen sehr guten Einblick in diese Diskussion bietet Jasper Liptow in seinem Aufsatz: »Zur Rolle der Sprache in Sein und Zeit«, in: Barbara Merker (Hg.), Verstehen nach Heidegger und Brandom, Hamburg, Meiner (= Phänomenologische Forschungen Beiheft 3), 2009, 27–46. 88 Exemplarisch für diese Lektüre, die in der Rede eine nicht-sprachliche Artikulation der Verständlichkeit sieht und Heidegger einen »Rückfall in die Vorsprachlichkeit« vorwirft, ist die Argumentation Tugendhats in seinen Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1976, 104–105). 84
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Das Vorprädikative – eine Einführung
nicht in Form von Aussagen strukturiert ist, jedoch keinesfalls einem vor- oder nicht-sprachlichen Phänomen gleicht. Dahinter steckt der Grundgedanke, dass das Verstehen von Welt zwar nicht propositional bzw. urteilshaft strukturiert, wohl aber sprachlicher Art sei. In dieser apriorischen Ebene der Strukturierung, so die Interpreten, sei das worthafte Sprechen und insgesamt die Ebene des Theoretischen verwurzelt. 89 Vgl. dazu Mark Okrent, »Equipment, World, and Language«, Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy, 45 (2), 2002, 195–204. 89 So behauptet beispielsweise Karl-Otto Apel, dass der Rückgang hinter die theoretische Aussage keinen Rückgang hinter die Sprache bedeute, »sondern die existenzielle Fundierung der theoretischen Sprache in einer vortheoretischen« (Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn, Bouvier, 1975, 55). Eine ähnliche Position vertritt Rainer Thurnher, wenn er den Terminus »vorprädikativ« im Sinne einer »vortheoretische[n], vorthematische[n] Erschlossenheit gegenüber der Anschauung und der Theorie« liest (Rainer Thurnher, »Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung des Daseins als Moment der Methodik von Sein und Zeit«, in: Paola-Ludovica Coriando [Hg.], Vom Rätsel des Begriffs. Festschrift für Friedrich-Wilhelm v. Herrmann zum 65. Geburtstag, Berlin, Duncker und Humblot [Philosophische Schriften 36], 1991, 51–52). Auch Jochem Hennigfeld betont, dass die Abkünftigkeit der Aussage keinesfalls darauf hinweise, dass es »für den Menschen einmal einen sprachlosen Urzustand gegeben hat und er sich die Sprache erst schaffen mußte« (Jochem Hennigfeld, Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Grundpositionen und -probleme, Berlin, De Gruyter, 1982, 227). Ähnlich argumentiert Demmerling, dass es Heidegger »mit der Überlegung zum ›abkünftigen‹ Charakter der Aussage […] darum [gehe], die Vorrangstellung der theoretischen Sprache […] zu überwinden, ohne deshalb bereits der Illusion zu erliegen, man könne ein sprachlos ungegliedertes Leben in seiner blinden Unmittelbarkeit auffinden« (Christoph Demmerling, »Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Weltsein [Kommentar zu Sein und Zeit, §§ 25–38]«, in: Thomas Rentsch [Hg.], Sein und Zeit. Martin Heidegger, Berlin, Akademie Verlag, 2001, 109). Auch Matthias Flatscher vertritt die These, dass die Sprache bei Heidegger schon auf der Ebene des Verstehens präsent sei, woraus zu folgen sei, dass er das Vorprädikative sprachlich fasse: »[…] Welt ist allein sprachlich erschlossen. Es gibt keine Bezugnahme auf etwas als etwas, die sich sprachunabhängig darstellen würde« (Matthias Flatscher, »Philosophische Hermeneutik: Relektüren der rhetorischen Tradition«, in: Gerald Posselt, Andreas Hetzel [Hg.], Handbuch Rhetorik und Philosophie, Berlin, De Gruyter, 2017, 286). Vgl. dazu Matthias Flatschers Aufsatz in diesem Band. In dieser Hinsicht lässt sich auch der kritische Ansatz von Philipp Thomas lesen, der das Vorprädikative sprachlich fasst und dagegen für eine »vor-vorprädikative Hermeneutik der Natur« plädiert – ein vorhermeneutisches Offensein für Begegnendes, in dem die Sprache keine Rolle spielt (Phillip Thomas, Selbst-Natur-sein: Leibphänomenologie als Naturphilosophie, Berlin, Akademie Verlag, 1996, 95–98). Die Idee, dass dasjenige, was vor der Prädikation liegt, nicht die Vorsprachlichkeit, sondern die Sprache selbst sei, ist der Ausgangspunkt von Cristina Lafont in ihrem Buch Sprache und Welterschließung. Zur linguis-
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Nicht zuletzt hängt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Vorprädikativen und der Sprache in Sein und Zeit unmittelbar mit jener zusammen, ob das vorprädikative Zutunhaben mit der Welt in ›begriffliche‹ Zusammenhänge eingebettet ist. Dies lässt wiederum mindestens zwei Lesarten zu. Die eine plädiert für eine begriffliche Fassung des Verstehens, welche das Gegliedertsein der Erfahrung ohne Rekurs auf prädikative Strukturen erklärt. 90 Die andere plädiert dagegen dafür, dass die vorprädikative Weltartikulation gerade nicht im Bereich des Begrifflichen, sondern des Vorbegrifflichen angesiedelt sei – und zwar auf einer sprachlichen Ebene, in der sich die Sprache als Rede einer Verobjektivierung durch den Begriff entzieht. 91 Als Letztes ist in Sein und Zeit im Rahmen der Bestimmung des zeitlichen Sinns des umsichtigen Besorgens in § 69 allgemein von der »vorprädikativen Struktur des Verstehens« die Rede, die für einen gliedernden Weltzugriff sorgt. 92 Diese zweite Okkurrenz des Terminus erlaubt es uns, abschließend einen Überblick über das gesamte Phänomen des Vorprädikativen zu gewinnen. Denn in diesem Zusammenhang scheint das Vorprädiktive nicht ausschließlich dem tischen Wende der Hermeneutik Heideggers (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994). Lafont baut dies zu einer Kritik an Heidegger aus, indem sie ihm einen Sprachidealismus vorwirft bzw. ihm die Auffassung unterstellt, Sprache als die »Instanz« zu verstehen, die »vorgängig präjudiziert, was innerweltlich begegnen kann« (Lafont, Sprache und Welterschließung, 20–21). 90 Hierfür sei auf den Aufsatz von Christoph Demmerling »An den Grenzen der Sprache? Heideggers Zeug-Analyse und die Begrifflichkeitsthese« (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 64 [1], 2016, 1–19) verwiesen, wo der Autor eine nichtsprachliche, praktische Auffassung von Begriffen vertritt und Heideggers Behauptung eines vorprädikativen praktischen Erfassens von »Etwas als Etwas« mit der Fähigkeit eines »begrifflichen Verstehens« identifiziert. Wie Demmerling hat auch Alasdair MacIntyre eine nicht-linguistische Variante der Begrifflichkeitsthese ausgearbeitet, indem er Heideggers hermeneutische Als-Struktur als eine »begriffliche Fähigkeit« herausstellt, »die die Sprache erst ermöglicht«. Siehe: Alasdair MacIntyre, Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Hamburg, Rotbuch-Verlag, 2001, 59–60. 91 Diese Interpretation lässt sich auf der Grundlage von Heideggers Schritt in Sein und Zeit vertreten, das Phänomen des In-der-Welt-seins durch den Grundzug eines »vorbegriffliche[n] Verstehen[s]« zu definieren. Siehe: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 157. Die Rede von »Vorbegrifflichkeit« lässt sich weiterhin mit einer Textstelle aus der Marburger Vorlesung von 1927 in Einklang bringen, in der Heidegger über ein »vorgängiges, vorbegriffliches Verstehen von Vorhandenheit« spricht (Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 297–299). 92 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 476.
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Das Vorprädikative – eine Einführung
Existenzial der Rede gleichzukommen, sondern allgemeiner dem Prozess des Verstehens als eines fundamentalen Existenzials, welches zusammen mit der Rede und der Auslegung die bedeutende Gliederung der Welt bewirkt.
4.
1927–1929: Die Besinnung auf die Transzendenz
Bereits in Sein und Zeit findet man ausreichende Indizien, um zu argumentieren, dass der hermeneutische Prozess der Bildung der Bedeutsamkeit mit der Transzendenz des Daseins gleichzusetzen ist. Und zwar, weil die »Transzendenz des Daseins« diejenige Bewegung ist, in der das Dasein das Seiende dadurch überschreitet, dass es vor jedem ontischen Verhältnis zum Innerweltlichen die Welt als einen Bewandtniszusammenhang apriorisch versteht. 93 Diese Transzendenz des Daseins, welche laut Sein und Zeit das objektivierend-theoretische Verhalten ermöglicht, 94 kann daher als dasjenige vorprädikative Verstehen interpretiert werden, in dem das apophantische Thematisieren des Vorhandenen begründet liegt. Die Analyse der daseinsmäßigen Transzendenz wird aber erst in den Vorlesungen nach Sein und Zeit ausführlich durchgeführt und nimmt einen erstrangigen Platz in den Schriften aus den Jahren 1928 bis 1930 ein. Es ist zu beachten, dass die ganze Problematik der Transzendenz, deren Umgrenzung Heideggers Bemühungen in den Jahren 1927 bis 1930 anvisieren, eine Neuformulierung der Frage nach dem Vorprädikativen nach sich zieht. Die Transzendenz bezeichnet ein »Grundgeschehen der Existenz« 95, welche sich sowohl in ontologischer als auch in ontischer Hinsicht als ein vorprädikatives Geschehen erweist. Dieses Transzendenz-Geschehen wird in den Vorlesungen von 1927 und 1928 strikt ontologisch als ein ständiger, jedem ontischen Verhalten vorgängiger Verstehensprozess definiert, welcher im Verstehen von Welt 96 – d. h. in der apriorischen Erschließung eines Bedeutungshorizontes als Verwirklichungsraum der daseinsmäßigen Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 481. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 481. 95 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 214. 96 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 212: »Wohin das Subjekt transzendiert, ist das, was wir Welt nennen«. Vgl. auch Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 429, wo Weltverstehen mit Transzendenz gleichgesetzt wird. 93 94
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Möglichkeiten – und zugleich im gleichursprünglichen Verstehen des Seins des jeweils begegnenden Seienden besteht. 97 Dieses ständige Transzendieren des Daseins gleicht offensichtlich dem vorprädikativen Verstehen in Sein und Zeit. Diese ontologische Definition der Transzendenz, welche in den Jahren 1927 und 1928 vorwiegt, wird dann zur Voraussetzung für die etwas spätere, in der Vorlesung von 1928/29 ausgeführte Untersuchung der ontischen Bewegungen, in denen die Existenz faktisch transzendiert. Hier nimmt Heidegger die ontischen Vollzugsweisen des Transzendierens in den Blick: einerseits das vom Einzelnen jeweils vollzogene Verstehen der eigenen Nichtigkeit, andererseits die Reaktionsbewegung der Suche nach einem festen Halt entweder außer sich (im Ontischen) oder in seinen eigenen Kräften (im eigenen Sein). 98 Auch dieses konkret-faktische Transzendieren, 99 auf welches sich die Vorlesung von 1928/29 innovativ konzentriert, 100 lässt sich als ein vorprädikatives Verstehen deuten und zwar als Verstehen der eigenen Nichtigkeit und das Suchen eines Halts. All dies gehört zu einem vortheoretisch-vorprädikativen Selbstverstehen, in dem das einzelne Leben keine betrachtend-objektivierende Reflexion auf sich selbst ausübt, 101 sondern sich in »Körper und Leib« 102 als konkret begrenzt verspürt und versucht, mit diesen Grenzen praktisch umzugehen. Verstanden als dieses ontisch-ontologische Grundgeschehen im Dasein wird die Transzendenz in den Jahren nach Sein und Zeit zu einem Schlüsselbegriff, anhand dessen sich auch Heideggers damaliVgl. u. a. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 170. 98 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 342. Heidegger analysiert diese zwei Möglichkeiten des Halt-Gewinnens in der Besprechung der zwei Gestaltungsweisen der Weltanschauung (vgl. dazu Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 357–376). 99 Heidegger spricht ausdrücklich von einer »Faktizität der Transzendenz« (Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 367). 100 In Heideggers Vorlesung von 1928/29 heißt es, dass das ontologische Seinsverständnis nur ein »Ingredienz« (vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 307–308) der Transzendenz sei, weil zu dieser auch die Momente der Geworfenheit, der Faktizität und der Nichtigkeit gehörten (vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 329 und 332). Die Konfrontation mit der Nichtigkeit ist eine ontische Vollzugsweise des Seinsverständnisses, also des Verstehens des eigenen Seins, und daher ein faktischer Vollzugsmodus des Transzendierens. 101 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 148. 102 Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 328. 97
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Das Vorprädikative – eine Einführung
ges Projekt einer »Metaphysik des Daseins«, welche ihre Vervollständigung in der »Metaphysik der Existenz« 103 findet, verdeutlichen lässt. Sowohl in Heideggers Vorlesung von 1928 als auch in der von 1928/29 wird die Frage nach der Transzendenz nicht nur explizit in den Rahmen der Metaphysik des Daseins eingeordnet, sondern auch als ein für diese Metaphysik zentrales Problem betrachtet. 104 Indem die Herausarbeitung des Transzendenzbegriffes den beschränkten Horizont der Existenzialanalytik von Sein und Zeit verlässt und zur Hauptaufgabe der Metaphysik des Daseins erhoben wird, unterzieht Heidegger diesen Begriff einer breiteren Analyse, in der er ihn in folgenden neuen Hinsichten berücksichtigt: a. im Hinblick auf die Dimension des Faktischen; b. als metaphysisches Grundgeschehen des Menschseins. Diese zweifache Blickrichtung bietet zudem neue Gesichtspunkte, die dazu dienen, die Frage nach dem Vorprädikativen weiter zu bedenken und in einer perspektivischen Vielfalt auszuloten. Dies soll nun kurz den zwei erwähnten Punkten entsprechend erläutert werden. In Anbetracht dessen, was im ersten Punkt genannt wurde – dass nämlich die Transzendenz 1928/29 als jeweils faktisch vollzogenes Transzendieren betrachtet wird –, lässt sich das Vorprädikative als ein existenzieller Verstehensprozess interpretieren, durch den der Einzelne sich Klarheit darüber verschafft, wie sein Leben konkret zu führen und auch ethisch zu gestalten ist. Als zweiter Aspekt wurde die Betonung des metaphysischen Charakters der Transzendenz hervorgehoben. Bekanntlich ist Heidegger 1929 davon überzeugt, dass die Transzendenz – verstanden als das Grundgeschehen des Übersteigens der ontischen Sphäre in Richtung der Seinsdimension – die »Metaphysik« selbst, d. h. den jedem Menschen innewohnenden ursprünglichen metaphysischen Drang ausmacht. 105 Dieses Metaphysische im Menschen – diese metaphysica naturalis – macht das VorHeidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 199. Zur »Metaphysik der Existenz« siehe: Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers ›Grundprobleme der Phänomenologie‹. Zur ›Zweiten Hälfte‹ von ›Sein und Zeit‹, Frankfurt am Main, Klostermann, 1991, insb. 53–56. 104 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 214–215 und Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 338. 105 Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, GA 9, 103–122, hier 122 und Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 242. Vgl. dazu François Jaran, »La pensée métaphysique de Heidegger. La transcendance du Dasein comme source d’une metaphysica naturalis«, Les Études philosophiques, 76 (1), 2006, 47–61. 103
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prädikative aus. Was die Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? besonders sichtbar macht, ist die Tatsache, dass dieses metaphysische Geschehen in der Grunderfahrung der Angst stattfindet 106 und daher kein rational-begriffliches ist, sondern ein pathisches, d. h. passiv erlitten und affektiv geprägt. Dadurch erweist sich das TranszendenzGeschehen zugleich als vorprädikativ, weil in der Angst jedes »›Ist‹Sagen«, d. h. jede bedeutende sprachliche Artikulation, ausfällt. 107 Die »Sprachlosigkeit« 108 der Angst akzentuiert also den vorprädikativen Charakter des menschlichen Transzendierens, welches da ansetzt, wo sich die Sprache dem Vermögen des Menschen entzieht.
5.
Die Freiburger Vorlesung von 1929/30
Eine noch differenziertere Auffassung der Rolle, die der Begriff des Vorprädikativen nach Sein und Zeit erreicht, bietet die Vorlesung vom Wintersemester 1929/30, die Heidegger unter dem Titel Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit in Freiburg hält. Im Unterschied zu Sein und Zeit geht es Heidegger hier nicht um die Frage nach dem bedeutungsmäßigen Sichzeigen der Welt im alltäglichen Besorgen, sondern vielmehr um die Art und Weise, wie das Bilden einer Welt im Dasein »geschieht«. 109 Im Kontext der Entfaltung dieser Frage taucht der Terminus »vorprädikativ« in § 73 explizit auf, wo erneut nach der Bedingung der Möglichkeit der Aussage-Struktur gefragt wird. Als »vorprädikativ« wird in diesem Kontext das hermeneutische »Offensein des Menschen für das Seiende« bezeichnet. 110 Diese Ursprungsdimension der Aussage wird als ein »Grundgeschehen im Dasein« 111 gefasst, welches die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, sich über Seiendes auszusprechen. 112 Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, insb. 106–109. Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 112. 108 Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, in: Wegmarken, GA 9, 303–312, hier 312. 109 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 262. 110 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 494. 111 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 498. 112 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 505–506. 106 107
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Das Vorprädikative – eine Einführung
Die Feststellung der Fundiertheit der Aussage gegenüber dem ursprünglichen Status des vorprädikativen Offenbarmachens nimmt Heidegger hier zum Anlass, um die überlieferte Definition der Wahrheit als adaequatio bzw. Übereinstimmung des Urteils mit der Sache zurückzuweisen. 113 Eine solche Auslegung treffe keine Wesensbestimmung der Wahrheit, insofern sie nichts über das aussage, »was der adaequatio zugrunde liegen muß« 114. Ganz im Gegenteil bringt uns, so Heidegger, die sogenannte Satzwahrheit »nie überhaupt« vor das entborgene Seiende, sondern setzt es schon voraus. 115 Die Prädikation ist demnach kein »primäres ursprüngliches Offenbarmachen« 116, sondern nur die Grundform, in der sich Wahrheit und Falschheit zum Ausdruck bringen lassen. Dagegen gelte es, als ursprünglicheren »Ort der Wahrheit« die vorprädikative Offenbarkeit des Seienden anzuerkennen. 117 Diese Offenbarkeit ist das, was sich dem Dasein durch das primäre Offenbarmachen bzw. Offensein für das Seiende erschließt. In diesem vor dem Vollzug jeder Aussage im Dasein statthabenden »Grundgeschehen« besteht für Heidegger das Wesentliche der sogenannten »Weltbildung«. 118 Dies wird in § 74 und § 75 besonders deutlich, wenn das genannte Geschehen als jener Spielraum erkannt wird, in dem wiederum die Weltbildung, und daher die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen, geschieht. 119 Heidegger begründet diese ursprüngliche Verbindung zwi113 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 492–498. 114 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 497. 115 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 495. 116 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 502. 117 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 495. Auch in Vom Wesen des Grundes aus dem Jahr 1929 spricht Heidegger auf eine ähnliche Weise von einer »vorprädikativen Offenbarkeit« und einer »vorprädikativen Wahrheit« (Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, GA 9, 123–175, hier 131). 118 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 509. 119 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 509–513. Wichtig ist dabei, zu beachten, dass für Heidegger Weltbildung nicht deckungsgleich mit dem Grundgeschehen des vorprädikativen Offenbarmachens ist. Dies wird besonders deutlich, wenn er in der genannten Vorlesung schreibt, dass dieses durch den Rückgang vom λόγος gewonnene Grundgeschehen
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schen dem vorprädikativen Grundgeschehen des Offenbarmachens und der Weltbildung, indem er dieses Geschehen auf die Einheit der Struktur des Entwurfs des Daseins zurückführt. 120 Hierbei bezeichnet er den Entwurf als die alshafte Ermöglichung (bzw. als das »Entbergen der Ermöglichung« 121) des ontischen Entwerfens im alltäglichen Verhalten. »Im Geschehen des Entwurfs«, so Heidegger, »bildet sich Welt«. 122 Die hier dargelegte Deutung der Weltbildung, welche im Verlauf von Heideggers Vorlesung auch unter dem Ausdruck »Weltoffenheit des Menschen« vorkommt, 123 dient darüber hinaus dazu, die differentia specifica bzw. das charakteristische Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Menschen und dem als »weltarm« 124 bezeichneten Tier aufzuzeigen. Gerade weil das Grundgeschehen der Weltbildung als vorprädikativ charakterisiert wird, ist die anthropologische Differenz nicht primär in der theoretischen, reflexiven Leistung des Daseins zu verorten, wie es im philosophisch-anthropologischen Kontext der 1920er Jahre üblich war, 125 sondern eben in jener Ursprungsdimension des Offenseins, die bereits vor jeder theoretischen Besinnung, objektiven Distanzierung oder propositionalen Vergegenwärtigung im Dasein am Werk ist. 126 Dieser Punkt lässt die Feststellung zu, dass die Vorlesung von »nicht das [erschöpft], was wir mit Weltbildung meinen, aber [es] gehört wesentlich dazu. Es muß demnach in sich auf die Welt bezogen sein. In ihm muß Offenbarkeit von Seiendem als solchem im Ganzen geschehen« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 512). 120 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 527. 121 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 529. 122 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 531. 123 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 498. 124 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 261. Vgl. dazu Heidegger, Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/ 39), GA 95, 282. 125 Hier ist insb. Heideggers Ansatz zur Tierfrage mit Schelers Kennzeichnung des Menschen als »weltexzentrisch« in Die Stellung des Menschen im Kosmos (Hamburg, Meiner, 2018) zu vergleichen. 126 Vgl. Maria Agustina Sforza, »Anthropologische Differenz bei Heidegger. Überschneidungen zwischen Ek-sistenz, Leben und Technik«, in: Andreas Oberprantacher, Anne Siegesleitner (Hg.), Mensch Sein: Fundament, Imperativ oder Floskel? Innsbruck, Innsbruck University Press, 2017, 105–115.
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Das Vorprädikative – eine Einführung
1929/30 Heideggers Projekt einer Metaphysik des Daseins durch eine »vergleichende Betrachtung« zwischen Mensch und Tier und also durch eine anthropologisch konnotierte Analyse ergänzt. 127 Wie Heidegger selbst in der Vorlesung von 1928 explizit macht, ist aber »das Fundamentalthema der Metaphysik [des Daseins]« das »Transzendenzproblem«. 128 Von hier aus lässt sich eine Brücke vom Begriff der »Weltbildung« – als ontologisches Merkmal des Menschen und vorprädikatives Geschehen – zur Transzendenz des Daseins – als metaphysischem Grundproblem – schlagen: ein Zusammenhang, von dem schon in Heideggers Vorlesung aus dem Wintersemester 1928/29 die Rede war. 129 In der 1929 veröffentlichten Schrift Vom Wesen des Grundes stellt Heidegger eine noch explizitere Gleichsetzung zwischen Transzendenz und Weltbildung her: »›Das Dasein transzendiert‹ heißt: es ist im Wesen seines Seins weltbildend«. 130 Dies bleibt im Hintergrund der Vorlesung von 1929/30, wirkt jedoch als eine leitende Prämisse, die noch einmal bestätigt, dass in den Jahren zwischen 1927 und 1930 die Frage nach dem Vorprädikativen an einen Schnittpunkt mit dem damals ausführlich behandelten Problem der Transzendenz gelangt und sich daher allgemeiner in den Rahmen der Metaphysik des Daseins einordnen lässt. Nicht nur in ihrer Herangehensweise an das Weltphänomen geht die Vorlesung von 1929/30 einen Schritt über den fundamentalontologischen Ansatz von Sein und Zeit hinaus, sondern auch hinsichtlich eines veränderten Blicks auf das Geschichtliche. Heideggers neues geschichtliches Bewusstsein kündigt sich explizit im ersten Teil der Vorlesung an, in dem er das Phänomen der Grundstimmung des Philosophierens analysiert. Von dieser schreibt Heidegger, dass sie »sich wandelt und nicht verbindlich für jedes Zeitalter [ist]«. 131 Das Gleiche kann aber auch für das Phänomen der Offenbarkeit des Seienden geltend gemacht werden. Denn das Offensein des Menschen für das Seiende findet nach Heideggers Behauptung immer in einer 127 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, insb. 263. 128 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 281. 129 Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 314: »In-der-Welt-sein als Transzendenz, als transzendentales Spiel ist immer Weltbildung«. 130 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 158. 131 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 270.
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Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
Grundstimmung statt. 132 Die akzentuierte Rolle des Geschichtlichen in dieser Vorlesung lässt sich darüber hinaus hervorheben, indem man den hier ausgearbeiteten Begriff der »Weltbildung« und seinen ausgeprägten vorprädikativen Charakter rückblickend vom Begriff der Weltaufstellung her analysiert, von dem in Heideggers Kunstwerksaufsatz aus den Jahren 1935/36 die Rede ist. 133 Nicht nur ist in der Vorlesung von 1929/30 – ähnlich wie im Kunstwerkaufsatz – von einer Herstellung der Welt durch den Menschen nirgendwo die Rede; vielmehr wird vom »Grundgeschehen der Weltbildung« gesprochen, auf deren Grund ein Mensch allererst existieren kann. 134 In diesem Zusammenhang gilt es vor allem zu betonen, dass sich mit Blick auf Heideggers späte Kunstwerkabhandlung die Weltbildung – ähnlich wie die Weltaufstellung – als geschichtsgründend bezeichnen lässt. 135 Die Weltbildung führt nämlich eine Offenbarkeit des Seienden herbei, die keineswegs immer die gleiche bleibt, sondern jedes Zeitalter neu auszeichnet. Von hier aus lässt sich abschließend behaupten, dass Heideggers Vorlesung von 1929/30 den Boden für jene Akzentverschiebung auf das Geschichtliche vorbereitet, welche er nach der Kehre grundsätzlich vollzieht.
6.
Die Zwanziger Jahre – Gesamtübersicht
Vor dem Hintergrund einer textnahen Interpretation der Texte der Zwanziger Jahre lässt sich allgemein sagen, dass eine grundsätzliche Äquivalenz zwischen dem Vorprädikativen und dem Hermeneutischen besteht. Vorprädikativ ist die hermeneutische Strukturierung des phänomenalen Horizontes, d. h. die Bildung eines Bedeutungskomplexes, welche als transzendentale Bedingung der Möglichkeit für das ontische Existieren und Erfahren gilt. Und dennoch stützen die Texte aus dem genannten Zeitraum nicht nur diese zweifellos 132 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, GA 9, 177–202, hier 192–193. 133 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. 134 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 414–415. 135 Zum Phänomen der Weltaufstellung siehe: Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege Abhandlung »Der Ursprung des Kunstwerkes«, Frankfurt am Main, Klostermann, 1994, 384.
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Das Vorprädikative – eine Einführung
exakte Lektüre, sondern auch eine andere, wenn auch freiere, Auslegungshypothese, die nicht als eine Alternative, sondern als eine Erweiterung und Vertiefung des bereits festgelegten Bedeutungsfeldes des Vorprädikativen anzusehen ist. Laut dieser anderen Interpretation weist der Begriff des Vorprädikativen nicht nur auf die hermeneutische Seite des Existierens, also auf die Erfahrung und Bildung dessen, was bedeutsam ist, sondern zugleich auf eine tiefere Dimension der Existenz, und zwar auf eine Dimension, die sich als vorprädikativ definieren lässt, weil sie sogar vor-hermeneutisch ist. Dementsprechend wird das Vorprädikative nicht durch das Hermeneutische ausgeschöpft, sondern spielt zugleich auf eine Dimension an, welche der Erfahrung und Strukturierung des Bedeutsamen vorangeht. In diese Richtung lassen sich vor allem Heideggers Beschreibungen der Angst (um 1927 und um 1929) und die eigentümliche Erschließungsweise des Existenzials der Befindlichkeit deuten. 136 Einerseits kann man die Grundstimmung der Angst als eine vorprädikative, vor-hermeneutische ontische Erfahrung interpretieren, in welcher der Bereich der Bedeutsamkeit vorübergehend suspendiert und transzendiert wird. 137 Andererseits kann gezeigt werden, dass das eigentümliche ontologische Erschließen der Befindlichkeit – verstanden als andere transzendentale Quelle des Erfahrens (neben dem Verstehen) – noch kein Bilden von Bedeutungen ist, sondern das pure Erschließen des Faktums, dass es etwas überhaupt gibt. Durch die Befindlichkeit wird der Mensch vor jedem Zugang zum Seienden als Seiendem (zum »Etwas als Etwas«) 138 mit dem puren Dass-sein des Seienden (mit dem, was Heidegger »Ur-etwas« nennt) 139 konfrontiert. 140 Die Befindlichkeit schließt dem Dasein das urphänomenal Gegebene auf, d. h. die Tatsache, dass etwas ist und nicht nichts. Dieses Erschließen geht der dem Verstehen eigenen Erschließungsfunktion voraus – nicht in einem chronologischen, sondern in einem transzendentalen Sinne –, weil das Verstehen als geworfener Entwurf 136 Vgl. Chiara Pasqualin, Il fondamento »patico« dell’ermeneutico. Affettività, pensiero e linguaggio nell’opera di Heidegger, Roma, Inschibboleth, 2015, insb. 179–427. 137 Vgl. dazu auch Chiara Pasqualin, »Der ›pathische‹ Grund des Hermeneutischen. Die ontologische Priorität der Befindlichkeit vor dem Verstehen«, Heidegger Studien, 31, 2015, 129–151. 138 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 198. 139 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 219. 140 Vgl. Pasqualin, Il fondamento »patico« dell’ermeneutico, insb. 225–247.
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Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
nur das auf seine eigene, bedeutungsartige Weise erschließen kann, was das Dasein durch die Befindlichkeit immer schon als pures Dass erfahren und erlitten hat. 141 Dieses durch die Befindlichkeit ermöglichte Erfahren des urphänomenal Gegebenen macht eine Dimension der Existenz aus, welche als vorprädikativ in einem radikalisierten Sinne definiert werden kann, weil das befindliche Erschließen die tiefere – sogar vor-hermeneutische – transzendentale Zugangsweise zum Realen ausmacht. Wenn man sich den Begriff des Vorprädikativen sowohl hinsichtlich seiner auffälligeren Gleichsetzung mit dem Hermeneutischen als auch in Anbetracht seiner möglichen Anspielung auf das Vor-hermeneutische vor Augen hält, lässt sich die zentrale Rolle dieses Begriffes durch die Texte der 1920er Jahre, in denen auch das Wort »vorprädikativ« verwendet wird, durchaus belegen. Die Tatsache, dass hingegen innerhalb des Ereignisdenkens Heideggers der Terminus »vorprädikativ« kaum vorkommt, darf jedoch unseren Blick nicht dafür verschließen, dass die frühere vielfältige Ausarbeitung dieses Begriffes weiter eine Wirkung auf Heideggers Überlegungen ausübt. In der Tat eignet sich der Begriff des Vorprädikativen dafür, die wichtigsten Themenbereiche des seinsgeschichtlichen Denkens in ihren wesentlichen Aspekten zu kennzeichnen.
7.
Das seinsgeschichtliche Denken
Als vorprädikativ lässt sich zunächst der in den Beiträgen zur Philosophie beschriebene Prozess der sogenannten »Gründung« deuten. 142 Die Gründung der Wahrheit des Seins bedeutet in den Beiträgen das »Ver-stehen des Seins« 143. Daher kann man die Gründung als eine neue Deutung des fundamentalontologischen Verstehens des Seins betrachten. Mit dem Begriff der Gründung beabsichtigt Heidegger, das Missverständnis des Verstehens im Sinne eines subjektivistischen Aktes, zu welchem Sein und Zeit noch Anlass gab, zu überwinden. 144 Die Gründung ist ein Entwurf, dessen Geworfenheit nun Vgl. Pasqualin, Il fondamento »patico« dell’ermeneutico, insb. 225–236. Zur »Gründung« vgl. insb. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 293–392. 143 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 259. 144 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 259, 295 und 303. 141 142
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Das Vorprädikative – eine Einführung
radikal als das Ereignet-sein des Verstehens durch das Sein bedacht wird. 145 Der Werfer des Entwurfes ist somit kein Subjekt, kein Herr seiner selbst, sondern wird als ein durch das Sein Geworfener zu dessen Eigentum und fügsamem Wächter. Trotz der stärker akzentuierten Geworfenheit ist die Gründung aus dem Ereignisdenken, ähnlich wie das Verstehen des Seins in der Fundamentalontologie, noch immer ein vorprädikatives Geschehen. Der vorprädikative Charakter der Gründung deutet auf einen doppelten Aspekt hin: a. Sie hat keine prädikative Funktion; b. sie umgrenzt ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen, welches nie nach dem Maßstab der prädikativen Richtigkeit verstanden werden kann. Um dies zu verdeutlichen, lässt sich auf die beiden für Heidegger wichtigsten Vollzugsweisen der Gründung hinweisen, nämlich das Denken und das Dichten. 146 Die prädikative Funktion, welche hier der gründenden Kraft des Daseins gegenübergestellt wird, lässt sich dem Charakteristikum der Aussage entnehmen. Diese ist das sprachliche Feststellen eines vor dem Subjekt liegenden, objektivierbaren und daher »vorhandenen« Tatbestandes. Der Tatbestand wird in der Aussage (auf richtige oder falsche Weise) dargestellt. Auszeichnend für die Aussage ist somit ihre repräsentativ-darstellende Funktion. Heideggers Anliegen besteht jedoch gerade darin, das Denken und das Dichten von dieser prädikativen Funktion zu befreien. So wenig, wie die Kunst eine mimetische Funktion hat, so wenig ist das Denken für Heidegger ein bloßes Vor-stellen. Einerseits betont Heidegger, dass das Kunstwerk weder die Wiedergabe des jeweils vorhandenen Seienden noch die Reproduktion eines vermutlichen Allgemeinwesens der Dinge ist. 147 Andererseits bemüht er sich darum, die denkerische Gründung als das Gegenteil des modern-machenschaftlichen Vorstellens, 148 als eines Aktes, in dem das Phänomen zu einem vom Subjekt regulierten Gegenstand gemacht wird, zu deuten. 149 Die repraesentatio – hier im Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 239 und 304. Denken und Dichten sind zwei Weisen der sogenannten »Bergung« (Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], GA 65, 302). Der Begriff der »Bergung« bezeichnet seinerseits die Art und Weise, wie das Dasein die Wahrheit des Seins gründet. In der Gründung »geht [das Dasein] nicht vom Seienden zu dessen Sein über«, weil es hingegen das Sein inmitten des Seienden birgt (vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], GA 65, 322). 147 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 22. 148 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 456–465. 149 Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Holzwege, GA 5, 75–113, hier 91: »Ganz anderes meint […] das neuzeitliche Vorstellen, dessen Bedeutung das Wort 145 146
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Sinne der prädikativen Funktion – ist also eindeutig für Heidegger das Gegenparadigma des denkerischen und dichterischen Entwurfes. Das Verb »gründen« markiert gerade die stiftende Kraft eines Verstehens, welches keine Vergewisserung (und Versicherung) des schon Bestehenden ist, sondern die Eröffnung neuer Bedeutungshorizonte. 150 In dieser Gegenüberstellung lässt sich der frühere Unterschied zwischen der apophantischen (d. h. vorhandenheitskonstatierenden) Funktion des λόγος und dessen semantisch-hermeneutischer (bedeutungsbildender) Funktion wiedererkennen. Als zweiter vorprädikativer Charakter der Gründung wurde die Verschränkung zwischen dieser und dem ursprünglichen Wahrheitsgeschehen benannt. So wie sich Heidegger in der Fundamentalontologie gegen die Auffassung der Aussage als des primären Wahrheitsortes wendet und dagegen dafür plädiert, die Dimension der Wahrheit ursprünglicher im vorprädikativen Verstehen zu verorten, so führt er auch die Kritik am üblichen prädikativen Wahrheitsbegriff weiter 151 und interpretiert die Gründung als ein ursprüngliches Wahrheitsgeschehen. Die Gründung ist das »höchste Tun« 152, in dem das Dasein die Wahrheit des Seins bzw. dessen sich verbergende Lichtung in einem Seienden geschehen und sich offenbaren lässt und sie damit bewahrt. Dadurch wird das Seiende selbst wahrhaftig in dem Sinne, dass es nun als ein in das Licht des Seins Gestelltes entborgen wird. Beispielhaft für das Gründen als dieses Geschehenlassen der Wahrheit des Seins in dem dadurch unverborgenen Seienden ist
repraesentatio am ehesten zum Ausdruck bringt. Vorstellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden, zu beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen«. 150 Und dennoch ist das stiftende Gründen kein Schaffen aus dem Nichts, keine »Erschaffung« (Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], GA 65, 31), sondern beruht auf dem ursprünglicheren Gründen des Seins selbst. So muss das Gründen, bevor es stiftend und bauend sein kann, »den Grund als gründenden wesen lassen« (Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], GA 65, 307). Zu diesem rezeptiv-empfangenden Charakter des Gründens, welches der Geste des Holens von Wasser aus einer Quelle ähnelt, vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 63–64. 151 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 358. Wegbahnend für diese spätere Kritik der prädikativen Wahrheit (und für die Besinnung auf eine vorprädikative Dimension der Wahrheit) ist: Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 185: »Wenn aber nur durch diese Offenständigkeit des Verhaltens die Richtigkeit (Wahrheit) der Aussage möglich wird, dann muß das, was die Richtigkeit erst ermöglicht, mit ursprünglicherem Recht als das Wesen der Wahrheit gelten«. 152 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 71.
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Das Vorprädikative – eine Einführung
das künstlerische Schaffen bzw. das Dichten, welches Heidegger als ein »Ins-Werk-Setzen« der Wahrheit versteht. 153 Das Wahrheitsgeschehen, das in der denkerischen und dichterischen Gründung am Werk ist, weist einen vorprädikativen Charakter auf. 154 Einerseits, weil die Wahrheit (sowohl des Seins als auch des Seienden), die hier ins Spiel kommt, weder mit der Eigenschaft einer Sache noch mit der exakten Reproduktion dieser Eigenschaft in der Prädikation zusammenfällt. 155 Andererseits, weil auch das gründende Geschehenlassen der Wahrheit kein Wiedergeben im Sinne eines vermeintlich richtigen Vorstellens ist. 156 Zusammenfassend bietet die Richtigkeit, d. h. die überlieferte metaphysische Deutung der Wahrheit am Leitfaden der Aussage, im Ereignisdenken keinen Maßstab mehr. 157 Die weitere Geltung des Begriffes des Vorprädikativen im Ereignisdenken Heideggers lässt sich nicht nur am Phänomen der Gründung nachweisen, sondern auch, indem man sich der anderen Seite
Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 49 und 65. Hier ist eine mögliche Missdeutung, welche das Wort »vorprädikativ« suggerieren könnte, zu vermeiden. Heidegger selbst hat in einer 1936 verfassten Anmerkung zu Vom Wesen des Grundes darauf hingewiesen. Vgl. Heidegger, Zum Ereignis-Denken, GA 73.2, 1069: »Wahrheit – als Un-verborgenheit – gewiß! Aber wird nicht der erste Entwurf in seiner ganzen Weite mißdeutet – wenn diese Wahrheit als ›vor-prädikative‹ gefaßt wird – bleibt so die Wahrheitsfrage nicht doch noch immer und gerade in Abhängigkeit (wenn auch in der ab-lehnenden) von Satz-wahrheit und welche Folgen hat das für die auch jetzt noch sich breitmachende Verengung! (Vgl. Wahrheitsvortrag 1930)«. Heidegger ist also der Ansicht, dass die Rede von einer »vorprädikativen Wahrheit« (welche in seinem früheren Denken explizit vorkommt) Gefahr läuft, diese Wahrheit rein vom Sprachlichen her zu erfassen und sie in eine gewisse Abhängigkeit von der »prädikativen« Wahrheit zu bringen. Wenn man aber das »vor« im Wort »vorprädikativen« eher im Sinne des »Nicht-prädikativen« verdeutlicht, lässt sich der irreführende Abhängigkeitscharakter mildern oder sogar beseitigen. 155 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 41: »Unverborgenheit (Wahrheit) ist weder eine Eigenschaft der Sachen im Sinne des Seienden, noch eine solche der Sätze«. 156 Es kann, so Heidegger, »nach der ›Richtigkeit‹ eines Entwurfs überhaupt nicht gefragt werden und vollends nicht nach der Richtigkeit des Entwurfs, durch den überhaupt die Lichtung als solche gegründet wird« (Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], GA 65, 327). 157 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 185: »Im ersten Anfang ist die Wahrheit (als Unverborgenheit) ein Charakter des Seienden als solchen, und gemäss der Wandlung der Wahrheit zur Richtigkeit der Aussage wird die ›Wahrheit‹ zur Bestimmung des zum Gegenständlichen gewandelten Seienden. […] Im anderen Anfang wird die Wahrheit erkannt und gegründet als Wahrheit des Seyns«. 153 154
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des »kehrigen Bezugs« 158 von Mensch und Sein, nämlich dem Bereich des Seins, annähert. Auch der Spielraum des Geschehens des Seins macht eine vorprädikative Dimension aus. Dies besagt zunächst, dass das Sein für Heidegger weder ein Prädikat ist, d. h. der Inhalt eines Aussagesatzes, noch eine allgemeine Kategorie wie z. B. die »Seiendheit«, 159 welche für das metaphysische Denken maßgebend war. 160 Das Sein ist vielmehr ein Ereignis, das zwar zur Sprache – nicht aber in eine verallgemeinernde prädikative Sprache – gebracht werden kann, 161 aber sich nicht in der Sprache erschöpft. Das Sein ist nämlich für Heidegger nicht nur das, was sich durch die prädikative Sprache nicht bestimmen lässt, 162 sondern sogar das, was in der Sprache überhaupt »nie endgültig sagbar« 163 ist. Wenn aber das Sein seinem Wesen nach auf das Sagbare, auf das so oder so Gesagte, nicht reduzierbar ist, dann transzendiert sein Wesungsbereich die Dimension der Sprache selbst. Dadurch erweist sich das Sein in einem zweiten, noch radikaleren Sinne als vor-prädikativ, weil es nicht völlig sprachimmanent ist. Darüber hinaus zeigt Heidegger in den Beiträgen, dass das Sein der Ursprung der Sprache ist. 164 Auch hinsichtlich dieser Annahme, die Heidegger in anderen Kontexten ausführlicher entwickelt, 165 lässt sich das Sein als das »Vor-prädikative« in einem dritten Sinne berücksichtigen. Das Präfix »vor-« weist nun darauf hin, dass das Sein nicht nur die Bedingung jeder Prädikation ist, 166 sondern sogar das ursprüngliche Fundament Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 7. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 217. 160 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, insb. 179–186 161 Die Denkenden und die Dichtenden sind diejenigen, die durch ihr Sagen die Offenbarkeit des Seins »zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren« (Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: Wegmarken, GA 9, 313–364, hier 313). 162 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 237. 163 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 460. 164 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, insb. 499 und 501. 165 Vgl. vor allem: Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12; Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74 und Heidegger, Vom Wesen der Sprache, GA 85. 166 Nur weil das Sein offenbar ist, kann die Aussage das Seiende selbst zum Gegenstand machen. Eine analoge Argumentation entfaltet Heidegger bezüglich des Zusammenhanges zwischen dem Nichts und der Wissenschaft: Das theoretische Verhalten, welches das Seiende zum Thema hat, gründet in einer vorgängigen Offenbarkeit des Ontischen »aufgrund der Selbstoffenbarung des Nichts«. Vgl. dazu: Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 121. 158 159
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Das Vorprädikative – eine Einführung
der Sprache und jeder menschlichen – immer im Medium der Sprache geschehenden – Gründung. Der letzte, aber zweifellos wichtigste Beleg für die Relevanz des Begriffs des Vorprädikativen im späteren Denken Heideggers ist seinen Überlegungen zum Sprachstil der Dichtung und der Philosophie zu entnehmen. Die zentrale Rolle, welche das Denken und das Dichten im Ereignisdenken spielen, beweist Heideggers andauerndes Interesse für Sprachmodi, welche nicht prädikativ sind. Dichterische Verse und die Sätze der Philosophie sind für Heidegger keine Aussagen im engen Sinne. Je reiner das Sagen des Dichters, »umso ferner«, so Heidegger, »ist sein Gesagtes der bloßen Aussage, über die man nur hinsichtlich ihrer Richtigkeit oder Unrichtigkeit verhandelt«. 167 Noch ausdrücklicher formuliert Heidegger in Sprache und Heimat, dass »das Gedicht nicht in Aussagen [spricht]«, wenn mit der Aussage das Feststellen von etwas Vorgegebenem gemeint wird. 168 Obwohl die Verse »wie Aussagesätze« sprechen, stellen sie doch nie ein Vorhandenes fest. 169 Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die dichterische Sprache als eine vorprädikative Sprache, als ein λόγος σημαντικός eher denn als ein λόγος ἀποφαντικός. Das Gleiche gilt für die Sprache des Ereignisdenkens Heideggers. In den Beiträgen stellt sich Heidegger explizit die Frage, in welcher Grundform sich das Sagen des Seins halten müsse. Indem das denkerische Sagen das Sein nie zum Gegenstand hat und machen soll, ist dieses Sagen kein Aussagen. Den seinsgeschichtlichen Satz »das Seyn ist« kann man wohl als eine Aussage nehmen, aber dies würde den Sinn des Satzes dadurch verfälschen, dass das Sein zum vorhandenen Seienden gemacht würde. 170 In einem anderen Kontext drückt sich Heidegger wie folgt aus: »Das Sagen ›des‹ Seyns ist trotz des gegenteiligen und für das alltägliche Vorstellen und Mitteilen unausrottbaren Anscheins kein Aussagen über Vorfindliches, sondern das aus dem Seyn selbst als dem Ereignis ereignete Ersagen seiner Wesung«. 171 Wenn das Sagen des Seins kein Aussagen über das Sein, Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, in: Vorträge und Aufsätze, GA 7, 189–208, hier 194. 168 Vgl. Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 164–165. 169 Vgl. Heidegger, Die Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 7–30, hier 19. 170 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 473–474. 171 Heidegger, Besinnung, GA 66, 268. Vgl. dazu auch den selbstkritischen Hinweis, mit dem Heidegger seinen Vortrag von 1962 Zeit und Sein beschließt: »Ein Hindernis dieser Arbeit bleibt auch das Sagen vom Ereignis in der Weise eines Vortrags. Er hat 167
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sondern ein Sagen aus dem Sein sein muss, 172 so ist die denkerische Sprache keine endgültig definitorische, sondern vielmehr eine rezeptive und evokative, eine Sprache, die aus dem lang behüteten Schweigen der Besinnung entstanden ist und welche nur Winke geben kann. Der Wink 173 ist ein Sagen, welches die Ferne beinhaltet und das sich verbergende Sein nicht in eine völlig entschleierte Präsenz zwingt. Das winkende Wort ist auch höchstens σημαντικός, indem es »nicht und nie etwas vorstellt, sondern etwas be-deutet, d. h. etwas es zeigend, in die Weite seines Sagbaren verweilt« 174. Indem also die denkerische Sprache keine Aussagen liefert, sondern nur be-deutende Winke gibt, weist sie letztlich einen vorprädikativen Status auf.
Zu diesem Band Der vorliegende Band versammelt Beiträge von Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Ländern und Denktraditionen, die sich der Analyse wichtiger Aspekte widmen, die Licht in die Auslegung des Begriffs des Vorprädikativen in Heideggers Gesamtdenken bringen. Die Einzelbeiträge gliedern sich in drei thematische Sektionen. Die erste Sektion, Sprache, vereint drei Aufsätze, die den Zusammenhang zwischen dem Sprachlichen und dem Vorprädikativen aufs Neue ins Auge fassen.
nur in Aussagesätzen gesprochen« (Heidegger, Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, GA 14, 3–30, hier 30). Obwohl der Vortrag – oberflächlich gesehen – in Aussagesätzen formuliert ist, darf – so kann man aus diesem Hinweis folgern – das, was hier zur Sprache kommt, nicht im Sinne eines prädikativen Sagens missverstanden werden. 172 Vgl. dazu Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Transzendenz und Ereignis. Heideggers »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«. Ein Kommentar, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2019, 203: »Das anfängliche, das seinsgeschichtliche Denken denkt und spricht nicht in Aussage-Sätzen, sondern spricht aus einem hermeneutischen Hineinhören in die Wesung der Wahrheit des Seyns als Ereignis«. 173 Nach Coriando übernimmt der Wink aus dem Ereignisdenken die Rolle, welche die formale Anzeige im Rahmen der Fundamentalontologie innehatte. In beiden Phasen seines Denkens bemühe sich Heidegger darum, das philosophische Sprechen vom prädikativen Sagen abzugrenzen. Vgl. Paola-Ludovika Coriando, »Die ›formale Anzeige‹ und das Ereignis. Vorbereitende Überlegungen zum Eigencharakter seinsgeschichtlicher Begrifflichkeit mit einem Ausblick auf den Unterschied von Denken und Dichten«, Heidegger Studien, 14, 1998, 27–43. 174 Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen, Neske, 1959, 46.
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Das Vorprädikative – eine Einführung
In seinem Beitrag mit dem Titel »Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden? Überlegungen zur Sprache und Mit-Teilung« stellt Andreas Beinsteiner die voreilige Identifikation zwischen dem Vorprädikativen und dem Vorsprachlichen in Frage, die aus der Auffassung einer vorsprachlichen Sphäre rein pragmatischer Weltbezüge folgt. Demgegenüber verortet er die Leistung der Sprache darin, als »Medium« zu fungieren, im Lichte dessen uns Etwas als dieses oder jenes zugänglich werden kann. Die vorprädikative, alshafte Struktur der Sprache als Medium bringt der Autor schließlich mit einer vorgängigen Mit-Teilung bzw. »eine[r] geteilte[n] Alshaftigkeit« in Zusammenhang, welche gegenüber der Dimension pragmatischer Funktionalität irreduzibel bleibt. Diego D’Angelo widmet sich dem Thema des Vorprädikativen und seinem Verhältnis zum Sprechen anhand von Heideggers Interpretation der Rhetorik in seiner Aristoteles-Vorlesung aus dem Jahr 1924. In seinem Beitrag »Das Vorprädikative als Sprechanregung. Grundzüge der Heidegger’schen Interpretation der Rhetorik« konzentriert sich der Autor auf den aristotelischen Begriff von Furcht, um dadurch eine vorprädikative Schicht der Erfahrung zu umgrenzen, die zwar vorsprachlich ist, jedoch in einem Verhältnis gegenseitiger Bestimmung mit dem Sprechen steht. Auf diesem Weg gelingt es dem Autor u. a., eine grundlegende Tier-Mensch-Differenz aufzuzeigen, indem er die Möglichkeit und Grundbedingung des Sprechens auf eine ontologische Bestimmung des Menschen, nämlich auf dessen Unheimlichsein, zurückführt. Zum Abschluss der ersten Sektion widmet sich Matthias Flatscher dem Verständnis des Vorprädikativen durch die Auslegung von Heideggers hermeneutischem Sprachverständnis im Rückgriff auf Herders Sprachauffassung. In seinem Beitrag »Die hermeneutische Wende zur Sprache. Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Subtext von Martin Heideggers Sein und Zeit« positioniert sich der Autor gegen die analytische Lektüre von Heideggers Hauptwerk, die unter dem Terminus des Vorprädikativen das Postulat einer Sphäre sprachunabhängiger Praxis sieht. Folglich legt der Autor das Entscheidende an dem hermeneutischen Sprachparadigma am Beispiel von Herder und Heidegger so aus, dass unser praktisches Weltverstehen konstitutiv mit Sprache verknüpft ist – und zwar nicht in dem Sinne, dass alles in Sprache aufgehoben wäre, sondern in der Hinsicht eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses zwischen Sprache, Verstehen und Welt, die irreduzibel bleibt. An47 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
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schließend formuliert Flatscher einige kritische Aspekte, die auf blinde Flecken der hermeneutischen Sprachbetrachtung verweisen. Die Beiträge der zweiten Sektion, Bedeutung, untersuchen einerseits den Sinnesinhalt des Begriffs des Vorprädikativen anhand der Frage nach der Wahrheit und erkunden andererseits seine entscheidende Rolle in Heideggers Spätdenken. Gegenüber Versuchen, das Vorprädikative ausschließlich mit Blick auf das Frühwerk Heideggers zu deuten, orientiert sich Giovanna Caruso an der Entstehungsdimension des Vorprädikativen im Rahmen von Heideggers seinsgeschichtlichem Denken. Ihr Beitrag »Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz« zeigt, dass zwischen dem Phänomen »Welten der Welt« aus Der Ursprung des Kunstwerkes und der These einer »vorprädikativen Offenbarkeit« als Grundbedingung eines »Waltens der Welt« in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik eine strukturelle Entsprechung besteht. Die Autorin führt an, dass sich die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz, genau wie in den 1920er Jahren, als sprachlich artikuliert erweist. Darin wird jedoch die Sprache, die Heidegger nun vom Ereignis her denkt, als Dichtung verstanden. Im Gegensatz zu der These Ernst Tugendhats, wonach die vorprädikative Offenbarkeit lediglich als Möglichkeitsbedingung von Wahrheit konzipiert ist, argumentiert Anne Kirstine Rønhede für eine vorprädikative Auffassung von Wahrheit, welche die Grundforderung zu erfüllen hat, zwischen einem Gegebensein von etwas, so wie es an ihm selbst ist, und einem Gegebensein von etwas, so wie es an ihm selbst nicht ist, zu differenzieren. Ihr Beitrag »Vorprädikative Wahrheit? Zwischen Sein und Schein« zeigt, dass dies durchaus möglich ist, indem die Autorin die vorprädikative Erschlossenheit und das vorprädikative Entdecken in dem Spannungsverhältnis von Sein und Schein auslegt. Yuliya Tsutserova nimmt ihren Ausgangspunkt von Heideggers kritischer Auseinandersetzung mit Kants Auffassung des Subjekts und seines produktiv-bildenden Vermögens, um herauszustellen, dass und wie Heideggers Denken in den dreißiger Jahren zu einer immer radikaleren Deutung des Vorprädikativen im Sinne einer supra-subjektiven Spontaneität vordringt. In ihrem Beitrag »Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger« verfolgt die Autorin die These, dass im späten Denken Heideggers eine »Transfiguration« der Prädikation in das »denkerische Schaffen« vorliegt, welche mit der Dichtung als einer ausgezeichne48 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
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ten Art des Prädizierens identifiziert werden kann. Das denkerische Schaffen entspringe aber letztlich – so die Autorin – der Spontaneität par excellence, d. h. des in den Beiträgen zur Philosophie konzipierten Seyns, welches somit als ultimative Quelle und Bedingung der Möglichkeit des Prädikativen anzusehen sei. Der Beitrag von Bernardo Ainbinder und Ovidiu Stanciu, der die mit Faktizität überschriebene dritte und letzte Sektion eröffnet, weist auf das besondere Gewicht hin, welches Heidegger im Rahmen seines metontologischen Projekts dem ontisch-faktischen Boden des Bedeutungsraums beimisst. In ihrem Beitrag »Metabolé des Vorprädikativen. Faktizität und die ontischen Wurzeln der Prädikation« konzentrieren sich die Autoren insbesondere auf die Vorlesung von 1929/30, in der sie Heideggers Genese eines neuen Verständnisses des Vorprädikativen verorten. Heidegger überwinde hier einerseits die Identifikation zwischen dem phänomenalen Feld und dem Wahrheitsbereich, welche die Perspektive von Sein und Zeit auszeichne. Andererseits gelange er zur Anerkennung des normativen Charakters der vorprädikativen Erfahrung: Unser Offensein für das Seiende enthalte in sich eine Bindung an das phänomenale So-Sein, welches das Kriterium für die Richtigkeit oder Falschheit der Aussage bereitstelle. Giovanni Gurisatti stellt in seinem Beitrag mit dem Titel »›Geist‹ und ›als‹. Die Verwindung des Menschen im Dasein zwischen Scheler und Heidegger« einen Vergleich zwischen Max Schelers Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos und Heideggers Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik am Leitfaden der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier an. Die vorlogische, vorprädikative Urschicht der menschlichen Praxis, die in Heideggers Vorlesung als Möglichkeitsbedingung aller möglichen Vollzugsweisen des λόγος fungiert, bringt der Autor in Zusammenhang mit Schelers Konzeption des Geists als ästhetisches und zugleich ethisches Offenwerdens für die Welt. Dabei erkennt Gurisatti eine Konvergenz von Heideggers und Schelers philosophischen Absichten, welche in der Behauptung liegt, dass das Tier, anders als der Mensch, dazu unfähig sei, die Welt zu objektivieren und zu transzendieren. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag »Das Vorprädikative als das ›Pathische‹ : Ein Vergleich zwischen der ›großen Stille‹ bei Heidegger und dem ›Sagen‹ bei Lévinas« von Chiara Pasqualin. Sie konzentriert sich auf Heideggers Ereignisdenken, worin sie die Grundlage dafür findet, um das Vorprädikative im Sinne eines ur49 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Chiara Pasqualin / Maria Agustina Sforza
sprünglichen Affiziertseins durch das Seinsfaktum auszubuchstabieren. Anschließend skizziert die Autorin eine Parallele zu Lévinas’ Konzeption des »Sagens«, die wie Heideggers Begriff der »großen Stille« auf eine affektive Dimension hinweist, welche die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens bildet. Dieser originelle Deutungsversuch erlaubt es der Autorin, eine vor-hermeneutische Dimension des Vorprädikativen zu behaupten. Dadurch lotet der Beitrag den Begriff des Vorprädikativen in den Bahnen der Vorsprachlichkeit aus und wirft neue Fragen hinsichtlich seiner Stellung in und jenseits von Heideggers Denken auf.
Danksagung Dieses Projekt hätte ohne vielfache Unterstützung nicht verwirklicht werden können. In erster Linie gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und ihren wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieser Publikation. Herrn Prof. Dr. Christian Bermes danken wir für seine Anmerkungen zur Konzeption des Bandes und seine freundliche Zusage, ein Vorwort zu verfassen. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. emer. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, der die Realisierung dieses Bandes mit wertvollen Ratschlägen begleitet hat. Schließlich danken wir Herrn Lukas Trabert und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vom Verlag Karl Alber für die Bereitschaft, unseren Sammelband in die Alber-Reihe Philosophie aufzunehmen. Die Herausgeberinnen
Trient und Hamburg, im Dezember 2019
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Sprache
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden? Überlegungen zur Sprache und Mit-Teilung Andreas Beinsteiner
Zusammenfassung: Heidegger verweist wiederholt auf Husserls 6. Logische Untersuchung als den entscheidenden Impuls für sein Denken der »Lichtung«. Husserl habe dort nämlich das Kategoriale aus der Kantischen Festlegung auf das Urteil befreit und so den Weg eröffnet in Richtung eines Denkens des Vorprädikativen. Dieses – so wird nach Sein und Zeit deutlich – ist keineswegs mit dem Vorsprachlichen zu verwechseln; vielmehr besteht die metaphysische Verkennung der Sprache gerade darin, diese voreilig mit Prädikation und Kommunikation zu identifizieren. Vor Aussage, Urteil und Kommunikation besteht die zentrale Leistung der Sprache darin, das uns begegnende Seiende zu lichten, d. h. es uns als dieses oder jenes bestimmte Etwas zugänglich zu machen. Auf dieser Medialität der Sprache ruhen sämtliche Praktiken der Prädikation erst auf. Diesseits allen Phonozentrismus’ sieht sich mithin jegliche faktische Mitteilung verwiesen auf eine vorgängige Mit-Teilung: auf ein geteiltes Zugänglichkeitsregime, dem die Kommunizierenden unterstehen bzw. auf eine geteilte Alshaftigkeit, gemäß der das Seiende zugänglich geworden ist.
1.
Von der kategorialen Anschauung zur Medialität des Als
Heideggers Weg, die Sprache von der Prädikation zu entkoppeln, nimmt seinen Ausgang bei Husserls 6. logischer Untersuchung. Diese setzt sich im 2. Abschnitt mit dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstehen auseinander, welches u. a. auch in Kants Kritik der reinen Vernunft Thema geworden war (einem Werk, das seinerseits ebenfalls von zentraler Bedeutung für die Entwicklung von Heideggers Konzeption des Vorprädikativen war 1). In der Auseinandersetzung 1
Wie Heidegger retrospektiv bekennt, war seine Lektüre des Schematismuskapitels
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mit Husserl und Kant kristallisiert sich die Seinsproblematik in ihrem Zusammenhang mit dem »als«, welcher für Heideggers Denken stets maßgeblich bleiben wird, heraus. Husserls Befund geht dahin, dass bei der Wahrnehmung von Gegenständen wie einem Tintenfass oder einem Blatt weißen Papiers ein »Überschuss in der Bedeutung« vorliege, der »in der Erscheinung selbst nichts findet, sich darin zu bestätigen. Weißes, d. h. weiß seiendes Papier.« 2 Zwar kann ich eine Farbe sehen, nicht aber das FarbigSein, so dass »Sein« sich in keiner Wahrnehmung erfülle. 3 In diesem Zusammenhang erinnert Husserl an Kants These, dass Sein kein reales Prädikat sei. In der sinnlichen Anschauung findet »eine Bedeutung, wie die des Wortes Sein, kein mögliches objektives Korrelat und darum in den Akten solcher Wahrnehmung keine mögliche Erfüllung.« 4 Dies sei ebenso in keiner »inneren Wahrnehmung« etwa eines Urteils der Fall, wie Husserl gegen Locke argumentiert. 5 Der Begriff Sein könne gleichwohl nur entspringen, »wenn uns irgendein Sein, wirklich oder imaginativ, vor Augen gestellt wird«. Gegeben werde Sein durch ein »Analogon der gemeinen sinnlichen Anschauung« 6, welches Husserl – insofern er Sein im Rahmen der Kategorienproblematik (was-Sein/Substanz/Papier-Sein oder wie-Sein/Qualität/weiß-Sein) behandelt – als kategoriale Anschauung bezeichnet. Heidegger folgt zunächst sehr unmittelbar Husserls Überlegungen zu dieser nicht-sinnlichen Wahrnehmung (wenngleich in der Vorlesung vom Sommersemester 1925 aus dem weißen Papier hörsaalbedingt ein gelber Stuhl geworden ist), um sich dann den spezifischen kategorialen Akten der Synthesis und der Ideation zuzuwenden. In ersteren zeigt sich ein Sachverhalt, z. B. das Gelbsein des Stuhls, explizit, obwohl er eben kein realer Teil der Sache, sondern idealer Natur ist. 7 Die Akte der Ideation hingegen geben »die Spezies, d. h. das Allgemeine von Vereinzelungen«: »Wenn ich schlicht wahrnehme, im Kantbuch von dem Anliegen getragen, Kant als Gewährsmann für die seine Konzeption der Seinsfrage zu interpretieren. Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, XIV. 2 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, zweiter Band: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis, Halle a. d. S., Max Niemeyer, 1921, 131. 3 Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen 2, 137. 4 Husserl, Logische Untersuchungen 2, 138. 5 Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen 2, 139. 6 Husserl, Logische Untersuchungen 2, 141. 7 Vgl. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 86–87.
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
mich in meiner Umwelt bewege, so sehe ich, wenn ich Häuser sehe, nicht Häuser zunächst und primär und ausdrücklich in ihrer Vereinzelung, Unterschiedenheit, sondern ich sehe zunächst allgemein: das ist ein Haus. Dieses Als-was, der allgemeine Charakter von Haus, ist selbst nicht ausdrücklich in dem, was er ist, erfaßt, aber schon in der schlichten Anschauung miterfaßt als das, was hier gewissermaßen das Vorgegebene aufklärt.« 8 Als was etwas erscheint, das was-Sein eines Seienden, 9 bestimmt sich hierbei (wie tendenziell in der gesamten abendländischen Tradition) von seinem Aussehen her: seinem eidos, seiner idea. Einen entscheidenden Beitrag von Husserls Konzeption der kategorialen Anschauung sieht Heidegger in der Einsicht, dass die Kategorien und Ideen nichts Subjektives sind, sondern ein Gegebenes, das gleichsam geschaut werden muss. »Für Husserl ist das Kategoriale (das heißt die Kantischen Formen) ebenso sehr gegeben wie das Sinnliche.« 10 Wir haben es entsprechend mit einer Analogie zu tun, in der »die sinnlichen Gegebenheiten […] den Maßstab« geben – das Kategoriale ist hier das, »was den sinnlichen Daten entspricht«. 11 Es liegt hierbei also eine »Doppelbedeutung von Sehen« vor – eine Doppelbedeutung, »die schon im Denken Platons herrscht. Die Schwierigkeit besteht darin, daß wenn ich weißes Papier sehe, ich die Substanz nicht in derselben Weise sehe ›wie‹ das weiße Papier. Antisthenes drückte schon bei Platon diese Schwierigkeit aus […]. (›O Plato, das Pferd sehe ich schon, aber nicht sehe ich die Pferdheit.‹)« 12 In diesem Sinne steht Husserls kategoriale Anschauung in einem Naheverhältnis zur platonischen Ideenlehre, die Heidegger ganz ähnlich deutet: Das in der und als die Idee Gesichtete ist […] das Sein (Was- und Wie-sein) des Seienden. »Idea« meint das im voraus Gesichtete, das im voraus Vernommene und Seiendes Durchlassende, als Auslegung des »Seins«. Die Idee läßt uns das, was das Seiende ist, sehen, läßt gleichsam durch es hindurch das Seiende auf uns zukommen. Wir sehen erst vom Sein her, im DurchHeidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA 20, 91. Sein bedeutet bei Heidegger stets (verbal verstandenes) Anwesen, Zugänglichwerden, Erscheinen. Ich habe deshalb dafür argumentiert, Heideggers Seinsbegriff als eine Medialitätskonzeption zu lesen: vgl. Andreas Beinsteiner, »Sein als Medialität«, in: Gerhard Thonhauser (Hg.), Perspektiven mit Heidegger: Zugänge – Pfade – Anknüpfungen, Freiburg/München, Alber, 2017, 191–206. 10 Heidegger, Seminare, GA 15, 375–376. 11 Heidegger, Seminare, GA 15, 376. 12 Heidegger, Seminare, GA 15, 377. 8 9
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gang durch das Verstehen dessen, was je ein Einzelnes ist. Hindurch durch das Was-sein zeigt sich uns das Seiende als das und das. Nur wo Sein, Wassein der Dinge, Wesen verstanden wird, ist ein Durchlaß für Seiendes. 13
Als dasjenige, wodurch hindurch ein Seiendes erst zugänglich wird, kann das »als« bzw. die idea – so mein Vorschlag jenseits von Heideggers genuiner Terminologie – als ein Medium der Zugänglichkeit des Seienden betrachtet werden. 14 So betrachtet sind die Ideen »nichts, was Platon sich in irgendeiner verstiegenen Spekulation ausgeklügelt hätte, sondern das, was jeder sieht und faßt, wenn er sich zum Seienden verhält.« 15 Die Defaultsituation unserer Wahrnehmung ist schließlich eine, in der wir etwas als etwas wahrnehmen. Wir hören das Motorrad, sein Rasen durch die Straße. Wir hören die Auerhenne im Gleitflug durch den Hochwald abstreichen. Doch eigentlich hören wir nur das Geräusch des Motorengeknatters, das Geräusch, das die Auerhenne verursacht. Überdies ist es sogar schwer und uns ungewohnt, das reine Geräusch zu beschreiben, weil es nämlich nicht das ist, was wir gemeinhin hören. Wir hören [vom bloßen Geräusch her gerechnet] immer mehr. Wir hören den fliegenden Vogel, wenngleich man streng genommen sagen müßte: eine Auerhenne ist nichts Hörbares, keine Art von Ton, der in die Tonleiter einzureihen wäre. Und so steht es bei den anderen Sinnen. Wir tasten Samt, Seide; wir sehen sie ohne weiteres als so und so Seiendes. 16
Das Seiende wird zunächst und zumeist schon über die Medialität des »als« zugänglich.
Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, GA 34, 57. 14 Dieter Mersch, »Meta/Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen«, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 2, 2010, 185–208 hat darauf hingewiesen, dass das »durch« in medienphilosophischen Zusammenhängen unterschiedlich interpretiert werden kann: transzendentalphilosophisch im Sinne des meta oder aber über die Performativität medialer Praktiken im Sinne des dia. Interessanterweise lassen sich auch in der Heideggerforschung transzendentalphilosophische Zugänge von solchen unterscheiden, die die Praxis in den Vordergrund stellen: vgl. etwa William Blattner, »Ontology, the A Priori, and the Primacy of Practice«, in: Steven Crowell, Jeff Malpas (Hg.), Transcendental Heidegger, Stanford, Stanford University Press, 2007, 10–27. Insofern ich Heideggers Denken als einen medienphilosophischen Ansatz interpretiere, erscheint mir hier ein systematischer Zusammenhang plausibel. Im Spannungsfeld von Transzendentalität und Praxis werden sich entsprechend auch die hier vorgelegten Überlegungen bewegen. 15 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, GA 34, 51. 16 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 37. 13
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
2.
Existentialhermeneutik: die praxeologische Deutung der Idee
So sehr Heidegger auch die Gegebenheit bzw. Vorgängigkeit der Ideen betont, so unzureichend findet er doch die Metaphorik visueller Wahrnehmung, die von Platon bis Husserl dominiert. Mit dieser einher geht ein betrachtender Zugang (theoria) zu den Dingen, der diese pauschal nur als Gegenstände der Erkenntnis in den Blick nimmt und damit von aller Relevanz, die die Dinge für uns haben, von vornherein absieht. Heidegger bezeichnet diese Zugangsweise als Vorhandenheit. Entsprechend dem Absehen von der genuinen Relevanz der Dinge für uns kann das Tintenfass für Husserl gar nicht als Tintenfass in den Blick kommen: »›Ist es ein Tintenfaß?‹ Nein, es ist keines; im Zusammenhang des Husserlschen Denkens kann das Tintenfaß nur als etwas Anderes begriffen werden. Genau genommen: das Tintenfaß dient hier lediglich als Beispiel eines sinnlichen Gegenstands. Das Tintenfaß ist Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung.« 17 Dieses Defizit versucht Heidegger in Sein und Zeit zu kompensieren, indem er den Begriff der Zuhandenheit einführt, um zu verdeutlichen, wie unser Zugang zum Seienden zunächst kein visuellepistemologischer ist, sondern durch die Relevanz bestimmt ist, die das Seiende in unserem leiblich-tätigen Umgang mit ihm entfaltet. Wir sind immer schon in das Bedeutsamkeits- und Sinngefüge einer Welt eingelassen, aus deren Kontext heraus sich die Relevanz der einzelnen Dinge erschließt. 18 Die Gebrauchsdinge oder, wie Heidegger sagt, das Zeug ist eingebunden in Verweisungsbezüge mit anderen Dingen. Jedes Zeug bietet eine Funktionalität bzw. Instrumentalisierbarkeit dar, die Heidegger als Um-Zu bezeichnet: Ein Gebrauchsding ist etwas, um damit … zu machen. Für die Relevanz des Zeugs ist diese Instrumentalisierbarkeit konstitutiv. Was ein Gebrauchsding für uns ist, – d. h. als was es uns zugänglich wird – bestimmt sich aus seinem Um-Zu im leiblich-tätigen Gebrauch. Heideggers berühmtes Beispiel ist der Hammer, dessen Um-Zu das Hämmern ist. Gebraucht wird er stets in Zusammenhängen unseres
Heidegger, Seminare, GA 15, 377. Insofern hierbei die »Betroffenheit […] durch die Undienlichkeit, Widerständigkeit, Bedrohlichkeit des Zuhandenen« konstitutiv ist (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 183), ist das existentialhermeneutische »als« jeder Trennung bzw. Entgegensetzung von Emotionalem und Rationalem vorgängig.
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Existenzvollzugs, deren Totalität Heidegger als Welt bezeichnet. So kann der Hammer beispielsweise verweisen auf die beim Hämmern angestrebte Befestigung, diese auf den Schutz vor Unwetter, dieser auf das Unterkommen der Hämmernden. 19 Hierbei ist jedoch zu beachten, dass es bei diesem »Bewandtniszusammenhang« nicht darum geht, »daß fortlaufend eines durch anderes sich bestimmt«, sondern vielmehr darum, »daß alles je auf das Ganze angewiesen ist« 20: Erst aus dem Gesamtzusammenhang einer Welt heraus erschließt sich das einzelne Seiende als dieses oder jenes. 21 Wenn uns im Hämmern der Hammer als Hammer zugänglich ist, so ist das deshalb der Fall, weil wir das Hammer-Sein schon aus dem existenzialen Horizont unserer Welt verstanden haben. Heidegger nennt das »als«, gemäß dem ein Ding als Zuhandenes zugänglich wird, das existenzial-hermeneutische »als« in Abgrenzung zum apophantischen »als«, welches das Ding bloß als Vorhandenes in den Blick bringt. 22 Gleiches gilt für Husserls Tintenfass, das dekontextualisiert vom existenzialhermeneutischen Horizont der Welt bloß als Vorhandenes, als materieller Gegenstand aufscheint, nicht aber als Tintenfass. Als dieses erschließt es sich nämlich erst aus dem gebrauchenden Umgang mit ihm als Zeug zum Schreiben heraus. Wie Heidegger deutlich macht, ist schließlich auch sein und sogar Husserls Denken als leiblich-tätiger Existenzvollzug zu fassen. Denn »auch die ›abstrakteste‹ Ausarbeitung von Problemen und Fixierung des Gewonnenen hantiert zum Beispiel mit Schreibzeug.« 23 Heideggers existenzialhermeneutische Fundierung der Zugänglichkeit des Seienden (und d. h. des Seins des Seienden, der Weise seiner Anwesenheit für uns) lässt sich als praxeologische Aneignung Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 112. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 76. 21 Welt wird von Heidegger entsprechend nicht als die Totalität alles Seienden gefasst, sondern als »Zugänglichkeit des Seienden als solchem« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA29/30, 391). Dass das Seiende durch die Welt »als solches« zugänglich ist, bedeutet nicht die objektivistische Feststellung eines wahren Wesens des Seienden, sondern die variable und je nach Welt unterschiedliche Weise der Zugänglichkeit als dieses oder jenes (vgl. Andreas Beinsteiner, »The ›As‹ and the Open: On the Methodological Relevance of Heidegger’s Anthropocentrism«, Studia Phaenomenologica, 17, 2017, 41–56, hier insb. 48–51 zur diesbezüglichen Fehllektüre von Derrrida). Dies wird unten am Beispiel des Katheders deutlich werden. 22 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 209–210. 23 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 474. 19 20
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der Platonischen Ideenlehre fassen: Den Hammer als Hammer zu verstehen, d. h. die Idee des Hammers erblickt zu haben, heißt in dieser Aneignung nichts anderes, als das für das Hammer-Sein konstitutive Um-Zu (nämlich: zum Hämmern) zu verstehen. Die Idee eröffnet »das Verständnis dessen, was ein Ding ist, als ein Vorverständnis.« 24 Dieses vorgängige Verstanden-Haben des Dings macht uns den einzelnen Hammer als Hammer, das Tintenfass als Tintenfass, das Haus als Haus zugänglich. Platon ist der »Entdecker des Apriori« 25, insofern Heidegger das Apriori im Sinne dieses vorgängigen Verstandenhabens deutet, das das Einzelne erschließt. Heidegger betont, »wie unmittelbar« sich die Analyse der existenzialhermeneutischen Ermöglichung 26 des Seinsverständnisses aus dem Umfeld von Sein und Zeit »in einem Grundproblem Platons« bewege. 27 Zugleich bietet die Apriorität des Seinsverständnisses Anknüpfungspunkte an die Transzendentalphilosophie Kants und ermöglicht es, das existenzialhermeneutische »als« in Beziehung zum Schematismus zu setzen. Heidegger versteht seine eigene Philosophie zum damaligen Stand selbst noch als transzendentalphilosophisches Projekt. 28 Dennoch impliziert die praxeologische Wendung der Ideenlehre bereits eine signifikante Relativierung der Universalität und Invarianz des Transzendentalen. Entsprechend der Grundbestimmung von Dasein als In-derWelt-sein etablieren sich nämlich unterschiedliche Konfigurationen des »als« in Abhängigkeit von der jeweiligen Welt, der ein Mensch ausgesetzt ist. Verdeutlicht finden wir diese Variabilität des »als« bereits im Kathederbeispiel der frühen Freiburger Vorlesung vom Kriegsnotsemester 1919. Während Heidegger selbst wie seinen Studenten dieses Seiende im Zusammenhang ihres universitären Alltags ohne weiteres als Katheder offenbar ist, ist dies schon nicht mehr in der gleichen Selbstverständlichkeit der Fall für einen »Bauern vom hohen Schwarzwald«, würde man diesen in den Hörsaal führen. Der Heidegger, Sein und Wahrheit, GA 36/37, 171. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 463–464. 26 Seiner visuellen Orientierung gemäß muss Platons gerade die Medialität des Lichts zur Ermöglichung der als Sichtbarkeit gedachten Zugänglichkeit des Seienden in Anspruch nehmen – ein Umstand, der auch für Heideggers Wahl des Terminus »Lichtung« (wenngleich später andere etymologische Zusammenhänge in den Vordergrund gestellt werden) nicht irrelevant ist. 27 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 400. 28 vgl. die Parallelisierung von Sein und Zeit und Kants Kritik der reinen Vernunft in Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3. 24 25
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sähe in diesem Seienden aber dennoch »den Platz für den Lehrer«. 29 Gänzlich anders verhielte es sich hingegen mit einem plötzlich im Hörsaal sich findenden Senegalesen, welchem das Katheder, so Heideggers unserer postkolonialistischen Sensibilität unerträgliche Mutmaßung, als »etwas, was mit Zauberei zu tun hat« oder als »etwas, hinter dem man guten Schutz gegen Pfeile und Steinwürfe fände« zugänglich würde, wenn nicht gar als etwas, womit er »nichts anzufangen« wüsste. 30 Von Belang sind hier weder rassistische Stereotypen noch eine unterstellte Primitivität des Senegalesen oder seiner Welt (Heidegger betont, dass der Senegalese keineswegs als kulturlos zu denken sei), sondern wie jede Welt das Seiende in je unterschiedlicher Weise als etwas anderes zugänglich macht. Damit sind zweierlei zentrale Einsichten verbunden. Erstens belegt die Relativität des »als« auf die Welt, aus der heraus es das Seiende zugänglich macht, die Variabilität dieses »als«: Wir haben es nicht mit demselben Seienden zu tun, das nur in einem zweiten Schritt unterschiedlich bewertet oder mit unterschiedlichen Bedeutungen assoziiert würde 31 – vielmehr variiert hier das Was-Sein des Seienden selbst. Und zweitens ist mit dieser Variabilität des »als« auch eine unabdingbare existenzialhermeneutische Selektivität jeglicher Konfiguration des »als« verbunden: Ob das Seiende als »Zeug zum Dozieren« erscheint oder als »Zeug zum in-Deckung-gehen«, jedes Mal werden andere Aspekte dieses Seienden in je begrenzter Weise zur Geltung gebracht (und dies gänzlich unabhängig von der Unterscheidung von vom ZeugHersteller intendierten oder unintendierten Gebrauchsweisen). Auf Basis dieser beiden Charakterisierungen ließe sich die Bestimmung des Seins des Zuhandenen aus dessen Zuhandenheit im Gesamtzusammenhang einer Welt in Beziehung zum Konzept der affordance des Wahrnehmungspsychologen James J. Gibsons setzen. 32 Der 29 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 1–117, hier 71. 30 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 72. 31 Man unterschätzt die Tragweite dieser Unterschiede ebenso, wenn man sie, gemäß einer geläufigen visuell-räumlichen Metapher, als unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Seiende konzeptualisiert. Heideggers Punkt ist ein radikalerer: dass hier tatsächlich aus unterschiedlichen Welten heraus ein unterschiedliches Seiendes zugänglich wird. Unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Seiende sind nur möglich im Rahmen einer bereits geteilten Unverborgenheit des Seienden. 32 Hierbei handelt es sich um ein Konzept, das u. a. durch seinen Aufgriff bei Bruno Latour in den Kultur- und Sozialwissenschaften große Popularität erlangt hat. Ich
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Begriff bezeichnet die Möglichkeiten, die für einen Organismus an einem Objekt in Abhängigkeit vom Kontext zur Geltung kommen. Wie Heidegger geht es Gibson darum, die Subjekt-Objekt-Trennung zu unterlaufen, wobei er gewissermaßen auch die Kritik der Vorhandenheit teilt: »what we perceive when we look at objects are their affordances, not their qualities«. 33 Heidegger jedoch zielt auf spezifische Zugänglichkeitsweisen ab, in denen sich Seiendes Menschen alshaft erschließt, während Gibsons affordances sich in generischer Weise für menschliche und nichtmenschliche Organismen gleichermaßen ergeben. Heidegger fasst das existenzialhermeneutische »als« bzw. die praxeologisch gewendete platonische Idee als dasjenige, was »das Joch zwischen Subjekt und Objekt spannt, unter welchem Joch sie überhaupt erst Subjekt und Objekt werden; denn Subjekt ist nur solches, was auf ein Objekt sich bezieht« 34, und diese Bezugnahme wird ermöglicht durch die Medialität des »als«. Daher ist das Sein (im Sinne von Was-Sein bzw. alshaftem Anwesen) das Offene, welches »erst das ›Zwischen‹ lichtet, innerhalb dessen eine ›Beziehung‹ vom Subjekt zum Objekt ›sein‹ kann.« 35 Transzendenz betrifft entsprechend in Heideggers Verständnis die Problematik des »Hinausgehens zum ›ganz anderen‹«, welche ihrerseits das »Drinnensein in einem Medium« verlangt, innerhalb dessen dieses ganz andere, das der Mensch »selbst nicht ist« und dessen er »auch nicht mächtig ist, begegnen kann«. 36 Das Hinausgehen zum Seienden vollzieht sich auf der Grundlage eines schon Hinausstehens, einer Ausgesetztheit in die Medialität des »als«. Diese Ausgesetztheit versucht Heidegger mit
werde im Folgenden u. a. deutlich zu machen versuchen, welche Vorzüge Heideggers Verständnis der alshaften Zugänglichkeit des Seienden demgegenüber innewohnen. 33 James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, New York/London, Psychology Press, 2015, 126. Auffällig ist, wie Gibson in dieser Privilegierung des Praktischen doch inkonsequent bleibt, insofern er am Primat des Visuellen festhält, obwohl er beobachtet, dass ein Objekt »an astonishing variety of behaviours« bereitstellt »especially to animals with hands« (Gibson, The Ecological Approach, 125, Hervorh. d. Verf). Heideggers Begriffswahl (»Zuhandenheit«) erweist sich hier als konsequenter. 34 Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, GA 34, 111. 35 Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: Wegmarken, GA 9, 313–364, hier 350. 36 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 115 (Hervorh. d. Verf).
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der gewandelten Schreibweise Ek-sistenz anzudeuten. 37 Der Mensch ist ausgesetzt in die Lichtung des Seins, d. h. in die Weise, wie das Seiende sich lichtet, erschließt, zugänglich wird als dieses und jenes. 38 (Diese »für das Menschenwesen grundlegende Möglichkeit, eine offene Weite zu durchgehen, um bis zu den Dingen zu gelangen«, 39 relativiert für Heidegger u. a. auch die fundamentale Rolle des Bewusstseins bei Husserl). Wir gelangen zu den Dingen wie auch zu uns selbst im Durchgang durch das Medium der Lichtung, dem wir ausgesetzt sind. In diesem Sinne lässt sich Heideggers Denken der Lichtung als Medienphilosophie fassen: »Nur diese Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden, das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind.« 40 Zu den wesentlichen Leistungen dieser Medienphilosophie zählt die bereits erwähnte Einsicht in die Selektivität und Variablität der Medialität des »als«. Selektiv ist sie insofern, als »[j]egliches Seiende, das begegnet […] sich immer zugleich in eine Verborgenheit zurückhält. Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung.« 41 Und variabel ist diese Medialität insofern, als dank ihr »das Seiende in gewissen und wechselnden Maßen unverborgen« ist: 42 Die Lichtung ist »niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang«, die Unverborgenheit des Seienden ist kein »nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis«. 43 Wie ich in Abschnitt 5 argumentieren werde, ist diese Variabilität darin begründet, dass die Medialität des »als« sprachlich verfasst ist. 44 Hier37 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, GA 9, 177–202, hier 189. 38 Meine Interpretation geht davon aus, dass sich diese verbale Konzeption von Lichtung durch Heideggers gesamtes Denken seit Sein und Zeit hält. Das spätere Ereignisdenken nimmt hierbei lediglich eine stärkere Betonung der Dynamik des Lichtungsgeschehens, d. h. seiner geschichtlichen Situiertheit und Wandelbarkeit, vor, welche sich aus einer gewandelten Einschätzung des Stellenwerts von Sprache (vgl. Abschnitt 5 unten) ergibt. 39 Heidegger, Seminare, GA 15, 380. 40 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, GA 5, 1–74, hier 40. 41 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 40. 42 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 40. 43 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 41. 44 Diese sprachlich bedingte spontane Variabilität der Zugänglichkeit unterscheidet sich substantiell von jenen geschichtlichen Wandlungen von Zugänglichkeitsweisen, die aus medientechnologischen Entwicklungen resultieren. Zu dieser Unterscheidung vgl. Andreas Beinsteiner, »Ontoludologie: Zum medial-agonalen Charakter von Phänomenalität nach Heidegger«, in: Astrid Deuber-Mankowsky, Reinhold Görling
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bei ist jedoch zunächst einem falschen Verständnis von Heideggers Sprachkonzeption vorzubeugen. Es ist unerlässlich, in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass das »als« nicht in der Aussage, im Sprechakt oder Urteil, in der parole im Sinne Saussures zu verorten ist. 45
3.
Was dem Urteil zuvorkommt
Ideen und Kategorien machen uns das Seiende zugänglich in einem bestimmten (Was-)Sein, als je dieses oder jenes. In einem Zusammenhang zur Sprache scheint das »als« zunächst dahingehend zu stehen, dass es gemäß der philosophischen Tradition – ebenso wie die Sprache – seinen Ort in der Aussage, im Urteil hat. Doch genau gegen diese traditionelle Verortung erhebt Sein und Zeit Einspruch: »Der umsichtig-auslegende Umgang mit dem umweltlich Zuhandenen, der dieses als Tisch, Tür, Wagen, Brücke ›sieht‹, braucht das umsichtig Ausgelegte nicht notwendig auch schon in einer bestimmenden Aussage auseinander zu legen. Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend.« 46 Die Würdigung dieses verstehend-auslegenden Charakters des schlichten Sehens schreibt Heidegger, wie oben dargelegt, Husserls Analyse der kategorialen Anschauung zu. Nicht erst im Urteil wird manifest, was etwas ist. Vielmehr ist das Was-Sein des Seienden, das »als« seiner Zugänglichkeit, stets schon im Vorhinein im Blick, ob es in einer Aussage expliziert wird oder nicht. »Daß im schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit eines Aussagens fehlen kann, berechtigt nicht dazu, diesem schlichten Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Als-Struktur abzusprechen. […] Die ontische Unausgesprochenheit des ›als‹ darf nicht dazu verführen, es als apriorische existenziale Verfassung des Verstehens zu übersehen.« 47 (Hg.), Denkweisen des Spiels. Medienphilosophische Annäherungen, Wien, Turia + Kant, 2017, 137–154, insb. Abschnitt III. 45 Wichtig ist dieser Hinweis, weil das hierbei zurückgewiesene Sprachverständnis nicht nur durch den common sense, sondern insbesondere auch durch praxistheoretische Ansätze nahegelegt wird. Nicht zufällig wird sich gerade die Sprache als der Ort erweisen, an dem sich Heideggers Denken von einem rein praxeologischen Ansatz abhebt (vgl. Abschnitt 5). 46 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 198. 47 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 199–200.
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Der verstehend-auslegende Charakter des schlichten Sehens ist es gerade, der Prädikation seinerseits erst ermöglicht. Um überhaupt einer Aussage über es zugänglich zu sein, muss das angesprochene Seiende schon als dieses oder jenes erschlossen sein. »Die Artikulation des Verstandenen in der auslegenden Näherung des Seienden am Leitfaden des ›Etwas als etwas‹ liegt vor der thematischen Aussage darüber. In dieser taucht das ›Als‹ nicht zuerst auf, sondern wird nur erst ausgesprochen, was allein so möglich ist, daß es als Aussprechbares vorliegt.« 48 Dieses Vorliegen als … liegt dem Urteilen über das Seiende immer schon zugrunde. Nicht das »als« gründet also im Urteil, sondern umgekehrt das Urteil in der ihm vorgängigen und es ermöglichenden Zugänglichkeit des Seienden als … Dieselbe korrigierende Umkehrung des traditionellen Fundierungsverhältnisses nimmt Heidegger an anderer Stelle hinsichtlich der Kategorien vor. Zwar meine die griechische »κατηγορία« zunächst ein An- und Aussprechen, nämlich »die Nennung dessen, was etwas ist: Haus, Baum, Himmel, Meer, hart, rot, gesund« 49 – somit nichts anderes als das Aussprechen des »als«. Demgegenüber bezieht sich jedoch der Terminus »Kategorie« auf eine spezifische, grundsätzlichere Form der Ansprechung: Wenn wir ein Vorliegendes als Haus, als Baum ansprechen, dann können wir das nur, sofern wir dabei schon im voraus das Begegnende als ein Insich-ständiges, als Ding, wortlos angesprochen, d. h. ins Offene unseres »Gesicht«-kreises gebracht haben; insgleichen läßt sich ein Kleid nur als rot ansprechen, wenn es im vorhinein schon, wortlos auf dgl. wie Beschaffenheit angesprochen ist. Insichständiges (»Substanz«) – Beschaffenheit (»Qualität«) und dgl. machen aber das Sein (Seiendheit) des Seienden aus. 50
Unabhängig vom jeweils konkreten »als« (z. B. Kleid oder rot) bestimmt die Kategorie (z. B. Substanz oder Qualität) vorgängig und in grundlegenderer Weise das Sein eines Seienden. In diesem Sinne sind die Kategorien »die ausgezeichneten, nämlich alle gewöhnliche und tägliche Ansprechung tragenden Ansprechungen, κατηγορίαί, im betonten Sinne«. 51 Zu beachten ist hierbei eine doppelte Fundiertheit: Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 199. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, in: Wegmarken, GA 9, 239–301, hier 252. 50 Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, GA 9, 252– 253. 51 Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, GA 9, 253. 48 49
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
wenn das »Kleid« schon wortlos auf »Beschaffenheit« angesprochen ist, um als »rot« angesprochen werden zu können, so trägt einerseits die Kategorie (Beschaffenheit) das konkrete »als« (rot), welches aber seinerseits nur »gesehen« und nicht notwendig ausgesprochen zu sein braucht, sondern vielmehr das aussagende Urteil »das Kleid ist rot« erst ermöglicht. 52 »Sein« ist nicht erst in der Kopula, im »ist« des Urteils, sondern das Kleid-Sein und das Rot-Sein sind bereits in der kategorialen Anschauung, im vorgängigen Geschauthaben der Ideen, erblickt. »In der gesamten Überlieferung der Philosophie« hingegen, so Heidegger, ist die Kopula des Urteils »die einzige Grundbestimmung des Seins«. 53 Sein war mithin stets prädikativ bestimmt. Entsprechend musste auch Kant »die Kategorientafel aus der Urteilstafel ›ableiten‹«. 54 Erst mit Husserls Analysen der kategorialen Anschauung war der Weg zu einem Denken des Vorprädikativen geebnet: sie haben »das Sein aus seiner Festlegung auf das Urteil befreit« 55 und damit die überlieferte Verkehrung des Fundierungsverhältnisses korrigiert. Die Kategorien können nämlich nur deshalb »am Leitfaden der Aussage« gefunden werden, weil sie »den alltäglichen Ansprechungen, die sich zu Aussagen, ›Urteilen‹ ausformen«, bereits zugrunde liegen. 56 Das vorprädikative »als« ermöglicht Prädikation. Noch grundsätzlicher: Es ermöglicht Kommunikation zwischen Individuen.
4.
Geteilte Welt
Denn Kommunikation hat zur Voraussetzung, dass die Kommunikationspartner sich beim Kommunizieren auf das Selbe beziehen können. So wird im Kantbuch endliche Anschauung dahingehend bestimmt, dass sie »das Seiende selbst als offenbares für jedermann
Wie an diesem Beispiel deutlich wird, wäre neben dem Was-Sein also auch das Wie-Sein als vorprädikative Zugänglichkeit gemäß einem »als« zu deuten. Zu beachten ist hierbei, dass die Substanz-Akzidenz-Unterscheidung von Heidegger ihrerseits problematisiert wird, vgl. etwa Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 7–10. 53 Heidegger, Seminare, GA 15, 377. 54 Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, GA 9, 253. 55 Heidegger, Seminare, GA 15, 377. 56 Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, GA 9, 253. 52
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und jederzeit in dem, was und wie es ist, zugänglich machen können« muss: Die endlichen anschauenden Wesen müssen sich in die jeweilige Anschauung des Seienden teilen können. Nun bleibt aber die endliche Anschauung als Anschauung zunächst immer an das jeweilige angeschaute Einzelne verhaftet. Das Angeschaute ist nur erkanntes Seiendes, wenn jedermann es sich und anderen verständlich machen und dadurch mitteilen kann. So muß sich z. B. dieses angeschaute Einzelne, das Kreidestück hier, als Kreide bzw. als Körper bestimmen lassen, damit wir miteinander dieses Seiende selbst als das für uns Selbige zu erkennen vermögen. Endliche Anschauung bedarf, um Erkenntnis zu sein, jederzeit einer solchen Bestimmung des Angeschauten als das und das. 57
Das Seiende, das Thema der Kommunikation ist, muss den Kommunikationsteilnehmern als dasselbe zugänglich sein, damit sie wissen können, worauf sich der je andere bezieht. 58 Das ist etwa der Fall, wenn Heidegger ohne weiteres davon ausgehen kann, dass sein Publikum weiß, was er mit »Katheder« oder mit »Kreide« meint. Dass das Seiende den Beteiligten als dasselbe zugänglich ist, lässt sich dahingehend reformulieren, dass es dasselbe »als« ist, gemäß dem ihnen das Seiende zugänglich wird. Kommunikation hat somit ein geteiltes »als«, eine geteilte Weise der Unverborgenheit zur Voraussetzung. Wie kommt es zu einer solchen gemeinsamen, geteilten Unverborgenheit? Anhand der bisher dargestellten Überlegungen scheint die Antwort offensichtlich: Sie ergibt sich aus einem geteilten Milieu der Artefakte, einem gemeinsamen Zeugzusammenhang, in dem das gleiche Zeug in gleicher Weise durch um-zu-Bezüge auf anderes verwiesen ist und somit gemäß dem gleichen »als«, d. h. eben, als das Gleiche erscheint. Einer geteilten Unverborgenheit des Seienden liegt ein geteiltes Bezugsgefüge, das Leben in einer gemeinsamen Welt zugrunde. Der Umstand, dass das Bedeutsamkeitsgefüge der Welt in Sein und Zeit als Zeugzusammenhang entfaltet wird, legt jene Auffassung nahe, die im medien- und technikphilosophischen Zusammenhang etwa Erich Hörl vorgebracht hat. Hörl postuliert, »dass der Sinn von Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 27. Ausführlich entwickelt Heidegger diese These, wonach die Selbigkeit eines Seienden auf uns relativ ist, insofern sie auf einem Uns-Teilen in eine gemeinsame Unverborgenheit dieses Seienden beruht, im dritten Kapitel von Heidegger, Einleitung in die Philosophie, GA 27 (vgl. hier insb. 89–107).
57 58
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
Sein, mit Heidegger gesprochen, in den Verweisungszusammenhängen liegt, in denen wir mit den technischen Objekten stehen«. 59 Einer solchen Interpretation hält Christian Bermes entgegen, dass der Bewandtniszusammenhang »nicht durch die Funktion einer Apparatur bestimmt« sei. 60 Vielmehr lasse sich erst aus einem umfassenderen Sinnzusammenhang heraus etwa ein Zeuggebrauch hinsichtlich seiner Angemessenheit evaluieren. Wie nimmt Heidegger selbst zu dieser Frage Stellung? In der ersten Nietzschevorlesung vom Wintersemester 1936/37 heißt es über die »Gerätschaften« in ihrem Zusammenhang mit der Sphäre des Sozialen: Sie sind nicht einfach vorhanden, sondern zur Verfügung für den Gebrauch oder unmittelbar im Gebrauch. Auf diesen hin gesehen »sind« sie; als Hergestelltes sind sie für den allgemeinen Gebrauch im Miteinandersein der Zusammenwohnenden gemacht. Diese Miteinanderwohnenden sind der demos, das »Volk«, genannt im Sinne des öffentlichen, wechselweise sich bekannten und auf sich eingespielten Miteinanderseins. Für dieses sind die Gerätschaften gemacht. Wer solche Gerätschaften herstellt, heißt daher ein demiurgos, ein Werker, Anfertiger und Macher von etwas im Hinblick auf den demos. 61
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Handwerker den geteilten Bewandtniszusammenhang, der dem Miteinander Orientierung gibt, erst erstellen oder etablieren würde. Vielmehr ist dieser Zusammenhang dem einzelnen Artefakt auch in der Herstellung vorgängig. Der Tischler nimmt die Idee, das »als« dessen, was er herstellt, bereits in Anspruch, um es überhaupt herstellen zu können: [E]benso wesentlich wie die Tatsache, daß der Tischler mit seinem Werkzeug die Idee nicht anzufertigen vermag, ist dieses, daß er auf die Idee hinblicken muß, um der zu sein, der er ist: Hersteller der Tische. So reicht der Bereich einer Werkstatt wesentlich über die vier Wände, die das Handwerkszeug und das hergestellte Zeug umschließen, hinaus. Sie hat einen Ausblick auf das Aussehen, auf die Idee dessen, was unmittelbar zur Hand und im Gebrauch ist. 62
Erich Hörl, »Vorwort des Herausgebers«, in: Bernard Stiegler, Denken bis an die Grenzen der Maschine, Zürich, Diaphanes, 2009, 7–29, 15. 60 Christian Bermes: »Medientheorie oder Kulturphilosophie? Sein und Gegebensein von ›Medien‹«, Journal Phänomenologie, 22, 2004, 7–17, 10. 61 Heidegger, Nietzsche, GA 6.1, 176. 62 Heidegger, Nietzsche, GA 6.1, 177. 59
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Die Idee des Tisches hat der Tischler, gemäß der bisherigen Interpretation, insofern geschaut, als er mit dem pragmatischen Bezugsgefüge der Welt, in die der Tisch eingebunden ist, vertraut ist und deshalb das Um-Zu des Tisches kennt. Soweit scheint alles in pragmatischen Weltbezügen aufzugehen. Und doch behauptet Heidegger gerade aufgrund der Bezogenheit und Angewiesenheit des Handwerkes auf die Idee dessen, was er herstellt, dieser sei »als Macher schon irgendwie ein Nach-macher. Also gibt es so etwas wie einen reinen ›Praktiker‹ überhaupt nicht; dieser selbst ist, und zwar notwendig und im voraus, immer schon mehr als Praktiker.« 63 Hier weist Heidegger also explizit eine rein praxeologische Auffassung zurück. Inwiefern allerdings überschreitet die Bezogenheit auf die Idee die rein pragmatische Sphäre? Meine These ist, dass jener Überschuss, aufgrund dessen die Idee eine selbstgenügsame Sphäre der Praxis überschreitet, aus der Sprache stammt. Genau hinsichtlich des Verhältnisses von pragmatischem Bezugsgefüge und Sprache kommt es in Heideggers Auffassung nämlich zu einem entscheidenden Wandel. So wird Sprache in Sein und Zeit noch auf den Bewandtniszusammenhang zurückgeführt: »Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie ›Bedeutungen‹ erschließen kann, die ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.« 64 Dieser Behauptung widerspricht eine ihr später hinzugefügte Anmerkung explizit: »Unwahr. Sprache ist nicht aufgestockt, sondern ist das ursprüngliche Wesen der Wahrheit als Da.« 65 Sprache spielt also für die Unverborgenheit des Seienden, d. h. für das »als«, gemäß welchem es zugänglich wird, eine entscheidende Rolle.
5.
Die Irreduzibilität der Sprache
Für eine Praxistheorie, die auskommt, ohne der Sprache einen genuinen Stellenwert zuzusprechen, wäre das »als«, gemäß welchem ein
Heidegger, Nietzsche, GA 6.1, 177. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 117. 65 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 117. Mit Wahrheit ist hier selbstverständlich nicht Richtigkeit gemeint, sondern Unverborgenheit/Lichtung, d. h. alshafte Zugänglichkeit. 63 64
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
Seiendes zugänglich wird, überdeterminiert durch (1) die Beschaffenheit dieses Seienden selbst, (2) die Welt, aus der heraus es begegnet, sowie durch (3) die spezifische Situation, in der es begegnet (etwa, wenn das geöffnete Fenster Heidegger nahelegen würde, den Hammer nicht zum Hämmern zu verwenden, sondern als Papierbeschwerer – um den Stapel der Blätter eines entstehenden Manuskripts davor zu bewahren, durch einen Windstoß durcheinandergewirbelt zu werden). Soweit wäre die Zuhandenheit nichts anderes als die affordance im Sinne Gibsons, die keineswegs nur Menschen zukommt. Entsprechend ist auch argumentiert worden, dass Heidegger seine strikte Mensch-Tier-Unterscheidung 66 nur dadurch rechtfertigen könne, dass er Tiere, denen ihre Umwelt in komplexer und differenzierter Weise zugänglich ist (etwa Delphine oder Gorillas), ignoriere. 67 Nicht zufällig haben Vertreter einer pragmatistischen Heideggerlektüre entsprechend auch Schwierigkeiten, Heidegger überhaupt von Gibson abzugrenzen. 68 Ein Denker, der die Relevanz von Heideggers Sprachdenken umfassend gewürdigt hat, ist Richard Rorty. Rorty hält fest einerseits an der Mensch-Tier Unterscheidung und andererseits an der »alten Vorstellung […], daß wir wenig mehr wären als komplizierte Tiere, wenn wir nur materielle Bedürfnisse hätten«. Was Tiere und Menschen unterscheidet, ist seiner Auffassung nach Folgendes: »[E]in Tier zu Zur Kritik der gängigen voreilig moralisierenden Zurückweisungen dieser Unterscheidung vgl. Maria Agustina Sforza, »Anthropologische Differenz bei Heidegger. Überschneidungen zwischen Ek-sistenz, Leben und Technik«, in: Andreas Oberprantacher, Anne Siegetsleitner (Hg.), Mensch Sein: Fundament, Imperativ oder Floskel? Innsbruck, Innsbruck University Press, 2017, 105–115 sowie Andreas Beinsteiner, »The ›As‹ and the Open«. 67 Vgl. etwa Alasdair MacIntyre, Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtues, Chicago/La Salle, Open Court, 1999, 47: »The type of nonhuman animal ignored by Heidegger discriminates particulars, recognises individuals, notices their absences, greets their returns, and responds to them as food or as source of food, as partner in or material for play, as to be accorded obedience or looked to for protection and so on.« 68 Vgl. etwa Hubert L. Dreyfus, »The Myth of the Pervasiveness of the Mental«, in: Joseph K. Schear (Hg.), Mind, Reason, and Being-in-the-World. The McDowellDreyfus Debate, London, Routledge, 2013, 38: »Human beings live in a world in which affordances matter to us and draw us to act not merely on the basis of our needs and previous experience, as they do animals, but also on the basis of our nonconceptual background sense of how to live.« Wie ein solcher background sense of how to live angesichts seiner unterstellten Nichtkonzeptualität überhaupt möglich ist, bleibt bei Dreyfus unklar und damit auch die postulierte Mensch-Tier-Differenz selbst. 66
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sein bedeutet, niemals neue Wünsche zu haben, immer nur die gleiche Art von Dingen zu wollen.« 69 So mag einem komplexen Säugetier zwar ein und dasselbe andere Tier situationsabhängig entweder als Spielzeug oder als Beute zugänglich sein, das Spektrum möglicher Bezugnahmen bleibt dabei dennoch fixiert und realisiert sich entsprechend der drei oben genannten Determinanten. Der Mensch unterscheidet sich davon dahingehend, dass er nicht nur über pragmatische Problemlösungskompetenzen verfügt, sondern über Fähigkeiten der Welterschließung und der Reinterpretation, welche Problemhorizonte, die ansonsten fixiert wären, in völlig neuer Weise rekonfigurieren können und somit erst Geschichte in einem emphatischen Sinne ermöglichen. Wenngleich Welterschließung entgegen Rortys Auffassung nicht als Fähigkeit, sondern als Widerfahrnis konzeptualisiert werden sollte 70, hat er doch ihren wesentlichen Zusammenhang mit der Sprache erkannt. Was hinsichtlich der Rolle der Sprache auf dem Spiel steht, formuliert Heidegger so: Spricht der Mensch nur, weil er etwas, Dinge, Seiendes, kundmachen und bezeichnen will, so daß Sprache ein Werkzeug der bezeichnenden und darstellenden Kundgabe ist? Oder hat der Mensch überhaupt etwas Kundzumachendes, Benennbares, weil er und sofern er spricht, d. h. sprechen kann? Ist die Sprache ein wenn auch reichgegliederter Abklatsch des Seienden im Ganzen, oder ist dieses Seiende im Ganzen als Seiendes nur mächtig und entfaltet in und durch die Sprache? 71
Heidegger plädiert in aller Klarheit für die letztere Position. In der Sprache und als Sprache vollzieht sich nämlich der Einbruch des »als« in die Zugänglichkeit des Zugänglichen: »ein Entwerfen des Lichten, darin angesagt wird, als was das Seiende ins Offene kommt.« 72 Besagte Ansage ist jedoch keine Aussage und überhaupt nichts lautlich Vernehmbares. Vielmehr liegt »das verborgene Wesen (verbal) des Wortes« darin, dass es »sagend unsichtbar und schon im Ungesprochenen Richard Rorty, »Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit«, in: Joachim Küpper, Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2003, 49–66, hier 64. 70 Zu dieser Verkennung und ihren Implikationen für Rortys Heidegger-Lektüre vgl. Andreas Beinsteiner, »Primordiality and the Pragmata. A Critical Assessment of Rorty’s Challenge to Heideggerian Nostalgia«, in: Ondr\/ej Švec, Jacup Čapek (Hg.), Pragmatic Perspectives on Phenomenology, London/New York, Routledge, 2017, 53– 69. 71 Heidegger, Sein und Wahrheit, GA 36/37, 106. 72 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 61. 69
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
das Ding als Ding uns darreicht.« 73 Wir können ein Ding nur deshalb als dieses oder jenes ansprechen und darüber Aussagen treffen, weil die Sprache uns dieses Ding bereits vorprädikativ als dieses oder jenes zugänglich gemacht hat. Entgegen einer voreiligen Identifikation von Sprache und Sprechakt/Prädikation ist das Vorprädikative nicht schon das Vorsprachliche: Bevor wir auch nur ein Wort ausgesprochen haben, fungiert Sprache bereits als Medium der Zugänglichkeit des Seienden. 74 Der gewöhnliche Sprachgebrauch, der Sprache als Kommunikationsmittel versteht, hat diese grundlegende Funktion der Sprache immer schon – und meist unthematisch 75 – in Anspruch genommen. Die Leistung der Sprache, durch welche »hindurch der Mensch überhaupt sich zum Seienden verhält« ist hierbei genau jene, die in Heideggers Lektüre von Husserls 6. logischer Untersuchung durch die Akte der Ideation vollzogen worden war: »[F]ür eine Vielheit von Einzeldingen, z. B. einzelne Häuser, wird die Idee (Haus) gesetzt.« 76 Diese Idee macht »die Mannigfaltigkeit des Einzelnen […] beziehbar auf das Eine seines einheitlichen Aussehens« 77 und macht Heidegger, Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 227–257, hier 236. 74 Wenn Jacques Derrida, Geschlecht (Heidegger), Wien, Böhlau, 1988, Heidegger Phonozentrismus unterstellt, insofern dieser »kein Wort davon über die Lippen« bringe, dass das Wort seiner Konzeption gemäß »nicht notwendig immer seinen Gang über die Lippen« nehme bzw. »wesentlich verschieden von jeder phoné« sei (Derrida, Geschlecht, 76), so ist dies demnach nachweislich falsch. Die unsichtbare und ungesprochene Medialität der Sprache entgeht Derrida ebenso wie Jean-Luc Nancy, Die Mitteilung der Stimmen, Zürich, Diaphanes, 2014, der die Mit-Teilung auf eine MitTeilung der Stimmen und damit auf Artikuliertes, Gesagtes reduziert. 75 Als eine dergestalt unbedachte Reproduktion bereits etablierter Konfigurationen des »als« kann verstanden werden, was Heidegger in Sein und Zeit als Gerede bezeichnet: Das Sprechen/Schreiben als Vollzug hat hier die Kraft verloren, die durch Sprache als Medialität etablierten Zugänglichkeitsweisen zu verschieben oder in Bewegung zu halten und trägt lediglich zu ihrer Verfestigung bei. 76 Heidegger, Nietzsche I, GA 6.1, 174. 77 Heidegger, Nietzsche I, GA 6.1, 174. Hierbei handelt es sich nicht zufällig gerade um die Problematik der Subsumption, wie sie Heidegger an Kants transzendentalem Schematismus herausstellt. Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 95, wo wieder auf das Beispiel des Hauses zurückgegriffen wird: »Worauf wir es abgesehen haben, ist der Umkreis des möglichen Aussehens als solcher, genauer das, was diesen Kreis zieht, dasjenige, was regelt und vorzeichnet, wie etwas überhaupt aussehen muß, um als ein Haus den entsprechenden Anblick bieten zu können. Diese Vorzeichnung der Regel ist kein Verzeichnis im Sinne der bloßen Aufzählung der ›Merkmale‹, die an einem Haus vorfindlich sind, sondern ein ›Auszeichnen‹ des Gan73
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dergestalt das Einzelne erst als Haus zugänglich. Erst auf der Grundlage einer sprachlich geteilten Unverborgenheit dieses Seienden kann über dieses als Haus kommuniziert werden. Die Mit-Teilung einer gemeinsamen Sprache ist Voraussetzung jeglicher konkreten Mitteilung. 78 Irreduzibel gegenüber der Dimension pragmatischer Funktionalität ist die sprachlich geteilte Unverborgenheit des Seienden insofern, als sich die Bezüge, die zwischen mannigfaltigem Einzelnen und einem einheitlichen »als« erstellt, als rekonfigurierbar erweisen: Was bislang als dieses zugänglich geworden war, kann forthin als jenes erfahren werden. Die Konfigurationen des »als« sind Schauplatz einer unablässigen latenten öffentlichen Auseinandersetzung, in der sich »erst das Un-erhörte, bislang Un-gesagte und Un-gedachte« 79 zur Geltung bringen kann. Bislang nicht beachtete Aspekte am Seienden können so wahrgenommen werden. Gegenüber der affordance kommt dem sprachlichen »als« mithin ein zusätzlicher, in seinem Spielraum uneingrenzbarer Freiheitsgrad zu. In der Würdigung dieses Freiheitsgrades scheint mir der entscheidende Unterschied von Heideggers späterer Sprachkonzeption gegenüber der von Sein und Zeit zu liegen. Zwar wird die Rede dort als Übersetzungsversuch für logos eingeführt. Der logos wird hierbei jedoch im Sinne eines »Offenbarmachens« bzw. »aufweisenden Sehenlassens« gedeutet 80, welches letztlich nur eine Bedeutsamkeit artikuliert bzw. verdoppelt, welche schon vor ihm und von ihm gänzlich unberührt besteht (z. B. das berühmte (Zu-)Schwer-Sein des Hammers): Die »befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins« spricht sich »als Rede« bloß aus, den vorgängigen Bedeutungen »wachsen Worte zu«. 81 Hier scheint sich die Variabilität menschlicher Existenzvollzüge auf die Umgestaltbarkeit von Zeugzusammenhänzen dessen, was mit dergleichen wie ›Haus‹ gemeint ist.« Heideggers Hervorhebung der Rolle der Einbildungskraft in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft könnte als Andeutung der Abgründigkeit und Variablität solcher Regel-Vorzeichung gelesen werden, wie sie später der Sprache zugeschrieben wird. 78 Sprachlichkeit wäre somit nicht schon mit Diskursivität gleichzusetzen – es sei denn, man versteht letztere im Sinne Heideggers wörtlich als jenen Umweg der »Hinblicknahme auf ein Allgemeines« (Platonische Idee/Kategoriale Anschauung), »durch das hindurch und von dem her das mehrere Einzelne begrifflich vorstellbar wird« (Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 30). 79 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, 66. 80 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 44. 81 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 214.
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
gen zu beschränken. Wenn jedoch umgekehrt das Wort erst dem Ding das Sein verschafft 82 – d. h. es das Ding in einer variablen und unabdingbar selektiven Weise für uns überhaupt erst als dieses oder jenes zugänglich macht und zur Geltung bringt – dann können sich stets neue und unvorhersehbare Bezüge zwischen uns und den Dingen entfalten, die nie auf eine ihnen vorgängige und sie fundierende »pragmatische« Orientierung reduzierbar sind. 83 So ermöglicht Sprache die genuine geschichtliche Offenheit des Menschen, gegenüber bislang unbeachteten und marginalisierten Aspekten am Seienden sowie gegenüber neuen Sinnzusammenhängen responsiv zu bleiben. »Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen. Nur wo Sprache, da ist Welt […]. Nur wo Welt waltet, da ist Geschichte. Die Sprache […] leistet Gewähr, daß der Mensch als geschichtlicher sein kann.« 84 Ihr ist es zu verdanken, dass der Mensch immer schon mehr ist – und sein muss – als ein reiner Praktiker.
6.
Transformationen geteilter Zugänglichkeit
Ich habe im vorliegenden Aufsatz versucht, nachzuzeichnen, inwiefern seine Aneignungen von Husserls kategorialer Anschauung und Platons Ideenlehre Heidegger zu einer Konzeption vorprädikativer sprachlicher Medialität geführt haben, die gegenüber pragmatischen 82 Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 147–204, hier 154. 83 Dieser Umbruch manifestiert sich auch darin, dass Sein und Zeit eine recht klare Beurteilbarkeit der Angemessenheit der Rede hinsichtlich des von ihr offenbar Gemachten suggeriert: Der logos kann »falsch sein«, im Sinne von »etwas […] ausgeben als etwas, was es nicht ist« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 44). Später tritt jedoch die Problematik der lethe gegenüber derjenigen des pseudos in den Vordergrund: Wenn nämlich das Wort erst das Sein vergibt, Sprache mithin in das stets selektive Anwesen dessen, wovon gehandelt wird, irreduzibel verstrickt ist, so verkompliziert sich die normative Dimension, gemäß welcher ein Vokabular phänomenologisch zu beurteilen wäre (mit dieser grundlegenden Problematik ringt Unterwegs zur Sprache): An die Stelle einer asymptotisch anzunähernden Angemessenheit eines Vokabulars an ein von diesem unabhängiges Phänomen tritt eine Sensitivität für das Unabgegoltene – für das, was im Medium dieses Vokabulars nicht zur Geltung zu kommen, nicht Phänomenalität zu erlangen vermag. Der Oszillation des Vokabulars kommt deshalb Priorität zu gegenüber seiner Exaktheit. 84 Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 33–48, hier 38.
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Weltbezügen irreduzibel bleibt und so die spezifische Offenheit und Geschichtlichkeit des Menschen ermöglicht, ohne dabei ein menschlicher Verfügung unterstelltes Vermögen zu sein. 85 Wird damit eine transzendentalistische Heideggerlektüre sowie Medien- und Sprachauffassung reinstalliert? Ein wesentliches Anliegen auf Praxis und Performativität hin orientierter Theoriebildung war es gerade, mit der transzendentalistischen Dominanz des Sprachlichen nach dem linguistic turn zu brechen. So argumentiert Sybille Krämer den »Vorrang des Vollzugs gegenüber seinem Schema, der Praxis gegenüber ihrem Programm« anhand eines – nicht in der Sprache, sondern gerade umgekehrt – im Performativen entstehenden Überschusses, »der das, wovon wir dabei Gebrauch machen, immer auch verändert, unterminiert, übersteigt«. 86 Werden solche Überschüsse des Materiellen und Performativen gegenüber dem Sinn nicht gerade durch die hier herausgearbeitete Konzeption von Sprache als irreduziblem, selektivem und variablem Medium der Zugänglichkeit des Seienden negiert? Und wird hierbei nicht zuletzt verabsäumt, der in jüngerer Vergangenheit durch den affective turn hervorgehobenen Relevanz des Affektiven und Pathischen gegenüber der Sprache Rechnung zu tragen? Das vorprädikative »als« ist keine Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung überhaupt. Wie Heidegger klarstellt, ist ein alsfreies Erfassen reiner Sinneseindrücke durchaus möglich, es bedarf bloß einer »sehr künstlichen und komplizierten Einstellung«. 87 Wohl aber ist das »als« Bedingung der Möglichkeit von Mitteilbarkeit und damit davon, dass etwas gesellschaftliche Relevanz erlangen kann. Zweifellos haben wir es, wie in Theorien des Performativen beobachtet, in unseren materiellen Vollzügen vielfach mit Widerständigem, Unfüglichem und Irreduziblen zu tun, das dem Sinn ebenso sehr vorausgeht wie es ihn unablässig irritiert und bedroht. 88 Zentral er»Der Mensch gebärdet sich, als sei er Bildner und Meister der Sprache, während doch sie die Herrin des Menschen bleibt.« (Heidegger, »… dichterisch wohnet der Mensch …«, in: Vorträge und Aufsätze, GA 7, 189–208, hier 193) In ihrer für menschliches Denken, Handeln und Begehren konstitutiven Erschließungsleistung ist Sprache kein Vermögen, sondern ein – wenngleich kaum als solches wahrgenommenes – Widerfahrnis. 86 Sybille Krämer, »Kann eine performativ orientierte Medientheorie den ›Mediengenerativismus‹ vermeiden?«, in: Gerhard Johann Lischka, Peter Weibel (Hg.), ACT! Handlungsformen in Kunst und Politik, Bern, Benteli, 2004, 66–83, 73. 87 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 217. 88 Auf diesen Sachverhalt hat insbesondere Dieter Mersch wiederholt und mit Vehe85
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Kommunikationsmittel oder Medium der Zugänglichkeit des Seienden?
scheint mir in diesem Zusammenhang jedoch weniger das bloße Faktum des leiblichen Affiziertwerdens von solchen Irreduzibilitäten, als die Frage nach dem »Durchschlag« des Irreduziblen in die Sphäre des geteilten Sinns – bleibt letzterem gegenüber alle aisthetische Irritiation doch zumeist ephemer: Wie kann aus einem bislang in den etablierten Konfigurationen des »als« Unabgegoltenen, einem »Nichts«, eine Sache geteilten Angegangen-Werdens werden, eine res publica im Sinne dessen, »was jeden im Volke offenkundig angeht […] und darum öffentlich verhandelt wird«? 89 Wie kommt es zu geteilten Erfahrungen, durch die sich ein »Wandel der Unverborgenheit des Seienden« ereignet, 90 der »[d]as Bisherige […] in seiner ausschließlichen Wirklichkeit […] widerlegt«? 91 Denn erst in solchem Wandel realisiert sich eine Offenheit bzw. Responsivität, die auch sozial und politisch von Belang ist, insofern sie etablierte gesellschaftliche Praktiken aus ihrer Verfestigung löst. 92 Heidegger hat in solchen transformativen Erfahrungen stets der Stimmung eine privilegierte Rolle zugeschrieben. Grundstimmungen der Angst, Langeweile, des Staunens oder Erschreckens vollziehen sich nie einfach jenseits der alshaften Zugänglichkeit des Seienden menz hingewiesen. Vgl. etwa Mersch, »Meta/Dia«, 208: »[W]ir erfahren Welt vermittels jener Praktiken, mit denen wir sie bearbeiten, deren Fremdheit und Materialität umgekehrt auf sie wieder zurückschlagen, um in sie ein gleichermaßen unbeherrschbares wie ›unfügliches‹ Element einzutragen.« 89 Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, GA 7, 163–187, 176. 90 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 60. 91 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 63. Zur Frage der De/Stabilisierung von Konfigurationen des »als« in der Öffentlichkeit vgl. Andreas Beinsteiner: »Matrize und Gerede: Potentiale der Kritik medialer Öffentlichkeit bei Anders und Heidegger im Spannungsfeld von Postfundamentalismus und neuem Realismus«, Behemoth. A Journal on Civilization, 10 (2), 2018, 40–55. 92 Diese politisch zentrale Frage der möglichen Transformation gesellschaftlich maßgeblicher Verstehenshorizonte bleibt unabgegolten, wenn Mit-Sein mit Jean-Luc Nancy auf das bloße »daß« der gemeinsamen Existenz reduziert wird, ohne eigens in Rechnung zu stellen, wie die Weisen des Mit-Seins stets schon durch geteilte Konfigurationen des »als« präformiert werden. Insofern Nancy, Singulär Plural Sein, Zürich, Diaphanes, 2004, eine Auffassung von Sinn als »ein Milieu, in das wir eingetaucht sind« (Nancy, Singulär Plural Sein, 25) zurückweist, um Sinn ausschließlich als »seine eigene Kommunikation« oder »Zirkulation« aufzufassen (Nancy, Singulär Plural Sein, 19), entgehen ihm die Weisen der Unverborgenheit, auf denen solches Zirkulieren stets bereits aufruht. Gerade das Unthematisch- und SelbstverständlichBleiben etablierter Zugänglichkeitsweisen und Sinnzusammenhänge verfestigt letztere und impliziert eine Gewaltsamkeit, mit der die Marginalisierung des Marginalisierten bekräftigt und festgeschrieben wird.
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Andreas Beinsteiner
oder an ihr vorbei. Sie sind nicht nur – ebenso wie die Sprache – »die ›Voraussetzungen‹ und das ›Medium‹ des Denkens und Handelns« 93, sondern greifen in jene transformativ ein, versetzen sie in Bewegung. 94 Wie Heidegger in seiner Phänomenologie des thaumazein ausführt, fungiert das »als« nämlich als »jenes im Er-staunen auseinandergeworfene ›Zwischen‹, das Offene eines noch kaum geahnten und bedachten Spielraumes, in dem das Seiende als ein solches ins Spiel kommt, nämlich als das Seiende, das es ist, in das Spiel seines Seins«. 95 Das verbal und transitiv verstandene Er-staunen erlangt seine eigene Befremdung über die vermeintliche Selbstverständlichkeit der etablierten Konfigurationen des »als« und durchbricht somit deren starre Verbindlichkeit. Erst hermeneutische Oszillation, das Vibrieren der sprachlich strukturierten Zugänglichkeit des Seienden jenseits fixierter Konfigurationen ist jenes Ereignis, 96 das dem Menschen Offenheit, Responsivität und Geschichtlichkeit gewährt.
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 102. 94 Insofern scheint mir auch noch die von Chiara Pasqualin, »Der ›pathische‹ Grund des Hermeneutischen: die ontologische Priorität der Befindlichkeit vor dem Verstehen«, Heidegger Studien, 31, 2015, 129–151 – sehr differenziert – argumentierte These von der ontologischen Autonomie der Befindlichkeit gegenüber dem Verstehen übers Ziel hinauszuschießen: Im Gegensatz zu »Hang und Drang«, bei welchen fraglich ist, ob sie »im Dasein überhaupt rein aufweisbar sind« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 257), beziehen sich Stimmung und Befindlichkeit immer schon auf eine durch Verstehen bzw. Alshaftigkeit strukturierte Welt: Wir hätten es bspw. nicht mit Angst zu tun, sondern mit einer gleichsam animalischen Panik, wenn in ihr nicht ein bereits etabliertes Verständnis des Seienden destabilisiert würde. Mithin kennzeichnet die Angst gerade keine »›vor-hermeneutische‹ Erfahrung« (Pasqualin, »Der ›pathische‹ Grund des Hermeneutischen«, 146), sie greift vielmehr stets in ein schon bestehendes Bedeutsamkeitsgefüge irritativ ein. 95 Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte ›Probleme‹ der ›Logik‹, GA 45, 169. 96 Wie Matthias Flatscher, Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Heidegger und Wittgenstein, Freiburg/München, Alber, 2011, der die responsive Dimension von Heideggers Sprachdenken hervorhebt, ausführt: »Das uns Treffende könnte uns gar nicht angehen und vernehmend entgegengenommen werden, wenn es keine Stätte gäbe, in dessen Offenheit es sich überhaupt entfalten könnte« (Flatscher, Logos und Lethe, 237). Mein Vorschlag geht dahin, diese jenseits von Aktivität und Passivität zu situierende Offenheit präzise als die Variabilität des »als« zu verstehen, dank welcher radikal offen bleibt, in welcher Weise das uns Treffende uns zugänglich und für uns relevant wird. Zu einer Interpretation von Heideggers Ereigniskonzeption in diesem Sinne vgl. näher Beinsteiner, »Ontoludologie«. 93
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Das Vorprädikative als Sprechanregung Grundzüge der Heidegger’schen Interpretation der Rhetorik Diego D’Angelo
Zusammenfassung: In der Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie im Sommersemester 1924 unternimmt Heidegger u. a. eine Auseinandersetzung mit der Rhetorik des Aristoteles, welche im gesamten Heidegger’schen Korpus ein Unikum bleibt. In Hinblick auf das Thema des Vorprädikativen ist diese Auseinandersetzung vor allem deswegen interessant, weil in der Analyse der Furcht ebendiese vorprädikative Stimmung als Anlass und Anregung zum Sprechen verstanden wird. In diesem Sinne lässt sich fragen, in welchem Verhältnis das Vorprädikative und das Sprechen zueinanderstehen. Das Vorprädikative wird als Negation der Prädikation formuliert, und die Stimmung der Furcht zeigt die notwendige Ko-implikation von Stimmung und Erfahrung auf eine prägnante Art und Weise. Der vorliegende Beitrag argumentiert dementsprechend dafür, dass das Vorprädikative sich ohne Sprache – zumindest zu dieser Zeit des Heidegger’schen Denkens – nicht denken lässt. Obwohl Heidegger eine Schicht der Erfahrung vor der Prädikation thematisiert, ist diese Schicht philosophisch nicht beschreibar: Demgemäß gibt es kein Vorprädikatives, da notwendig jede Beschreibung dieser Erfahrungsschicht der Sprache als Referenzpunkt bedarf.
1.
Einleitung »Wer Wissenschaft gewählt hat, hat die Verantwortlichkeit für den Begriff übernommen.« 1
Heideggers Auseinandersetzung mit den Schriften des Aristoteles durchzieht sein gesamtes Schaffen. Nicht nur liegen die Anfänge sei-
1
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 334.
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nes Denkens in der Interpretation der Schriften Duns Scotus, 2 der als scholastischer Denker auf Aristoteles fußt, 3 sondern es lassen sich mehrere Texte in allen Phasen von Heideggers Denken finden, die sich mit dem Stagirit beschäftigen – zumindest bis zum Anfang der 40er Jahre; danach scheint Heideggers Interesse für Aristoteles, insbesondere nach der Veröffentlichung der Abhandlung über die Physis und dem Abhalten der Vorlesungen über Metaphysik Θ, nachzulassen. Eine besondere Dichte erreicht die Aristoteles-Interpretation aber in der ersten Hälfte der 20er Jahre, wenn Heidegger innerhalb kürzester Zeit gleich drei Vorlesungen zu Aristoteles an der Universität Marburg hält. 4 Im Korpus der Heidegger’schen Aristoteles-Interpretation nimmt die Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie aus dem Sommersemester 1924 eine besondere Stellung ein. Vor allem für die Frage, der hier nachgegangen werden soll, namentlich diejenige nach dem systematischen Wert des Vorprädikativen in Heideggers Denken, gewährt diese Vorlesung einen aufschlussreichen Einblick in Heideggers Lektüre der aristotelischen Rhetorik. Wie wir zeigen werden, gibt die Art und Weise, wie Heidegger dieses Werk des Aristoteles liest, einige wichtige Hinweise für das Verständnis des
2 Vgl. Heidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: Frühe Schriften, GA 1, 189–412. 3 Vgl. Thomas Williams, The Cambridge Companion to Duns Scotus, New York, Cambridge University Press, 2002. Zu Heideggers Interpretation, vor allem in Bezug auf die hier relevante Fragestellung zu Sprache und dem Vorprädikativen, vgl. Sean J. McGrath, »Heidegger and Duns Scotus on Truth and Language«, The Review of Metaphysics, 57 (2), 2003, 339–358, sowie Matthew Rampley, »Meaning and Language in Early Heidegger: From Duns Scotus to Being and Time«, Journal of the British Society for Phenomenology, 25 (3), 1994, 209–228. 4 Vgl. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, in: Wegmarken, GA 9, 239–301; Heidegger, Aristoteles Metaphysik IX 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, GA 33; Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61; Heidegger, Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik, GA 62; Heidegger, Dasein und Wahrsein (nach Aristoteles) (1923/1924), in: Vorträge, GA 80.1, 55–101; Heidegger, Seminare: Platon, Aristoteles, Augustinus, GA 83. Die Forschungslandschaft zu Heidegger und Aristoteles ist sehr breit, deshalb soll es hier genügen, die Titel zu nennen, die für die hier vorgelegte Interpretation besonders relevant sind: Franco Volpi, Heidegger e Aristotele, Roma/ Bari, Laterza, 1987; Alfred Denker, Günter Figal, Franco Volpi, Holger Zaborowski (Hg.), Heidegger und Aristoteles. Heidegger-Jahrbuch 3, Freiburg/München, Alber, 2007.
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
Vorprädikativen (eine Denkfigur allerdings, die vor allem vor der sogenannten Kehre zentral ist). Die Interpretation der Rhetorik des Aristoteles bleibt im gesamten Heidegger’schen Korpus ein Unikum, auf das die Forschung – mit Ausnahme einiger brillanter Beiträge – bis dato nur in unzureichendem Maße eingegangen ist. 5 In Hinblick auf das Thema des Vorprädikativen ist diese Auseinandersetzung vor allem deswegen interessant, weil Heidegger hier das Vorprädikative in seinem Verhältnis zum Sprechen näher definiert. Um die Ergebnisse dieses Beitrags so prägnant wir möglich einmal vorwegzunehmen: In der Analyse der Stimmung der Furcht wird das Vorprädikative als Anlass und Anregung zum Sprechen verstanden. Trifft dies zu, dann sind vorprädikative Stimmungen insofern selbst nicht sprachlich, als sie Bedingungen des Sprechens sind. Als terminologische Erklärung soll direkt hinzugefügt werden, dass der Begriff der Nichtsprachlichkeit keineswegs einen kategorischen Unterschied zwischen dem Sprechen und dem Vorprädikativen impliziert, sondern vielmehr ein Verhältnis gegenseitiger Bestimmung anzeigt, innerhalb derer man die beiden Pole des Verhältnisses begrifflich jedoch sehr wohl auseinanderhalten kann. Ist diese Lesart sinnvoll, so lässt sich genauer fragen, in welchem Verhältnis das Vorprädikative und das Sprechen zueinander stehen. Das Vorprädikative ist als Negation der Prädikation formuliert, aber es steht noch nicht fest, ob Sprache (bzw. Sprechen) und Prädikation notwendigerweise dasselbe sind. Diese Frage wird im dritten Paragraphen dieses Beitrags (3.) diskutiert und verneinend beantwortet. Im vierten Paragraphen (4.) zeigt eine eingehende Analyse der Stimmung der Furcht die notwendige Ko-implikation von Stimmung und Erfahrung auf eine prägnante Art und Weise. Dabei wird Furcht als Anlass zum Sprechen verstanden. Der fünfte und letzte Paragraph 5 Leitend für diesen Beitrag sind die Überlegungen von Chiara Pasqualin, Il fondamento »patico« dell’ermeneutico. Affettività, pensiero e linguaggio nell’opera di Heidegger, Roma, Inschibboleth, 2015, vor allem 120–177. Eine ebenso zentrale Rolle kommt der Aufsatzsammlung von Daniel M. Gross und Ansgar Kemmann (Hg.), Heidegger and Rhetorik, New York, SUNY University Press, 2005, wie der Sammlung von Josef Kopperschmidt (Hg.), Heidegger über Rhetorik, München, Wilhelm Fink, 2009, zu. Zum Thema der Rede in Bezug auf die Heidegger’schen Interpretation vgl. den hervorragenden Beitrag von Jesùs Andriàn Escudero, »Heidegger on Discourse and Idle Talk: The Role of Aristotelian Rhetoric«, Gatherings: The Heidegger Circle Annual, 3, 2013, 1–17.
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(5.) des vorliegenden Beitrags argumentiert dementsprechend dafür, dass das Vorprädikative zumindest zu dieser Zeit des Heidegger’schen Denkens zwar begrifflich vom Sprechen unterschieden werden kann, aber sich ohne Sprache nicht denken lässt. An sich gibt es kein Vorprädikatives, da notwendig jede Beschreibung dieser Erfahrungsschicht der Sprache als Referenzpunkt notwendig bedarf. Diesen Schritten der Argumentation ist eine methodologische Vorbemerkung (2.) vorangestellt, welche die hermeneutischen Vorentscheidungen der vorliegenden Lektüre offenlegt.
2.
Methodologische Vorbemerkung
Ich möchte auf drei unterschiedliche, aber komplementäre methodische Überlegungen hinweisen, die im Kontext dieses Beitrags wichtig sind, um Missverständnisse zu vermeiden. a) Der Beitrag setzt sich nicht zum Ziel, die Frage nach dem Begriff des Vorprädikativen bei Heidegger abschließend zu klären. Das ist womöglich ohnehin ausgeschlossen, da die Position Heideggers sich ebenso stillschweigend wie schnell weiterentwickelt und nicht zuletzt auch, weil das Thema bei ihm nicht mit der nötigen Klarheit herausgearbeitet worden ist. Der Begriff des Vorprädikativen ist aber auch von systematischer Relevanz und verdient daher, von der Forschung weiter erschlossen zu werden. Was hier präsentiert wird, ist demzufolge nur die Interpretation der Rolle und der Bedeutung des Vorprädikativen in einer bestimmten Vorlesung Heideggers und erhebt deswegen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. b) Nicht nur muss die Diskussion des Begriffs des Vorprädikativen hier unvollständig bleiben, sondern sie entspringt auch einem bestimmten Zugang unter vielen möglichen und ist daher partikular. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Vorprädikativem lässt sich aus verschiedenen Perspektiven heraus angehen, und der Zugang, den wir hier gewählt haben, indem wir den aristotelischen Begriff der Furcht ins Zentrum gerückt haben, ist nur eine Möglichkeit unter vielen. c) Aus a) und b) ergibt sich, dass im folgenden Beitrag keine Unterscheidung gemacht werden kann zwischen einem vermeintlich echten Aristoteles und dem Heidegger’schen Aristoteles, aber auch nicht zwischen einem vermeintlich echten Heidegger und 80 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Das Vorprädikative als Sprechanregung
einem Aristoteles interpretierenden Heidegger. Der Text der Vorlesung wird als Quelle benutzt, um einer begrifflichen, nicht historischen, Frage nachzugehen. Probleme der Zuschreibung sind somit von vornherein ausgeschlossen. Dieser Beitrag versucht zu rekonstruieren, was die Aristoteles-Vorlesung von 1924 zum Problem des Vorprädikativen zu sagen hat, und nicht, was Heideggers »letzte Meinung« war. Nicht nur ist diese letztgenannte Frage hermeneutisch unsinnig, sie ist auch vollkommen uninteressant. Insofern halten wir uns in unserer Lektüre der Vorlesung an eben jenes Diktum, das Heidegger dort selbst proklamiert: »Bei der Persönlichkeit eines Philosophen hat nur das Interesse: Er war dann und dann geboren, er arbeitete und starb.« 6
3.
Sprechen, Prädizieren und Reden: Aspekte des λόγος-Begriffs
Zunächst scheint es sinnvoll, eine allgemeine Beobachtung zur Aristoteles-Vorlesung im Hinblick auf die Begriffe des Sprechens, des Prädizierens und des Redens anzustellen. Denn in dieser Vorlesung fällt das Wort »Prädizieren« ebenso wenig wie terminologisch verwandte Begriffe. Die einzige Ausnahme bildet das Wort »Prädikabilien«, das direkt am Anfang der Vorlesung in Bezug auf das Verständnis des Begriffs der Definition steht. In einer Definition wird nämlich von einer Sache etwas ausgesagt, und das Wort »Prädikabilien« wird als Übersetzung für κατηγορήματα eingeführt. 7 Wird ein Begriff definiert, so geschieht das – klassischerweise – durch das Moment des proprium und das der differentia specifica. 8 Mit solchen Überlegungen bewegen wir uns aber nicht ausschließlich im Bereich wissenschaftlicher Theoriebildung – denn Wissenschaft fasst Heidegger in dieser Vorlesung als eine Grundmöglichkeit »der Existenz des Menschen« 9. Dementsprechend kommt der Definition eine Rolle zu, die weiter reicht als die ausdrückliche Theoriebildung: Die Definition ist eine »Grundmöglich6 7 8 9
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 5. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 16. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 15. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 6.
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keit des Sprechens des Menschen«, eine Möglichkeit nämlich, die darin besteht, ausdrücken zu können, »wie die [scil: jeweils] gemeinte Sache erfahren ist.« 10 Eine Definition ist somit keine ad hoc getroffene Voraussetzung, um sich klare Begrifflichkeiten an die Hand zu geben; vielmehr stellt eine Definition den Versuch dar, eine Sache genauso aufzufassen, wie sie erfahren wird. Damit lässt sich die Prädikation spezifizieren und auf den Punkt bringen: Etwas von einer Sache prädizieren heißt demnach, zur Sprache zu bringen, wie diese Sache erfahren wird. 11 Prädizieren heißt also, das Wie der Erfahrenheit auszudrücken. 12 Ist nun die Prädikation als Grundbestimmung des Sprechens überhaupt zu verstehen oder gibt es, neben dieser Grundmöglichkeit des Sprechens, noch andere Erscheinungsweisen des menschlichen Sprechens, die gerade nicht prädikativ sind? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einmal in Erfahrung bringen, wie der Begriff des Sprechens von Heidegger in dieser Vorlesung verwendet wird. Erstens ist es auffallend, dass Heidegger das Wort »Sprache« vermeidet – diesem jedoch vor allem in seinen späteren Werken eine immer größere Rolle zuschreibt – und sich stattdessen ganz dem Lebensvollzug des Sprechens (verbal-prozessual) widmet. Zweitens wird Sprechen nicht nur als Lebensvollzug im Allgemeinen gefasst, sondern als eine spezifische Weise des Lebensvollzugs, nämlich eine, die sich nur mit einem Adressaten zusammen denken lässt. »Jedes Sprechen ist, vor allem für die Griechen, ein Sprechen zu einem oder mit anderen, mit sich selbst oder zu sich selbst. Sprechen ist im konkreten Dasein, da man nicht allein existiert, Sprechen mit anderen über etwas. Mit anderen über etwas Sprechen ist jeweilig ein Sichaussprechen.« 13 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 13. Heidegger unterscheidet hier zwei Bedeutungen des Prädizierens: Einerseits heißt Prädizieren die Bestimmung einer Sache in ihrem Sein; andererseits aber die Umgrenzung dieser Sache (vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 12). 12 Hier scheint mir ein Unterschied zu liegen gegenüber der Position in Sein und Zeit, wo das Schema des »etwas als etwas« schon »in der Struktur des vorprädikativen Verstehens vorgezeichnet« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 359) ist. Um aber die Frage zu beantworten, ob die Positionen aus Sein und Zeit und die aus der Aristoteles-Vorlesung tatsächlich so weit auseinander liegen, wäre eine eigenständige Untersuchung notwendig. 13 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 17 (Hervorh. i. O.). 10 11
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
Die Grundfunktion dieses Sichaussprechens wird von Heidegger näher bestimmt als ἀποφαίνεστθαι, nämlich als das »Eine-Sachezum-Sehen-Bringen«: 14 »im Sprechen mit anderen und mit mir selbst bringe ich mir das Angesprochene zur Gegebenheit, in der Weise, dass ich im Sprechen erfahre, wie die Sache aussieht« 15. Die Erfahrung des Aussehens einer Sache ist nur im Sprechen möglich, genauer: im Miteinandersprechen, und sei es auch nur im Reden mit mir selbst. Die Erfahrung, die wir von der Welt machen, hängt entschieden davon ab, wie gesprochen wird: »Das In-der-Welt-Sein des Menschen ist im Grunde bestimmt durch das Sprechen.« 16 Gehört nun zum Sprechen als Grundmöglichkeit das Definieren, also das Prädizieren, dazu, so kann man dafür argumentieren, dass die Definition von Begriffen genau das ausdrückt, wie eine Sache aussieht bzw. wie diese erfahren ist und weder diese Erfahrung noch dieses Aussehen selbst bestimmt. Die Bestimmung des Aussehens einer Sache und ihrer Erfahrung geschieht durch das Sprechen im Allgemeinen. Stimmt es nun, dass man Prädikation – als eine Grundmöglichkeit des Sprechens – das Ausdrücken des Wie der Erfahrung und des Aussehens einer Sache besagt, und dass diese Erfahrung und dieses Aussehen durch das Sprechen, nicht aber durch die Prädikation bestimmt sind, so lässt sich ein Unterschied ausmachen zwischen Sprechen und Prädizieren. Prädizieren heißt, das Gesprochene zum Ausdruck zu bringen. Der Mensch, so könnte man sagen, spricht immer, prädiziert aber nicht die ganze Zeit. Ein längeres Zitat bezeugt dies: Im natürlichen Umgang sind mir die vertrauten Gegenstände nicht eigentlich da, ich sehe darüber hinweg, sie haben nicht den Charakter der Präsenz, sie sind viel zu alltäglich, sie verschwinden gleichsam aus meinem alltäglichen Dasein […]. Die Jeweiligkeit ist gar nicht zunächst und direkt gegeben. Es bedarf einer Abstandnahme, um die Alltäglichkeit in ihrem Dasein zu sehen, präsent zu haben, und die Seinscharaktere, die das Daseiende in seinem Dasein ausdrücklich zeigen, die den Da-Charakter des Daseins ausmachen, sind in dem τὸ τί ἦν εἶναι des Aristoteles beschlossen. 17
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 17. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 17. 16 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 18 (Hervorh. i. O.). 17 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 32–33. 14 15
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Im praktischen Umgang mit den Gegenständen sind diese Gegenstände nicht in ihrer Gegenständlichkeit und in ihrem Aussehen erfahren. Sie verschwinden, werden bald vergessen und gehen vollständig im Besorgen auf – ein Besorgen, das von Heidegger in dieser Vorlesung als eine Art des »Sprechens« und sogar als »Besprechen« definiert wird. 18 Mit der Entstehung einer Abstandnahme – man denke hier an die Analyse der Auffälligkeit und des gebrochenen Zeugs aus Sein und Zeit, auf die wir nicht eingehen können – gerät aber die Alltäglichkeit des Besorgens in eine neue Konfiguration, wo man zum Ausdruck bringt, was diese Sache, die wir gerade besorgen, sein sollte. »Der Hammer sollte hämmern«, ist aber kaputtgegangen: Gerade in einer solchen Situation wird den Hammer als Hammer definiert (als Zeug zum Hämmern) und gerade deswegen in seinem Aussehen erfahren; durch die Prädikation als Bestimmung dieses Zeugs wird das Wie der Erfahrenheit ausgedrückt. Dass man einen solchen Unterschied machen kann, zeigt sich unter anderem darin, dass Tiere die Welt gerade auf diese ungegenständliche Art und Weise erfahren: »Die Welt ist im Charakter des ἡδύ [in etwa: das Angenehme] und λυπηρόν [in etwa: das Unangenehme] ungegenständlich, die Tiere haben die Welt nicht als Gegenstände da. Die Welt begegnet in der Weise des Hebenden und Verstimmenden, sie begegnet in diesem Charakter so, dass die Lebenden diesen Charakter direkt in das Daseiende hineinsprechen.« 19 Dass ein solcher Unterschied durchaus auch für den Menschen in Anspruch genommen werden kann, legt Heidegger nahe, indem er die zwei Begriffe ἡδύ und λυπηρόν für den Menschen einfach anders bestimmt. Die Welt zeigt sich laut Heidegger für den Menschen zunächst und zumeist nicht als ἡδύ oder λυπηρόν, sondern als etwas Zuträgliches oder als etwas Abträgliches, was er terminologisch als die Beiträglichkeit der Welt festhalten möchte. 20 »Beiträglichkeit« heißt nun nichts anderes als: »im Hinblick auf etwas«, »mit Verweis auf etwas.« 21 Somit ist gezeigt, dass die Verweisungsganzheit der Welt zwar sprachlich – daher der Unterschied zwischen einerseits ἡδύ und λυπηρόν für die Tiere, die über die menschliche Sprache nicht verfügen, und andererseits der Beiträg-
18 19 20 21
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 61. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 48. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 59. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 58.
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
lichkeit der Welt des sprechenden Lebewesens –, nicht aber prädikativ geformt wird. Nun müssen aber zwei Aspekte betont werden. Zum einen ist unser alltägliches Besorgen, egal welcher Art, schon immer durch Sprache, nicht aber durch Prädikationen mitbestimmt – wie gerade gesehen. Zum anderen kann man feststellen, dass diese Prädikation eben durch Ausdrücken des τὸ τί ἦν εἶναι stattfindet, also indem der Gegenstand definiert wird. Einen Gegenstand zu sehen bedeutet nämlich, gemäß dem aristotelischen Verständnis der Definition als τὸ τί ἦν εἶναι, den Gegenstand in seiner Geschichte zu sehen: »Ich sehe ein Daseiendes eigentlich in seinem Sein, wenn ich es in seiner Geschichte sehe, das so Daseiende, aus seiner Geschichte ins Sein gekommen«. Damit hängt die Heidegger’sche Interpretation der aristotelischen Philosophie zusammen, laut der das Sein für Aristoteles Fertigsein bedeutet – was aber in diesem Beitrag außen vor gelassen werden muss. Sehen heißt aber daher: eine Sache unter dem Gesichtspunkt ihrer begrifflichen Geschichte zu sehen, nämlich als das, was sie durch alle Stufen des wissenschaftlichen Definitionsprozesses hindurch geworden ist. Die Prädikation, die eine Sache wissenschaftlich und theoretisch bestimmt, legt schon von vornherein fest, was von dieser Sache prädiziert werden darf und was nicht. Um den Unterschied zwischen menschlicher Sprache, die von der Definition fähig ist, und tierischer Sprache zu markieren, rekurriert Heidegger auf die Unterscheidung zwischen λόγος und φωνή. Diese Unterscheidung ist allerdings nicht genauso aufzufassen wie der Unterschied, der zu einem Gemeinplatz der Heidegger-Forschung geworden ist, zwischen Rede und der Hinausgesprochenheit der Rede aus Sein und Zeit. Geht es dort um eine Rede, für die von vornherein die Möglichkeit besteht, sich in einer Verlautbarung auszusprechen, die der Rede als solche aber nicht wesentlich zukommt, so steht es in dieser Vorlesung mit der Sache anders. Nachdem Heidegger den Unterschied zwischen λόγος und φωνή einführt 22 – ein Unterschied, den man auch an unterschiedlichen Verwendungsweisen dieser Wörter im Altgriechischen veranschaulichen könnte –, hält er fest, dass der λόγος zum Menschen gehört, zum Tier dagegen die φωνή. »Wir wollen – was Aristoteles mit Bewusstsein getan hat – den λόγος abheben gegenüber anderen Weisen des Seins-in-der-Welt, gegen die φωνή.
22
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 46.
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[… Aristoteles] stellt das ζῷον λόγον ἔχον im Vergleich mit einem ζῷον, das nur die φωνή hat.« 23 Zwischen λόγος und φωνή besteht nicht nur ein gradueller Unterschied, sondern damit gehen zwei verschiedene Weisen des Seinsin-der-Welt (also des In-der-Welt-Seins) einher. Ein Lebewesen, das über φωνή verfügt, entdeckt die Welt wesentlich anders als ein Lebewesen, das über λόγος verfügt. Beide Welten sind in ihrem Sichzeigen grundverschieden. »Die Grundfunktion des λόγος ist das Zum-Sichzeigen-Bringen des Seienden in seinem Sein.« 24 Heidegger spricht auch davon, dass es sich um zwei disparate Weisen des »Begegnens der Welt im Leben« 25 handelt. Trotz dieser Grundverschiedenheit, die es eben nicht erlaubt, von einem Gradunterschied zwischen Tier und Mensch zu sprechen, sondern nur von einer wesentlichen Kluft, spricht Heidegger einen Aspekt an, der Tieren und Menschen gemeinsam ist: das Miteinanderkommunizieren. Hierbei wiederum handelt es sich um einen Gradunterschied: Tiere sind πολιτικόι wie der Mensch, nur sei – laut Aristoteles – der Mensch μᾶλλον ζῷον πολιτικόν, also »politischer« oder »sozialer« als die Tiere. 26 Das Fundament des Miteinanderseins, der κοινωνία, ist die Sprache. Im Falle des Menschen ist Sprache λόγος und daher Miteinandersprechen: Im Bereich des Politischen reden wir Menschen darüber, was richtig und falsch, gut und schlecht ist. Aristotelisch ausgedrückt, orientiert sich das Miteinanderreden im politischen Bereich am ἀγάθων. 27 Das fasst Heidegger terminologisch als das »Beiträgliche«, und zwar als das jeweils »Zuträgliche« oder »Abträgliche«. Anders verhält es sich in Bezug auf die Tiere: Ihr Miteinanderkommunizieren ist kein Miteinanderreden, sondern – so könnte man Heidegger ergänzend sagen – ein Anzeigen und Signalisieren. Beim Kommunizieren der Tiere geht es nicht um das Beiträgliche, sondern um ἡδύ und λυπηρόν. 28 Tiere zeigen an, geben Zeichen, und zwar vor allem zum Locken oder Warnen. Gerade darin besteht das wesentliche Manko – laut Heidegger – der tierischen Sprachen: Diese Sprachen gehen in der Zeichenfunktion auf, während der menschlichen Sprache wesentlich zukommt, 23 24 25 26 27 28
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 47–49. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 21. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 51. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 50. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 49. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 53.
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
dass durch den λόγος die Dinge da sein können (schon im Sinne von: definiert werden zu können, in ihrer Definiertheit da zu sein): »Die Tiere kommen nicht dazu, etwas als vorhanden zu konstatieren, sie zeigen es nur an im Umkreis ihres tierhaften Zutunhabens.« 29 Nur menschliche Sprache »hat das Amt – schreibt Heidegger –, die Welt offenbar zu machen.« 30
4.
Furcht als Sprechanlass. Zu einer Genealogie des Sprechens
Um die Funktion der menschlichen Sprache deutlich von der tierischen φωνή abzugrenzen, wendet sich Heidegger der Rhetorik des Aristoteles zu, und zwar vor allem, indem er ein Phänomen ins Zentrum rückt, das unserem Alltagsverständnis nach (obwohl sich Heidegger nicht explizit dazu äußert) Menschen und Tieren gemeinsam ist, nämlich die Stimmung der Furcht. Heidegger ordnet das Moment der Furcht wie folgt ein: »Wir werden die Analyse der Furcht als Beispiel nehmen. Furcht als Angst ist bei den Griechen mitkonstitutiv für die Art und Weise der Erfassung dessen, was ist und was nicht ist.« 31 Diese ontologische Funktion der Furcht gilt es, im Folgenden zu explizieren. Ganz allgemein gesprochen fürchten sich Menschen und Tiere gleichermaßen. Aber die Heidegger’sche Aristoteles-Analyse zeigt, dass der Unterschied in der Sprache eben einen Unterschied im Inder-Welt-Sein ausmacht, und zwar in der Weise, wie das jeweilige Lebewesen sein Leben lebt. Darunter muss man auch das Erleben von Stimmungen mit ausffassen. Denn Furcht stellt sich für ein Lebewesen, das λόγος hat, anders als für eines, das φωνή hat. Das zeigt sich gerade in der Kunst der Rhetorik, denn die Rhetorik ist »nichts anderes […] als die Disziplin, in der die Selbstauslegung des Daseins ausdrücklich vollzogen ist. Die Rhetorik ist nichts anderes als die Auslegung des konkreten Daseins, Hermeneutik des Daseins selbst.« 32 Dass es so ist, ergibt sich in der Tat aus der aristote-
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 55. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 59. 31 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 192. 32 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 110 (Hervorh. i. O.). 29 30
87 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Diego D’Angelo
lischen Definition der Rhetorik: Rhetorik besteht in der Fähigkeit zu sehen, was für eine Sache spricht, und zwar so, dass wir dadurch andere Menschen überzeugen können. Die Rhetorik ist somit eine eminent sprachliche und eine eminent gemeinschaftliche Angelegenheit, in der gerade die Verbindung zwischen der Sprache und der Sache, die sich zeigt, offen gelegt wird. Wenn die Rhetorik »das Sehenkönnen dessen, was für eine Sache spricht« 33 enthüllt, dann leuchtet es unmittelbar ein, dass die Rhetorik sich mit den gewöhnlichen, verbreiteten Meinungen der Mitmenschen beschäftigen muss: »Aristoteles hat keine andere Tendenz, als das zu sagen, was ἔνδοξον ist, was im natürlichen Sein des Daseins liegt, was selbstverständlich ist. Aber gerade das ist oft am schwersten zu sagen.« 34 In der aristotelischen Rhetorik zeigt sich somit unser alltägliches Verständnis der Furcht. Im antiken Griechenland war laut Heidegger »in der Tat die Bestrebung lebendig […], der Rhetorik die Grundfunktion der eigentlichen Verständigung über das Dasein selbst zu geben.« 35 Gerade deswegen lohnt es sich – wie zu Anfang dieses Beitrags kurz erläutert –, auf diese Stimmung einzugehen, und zwar gerade in der Beschreibung, die Aristoteles in seiner Rhetorik liefert. Das soll nicht nur aus historischen Gründen geschehen, die der entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion des Heidegger’schen Denkens immanent sind (etwa, dass es sich in den Erläuterungen der Furcht die Keime der Konzeption der Angst aus Sein und Zeit finden lassen), sondern auch aus systematischen Gründen, wenn es darum geht, zu verstehen, inwiefern Stimmungen etwas Sprachliches, gar Prädikatives, oder im Gegenteil etwas Vorprädikatives sein sollen. Dabei müssen »Affekte« mit Heidegger nicht als Zustände des Seelischen verstanden werden, sondern »es handelt sich um eine Befindlichkeit des Lebenden in seiner Welt, in der Weise, wie er gestellt ist zu etwas, wie er eine Sache sich angehen lässt.« 36 In der Tat ist »πάθος bezogen auf die ζωὴ πρακτική μετὰ λόγου: Es handelt sich um ein Mitgenommenwerden des Daseins. […] Ich kann, genau gesprochen, nicht sagen: Die Seele hofft, hat Furcht, Mitleid; sondern
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 117. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 45. 35 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 41 (Hervorh. i. O.). 36 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 122 (Hervorh. i. O.). 33 34
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
ich kann immer nur sagen: der Mensch hofft, ist mutig … Daher sind die πάθη nicht ›seelische Erlebnisse‹, nicht ›im Bewusstsein‹, sondern ein Mitgenommenwerden des Menschen in seinem vollen In-derWelt-Sein,« 37 welches wesentlich auch die Leiblichkeit des Menschen miteinbezieht. 38 Furcht ist nicht nur eine zentrale Stimmung, weil sie einen wesentlichen Bezug zum existentiellen Thema des Todes hat, sondern auch, weil Furcht in dieser Vorlesung anders als in Sein und Zeit in direkter Verbindung mit der Sprache gebracht wird: Furcht ist nämlich hier als eminenter Anlass zum Sprechen verstanden. Auch unter ganz alltäglichen Gesichtspunkten leuchtet es ein, dass die Stimmung der Furcht (sicherlich unter anderem) zu Sprachäußerungen führt. Gerade, wenn wir aus Furcht ganz stumm bleiben, ist dies deswegen besonders bemerkenswert, weil wir erwarten würden, dass der sich Fürchtende aus Furcht schreit oder weint. Wenn wir vor lauter Angst mit offenem Mund dastehen und es uns die Sprache verschlägt, bezeichnet gerade das Ausbleiben der Sprache die höchste Steigerung unserer Stimmung der Angst. Daher liegt es nahe, Heidegger in dem Punkt zu folgen, dass Furcht als Sprachanregung verstanden werden kann. Natürlich muss im Folgenden auf den Anspruch, eine allgemeine Charakterisierung der Heidegger’schen Ausführungen zu geben, verzichtet werden. Dieser Aufsatz widmet sich einer Analyse der Furcht nur insofern, als diese Analyse Auskunft geben kann auf unsere Leitfrage zum Verhältnis zwischen Sprache und Erfahrung bzw. zum Vorprädikativen. Zunächst ist für unsere Fragestellung relevant, was uns überhaupt erst in Furcht versetzen kann. Die Gegenstände, die Furcht erregen, befinden sich gleichsam auf der Schwelle zwischen Erscheinen und Nicht-Erscheinen. So Heidegger: »ἐκ φαντασίας […]. Damit ist ausgedrückt: Das, was sich zeigt, ist noch nicht eigentlich da, es
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 197. Den leiblichen Aspekten von Stimmungen sind mehrere Stellen in diesen Vorlesungen gewidmet (vgl. beispielsweise Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 199, 238–239). Dieser Problematik, allerdings in Bezug auf andere Stellen der Heidegger’schen Aristoteles-Interpretation, bin ich in Diego D’Angelo, »Zeigen und Berühren. Der pragmatische Sinn der Rede bei Heidegger im Hinblick auf Aristoteles’ Auffassung der Wahrheit«, Bulletin d’analyse phénoménologique, 8 (6), 2012, S. 1–28, nachgegangen. 37 38
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Diego D’Angelo
ist nicht da in der αἴσθησις, es ist so da, dass es in gewisser Weise noch nicht da ist.« 39 Das Furchterregende ist weder wahrgenommen noch erfahren noch kann es überhaupt erscheinen. Das muss primär zeitlich verstanden werden: Das Furchterregende ist noch nicht da. Im Gegensatz zu dem, was prädikativ definiert wird und somit in seinem Fertigsein da ist, als abgeschlossenes, definiertes Phänomen, sind furchterregende Phänomene ontologisch verschwommen; wir wissen noch nicht, was sie sind, sie sind τί ohne bereits ein κατὰ τινός zu haben. Das Furchterregende »meldet« sich »an« als ein möglicherweise Abträgliches. Die erste Charakterisierung eines Seienden, das noch vor jeder Charakterisierung da ist, beschränkt sich auf das Beiträgliche, und dabei spielt Prädikation noch keine Rolle. Dieses Abträgliche der Furcht kann man aber noch näher spezifizieren, und zwar als etwas, das mich »durcheinanderbringt«, »aus der Fassung« bringt und »aufregt«, 40 und zwar deswegen, weil das Abträgliche mich auf irgendeine Weise bedroht. Die Bedrohung kommt gerade dadurch zustande, dass das Seiende, das sich anmeldet, noch unbestimmt ist: Es weist den Charakter des Möglichen auf. 41 Eben deswegen, weil das Mögliche auf das NotwendigerweiseSo-und-So reduziert werden muss, um der Furcht zu entkommen, spricht man miteinander. »Mit Rücksicht auf das Miteinandersprechen in der Alltäglichkeit zeigt sich die Furcht als diejenige Befindlichkeit, die zum Sprechen bringt.« 42 Die ursprüngliche Dimension der Furcht bezeichnet Heidegger schon in dieser Vorlesung als »Angst«, allerdings aber mit »Grauen« als Synonym. Gerade in dieser ursprünglichen Dimension der Furcht zeigt sich die Verbindung zur Notwendigkeit des Sprechens und der Sprache. Diese Dimension findet sich dort, »wo es uns unheimlich ist, wo wir nicht wissen, wovor wir uns fürchten. Wenn uns unheimlich ist, fangen wir an zu reden.« 43 Gerade hierin sieht Heidegger die Genealogie des Sprechens, und sofern wir an der Frage interessiert sind, wann die Sprache anHeidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 251. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 251–252. 41 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 281 sowie 254. 42 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 261. 43 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 261 (Hervorh. i. O.). 39 40
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
fängt und was daran das Vorsprachliche und Vorprädikative ist, dann sind diese Passagen aus der Aristoteles-Vorlesung ein unumgänglicher Ausgangspunkt. »Das ist ein Hinweis« – schreibt Heidegger – »auf die daseinsmäßige γένεσις des Sprechens: wie das Sprechen zusammenhängt mit der Grundbestimmung des Daseins selbst, die durch die Unheimlichkeit charakterisiert ist«. 44 Diese Bestimmung steht – obwohl Heidegger das nicht ausdrücklich thematisiert – der klassischen aristotelischen Bestimmung des Menschen als ζῷον λόγον ἔχον entgegen. Für den Heidegger dieser Vorlesung ist das, was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, nicht primär die Sprache, weil das Sprechen seinerseits auf eine fundamentalere Bestimmung des Menschen gründet, nämlich auf dessen Unheimlichsein, auf das Heidegger vor allem im Zuge seiner Sophokles-Interpretation 15 Jahre nach dieser Vorlesung zurückkommen wird. 45 Das Unheimlichsein ist die Grundbedingung des Sprechens. In dem Text der Vorlesung bestimmt Heidegger nicht näher, was mit dem Begriff des Unheimlichseins gemeint ist. Ein Hinweis kann aber in der Behauptung gefunden werden, dass Furcht (bzw. Angst) als Sprachanlass eine klare Verbindung zum Tod hat. Den Tod kann man nämlich als »nicht mehr sprechen können« 46 auffassen, sodass die Angst vor dem Tod in einer Angst vor dem Nichtmehrsprechenkönnen besteht. Haben wir gesehen, dass das Unheimlichsein sich auf eine Weise der Furcht bezieht, die ursprünglicher ist und als »Angst« oder »Grauen« bezeichnet werden kann, so kann man die Behauptung aufstellen, dass Heideggers Anthropologie schon in diesem Text den Menschen als dasjenige Lebewesen bestimmt, das sterben kann und um den eigenen Tod weiß. 47 Dieser Gedankengang lässt sich dann in Anbetracht dessen, was oben zum Begriff des Vorhandenseins und der Gegenständlichkeit 44 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 261 (Hervorh. i. O.). 45 Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40 und Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, sowie Martin Heidegger, »Chorlied aus der Antigone des Sophokles«, in: Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 35–36. 46 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 21. 47 Interessanterweise findet sich gerade hier eine Parallele zu K. Jaspers, dessen Einfluss auf Heidegger (sowohl im positiven als auch im negativen Sinne) in diesen Jahren groß ist, denn für beide spielt dieser Verweis auf das Wissen um den eigenen Tod eine große Rolle. Für Jaspers vgl. Karl Jaspers, Von der Wahrheit, Piper, München,1947, vor allem 63–64.
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Diego D’Angelo
ausgeführt wurde, weiter entwickeln. Denn nur ein Lebewesen, dessen Befindlichkeit durch Angst, Grauen und Furcht charakterisiert ist, und d. h., nur ein Lebewesen, das grundsätzlich »unheimlich« ist und um den Tod weiß, kann sich die Welt als Welt von vorhandenen Gegenständen anschauen: »Erst innerhalb des so charakterisierten Sichbefindens und In-der-Welt-Seins ist die Möglichkeit gegeben, über die Dinge zu sprechen, sofern sie entkleidet sind des Aussehens, das sie im nächsten Umgang haben. Es entsteht jetzt die Möglichkeit, zu einer bestimmten Sachlichkeit zu kommen«. 48 Sachlichkeit stellt sich also nach einer Reihe von Schritten ein, und zwar dadurch, dass die Sprache die Gegenstände aus dem täglichen Umgang herausreißt, ihnen ihr alltägliches Aussehen aberkennt und ihnen stattdessen ein neues, gewissermaßen definitorisches Aussehen beimisst. Die Auffassung hat klarerweise Konsequenzen für die Hauptfragestellung dieses Beitrags zur Sprache und dem Vorprädikativen: Diesen Konsequenzen widmet sich der nächste Abschnitt.
5.
Das Vorprädikative und die Sprache
Aus dem Gesagten lässt sich schließen, dass in der Befindlichkeit der Furcht ein genetisch früheres Charakteristikum des Menschen zu Tage tritt, nämlich sein Unheimlichsein. Damit ist ausgedrückt, dass der Mensch Angst und Grauen vor dem eigenen Nichtwissen empfinden kann: Wir wissen nicht, was etwas ist; daher erscheint es uns als bedrohlich und wir fürchten uns davor. Gerade das verlangt, dass wir dieses bedrohliche Seiende in den Bereich der Sachlichkeit überführen, also in den Bereich dessen, was fertig da ist, was definiert und begrenzt ist bzw. werden kann. Zu diesem Zweck wird es gesprochen, sowohl miteinander als auch mit sich selbst (wenn wir etwas, das uns bedroht, nicht verstehen können, versuchen wir meistens, uns darüber klarzuwerden, indem wir innerlich mit uns selbst sprechen). Daraus lässt sich auf drei Konsequenzen schließen. Erstens hat sich zeigen lassen, dass es eine Schicht der Erfahrung gibt, die vorsprachlich ist. Zweitens kann man behaupten, dass die Tiere diese Schicht keineswegs mit dem Menschen gemeinsam haben, denn Tiere sind wesensmäßig nicht »unheimlich«, wie es der Mensch ist. Drittens lässt sich dafür argumentieren, dass diese Genealogie des Spre48
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Das Vorprädikative als Sprechanregung
chens nur rückblickend möglich wird, und dass jede Thematisierung einer vorprädikativen Schicht der Erfahrung notwendigerweise durch die Sprache hindurchgehen muss. Ad 1. Die vorprädikative Schicht der Erfahrung liegt auch jenseits der δόξα. Die δόξα als eigentlicher Gegenstand der Rhetorik basiert schon auf einem Miteinandersprechen, das erst durch Furcht entsteht. Denn wenn die Furcht aus der Unbestimmtheit des Furchterregenden hervorwächst, so bezieht sich die δόξα primär eben auf das, was nicht eindeutig feststeht. »Das ἔνδοξον ist die Art des Orientiertseins, in der man über solches Seiendes, das auch anders sein kann, orientiert ist«. 49 Die δόξα ist wesentlich revisionsfähig. Klarerweise stellt unser Wissen um den Tod gerade eine Ausnahme dar: Der Glaube an den irgendwann mit Sicherheit eintretenden eigenen Tod ist nicht revisionsfähig. Diese Schicht der Erfahrung ist somit vordoxastisch und vor-prädikativ. Ad 2. Die tierische Erfahrung ist wesentlich anders als die Menschliche, es ist nicht so, dass die menschliche Erfahrung der tierischen gleichsam noch eine Schicht hinzufügen würde, nämlich die Schicht der Sprache. Die Möglichkeit des Sprechens gründet in einer genealogisch früheren, ontologischen Bestimmung des Menschen, die das Tier nicht hat. Daraus lässt sich im Hinblick auf die kurze Diskussion der δόξα im Punkt 1. schließen, dass gerade »deshalb […] φαντασία auch Tieren zu[kommt], während es δόξα nur da gibt, wo der λόγος ist. In jeder Ansicht-Bildung, in jedem Eine-AnsichtHaben ist mitgegeben […], dass etwas für die Ansicht spricht«. 50 Ad 3. Das ist gerade der Grund, warum Heidegger die Frage nach dem Vorprädikativen in der Erfahrung auch in späteren Werken offen lässt. Unklar bleibt nämlich, welchen methodologischen Standpunkt man einnehmen können soll, um die Sprache zu verlassen und über genetisch frühere Stadien der menschlichen Ontologie zu sprechen. Das Leben des Menschen ist ja zunächst und zumeist – sprich: in seiner Alltäglichkeit – vom λόγος durchzogen. Menschliches Leben ist ζωὴ πρακτική μετὰ λόγου, also ein praktisches umsichtiges Leben dem λόγος gemäß. Heidegger behauptet daher, dass »das Sprechen […] die konstitutive Vollzugsweise des besorgenden Um-
Heidegger, Platon: Sophistes, GA 19, 148 (Hervorh. i. O.). Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 142 (Hervorh. d. Verf).
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Diego D’Angelo
gehens« 51 ist. Es gibt somit eine »innere Verhaftung des λόγος mit dem Sein-in-der-Welt«, 52 die davon herrührt, dass »dieses In-derWelt-sein […] den Grundcharakter seines Seins im λόγος« hat. »Der λόγος durchherrscht das In-Sein. Im λόγος ist aufbewahrt die Art und Weise, wie die Welt und das Dasein selbst in ihr entdeckt, aufgeschlossen sind«. 53 Das drückt sich in der δόξα aus: »Zum Dasein selbst gehört mit eine Auslegung seiner selbst, die es in irgendeinem Ausmaße immer schon bei sich trägt. Die Verständlichkeit, in der sich das Dasein bewegt, das Man, gründet letztlich in der δόξα«. 54 Diese Auslegung ist die doxastische Gliederung der vorprädikativen Erfahrung Dass diese Auslegung mit den Mitteln der Phänomenologie nicht direkt thematisiert werden kann, ist klar: Ich habe keine unmittelbare Erfahrung der Schicht des Vorprädikativen, und auch seine Gliederung in der doxastischen Auslegung bleibt einem direkten Zugang versperrt. Diese Erfahrungsschicht lässt sich nicht einfach beschreiben und ist auch faktisch nicht gegeben, weil sie immer schon von Sprache überlagert ist. Die Sprache ist somit zweitrangig gegenüber der Auslegung, aber ohne Sprache ist kein Zugang zur Auslegung gewährt. Es ist daher methodologisch fragwürdig, sich philosophisch dieser vorprädikativen Schicht phänomenologisch anzunähern. Diese Annäherung kann daher nur hermeneutisch stattfinden, durch die Interpretation eines Textes – in diesem Falle des ausgezeichneten Textes, der sich mit der griechischen δόξα beschäftigt: die aristotelische Rhetorik.
Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 217. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 265. 53 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 269. 54 Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 73 (Hervorh. i. O.). 51 52
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Die hermeneutische Wende zur Sprache Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Subtext von Martin Heideggers Sein und Zeit Matthias Flatscher 1
Zusammenfassung: Heidegger begreift die Phänomenologie – insbesondere in Abgrenzung zu Husserl – als hermeneutische. Dabei knüpft er – so die These des Beitrags – an die sprachphilosophische Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts an. Besonders Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache bildet von der Sache her einen zentralen Bezugspunkt für die Sprachauffassung von Sein und Zeit. Vor dem Hintergrund der hermeneutischen Tradition lässt sich dafür argumentieren, dass Heideggers Konzeption des »Vor-Prädikativen« nicht auf Außersprachliches rekurriert, sondern eine Sprachdimension in den Blick zu nehmen versucht, die vor der theoretischen Aussage liegt. Um dies zu verdeutlichen, verfolgen die Ausführungen ein dreifaches Ziel. Erstens wird mit Herder dargelegt, wie die hermeneutische Wende zur Sprache genauer bestimmt werden kann. Sprache erweist sich dabei konstitutiv für die menschliche Bezugnahme auf Welt. Zweitens wird gezeigt, dass vor dem Hintergrund der Herder’schen Abhandlung die Sprachthematik in und rund um Sein und Zeit präziser gefasst werden kann, der zufolge Sprache Welt nicht abbildet, sondern diese vielmehr erschließt. Hierbei soll zugleich deutlich werden, dass Heidegger in entscheidender Hinsicht die Einsichten Herders in Richtung einer holistischen und zugleich nichtpsychologistischen Sprachauffassung weiterführt. Drittens wird diskutiert, inwiefern Heidegger mit seiner Orientierung an Herder bestimmte Vorannahmen übernimmt, die sich als Schwachstellen seines frühen Sprachverständnisses ausmachen lassen – nämlich insofern, als Sprache als sozio-politische Praxis ebenso in den Hintergrund gedrängt wird wie die Dimension der Öffentlichkeit. Für die Möglichkeit, am Sammelband mitzuwirken und für die instruktiven Verbesserungsvorschläge bedanke ich mich bei den Herausgeberinnen Chiara Pasqualin und Agustina Sforza; für die Durchsicht des Manuskripts samt hilfreichen Kommentaren bei Jassen Andreev sowie vor allem und wie immer bei Florian Pistrol.
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Matthias Flatscher
1.
Hinführung
Das wichtige Anliegen des vorliegenden Sammelbandes, dem Verständnis des Vor-Prädikativen bei Heidegger nachzugehen und damit eine Forschungslücke zu schließen, möchte ich zum Anlass nehmen, Heideggers Sprachauffassung rund um Sein und Zeit 2 nachzuzeichnen und ihn als Hauptvertreter der hermeneutischen Wende zur Sprache im 20. Jahrhundert zu positionieren. Es gilt einsichtig zu machen, warum für Heidegger der lebensweltliche Bezug nicht nur von einem gebrauchend-hantierenden Umgang geprägt ist, sondern inwiefern diese besorgende Umsicht eines bereits vorgängigen Verstehens von etwas als etwas zugleich sprachlich gefasst werden muss. Seine Transformation der Husserl’schen Phänomenologie greift dabei (großteils implizit) auf Einsichten zurück, die innerhalb der reichhaltigen Tradition der Sprachhermeneutik des 18. und 19. Jahrhunderts ausgearbeitet werden. Zwischen den wegweisenden Überlegungen von Johann Georg Hamann, der sich intensiv an der sprachunabhängigen Konzeption der Vernunft bei Kant abarbeitet, und den reichhaltigen Ausführungen von Wilhelm von Humboldt, der sich in differenzierter Weise an der Schnittstelle zwischen empirischer Sprachwissenschaft und sprachphilosophischer Reflexion bewegt, steht das vielschichtige Œuvre Johann Gottfried Herders, der bereits in seiner frühen Abhandlung über den Ursprung der Sprache von 1772 3 grundlegende Elemente einer hermeneutischen Auffassung der Sprache vorwegnimmt. 4 Die Einordnung Herders in die hermeHeidegger, Sein und Zeit, GA 2. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart, Reclam, 1997. 4 Richtungsweisend für eine systematische Einbettung Herders in die Hermeneutik sind die Ausführungen von Irmscher (Hans Dietrich Irmscher, »Grundzüge der Hermeneutik Herders«, in: Johann Gottfried Maltusch (Hg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder, Bückeburg, Grimme, 1973, 17–57). Einen ausgezeichneten Überblick über Herder und die Geschichte der Hermeneutik liefert Cercel (vgl. Gabriel Cercel, »Herder und die Geschichte der Hermeneutik«, in: Stefan Greif, Marion Heinz, Heinrich Clairmont (Hg.), Herder Handbuch, Paderborn, Fink, 2016, 738–748). International hat sich neben der Bezeichnung »German Tradition« (Christine Lafont, The Linguistic Turn in Hermeneutic Philosophy, Cambridge [Mass.], MIT Press, 1999, ix) nicht zuletzt aufgrund der Wirksamkeit der sprachphilosophischen Studien Taylors die Etikettierung Hamann-Herder-Humboldt-Tradition (kurz HHH) durchgesetzt, die dieser mitunter (etwas unspezifisch) auch als »romantisch« oder »expressiv« bezeichnet (vgl. Charles Taylor, »Theories of meaning«, in: Human 2 3
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Die hermeneutische Wende zur Sprache
neutische Tradition ist dadurch motiviert, dass Herder mit den hermeneutischen Positionen des 20. Jahrhunderts darin übereinstimmt, dass die genuin menschliche Bezugnahme auf Welt und das Selbstverständnis des Menschen als sinnlich-geistiges Wesen in einer konstitutiven und irreduziblen Weise sprachlich strukturiert sind. Hermeneutik wird hier folglich nicht als Kunstlehre des Verstehens (Schleiermacher) oder als Methode der Geisteswissenschaften (Dilthey) gefasst, sondern im Sinne einer existenzialen Analytik, die danach fragt, wie dem menschlichen Dasein Welt erschlossen ist und welche Rolle Sprache dabei spielt. Affinitäten und Differenzen hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft, Sprache, Handeln und Welt bei Herder und Heidegger herauszuarbeiten, ist daher das Grundanliegen des vorliegenden Textes. In Rückgriff auf diese hermeneutische Theorietradition stellt sich die Frage, ob das Vor-Prädikative bei Heidegger als Verweis auf die Vor- oder Außersprachlichkeit bestimmter menschlicher Praktiken abzielt oder aber ein vor jeder expliziten theoretischen Aussage liegendes Moment der Sprachlichkeit zu berücksichtigen versucht, in einer völlig gewandelten Form dar. Ich möchte diese in der HeideggerForschung diskutierte Gegenüberstellung zum Anlass für die These nehmen, dass diese Alternative nur von einer bestimmten sprachphilosophischen Warte aus gestellt werden kann, die gerade nicht die genuine Einsicht der Hermeneutik in die konstitutive Verschränkung von Vernunft, Sprache, Handeln und Welt zu berücksichtigen vermag. Ein Blick auf die Debatte zeigt, dass Überlegungen zu einer sprachunabhängigen Praxis verstärkt im Kontext eines analytischen Sprachverständnisses diskutiert werden, das von einer Trennung von Sprache und Welt ausgeht, um erst in einem zweiten Schritt nach der etwaigen (korrekten) Verbindung beider Bereiche zu fragen. Heidegger wird dabei nicht nur eine Trennung von Welt und Sprache unterstellt, sondern auch ein Rückfall in eine gänzlich vor- oder außersprachliche Dimension. 5 Damit gerät aber die entscheidende Pointe – Agency and Language. Philosophical Papers I. Cambridge [Mass.], Cambridge University Press, 1985, 248–292, hier 256). 5 So hält beispielsweise Tugendhat in seinen wirkungsgeschichtlich breit rezipierten Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie fest: »Gegenüber der sich in Sätzen artikulierenden Erschlossenheit versuchte er [Heidegger, M. F.] eine vorlogische, vorsprachliche Erschlossenheit als ursprünglichere nachzuweisen, die er gleichwohl am Leitfaden der Aussagestruktur (des ›als‹, § 32 [von Sein und Zeit, M. F.]) analysierte. Diese sich aus der Ablehnung des Logischen ergebende Verdrän-
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Matthias Flatscher
so meine These – vollkommen aus dem Blick: Das hermeneutische Sprachverständnis vertritt nämlich in radikaler Weise die Auffassung, dass Welt immer schon sprachlich miterschlossen ist und unser Weltverstehen, unsere Vernunft- und Handlungsfähigkeit konstitutiv mit Sprache verknüpft sind. Wer eine Einsicht in diese Sprachauffassung gewinnen will, muss folglich der Frage nachspüren, wie das verschränkte Verhältnis von Vernunft, Sprache, Handeln und Welt genauer auszuloten ist. Mein Beitrag verfolgt daher ein dreifaches Ziel. Zum einen soll dargelegt werden, wie – in Abgrenzung zum linguistic turn der sprachanalytischen Tradition – die hermeneutische Wende zur Sprache in Rückgriff auf Herders Sprachursprungsabhandlung gefasst werden kann (Abschnitt 2). In einem nächsten Schritt werde ich zeigen, dass vor dem Hintergrund der Herder’schen Ausführungen Passagen in und rund um Sein und Zeit präziser gefasst werden können. Zudem wird der Frage nachgegangen, inwiefern Herder nicht nur als Subtext, sondern auch als Kontrastfolie für Heidegger dient, um neben den vielfachen Parallelen auch entscheidende Unterschiede hervorzuheben (Abschnitt 3). 6 In den finalen Betrachtungen soll aufgung der Sätze aus dem Kernbereich der Erschlossenheitsanalyse widerspricht der zentralen Bedeutung, die Heidegger der Sprache beimaß (›Die Sprache als das Haus des Seins‹).« (Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1976, 104–105). Auch in den im angelsächsischen Kontext vorherrschenden pragmatistischen Lektüren von Sein und Zeit findet sich im Umfeld von Dreyfus bzw. seiner Schülerschaft die Vorstellung einer sprachunabhängigen Praxis (vgl. Hubert L. Dreyfus, »Holism and Hermeneutics«, The Review of Metaphysics, 34, 1980, 3–23; Mark Okrent, »Equipment, World, and Language«, Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy, 45 [2], 2002, 195– 204), die wiederum auf die deutschsprachige Debatte zurückwirkt (vgl. Barbara Merker [Hg.], Verstehen nach Heidegger und Brandom, Hamburg, Meiner, 2009). In überzeugender Weise hat bereits Anfang der 1960er Jahre Karl-Otto Apel dieses Missverständnis innerhalb der Heidegger-Interpretation zurückgewiesen: »Der Rückgang hinter die theoretische Aussage bedeutet nicht Rückgang hinter die Sprache, sondern existenziale Fundierung der theoretischen Sprache in einer vortheoretischen, in der sich die Verständlichkeit der Situation konstituiert. Die von Heidegger immer betonte ›Artikulation‹ auch der vorprädikativen ›Verständlichkeit‹ der Situation weist gerade auf diese vortheoretische Sprache hin.« (Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus. Von Dante bis Vico, Bonn, Bouvier, 1963, 55) 6 Zwar fehlt beim frühen Heidegger eine explizite Auseinandersetzung mit Herders Sprachauffassung – einzig in seiner zweiten Vorlesung wird dieser erwähnt (vgl. Heidegger, Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie, in: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 119–203, hier 133 und 163) –, doch kann man – darauf weist Cercel in seinen Ausführungen hin – von einer indirekten Herder-Rezeption bei
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Die hermeneutische Wende zur Sprache
gewiesen werden, dass Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit Herder bestimmte Vorannahmen übernimmt, die sich als Schwachstellen seines Sprachverständnisses im Frühwerk ausmachen lassen. Hieran anknüpfend soll abschließend auf Möglichkeiten der Kritik und Weiterentwicklung – auch in Rückgriff auf die hermeneutische Theoriebildung – eingegangen werden (Abschnitt 4).
2.
Herders sprachhermeneutische Wende vor dem linguistic turn
Der linguistic turn wird spätestens seit der Publikation der gleichnamigen von Richard Rorty herausgegebenen Aufsatzsammlung 7 ausschließlich mit der analytischen Tradition in Verbindung gebracht. 8 So werden im heute an den philosophischen Instituten vorherrschenden Diskurs unter dem Label »Sprachphilosophie« zumeist nur die Ausprägungen der sprachanalytischen Philosophie gefasst, während in den benachbarten Disziplinen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften verstärkt hermeneutische, sprachkritische und poststrukturalistische Theorietraditionen zum Tragen kommen. 9 Bekanntlich wird die Relevanz der Sprache für die Erörterung philosophischer Fragen spätestens ab dem 20. Jahrhundert von allen zentralen philosophischen Strömungen hervorgehoben. Mit dieser Einsicht konstituiert sich die Sprachphilosophie sehr spät als eigenständige Disziplin, wird aber dennoch zum leitenden Paradigma der Heidegger über seine Lehrer Finke und Rickert sprechen (vgl. Cercel, »Herder und die Geschichte der Hermeneutik«, 745). Im Spätwerk gibt es eine umfangreiche metaphysikkritische Auseinandersetzung mit Herders Sprachverständnis vonseiten Heideggers (vgl. Heidegger, Vom Wesen der Sprache, GA 85). 7 Richard Rorty, The Linguistic Turn: Essays in Philosophical Method, Chicago, University of Chicago Press, 1967. 8 Als paradigmatisch können hier auch die Stellungnahmen von Barz, Grundmann, Newen und Nimtz angeführt werden, die Sprache innerhalb des analytischen Rahmens behandeln; phänomenologisch-hermeneutische, (post-)strukturalistische oder diskursanalytische Stimmen kommen bei ihnen nicht zu Wort (Wolfgang Barz, Thomas Grundmann, Albert Newen, Christian Nimtz, »Das Ende des ›linguistic turn‹ ?«, Information Philosophie, 4 (Dez.), 2016, 28–39). 9 Gerald Posselt und ich haben dagegen gezeigt, dass bei einer genaueren historischen und systematischen Inblicknahme der Sprachphilosophie von mindestens drei Wenden zur Sprache gesprochen werden muss. Vgl. Gerald Posselt, Matthias Flatscher, Sprachphilosophie. Eine Einführung, Wien, facultas, 22018.
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Philosophie. Die Sprachphilosophie betont im Gegenzug zu der seit Beginn der Neuzeit dominanten Bewusstseinsphilosophie eine das einzelne Subjekt immer schon übersteigende Verständigung im Medium der Sprache. Wie das Verhältnis von Welt, Subjekt, Gesellschaft und Sprache näher zu fassen ist, wird in den unterschiedlichen Strömungen intensiv und kontrovers diskutiert. Die Sprachphilosophie wird damit selbst zu einem umkämpften Feld, insofern mit ihrer Bestimmung und Definition zugleich über das Verständnis von Philosophie überhaupt sowie über die maßgeblichen Standards der Rationalität und des Argumentierens entschieden wird. Im Kontext der (frühen) analytischen Philosophie – etwa bei Frege oder Wittgenstein – wird deutlich, dass Sprache nicht länger als ein möglicher Gegenstand, sondern vielmehr als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt fungiert. Epistemologische Fragen werden in der Folge als Probleme diskutiert, die sich allein durch eine sprachliche Analyse klären lassen, die daher jeder weiteren philosophischen Betrachtung vorgeschaltet werden muss. Dieser Auffassung nach muss die Frage nach dem Sinn von Sätzen zunächst analytisch geklärt werden, um daran anschließend die epistemologische Geltung von Aussagen zu bestimmen. Dieses Grundanliegen wird auch heute noch von maßgeblichen Vertretern der analytischen Sprachphilosophie als das eigentliche Vorhaben betrachtet. Der Sprachbetrachtung wird so der Rang einer prima philosophia zugebilligt; sie wird der Maßstab, um zu bestimmen, was philosophisch relevant ist und was nicht. Sämtliche Begriffe, die sich dem Diktat der hinreichenden Fundierung nicht fügen, werden aus der Debatte eliminiert. Zugleich wird – deutlich elaboriert im Wittgenstein’schen Tractatus – davon ausgegangen, dass Weltordnung und Sprachordnung in einem logisch-isomorphen Verhältnis stehen und korrekt aufeinander abzubilden sind. Diese Annahme einer Abbildfunktion der Sprache kann selbst nicht noch einmal mitgeteilt (und damit zur Disposition gestellt) werden, sondern fungiert als Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Aussage, die sich in deren Struktur zeigt. 10 Wenngleich in einem logischen Abbildverhältnis stehend, werden Sprache und Welt innerhalb der analytischen Philosophie somit als voneinander getrennt betrachtet. Mittels einer Begriffsanalyse Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1984, 4.121.
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Die hermeneutische Wende zur Sprache
bzw. einer logischen Analyse von Sätzen soll geklärt werden, welche sprachlichen Zeichen auf eine empirisch ausweisbare Referenz Bezug nehmen, um auf diese Weise etwaige sinnlose Verwendungsweisen zu eliminieren. 11 Dass Sprache hier in ein Prokrustesbett gespannt wird, indem sie vorab bestimmt, was als erkenntnistheoretisch sinnvoll (oder unsinnig) gelten kann, liegt auf der Hand; dass aber zugleich selbstkritische Verstehens- und Verständigungsprozesse sowie kreative Dynamiken der Expressivität genauso aus dem Blick geraten wie sprachliche Formen der Anerkennung, Diffamierung und Exklusion wird durch das enge Analyseraster sukzessive verschleiert. Es nimmt nicht wunder, dass innerhalb der analytischen Philosophie Fragen der Subjektkonstitution ebenso wenig unter sprachlichen Vorzeichen diskutiert werden wie Prozesse der Vergesellschaftung und die damit implizierten Macht- und Herrschaftsverhältnisse ethischer, politischer und juridischer Normierungen. 12 Nun gibt es jedoch neben (und historisch betrachtet vor) diesem linguistic turn noch eine andere Wende zur Sprache, die mit hermeneutischen Theoriebildungen in Zusammenhang steht. Diese Ansätze, die – wie bereits eingangs erwähnt – auf Hamann, Herder und Humboldt zurückgehen und prominent bei Heidegger, Merleau-Ponty, Ricœur, Gadamer oder Taylor im 20. Jahrhundert weiter verfolgt werden, fragen verstärkt nach der welterschließenden Kraft von Sprache, die Wirklichkeit nicht nur repräsentiert, sondern sinnhaft gliedert und organisiert. Hier wird Sprache von der logischen Funktion der Weltabbildung befreit und hinsichtlich des praktischen Selbstverhältnisses des Menschen sowie in Bezug auf eine ihm nur sprachlich erschlossene Welt ausbuchstabiert. Die entscheidenden Einsichten der Sprachhermeneutik zeichnen sich bereits in Herders Abhandlung ab. In seinem Text setzt sich Herder kritisch mit der – insbesondere im 18. Jahrhundert stark diskutierten – Frage auseinander, wie die Menschheit zur Sprache gekommen ist. Entgegen der weit verbreiteten Auffassung, dass der Ursprung der Sprache in einer Art Gründungsszenario verortet werden könne, geht Herder davon aus, dass die Bezugnahme auf Welt als immer schon sprachlich bestimmt werden muss. Entsprechend weist Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.53. Dieser letzte Aspekt kommt vor allem in der poststrukturalistischen Diskussion sowie mit einer ganz anderen Akzentuierung in den Überlegungen von Habermas zum Tragen (vgl. Posselt, Flatscher, Sprachphilosophie, 217–259).
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er die Vorstellung eines (tierischen oder göttlichen) »Ursprungs« der Sprache, die davon ausgeht, dass zunächst so etwas wie eine »sprachfreie« Menschheit existiert, mit aller Vehemenz zurück. Es macht für ihn keinen Sinn, ein anfängliches Sein des Menschen ohne Sprache anzunehmen und das menschliche Sprachvermögen als nachträglich erworbene Errungenschaft anzusehen. In klarer Abgrenzung zu dieser Auffassung versucht Herder aufzuzeigen, dass die spezifische Vernünftigkeit des Menschen nur als sprachliche gedacht werden kann und Sprache bereits Rationalität beinhaltet. Sprachphilosophische Überlegungen müssen laut Herder zum einen klären, wie sich der Mensch auf die Welt bezieht und welche Rolle hierbei Sprache einnimmt. Mit diesem Fokus rückt das Verhältnis von Sprache und Welt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zum anderen – und damit verbunden – muss das spezifisch menschliche Verhältnis von Vernunft und Sprache erörtert werden. Mit dieser doppelten Perspektive stellt Herder in Aussicht, den Zusammenhang von Sprache, Vernunft und Welt nachzuzeichnen sowie den Nachweis zu erbringen, dass deren konstitutives Aufeinanderverwiesensein wesentlich für das menschliche In-der-Welt-sein ist. Die Annahme eines Ursprungs der Sprache im Sinne einer nachträglichen Errungenschaft des Menschen lässt sich nicht halten. Folglich muss – so Herders Überlegung – Sprache als genuines Charakteristikum des Menschen begriffen werden. Um diese Behauptung zu untermauern, grenzt er den Menschen zunächst vom Tier ab, um sich daran anschließend der sprachlichen Vernünftigkeit des Menschen zuzuwenden. Betreffend das erste Unterfangen macht Herder auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Tier aufmerksam: Während Tiere für ihn dadurch gekennzeichnet sind, dass sie eine instinktgeleitete Orientiertheit besitzen, sich also instinktiv in festgelegten Bahnen bewegen, beschreibt er den Menschen als ein Wesen, das ohne diese Sicherheit auskommen muss. Aufgrund dieses Mangels ist der Mensch Herders Auffassung nach dazu genötigt, seine Unsicherheit zu kompensieren und mit der Offenheit, die ihn vom Tier unterscheidet, konstruktiv umzugehen. Dass nun dem Menschen im Gegensatz zum Tier das Vermögen zukommt, sich zu seiner eigenen Unbestimmtheit zu verhalten, beruht auf seiner Vernünftigkeit. Die Vernunft, die Herder dabei im Auge hat, ist jedoch keine abstrakte oder formale, sondern steht in einem Bezug zur Sinnlichkeit und ist durch die konkrete Auseinandersetzung mit der erfahrbaren Welt bestimmt. Terminologisch fasst 102 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
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er dieses menschliche Spezifikum mit den Begriffen »Reflexion« und »Besonnenheit«. Sie bringen das menschliche Vermögen zum Ausdruck, sich in ein mittelbares Verhältnis zu weltlichen Gegebenheiten zu bringen: Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. 13
Das genuin menschliche Vermögen der Vernunft qua Reflexion oder Besonnenheit bedeutet nach Herder folglich dreierlei. Es ist die Fähigkeit des Menschen, aus einer breiten Palette von Empfindungen erstens ein besonderes Merkmal von anderen Merkmalen zu unterscheiden, zweitens es festzuhalten sowie drittens es als solches und selbstreflexiv aufmerksam zu betrachten. Im Gegensatz zum Tier, das von seinen Instinkten geleitet wird, kann der Mensch sich in einer distanzierten Weise zu Innerweltlichem verhalten, indem er sich gleichsam interesselos bestimmten Aspekten widmet. Zur Explikation seiner zentralen These in Hinblick auf eine hermeneutische Auffassung von Sprache entwirft Herder ein ebenso einprägsames wie kurioses Szenario: Ein Mensch betrachtet ein Schaf; im Unterschied zum instinktgeleiteten Verhalten eines Tieres – etwa eines Wolfes, der das Schaf lediglich reißen will –, ist der Mensch in der Lage, mit »Besonnenheit« auf das Schaf zu reagieren und ihm damit in einer fundamental anderen Weise als einer instinktgeleiteten zu begegnen: Sobald er [der Mensch, M. F.] in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennenzulernen, so störet ihn kein Instinkt, so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal – das Schaf blöket! Sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. 14
Aus dem Zitat werden mehrere Aspekte ersichtlich: Herder verlagert die gesamte Szenerie von einer Beobachterperspektive in das Innenleben des weltvernehmenden Subjekts. Die Instinktunabhängigkeit 13 14
Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 32. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 33.
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und Reflexionsfähigkeit erlaubt es dem Menschen, ein bestimmtes Merkmal des sinnlich Erfahrenen abzusondern, herauszugreifen und festzuhalten. Diese menschliche Zugangsweise zur Welt ist dabei weder von Leidenschaften noch von Desinteresse geprägt. Vielmehr eröffnet sie den Möglichkeitsraum der Identifizierung und Klassifizierung von etwas als etwas, indem ein spezifisches Merkmal herausgepickt wird. 15 Dieses Merkmal dient der Wiederkennung, denn die Identifizierungsleistung lässt sich in anderen Kontexten und Situationen wiederholen. Eindringlich schildert Herder auch diesen Vorgang: Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie [die menschliche Seele, M. F.] sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blökt, und nun erkennet sies wieder! »Ha! du bist das Blökende!« fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal, erkennet und nennet. […] Mit einem Merkmal also? Und was war das anders als ein innerliches Merkwort? Der Schall des Blökens, von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward, kraft dieser Besinnung, Name des Schafs, auch wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte. 16
Dieser Konnex von (Wieder-)Erkennen und Benennen ist der entscheidende Punkt, auf den Herders Überlegungen hinauswollen. Er verdeutlicht, dass die Bezugnahme auf distinkte Momente der erfahrenen Welt – das Herausgreifen eines Merkmals, das der Re-Identifizierung von etwas als etwas dient – bereits sprachlich ist, ja als Merkmal zu einem (inneren) Merkwort mutiert und stets eine (äußerliche) Lautgestalt annehmen kann. Eindringlich macht Herder auf die Verschränkung von sinnlich gegebenem Merkmal (»blöken«) und innerlich nachvollzogenem Merkwort (»vorblöken«, »wiederblöken«) aufmerksam. Das Merkmal erlaubt es dem Menschen, ein Moment als solches zu identifizieren, von anderen zu unterscheiden – denn nur das Schaf blökt –, und zu re-identifizieren (»Ha! du bist das Blökende!«). Die Pointe der Herder’schen Überlegungen besteht folglich darin, diesen Prozess, durch den Merkmale zu Merkworten werden, Welches Merkmal sich der Mensch aussucht, scheint prima vista beliebig zu sein – das Schaf stellt sich als »weiß, sanft, wollicht« dar. Allerdings ist es wohl nicht ganz zufällig, dass Herder mit dem Verweis auf das Blöken den inneren Hörsinn mit ins Spiel bringt, der gegenüber dem äußeren Seh- und Tastsinn hervorgehoben wird. Im Hörsinn besteht, wie sich gleich zeigen wird, eine größere Affinität zum (inneren Merk-)Wort. 16 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 33. 15
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selbst bereits als einen genuin sprachlichen zu verstehen. Damit ist die Sprache konstitutiv mit dem sinnlichen Weltbezug verwoben; dem sprachbegabten Wesen ist es eigen, in dieser Weise Welt zu entdecken und Seiendes zu kategorisieren. Weiter unten soll diese Einsicht genauer ausbuchstabiert werden, um Heideggers schillernden Begriff des »Vor-Prädikativen« deutlicher zu fassen. Schon an dieser Stelle kann allerdings vorausgeschickt werden, dass das Vor-Prädikative nicht unabhängig von der Sprache ist, sondern analog zum Herder’schen Merkmal als (inneres) Merkwort bereits auf die Expression hingeordnet ist und lediglich vor der (theoretischen) Aussage liegt. In der Verschränkung von Merkmal und Merkwort ist bei Herder nicht nur die lautlich-materielle Ausgestaltung angelegt, sondern auch eine intersubjektive Dimension. Diese wird jedoch nicht als ein konstitutives Moment bedacht, sondern tritt lediglich als ein akzidentieller Aspekt in Erscheinung – auch auf diesen Umstand soll in Auseinandersetzung mit Heidegger noch eingegangen werden. Vorerst gilt es zu betonen, dass für Herder selbst die lapidarsten Weltwahrnehmungen eines sprachvermögenden Wesens immer schon sprachlich strukturiert und geprägt sind: Käme er [der Mensch, M. F.] also auch nie in den Fall, einem andern Geschöpf diese Idee zu geben, und also dies Merkmal der Besinnung ihm mit den Lippen vorblöken zu wollen oder zu können, seine Seele hat gleichsam in ihrem Inwendigen geblökt, da sie diesen Schall zum Erinnerungszeichen wählte, und wiedergeblökt, da sie ihn daran erkannte – die Sprache ist erfunden! Ebenso natürlich und dem Menschen notwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch war. 17
Herders Überlegungen stellen eine Grundlage des hermeneutischen Sprachparadigmas dar. Ich möchte daher die wichtigsten systematischen Punkte, die aus der Rekonstruktion der wegweisenden Passagen der Abhandlung gewonnen werden konnten, zusammenfassen: Die Konzeption einer »negativen« Anthropologie verzichtet bewusst auf essentialistische oder naturalistische Festschreibungen. Vielmehr muss der Mensch nach Herder seine Orientierung im »Ozean der Empfindungen« 18 allererst gewinnen. Dieses notwendige Sich-Einrichten in der Welt gelingt ihm allein mit Hilfe der Sprache. Denn erst durch die sprachliche Fixierung bestimmter sinnlicher Eindrücke stellen sich Identifizierungen ein, indem etwas als etwas verstanden 17 18
Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 33–34. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 32.
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wird. Das »blökende-weiß-sanft-wollicht-Dingsda« wird in einer konkreten sinnlichen Auseinandersetzung als »Schaf« benannt; ist es einmal als solches begriffen, kann es auch in Zukunft re-identifiziert und gegenüber anderen innerweltlich begegnenden Seienden abgegrenzt werden. Mit der Ausprägung des Sprachvermögens geht folglich die Formierung der Vernunft und der Welt einher; sie bedingen sich wechselseitig. Entscheidend, um die Pointe der hermeneutischen Wende zur Sprache zu fassen, ist nun, dass Herder Welt, Vernunft und Sprache nicht als jeweils unabhängige Ordnungen begreift, die lediglich – wie oben in Rückgriff auf den frühen Wittgenstein dargelegt – in ein logisch-isomorphes Verhältnis zu bringen sind; vielmehr gestalten sie sich erst in konkreten Interaktionsformen aus. Die Welt liegt dem Menschen nicht einfach vorsprachlich und vernunftunabhängig gegenüber, genauso wenig wie es eine sprachnackte und weltlose Vernunft gibt. Tatsächlich finden sie erst in den reflexiven Selbstverständigungsprozessen des sinnlich Wahrgenommenen im Medium der Sprache ihre spezifische Ausprägung. Die welt- und vernunftbildende Dimension von Sprache zu betonen, heißt dann, diesem ineinander verschränkten und sich wechselseitig bedingenden Vorgang gewahr zu werden. Damit ist aber nicht gemeint, dass alles in Sprache aufgehoben wäre oder dass Sprache Welt konstruiert. Denn weder gibt es Sprache ohne Welt und Vernunft noch Welt oder Vernunft ohne Sprache. Sprache wird ebenso in der konkreten und zugleich verstehenden Auseinandersetzung mit der Welt gewonnen, wie Welt sprachlich – über das verstehende Festhalten von Merkmalen und die Bildung von Merkworten – erschlossen wird. Welt, Vernunft und Sprache stehen in einem gleich-ursprünglichen und ko-konstitutiven Verhältnis zueinander. Kein Moment kann auf ein anderes zurückgeführt oder kausalursächlich von diesem abgeleitet werden. Gerade weil Sprache, Vernunft und Welt nicht aufeinander rückführbar sind, ermöglicht ihr Zusammenspiel immer neue Möglichkeiten der Artikulation, der (Selbst-)Verständigung und des Entdeckens. 19 Die produktiven Hinweise Herders auf die Sprachlichkeit des Weltzugangs und das wechselseitige Bedingungsverhältnis von SpraFolgerichtig versteht Bertram Herders Sprachphilosophie auch als »antireduktionistisch« (vgl. Georg W. Bertram, »Herders antireduktionistische Sprachphilosophie«, in: Tilman Borsche (Hg.), Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, München, Fink, 2006, 227–246).
19
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che, Vernunft und Welt lassen allerdings auch einige Aspekte offen: Zum einen ist unklar, in welchem Verhältnis die einzelnen (Merk-) Wörter zueinander stehen. Obwohl Herder behauptet, dass »die ganze menschliche Sprache als eine Sammlung solcher Worte« 20 anzusehen ist, liegt die Vermutung nahe, dass in seiner Konzeption die einzelnen Worte (unvermittelt) nebeneinander stehen – und nicht weiter nach deren diakritischen Verhältnis sowie grammatischer und syntaktischer Verbindung gefragt wird. Dass bei Herder ein semantischer Holismus angelegt ist, wenn man seine Überlegungen zu Ende denkt, ist plausibel. Denn ein Schaf ist nur ein Schaf, wenn es kein Wolf oder keine Katze ist. Einschlägige Reflexionen in dieser Hinsicht fehlen bei Herder jedoch. 21 Heidegger wird auf dieses Problem in Zusammenhang mit seiner Zeuganalyse eine Antwort zu geben versuchen, indem er aufzeigt, dass das Verstehen von etwas als etwas stets eine Synthesis impliziert, die den Gesamtkontext mitzuberücksichtigen hat. Zum anderen ist nicht ersichtlich, welche Rolle die soziale Dimension der Sprache für Herder spielt. In seinen Überlegungen entwickelt sich Sprache geradezu monologisch im einzelnen Subjekt und seinem Verhältnis zur Welt, ohne dass gesellschaftlichgeschichtliche Dimensionen weiter berücksichtigt werden. Zwar kehrt Herder hervor: »das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merk-
Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 33 (Hervorh. d. Verf.). Hier distanziere ich mich von der Interpretation Taylors, der Herder mit dem Spätwerk von Wittgenstein zusammenliest: »One of the most important, and universally recognized, consequences of Herder’s discovery was a certain kind of holism of meaning. A word only has meaning within a lexicon and a context of language practices, which are ultimately embedded in a form of life.« (Charles Taylor, The Language Animal. The Full Shape of the Human Linguistic Capacity, Cambridge [Mass.], Harvard University Press, 2016, 17; vgl. Charles Taylor, »The importance of Herder«, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge [Mass.], Harvard University Press, 1995, 79–99, hier 93) Und auch an anderer Stelle vertritt Taylor die Auffassung, dass Herder eine holistische Sprachkonzeption vertritt (vgl. Taylor, Human Agency and Language, 230). Wesentlich vorsichtiger schreibt Bertram Herder eine Nähe zum Strukturalismus und zu einer diakritischen Sprachauffassung zu: »Für die Merkworte, die der Mensch nach Herders Verständnis findet, ist eine unterscheidende materiale Gestalt charakteristisch. Sie tragen in sich eine Tendenz zur Absonderung von anderen Merkworten. Herder impliziert ein Verständnis, dem zufolge Sprache eine Sammlung von Materien ist, die sich in charakteristischer Weise voneinander unterscheiden. Mit Blick auf Positionen des 20. Jahrhunderts lässt sich hier im entfernten Sinn von einem diakritischen beziehungsweise strukturalen Sprachverständnis sprechen.« (Bertram, »Herders antireduktionistische Sprachphilosophie«, 232) 20 21
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wort für mich, und Mitteilungswort für andere!« 22, doch diesem Umstand wird im Gegensatz zum Dialog mit der Welt und mit sich selbst lediglich ein akzidentieller Status zugebilligt. Analog zu Herder wird sich auch Heidegger dem weltbildenden Charakter der Sprache zuwenden. Mit dieser Akzentuierung der Ontologie der Sprache geraten allerdings nicht nur Formen des Miteinandersprechens schleichend aus dem Blick, sondern ebenso die Dimension des Ontischen und der notwendig öffentliche Charakter von Sprache. Um jede Reduktion der Sprache auf den bloßen Zeichencharakter oder die akustische Verlautbarung zurückzuweisen, wiederholt die hermeneutische Tradition des 20. Jahrhunderts in einer nicht unproblematischen Art und Weise die stoische Unterscheidung von innerem und äußerem Wort. 23
3.
Heideggers hermeneutische Sprachauffassung in Sein und Zeit
Zu Beginn von Sein und Zeit stellt Heidegger bekanntlich fest, dass sich die Seinsweise des Menschen (»Dasein«) dadurch auszeichnet, dass das Dasein ein Verhältnis zum eigenen Sein besitzt. Dieses Seinsverhältnis zeigt sich darin, dass sich das Dasein zu seinem jeweiligen geschichtlichen und sozialen Kontext, in den es gleichsam geworfen ist, und zu der damit erschlossenen Mit- und Umwelt verhalten muss sowie sie in einem eigenständigen Entwurf zu übernehmen hat. Damit erweist sich das geworfen-entwerfende Dasein gleichermaßen als individuiert und endlich. Mit dieser dezidierten Situierung der menschlichen Vernunft verabschiedet sich Heidegger vom traditionellen transzendentalphilosophischen Projekt. Der von Herder eingeschlagene Weg einer spezifischen Unbestimmtheit des Menschen wird von ihm hingegen weiter verfolgt. Gleichwohl werden sich seine Überlegungen nicht in Hinblick auf eine Anthropologie, sondern in Richtung ontologischer Fragestellungen weiter ausbuchstabieren. In dem angesprochenen Sich-Verhalten-Müssen macht Heidegger deutlich, dass das Dasein nicht als abgekapseltes Subjekt begriffen Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 43. Vgl. Hans Georg, Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke 1, Tübingen, Mohr Siebeck, 1999, 422–431.
22 23
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werden kann, das erst in einem nachträglichen Akt aus der Innensphäre nach außen treten müsste. Das Dasein befindet sich im Gegenteil immer schon in und zu einer Welt. Mit diesem Hinweis auf die menschliche Seinsweise unterläuft Heidegger die bewusstseinsphilosophische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. In seinen Augen ist die klassische Frage der neuzeitlichen Erkenntnistheorie, wie eine Verbindung zwischen Mensch und Welt zustande kommt, falsch gestellt, insofern sich der Mensch immer schon »›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden« 24 aufhält. Damit wendet sich Heidegger zugleich gegen ein weiteres, tief verwurzeltes philosophisches Vorurteil, demzufolge Seiendes primär von einer theoretischen Warte aus als Erkenntnisobjekt betrachtet wird. Heidegger macht dem gegenüber darauf aufmerksam, dass die Bedeutung eines Seienden immer schon von lebensweltlichen Praktiken her verstanden wird, die jedem theoretischen Erkennen vorausgehen. Das In-der-Weltsein ist für Heidegger somit nicht als theoretisch-reflexiver Akt, sondern als praktisches »Besorgen« oder »Verstehen« zu begreifen, das wiederum als Können gefasst werden muss – analog zur Wendung, dass sich jemand auf etwas versteht (z. B. der Tischler auf sein Handwerk, er also ist in der Lage ist, einen Stuhl anzufertigen). Verstehen als Existenzial ist folglich kein Erkenntnismodus und auch keine spezifische Fähigkeit, sondern das dem menschlichen Dasein zukommende Vermögen, (unterschiedliche) Möglichkeiten der Existenz ergreifen zu können. Man kann diesen genuin praktisch-lebensweltlichen Umgang mit Hilfe des folgenden Beispiels veranschaulichen: Einen Schraubenzieher »betrachten« wir normalerweise nicht als »Objekt«, dessen Gebrauchsmöglichkeiten wir zunächst »theoretisch« bestimmen müssten, sondern wir wissen auf selbstverständliche Weise – d. h. vor-theoretisch und prä-reflexiv –, dass dieses »Zeug« – wie Heidegger die Gebrauchsdinge nennt – beispielsweise dazu verwendet werden kann, Schrauben in die Wand zu drehen, um ein Regal zu fixieren, in dem dann Bücher aufbewahrt werden können. Das Zeug zeichnet sich durch eine gewisse Verwendbarkeit oder Dienlichkeit aus. Dabei wird aber nicht nur der Vorrang des Praktischen deutlich. Ebenso wird klar, dass jedes Zeug immer schon in einen Gesamtkontext eingebettet ist, den Heidegger »Zeugganzheit« nennt:
24
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 83.
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Ein Zeug »ist« strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft »etwas, um zu …«. Die verschiedenen Weisen des »Um-zu« wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur »Um-zu« liegt eine Verweisung von etwas auf etwas. 25
Heideggers Überlegungen wollen zeigen, dass der spezifische Gebrauch des Zeugs nur von einem Gesamtzusammenhang her einsichtig wird. Zeug begegnet nie isoliert; wo es das tut, ist es unbrauchbar – etwa ein Schraubenzieher ohne Schrauben oder ohne Wand. Die einzelnen Gebrauchsdinge verweisen aufeinander und sie erhalten – wie Heidegger hervorhebt – nur in und aus der »Zeugganzheit« ihre spezifische Bedeutung. Das, was z. B. ein Schraubenzieher bedeutet, wird nur im Kontext mit anderem Zeug sowie den damit verbundenen Tätigkeiten, in denen ein Schraubenzieher üblicherweise verwenden wird, verständlich. Anders als Herder lenkt Heidegger bereits mit der Erörterung seiner Zeuganalyse den Fokus auf einen unhintergehbaren Holismus. Etwas wird nur vor dem Hintergrund eines Ganzen verständlich und lässt sich gerade nicht als Eigenschaft eines einzelnen Dinges fassen. Diesen für jeden verstehenden Umgang mit Seiendem konstitutiven Gesamtkontext nennt Heidegger auch Welt. Welt ist damit nicht die »Summe aller Dinge« oder die »Gesamtheit der Tatsachen«, sondern bildet den Horizont, vor dem etwas auf die eine oder andere Weise überhaupt erst in seiner Bedeutsamkeit verstanden werden kann. Welt erweist sich so als inhärentes Strukturmoment des Daseins selbst: »›Welt‹ ist ontologisch keine Bestimmung des Seienden, das wesenhaft das Dasein nicht ist, sondern ein Charakter des Daseins selbst.« 26 Um zu verdeutlichen, dass die Bezugnahme auf einzelnes vom Gesamtzusammenhang des daseinsmäßigen und geschichtlich wandelbaren In-der-Welt-seins geprägt ist, greift Heidegger bereits in seiner ersten Vorlesung auf ein erhellendes Beispiel aus seinem akademischen Leben zurück. Lapidar vermerkt er: »Ich sehe das Katheder gleichsam mit einem Schlag; ich sehe es nicht nur isoliert, ich sehe das Pult als für mich zu hoch gestellt.« 27 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 92. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 87. 27 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 1–117, hier 71 (Hervorh. d. Verf). 25 26
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Aus diesem Zitat wird zumindest dreierlei ersichtlich: Erstens wird deutlich, dass die Inblicknahme des Katheders nicht aus irgendwelchen komplizierten Reflexionsvorgängen hervorgeht, sondern dieser sich unmittelbar als solcher zeigt – was Heidegger eindringlich durch die Wendung »gleichsam mit einem Schlag« zum Ausdruck bringt. Es verhält sich laut Heidegger gerade nicht so, dass uns zunächst rohe Sinnesdaten gegeben sind, die anschließend synthetisiert und interpretiert werden müssten, um gleichsam nachträglich ein verstehendes Wahrnehmen zu bewerkstelligen. Vielmehr ist das Dasein in seinem lebensweltlichen Agieren ganz selbstverständlich beim Verstandenen. So sehen wir immer schon etwas als etwas Bedeutsames, z. B. als ein Katheder oder als einen Ort für den Vortragenden. Dem Menschen treten so immer schon Sinngebilde entgegen; er versteht laut dieser hermeneutischen Zugangsweise stets etwas als etwas. Und diese für unser verstehendes Zutunhaben mit Seiendem unumgängliche Als-Struktur gilt auch dann, wenn etwas (noch) nicht bekannt ist. Es begegnet innerhalb des vertrauten Horizonts dann als Unbekanntes, mit dem man nichts anzufangen weiß. Heidegger nennt diese vor-prädikative und prä-reflexive Als-Struktur des Verstehens in Sein und Zeit das »hermeneutische Als« 28, das er schroff vom apophantischen Als der expliziten Aussage abgegrenzt. Dort betont Heidegger auch, dass ein »als-freies Erfassen« 29 nicht als ursprünglicher anzusehen ist, sondern als Privation des Verstehens von etwas als etwas begriffen werden muss. 30 Kurz: Jedem Verstehen von etwas als etwas ist bereits eine Deutung eingeschrieben. Diese Unmittelbarkeit erweist sich zweitens immer in einen Gesamtzusammenhang eingebettet – in diesem Fall in ein akademisches Umfeld –, von woher das Pult allererst seine Bedeutung als Ort für den Vortragenden erhält. Einzelnes gewinnt – wie bereits angemerkt – aus dem Kontext seine spezifische Bedeutung. In diesem Sinne erweist sich Unmittelbares somit immer als ein Vermitteltes. Dabei gilt es zu betonen, dass selbst Personen, die nicht mit dem universitären Kontext vertraut sind, kein bedeutungsnacktes Ding erblicken. So insistiert Heidegger darauf, dass beispielsweise ein »Bauer […] vom Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 210. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 199. 30 Der Adressat dieser Kritik ist Husserl, der eine vor-prädikative Dimension der Erfahrung in der unmittelbar-originären Anschauung festzumachen versucht (vgl. Edmund Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, The Hague, Nijhoff, 1974, 179–196. 28 29
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hohen Schwarzwald« das Pult als »›den Platz für den Lehrer sieht‹« 31. Und auch ein mit unserer Zivilisation gänzlich Unvertrauter wird das Katheder als etwas sehen, »hinter dem man guten Schutz gegen Pfeile oder Steinwürfe fände« oder eben »als ein Etwas, ›mit dem er nichts anzufangen weiß‹« 32. Hier wird offensichtlich, dass die historischkulturelle Situierung variieren kann und der Kontext das Verstehen grundlegend präfiguriert. Die zuvor erwähnte Geworfenheit beinhaltet für Heidegger also nicht nur, dass wir uns stets schon in der Welt vorfinden, sondern auch, dass sie uns immer schon bestimmte Möglichkeiten und Bahnen der Deutung vorgibt. Drittens geht aus dem Zitat hervor, dass nicht ein theoretisches Erfassen im Vordergrund steht, sondern der konkret lebensweltlichpraktische Umgang mit den begegnenden Dingen. Dieses vor-theoretische Zutunhaben ist dabei an lebensweltliche Vollzüge des menschlichen Daseins – man beachte die dreimalige Wiederholung des Personalpronomens »ich« – rückgebunden: Für den offensichtlich nicht baumlangen Heidegger erweist sich das Pult als zu hoch gestellt. Doch was hat dieses hermeneutische Verstehen von etwas als etwas vor dem Hintergrund eines Gesamtzusammenhangs noch mit Sprache zu tun? Ist nicht doch der eingangs kritisierten Interpretation zuzustimmen, dass die vor-prädikative Dimension des Verstehens sich sprachunabhängig vollzieht? Normalerweise drehe ich – um bei den erwähnten Beispielen zu bleiben – Stifte doch ohne weitere Erläuterungen in die Wand und erblicke das Pult als den Ort für den Vortragenden ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Inwiefern kann hier davon gesprochen werden, dass die Sprache das menschliche Weltwissen strukturiert? Es scheint zunächst so, als ob sich eine solche Interpretation auch auf Textpassagen in Sein und Zeit stützen könnte. Heidegger schreibt: Der umsichtig-auslegende Umgang mit dem umweltlich Zuhandenen, der dieses als Tisch, Tür, Wagen, Brücke »sieht«, braucht das umsichtig Ausgelegte nicht notwendig auch schon in einer bestimmenden Aussage auseinander zu legen. Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend […] Die Artikulation des Ver-
Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 71. 32 Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, GA 56/57, 72. 31
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standenen in der auslegenden Näherung des Seienden am Leitfaden des »Etwas als etwas« liegt vor der thematischen Aussage darüber. 33
Jedem verstehend-praktischen Vernehmen – das macht diese Passage deutlich – ist folglich bereits eine Deutung eingeschrieben, die nicht zwingender Weise mit einer Aussage einhergehen muss. Aber impliziert diese Zurückweisung der Aussage bereits eine sprachunabhängige Dimension des Verstehens? Diese Frage muss jedoch aus einer hermeneutisch-phänomenologischen Perspektive entschieden verneint werden. Heidegger möchte mit dem Vorprädikativen gerade nicht eine sprachnackte Sphäre in den Blick nehmen; vielmehr wendet er sich einer Dimension der Sprache zu, die vor jeder Prädikation liegt. Dabei wird zum einen die Mannigfaltigkeit sprachlicher Vollzüge berücksichtigt, 34 sodass der lógos apophantikós eine Möglichkeit unter vielen darstellt. Zum anderen wird die Dimension der Sprachlichkeit als das Existenzial der Rede präsentiert, um ihre welterschließende Kraft in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen. Analog zu Herders intrinsischem Verhältnis von Merkmal und Merkwort, das eine (äußerliche) Lautgestalt annehmen kann, aber nicht zwingend muss, darf für Heidegger Sprache nicht primär ausgehend von ihrer vorliegenden Zeichengestalt oder fassbaren Regelstruktur erörtert werden, sondern muss von ihrer welterschließenden Dimension her betrachtet werden. Heideggers argumentative Vorgehensweise in diesem Zusammenhang ist die folgende: Im Anschluss an die Erörterung des Existenzials des Verstehens nimmt er in Sein und Zeit sowohl die »Auslegung« als auch die »Aussage« in den Blick. Die Vorstruktur des Verstehens – immer schon etwas als etwas verstanden zu haben – kann laut Heidegger durch die Auslegung zur expliziten Ausarbeitung respektive zur ausdrücklichen Aussage kommen. Das Verstehen wird in diesen Formen der Durcharbeitung nicht etwas anderes, sondern gleichsam es selbst. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass HeidegHeidegger, Sein und Zeit, GA 2, 198. »Zwischen der im besorgenden Verstehen noch ganz eingehüllten Auslegung und dem extremen Gegenfall einer theoretischen Aussage über Vorhandenes gibt es mannigfache Zwischenstufen. Aussagen über Geschehnisse in der Umwelt, Schilderungen des Zuhandenen, ›Situationsberichte‹, Aufnahme und Fixierung eines ›Tatbestandes‹, Beschreibung einer Sachlage, Erzählung des Vorgefallenen. Diese ›Sätze‹ lassen sich nicht, ohne wesentliche Verkehrung ihres Sinnes, auf theoretische Aussagesätze zurückführen« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 210)
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ger die Aussage als »extremes Derivat« 35 versteht; sie umfasst für ihn gerade nicht das Sprachphänomen im vollen Sinne. Um diesen für ihn entscheidenden Schritt hin zu einer Sprachlichkeit abseits der Prädikation terminologisch zu kennzeichnen, spricht Heidegger nun nicht mehr von Sprache, sondern von »Rede«. Und er weist mit aller Entschiedenheit darauf hin, dass dieses Existenzial der Rede nicht mit der Prädikation gleichzusetzen ist. Vielmehr nötigt diese Differenzierung von Aussage einerseits und Rede andererseits dazu, das Fundament jeder Prädikation eigens zu thematisieren und eine vor-prädikative Dimension von Sprachlichkeit in den Blick zu nehmen. Das ontologische Fundament von Sprache wird von Heidegger so als Rede umschrieben, durch die sich allererst so etwas wie die Verständlichkeit konstituiert. In diesem Sinne betont er in Sein und Zeit: »Verständlichkeit ist auch schon vor der zueignenden Auslegung immer schon gegliedert. Rede ist die Artikulation der Verständlichkeit. Sie liegt daher der Auslegung und Aussage schon zugrunde.« 36
Um das Verstehen in Auslegung und Aussage explizieren zu können, braucht es laut Heideggers so etwas wie eine »Artikulation« der Verständlichkeit – nicht im Sinne der nachträglichen Verlautbarung, sondern vielmehr im Sinne der vorgängigen Strukturierung. Die von Heidegger ins Visier genommene Dimension der Gliederung der (gleichermaßen vor-prädikativen, vor-theoretischen und vor-reflexiven) Verständlichkeit zwingt ihn dazu, eine Dimension der Sprache in den Blick zu nehmen, die gerade nicht auf die Prädikation reduziert werden kann, sondern vielmehr konstitutiv das Verstehen als vorgängige Gliederung durchzieht. Der sprachphilosophisch entscheidende Punkt von Heideggers Überlegungen ist nun, dass die erwähnte Als-Struktur des Verstehens, obgleich sie vor-prädikativ ist, bereits »sprachlich« verfasst ist. 37 Das heißt: Jede prädikative Aussage fußt bereits auf dem verstehen-
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 213. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 214. 37 Sowohl Brandom (Robert B. Brandom, »Heidegger’s Categories in Being and Time«, The Monist, 66 (3), 1983, 387–409) als auch Dreyfus (Hubert L. Dreyfus, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time. Division I, Cambridge [Mass.], The MIT Press, 1991, 215–224) legen eine Interpretation nahe, Sprachlichkeit als ein der Praxis Nachrangiges zu verstehen. Im Gegensatz dazu möchte ich mit Wellmer »Rede und Sprache zusammendenken« (Albrecht Wellmer, Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2004, 335). 35 36
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den Umgang mit den Dingen und damit auf der sprachlich-gegliederten Erschlossenheit von Welt. Das vor-prädikative Erfassen von etwas als etwas vollzieht sich nicht unabhängig von der redenden Strukturierung der Erschlossenheit. Sie trägt die Möglichkeit einer ausdrücklichen Prädikation in sich, lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Um beispielsweise einem Kind zu erklären, was ein Schraubenzieher ist (»Das ist ein Schraubenzieher«) und wozu er dient (»Damit kann ich das Regal an der Wand montieren«), muss sowohl der Gesamtzusammenhang als auch die spezifische Bedeutsamkeit des Gebrauchsgegenstandes erschlossen sein. Sprachlichkeit (im Sinne des Existenzials der Rede) kommt damit nicht nachträglich zum Verstehen von Welt hinzu, sondern ist – wie Heidegger mehrmals hervorhebt – mit ihm »gleichursprünglich«. Weltverstehen und Sprachvermögen stehen für ihn in keinem einseitigen Fundierungsverhältnis, sondern sind als einander wechselseitig bedingende Momente der Erschlossenheit von Welt anzusehen. Diese konstitutive Dimension der Sprache lässt sich nun mit folgendem Hinweis näher in den Blick bringen: Aus dem praktischen Weltverstehen können stets einzelne Momente perspektivisch herausgehoben und damit je unterschiedlich ausdrücklich thematisiert werden. So kann ich – um abermals auf das obige Beispiel zurückzukommen – jemand anderem zeigen, wie bei der Montagetätigkeit mit dem Schraubenzieher umgegangen werden muss – und ich kann auch explizit sagen, wozu ich dieses oder jenes Zeug gebrauche. In diesem Heraushebenkönnen von einzelnen Momenten aus einer Gesamtstruktur steckt für Heidegger das grundlegend sprachliche Vermögen. Nur als Sprache wird das Verhältnis zwischen Einzelnem (etwas) und Ganzem (Welt) begreiflich. Anders gewendet: Das Verstehen von Welt ist immer schon in strukturierter Weise erschlossen, sodass einzelnes gegenüber anderem vor dem Hintergrund des Ganzen abgehoben und thematisch in den Vordergrund gerückt werden kann. Diese Möglichkeit der Aktualisierung der differenzierenden Bezugnahme gründet für Heidegger – und hier schließt er an die Überlegungen von Herder an und buchstabiert sie hinsichtlich eines semantischen Holismus weiter aus – in der strukturierend-organisierenden Kraft der Sprache. So betont Heidegger, dass Sprache als Rede nichts anderes ist als die »Artikulation der Verständlichkeit« 38. »Artikulation« meint hier meiner Lesart zu38
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 214.
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folge nicht »Äußerung« oder »Verlautbarung«, sondern ist wörtlich als differenziertes »Einteilen« des Bedeutungsganzen zu verstehen. Damit wird klar, dass die Strukturierung des Entwerfens (Verstehen) und der Geworfenheit (Befindlichkeit) samt der partikularen Bezugnahme für Heidegger nur aufgrund des Vollzugs der Gliederung durch Rede möglich ist. Explizit – im Sinne der Aussage – kann das Verhältnis des Bedeutungsganzen zu seinen einzelnen Teilen nur deshalb werden, weil es bereits sprachlich – im Sinne der Rede – strukturiert ist: »Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.« 39
Aus dem Zitat geht hervor, dass sich Heidegger gegen eine referentialistische Bedeutungstheorie ausspricht: »Wörterdinge« sollen nicht lediglich als materielle Träger für bereits vorliegende Inhalte gefasst werden. Sprache wird von Heidegger nicht als ein Mittel zum Ausdruck und zur Verständigung gefasst; vielmehr ist das, was wir gemeinhin unter »Sprache« (im Sinne ihrer expressiven Dimension) verstehen, für Heidegger nur insofern möglich, als wir immer schon sinnverstehend bei den Dingen sind und etwas als etwas vor dem Hintergrund eines Bedeutungsganzen fassen. Bereits im praktischen Welt-Verstehen und damit auf einer vor-theoretischen und prä-reflexiven Ebene ist das Wesen der Sprache qua Rede in seiner gliedernderschließenden Dimension mit am Werk. 40 Damit sprengt Heidegger den Sprachbegriff, der in der Abbildfunktion von Welt aufgeht. Die explizite Aussage ist für ihn nur deshalb möglich, weil die menschlichen Sinn- und Bedeutungsbezüge und das menschliche WeltverHeidegger, Sein und Zeit, GA 2, 214. Diesen entscheidenden Schritt innerhalb der phänomenologischen Theoriebildung übersehen Beyer und Weichold in ihrem ansonsten gerade in Bezug auf Husserl informativen Artikel zur phänomenologischen Sprachauffassung. Für sie sind in Heideggers Sein und Zeit »›Sprache‹ und ›Wort‹ nichts anderes als bloß abgeleitete Formen der praktischen Bedeutsamkeit« (Christian Beyer, Martin Weichold, »Die phänomenologische Tradition«, in: Nikola Kompa (Hg.), Handbuch Sprachphilosophie, Stuttgart, Metzler, 2015, 48–58, hier 54); die Tragweite der gliedernden Funktion der Rede explizieren sie nicht. Das Existenzial der Rede dient für sie lediglich dazu, dem »vor-sprachlichen Verstehen möglicher praktischer Bedeutsamkeit Worte zu verleihen und es dadurch auf den Begriff zu bringen« (Beyer, Weichold, »Die phänomenologische Tradition«, 55).
39 40
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Die hermeneutische Wende zur Sprache
ständnis immer schon in Form der Rede vor-prädikativ strukturiert sind. Indem er Sprache in diesem Sinne als konstitutiv für die Erschlossenheit der Welt erachtet, geht Heideggers hermeneutisches Sprachverständnis wesentlich über das hinaus, was man üblicherweise Sprache nennt und folglich Gegenstand einer sprachwissenschaftlichen oder logisch-epistemologischen Analyse werden kann.
4.
Die Herder’sche Erblast in Heideggers Sprachkonzeption von Sein und Zeit
In meinen abschließenden Bemerkungen möchte ich anhand von zwei Kritikpunkten aufweisen, dass eine Revision der hermeneutischen Sprachbetrachtung ein notwendiges Unterfangen ist. (1) Bereits bei Herder wird suggeriert, dass Sprache sich letztlich im einzelnen Subjekt bildet; ein expliziter Begriff von der Geschichtlichkeit und Öffentlichkeit der Sprache fehlt. Diese (psychologistische) Erblast übernimmt Heidegger in gewisser Weise. Er schafft es in Sein und Zeit nicht, den unhintergehbaren öffentlich-geschichtlichen Charakter von Sprache – der dem einzelnen Dasein immer als Ganzes entzogen ist, auf den es aber angewiesen bleibt, um sich sprachlich in der Welt orientieren zu können – überzeugend und eingehend zu berücksichtigen. Als hinderlich erweist sich in dieser Hinsicht der von Heidegger veranschlagte Vorrang des Verstehens (gegenüber der Befindlichkeit) und die vornehmlich pejorative Inblicknahme des »Geredes« (im Sinne einer »Diktatur des Man«). Obwohl Heidegger jede Bezugnahme auf ein transzendentales Subjekt hinter sich zu lassen gedenkt und eine bewusstseinszentrierte Herangehensweise im Sinne der klassischen Erkenntnistheorie ablehnt, fungiert das Dasein als Bedingung der Möglichkeit, dass sich Seiendes überhaupt zeigen kann: »Dergleichen Verstehen von Seiendem in seinen Seinszusammenhängen ist nur möglich auf dem Grunde der Erschlossenheit, das heißt des Entdeckendseins des Daseins.« 41 Das Dasein fungiert in dieser Konzeption als eröffnend-entdeckende Bezugsmitte, das sich Innerweltliches aneignet und in seinen Verstehenshorizont integriert. Dabei macht Heidegger nicht mit der notwendigen Schärfe deutlich, inwiefern sich die Bedeutungsganzheit der Welt durch eine Vorgän41
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 301.
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gigkeit auszeichnet, die nie von einem einzelnen Dasein gestiftet werden kann. Die Welt-Konzeption von Sein und Zeit geht nicht umfassend darauf ein, inwieweit das Dasein vorgängig in einen bereits durch Geschichte und Gesellschaft strukturierten Lichtungsspielraum eingelassen ist, auf dessen Vorgaben es nolens volens zu antworten hat. Gewiss, Hinweise in diese Richtung finden sich durchaus. So macht Heidegger deutlich, dass der jeweilige Akt des Verstehens nie mit und durch sich selbst anhebt, sondern auf sedimentierten Erfahrungen Anderer beruht, die sich nachgerade in der Sprache niederschlagen. Und auch wenn Heidegger vornehmlich den »autoritativen Charakter« des »Weiter- und Nachredens« hervorhebt, 42 weist er zugleich auf den Umstand hin, dass das jeweilige Dasein in seinem Selbst- und Weltverhältnis sich immer schon in vielfältige Zusammenhänge einschreiben muss, dessen Einsichten weder aus ihm selbst stammen noch auf seine eigene Erfahrung zurückgeführt werden können. Tatsächlich zeigt sich in jeder Bezugnahme auf Welt eine soziokulturelle Dimension, sodass es – um Marx zu paraphrasieren – nicht das Bewusstsein der Menschen ist, das ihr Sein bestimmt, sondern vielmehr das gesellschaftliche Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. 43 Gerade eine verstärkte positive Berücksichtigung eines stets sprachlich überlieferten Bedeutungszusammenhangs hätte Heidegger auf die konstitutive Dimension einer bereits redend-gegliederten Befindlichkeit aufmerksam machen müssen. Diese vor-prädikative Macht der Sprache ist konstitutiv für jedes menschliche Selbstverständnis und niemals zur Gänze einholbar. Denn nur im Ausgang gesellschaftlich sedimentierter Bedeutungen gewinnt das jeweilige Dasein sein eigenes – stets responsiv zu fassendes – Verständnis von sich sowie seiner Um- und Mitwelt, ohne jedoch diese Vorgaben jemals vollends zu Bewusstsein bringen zu können. Nun gilt es allerdings zu sehen, dass der Mensch, gerade weil er sich zur Geworfenheit zu verhalten hat, diesen Überlieferungen nicht fatalistisch ausgeliefert bleiben muss. 44 So wird im poststrukturalistiHeidegger, Sein und Zeit, GA 2, 224. Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Werke, Band 13, Berlin, Dietz, 1961, 9. 44 Humboldt diskutiert in diesem Zusammenhang auch die Reichweite und Grenzen interkultureller Verständigung: »Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht sein und ist es in der Tat bis auf einen gewissen Grad, da jede Sprache das ganze Gewebe der Begriffe und die Vorstellungsweise eines Teils der Menschheit enthält. Nur weil man in eine 42 43
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Die hermeneutische Wende zur Sprache
schen Kontext immer wieder diskutiert, inwiefern die notwendige Wiedereinschreibung in vorgegebene Zusammenhänge die Möglichkeit von Verschiebungen und damit einer Veränderbarkeit dieser Sedimentierungen eröffnet. 45 (2) Mit der Trennung von Rede und Sprache gewinnt Heidegger zwar ein erweitertes Sprachverständnis, das sich nicht allein auf die akustische Verlautbarung oder das Sprachzeichen reduzieren lässt; aber sie führt auch dazu, dass sich eine Privilegierung des Ontologischen zugunsten des Ontischen einschleicht. Heidegger wiederholt den bei Herder konstatierbaren metaphysischen Gestus, die expressive und performative Kraft des Sprachvollzugs als akzidentiell zu betrachten und vernachlässigt dabei die Dialogizität der Sprache. Auch wenn er in Sein und Zeit festhält, dass mit der »Mitteilung« das »Mitsein ›ausdrücklich‹ geteilt« wird und sie gerade nicht als ein »Transport von Erlebnissen« 46 gefasst werden darf, unterlässt er es, die produktive Dimension der Sozialität hervorzukehren. Um diesen Aspekt zu unterstreichen, insistiert bereits Wilhelm von Humboldt in seiner Einleitung in die Kawi-Sprache auf die Notwendigkeit des Dialogs mit sich selbst und anderen. Er vermerkt: In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an andren versuchend geprüft hat. Denn die Objektivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt. Der Subjektivität aber wird nichts geraubt, da der Mensch sich immer eins mit dem Menschen fühlt; ja auch sie wird verstärkt, da die in Sprache verwandelte Vorstellung nicht mehr ausschließend einem Subjekt angehört. 47
Das Gespräch ist der Ort, an dem das jeweilige Verständnis der Worte »geprüft« und in seiner Objektivität »gesteigert« werden kann, wenn fremde Sprache immer, mehr oder weniger, seine eigne Welt-, ja seine eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nicht rein und vollständig empfunden.« (Wilhelm von Humboldt, »Einleitung zum Kawi-Werk. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«, in: ders., Schriften zur Sprache, Stuttgart, Reclam, 1995, 30– 207, hier 53–54) 45 Besonders eindringlich weist – neben Derrida und Laclau – Butler auf diese produktive Dimension der Sprache hin. Vgl. hierzu Matthias Flatscher, »Politiken der Zitation. Zur ethisch-politischen Dimension der Iterabilität«, in: Csongor Lörincz, Hajnalka Halász (Hg.), Sprachmedialität. Verflechtungen von Sprach- und Medienbegriffen, Bielefeld, Transcript, 2019, 337–355. 46 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 215. 47 Humboldt, »Einleitung zum Kawi-Werk«, 48.
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die Sprechenden aufeinander eingehen, sich berichtigen oder ergänzen. Heidegger schafft es nicht, diesen Aspekt umfassend zu würdigen. Ihm nachzugehen, hieße sich darauf besinnen, dass Menschen sich in Gesprächen nicht nur selbst bestätigt finden, sondern diese zugleich einen Raum für kritische Auseinandersetzungen und Korrekturen eröffnen. So kann sich im Dialog eine »verwandelte Vorstellung« herausbilden, die nicht mehr nur einem einzigen Subjekt zugehört, sondern die Teilnehmenden eines Gesprächs auf eine Mehrperspektivität hin übersteigt. Mit der nur zögerlichen Berücksichtigung des Phänomens der »Bekundung« unterschlägt Heidegger ein weiteres zentrales Moment. Nämlich, dass mit der Wortergreifung das Dasein in einem sozialen (und politischen) Kontext in Erscheinung tritt und die eigene Ansicht vernehmbar macht. Man kann hinsichtlich dieser deklarierten Parteinahme mit Hannah Arendt auch vom »Wagnis der Öffentlichkeit« 48 sprechen. Mit diesem Sich-Riskieren in der Rede erhält die Sprache eine politische Schlagseite, da jede*r einzelne*r mit der Darlegung seines Standpunkts sich als Person exponiert und die eigene Meinung zur Disposition stellt. Gerade in dieser Exposition im öffentlichen Gespräch erblickt Arendt die Chance des Neuanfangs. Dieser bedeutet gewiss immer ein Wagnis; aber er birgt auch die Hoffnung, die Gegenwart im Sinne einer besseren Zukunft zu verändern. Arendt hat diesen Gedanken gegenüber Günter Gaus eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Ihr soll daher das letzte Wort gehören: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. […] Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht. 49
Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München, Piper, 1989, 91. Hannah Arendt, »Fernsehgespräch mit Günter Gaus«, in: dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München, Piper, 1986, 44–70, hier 70.
48 49
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Bedeutung
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz Giovanna Caruso
Zusammenfassung: Die vorprädikative Dimension und ihr Verhältnis zur Sprache im Sinne der Prädikation sind umstrittene Themenfelder innerhalb der Heidegger-Forschung. Die häufigen und zuweilen nicht miteinander zu vereinbarenden Versuche, die vorsprachliche Dimension zu definieren und ihre Verbindung zur Sprache zu bestimmen, beschränken sich zumeist auf das Frühwerk Heideggers und werden darüber hinaus durch eine gewisse Uneindeutigkeit Heideggers in dieser Hinsicht selbst erschwert. Dank ihrer historischen Verortung im Denken Heideggers ermöglicht die Kunstwerkabhandlung eine bis heute unberücksichtigte Perspektive auf die vorprädikative Dimension, die dazu führen kann, systematische Hürden in seinem Frühdenken zu überwinden und Fehlinterpretationen des Vorprädikativen auszuräumen. Auf Basis eines kritischen Vergleiches zwischen der waltenden Welt in Die Grundbegriffe der Metaphysik und der weltenden Welt in Der Ursprung des Kunstwerks wird im vorliegenden Beitrag gezeigt, dass sich eine vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz ereignet, die Heidegger ausgehend vom seinsgeschichtlichen Horizont, nicht aber vom vorontologischen Seinsverständnis des Daseins denkt.
1.
Einleitung
Dass Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks 1 nicht in einer Philosophie der Kunst mündet, sondern vielmehr als ein »Teilprojekt der […] Überwindung der Metaphysik« 2 verstanden werden muss, ist Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, GA 5, 1–74. Peter Trawny, »Über die ontologische Differenz in der Kunst«, Heidegger Studien, 10, 1994, 207–221, hier 209–210. Indem Trawny die Kunstwerksabhandlung Heideggers als einen Versuch versteht, im Rahmen der ›Überwindung der Ästhetik‹ das ur1 2
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eine wohlbegründete Beobachtung. Denn die Frage nach der Kunst wird von Heidegger eindeutig im seinsgeschichtlichen Horizont des Wahrheitsgeschehens gestellt und beantwortet. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass die Themen des Sich-Gebens des Seins, des Geschehens der Wahrheit oder auch der Sprache als Dichtung in Heideggers Kunstwerkabhandlung eine grundlegende Rolle spielen. Die Ausarbeitung dieser Themen gewinnt außerdem aufgrund ihrer historischen Verortung im Denken Heideggers eine besondere Relevanz: Der Kunstwerkaufsatz stellt den ersten systematischen Text dar, in dem sich die sogenannte Kehre verwirklicht. Denn das Wahrheitsgeschehen wird nicht mehr ausgehend vom Dasein, sondern vom Ereignis her gedacht. Entsprechend wird die Fundamentalontologie in den Kunstwerkaufsatz aufgenommen und auf einen seinsgeschichtlichen Horizont hingedeutet. Wenn sich daher einerseits einige für die Fundamentalontologie grundlegenden Elemente wie etwa das Verständnis von Welt als Bedeutungszusammenhang im Kunstwerkaufsatz weiter als relevant erweisen, lässt die Definition der Kunst als Dichtung 3 die grundlegende Verbindung zwischen Sein und Sprache, die in Heideggers Denken zunehmend an Bedeutung gewinnt, bereits erahnen. Die These, die ich im Folgenden aufstellen werde, beruht auf der Vermutung, dass diese Zwischenposition, die dem Kunstwerkaufsatz in Heideggers Denken zugewiesen werden kann, eine bis heute nur marginal berücksichtigte Perspektive auf die vorprädikative Dimension über die Fundamentalontologie hinaus eröffnen kann. Dass die Sprache in der Spätphase des Heideggerschen Denkens eine viel bedeutendere Rolle als in seinen frühen Werken spielt, wur-
sprüngliche Wesen der Kunst zu erschließen, macht er implizit darauf aufmerksam, dass die Gleichsetzung des Kunstverständnisses Heideggers mit einer Kunstphilosophie oder Kunsttheorie Heideggers Vorhaben missverstehen würde. In diesem Sinne unterscheidet sich Trawnys Deutung des Kunstwerksaufsatzes von anderen Interpretationen wie etwa der von Friedrich-Wilhelm von Herrmann oder Wilhelm Perpeet, die die Kunstauffassung Heideggers jeweils als ›Philosophie der Kunst‹ bzw. als ›Kunstlehre‹ bezeichnen. (Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege-Abhandlung »Der Ursprung des Kunstwerkes«, Frankfurt am Main, Klostermann, 1994; Wilhelm Perpeet, »Heideggers Kunstlehre«, in: Frank-Lothar Kroll [Hg.], Wilhelm Perpeet. Heideggers Kunstlehre, Bonn, DenkMal, 2005, 25–65). 3 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, ab 59.
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
de in der Forschung bereits belegt. 4 Angesichts dieser Tatsache wirkt es fast verblüffend, dass sich Heidegger mit der Frage nach dem Vorprädikativen – das, wie das Wort bereits verrät, ein Phänomen ist, das in Bezug auf die Sprache gedacht werden soll –, vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich in seinen frühen Werken explizit auseinandergesetzt hat. Eine Analyse des Kunstwerkaufsatzes zeigt dennoch – und darin besteht meine These –, dass eine vorprädikative Dimension auch innerhalb des seinsgeschichtlichen Horizontes präsent ist, die entsprechend nicht ausgehend vom Dasein – wie in Sein und Zeit 5 und auch noch in Den Grundbegriffen der Metaphysik 6 –, sondern aus der Perspektive des Wahrheitsgeschehens gedacht wird. In Anlehnung an die Struktur des Vorprädikativen, auf die Heidegger vornehmlich in den Grundbegriffen eingeht, möchte ich zeigen, dass die Kunst als das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit bzw. die Kunst im Sinne der Stiftung als Schenken, Gründen und Anfangen einer geschichtlichen Welt 7 eine vorprädikative Dimension entstehen lässt, aus der die Kunst selbst als Wahrheitsgeschehen erfasst werden kann. Mit anderen Worten werde ich in den folgenden Ausführungen verdeutlichen, dass es zwischen dem »Welten der Welt« 8 des Kunstwerkaufsatzes und dem »Walten der Welt« 9 der Grundbegriffe eine grundlegende Entsprechung gibt: Das ›Welten der Welt‹ entspricht aus seinsgeschichtlicher Perspektive jener »vorlogische[n]« 10 bzw. »vorprädikative[n] Offenbarkeit«, 11 die aus der Perspektive der Fundamentalontologie das Walten der Welt als »Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« 12 ausmacht.
Vgl. Gerald Posselt, Matthias Flatscher, Sprachphilosophie. Eine Einführung, Wien, facultas, 2016, 177–194. 5 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2. 6 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30. 7 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 63–65. 8 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. 9 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 509–510. 10 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 511. 11 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 494. 12 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 416. 4
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Um die Entstehung dieser vorprädikativen Dimension im Kunstwerkaufsatz zu zeigen, wird sich die Argumentation in zwei aufeinander aufbauende Abschnitte gliedern. In einem ersten Teil werde ich in Anlehnung an Sein und Zeit und an die Grundbegriffe die vorprädikative Dimension umreißen und dadurch zeigen, inwiefern Heidegger diese Dimension als ein Grundgeschehen des Daseins versteht. Denn diese Dimension, die Heidegger mit der Welt als die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen gleichsetzt, wird auf das weltbildende Wesen des Menschen zurückgeführt. Dadurch drängt sich für Heidegger die Notwendigkeit auf, die Struktur der Welt als Offenbarkeit des Seienden offenzulegen und die eng damit verbundene menschliche Tätigkeit der Bildung zu untersuchen. Es wird sich zeigen, dass diese Tätigkeit der Weltbildung durch drei gleichursprüngliche Strukturmomente charakterisiert ist: »1. das Entgegenhalten von Verbindlichkeit; 2. die Ergänzung; 3. die Enthüllung des Seins des Seienden.« 13 Auf Basis dieser drei Momente kann im zweiten Teil die Präsenz einer vorprädikativen Dimension im Kunstwerkaufsatz festgestellt werden. Denn diese Momente lassen sich in der weltenden Welt, die laut Heidegger durch das Kunstwerk aufgestellt wird, wiederfinden. Das Ziel des zweiten Abschnittes besteht demnach darin zu zeigen, dass sich das Entgegenhalten von Verbindlichkeit, die Ergänzung und die Enthüllung des Seins des Seienden, die die Welt als vorprädikative Dimension in den Grundbegriffen strukturieren, als Strukturmomente auch für die Welt des Kunstwerkaufsatzes zeigen, die daher als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen bzw. als vorprädikative Dimension gedeutet werden kann. Diese Welt wird – und darin drückt sich der seinsgeschichtliche Ansatz des Kunstwerkaufsatzes und in weiterer Folge auch seine Distanz zur Fundamentalontologie aus – nicht mehr vom Menschen gebildet, sondern durch das Kunstwerk als das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Dass das Kunstwerk Welt bildet, heißt daher, dass die Wahrheit Welt bildet, und dies zeigt, dass die vorprädikative Dimension aus dem Wahrheitsgeschehen gedacht wird und dass sie als Grundgeschehen der Wahrheit und nicht mehr nur als Grundgeschehen des Menschen verstanden werden darf.
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 506.
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
2.
Das weltbildende Wesen des Menschen
Das Thema des Vorprädikativen wird von Heidegger in den Grundbegriffen ausgehend von der Auffassung des Menschen als weltbildend behandelt. Die Welt ist dabei als »die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« 14 definiert. Dass der Mensch weltbildend ist, heißt daher, dass der Mensch diese Offenbarkeit bildet. Durch die Erklärung dieser menschlichen Tätigkeit des Bildens erschließt Heidegger eine Dimension, die er als »Grundgeschehen des Daseins« 15 definiert, die er als »vorprädikative Offenbarkeit oder besser als vorlogische Wahrheit« 16 bezeichnet, weil sie die Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Artikulation – oder in den Worten Heideggers jedes λόγος σημαντικός, 17 und d. h. des apophantischen wie des nicht apophantischen λόγος – darstellt. Um die Verfassung der vorprädikativen Dimension erschließen zu können, soll die Natur des weltbildenden Wesens des Menschen erschlossen werden. Bereits die Gleichsetzung der vorprädikativen Dimension mit der Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen warnt implizit vor einer Deutung des menschlichen Bildens im Sinne einer aktiven, bewussten Handlung, die als ein poietisches Tun auf die Herstellung von etwas abzielt. Wie soll aber dieses Bilden verstanden werden? Inwiefern kann der Mensch eine vorprädikative bzw. vorlogische Dimension bilden? Im Versuch, diese Fragen zu beantworten, geht Heidegger von der Dimension der Prädikation auf die vorprädikative Dimension zurück, die die Bedingung der Möglichkeit jeder möglichen Aussagewahrheit darstellt. 18 Auf eine ausführliche Rekonstruktion dieses Gedankens werde ich jedoch verzichten. Um die weltbildende Rolle des Menschen zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden lediglich die Ergebnisse der Heideggerschen Argumentation, die die Erschließung Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 416. 15 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 511. 16 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 494. 17 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 448–452. 18 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 440–495. 14
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der Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen bzw. der Welt als vorprädikative Dimension ermöglicht, kurz zusammenfassen. Aus Heideggers detaillierter Analyse der zwei grundlegenden Momente, die die Welt als die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen ausmachen – das als solchen und das im Ganzen – lässt sich die Welt im Sinne einer vorprädikativen Dimension als eine artikulierte Ganzheit von Sinnbezügen verstehen, die entsprechend verbindliche und doch freie Möglichkeiten der Identität und der Unterscheidbarkeit von Seienden aufweist und die daher die Bedingung der Möglichkeit für jeden sprachlichen Ausdruck darstellt. Die Entsprechung dieser Weltauffassung mit der Welt, die Heidegger in Sein und Zeit als »Bedeutsamkeit« 19 versteht, ist unverkennbar. In diesem Sinne drücken die Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen bzw. die vorlogische, vorprädikative Dimension und die Welt als Bedeutsamkeit ein einheitliches Grundgeschehen aus, das sich auf das weltbildende Wesen des Menschen zurückführen lässt. Aufgrund dieser Übereinstimmung kann die Analytik des Daseins für die Deutung der weltbildenden Tätigkeit des Menschen fruchtbar gemacht werden. In Sein und Zeit definiert Heidegger den Menschen als das Seiende, das sich immer in einem »vorontologische[n] Seinsverständnis« 20 bewegt; er hat schon immer ein verstehendes Verhältnis zu seinem je eigenen Selbst, den anderen Menschen und den innerweltlich Seienden. Denn das Dasein ist jenes Seiende, das durch Befindlichkeit, Verstehen und Rede existenzial charakterisiert ist; 21 jenes Seiende, das sich als geworfener Entwurf immer schon in einer Ganzheit von Bedeutungen befindet und in sie hineinwächst und deren Verbindlichkeit unterworfen ist; zugleich ist das Daseins das Seiende, das schon immer diese Ganzheit als Bedeutsamkeit erschlossen hat, das schon immer ein Etwas als Etwas versteht, das schon immer Entscheidungen getroffen hat. Das bedeutet, dass das Dasein die Bedingung der Möglichkeit in sich trägt, das Sein des Seienden im Ganzen – und d. h. nach der vorgegebenen Definition der Welt das Sein als artikulierte Ganzheit von Sinnbezügen – zu erschließen und im Rahmen dieses Ganzen das Sein eines spezifischen Seienden (Etwas als
19 20 21
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 116. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 20. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 174–239.
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
Etwas) zu bestimmen. Aus dieser Überlegung lässt sich schließen, dass die Möglichkeit der Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen oder – was dasselbe ist – die Welt als Bedeutsamkeit oder sogar die vorprädikative-vorlogische Dimension in Sein und Zeit und in den Grundbegriffen in der Wesensverfassung des Daseins gründen, sich schon immer in einem Vorverständnis des Seins zu halten. Während aber das Wozu des Zeugs und die Zeugganzheit in Sein und Zeit den Ausgangspunkt für die Erschließung der Welt als Weltlichkeit darstellt, 22 rückt die Daseinstätigkeit in den Grundbegriffen in den Mittelpunkt der Analyse. Entsprechend expliziert Heidegger das vorlogische Offensein des Menschen für das Seiende durch drei Strukturmomente, die auf zwei gleichursprüngliche Tätigkeiten verweisen: das Ergänzen und das Enthüllen, mit denen ein Entgegenhalten von Verbindlichkeit mitgegeben ist. 23 Die Darstellung dieser drei Momente soll im Folgenden die Struktur der weltbildenden Tätigkeit des Menschen und daher der vorprädikativen Dimension als Grundgeschehen des Daseins zum Ausdruck bringen. Ausgehend vom Urteil »die Tafel steht ungünstig«, 24 das Heidegger als Beispiel für einen Aussagesatz wählt, erklärt er das Moment des Ergänzens auf folgende Weise: Wir verstehen noch nicht und fassen überhaupt noch nicht die vorlogische Offenbarkeit des Seienden, wenn wir sie als das gleichzeitige Offenbarsein von vielerlei Seiendem nehmen. Vielmehr liegt alles daran, schon in der scheinbaren Enge und Begrenztheit der Aussage – die Tafel steht ungünstig – zu sehen, wie das, worüber ausgesagt wird, die ungünstig stehende Tafel, aus einem Ganzen heraus offenbar ist, aus einem Ganzen, das wir als solches gar nicht ausdrücklich und eigens erfassen. Aber gerade dieses, worin wir uns immer schon bewegen, ist es, was wir zunächst schematisch als das »im Ganzen« bezeichnen. Es ist nichts anderes, als was wir als vorlogische Offenbarkeit des Seienden im λόγος sehen. Wir können jetzt ganz allgemein sagen: Das vorlogische Offensein für das Seiende, aus dem heraus schon jeder λόγος sprechen muß, hat das Seiende immer schon im vorhinein ergänzt zu einem »im Ganzen«. Unter dieser Ergänzung verstehen wir nicht das nachträgliche Hinzufügen eines bislang Fehlenden, sondern das vorgängige Bilden des schon waltenden »im Ganzen«. […] Alles Aus-
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 90–97. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 505–525. 24 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 498, 505. 22 23
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Giovanna Caruso
sagen geschieht auf dem Grunde einer solchen Ergänzung, d. h. auf dem Grunde eines vorgängigen Bildens dieses »im Ganzen«. 25
Durch dieses Zitat wird ersichtlich, dass der Begriff ›Ergänzung‹ nicht in seinem alltäglichen Sprachgebrauch verstanden werden darf. Heidegger distanziert sich explizit von jeder Deutung von Ergänzung im Sinne des Hinzufügens, Ausweitens, Beifügens, Vervollkommnens oder Vervollständigens. Das Seiende zu einem im Ganzen zu ergänzen, heißt im Sinne Heideggers vielmehr ein Doppeltes: das Bilden des im Ganzen und die dadurch ermöglichte Verortung eines Seienden im Rahmen dieses Gebildeten im Ganzen. Denn das Dasein als das Seiende, das sich schon immer in einem Vorverständnis des Seins hält, hat schon immer das All des Seienden und dadurch auch jedes spezifisch Seiende auf eine bestimmte Art und Weise verstanden bzw. erschlossen. Der Mensch verhält sich zu sich selbst, zu Dingen und anderen Menschen, insofern er sie permanent in Sinneseinheiten integriert und immer schon integriert hat. In dieser Hinsicht ist daher Ergänzung im Sinne der Begrenzung oder – wie Heidegger selbst sagt – der Einschränkung zu verstehen: »Denn das Mögliche wird nicht möglicher durch die Unbestimmtheit, so daß gleichsam alles Mögliche in ihm Platz und Unterkunft findet, sondern das Mögliche wächst in seiner Möglichkeit und Kraft der Ermöglichung durch die Einschränkung. Jede Möglichkeit bringt in sich ihre Schranke mit sich.« 26 Doch die Eingrenzung der Möglichkeiten, die das Bilden eines im Ganzen ermöglicht, bringt einen verbindlichen Moment mit sich, den Heidegger das Entgegenhalten von Verbindlichkeit nennt. Das Sein eines Seienden zu einem bestimmten Ganzen zu ergänzen bzw. das Sein eines Seienden auf Basis eines bestimmten Ganzen zu verstehen und dieses Ganze selbst zu bilden, heißt verbindliche Sinnbezüge entstehen zu lassen, die die Deutung des Seins eines Seienden, seinen Bezug zum im Ganzen und seinen Bezug zu allen anderen Seienden bestimmen. Mehr als eine aktive Tätigkeit drückt dieses Moment ein Geschehen aus, dem der Mensch unterworfen ist, insofern er das im Ganzen bildet. Heidegger erläutert: »Unser Verhalten ist schon immer durchwaltet von Verbindlichkeit, sofern wir uns zu Seiendem verhalten und in diesem Verhalten dazu – nicht nachträgHeidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 505. 26 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 528. 25
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
lich und nebenbei – dem Seienden uns anmessen, ohne Zwang und doch uns bindend, aber auch entbindend und vermessend.« 27 Auf Heideggers Beispiel der Tafel im Hörsaal zurückgreifend, lässt sich zeigen, dass sich das Urteil Die Tafel steht ungünstig als ein verbindliches Urteil vor dem Hintergrund des im Ganzen des Hörsaales erweist. Das bedeutet, dass das Bilden des im Ganzen als vorprädikativer Bedeutungshorizont das λόγος ἀποφαντικός nicht nur im Allgemein ermöglicht, sondern sogar bestimmt. Denn wahr oder falsch können Urteile nur auf Basis des verbindlichen Verweisungszusammenhanges sein, der sich bildet, insofern das Ganze des Seienden und daher jedes einzelne Seiende ergänzt bzw. begrenzt und d. h. in einer bestimmten Art und Weise durch das Vorverständnis des Daseins erschlossen wird. Inwiefern das Enthüllen das dritte Moment der weltbildenden Tätigkeit der Welt ausmacht, lässt sich aus diesen Überlegungen bereits erahnen. Heidegger schreibt: Dieses Verbindlichkeit sich entgegenhaltende Ergänzen ist aber überdies – so sehen wir schon – ein Offensein für Seiendes, so daß es ermöglicht, über Seiendes sich auszusprechen, d. h. vom Wassein, Sosein, Daßsein und Wahrsein zu sagen. Das Sein des Seienden muß demnach in diesem und durch dieses gekennzeichnete Ergänzen auch schon in gewisser Weise enthüllt sein. 28
Mit diesen Worten erklärt Heidegger, dass die Möglichkeit der Enthüllung des Seins des Seienden im Bilden des im Ganzen als Dimension, die aufgrund des Vorverständnisses des Daseins entsteht, begründet liegt. Denn das Sein des Seienden zu enthüllen wird nur möglich vor dem Hintergrund eines vorlogischen Bedeutungszusammenhangs, im Rahmen dessen sich ein Seiendes in seinem Sein zeigt. Die Verbindlichkeit der Sinnbezüge, die durch das Ergänzen entsteht, bildet Beziehungen im Sinne der Als-Struktur und ermöglicht somit die Deutung des Seienden. Ergänzen, Entgegengehalten von Verbindlichkeit und Enthüllen stellen daher die drei gleichursprünglichen Strukturmomente der einheitlichen Tätigkeit des Weltbildens dar. Diese Einheit wird von
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 525. 28 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 506. 27
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Giovanna Caruso
Heidegger durch das Wort Entwurf zum Ausdruck gebracht, das entsprechend als »Grundstruktur der Weltbildung« 29 definiert wird. »Entwurf ist Weltentwurf. Welt waltet in und für ein Waltenlassen vom Charakter des Entwerfens.« 30 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen als die vorprädikative Dimension zeigt, die der Mensch aufgrund seines Vorverständnisses des Seins durch die drei gleichursprünglichen Strukturmomente von Ergänzen, Entgegengehalten von Verbindlichkeit und Enthüllen entwirft. In Bezug auf die Möglichkeit der Präsenz einer aus dem seinsgeschichtlichen Horizont entstehenden, vorprädikativen Dimension drängen sich nun die naheliegenden Fragen auf, ob die Auffassung der Welt auch im Kunstwerkaufsatz der Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen entspricht und inwiefern diese Offenheit durch die Strukturmomente des Ergänzens, Entgegenhaltens von Verbindlichkeit und Enthüllens erfasst werden kann. Zu diesem Zweck wird das erste Anliegen des nächsten Abschnitts darin bestehen, Heideggers Auffassung des Weltbegriffs im Kunstwerkaufsatz zu konturieren.
3.
Der Kunstwerkaufsatz
Der Weltbegriff nimmt in Heideggers »Der Ursprung des Kunstwerks« eine zentrale Rolle ein. Dass Heidegger auch in seinem Kunstwerkaufsatz die Welt als Bedeutungszusammenhang bzw. Sinnhorizont versteht, steht zweifelsfrei fest. Aber daraus zu schließen, dass sich diese Auffassung von Welt mit jener deckt, die Heidegger in Sein und Zeit entwickelt und die noch in den Grundbegriffen erhalten bleibt, wäre dennoch eine voreilige Schlussfolgerung. In Anlehnung an die Definition des Kunstwerks als »Bestreitung des Streits zwischen Welt und Erde« 31 werde ich im Folgenden jene Eigenschaften der Welt erläutern, aufgrund derer Heideggers Weltauffassung im
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 526. 30 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 527. 31 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 36. 29
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
Kunstwerkaufsatz einerseits der Welt als Bedeutsamkeit ähnelt und sich andererseits davon unterscheidet. Durch die Definition des Kunstwerks als Bestreitung des Streits zwischen Welt und Erde verweist Heidegger auf die ihr immanent paradoxe Natur und drückt zugleich ihr Verhältnis reziproker Abhängigkeit aus. Am Beispiel eines griechischen Tempels zeigt Heidegger, dass die Erde nur insofern zu einem sinnhaften Ganzen werden kann, als eine Welt entsteht, die ihrerseits auf der Erde gründet. 32 In diesem Zusammenhang versteht Heidegger in Anlehnung an den griechischen Begriff der Φύσις die Erde als das Ganze des Seienden, das noch nicht als ein sinnhaftes Ganzes erschlossen bzw. verstanden wird und die eine verschließende Tendenz aufzeigt: Dieses Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die Φύσις. […] Wir nennen es die Erde. Vom dem, was das Wort hier sagt, ist sowohl die Vorstellung einer abgelagerten Stoffmasse als auch die nur astronomische eines Planeten fernzuhalten. Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende, und zwar als ein solches, zurückbirgt. 33
Dieser sich verschließende Charakter der Erde wird von Heidegger durch unterschiedlichste Definitionen zum Ausdruck gebracht. 34 Insofern die Erde als Seiende im Ganzen durch die Welt an Sinn gewinnt, zeigt die Welt einen tendenziell offenen Charakter. Doch im Versuch, diesen offenen Charakter zu erfassen, sieht sich Heidegger mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine Realdefinition der Welt zu geben. Er sagt daher nicht, was die Welt ist, sondern was die Welt tut: »Welt weltet […]. Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weltet die Welt.« 35 Darauf aufbauend gewinnt er eine Definition der Welt: »Die Welt ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes«. 36 Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28. 34 Die Erde wird von Heidegger vielfältig bestimmt: als »jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet« (Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 28), als »das Hervorkommend-Bergende«, als »das zu nichts gedrängte MüheloseUnermüdliche« und als »was es in diesem Sich-Zurückstellen hervorkommen läßt« (Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 32). 35 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30–31. 36 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 35. 32 33
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Auf Basis dieser Wechselbeziehung zwischen Welt und Erde und auf ihrer sich daraus ergebenden Definitionen lassen sich nun die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen der Auffassung von Welt, die Heidegger noch Ende der 1920er Jahre vertritt, und der Welt, die im Streit mit der Erde das Wesen des Kunstwerks ausmacht, herausstellen. Indem die Welt als die Offenheit der weiten Bahnen der Entscheidungen bestimmt wird, im Rahmen derer die Erde als das Ganze des Seienden zum sinnhaften Ganzen wird, entspricht die Welt, die durch das Kunstwerk aufgestellt wird, der Welt als Bedeutsamkeit in Sein und Zeit bzw. der Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen in den Grundbegriffen. In den angeführten Zitaten lassen sich aber zwei grundlegende Unterschiede zwischen diesen beiden Weltauffassungen feststellen. Der erste Unterschied besteht in einem unverkennbaren geschichtlichen Charakter, der die Konzeption der Welt im Kunstwerkaufsatz weitaus stärker als die frühere betrifft. Heidegger versteht die Welt im Kunstwerkaufsatz als geschichtliche Epoche eines Volkes 37 und nicht als ontische Lebenswelt oder als Milieu. 38 Dieser starke geschichtliche Charakter bewirkt eine gewisse Einschränkung der Welt als Bedeutungshorizont von Sein und Zeit und den Grundbegriffen: Die Welt ist nicht mehr nur ein Bedeutungshorizont, sondern ein geschichtlich bestimmter Bedeutungshorizont bzw. eine Epoche eines bestimmten Volkes. Diese Einschränkung entspricht dem unverkennbaren Perspektivwechsel, den Heideggers Denken in den frühen 1930er Jahren erlebt. Indem er auf das Sein nicht mehr ausgehend Vgl. zur geschichtlichen Interpretation der Welt im Kunstwerkaufsatz: Otto Pöggeler, »Heidegger und die Kunst«, in: Christoph Jamme, Karsten Harries (Hg.), Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik, München, Fink, 1992, 59–84, 75; Karlheinz Stierle, »Ein Auge zuwenig. Erde und Welt bei Heidegger, Hölderlin und Rousseau«, in: Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik, 95–104, 99; Günter Figal, Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen, Mohr Siebeck, 2010, 43. Vgl. für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der vielfältigen Problematik, die die geschichtliche Natur der Welt im Kunstwerkaufsatz vor allem in Bezug auf die Deutungsmöglichkeiten der Kunst des 20. Jahrhunderts betrifft: Giovanna Caruso, Kunst und Leben. Eine kritische Auseinandersetzung mit Adorno, Benjamin und Heidegger, Baden-Baden, Ergon Verlag, 2019, 103–109. 38 Diese zwei schwachen Konnotationen der Welt im Kunstwerkaufsatz wurden von Gottfried Boehm und Wilhelm Perpeet vorgeschlagen. Vgl. Gottfried Boehm, »Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne«, in: Walter Biemel, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt am Main, Klostermann, 1989, 255–285, hier 269; Perpeet, »Heideggers Kunstlehre«, 35. 37
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
vom Dasein her blickt, sondern ausgehend vom Sein selbst bzw. von einem seinsgeschichtlichen Horizont, wird auch seine Auffassung der Welt radikal geschichtlich. Dieser Perspektivwechsel begründet auch den zweiten großen Unterschied der beiden Weltauffassungen: Die Welt wird im Kunstwerkaufsatz zum Akteur. In Sein und Zeit und in den Grundbegriffen wird die Welt durch den Menschen eröffnet, erschlossen oder gebildet, und aufgrund dessen kann sie als Bedeutsamkeit (Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen) walten. In der Kunstwerkabhandlung hingegen wird die Welt aktiv: Sie weltet und öffnet sich. Auch in diesem Prozess des Weltens spielt der Mensch eine entscheidende Rolle: Die Welt macht sich zur Welt, wo Menschen wesenhafte Entscheidungen treffen, wo Bahnen und Bezüge eines Bedeutungszusammenhanges bestimmt werden. Der Prozess der Weltkonstitution wird aber von Heidegger eindeutig als ein reflexiver Prozess der Welt gedacht und nicht mehr auf die weltbildende Tätigkeit des Menschen zurückgeführt. Ohne diese Unterschiede unterschätzen zu wollen, lässt sich auch die Welt, die das Kunstwerk aufstellt, ebenso wie die Welt als Bedeutsamkeit in Sein und Zeit als die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen definieren. Wenn aufgrund der Weltdefinition als sich öffnende Offenheit, die die oben zitierte Textstelle angibt, eine Übereinstimmung mit der Auffassung der Welt als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen noch unsicher ist, räumt das folgende Zitat jedoch alle Zweifel aus: Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen ab-zählbaren oder unabzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen. Welt weltet und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weltet die Welt. […] Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge. 39
Es wird durch dieses Zitat ersichtlich, dass die weltende Welt trotz ihrer Unterschiede zur waltenden Welt durch jene Momente, die 39
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30–31.
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Heidegger in den Grundbegriffen als Strukturmomente der vorprädikativen Dimension auffasst, strukturiert ist: das Ergänzen, das Entgegenhalten von Verbindlichkeit und das Enthüllen. Durch die ersten Zeilen dieses Zitats lässt sich deutlich das Strukturmoment des Ergänzens erkennen. Sogar die Terminologie, derer Heidegger sich im Rahmen des Kunstwerkaufsatzes bedient, ähnelt seiner Erklärung des Strukturmoments des Ergänzens in den Grundbegriffen. Hier wie dort – so Heidegger – soll die Welt weder als Ansammlung von Dingen noch als etwas, das zu dieser Ansammlung hinzugefügt wird, verstanden werden. 40 Vielmehr lässt das Ergänzen die Welt als das Ganze des Seienden hervortreten, das immer schon in einer bestimmten Art und Weise begrenzt wurde. Diesem Ganzen – so Heidegger – unterstehen wir. Darin besteht das zweite Strukturmoment der vorprädikativen Dimension: das Entgegenhalten von Verbindlichkeit. Denn sich in einem bestimmten Ganzen zu bewegen, heißt, innerhalb von verbindlichen Sinnbezügen das Sein des Seienden erschlossen zu haben bzw. sich anhand dieser verbindlichen Bezüge zu sich selbst, zu anderen Dingen und zu anderen Menschen zu verhalten. Und auch die Wahrheit oder Falschheit eines Aussagesatzes lässt sich nur an diesen Bezügen messen, so dass sich die Welt als vorprädikative Dimension – genau wie in den Grundbegriffen – als die Bedingung der Möglichkeit des λόγος ἀποφαντικός erweist. Und auch das dritte Moment des Enthüllens findet sich in der letzten Zeile des Zitats. Auch in diesem Fall ermöglicht die Öffnung einer Welt das Sein des Seienden oder – mit den Worten Heideggers – sein »Wassein, Sosein, Daßsein und Wahrsein« 41 zu enthüllen. Auch die weltende Welt zeigt sich daher als die Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen, die durch die drei gleichursprünglichen Strukturmomente Ergänzen, Entgegenhalten von Verbindlichkeit und Enthüllen ausgezeichnet ist. Auch die weltende Welt ist wie die als Bedeutsamkeit erschlossene Welt sprachlich artikuliert im Sinne des hermeneutischen Als, das die Möglichkeit des Etwas als Etwas und des im Ganzen mitkonstituiert und dadurch das λόγος σημαντικός und daher auch das λόγος ἀποφαντικός ermöglicht. Und dies bedeutet, dass sich die Präsenz einer vorprädikativen Dimension Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30; Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 505. 41 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 506. 40
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
auch im Kunstwerkaufsatz feststellen lässt. Entscheidend dabei ist aber, dass sich diese vorprädikative Dimension, obwohl sie als Bedeutsamkeit und Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen zu verstehen ist, nicht direkt aus dem vorontologischen Seinsverständnis des Daseins ergibt. Selbstverständlich lässt sich von Prädikation und entsprechend von vorprädikativer Dimension bzw. von Bedeutsamkeit nur im Rahmen der Möglichkeit eines Seinsverständnisses sprechen, das ausschließlich das Sein des Daseins ausmacht. Doch diese Dimension wird im Falle der weltenden Welt nicht direkt durch den Menschen gebildet, sondern durch das Kunstwerk. In diesem Sinne schreibt Heidegger im Kunstwerkaufsatz: »Gerade in der großen Kunst, und von ihr allein ist hier die Rede, bleibt der Künstler gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im Schaffen sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes.« 42 Jene weltentwerfende Funktion, die dem Dasein als Entwurf 43 in den Grundbegriffen zukommt, wird in einem gewissen Sinne auf das Kunstwerk übertragen. Doch das Kunstwerk ist laut der berühmten Definition im Kunstwerkaufsatz das »Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit« 44. Die weltbildende Funktion, die dem Menschen in Sein und Zeit und noch in Den Grundbegriffen der Metaphysik zugeschrieben wird, wird somit im Kunstwerkaufsatz aus dem Wahrheitsgeschehen gedacht: Indem die Wahrheit geschieht, d. h. sich ins Werk setzt, bildet sich eine Welt, die als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen durch die gleichursprünglichen Momente des Ergänzens, des Entgegenhaltens von Verbindlichkeit und des Enthüllens strukturiert ist. D. h. dass, indem die Wahrheit geschieht, eine immer neu vorprädikative Dimension entsteht, die die Beziehungen zwischen den Seienden (die hermeneutische Als-Struktur) und zugleich das im Ganzen des Seienden neu definiert. Aufgrund dieser für die Kunst konstitutiven Möglichkeit der Neustrukturierung des hermeneutischen Als bzw. der Neuentstehung einer vorprädikativen Dimension begreift Heidegger die Kunst
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 26. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 526–527. 44 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 25, aber auch 44, 59, 62, 63, 65 und 70. 42 43
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als Dichtung: »[A]lle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung.« 45 Das entwerfende Sagen ist Dichtung: die Sage der Welt und der Erde, die Sage vom Spielraum ihres Streites und damit von der Stätte aller Nähe und Ferne der Götter. Die Dichtung ist die Sage der Unverborgenheit des Seienden. Die jeweilige Sprache ist das Geschehnis jenes Sagens, in dem geschichtlich einem Volk seine Welt aufgeht und die Erde als das Verschlossene aufbewahrt wird. Das entwerfende Sagen ist jenes, das in der Bereitung des Sagbaren zugleich das Unsagbare als ein solches zur Welt bringt. In solchem Sagen werden einem geschichtlichen Volk die Begriffe seines Wesens, d. h. seiner Zugehörigkeit zur Welt-Geschichte vorgeprägt. 46
Aus der Perspektive des Wahrheitsgeschehens in der Kunst bringen diese Worte die Verschränkung der vorprädikativen und der prädikativen Dimension bzw. der Sprache im Sinne der Dichtung (die Sage vom Spielraum des Streites zwischen Welt und Erde) und der Sprache im Sinne des Sprechens (die Begriffe des Wesens eines geschichtlichen Volkes) zum Ausdruck. Dadurch wird einerseits nicht nur noch deutlicher, dass die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz nicht ausgehend vom Dasein gedacht wird, sondern vom Sich-Geben der Wahrheit. Vielmehr werden die vorprädikative Dimension und die Wahrheit mit dem Begriff der Dichtung identifiziert. Andererseits bleibt die Möglichkeit des tatsächlichen Geschehens der Wahrheit bzw. der vorprädikativen Dimension an das Seinsverständnis des Menschen gebunden. Denn wie die oben zitierte Textstelle durch den Verweis auf die jeweilige Sprache eines geschichtlichen Volkes deutlich macht, geschieht das Sagen im Sinne der Wahrheit nur als Sagen im Sinne der sprachlichen Artikulation.
4.
Schlussbemerkungen
Die durchgeführte Analyse hat gezeigt, dass die Welt, die durch das Kunstwerk aufgestellt wird, trotz Unterschieden zur Weltauffassung in Sein und Zeit und in den Grundbegriffen, indem sie als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen verstanden werden kann, eine vorprädikative Dimension entstehen lässt und mit dieser Dimension identisch ist. Diese vorprädikative Dimension wird aber von Hei45 46
Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 69. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 61–62.
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Die vorprädikative Dimension im Kunstwerkaufsatz
degger nicht – wie in den späten 1920er Jahren – ausgehend vom welterschließenden Sein des Daseins, sondern vom Ereignis bzw. dem Wahrheitsgeschehen als Dichtung bzw. als Sprache gedacht, obwohl sie mit der Möglichkeit des vorontologischen Seinsverständnisses des Daseins eng verbunden bleibt. Diese neue Perspektive kann dazu beitragen, einige Interpretationsschwierigkeiten zu überwinden, die Heideggers Sprachauffassung und entsprechend die Bestimmung der vorprädikativen Dimension in Sein und Zeit betreffen. Dass die Argumentation des Kunstwerkaufsatzes für eine Deutung von Sein und Zeit berechtigterweise fruchtbar gemacht werden kann, wird von Heidegger selbst bestätigt, der an entscheidenden Stellen seiner Kunstwerkabhandlung eine Revidierung der Ergebnisse von Sein und Zeit vorschlägt. 47 Diese Äußerungen Heideggers tragen dazu bei, die Absichten zu klären, die er bereits in Sein und Zeit verfolgt und die erst in seinen späteren Ausführungen deutlich werden. Wenn die vorprädikative Dimension als Verschränkung von Wahrheitsgeschehen und menschlichem Seinsverhältnis ausgehend vom Wahrheitsgeschehen als Sprache gedacht wird, eröffnet sich jener sprachlich artikulierte Spielraum, der durch die gegenseitige Abhängigkeit von Ontologischem und Ontischem konstituiert ist. 48 Dieser Spielraum der reziproken Dependenz von Seiendem und Sein scheint – aufgrund seiner sprachlichen Natur – einigen Interpretationen der Sprachauffassung, die Heidegger in Sein und Zeit entwickelt, zu widersprechen. Denn einerseits lässt dieser Spielraum die nicht-sprachliche Natur der vorprädikativen Dimension in Sein und Zeit im Sinne Tugendhats nicht zu, der in Heideggers Rede einen Versuch sieht, die Existenz einer vorsprachlichen Erschlossenheit als ursprünglicher als die sprachlich ar-
Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 54–55. Auch in der 1950er Jahren bezieht sich Heidegger kritisch auf seine Sprachauffassung in Sein und Zeit. Er sagt: »Ich weiß nur dies eine: Weil die Besinnung auf Sprache und Sein meinen Denkweg von früh an bestimmt, deshalb bleibt die Erörterung möglichst im Hintergrund. Vielleicht ist es der Grundmangel des Buches ›Sein und Zeit‹, daß ich mich zu früh zu weit vorgewagt habe.« (Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 79–146, 88) Vgl. für eine ausführliche Darstellung von Heideggers Retrospektive auf das Verhältnis von Sein und Sprache in seinem Frühwerk: Matthias Flatscher, Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Heidegger und Wittgenstein, Freiburg/München, Alber, 2011, 24–39. 48 Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, GA 9, 177–202. 47
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tikulierte Erschlossenheit nachzuweisen. 49 Auch eine pragmatistisch orientierte Deutung von Sein und Zeit, die trotz grundlegender Unterschiede sowohl von Dreyfus’ Schülern als auch von Vertretern des Konstruktivismus vorgeschlagen wird, wird dadurch in Frage gestellt. 50 Andererseits entkräftet die sprachlich artikulierte Verschränkung von Wahrheitsgeschehen und menschlichem Seinsverhältnis auch Cristina Lafonts These einer Idealisierung der Sprachlichkeit in Sein und Zeit, die sie in kritischer Auseinandersetzung mit der »›pragmatistischen‹ Standardinterpretation von SZ« 51 entwickelt und Lafont zufolge auf der Verabsolutierung der welterschließenden Funktion der Sprache basiert. 52 Im Gegensatz zu diesen Interpretationen, die tendenziell die vorprädikative Dimension gänzlich ohne Sprache denken oder aber die Rolle der Sprache überschätzen, ermöglicht dieser Spielraum eine angemessenere Einschätzung der sprachlich artikulierten und dennoch vorprädikativen Dimension in Sein und Zeit. Denn dieser Spielraum ist jene Welt, in der Wahrheitsgeschehen und menschliches Frei-Sein für dieses Geschehen immer schon eine bestimmte geschichtliche Gestalt angenommen haben; eine Welt, die bereits in Sein und Zeit konturiert wird und durch die allein es – dem späten Heidegger zufolge – möglich wird, dass der Mensch frei für den Zuspruch des Seins als Sprache wird.
Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesung zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1976, 104–105. 50 Vgl. als Vertreter einer pragmatistischen Deutung von Sein und Zeit in Rahmen der Schüler Dreyfus’: Mark Okrent »Equipment, World, and Language«, Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy, 45 (2), 2002, 195–204; vgl. zur konstruktivistisch-pragmatistischen Lektüre von Sein und Zeit: Kuno Lorenz, Jürgen Mittelstraß, »Die Hintergehbarkeit der Sprache«, Kant-Studien, 58 (1–4), 1967, 187–208. 51 Cristina Lafont, Sprache und Welterschließung. Zur linguistischen Wende der Hermeneutik Heideggers, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994, 32. 52 Lafont, Sprache und Welterschließung, 10–11. 49
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Vorprädikative Wahrheit? Zwischen Sein und Schein Anne Kirstine Rønhede 1
Zusammenfassung: In Sein und Zeit charakterisiert Heidegger den traditionellen Wahrheitsbegriff, dem zufolge die Aussage der ›Ort‹ der Wahrheit ist, als abkünftig: Ohne die Fundierung in der Erschlossenheit des Daseins und das Entdecken des Zuhandenen im Umgang könne die Aussage Seiendes nicht entdecken. Demnach wäre das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit dem Vorprädikativen zuzuordnen. Es bleibt jedoch seit der Kritik von Ernst Tugendhat kontrovers, inwiefern es berechtigt ist, bei dieser Ebene von ›Wahrheit‹ zu sprechen. Im Gegensatz zu Ansätzen, die diese Frage negativ beantworten, indem sie beispielsweise die Erschlossenheit und das umsichtige Entdecken nicht als Wahrheit, sondern lediglich als Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit betrachten, soll hier der Versuch unternommen werden, die vorprädikative Ebene in dem Spannungsverhältnis von Sein und Schein als Wahrheit darzulegen.
1.
Einleitung
Wenn im Folgenden von ›Heideggers Wahrheitskonzeption‹ die Rede ist, ist damit die Konzeption von Sein und Zeit (SuZ) gemeint, die sich in anderen Werken aus dieser Zeit, zum Teil leicht verändert, widerspiegelt. 2 Der Ausdruck ›vorprädikative Wahrheit‹ tritt in den relevanten Werken nur einmal auf, nämlich in dem Aufsatz von 1929 »Vom Wesen des Grundes«. 3 Dennoch besteht kein Zweifel, dass die Ich möchte mich herzlichst bei Agustina Sforza, Simon Schüz, Giovanna Caruso und Christian Bermes für hilfreiche Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Textes bedanken. 2 Für eine Weise, wie diese Veränderungen dargestellt werden können, vgl. László Tengelyi, Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg/München, Karl Alber, 2015, 243–259. 3 Vgl. Heidegger, »Vom Wesen des Grundes« in Wegmarken, GA 9, 131. Ansonsten 1
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Anne Kirstine Rønhede
Bezeichnung ›vorprädikative Wahrheit‹ gerade im Blick auf das umsichtige Entdecken und die Erschlossenheit, die Heidegger in SuZ als »Wahrheit im ursprünglichsten Sinne« 4 charakterisiert, angewendet werden kann. In seiner Freiburger Vorlesung von 1929/30 beschreibt Heidegger, wie die Möglichkeit des Wahrseins und Falschseins der Aussage »in einer Offenbarkeit [gründet], die wir, weil sie vor der Prädikation und Aussage liegt, bezeichnen als vorprädikative Offenbarkeit oder besser als vorlogische Wahrheit.« 5 Diese Offenbarkeit, die vor der Aussage liegt – indem sie die Möglichkeit der Aussagewahrheit begründet –, lässt sich offensichtlich mit den Phänomenen, die Heidegger in SuZ unter den Namen ›Erschlossenheit‹ und (umsichtiges) ›Entdecken‹ untersucht, gleichsetzen. Die Frage, der im Folgenden nachgegangen werden soll, ist demnach nicht, welche in SuZ beschriebenen Phänomene als vorprädikativ einzustufen sind, sondern, ob es gerechtfertigt ist, das umsichtige Entdecken und die Erschlossenheit ›Wahrheit‹ zu nennen. 6 Genauer gesagt lautet die Frage, ob das Denken Heideggers einen Rahmen hergibt, innerhalb dessen es möglich ist, die Bezeichnung ›vorprädikative Wahrheit‹ in Bezug auf das umsichtige Entdecken und die Erschlossenheit zu rechtfertigen. Dabei liegt der Fokus auf dem umsichtigen Entdecken, die Erschlossenheit wird nicht eigens thematisiert. Dennoch wird die Erschlossenheit als Seinsverständnis der Zuhandenheit, ohne die das Zuhandene nicht entdeckt werden könnte, notwendigerweise mitgedacht. ›Vorprädikativ‹ und ›Wahrheit‹ – lassen sich diese beiden Termini tatsächlich miteinander verbinden? Eine große Schwierigkeit für die wird nur in der Freiburger Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, das Wort ›vorprädikativ‹ direkt mit Wahrheit in Zusammenhang gebracht. In den Bänden GA 21, 24, 27 und 34, die für die Auslegung dieser Wahrheitskonzeption relevant sind, kommt, soweit meine Recherche stimmt, das Wort ›vorprädikativ‹ nicht in einer solchen Verbindung vor. In Sein und Zeit, GA 2, verwendet Heidegger diesen Begriff, aber auch hier nicht unmittelbar in Kombination mit ›Wahrheit‹. 4 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 295. 5 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 494. 6 Die Frage ist auch nicht, ob diese Phänomene, obwohl vorprädikativ, dennoch als ›sprachlich‹ aufzufassen sind, da die Erschlossenheit (auch) durch Rede konstituiert ist. Für eine Stellungnahme zu dieser Frage siehe zum Beispiel im vorliegenden Sammelband Matthias Flatschers Aufsatz »Die hermeneutische Wende zur Sprache. Johann Gottfried Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als Subtext von Martin Heideggers Sein und Zeit«.
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Vorprädikative Wahrheit?
Beantwortung dieser Frage liegt darin, dass sich eine Wahrheitskonzeption nur auf der Grundlage eines Verständnisses von Wahrheit auf ihre Legitimität überprüfen lässt. 7 Anders ausgedrückt, wenn eine Wahrheitskonzeption auf ihre Fähigkeit, Wahrheit darzustellen, überprüft werden soll, lässt sich folgender Zirkel nicht vermeiden: Ohne Kriterien für Wahrheit lässt sich nicht entscheiden, was als Wahrheit anzusehen ist; diese Kriterien wiederum lassen sich nicht ohne Rekurs auf ein Wahrheitsverständnis etablieren. Um aber die Legitimität eines Wahrheitsverständnisses zu überprüfen, werden erneut Kriterien benötigt, womit sich der Kreis schließt. Welches Verständnis von Wahrheit kann hier also den Ausgangspunkt bilden? Die Strategie, die hier verfolgt werden soll, besteht darin, für das Neue an Heideggers Wahrheitskonzeption offen zu sein, ohne die Intuition aus den Augen zu verlieren, nach der eine Wahrheitskonzeption es ermöglichen soll, zwischen einem Gegebensein von etwas, so wie es an ihm selbst ist, und einem Gegebensein von etwas, so wie es an ihm selbst nicht ist, zu differenzieren. Es soll also gefragt werden, ob sich Heideggers Wahrheitsverständnis mit dieser Intuition vereinbaren lässt. Dabei soll der Rahmen des heideggerschen Denkens nicht durchbrochen werden. Wenn Heideggers Wahrheitsverständnis anhand eines anderen Wahrheitsverständnisses auf die Probe gestellt wird, »läuft die Diskussion Gefahr«, wie Carl F. Gethmann zu Recht betont, »sich von vornherein in der fruchtlosen Form von Behauptung und Gegenbehauptung abzuspielen«. 8 Das kann dadurch vermieden werden, dass Heideggers Denken nicht auf der Basis der genannten Intuition überprüft, sondern die Frage gestellt wird, ob diese Intuition einen Platz innerhalb von Heideggers Wahrheitsdenken hat. Dennoch handelt es sich im Folgenden nicht um eine reine Heidegger-Exegese, sondern um den Versuch, auf der Grundlage, die Heidegger zur Verfügung stellt, der Möglichkeit einer vorprädikativen Wahrheit gemäß der genannten Intuition nachzugehen. Um diese Möglichkeit zu verfolgen, soll gezeigt werden, dass der Begriff ›Schein‹ (in einer bestimmten Weise ausgelegt) dem vorprädikativen Entdecken die Polarität verleihen kann, die zunächst zu fehlen Vgl. William Burns Macomber, The Anatomy of Disillusion. Martin Heidegger’s Notion of Truth, Evanston, Northwestern University Press, 1967, 4. 8 Carl Friedrich Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin, de Gruyter, 1993, 117. 7
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scheint. Dieser Versuch wird in den Abschnitten 4 und 5 durchgeführt. Davor soll ein Überblick über Heideggers Wahrheitskonzeption und Wahrheitsverständnis geschaffen (2. Abschnitt) sowie das Problematische an dem vorliegenden Vorhaben eingehender verdeutlicht werden (3. Abschnitt).
2.
Heideggers Wahrheitskonzeption und Wahrheitsverständnis
Die Wahrheitskonzeption Heideggers in SuZ lässt sich in zwei übergeordnete Ebenen aufteilen: I. Erschlossenheit des (Da)Seins und II. Entdecken des Seienden. 9 Diese Ebenen lassen sich wiederum aufteilen in I.a. uneigentliche Erschlossenheit, I.b. eigentliche Erschlossenheit, II.a Entdecken des Zuhandenen (Umgang/Gebrauch) und II.b. Entdecken des Vorhandenen (Aussagewahrheit). 10 In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die Aussagewahrheit in Heideggers Konzeption als abkünftiges Phänomen dargestellt wird: Ohne befindliches Seinsverständnis (in der Erschlossenheit) würde sich der Mensch nicht in einer Bewandtnisganzheit, das heißt in einer Welt befinden, in der er Seiendes durch den Gebrauch als Zuhandenes entdecken könnte. Wenn der Mensch wiederum nicht schon durch den Umgang mit Zuhandenem bei der Welt wäre, gäbe es nichts, vor dessen Hintergrund das Sehen eingeschränkt werden könnte, »um durch die ausdrückliche Einschränkung des Blickes das Offenbare in seiner Bestimmtheit ausdrücklich offenbar zu machen« 11, wie Heidegger die Prädikation beschreibt. Anders ausgedrückt: Ohne Erschlossenheit und Entdecken des Zuhandenen im GeTerminologisch muss festgehalten werden, dass ›Entdecken‹ in Bezug auf Seiendes und ›Erschlossenheit‹ in Bezug auf das Sein verwendet werden. Das gilt auch für den Fall, dass Autoren zitiert werden, die diese Differenzierung nicht beachten. 10 Schon diese grobe Aufteilung, für die in zukünftigen Auseinandersetzungen argumentiert werden soll, ist eine Auslegung der Wahrheitskonzeption Heideggers. Für Beispiele anderer Aufteilungen siehe Mark A. Wrathall, Heidegger and Unconcealment. Truth, Language, and History, Cambridge, Cambridge University Press, 2011, Chapter 1, »Unconcealment«, 11–39; Thomas Sheehan, »Astonishing! Things Make Sense!«, Gatherings: The Heidegger Circle Annual, 1, 2011, 1–25, insbes. 11. Unterschiede in der Aufteilung der Wahrheitskonzeption sind zwar an sich wesentlich, spielen jedoch für die Weise, in der die vorliegende Frage beantwortet werden soll, keine Rolle. 11 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 206. 9
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Vorprädikative Wahrheit?
brauch wäre das Entdecken des Vorhandenen als solchen in der Prädikation nicht möglich. Nach dieser Erläuterung könnte man sich aber fragen, wie Heidegger die Aussagewahrheit als Entdecken auslegen kann, wenn es doch nach ihm »nicht und nie so [ist], daß jemals eine Aussage als solche – und wäre sie noch so wahr – primär Seiendes als solches entbergen könnte«. 12 Einerseits sind die Erschlossenheit und das Entdecken des Zuhandenen also notwendige Bedingungen für das Entbergen des Seienden. Andererseits entdeckt die Aussage laut Heidegger Seiendes. Wie ist das zu verstehen? Mein Lösungsansatz für diese scheinbare Widersprüchlichkeit besteht darin, zu betonen, dass obwohl der Zugang zum Seienden durch den Umgang mit dem Zuhandenen gewährleistet wird, das Seiende erst mithilfe der Prädikation als Vorhandenes entdeckt wird. Das heißt, die Erschlossenheit und das Entdecken des Zuhandenen sind jeweils notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für den Zugang zum Seienden (überhaupt). Die theoretische Aussage ist zwar keine hinreichende Bedingung für den Zugang zum Seienden, aber dennoch notwendige Bedingung für das Entdecken des Seienden als eines Vorhandenen. 13 Das Entscheidende ist somit, dass die Aussagewahrheit bei Heidegger durch eine ursprünglichere Wahrheit bedingt ist. Dass es in der Rezeption von Heideggers Wahrheitskonzeption als problematisch aufgefasst wurde, dem Vorprädikativen auf diese Weise Wahrheit zuzuschreiben, lässt sich anhand der Kritik von Ernst Tugendhat verdeutlichen, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird. An dieser Stelle soll zunächst gefragt werden, welches Wahrheitsverständnis dieser Wahrheitskonzeption zugrunde liegt. Dass wir als Dasein Seiende sind, für die Seiendes (durch unser befindliches Seinsverständnis) zugänglich ist, beschreibt Heidegger in seinem spektakulären Charakter, wo er das »In-der-Welt-sein« anhand des »In-seins« skizziert und darauf zu sprechen kommt, wie wir – im Gegensatz zu einem vorhandenen Objekt, das niemals bei etwas Anderem sein kann – beim Seinden in der Welt sein können: Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 493. Dabei ist die Erschlossenheit in zweifacher Hinsicht notwendige Bedingung der Aussagewahrheit: Das Seinsverständnis der Zuhandenheit (in der Erschlossenheit) ist notwendige Bedingung für das Entdecken des Zuhandenen, ohne das es wiederum laut Heidegger kein Entdecken des Vorhandenen geben könnte. Zusätzlich kann es kein Entdecken des Vorhandenen durch die theoretische Aussage geben ohne Seinsverständnis der Vorhandenheit (in der Erschlossenheit).
12 13
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Das »Sein bei« der Welt als Existenzial meint nie so etwas wie das Beisammen-vorhanden-sein von vorkommenden Dingen. […] Das Beisammen zweier Vorhandener pflegen wir allerdings sprachlich zuweilen z. B. so auszudrücken: »Der Tisch steht ›bei‹ der Tür«, »der Stuhl ›berührt‹ die Wand«. Von einem »Berühren« kann streng genommen nie die Rede sein und zwar nicht deshalb, weil am Ende immer bei genauer Nachprüfung sich ein Zwischenraum zwischen Stuhl und Wand feststellen läßt, sondern weil der Stuhl grundsätzlich nicht, und wäre der Zwischenraum gleich Null, die Wand berühren kann. […] Seiendes kann ein innerhalb der Welt vorhandenes Seiendes nur berühren, wenn es von Hause aus die Seinsart des InSeins hat – wenn mit seinem Da-sein schon so etwas wie Welt ihm entdeckt ist, aus der her Seiendes in der Berührung sich offenbaren kann, um so in seinem Vorhandensein zugänglich zu werden. Zwei Seiende, die innerhalb der Welt vorhanden und überdies an ihnen selbst weltlos sind, können sich nie »berühren«, keines kann »bei« dem andern »sein«. 14
In der »Berührung«, die nur für das Dasein, das in einer Welt ist, möglich ist, kann das Dasein »bei« einem anderen Seienden sein. Dass diese »Berührung« möglich ist, ist für Heidegger, so möchte ich behaupten, derart erstaunlich, dass sie Dreh- und Angelpunkt wird für weitere Auseinandersetzungen. Das würde den Ansatzpunkt für die These »Wahrheit im ursprünglichsten Sinne ist die Erschlossenheit des Daseins, zu der die Entdecktheit des innerweltlichen Seienden gehört« 15, konkretisieren: Auch bezüglich der Wahrheit wäre die Frage in erster Linie, wie es grundsätzlich möglich sein kann, dass uns etwas überhaupt begegnet. Wenn damit das Begegnen an sich – und nicht nur das Begegnen von etwas, so wie es an ihm selbst ist – als Grundlage für die Wahrheitskonzeption gesetzt wird, stellt sich jedoch die Frage, wie in diesem Zusammenhang Unwahrheit zu verstehen wäre. Im Begegnen lässt das Dasein, für und durch das es Wahrheit gibt, laut Heidegger Seiendes sein. 16 Die Frage ist demnach, was als Gegenpol zum Seinlassen in der Begegnung dienen könnte. Muss ein Nicht-sein-lassen oder Nicht-begegnen die Unwahrheit, wie wir sie üblicherweise auffassen – nämlich als Begegnung, in der etwas so begegnet, wie es an ihm selbst nicht ist – ersetzen? Diese Frage soll nach einer kurzen Darstellung der Kritik Tugendhats weiterverfolgt werden.
14 15 16
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 74. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 295. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 299 und 304.
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Vorprädikative Wahrheit?
3.
Tugendhats Kritik und Antworten darauf
In seiner Habilitationsschrift kritisiert Tugendhat sowohl Heideggers neue Auffassung der Aussagewahrheit als Entdecken als auch jene Auffassung, wonach im Umgang mit dem Zuhandenen und in der Erschlossenheit des Daseins das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit zu verorten sei. 17 Er sieht eine Bedingung für die Wahrheitszuschreibung darin, dass wir hinsichtlich des Seienden fragen können, »was oder wie es ›selbst‹, ›in Wahrheit‹ ist im Unterschied zu der Weise, wie es sich faktisch zeigt« 18 (ähnlich der Intuition, die in der Einleitung genannt wurde). In Bezug auf das vorprädikative Entdecken lautet die Kritik, dass das Zuhandene sich nicht mehr als Zuhandenes zeige, wenn gefragt werde, wie dieses Seiende an sich selbst ist. Die Frage, wie etwas »selbst« ist, setzt nach Tugendhat voraus, dass wir es mit einem Vorhandenen zu tun haben, da sie eine Vergegenständlichung impliziert, »in der das Seiende als Identifizierbares fixiert wird«. 19 Daher könne im Blick auf das Entdecken des Zuhandenen als solchen nicht sinnvoll von Wahrheit gesprochen werden, da sich die dafür konstitutive Frage, was das Zuhandene »selbst« sei, nicht sinnvoll stellen lasse. 20 Auch in Bezug auf die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins lautet der Einwand Tugendhats, Heidegger würde die Unterscheidung zwischen der Weise, wie sich das Dasein gegeben und wie es »in Wahrheit« ist, nicht berücksichtigen, sondern verstehe »das Wort ›Wahrheit‹ schon von vornherein einfach im Sinne von Erschlossen-
Andere Auseinandersetzungen mit Tugendhats Argumentation finden sich beispielsweise bei Gracie Holliday Beck, »Heidegger’s Concept of Truth Reconsidered in Light of Tugendhat’s Critique«, Journal of the British Society for Phenomenology 49 (2), 2018, 91–108; Daniel O. Dahlstrom, Heidegger’s Concept of Truth, Cambridge, Cambridge University Press, 2001, 394–407. Autoren, die Tugendhats Argumentation zu untermauern wünschen, sind zum Beispiel Cristina Lafont, Sprache und Welterschließung. Zur linguistischen Wende der Hermeneutik Heideggers, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994, 148–234; William H. Smith, »Why Tugendhat's Critique of Heidegger's Concept of Truth Remains a Critical Problem«, Inquiry 50 (2), 2007, 156– 179. Eine elegante Antwort auf Lafont und Smith findet sich bei Wrathall, »Appendix on Tugendhat«, Heidegger and Unconcealment, 34-39. 18 Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin, De Gruyter, 1970, 296. 19 Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 354. 20 Vgl. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 297. 17
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hei«. 21 Wenn aber mit dem Begriff der Erschlossenheit gemeint sei, dass das Dasein immer schon offen (beziehungsweise mehr oder weniger offen oder verschlossen) ist, ohne dass die Frage gestellt werden kann, ob die Erschlossenheit »so erschlossen wird wie sie ist«, 22 dann wäre es nach Tugendhat ohne Sinn, in diesem Zusammenhang von Wahrheit zu sprechen. Denn dann wäre keine Differenzierung zwischen der Erschlossenheit, wie sie gegeben ist, und wie sie »in Wahrheit« ist (»nämlich als Offenheit, in ihrer ›Unheimlichkeit‹« 23), möglich. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass laut Tugendhat das Problematische daran, die vorprädikative Entdecktheit und Erschlossenheit ›Wahrheit‹ zu nennen, darin besteht, dass auf diese Weise das Ausschlaggebende für die Wahrheitszuschreibung »einfach im Sichzeigen, in der Unverborgenheit als solcher« 24 gesehen wird (was Tugendhat an der zitierten Stelle auch in Bezug auf die Aussagewahrheit bemängelt). In den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, dass für die Auseinandersetzung mit der Kritik Tugendhats die Frage entscheidend sein wird, was es für Heidegger heißt, sich auf etwas so zu beziehen, wie es an sich selbst ist. Entscheidend ist es, weil Tugendhat in Frage stellt, ob es in Bezug auf die vorprädikative Erschlossenheit und das umsichtige Entdecken möglich ist, zwischen wahrem (im Sinne von so wie etwas an ihm selbst ist) und unwahrem Gegebensein zu unterscheiden. Zuvor möchte ich einige Antworten auf Tugendhats Problemstellung nachzeichnen. Es fällt auf, dass in Ansätzen, die gegen die Kritik Tugendhats an Heideggers Wahrheitskonzeption argumentieren, dennoch Tugendhats Schlussfolgerung übernommen wird, dass sich in Bezug auf das umsichtige Entdecken und die Erschlossenheit nicht von Wahrheit im engeren Sinne reden lasse. So wird in der Forschungsliteratur beispielsweise gezeigt, dass Tugendhat Heidegger darin missverstanden habe, dass es Heidegger darum gehen würde, den Begriff der Aussagewahrheit so zu erweitern, dass er das umsichtige Entdecken und die Erschlossenheit einschließt. Ganz im Gegenteil behauptet etwa Mark Wrathall, der eine in ihrer Klarheit unübertroffene Darstellung 21 22 23 24
Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 356. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 357. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 357. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 334.
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Vorprädikative Wahrheit?
der Wahrheitskonzeption Heideggers geliefert hat, Heidegger habe zu keinem Zeitpunkt die Bedingungen der Möglichkeit der (Aussage)Wahrheit, das heißt die vorprädikative »Wahrheit« und die Wahrheit (als solche) durcheinandergebracht. 25 Die Tatsache, dass Heidegger in Bezug auf beide die Bezeichnung ›Wahrheit‹ nutzt, wird dann beispielsweise von Hubert Dreyfus dadurch erklärt, dass sich in der Verwendung der Bezeichnung ›Wahrheit‹ lediglich eine Gepflogenheit von Heidegger widerspiegle, die Bedingung der Möglichkeit von x ebenfalls ›x‹ oder sogar ›ursprüngliches x‹ zu nennen. 26 Durch solche Interpretationsansätze wird aber nur bekräftigt, dass es problematisch sei, die Erschlossenheit und das umsichtige Entdecken ›Wahrheit‹ zu nennen. Die Legitimität des Versuches, das umsichtige Entdecken und die Erschlossenheit als Wahrheit darzulegen, wird zudem auch Anfang der 1960er Jahre von Heidegger selbst in Frage gestellt, 27 was Tugendhat-Anhänger gerne hervorheben. 28 Es leuchtet aber nicht ein, warum bei einer kritischen Prüfung von Heideggers Wahrheitskonzeption Heideggers eigene spätere Stellungnahme dazu für diese Überprüfung ausschlaggebend sein soll. Demgemäß soll im Folgenden eine Alternative zu der in diesem Abschnitt vorgestellten Art von Antwort präsentiert werden.
4.
Zwischen Sein und Schein
Die Frage ist, ob gezeigt werden kann, dass Heideggers Denken eine Basis hergibt, um bezüglich des vorprädikativen Entdeckens des Zuhandenen sinnvoll von Wahrheit zu sprechen (gemäß der Intuition, die im 1. Abschnitt genannt wurde). Ist es also allgemeiner gefasst möglich, den Unterschied zwischen sein lassen und so sein lassen wie etwas an ihm selbst ist aufrechtzuerhalten, wenn Entdecken und Erschlossenheit, das heißt jegliches Begegnen, als Wahrheit gesetzt Vgl. Wrathall, Heidegger and Unconcealment, 16. Ähnlich argumentiert Taylor Carman, Heidegger’s Analytic. Discourse, Expression, Truth, Cambridge, Cambridge University Press, 2003, 259. 26 Vgl. Hubert L. Dreyfus, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge, Massachusetts, The MIT Press, 1991, 270– 271. 27 Vgl. Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, zum Beispiel 86. 28 Vgl. Søren Overgaard, »Heidegger’s Concept of Truth Revisited«, SATS 3 (2), 2002, 73–90, siehe 90. 25
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werden? Wenn das Begegnen an sich schon als Wahrheit verstanden wird, müssen dann nicht notwendigerweise Abwesenheit oder NichtSein an die Stelle der Unwahrheit treten? Um diese Frage zu beantworten, wird der Begriff des ›Scheins‹, dem bisher allzu wenig Beachtung in der Debatte um Heideggers Wahrheitskonzeption zugekommen ist, in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt. In SuZ schreibt Heidegger zum ›Schein‹: Seiendes kann sich nun in verschiedener Weise, je nach der Zugangsart zu ihm, von ihm selbst her zeigen. Die Möglichkeit besteht sogar, daß Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist. In diesem Sichzeigen »sieht« das Seiende »so aus wie …«. Solches Sichzeigen nennen wir Scheinen. 29
Heidegger entwirft demnach mit dem Wort ›Schein‹ beziehungsweise ›Scheinen‹ einen Begriff, über den sich auf den ersten Blick sagen lässt, dass er sowohl eine Art der Unverborgenheit (etwas zeigt sich) als auch der Verborgenheit (es zeigt sich als das, was es an ihm selbst nicht ist) angibt. Das wird noch deutlicher, wenn es später in SuZ heißt, Seiendes sei im Schein »in gewisser Weise schon entdeckt und doch noch verstellt« 30. Aus diesem Grund ist Heideggers Verwendung von ›Schein‹ für Tugendhat symptomatisch für das Verlorengehen des spezifischen Wahrheitsphänomens (das mit der fehlenden Unterscheidung zwischen dem Aufzeigen eines Seienden und dem Aufzeigen eines Seienden, so wie es an ihm selbst ist, zusammenhängt). 31 Gegen diese Auslegung soll nun gezeigt werden, dass gerade dieser Begriff die Polarität, die bei der Fassung der ursprünglichen Wahrheit als umsichtiges Entdecken und Erschlossenheit verloren gegangen schien, wieder ins Spiel bringt. In Übereinstimmung mit Heideggers Ausführungen in der Freiburger Vorlesung von 1931/32 soll ›Schein‹ als Terminus für das »Sich-versehen« im Sein oder im Seienden festgehalten werden: Zum Wesensbau unseres Daseins gehört diese ursprüngliche Gabelung, daß das Dasein im Verhalten zu Seiendem, gleichviel in welcher Weise, im voraus schon ausgerichtet ist auf das Sein. Mit dieser Gabelung aber ist ein
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 38–39. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294. 31 Vgl. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, »Der Verlust des spezifischen Wahrheitsphänomens in der Interpretation der Aussagewahrheit«, 331– 337. 29 30
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Vorprädikative Wahrheit?
ursprünglicher Spielraum gegeben und damit die Möglichkeit, sich nicht nur in dem zugehörigen Seienden zu versehen wie bei der δόξα, sondern im voraus sich zu versehen im Sein. Alles, was uns ein Seiendes sein kann, kann, indem es sich unverborgen zeigt, auch scheinen. Soviel Sein, soviel Schein. 32
Weil für das Dasein zunächst »ein ursprünglicher Spielraum« gegeben ist, können wir uns versehen. Mit anderen Worten, weil uns Seiendes nur in einer Auslegung gegeben sein kann und die Auslegung vom Seinsverständnis abhängt, welches wiederum veränderlich ist, gibt es für die Erschlossenheit und das Entdecken unterschiedliche Möglichkeiten. Wenn es aber doch unterschiedliche Möglichkeiten gibt, warum ist es dann schlüssig, von einem »Sichversehen« zu sprechen? Die Grundidee, die erläutert werden soll, ist folgende: Zunächst ist jede Auslegung des In-der-Welt-seins ein Entdecken; erst wenn mehrere Auslegungen einander gegenseitig ausschließen, entsteht der Schein. 33 Demnach würde der Unterschied zwischen Sein und Schein beziehungsweise zwischen einem Begegnen von etwas, so wie es an ihm selbst ist, und einem Begegnen von etwas, so wie es an ihm selbst nicht ist, relativ und nur vor dem Hintergrund mehrerer Auslegungen überhaupt auffindbar sein. Die Basis dieser Idee bildet die Ansicht, dass das In-der-Weltsein als Alternative zum Idealismus sowie zum Realismus intendiert ist (und als solche dienen kann). 34 Das In-der-Welt-sein ist ein Spielraum, in dem unterschiedliche Möglichkeiten für Entwürfe bestehen, jedoch auch Widerstände dadurch erfahren werden, dass manche Entwürfe scheitern. Grundsätzlich ist uns aber alles, was uns als In-derWelt-sein gegeben ist, in einer Auslegung gegeben – es ist als etwas gegeben. 35 Es kommt nicht vor, so Heidegger, »[d]aß ich […] im Wald Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, GA 34, 322. 33 In Übereinstimmung mit Heideggers Darstellung des Entdeckens als faktisches Entdecken (vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, §44 c), fasse ich hier auch den Schein als faktischen Schein auf. 34 Im vorliegenden Rahmen kann diese Ansicht nicht belegt werden, sondern muss hier als Behauptung stehen bleiben. 35 Oder anders gesagt, die Auslegung ist laut Heidegger ursprünglicher als das NichtAuslegen: »Das schlichte Sehen der nächsten Dinge im Zutunhaben mit … trägt die Auslegungsstruktur so ursprünglich in sich, daß gerade ein gleichsam als-freies Erfassen von etwas einer gewissen Umstellung bedarf. Das Nur-noch-vor-sich-Haben von etwas liegt vor im reinen Anstarren als Nicht-mehr-verstehen. Dieses als-freie 32
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stehe und schlicht etwas vor mir habe […]. [U]nausdrücklich begegnet mir ja immer schon Verstandenes, etwas, das vor-ausgelegt ist als etwas«. 36 Diese Auslegungen sind zum Teil kurzlebig, zum Teil beständiger. Sowohl geschichtlich und was die größeren Zusammenhänge anbelangt (auf diesen Umstand weist etwa auch Kuhn in seiner Theorie der Paradigmenwechsel hin) als auch auf der persönlichen Ebene und im Alltag müssen wir unsere Auslegungen immer wieder revidieren. 37 Vor diesem Hintergrund fasse ich Schein (als Sich-versehen) so auf, dass er nur in einem zweiten Zugang auf etwas, in einem Schauen im Nachhinein, das heißt in Bezug auf eine zweite Auslegung entsteht. Solange ich mich erfolgreich zu etwas verhalten kann, entdecke ich es. Wenn ich aber in einem zweiten Entwurf das Seiende anders entdecke, und zwar in einer Weise, die sich nicht mit dem ersten Entdecken vereinbaren lässt, entsteht im Nachhinein der Schein. Diese Auslegung von Schein widerspricht der realistischen Intuition, wonach der Schein von Anfang an (bereits im ersten Entdecken) Schein gewesen sein muss, ohne jedoch als solcher erfasst zu werden. Da das In-der-Welt-sein nach meinem Ansatz keinen realistischen Rahmen aufspannt, sondern die Welt als sich verändernden Verlauf wiedergibt, hat diese Intuition hier allerdings keine Berechtigung. Es drängt sich aber jetzt immer mehr die oben gestellte Frage auf, inwiefern dieser Ansatz es erlaubt, sinnvoll von einem Sich-versehen zu sprechen? Der Ausdruck ›Sich-versehen‹ erweckt den Eindruck, als würden wir uns innerhalb eines realistischen Rahmens bewegen, und das Sein oder das Seiende müsste nur ›richtig‹ angegangen werden, um sich so zu zeigen, wie es an ihm selbst ist. Wenn dem so wäre, bliebe es in der Tat unverständlich, warum Heidegger in seiner Wahrheitskonzeption das Entdecken an die Stelle der Übereinstimmung setzt. 38 Wie ist also das Sich-versehen auf der Basis des sich auslegenden In-der-Welt-seins zu verstehen? Erfassen ist eine Privation des schlicht verstehenden Sehens, nicht ursprünglicher als dieses, sondern abgeleitet aus ihm.« Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 199. 36 Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, 187. 37 Vgl. auch John Haugeland, »Truth and Finitude: Heidegger’s Transcendental Existentialism«, in: Mark A. Wrathall, Jeff Malpas (Hg.), Heidegger, Authenticity, and Modernity, Cambridge, Massachusetts, The MIT Press, 2000, 43–77, insbesondere ab 69. 38 Siehe Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, §44.
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Vorprädikative Wahrheit?
In der Marburger Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie verwendet Heidegger das Wort ›Täuschung‹ in einer Weise, die der vorliegenden Deutung von ›Schein‹ entspricht: Wenn ich mich täuschend im Dunkeln einen Baum für einen Menschen halte, darf man nicht sagen, diese Wahrnehmung ist auf einen Baum gerichtet, hält ihn aber für einen Menschen; der Mensch ist aber eine bloße Vorstellung, also bin ich in dieser Täuschung auf eine Vorstellung gerichtet. Im Gegenteil, es ist gerade der Sinn der Täuschung, daß ich, den Baum für einen Menschen nehmend, das, was ich wahrnehme und wahrzunehmen glaube, auffasse als ein Vorhandenes. In dieser Wahrnehmungstäuschung ist mir der Mensch selbst gegeben und nicht etwa eine Vorstellung des Menschen. 39
Wie an dieser Stelle von Heidegger beschrieben, lassen sich insgesamt in Bezug auf den Schein (als etwas, das sich erst im Nachhinein ergibt) in einer ersten Auslegung Sein und Schein nicht auseinanderhalten. Genauer gesagt: In einer ersten Auslegung ist uns etwas als etwas gegeben, zum Beispiel als Mensch, es ist also, und ist damit entdeckt, unverborgen. Nach einer zweiten Auslegung kann es aber passieren, dass wir nun über die vorherige Auslegung sagen müssen: In ihr hat sich zwar etwas gezeigt, aber es hat »sich als das [ge]zeigt, was es an ihm selbst nicht ist.« 40 Dieses, dass sich etwas, hier der Baum, gezeigt hat als etwas, »was es an ihm selbst nicht ist«, lässt sich aber, wie schon oben bemerkt, nur vor dem Hintergrund von unterschiedlichen Auslegungen feststellen – und kann daher nicht absolut gesetzt werden. Dies ist ein Punkt, an dem man unweigerlich Widerstand verspürt. Wie lässt sich in diesem Fall behaupten, dass der Schein nicht absolut gesetzt werden könne? Schließlich ist der Baum doch die ganze Zeit da gewesen – so möchte man einwenden. Allein, das, was hier in Frage gestellt wird, ist gerade, was es heißt ›die ganze Zeit‹ ›da‹ ›gewesen‹ ›zu sein‹. Ist ein Baum als ›Baum‹, wenn er nicht als solcher entdeckt wird? Um es noch komplizierter zu machen, könnte man das Beispiel umdrehen: Wenn jemand im Dunkeln sich täuschend einen Menschen für einen Baum gehalten hat, muss der Schein dann nicht absolut gesetzt werden? Schließlich kann die Andere mir mitteilen, wie sie mich die ganze Zeit (also auch während meiner Auslegung, die jetzt Schein geworden ist) beobachtet hat. Diese Umkehrung deutet 39 40
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 88–89. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 38.
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auf einen wichtigen Aspekt hin, der in der vorliegenden Untersuchung zwar vorausgesetzt, aber nicht thematisiert wird: Dasein ist immer Mit-sein und es ist daher für die Auslegung in höchstem Grade maßgebend, was von den Anderen mitgeteilt wird. Das Beispiel zeigt jedoch nicht, dass sich die Wirklichkeit durch die Anderen absolut setzen lässt. Lässt sich demzufolge die Unwahrheit des vorprädikativen Entdeckens in dem Umstand verorten, dass sich Auslegungen als Schein entpuppen können? Und lässt sich damit der Unterschied zwischen etwas zu begegnen und etwas so zu begegnen, wie es an sich selbst ist, aufrechterhalten? Bevor ich im nächsten Abschnitt darauf antworte, sollen weitere konkrete Beispiele für den Begriff des Scheins, wie er hier gedeutet wurde, vorgestellt werden. Ich beginne mit einem Beispiel, bei dem es um ein Sich-versehen im Zuhandenen geht: Wenn eine Lehrerin an der Tafel steht und nach der Kreide greift, die auf dem Pult liegt, um damit zu schreiben, und diese sich dann als Radiergummi entpuppt, hat sie sich getäuscht. In dem ersten Schritt hat sie die Kreide als ein bestimmtes zuhandenes Zeug entdeckt. Durch eine zweite Auslegung, die bald auf die erste gefolgt ist, konnte sie jedoch diese Auslegung als Täuschung einstufen. In vielen Fällen, in denen wir uns in der umsichtigen Auslegung täuschen, folgt die zweite Auslegung, in der die Täuschung als solche ausgelegt wird, schnell auf die erste. Wenn wir uns aber in der Seinsweise, und nicht im Seienden, versehen, kann die zweite Auslegung auch erst nach langer Zeit erfolgen. Zum Beispiel haben die Wikinger ihre Thralle (Sklaven) über lange Zeit erfolgreich als Zeug benutzt. Im frühen Mittelalter wurde indes das Halten von Thrallen langsam eingestellt. Wir können dies als ein Beispiel dafür nehmen, dass sich in einer späteren Auslegung die frühere als ein Sich-versehen in der Seinsweise gezeigt hat, also als ein Beispiel für Schein. Die Menschen, die als Zeug benutzt wurden, waren in der späteren Auslegung kein Zeug – sondern in der Seinsweise des Daseins, wie wir mit Heidegger hinzufügen können.
5.
Vorprädikative Wahrheit?
Wenn der Begriff ›Schein‹ es ermöglichen soll, hinsichtlich des umsichtigen Entdeckens von vorprädikativer Wahrheit zu sprechen, muss dennoch eine ganze Reihe von Fragen beantwortet werden: 154 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Vorprädikative Wahrheit?
1) Wie kann eine Auslegung eine frühere widerlegen beziehungsweise warum lassen sich manche Auslegungen im zweiten Schritt bestätigen und andere nicht? 2) Kann sich Sein in Schein abwandeln? Wenn eine Auslegung in einem ersten Schritt als Entdecken gesetzt wird, sich aber in einem zweiten Schritt als Schein herausstellt, muss erklärt werden, wie diese Transformation an sich zu verstehen ist. Es kann hier weiter gefragt werden, ob es möglicherweise unterschiedliche ›Arten‹ von Entdecken gibt. Etwa ein ›naives Entdecken‹ im ersten Schritt und ein ›bestätigendes Entdecken‹ im zweiten? 3) Muss (gemäß 2) in dieser Interpretation dann von unterschiedlichen ›Arten‹ von Wahrheit gesprochen werden? In diesem Fall würde sich die vorliegende Interpretation nicht grundsätzlich von der Interpretationslinie unterscheiden, die im 3. Abschnitt vorgestellt wurde, weil dann gesagt werden könnte, dass das naive Entdecken nicht wirklich Wahrheit wäre, sondern nur die Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit. Zusammenfassend kann gefragt werden: Ist das Problem der Wahrheitszuschreibung in der obigen Darstellung nur auf zwei unterschiedliche Schritte der Auslegung verteilt worden, oder lassen sich die vorprädikative Erschlossenheit und das umsichtige Entdecken doch, wie vorgehabt, durch das Spannungsverhältnis von Sein und Schein als Wahrheit auslegen? Ich beginne mit den Fragen 2) und 3). Sie können verneint werden, wenn Folgendes bedacht wird: Im ersten Schritt wurde etwas entdeckt und auch im zweiten. Wenn wir uns an das Tafelbeispiel erinnern, so wurde im ersten Schritt ein Seiendes als Kreide entdeckt, es war (für kurze Zeit) als Kreide, es wurde in der Hand gehalten wie Kreide und an die Tafel geführt wie Kreide. Im zweiten Schritt hat sich das Seiende der ersten Auslegung widersetzt und wurde als Radiergummi entdeckt. In beiden Schritten ist etwas entdeckt worden. Der Schein ergibt sich erst im Zusammenspiel der beiden Schritte des Entdeckens. Es hat sich also weder das erste Entdecken an sich zu einem Verdecken modifiziert noch muss ihm sein Entdeckendsein abgesprochen werden, nachdem es sich als ein Sich-versehen herausgestellt hat. Es hat lediglich etwas entdeckt, so wie es in der zweiten Auslegung nicht ist. Weiterhin unterscheidet sich das erste Entdecken an sich, solange es gelingt, das heißt, solange es entdeckt, nicht von dem zweiten. Dabei muss im Auge behalten werden, dass auch bei dem zweiten Entdecken offenbleibt, ob es sich im Zusammenspiel mit einem dritten als Schein herausstellen wird. 155 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
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Wie wäre demnach der Unterschied zwischen Schein und Sein aufzufassen, das heißt zwischen dem, dass etwas in einer bestimmten Weise ist, und dass etwas an sich selbst in einer bestimmten Weise ist? Der Punkt ist, dass diesen Ausführungen gemäß zunächst kein Unterschied besteht, sondern lediglich in Bezug auf eine neue Auslegung. Dennoch ergibt sich der Unterschied im Nachhinein und kann, solange eine Auslegung wirksam ist, in der etwas in einer bestimmten Weise als so-und-so-seiend ausgelegt wird, nicht einfach übergangen werden. Durch diese Darstellung wird allerdings das, wonach in einer klassisch metaphysischen Fragestellung gefragt wird, nicht gegeben: eine Antwort auf die Frage, warum das zweite Entdecken das erste ablöst, warum das Seiende zum Beispiel Widerstand leisten kann. Damit kommen wir zurück zu Frage 1). Die Frage, warum sich manche Auslegungen bestätigen lassen und andere nicht, ist tatsächlich eine Frage, die sich nicht durch den Hinweis darauf, dass (und wie) wir als In-der-Welt-sein existieren, beantworten lässt. Dass es sich so verhält, dass sich nicht alle Auslegungen bestätigen lassen, und dass wir in einem Spannungsverhältnis zwischen Sein und Schein leben, ist die Basis, die innerhalb des vorliegenden Rahmens nicht hintergangen werden kann. Man könnte vielleicht versucht sein, in dem Spielraum, in dem sich das Dasein vorfindet, eine Grenze dafür, was etwas (an ihm selbst) sein kann, zu sehen. Dann muss aber erneut betont werden, dass sich geschichtlich die Spielräume ändern (können). Der Einwand, der sich jetzt aufdrängt, ist, dass die Lösung, die hier angestrebt wird, der ›Welt‹, so wie wir in ihr leben, nicht gerecht wird. Auch wenn der Ausgangspunkt das sich auslegende In-derWelt-sein ist, müssen wir feststellen, dass uns im Alltag die Welt als stabil gegeben ist. Mein Schreibtisch ist immer als Tisch da, wenn ich schreiben will. Der Weg zur Universität lässt sich jeden Tag befahren. Ist es nicht eine konstruierte Behauptung, jedes Begegnen wäre zunächst ein Entdecken, aber alle Entdeckungen könnten im Zusammenspiel mit neuen Auslegungen als Schein auftreten? Um diesem Einwand gerecht zu werden, muss der Unterschied zwischen dem Sich-versehen im Seienden und dem Sich-versehen im Sein dargelegt werden. Tatsächlich gibt sich das Seiende im umsichtigen Entdecken als durabel. Üblicherweise haben wir auch keinen Anlass, die Kreide mitten im Schreiben plötzlich als Radiergummi auszulegen, und meistens auch nicht nach längerer Zeit, sondern tagein 156 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Vorprädikative Wahrheit?
tagaus lässt sich damit schreiben. Worum es hier jedoch geht, ist, dass die Möglichkeit dafür, dass überhaupt etwas als etwas Bestimmtes auftauchen kann, eben nicht gleichbleibend ist, weil sie in unserer Auslegung des Seins im Einzelnen und im Ganzen fundiert ist. 41 Wenn zum Beispiel in der Seinsauslegung das frontale Unterrichten als Möglichkeit nicht mehr in Frage kommt, wird auch die Kreide nicht mehr als solche entdeckt. Was ich hierbei als Sich-versehen im Sein vor Augen habe, ist das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Auslegungen des Kindseins und einer darauf aufbauenden Pädagogik. Allgemein lässt sich sagen: Wenn eine Seinsauslegung als Schein aufgefasst wird, verändern sich in vielen Fällen dadurch auch die Möglichkeiten des umsichtigen Entdeckens. Innerhalb einer Seinsauslegung können wir dadurch überprüfen, ob wir uns im Seienden versehen haben, dass wir die Auslegung des Seienden (zum Beispiel als Kreide) immer wieder erfolgreich wiederholen. Auf diese Weise ist uns die Welt als stabil gegeben. Dass es aber möglich ist, das Seiende im Ganzen beziehungsweise das Sein so auszulegen, dass die Auslegungen, die wir jetzt erfolgreich wiederholen, als Möglichkeiten nicht mehr vorkommen, bleibt im Alltag zumeist unbemerkt. Lässt sich nach alledem die Unwahrheit bezüglich der vorprädikativen Erschlossenheit und des vorprädikativen Entdeckens in dem Umstand verorten, dass sich Auslegungen als Schein zeigen können? Und wenn ja, bleibt dann der Unterschied zwischen etwas zu begegnen und etwas so zu begegnen, wie es an ihm selbst ist, in dieser Interpretation aufrechterhalten? Lassen sich die Einwände von Tugendhat zurückweisen, wonach in Bezug auf das umsichtige Entdecken nicht von Wahrheit geredet werden könne, da wir, wenn wir danach fragen, wie das Zuhandene »an ihm selbst« ist, statt des Zu-
Haugeland beschreibt diesen Umstand schön in Bezug auf wissenschaftliche Experimente: »The design of scientific instruments and experiments and the interpretation of their results depend essentially on the very laws and theories they sometimes test. Without a great deal of accepted physics, for instance, no cloud-chamber image […] could so much as make sense, let alone reveal anything. But this means that, if intransigent discovered impossibilities undermine a disclosure of being, they pull the rug out from under themselves as well – and along with them, any other discoveries and abilities to discover in that region. […] So, giving up on a disclosing of being is, in effect, giving up on everything – including the self-disclosing that makes possible that way of life.« Haugeland, »Truth and Finitude«, 73.
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Anne Kirstine Rønhede
handenen ein Vorhandenes in den Blick bekommen und somit die Erschlossenheit an sich nicht ›Wahrheit‹ genannt werden kann? Solange das In-der-Welt-sein als Basis für die Wahrheitskonzeption – und dadurch auch als Grenze für das, was gefragt werden kann – gesetzt wird, ist es, wie bisher gezeigt wurde, möglich, mit Heidegger jedes Begegnen als Wahrheit zu sehen, ohne damit die Möglichkeit zu verlieren, eine Auslegung im Nachhinein als Schein aufzudecken. Demnach bleibt die Differenzierung zwischen begegnen und etwas begegnen, wie es an ihm selbst ist, aufrechterhalten, auch wenn sie gemäß dieser Darstellung relativ zu einer bestimmten Seins-Auslegung bleibt. Der Unterschied zu Tugendhat besteht darin, dass bei ihm das Seiende, wie es an ihm selbst ist, als gleichbleibend gesetzt wird. Im Zuge dessen können zwei unterschiedliche Auslegungen nicht beide als wahr verstanden werden, das heißt, das Begegnen als solches kann nicht als Wahrheit aufgefasst werden, ohne dabei die Unwahrheit (in der etwas als das, was es an ihm selbst nicht ist, begegnet) zu verlieren. Da das »an ihm selbst« in der vorliegenden Interpretation nur in der Auslegung gegeben und das Hantieren mit einem Zeug vor dem Hintergrund eines befindlichen Entwurfs in der Erschlossenheit eine Auslegung ist, die durch neue Auslegungen als Schein aufgefasst werden kann, lässt sich das umsichtige Entdecken im Spannungsverhältnis zwischen Sein und Schein als wahr beziehungsweise unwahr deuten. Ein letzter Vorbehalt im Einklang mit der Kritik Tugendhats soll noch erwähnt werden. Daraus, dass sich Auslegungen ablösen, kann nicht gefolgert werden, dass die Ablösung als solche und damit der Schein notwendig thematisch wird. Kann der Schein als solcher sichtbar werden, ohne auf der Ebene der Prädikation thematisiert zu werden? Wenn wir zum Beispiel aufhören, Menschen als Thralle zu benutzen, oder ein Zeug weglegen, weil es nicht taugt, und diese Geschehnisse nicht thematisiert werden, inwiefern sind dann die Auslegungen, die vorausgingen, im Lichte dieser Geschehnisse Schein? Wird die vorprädikative Wahrheit erst auf der Ebene der Prädikation als solche sichtbar? Und ist sie dann noch »vorprädikativ«? 42 Es wird hier vorausgesetzt, dass die Prädikation benötigt wird, um etwas zu thematisieren. Dies ist im Einklang mit Heideggers Bemerkungen, wonach »das vorthematische Seiende [als] das angesetzt [ist], das im umweltlichen Besorgen sich zeigt« (Sein und Zeit, GA 2, 90) und die »Artikulation des Verstandenen in der auslegenden
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Vorprädikative Wahrheit?
Gerade der Umstand, dass der Schein als das Sich-versehen, das sich erst im Nachhinein ergibt, aufgefasst wurde, ermöglichte die vorliegende Interpretation. Demnach muss die Möglichkeit bestehen, den Schein im Nachhinein als solchen zu thematisieren – er muss aber nicht in der Auslegung als solcher thematisch werden, damit diese Möglichkeit besteht. Die Frage, ob Schein, der nie als solcher thematisiert werden würde, noch als Schein gelten kann, soll an dieser Stelle offenbleiben. Bezüglich der Texttreue dieser Erläuterungen muss zuletzt gefragt werden: Wenn Heideggers Wahrheitskonzeption so gedeutet wird, dass zunächst jedes Begegnen wahr, das heißt zunächst ›alles‹ ein Entdecken ist, wie lässt sich dann erklären, dass laut Heidegger die Verborgenheit der Unverborgenheit vorausgeht, und dass alles Neuentdecken auf dem Hintergrund von Schein geschieht? 43 Das Entdecken an sich ist für Heidegger bereits eine Überwindung der Verdeckung. Das soll selbstverständlich durch die vorliegende Darstellung nicht bestritten werden: Vor jedem Entdecken herrscht Verdecken. Die Frage ist, wie dieses Verdecken zu verstehen ist. 44 In SuZ beschreibt Heidegger die möglichen Arten der Verdecktheit als Unentdecktheit, Verschüttung oder Verstellung beziehungsweise Schein. 45 In der vorliegenden Interpretation wurde nur der Schein ins Auge gefasst. Dass sich laut Heidegger »alle Neuentdeckung […] im Ausgang von der Entdecktheit im Modus des Scheins« 46 vollzieht, steht mit dieser Interpretation im Einklang: Damit sich etwas ›neu‹ entdecken lässt, muss schon etwas da sein (entdeckt sein), worauf wir uns in der neuen Entdeckung beziehen können. Die Neuentdeckung ist dann mit einer zweiten Auslegung gleichzusetzen, die eine frühere Auslegung als Schein sichtbar werden lässt. Genau das war hier die These: Erst in dem Zusammenspiel
Näherung des Seienden am Leitfaden des ›Etwas als etwas‹ […] vor der thematischen Aussage darüber« liegt (Sein und Zeit, GA 2, 198). 43 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294. 44 Für eine sehr anschauliche Darstellung der Verborgenheit, die sowohl der ontischen als auch der ontologischen Ebene der Unverborgenheit vorausgeht, möchte ich auf den Aufsatz »Unconcealment« von Wrathall verweisen: Wrathall, Heidegger and Unconcealment, 11–39. 45 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 48. 46 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 294.
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Anne Kirstine Rønhede
zwischen zwei Entdeckungen – also erst im Nachhinein – entsteht der Schein.
6.
Konklusion
Es wurde gezeigt, dass es möglich ist, auf der Grundlage des In-derWelt-seins mit Heidegger jedes Begegnen als Wahrheit zu sehen, ohne damit die Möglichkeit zu verlieren, eine Auslegung im Nachhinein als Schein aufzudecken. Dabei wurde ›Schein‹ ausgelegt als ein Sich-versehen im Sein oder Seienden, das sich erst durch die Spannung zwischen zwei Auslegungen im Nachhinein ergibt. Demnach bleibt die Differenzierung zwischen begegnen und etwas begegnen, wie es an ihm selbst ist, aufrechterhalten, wobei sie gemäß dieser Darstellung auslegungsrelativ bleibt. Es hat sich gezeigt, dass die zentrale Frage, um Heideggers Wahrheitskonzeption und damit die vorprädikative Wahrheit als solche erhalten zu können, lautet, was es überhaupt (innerhalb eines heideggerschen Rahmens) heißt, etwas so zu begegnen, wie es an sich selbst ist. Vor diesem Hintergrund, das heißt, unter der Voraussetzung der Bedingtheit des In-der-Welt-seins durch seine eigenen Auslegungen, lässt sich bezüglich des umsichtigen Entdeckens von vorprädikativer Wahrheit aufgrund der Differenzierung zwischen Sein und Schein sprechen. Der Gegenpol der vorprädikativen Wahrheit wäre demgemäß nicht »Falschheit«, sondern Schein. Folgende Fragen bleiben noch offen: Kann das In-der-Welt-sein als Basis einer Wahrheitskonzeption dienen, wenn diese Basis die Frage nicht zu beantworten vermag, warum manche Auslegungen scheitern? Und nicht weniger wichtig: Kann der Schein als vorprädikative Unwahrheit dienen, wenn er thematisiert werden muss, um sichtbar zu werden? Diese Fragen gilt es in künftigen Untersuchungen aufzugreifen.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger Yuliya Tsutserova 1
Zusammenfassung: Das Vorprädikative wird im vorliegenden Aufsatz als Ursprung und Möglichkeitsbedingung der Prädikation bestimmt. Diese Ebene der Sinnstiftung wird dabei nicht im »Leben« oder in der »Existenz« verortet, sondern im Rahmen von Heideggers kritischer Auseinandersetzung mit dem Kant’schen Subjekt auf die »freie Bindung« der Spontaneität der Subjektivität zurückgeführt. Davon ausgehend werden die von Heidegger diagnostizierten Defizite einer solchen subjektiven Spontaneität hinsichtlich ihrer Selbsttätigkeit und ihrer Selbstbestimmung untersucht. Aus dieser Analyse ergibt sich eine Deutung des Vorprädikativen als schöpferische suprasubjektive Ebene, auf der die Prädikation fundiert ist. Vor diesem Hintergrund wird schließlich die These aufgestellt, dass im späten Denken Heideggers eine »Transfiguration« der Prädikation in das »denkerische Schaffen« beschrieben wird, die mit der Dichtung als einer ausgezeichneten Weise des Prädizierens identifiziert werden kann und dessen Möglichkeiten unendlich variabel sind.
1.
Das Vorprädikative: Was geht der Prädikation voraus und was steht über ihr?
Der vorliegende Aufsatz geht von einer Interpretation des Vorprädikativen aus, nach der sich dieses auf den Ursprung und die Bedingung der Möglichkeit der Prädikation bezieht. Bei diesem Ansatz wird die Begrenzung der Bedeutung nicht als Trennlinie zwischen zwei sui generis Bereichen der Sinnhaftigkeit, nämlich einem begrifflichen An dieser Stelle möchte ich mich herzlichst bei Rico Gutschmidt, Nikola Mirkovic, Chiara Pasqualin und Agustina Sforza für die detaillierte Revision der Übersetzung dieses Textes ins Deutsche sowie bei Claudia Serban und Anna Yampolskaya für die Anmerkungen zu früheren Versionen desselben bedanken.
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und einem nicht-begrifflichen, verstanden, sondern eher als eine Synthese zwischen prädikativen Formen und Funktionen sowie dem Ursprung der Einheit und Gesetzmäßigkeit, welche diese Formen und Funktionen manifestieren und implementieren. 2 Aus der Perspektive von Autoren, welche die entscheidende Innovation der Phänomenologie in einer Gründung der Begriffe in »Leben« und »Existenz« sehen sowie Heidegger als jemanden, der nicht nur die Kant’sche Formulierung der kategorialen Analyse, sondern auch bereits die Frage der Deduktion der Kategorien (oder des Prädikativen) insgesamt aufgibt, dürfte dieser Ansatz freilich etwas rückschrittlich wirken. 3 Tatsächlich soll hier gerne zugestanden werden, dass sich diese Frage in der Form, die sie bei Heidegger annimmt, nicht ohne Weiteres als Kantisch identifizieren lässt. Allerdings lässt sich auch schwer bestreiten, dass Heideggers Einbruch in die Ursprünge der Prädikation als eine Erweiterung des Projekts der Gründung der Begrifflichkeit in »Leben« und »Existenz« zu sehen ist. Ganz im Gegenteil verstehe ich die Entwicklung seines Denkens ab den 1930ern als ein Streben »flussaufwärts«, in dessen Verlauf er immer wieder eine Reihe von »Stromschnellen« überspringt, um zu einer »Quelle« zu gelangen, die darüber hinausgeht: Der Verstand, die Einbildungskraft bei Kant sowie die a priori Einheit der Zeit, das Heidegger’sche Dasein, »das Zwischen«, die »Welt-Erde«, der »ZeitIn der Tat läuft ein solcher Ansatz Heideggers Tendenz in Sein und Zeit nicht zuwider, eine Kontinuität zwischen der vorprädikativen und der prädikativen Sphäre, zwischen Sinnlichkeit und Verstand sowie zwischen »schematischer« und sprachlicher Ebene zu betonen. Vergleiche folgende Stellen aus Heidegger, Sein und Zeit, GA 2: »Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend. […] Die Artikulation des Verstandenen in der auslegenden Näherung des Seienden am Leitfaden des ›Etwas als etwas‹ liegt vor der thematischen Aussage darüber. In dieser taucht das ›Als‹ nicht zuerst auf, sondern wird nur erst ausgesprochen […]« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 198) sowie: »[das als das und das Verstandene] ist nicht gefordert, daß sich das Zeugverständnis in einer Prädikation ausdrückt. Das Schema ›etwas als etwas‹ ist schon in der Struktur des vorprädikativen Verstehens vorgezeichnet.« (Sein und Zeit, GA 2, 476). 3 Guillaume Fagniez, Charlotte Gauvry, »Présentation«, Les Études philosophiques, 173 (3), 2017, 319–330, 328: »Cette reconduction des concepts à la vie et à l’existence donne à l’enquête catégoriale de la phénoménologie une orientation nouvelle. Elle a pour conséquence un abandon explicite, aussi bien chez Dilthey que chez Heidegger, de la formulation Kantienne de l’analyse catégoriale, qui fut déterminante pour tout le XIXe siècle, y compris dans son retour à Aristote. Les questions de la systématicité, de l’exhaustivité, de la déduction de la table des catégories sont explicitement abandonnées«. 2
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
Raum« sowie schließlich das »Seyn«. Die philosophische Ausrichtung dieser gleichzeitig »rückwärts« und »aufwärts« laufenden Bewegung ist eindeutig Kantisch: Trotz des »In-der-Welt-seins« und der ekstatischen Zeitlichkeit in Sein und Zeit führt für Heidegger der »Ausgang« zum transzendentalen Ursprung beziehungsweise zur Bedingung der Möglichkeit all dieser konstitutiven Strukturen durch die »Hintertür« des Subjektes – eine Hintertür, die nur durchschritten werden kann, indem man sich noch tiefer in das Subjekt zurückzieht, um darin etwas zu entdecken, was sowohl darüber hinausgeht als es durchzieht – nicht die Existenz, noch nicht einmal das Sein, sondern die schweigende Einfachheit des »Seyns«, die die begriffliche Form und Funktion in ihrer ursprünglichen Scheidung der Einheitlichkeit-in-der-Unterschiedlichkeit überhaupt erst hervorbringt. 4 Das ist das Heidegger’sche Vorprädikative par excellence und der Grund für das hier vertretene Plädoyer, dieses im Folgenden als »supra-subjektiv« zu bezeichnen. Vor dem Hintergrund dieser Deutung des Vorprädikativen zielt der vorliegende Aufsatz darauf ab, dem »transzendentalen Weg« zu folgen, und zwar bis hinein in die synthetischen und gesetzmäßigen Tiefen des aktiven, operativen und spontanen Subjekts, um zuletzt in eine noch ursprünglichere »suprasubjektive« Dimension einzutauchen. Auf diese Weise soll Heideggers Übergang vom »Entwurf« der »Welt« des Daseins (Sein und Zeit) zu ihrem »Rück-wurf« in den konfigurativen »Zeit-Raum« nachgezeichnet werden, der aus der ursprünglichen Scheidung der vorontologischen Einfachheit des »Seyns« (Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis]) entspringt. In diesem Zusammenhang soll die entscheidende Rolle des Übermaßes der Dichtung für eine neue Genese des konfigurativen Vermögens des Subjekts herausgestellt werden, die dadurch erreicht wird, dass es seiner ursprünglichen schöpferischen Wurzel aufgepfropft wird.
4 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 88: »Dann rückt das, was hier Ent-scheidung genannt ist, in die innerste Wesensmitte des Seyns selbst und hat dann nichts mit dem gemein, was wir das Treffen einer Wahl und dergleichen heißen, sondern sagt: das Auseinandertreten selbst, das scheidet und im Scheiden erst in das Spiel kommen läßt die Er-eignung eben dieses im Auseinander Offenen als der Lichtung für das Sichverbergende und noch Un-entschiedene […]«.
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2.
Das subjektive Vorprädikative bei Kant und dessen Kritik bei Heidegger
Um zu verstehen, inwiefern der Ursprung und die Möglichkeitsbedingung der Prädikation im Bereich des Supra-Subjektiven verortet werden können, soll zunächst Heideggers anfängliche Suche nach dem Vorprädikativen im Bereich des Subjektiven, so wie Kant es tat, nachverfolgt werden. Dabei werden die Gründe herausgestellt, die Heidegger dazu führen, diesen Weg schließlich als unzureichend anzusehen. Im folgenden Abschnitt werden diese Überlegungen, wie sie in der Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (1927–1928) sowie in Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (1930) dargelegt werden, untersucht. Dabei wird sich zeigen, dass sich Heideggers Stoßrichtung durch drei Hauptaspekte auszeichnet: (1) die Erkenntnis, dass Kant den Ursprung der prädikativen Formen und Funktionen des Subjekts unbestimmt lässt, (2) die Entdeckung, dass die »freie Verbindung« der Spontaneität im »Zentrum des Subjekts« liegt und sämtliche weitere Formen der Synthesis einschließlich der Vereinigung des Verstandes, der Verbindung der Einbildungskraft sowie der Syndosis der Zeitlichkeit bedingt, (3) die Schlussfolgerung, dass die Spontaneität des Subjekts nicht als Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung par excellence gesehen werden kann, da ihre Handlungen eher ein »Wirken« als ein »Tun« darstellen und da ihre Gesetze eher »entdeckt« als »geschaffen« werden. Was Heidegger mit dieser Analyse gewinnt, ist der Leitfaden der Spontaneität, den er aus dem Bereich des Subjektiven hinaus- und in das Supra-Subjektive hineinfolgen wird. Heideggers Überlegungen über den Ursprung und die Bedingungen der Möglichkeit der Prädikation gehen von seiner Unzufriedenheit mit Kants Darlegung desselben in der Kritik der reinen Vernunft aus. Im Rahmen des dort vorgestellten Systems werden die vereinheitlichenden und verbindenden Konzepte und Funktionen, welche die Prädikation ermöglichen, sehr ausführlich behandelt, vor allem in der Tafel der Kategorien und in der Tafel der Funktionen. Allerdings bleibt der Ursprung der vereinheitlichenden und verbindenden Kapazität des Subjekts selbst unbestimmt. Heidegger nimmt diese Auslassung zum Anlass, ein vorprädikatives Element zu untersuchen, welches das Subjekt überschreiten könnte. Diese Gedanken werden in seinem Text Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (1927–1928) ausgearbeitet, der nach Sein 164 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
und Zeit (1927) entstanden ist, aber zu einer inhaltlichen Perspektive vor Sein und Zeit gehört, weswegen er für die Rekonstruktion von Heideggers Entwicklung vorrangig ist. Die Erkenntnis, dass der Ursprung der prädikativen Formen und Funktionen bei Kant unbestimmt bleibt, bringt Heidegger in diesem Text dazu, innerhalb des Kant’schen Korpus nach möglichen Antworten zu suchen, das heißt also nach Antworten innerhalb des Subjekts. Dabei analysiert er die Synthesen der Vereinigung des Verstandes sowie der Verbindung der Einbildungskraft sehr detailliert und verfolgt sie zurück bis zu dem, was er anfänglich für die tiefste Schicht des Subjekts hält, der a priori Einheit der Zeit, der Zeitlichkeit, um diese Synthesen schließlich zurückzuweisen. In diesem Zusammenhang macht Heidegger seine wahrhaft bahnbrechende Entdeckung: Die Synthesen der Zeit beruhen auf einer weiteren Art von »Verbindung«, welche die paradoxe Natur der Freiheit mit sich trägt. Diese »freie Verbindung« selbst ist wiederum in der Spontaneität verwurzelt, die Heidegger mit stärkster Emphase als »Zentrum des Subjekts« bezeichnet. 5 Damit rückt die Spontaneität als erster Kandidat für den subjektiven Ursprung und die Bedingung der Möglichkeit der Prädikation in den Vordergrund. Von diesem Punkt an sind Heideggers Reflektionen über das Vorprädikative unauflöslich mit denjenigen über die Spontaneität verbunden und konzentrieren sich auf folgende Aspekte: Kann die Spontaneität des Subjekts ein wahrhaft schöpferischer Ursprung von dessen »freier Verbindung« sein? Und falls nicht, wo sonst könnte solch ein schöpferischer Ursprung zu suchen sein? Heideggers Hauptkritik an Kants Darlegung des aktiven Beitrags des Verstandes zur Konstitution der Formen und Funktionen des prädikativen Bereichs betrifft den unterbestimmten Ursprung eines derartigen Vermögens, das er in der Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (1927–28) nach wie vor mit den »Urtiefen des menschlichen Daseins« identifiziert. 6 Indem er sich auf 5 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 370: »Im Subjekt selbst also liegt für es und seine apriorischen Handlungen als solche eine Bindung, die nichts mit physischem Zwang zu tun hat, sondern die im Gegenteil gerade im Zentrum des Subjekts selbst, in seiner Spontaneität verwurzelt ist – eine Bindung, die ihrem Wesen nach die Freiheit ist. Diese Freiheit ist in sich die Voraussetzung für die Möglichkeit aller apriorischen Notwendigkeit der Einigungen der reinen Synthesen der Zeit«. 6 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 334: »Es handelt sich hier wieder – nur für Kant verdeckt – um das
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die Funktion der Einigung als den Ort der Spontaneität des Verstandes konzentriert, 7 zeigt Heidegger auf, dass die Durchführung dieser Funktion nach Regeln vorgeht, die der Verstand sich selbst gibt, aber nicht schafft: In den Blick genommen wird dann nur die Funktion der Einigung als solche hinsichtlich ihrer möglichen Weisen der Einigung und deren Regeln, d. h. es wird gefragt nach den schlechthin notwendigen Regeln des Denkens, die überhaupt ein Denken zu dem machen, was es als Denken ist. Diese Regeln liegen a priori im Denken selbst und regeln seinen allgemeinen Gebrauch, sie bestimmen das Denken, mag es in concreto was immer denken. 8
Heidegger sieht Kants Verstand nur insofern als spontan an, als er die Begriffe »macht«, »bildet« beziehungsweise »zeugt«, mit deren Hilfe er Gegenstände bestimmt, definiert und umgrenzt. Allerdings besteht er darauf, dass der Charakter der »Einheit« des Begriffes sowie seiner produktiven Funktionen nicht dem Verstand selbst entspringt. 9 Indem er also Kants transzendentale Deduktion der Kategorien zurückverfolgt, stimmt Heidegger ihm insoweit zu, dass die Kategorien als prädikative Formen der Funktion der Einigung des Verstandes entspringen, 10 stellt aber heraus, dass der Ursprung sowie die Prinzipien dieser Funktion selbst dabei nicht in den Blick kommen. Der erste alternative Ursprung der Funktion der Einigung, mit der sich Heidegger bezüglich der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt, ist die Einbildungskraft: »eine Handlung, die weder Anschauung selbst noch schon Denken ist, sondern gleichsam zwischen beiden liegt und demgemäß die Verbindung zwischen Anschauung und DenProblem der Transzendenz, und zwar nicht um das Problem der ontischen Transzendenz, d. h. der bestimmten faktischen Beziehung eines faktischen Subjekts zu einem bestimmten vorhandenen Ding. Es handelt sich um die Beziehung des Subjekts, des Daseins, auf Seiendes überhaupt als Seiendes, um seine Beziehung auf das Sein, nicht um die ontische, sondern um die ontologische Transzendenz, die die ontische erst möglich macht. Kant wußte ganz klar, ohne daß er davon viel Aufhebens und Redens machte, daß er mit Deduktionsproblem in die verborgensten Urtiefen des menschlichen Daseins vorzudringen sich anschickte […]«. 7 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 173. 8 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 177. 9 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 228. 10 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 253.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
ken, ihre Einigung zu einer vollen Erkenntnis herstellt«. 11 An Kant anschließend, beschreibt Heidegger diese wie folgt: »Die produktive Synthesis bringt ›in ein Bild‹, sie gibt produktiv eine figura, daher nennt Kant sie auch ›figürliche Synthesis‹«. 12 Doch Kant selber erkennt diese produktive Synthesis laut Heidegger als »eine blinde, obgleich unentbehrliche Funktion der Seele« 13 – eine weitere unergründliche Funktion, deren Spontaneität Heidegger vor allem als rezeptiv ansieht. 14 Der Ursprung der Verbindung, die sie herstellt, bleibt dunkel: Sagt Kant denn gar nichts Positives über diese Synthesis, so daß man ihr schließlich doch näher kommt? Gewiß sagt er Positives, aber all das ist so zweideutig, daß nicht nur die Erklärer, sondern schon Kant selbst dieser Zweideutigkeit, die eine radikale Unklarheit geblieben ist, zum Opfer fielen. 15
Aus Heideggers Perspektive hat die Unbestimmtheit des Ursprungs der vereinigenden und bindenden Funktionen des Verstandes sowie der Einbildungskraft insgesamt gesehen durchaus ihre Verdienste, da sie nämlich die Frage nach einem solchen Ursprung hervorruft: »Denn Kant hat nur erst die allgemeine Dimension des Ursprungsortes sichtbar gemacht […] Ebensowenig hat er gezeigt, worin die spezifische Einigungsfunktion der Synthesis besteht, wo der letzte Grund der Möglichkeit dafür liegt, daß Mehreres für ein Ich gegeben sein kann […]« 16. Anfänglich bemüht sich Heidegger darum, diesen Ursprung und Grund über die Zeit in seiner Darlegung der Syndosis zu bestimmen. Indem er zurückgreift, auf das, was er »Praecognition« nennt, 17 identifiziert er die Zeitlichkeit 18 als die a priori Einheit der Zeit, bei der es Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen nunft, GA 25, 253. 12 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen nunft, GA 25, 415. 13 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, Meiner, 1967, 116. 14 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen nunft, GA 25, 276. 15 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen nunft, GA 25, 273. 16 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen nunft, GA 25, 297. 17 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen nunft, GA 25, 359. 18 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen 11
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sich um die Bedingung der Möglichkeit sowohl der Funktion der Einigung als auch der Funktion der Verbindung des Verstehens anhand der Einbildungskraft handelt. Nachdem er allerdings diese Funktionen mit Hilfe der a priori Einheit der Zeit erläutert hat, zieht Heidegger die Schlussfolgerung, dass dieser Ansatz der Freiheit 19 des Subjektes als der reinen Möglichkeit des »Ich-kann« 20 nicht gerecht wird: »diese ursprüngliche und unwandelbare Spontaneität«, so Heidegger, ist »eine reine Selbsttätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist«, und die ursprünglicher als die Synthesen der Zeit ist. 21 Auch wenn Zeitlichkeit als jener »Horizont von möglicher Einheit überhaupt« gesehen wird, bleibt die Freiheit des Subjektes, die Heidegger an diesem Punkt seines Denkens als Ursprung dieses Einheitshorizontes versteht, hier noch eine begrenzte Freiheit, da sich das Subjekt diese selbst gibt, sie aber nicht erschafft. 22 Dementsprechend zeigt Heidegger in seiner Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft auf, dass der Ursprung der Funktionen der Einheit und der Bindung im Dunkeln liegt und das Wirken des Verstandes und der Einbildungskraft nicht ursprünglich, sondern abgeleitet ist. Die Alternative einer mit Hilfe der a priori Einheit der Zeit bewirkten Syndosis wird selbst zum Gegenstand der Kritik, da sie die Funktionen der Synthesis auf die »Selbst-Gegebenheit« anstatt auf die »Selbst-Schaffung« durch das Subjekt zurückführt. Daher kommen weder der Verstand noch die Einbildungskraft und noch nicht einmal die Zeitlichkeit als a priori Einheit der Zeit als schöpferische Ursprünge der Prädikation in Frage. nunft, GA 25, 342: »Die Einbildungskraft ist nur als zeitbezogene möglich, oder deutlicher formuliert: Sie ist selbst die Zeit – im Sinne der ursprünglichen Zeit die wir die Zeitlichkeit nennen«. 19 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 370: »Im Subjekt selbst also liegt für es und seine apriorischen Handlungen als solche eine Bindung, die nichts mit physischem Zwang zu tun hat, sondern die im Gegenteil gerade im Zentrum des Subjekts selbst, in seiner Spontaneität verwurzelt ist – eine Bindung, die ihrem Wesen nach die Freiheit ist. Diese Freiheit ist in sich die Voraussetzung für die Möglichkeit aller apriorischen Notwendigkeit der Einigungen der reinen Synthesen der Zeit«. 20 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 380. 21 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 370. 22 Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 377: »[D]as einigende Subjekt als solches [kann] sich ursprünglich einen Horizont von möglicher Einheit überhaupt vorgeben«.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
Da diese Optionen also zu kurz greifen, erschöpfen sie die inneren Möglichkeiten des Kant’schen Systems und bestätigen Heidegger in seiner Überzeugung, dass er nach einem Vorprädikativen suchen sollte, das über Subjekt hinaus gehen könnte (angefangen mit dem Dasein von Sein und Zeit). Wäre allerdings der Boden des Kant’schen Subjekts derart unfruchtbar, hätte Heidegger sich nicht dazu entschlossen, in mindestens drei verschiedenen Vorlesungen im Laufe des Jahrzehnts darauf zurückzukommen, und zwar in: Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (1930), sowie in Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den Transzendentalen Grundsätzen (1935). Die beiden letzteren Werke liefern bedeutende inhaltliche Fortschritte auf der Suche nach dem schöpferischen Ursprung der Prädikation, die zunächst in der Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft entwickelt wurden. Die in diesen Arbeiten entwickelten Ergebnisse dienen aber nicht einfach als Sprungbretter hin zu einem »supra-subjektiven« Vorprädikativen, sondern werden zu Strukturelementen der beiden Haupt-Modelle oder Prototypen, nämlich des Prototyps der »Welt-Erde« des Kunstwerks im Kunstwerkaufsatz (1935–1936) sowie des des »ZeitRaums« des »Ereignisses« in Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938). Dieser Abschnitt beschränkt sich auf die Analyse der Einsichten in die subjektive Spontaneität, die Heidegger in der Vorlesungsreihe aus dem Sommersemester 1930 entwickelt. Im Anschluss daran wird schließlich der Bereich des Supra-Subjektiven diskutiert und in diesem Zusammenhang die spätere Vorlesung Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den Transzendentalen Grundsätzen untersucht. Der in der Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft erreichte Durchbruch bestand darin, die Synthesen des Verstandes, der Einbildungskraft sowie der Zeitlichkeit auf eine Art »freie Verbindung« zurückzuführen, die in der Spontaneität im »Zentrum des Subjekts« verwurzelt ist. Um zu klären, ob diese Spontaneität als schöpferischer Ursprung und Bedingung der Möglichkeit der Prädikation in Frage kommt, wird sie von Heidegger im Rahmen einer Vorlesungsreihe untersucht, die das Problem der Freiheit behandelt: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (1931). Um als das Vorprädikative par excellence in Frage kommen zu können, muss die Spontaneität des Subjekts sich als »eine reine Selbsttätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst 169 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
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bestimmt ist« 23 erweisen. Daher kann sie nicht im Rahmen des Verstandes, der Einbildungskraft oder der Zeitlichkeit definiert werden, sondern ist als reine Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung zu isolieren. In diesen Vorlesungen untersucht Heidegger, inwiefern eine solche Definition auf die Spontaneität anwendbar ist, die den Menschen im Allgemeinen sowie das Kant’sche Subjekt im Besonderen charakterisiert. Dabei möchte er feststellen, ob das Subjekt als aktiv und schöpferisch im absoluten Sinne dieser Begriffe verstanden werden kann. Im Verlauf dieser Vorlesungen zeigt sich, dass dies nicht der Fall ist, was Heidegger dazu bringt, dem Leitfaden der Freiheit über das Subjekt hinaus zu folgen. Im Folgenden soll genauer analysiert werden, wie Heidegger zu dieser Schlussfolgerung kommt. Während die Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft über die prädikativen Formen und Funktionen zum Problem der Spontaneität gelangt, spürt Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie der Freiheit in breiterer Weise nach, und zwar im Rahmen der Handlungen der Vernunft und ihrer Gesetzlichkeit. In Bezug auf diese Handlungen lässt sich Freiheit als Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung definieren: […] rein von sich aus, d. h. selbst, das eigene Handeln bestimmen, selbst dem Handeln das Gesetz geben. In diesem Sinne der Selbstbestimmung faßt Kant positiv die Freiheit; weiterhin als absolute Selbsttätigkeit. Er umschreibt sie als »Vermögen« […] »sich […] vom selbst zu bestimmen«. 24
An dieser Definition problematisiert Heidegger allerdings die Ambiguität des Verhältnisses der Begriffe »Handeln« und »Tun«. Abgesehen von der entscheidenden Frage, ob »Handeln« als »absolute Selbsttätigkeit« gesehen werden kann, bringt Heidegger seine Vorbehalte bezüglich der Frage zum Ausdruck, ob das Verständnis der Begriffe »Handeln« und »Tun« als Äquivalente hinreichend genau ist. Er besteht darauf, dass Kants Begriff des »Handelns« eine begrenztere Bedeutung hat als der Begriff des »Tuns« (facere) und durch das Wortpaar agere – effectus 25 exakter wiedergegeben wird, Heidegger, Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, 370. 24 Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 21. 25 Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 197: »Handeln (Handlung) ist für Kant gleichbedeutend mit Wirken (Wirkung), mit dem lateinischen agere – effectus. Es ist der weitere Begriff gegenüber 23
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
weshalb Heidegger den Begriff des »Wirkens« 26 als plausiblere Alternative herausstellt (dieser Begriff wird in Der Ursprung des Kunstwerkes sehr prominent verwendet). Auf diese Weise demonstriert Heidegger, dass die Handlungen des Kant’schen Subjekts nicht als »Tun« im engeren Sinne des Begriffs angesehen werden können, dass sie nicht den Anspruch auf »absolute Selbsttätigkeit« erheben können, und dass sie daher nicht als schöpferischer Ursprung der Prädikation in Frage kommen. Heideggers zweiter Einwand betrifft den Mangel an einer klaren Unterscheidung zwischen den Konzepten der Selbstbestimmung und der »Selbstschaffung«. Im Falle der Selbstbestimmung bestimmt das Subjekt seine Handlungen anhand seiner eigenen Gesetze, »seiner eigenen« Bedeutung, die es »innerhalb seiner selbst entdeckt«. Im Gegensatz dazu bestimmt sich das Subjekt im Falle der »Selbstschaffung« nicht nur sich selbst anhand der »entdeckten« Gesetze, sondern schafft diese Gesetze auch selber. Heidegger besteht darauf, dass das Kant’sche Subjekt zum ersteren Fall gehört und daher nicht im absoluten Sinne frei oder spontan sein kann. Mehr noch, in diesen Vorlesungen gelangt Heidegger in Bezug auf seine eigene Alternative zum Kant’schen Subjekt, dem Dasein, zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Dasein »stellt sich her«, »verschafft sich sich selbst« durch seine Handlungen, doch nur in dem Sinne, dass es sich selbst »vorfindet«: Mit Bezug auf unsere Handlung und faktisches Sein aber stellen wir uns durch dieses in gewisser Weise selbst her, wir verschaffen uns uns selbst. Allein, all dieses nicht schlechthin, wir geben uns nicht selbst durch eigenen Beschluß unser Da-sein, sondern finden dieses selbst vor, d. h. wir selbst sind uns zugleich Erscheinung. 27
Diese Vorlesungen tragen zur Suche nach dem Vorprädikativen bei Heidegger zweierlei bei. Erstens arbeitet Heidegger gründlich heraus, dass das Kant’sche Subjekt nicht als Ursprung und Bedingung der Möglichkeit der Prädikation in Frage kommt, da es nicht spontan im dem Tun – facere, dem aber eine besondere Art von Handlung, eine besondere Art von Wirkung und effectus zugehört: das Werk – opus. Jedes Tun ist ein Handeln, aber nicht jedes Handeln ein Tun«. 26 Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 196: »›Handlung‹ ist für Kant vielmehr der Titel für Wirken überhaupt«. 27 Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 254.
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absoluten Sinne des Begriffes ist: Es »tut« und »schöpft« nicht als solches. Zweitens entdeckt Heidegger, dass seine eigene Alternative, das Dasein, diese Anforderungen ebenfalls nicht erfüllt, da es sich nicht selbst »schöpft«, sondern eher »entdeckt«. Auf diese Weise eröffnet Heidegger explizit die Möglichkeit, dass die Spontaneität als Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung jenseits des menschlichen Subjektes und des Daseins liegen könnte, was einen entscheidenden Bruch mit der Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, Sein und Zeit sowie dem Kantbuch darstellt: »Kurz, unser Fragen nach dem Menschen ist ein Hinausfragen über den Menschen« 28, und die Freiheit »ist [sie] selbst in ihrem Wesen ursprünglicher als der Mensch« 29. Damit zwingt der Imperativ der Freiheit Heidegger dazu, die Diskussion vom Grund des Subjekts und des Daseins auf den Grund des Seins zu verlagern: »das Problem des Seins überhaupt [ist] in sich ein Problem der Freiheit« 30. In diesem Abschnitt wurde Heideggers Suche nach dem Ursprung der prädikativen Formen und Funktionen, so wie sie von Kant umrissen worden sind, im Bereich des Subjektiven verortet. Als Ausgangspunkt dieser Suche wurde die Unzufriedenheit Heideggers mit der nicht hinreichenden Bestimmung dieses Ursprungs in der Kritik der reinen Vernunft herausgestellt. Weiterhin wurden Heideggers Überlegungen zu möglichen subjektiven Ursprüngen innerhalb des Kant’schen Korpus sowie deren abschließende Zurückweisung nachvollzogen, was zum Beispiel die Vereinigung des Verstandes, die Verbindung der Einbildungskraft sowie die Zeitlichkeit oder die a priori Einheit der Zeit betrifft. Als Ergebnis dieses Prozesses der Eliminierung zeigte sich die Spontaneität als einziger potentieller Ursprung, und zwar verstanden als Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung. Allerdings wurde letztlich auch diese subjektive Spontaneität disqualifiziert beziehungsweise zurückgewiesen, da ihre Handlungen eher an ein »Wirken« als an ein »Tun« erinnern und ihre Bestimmung eher auf Entdeckung statt auf Schöpfung hinausläuft. Als Ergebnis dieser Gedankenentwicklung wurde herausgestellt, dass sich Heidegger allHeidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 126. 29 Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 134. 30 Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, GA 31, 300. 28
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
mählich aus dem Bereich des Subjektiven zurückzieht und seine Suche nach dem Ursprung auf das Supra-Subjektive ausweitet. Der nun folgende Abschnitt nimmt diese Ausweitung auf das Supra-Subjektive auf, das vom Dasein bis hin zum »Seyn« reicht.
3.
Das supra-subjektive Vorprädikative bei Heidegger: Vom Dasein zum »Seyn«
Indem Heidegger im Verlaufe beinahe eines ganzen Jahrzehnts (1927–1938) dem Faden der Spontaneität aus dem Bereich des Subjektiven hinaus folgt, stößt er auf vier Prototypen des supra-subjektiven Vorprädikativen, bevor er schließlich den endgültigen Ursprung sowie die Möglichkeitsbedingung der Prädikation erreicht, nämlich das einfache, notwendige und schweigende »Seyn«: (1) das »Seinkönnen« des Daseins, (2) »das Zwischen«, (3) die »Welt-Erde« des Kunstwerks sowie (4) den »Zeit-Raum« des »Ereignisses«. Dieser Abschnitt vollzieht die Entwicklung dieser Prototypen in Sein und Zeit (1927), in Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (1935), in Der/Vom Ursprung des Kunstwerkes (1934–1936) 31 sowie in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938) nach. Dabei erweisen sich diese Prototypen als vorläufig, da sie immer noch von einer aktiven und schöpferischen Spontaneität abhängig sind. Nur durch den Rückbezug auf jenen ultimativen Ursprung – das Seyn – ist es möglich, dass sich beispielsweise das prinzipielle »Sein-können« des Daseins als dasjenige des »denkerisch Schaffenden« erweist. Es wird sich daher zeigen, dass die Übernahme des Übergangs vom Subjektiven zum ultimativen Supra-Subjektiven weniger darin besteht, sich von veralteten Prototypen zu trennen, sondern eher darin, ihre prädikativen Formen und Funktionen in eine Prädikation höherer Ordnung zu »transfigurieren«, nämlich in diejenige der Dichtung der »denkerischen Schöpfung«. Die erste Form der supra-subjektiven Spontaneität findet sich in Heideggers fundamental-ontologischem Modell des Daseins, in dem Martin Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art. Première version inédite (1935), übers. von E. Martineau, Paris, Authentica, 1987; Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, GA 5, 1–74; Martin Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes. Erste Ausarbeitung«, Heidegger Studien, 5, 1989, 5–22. 31
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dieses als »Sein-können« erfasst wird, wobei die supra-subjektive Spontaneität nicht nur als begrenztes Vermögen des »Seins« dargestellt wird, sondern sich auf diese Weise auch aus sich selbst konfiguriert. Nach einer genaueren Untersuchung gelangt Heidegger allerdings zu der Schlussfolgerung, dass diese Spontaneität eher mit einer »Bewegtheit« und einem »Geschehen« verwandt ist, dessen Freiheit vom Sein bedingt und daher nicht absolut ist. Aus diesem Grund kann es sich dabei weder um den ultimativen Ursprung, noch um die Bedingung der Möglichkeit der Prädikation handeln. Die Herausarbeitung des Konzepts des Daseins in Sein und Zeit (1927) als einer Alternative zur Kant’schen Konzeption des Subjektes fasst die Spontaneität neu, und zwar im Sinne der »ursprünglichen einheitlichen Struktur« 32 des »In-der-Welt-seins«. Es handelt sich um ein »Bündel« möglicher Umgangsweisen, die Flexionen einer einzigen strukturierenden Orientierung darstellen, die Heidegger abwechselnd als »Zuwendung«, »Anvisieren«, oder »Sichrichten auf« bezeichnet. 33 Die Umgangsweisen werden reguliert durch die Beziehungsarten, deren das Dasein fähig ist: 34 »Beziehung ist eine formale Bestimmung, die auf dem Wege der ›Formalisierung‹ an jeder Art von Zusammenhängen jeglicher Sachhaltigkeit und Seinsweise direkt ablesbar wird« 35. Heidegger mahnt allerdings zur Vorsicht gegenüber der Reduktion solcher Umgänge auf reine Handlungen des Verstandes: »Wenn wir so […] die Weltlichkeit selbst als einen Verweisungszusammenhang bestimmen, wird dann nicht das ›substanzielle Sein‹ des innerweltlich Seienden in ein Relationssystem verflüchtigt und, sofern Relationen immer ›Gedachtes‹ sind, das Sein des innerweltlich Seienden in das ›reine Denken‹ aufgelöst?« 36 Die Beziehungsarten des Daseins sind dabei nicht äquivalent zu den Kant’schen Kategorien, die durch den Verstand für die Akte des prädikativen Urteilens bereitgestellt werden. Genauso wenig entsprechen sie dem Bereich der Kant’schen Funktionen des Verstandes. Es handelt sich nämlich nicht um Formen oder Funktionen, sondern um Seinsweisen: Die Modifikationen des Daseins stellen grundlegende Wirkungen der Orientierung dar. Der Verstand wird dadurch in ein »Sein-können« trans-
32 33 34 35 36
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 174. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 83. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 103. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 103. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 117.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
formiert, und seine eigentliche Aktivität wird neu definiert, und zwar als das »Entwerfen« der möglichen Seinsweisen des Daseins: »Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. […] In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst«. 37 Das Subjekt wird zwar durch seine Bestimmung als Wirken der Orientierung entsubstantiiert, was aber noch nicht die Frage nach dem Agenten – dem »Wer« 38 – eines solchen Wirkens beantwortet, wie Heidegger selbst einräumt. Die Verfolgung der Spontaneität des Subjektes wird zwar möglich, wenn man sich vom »Aktzentrum« abund den Akten selbst zuwendet: »das eigene Dasein [wird] zunächst ›vorfindlich‹ […] von ihm selbst im Wegsehen von, beziehungsweise überhaupt noch nicht ›Sehen‹ von ›Erlebnissen‹ und ›Aktzentrum‹«. 39 Allerdings enthebt die Entdeckung des entscheidenden Wirkens nicht der zweifachen Frage nach dessen Antrieb und Gesetzlichkeit. Wie Heidegger andeutet, handelt es sich nur um einen ersten Schritt: »Ihr nächstes Ziel ist die phänomenale Hebung der einheitlichen ursprünglichen Struktur des Seins des Daseins, daraus sich seine Möglichkeiten und Weisen ›zu sein‹ ontologisch bestimmen«. 40 Wie steht es um die ontologische Bestimmung dieser Struktur selbst? Der Ursprung des Verstandes in seiner neuen Form als das Entwerfen der Seinsweise des Daseins ist unklar: »Das Verstehen ist entweder eigentliches aus dem eigenen Selbst als solchem entspringendes, oder uneigentliches« schreibt Heidegger in Sein und Zeit und fügt später hinzu: »[…] Seiendes von der Seinsart des wesenhaften Entwurfs des In-der-Welt-Seins hat als Konstitutivum seines Seins das Seinsverständnis«. 41 Dies ermöglicht eine Antwort auf zumindest einen Aspekt der oben gestellten Frage: Die Gesetzlichkeit des Wirkens der Orientierung ergibt sich aus dem Seinsverständnis, und der Verstand wird zu einer Auslegung einer solchen Gesetzlichkeit. Wie steht es aber um den zweiten Aspekt der Frage, nämlich der nach dem »Antrieb«, der das Dasein als ein Wirken der Orientierung »ermächtigt«? Auch wenn Heideggers Versuch, einen solchen Antrieb mit dem Be-
37 38 39 40 41
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 193, 197. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 153. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 159. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 174. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 194, 196.
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griff der Zeitlichkeit aufzuweisen, der die Natur eines solchen Wirkens als »Bewegtheit« und »Geschehen« 42 unterstreicht, so bleibt dieser Antrieb doch im Bereich des Obskuren, wenn man nicht »Der Ursprung des Kunstwerkes« sowie die Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis]) in die Überlegungen mit einbezieht. Somit erweist sich der erste Prototyp der supra-subjektiven Spontaneität – und damit der erste potentielle Ursprung und die Bedingung der Möglichkeit der Prädikation – als defizitär. Das »Seinkönnen« des Daseins beschreibt in adäquater Weise dessen Vermögen, in einer Reihe von Weisen zu »sein« sowie diese zu konfigurieren. Allerdings verweisen seine Eigenschaften der »Bewegtheit« und des »Geschehens« auf eine gewisse Passivität, die es daran hindert, die Rolle der reinen Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung zu übernehmen. Dieses Defizit zwingt Heidegger dazu, sich weiter in den Bereich des Supra-Subjektiven zu begeben und einen zweiten Prototyp der supra-subjektiven Spontaneität zu entwickeln – »das Zwischen« – und zwar in seiner Vorlesung Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (1935). Der entscheidende Schritt dieses Textes liegt darin, die Spontaneität nicht mehr auf die Dimension des Daseins zu beschränken, sondern sie als sowohl aus dem Dasein »entwerfend« als auch hinter dieses »rück-werfend« anzusehen. Einerseits besteht die Spontaneität als »Entwurf« in dem Vermögen des Daseins, gegenüber anderen Seinsweisen in verschiedenen Weisen zu »sein«. In Sein und Zeit hat Heidegger die Idee eines solchen »Entwurfs« bereits als das »Entwerfen« des »Spielraums« des Daseins beschrieben. Andererseits verweist die Spontaneität als »Rück-wurf« auf die Tatsache, dass das Dasein den Ursprung seines »Sein-könnens« auf etwas hinter ihm Liegendes zurückverfolgt (ein Gedanke, der in den Schriften der dann folgenden drei Jahre zu dem Konzept des Daseins als Sprung in das »Seyn« führen wird). In Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen wird diese Art einer »erweiterten« oder »transversalen« Spontaneität mit »dem Zwischen« identifiziert: Das Entscheidende ist aber […] zu erkennen und zu wissen: 1. daß wir uns immer im Zwischen, zwischen Mensch und Ding bewegen müssen; 2. daß dieses Zwischen nur ist, indem wir uns darin bewegen; 42
Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 495.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
3.
daß dieses Zwischen sich nicht wie ein Seil vom Ding zum Menschen umspannt, sondern daß dieses Zwischen als Vorgriff über das Ding hinausgreift und ebenso hinter uns zurück. Vor-griff ist Rück-wurf. 43
Diese Konzeption führt zum zweiten Prototypen der supra-subjektiven Spontaneität, »dem Zwischen«, und mit diesem zu einem zweiten potentiellen supra-subjektiven Vorprädikativen. Der Vorteil dieses zweiten Prototyps besteht darin, dass sich mit ihm das Dasein noch weiter vom Kant’schen Subjekt unterscheiden lässt, indem das Dasein auf eine Spontaneität hin geöffnet wird, die es überschreitet. Der Nachteil besteht allerdings in der Tatsache, dass auf einen »Durchgang« verwiesen wird und ein weiteres Herausarbeiten dessen erforderlich ist, was »hinter« dem Dasein liegt. Diese Frage wird vor dem Erscheinen der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) nicht mehr vollständig beantwortet, auch wenn sich Hinweise bereits in »Der Ursprung des Kunstwerkes« finden lassen. Der Kunstwerkaufsatz (1934–1936) behandelt den »Rückwurf«-Aspekt der »erweiterten« oder »transversalen« Spontaneität insofern, als er den Spielraum des Daseins auf die »Welt-Erde« des Kunstwerks »rück-wirft«. Damit erscheint die »Welt-Erde« als ein dritter Prototyp der supra-subjektiven Spontaneität und somit als eine dritte mögliche Deutung des supra-subjektiven Vorprädikativen. Die wesentlichen Wirkungen der »Welt-Erde« – Vereinigen, Verbinden und Regulieren – entsprechen zwar den prädikativen Funktionen bei Kant, das Konzept der »Welt-Erde« geht aber nicht nur weit über die Kant’schen Prototypen des Verstehens, der Einbildungskraft und der Zeitlichkeit hinaus, sondern auch über die Heidegger’schen Prototypen des Daseins und des »Zwischen«. Tatsächlich weist die Dimension der Erde innerhalb der konfigurativen Matrix der »Welt-Erde« bis zu Kluft des »Seyns« voraus und führt damit zum vierten Prototyp der supra-subjektiven Spontaneität und des Vorprädikativen, zum »Zeit-Raum« des »Ereignisses«. Mit der Rückwirkung bedeutet die überlegene Spontaneität der »Welt-Erde« eine Abschwächung für den schöpferischen Aspekt der Spontaneität des Daseins, das nun im Sinne eines »Hervorgehenlassen[s] in ein Hervorgebrachtes« 44 beschrieben wird. Allerdings hat der Prototyp der »Welt-Erde« seine Grenzen: Seine konfigurativen Operationen entspringen nämMartin Heidegger, Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den Transzendentalen Grundsätzen, Tübingen, Max Niemeyer, 1962, 188. 44 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 48. 43
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lich einer eher ursprünglichen Spontaneität, die der Kunstwerkaufsatz nur im Vorbeigehen als »die Freiheit«, »die Leere« beziehungsweise »das Nichts« identifiziert. Der fünfte und letzte Prototyp der supra-subjektiven Spontaneität und des Vorpradikativen wird in den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) vollständig entwickelt und daher im abschließenden Teil dieses Abschnitts behandelt. Im Kunstwerkaufsatz wird der »Spielraum«, den das Dasein als seine »Welt« laut Sein und Zeit konfiguriert und entwirft, als die durch das Kunstwerk eröffnete und geordnete »Welt« beschrieben. Diese »Welt« stellt eine konfigurative Matrix dar, die durch die grundlegenden Merkmale einer fügenden Einheitlichkeit und einer leitenden Gesetzlichkeit gekennzeichnet ist. In den ersten beiden Fassungen dieses Aufsatzes wird die vereinheitlichende Funktion von »Welt« wiederholt mit Hilfe von Variationen des Begriffs der »Fuge« zum Ausdruck gebracht: »Welt« ist ein »Gefüge von Verweisungen« 45 beziehungsweise eine »Fuge [der] Bezüge« 46. So beschreibt Heidegger in der zweiten Version den Tempel und seine »Welt« wie folgt: […] das Tempelwerk fügt erst und sammelt erst die Einheit jener Bezüge, in die Geburt und Tode, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Einzigkeit und Verfall eines Volkes eingefügt sind. Die waltende Einheit dieser Bezüge nennen wir eine Welt. […] Das Tempelwerk ist die fügende Mitte aller Fugen der jeweiligen Welt. 47
Die durch das Kunstwerk eröffnete »Welt« ist selbst einheitlich und dient als Quelle der Einheitlichkeit für alles innerhalb ihres Bereichs: Sie ist die Haupt-Fuge, ein Grundverhältnis, das die jegliche Synthese ermöglicht. Außerdem wirkt die »Welt« in gewisser Weise zugleich als »Geleit« und »Verwalter«: »Welt weltet, sie umleitet unser Dasein als ein Geleit, worin uns die Weile und Eile, die Ferne und Nähe, die Weite und Enge alles Seienden offenbleibt. […] weisend hält es unser Tun und Lassen entrückt in ein Gefüge der Verweisungen« 48. HeidegHeidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 9. Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 34. 47 Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 26. 48 Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 9. Vgl. Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 28, 30: »Welt waltet. […] Die Welt hält unser Tun und Lassen entrückt in ein Gefüge von Verweisungen […] Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge erst ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge. […] Welt ist die unser Dasein umwaltende Fuge, deren Weisung gemäß sich alles fügt, was über uns verfügt ist und daher von uns entschieden werden muss. Das Wissen um die Welt – um diese weisende Fuge – geht allem Kennen der Dinge voraus«. 45 46
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
ger geht so weit, von »Welt« als einem »Rechte« und einem »Maß« zu sprechen. 49 All diese Metaphern – Geleit, Regel, Weiser, Recht, Maß – gehören in den Bereich der Gesetzlichkeit, der das Dasein unterworfen ist, dem es »untersteht« anstatt sie zu verstehen: »Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen […]« 50. Die synthetische und gesetzliche Spontaneität des Daseins wird auf diese Weise in ein Kunstwerk transponiert, wodurch dem Dasein das alleinige Privileg des »Entscheidens« 51 überlassen wird, wenn es um die zahllosen konfigurativen Möglichkeiten geht, die ihm von der »Welt« geboten werden. Im Kunstwerkaufsatz erreicht der Wirkungsbereich der »Welt« sein volles Potential allerdings erst in engster Verbundenheit mit seinem Ergänzungsmodus, der »Erde«. Die »Erde« ist ein Strom, eine Strömung oder ein Verströmen, entstanden aus der Kluft des »Seyns« (wie in den Beiträgen zur Philosophie [Vom Ereignis] herausgearbeitet wird). Die entscheidenden Wesenszüge ihres synthetischen Wirkens sind das In-Einklang-Bringen und das Ausgrenzen. 52 Die »Erde« entfaltet sich aus der unüberbietbaren, ständigen Fülle des »Seyns« zu einer Vielfalt einfacher Weisen und Gestalten 53: Das »Verströmen« der »Erde« »ist kein Verwischen«, sondern eher ein »Ausgrenzen, das jedes Anwesende in sein Anwesen begrenzt« 54. Es hat eine zweifache Wirkung, indem es Gestalt sowohl durch Konsistenz als auch durch Begrenzung verleiht. Die enge Zusammengehörigkeit dieser kontrastierenden, aber dennoch komplementären Wirkungsweisen, die Heidegger mit dem Begriff des »Streits« ausdrückt, wird von der Kunst in der Form des Werkes angestiftet: »Hier, im Grundzug des Werkseins als Bestreitung, liegt der Grund der Notwendigkeit dessen, was wir ›Form‹ nennen« 55. Form – ob konzeptionell oder plastisch – entsteht demnach an der Schnittstelle der Funktionen von »Welt« und »Erde«. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 30. Vgl. Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 28: »Aber Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht, sondern das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen«. 51 Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 30. 52 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 33. Vgl. Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 32. 53 Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 4. 54 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 33. 55 Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 12. 49 50
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Während diese Beschreibung die Funktionen selbst als vor-formal (und somit vorprädikativ) versteht, ist sie nicht eindeutig, was das »Ausmaß« von deren Spontaneität betrifft: Sie sind sie zwar »im Werk […] am Werke« 56, werden allerdings nicht von diesem generiert, sondern sind lediglich innerhalb dessen wirksam. Mehr noch, ihr Zusammenwirken lässt sich zu einer ursprünglichen »Herkunft ihrer Einheit aus dem einigen Grunde« 57 zurückverfolgen, die ihre wechselseitige Einheit sowie die Einheitlichkeit ihrer jeweiligen synthetischen Wirkungen garantiert. Um es ganz klar zu sagen: Dieser Grund ist unzugänglich und ein Geheimnis: 58 »Der Sprung des Ursprungs bleibt aber seinem Wesen nach Geheimnis, denn der Ursprung ist eine Weise jenes Grundes, dessen Notwendigkeit wir Freiheit nennen müssen« 59. Dennoch gibt es für diese ultimative vorprädikative Spontaneität mehrere Namen: »die Freiheit«, »die Leere« beziehungsweise »das Nichts«. Über diese Namen hinaus gibt Heidegger einen weiteren Hinweis darauf, wo eine Bestimmung eventuell zu suchen wäre: Die ganze Abhandlung »Der Ursprung des Kunstwerkes« bewegt sich wissentlich und doch unausgesprochen auf dem Weg der Frage nach dem Wesen des Seins. Die Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt. […] Die Kunst […] gehört in das Ereignis, aus dem sich erst der »Sinn vom Sein« (vgl. »Sein und Zeit«) bestimmt. 60
Die ultimative vorprädikative Spontaneität ist nicht nur »hinter« dem Dasein zu suchen, sondern ebenso »unterhalb« des Kunstwerks – und zwar im »Ereignis«, das im Zentrum der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) steht und im nächsten Abschnitt diskutiert wird. Obwohl die ultimative vorprädikative Spontaneität also nicht im Kunstwerkaufsatz zu finden ist, enthält Heideggers »Rück-wurf« des Wirkens des Daseins auf das Kunstwerk doch bemerkenswerte Abänderungen in seiner Konzeption der Wirkungsmodi des Daseins. Wenn das Wirken des Daseins in das Kunstwerk »entrückt« und Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 34: »Wir fragen deshalb: was ist im Werk selbst aber zugleich über es hinaus am Werke?« 57 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 51. 58 Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 21. 59 Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 21. 60 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 73. 56
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
»eingerückt« 61 wird, erscheint es eindeutig als passiv: Sein eigentliches Vermögen wird nun mit Begriffen wie »erlitten«, »ertragen« oder »aushalten« bezeichnet. 62 In diesem Licht wird das Verstehen der Vernunft zu einer achtungsvollen Einstimmung auf das Sein: »Vielleicht ist jedoch das, was wir hier und in ähnlichen Fällen Gefühl oder Stimmung nennen, vernünftiger, nämlich vernehmender, weil dem Sein offener als alle Vernunft, die, inzwischen zur ratio geworden, rational mißdeutet wurde« 63. Das Schöpferische des Daseins wird jetzt beschrieben als ein »Lassen«, das die Schöpfung voranschreiten lässt: »wir [können] das Schaffen als das Hervorgehenlassen in ein Hervorgebrachtes kennzeichnen« 64. Das »Wirken« und »Wollen« des Daseins ist dabei ein »ekstatische[s] Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins« 65. Das Sein sowie sich selbst innerhalb dieses Rahmens wirken zu lassen, ist der primäre Modus, in dem die Spontaneität des Daseins laut Heidegger nun gedacht werden muss. In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass die »Welt-Erde« des Kunstwerks als der dritte Prototyp des supra-subjektiven Vorprädikativen über die Kant’schen Prototypen des Verstehens, der Einbildungskraft und der Zeitlichkeit sowie über die Heidegger’schen Prototypen des Daseins und des »Zwischen« hinausgeht. Dabei sind allerdings zwei weitere Prototypen in den Blick geraten, und zwar der »Zeit-Raum« des »Ereignisses« und die schweigende Einfachheit des »Seyns«, dessen primordiale Kluft den Prototypen des »ZeitRaums« eröffnet. Diese Prototypen, von denen sich der zweite als endgültiger Ursprung und Bedingung der Möglichkeit der Prädikation erweisen wird, werden in Heideggers Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) entwickelt, die nun zu diskutieren sind. Die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) sind sowohl Höhepunkt als auch Rekapitulation auf Heideggers Weg vom Bereich des Subjektiven zum Supra-Subjektiven. Einerseits handelt es sich um eine umfassende Kritik der entwurzelten und somit korrumpierten Spontaneität des Kant’schen Subjekts: endlich, vorhersagbar und abgeschlossen. Andererseits handelt es sich um den Ansatz einer
61 62 63 64 65
Heidegger, »Vom Ursprung des Kunstwerkes«, 13. Heidegger, De l’origine de l’œuvre d’art, 48. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 9. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 48. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, GA 5, 71.
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»Transfiguration« dieser Spontaneität durch die Rückbindung an ihren endgültigen, aktiven und schöpferischen Ursprung, das »Seyn«: einfach, notwendig, schweigend. Im Kontext dieses Aufsatzes ist an diesem Übergang vor allem der Unterschied zwischen zwei ganz verschiedenen Gruppen prädikativer Formen und Funktionen, prädikativer Ursprünge, und Vorprädikativa von Interesse. Die »transfigurierte« Prädikation hat einen supra-subjektiven Ursprung, das »Seyn«, und operiert innerhalb eines supra-subjektiven Bereichs, des »Zeit-Raums«. In der Rückschau wird klar, dass alle Prototypen, die zu diesem höheren Ursprung und zu dieser höheren Art der Prädikation geführt haben, vom Dasein zum »Zeit-Raum«, den »genetischen Marker« des »supra-« aufweisen. Dennoch ist dieser »Marker« nirgends hervorstechender als im »Über-« des »Übermaßes« der Dichtung, der wirkmächtigsten Form und Funktion der Prädikation. In Bezug auf das Dasein steht der Marker für das Vermögen, »über« und oberhalb seiner selbst zu sein, und in Bezug auf das »Seyn« für das Vermögen des »Überfließens«, durch das die Kluft des »ZeitRaums« entsteht. Somit heißt »Prädizieren« für Heidegger nicht nur Denken, sondern schaffendes Denken beziehungsweise ein »denkerischer Schaffender« zu sein. Im Gefolge von Heideggers ständiger Neubewertung der Kant’schen Subjektivität in den 1920ern und 1930ern Jahren entwickeln sich die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) zu einer wahrhaften »Kritik der Vernunft« sowie zu einem Versuch ihrer »Transfiguration«. Die fortschreitende Erstarrung der vereinheitlichenden und regulierenden Operationen des Verstandes als Ergebnis der Abtrennung von seiner ursprünglichen, »supra-subjektiven«, spontanen Quelle wird in den Paragraphen §§ 102–110 dargelegt 66 und mit der prägnanten Formulierung »λόγος – ratio – intellectus« 67 auf den Begriff gebracht. Diese Formulierung beschreibt eine Entwicklung, laut der λόγος allmählich auf die rein menschliche Methode des Messens, der Untergliederung und der Systematisierung reduziert wird. 68 Wenn λόγος erst einmal mit der ratio gleichgesetzt ist, und die ratio als das begriffliche und mathematische Maß alles Seiendes interpretiert wird, dann ist die Vernunft damit der Gegebenheit und der mechanischen Ausführung der vereinheitlichenden und regulierenden 66 67 68
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 198–222. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 180. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 198–222.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
Funktionen ausgeliefert, deren schöpferischer Ursprung dadurch blockiert ist, und zwar zusammen mit einer jeden Möglichkeit zur Erneuerung und Neukonfiguration der Vernunft. Im Rahmen einer solchen insularen Vernunft verblasst die »Seiendheit des Seienden […] zu einer ›logischen Form‹, zum Denkbaren eines selbst ungegründeten Denkens.« 69 Bei dieser logischen Form kann es sich nur noch um das vorherbestimmte Ergebnis einer vorprogrammierten logischen Funktion handeln, die konstitutionell begrenzt, unveränderlich, vorhersagbar und abgeschlossen ist. Für Heidegger gibt es nur eine Möglichkeit, eine derart verkümmerte Vernunft wieder zum Leben zu erwecken: Sie muss »hinter sich selbst zurückgestellt [werden] in völlig andere Bestimmungsräume«. 70 Heidegger besteht darauf, dass dieser Bestimmungsraum weder menschlich ist noch durch das animal rationale oder das Subjekt bestimmt oder getragen werden kann: »Dieser Bereich jedoch ist durch und durch nicht menschlich, d. h. nicht bestimmbar und nicht tragbar durch das animal rationale und ebensowenig durch das Subjektum«. 71 Die Vernunft hat keinen Zugriff auf diese Quelle bekommen, und ist bei diesem Bestreben vollständig abhängig vom »Seyn«: »Solches Wissen läßt sich nicht geradehin bewerkstelligen. […] vermögen wir solches nie von uns aus. Das Seyn selbst muß uns aus dem Seienden heraussetzen«. 72 Das »Seyn« führt die Vernunft wieder auf ihren Ursprung zurück und versetzt sie in den konfigurativen »ZeitRaum«, der sich aus dem »Seyn« heraus sowie inmitten des »Seyns« entfaltet, und zwar als das ursprüngliche Geschehen der Wahrheit. Der »Zeit-Raum« ist dasjenige χωρισμός, innerhalb dessen die »fügenden« Operationen der Vernunft neu konfiguriert werden müssen: »jenes Wesen des Seyns in seiner Erzitterung [wird] das Gefüge des denkerischen Werkes selbst bestimmen«. 73 Es ist dieser Bereich der Fuge, der die vereinheitlichenden und gesetzlichen Operationen des Denkens ermöglicht: »Zeitigendes Räumen – räumende Zeitigung (vgl. Bestreitung des Streites) als nächster Fügungsbezirk für die Wahrheit des Seyns, aber kein Abfall in die gemeinen formalen Raum- und Zeit-Begriffe (!) sondern Rücknahme in den Streit, Welt
69 70 71 72 73
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 111. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 479. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 490. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 481. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 4.
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und Erde – Ereignis.« 74 In den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis) übernehmen »Zeit-Raum« und »Ereignis« die konzeptionellen Funktionen der »Welt-Erde« sowie des Werkes, wobei sie auf einer tieferen Ebene angesiedelt sind als das Kunstwerk – oder, alternativ, wobei das »Werkhafte« als eine Eigenschaft bestimmt wird, die in ursprünglicher und eigentlicher Weise zum »Seyn« gehört: »›Das Ereignis‹ wäre der rechte Titel für das ›Werk‹ […] Das ›Werk‹ : der sich entwickelnde Bau im Sichzurückwenden in den aufragenden Grund«. 75 Das Geschehen der Wahrheit des »Seyns«, das »Ereignis«, ist eine Operation des »Bildens« (Erbauen, Formen, Konfigurieren), die nur insoweit »selbstentwickelnd« (d. h. spontan) ist, als sie durch ihren »aufragenden Grund«, also durch das »Seyn« selbst, in Gang gesetzt wird. Das bedeutet, dass der spontane Ursprung der Einheitlichkeit und Gesetzlichkeit – »das Geheimnis der Einheit innigster Näherung in der äußersten Entfernung, die Ausmessung des weitesten Zeit-Spiel-Raumes des Seyns« 76 – in noch größerer Tiefe als das »Ereignis« selbst zu suchen ist. Die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) liefern einen Hinweis darauf, wie dieser Ursprung zu denken ist. Heidegger fragt: »Welcher Art ist die ursprüngliche Einheit, daß sie sich in dieser Scheidung auseinanderwirft, und in welchem Sinn sind die Geschiedenen hier als Wesung der Ab-gründigkeit gerade einig?« 77 Der Unterschied des »Ereignisses« entspringt einer ursprünglicheren Einheitlichkeit, die Heidegger als »die Einfachheit des Seyns« bezeichnet: »So reich gefügt und bildlos das Seyn west, es ruht doch in ihm selbst und seiner Einfachheit«. 78 Das ursprüngliche »Seyn« ist einfach, selbst-genügsam, formlos und ohne Figur. Als der Ursprung aller Gesetzlichkeit stellt es darüber hinaus eine Notwendigkeit par excellence dar: »Diese Not gehört zur Wahrheit des Seyns selbst. Am ursprünglichsten ist sie Not in der Nötigung zu der Notwendigkeit der höchsten Möglichkeiten, auf deren Wegen der Mensch schaffend – gründend über sich hinaus und in den Grund des Seienden zurück geht«. 79 Die Einheitlichkeit und Gesetzlichkeit des »Zeit-Raums« des »Ereignisses«, der »Welt-Erde« des Kunstwerks sowie des »Spiel74 75 76 77 78 79
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 261. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 77. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 408. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 383. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 470. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 46.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
raums« des Daseins werden damit auf die Einfachheit und Notwendigkeit des »Seyns« zurückgeführt. Eine solche Einfachheit, Notwendigkeit und Stille geht aller Einheitlichkeit, Gesetzlichkeit und Rede voraus und bedingt sie, weshalb sie als das ursprüngliche Voprädikative bezeichnet werden kann. Selbst jenseits allen Maßes, 80 enthält dieses Vorprädikative das Maß aller Dinge in sich selbst, wobei es sich um ein Maß handelt, das aus dem »Zeit-Raum«, der »Welt-Erde« sowie dem »Spielraum« des Daseins und selbst dem Wirken der Vernunft des Subjektes hervorgeht und diese durchdringt: »Das Schweigen ist das verborgenste Maß-halten. Es hält das Maß, indem es die Maßstäbe erst setzt«. 81 Das »Ereignis« stellt die erste Instanziierung des verborgenen Maßes der einfachen und notwendigen »Fuge« oder »Fügung« des »Seyns« dar: »Maß-setzung als Erwesung des Fugs und seiner Fügung (Ereignis)«. 82 Es ist die Augenblickstätte der spontanen, ekstatischen Phänomenalisierung der Einheitlichkeit und Gesetzlichkeit des »Seyns«, maßgebend für alles Seiende, einschließlich des Daseins: »das Seyn als Er-eignis, das aus diesem kehrigen Übermaß seiner selbst geschieht«. 83 Ist das Dasein erst einmal durch das »Seyn« in den »Zeit-Raum« versetzt, gilt es, noch ein letztes Hindernis auf dem Weg zur Erneuerung der Vernunft zu überwinden: dasjenige der Inkommensurabilität des begrenzten Maßes des Daseins und des unbegrenzten »Maßes« des »Seyns«. Dies ist der Punkt, an dem die Kunst – beziehungsweise, um genauer zu sein, die Dichtung, – wieder ins Spiel kommt, und zwar als das einzigartige Maß der Umwandlung und als Bedingung der Nähe von Dasein und »Seyn«, das »Übermaß«. Tatsächlich bestätigt Heidegger, dass sich seine Untersuchung, soweit sie den Ursprung und das Wesen des Kunstwerks betrifft, unmittelbar auf diesen Punkt bezieht: »Aus diesem Bereich entnommen und deshalb hierher gehörig die gesonderte Frage nach dem ›Ursprung des Kunstwerkes‹ (vgl. den Freiburger Vortrag sowie die Frankfurter Vorträge)«. 84 In den Beiträgen wird das »Übermaß« der Dichtung als Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 12: »Das Beständnis des Seyns selbst trägt sein Maß in sich, wenn es überhaupt noch eines Maßes bedarf«. Vgl. Heideggers Rede vom Seyn als »ab-gründige Unerschöpfung« in: Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 29. 81 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 510. 82 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 510. 83 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 413. 84 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 392. 80
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dasjenige einzigartige Vermögen des Daseins bestimmt, das es ihm erlaubt, »Übersichhinaus[zu]fahren in das uns Überhöhende«. 85 Dieses Vermögen des »In-dem-Seyn-Seins« übertrifft das Vermögen des »In-der-Welt-Seins«, wie es in Sein und Zeit entwickelt wurde, und stellt ein verbessertes, ekstatisches Gegenstück dar, das der ekstasis des »Seyns« im »Zeit-Raum« des »Ereignisses« gerecht wird. Allein der »denkerisch Schaffende« ist zum Sprung in das »Seyn« fähig: »Die Seinsfrage ist der Sprung in das Seyn, den der Mensch als der Sucher des Seyns vollzieht, sofern er ein denkerisch Schaffender ist. Sucher des Seyns ist im eigensten Übermaß sucherischer Kraft der Dichter, der das Seyn ›stiftet‹«. 86 In diesem Zusammenhang steht »denkerisches Schaffen« dafür, sich selbst als den »Grund« darzubieten, auf dem das »Seyn« seine Entwürfe skizzieren beziehungsweise anlegen (λέγειν) kann: »dem geschichtlichen Menschen noch einmal ein Ziel zu geben: Der Gründer und Wahrer der Wahrheit des Seyns zu werden, das Da zu sein als der vom Wesen des Seyns selbst gebrauchte Grund«. 87 Mit diesem letzten Gedankenschritt wird die Wiederherstellung des primordialen spontanen Ursprungs des vereinheitlichenden und gesetzlichen Wirkens der Vernunft abgeschlossen, allerdings mit einer unerwarteten und verblüffenden Konsequenz. Der »denkerisch Schaffende« stellt sich als eine »Schöpfung« des »Seyns« heraus, zumindest im logischen, wenn nicht sogar im ontologischen Sinn. Während die Einheitlichkeit und Gesetzmäßigkeit seines transfigurierten Wirkens demjenigen des Kant’schen Subjekts, dem Dasein und selbst noch dem Kunstwerk, weit überlegen sein mag, so bleiben sie doch unzweifelhaft abgeleitet – wenn nicht vom jüdisch-christlichen Gott oder dem Kartesischen/Kant’schen »Ich-Prinzip«, dann vom einfachen, notwendigen und schweigenden »Seyn«. Insgesamt wurde damit Heidegger’s Denkweg, geleitet vom Imperativ der Spontaneität, aus dem Bereich des Subjektiven in den Bereich des Supra-Subjektiven nachvollzogen. Es wurden vier Prototypen des supra-subjektiven Vorprädikativen untersucht, nämlich das »Sein-können« des Daseins, »das Zwischen« beziehungsweise der »Spielraum« des Daseins, die »Welt-Erde« des Kunstwerks sowie der »Zeit-Raum« des »Ereignisses«. Diese Protoypen führten Hei85 86 87
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 10. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 11. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 16.
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Der supra-subjektive schöpferische Ursprung der Prädikation bei Heidegger
degger schließlich zum ersten aktiven und schöpferischen Ursprung der Möglichkeit der Prädikation und zu deren Bedingung: zum einfachen, notwendigen und schweigenden »Seyn«. Jeder dieser Prototypen hat Heidegger immer näher zu dieser Spontaneität par excellence gebracht: zu einer Freiheit, die dem Abgrund der Kluft innerhalb des »Seyns« entströmt anstatt dem umschriebenen »Zentrum des Subjekts«. Nach der hier vertretenen Lesart hat die Aufdeckung dieses supra-subjektiven Vorprädikativen Heidegger in die Lage versetzt, das Dasein in den »denkerisch Schaffenden« zu »transfigurieren« sowie die Prädikation – in die Dichtung.
4.
Prädikation als Dichtung
In diesem Aufsatz wurde das Vorprädikative als der Ursprung und die Bedingung für die Möglichkeit der Prädikation bestimmt. Anstatt diesen Ursprung im »Leben« oder in der »Existenz« zu suchen, wurde Heideggers Weg in die Tiefen des Kant’schen Subjekts nachvollzogen, um in der Vereinigung des Verstandes, der Verbindung der Einbildungskraft sowie der Syndosis der Zeitlichkeit die »freie Verbindung« der Spontaneität zu entdecken. Auf diese Ebene wurde das einzige potentiell mögliche subjektive Vorprädikative verortet. Anschließend wurde Heideggers Denken dabei beobachtet, wie es die Defizite einer solchen subjektiven Spontaneität diagnostiziert, da deren Selbsttätigkeit sich eher als ein »Wirken« als ein »Tun« herausgestellt hat und ihre Selbstbestimmung – eher als »gegeben« statt als »geschaffen«. Diese Entdeckungen haben Heidegger dazu geführt, sich in den Bereich des Supra-Subjektiven zu begeben, in dem nach und nach vier Prototypen des supra-subjektiven Vorprädikativen erschienen sind (das »Sein-können« des Daseins, das »Zwischen«, die »Welt-Erde« des Kunstwerks, der »Zeit-Raum« des »Ereignisses«) sowie der endgültige Ursprung und die Bedingung der Möglichkeit der Prädikation, das einfache, notwendige und schweigende »Seyn«. Basierend auf der damit durchgeführten Reflexion auf dem Weg, der Heidegger zu diesem aktiven und schöpferischen supra-subjektiven Vorprädikativen führte, wird hier vorgeschlagen, dass dieses schöpferische supra-subjektive Vorprädikative mit einer »Transfiguration« der Bedeutung des Begriffs »Prädikation« einhergeht, der von nun an als »denkerisches Schaffen« verstanden wird. Indem sie diesem aktiven und schöpferischen Ursprung entströmt, geht die Spon187 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Yuliya Tsutserova
taneität des »denkerisch Schaffenden« über das Kant’sche Subjekt hinaus und steht über ihm. Im Gegensatz zu den endlichen, unveränderlichen, vorhersagbaren und abgeschlossenen Möglichkeiten der Kant’schen Prädikation sind die Möglichkeiten der Heidegger’schen Prädikation – insofern ihr Wesen in der Dichtung besteht – unendlich, veränderlich, unvorhersagbar und zum Ende hin offen.
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Faktizität
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Metabolé des Vorprädikativen Faktizität und die ontischen Wurzeln der Prädikation Bernardo Ainbinder / Ovidiu Stanciu
Zusammenfassung: Im § 73 seiner Vorlesung über die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) formuliert Heidegger eine Selbstkritik, die auf den ersten Blick überraschen mag. Er behauptet hier nicht nur, dass die gesamte Tradition affirmative wahre Aussagesätze auf illegitime Weise privilegiert habe, indem sie davon ausging, dass sich daraus alle Arten von Aussagesätzen (also auch affirmative falsche, negative wahre und negative falsche) ableiten ließen. Heidegger folgert vielmehr weiter, dass auch die Art und Weise, in der er selbst die Frage nach dem logos in Sein und Zeit entfaltet, vom Beharren dieses Vorurteils spreche. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die Auswirkungen dieser Behauptung auszuloten sowie zu zeigen, auf welche Weise Heideggers Selbstkritik dazu auffordert, eine neue Deutung der Beziehung des Vorprädikativen zum Prädikativen zu verfolgen. Sein Vorhaben, das Ganze der logos-Struktur zu klären und nach dem Grund ihrer Möglichkeit zu fragen, führt zu einer Radikalisierung der Idee des Vorprädikativen und damit in die Richtung einer Faktizität, die nicht gänzlich in dem »Bedeutungsraum« gefangen ist, aber dennoch einen solchen »Bedeutungsraum« involviert und daher normativ untersucht werden kann.
1.
Wahrheit, logos und Welt: Heidegger und die ontischen Wurzeln der Ontologie
In den Schlussparagraphen seiner Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik vom Wintersemester 1929/30 nimmt Heidegger eine erneute Untersuchung des logos apophantikos in Angriff sowie des Bereiches, in dem er verwurzelt ist: der »vorprädikativen Offenbarkeit« 1. Wie bereits in seinen vorherigen Untersuchungen, besteht er 1
Beide Autoren haben in gleichem Umfang zu diesem Aufsatz beigetragen. Die For-
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Bernardo Ainbinder / Ovidiu Stanciu
auch hier auf dem untergeordneten Charakter der prädikativen Enthüllung sowie auf der Tatsache, dass dem Satz notwendig eine gründende Beziehung zum Seienden vorausgehe: »[D]er logos stellt nicht erst einen Bezug zum Seienden als solchem her, sondern gründet seinerseits auf einem solchen«. 2 Die prädikative Aussage kann unsere ursprüngliche Offenheit für die Welt nicht begründen, sie kann lediglich in einem Bereich wirksam werden, der bereits artikuliert bzw. von Bedeutung durchflutet ist. Heidegger wiederholt somit eine für sein Denken typische Voraussetzung, welche darin besteht, das traditionelle Verständnis der prädikativen Aussage als einzigem Wahrheitsträger zurückzuweisen, was mit dem Appell verknüpft wird, einen ›Schritt zurück‹ aus dem prädikativen Bereich zu den vorprädikativen Bedingungen der Möglichkeit der Prädikation zu gehen. Dennoch stellt dies keine bloße Neuformulierung bereits bekannter Ergebnisse dar – vielmehr erweitert Heidegger ihre Voraussetzungen und Ziele. Er verfolgt nun eine komplexere und nuanciertere Deutung des Bereichs des Vorprädikativen, die in die Darstellung seiner dreifachen Struktur mündet: Während bislang das Verständnis des Seins und seiner Differenz zum Seienden im Vordergrund standen, hebt Heidegger nun auch die Wichtigkeit der normativen Dimension hervor, die das Vorprädikative beinhaltet, sowie ihren gesamtheitlichen Charakter. 3 Diese drei Bestandteile, welche die Strukturelemente des Vorprädikativen ausmachen, werden unter dem Titel »Weltbildung« zusammengefasst. Die Untersuchung des Grundes des logos gleicht nun einer Auslegung der Weltbildung in ihrer gesamten Breite bzw. einer Auslegung des Waltens der Welt. Sofern der Weltbegriff einen Hauptbestandteil des Heidegger’schen Denkens seit den ersten Freiburger Vorlesungen ausmacht, ist unbestreitbar, dass dieser Begriff im Nachgang von Sein und Zeit eine wichtige semantische Wandlung erfährt und somit eine neue Funktion gewinnt. Die strukturelle Abhandlung der Welt, die in seiner früheren Analyse vorrangig war, wird nun um eine neue Perspektive erweitert, welche die Erkundung einer »eigentümlichen Probleschung für diese Arbeit wurde durch das Fondecyt Postdoc Projekt Nr. 3180721 (PI: Ovidiu Stanciu) und durch das Conicyt Projekt REDI 170493 (PI: Bernardo Ainbinder) finanziert. 2 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 492. 3 Siehe Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 509.
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Metabolé des Vorprädikativen
matik, die nun das Seiende im Ganzen zum Thema hat« 4, bezweckt. Folglich zeigt Heidegger in einer berühmt gewordenen Passage seiner Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz aus dem Sommersemester 1928, in der er auf die Unmöglichkeit hinweist, das gesamte thematische Feld der Philosophie fundamentalontologisch zu erschließen, 5 dass sich die Frage nach der Welt – genauer verstanden als die Frage nach dem Seienden im Ganzen – einer bloßen »ontologischen« Abhandlung entzieht und, wird sie angemessen thematisiert, einen Umschlag nach sich zieht bzw. eine innere Umwandlung (metabolé) mitten im Feld der Ontologie. Aus dieser inneren Umorientierung der Ontologie entspringt ein neuer Bereich des Fragens, den Heidegger als Metontologie bezeichnet. Er zieht zwei entscheidende Konsequenzen nach sich: Eine »Regionalisierung« der Ontologie (denn die Probleme, welche die Metontologie zu bewältigen hat, liegen jenseits des ontologischen Begriffs) 6 sowie eine »Apriorisierung der Faktizität« 7, insofern die Frage nach dem »ontischen Grund der Ontologie« den Bogen zur Metontologie schlägt. In seinem posthumen Werk Welt und Unendlichkeit argumentiert László Tengelyi dafür, die Wende in Heideggers Untersuchung des Vorprädikativen und seine neue Bestimmung der Welt als eng miteinander verknüpft und beide als seinem metontologischen Projekt zugehörig zu betrachten. Er stützt seine Auslegung auf die Analyse einer Passage der Vorlesung von 1929/30, in der Heidegger seine oben umrissene Beschreibung des Vorprädikativen anvisiert. Tatsächlich findet sich im § 73 seiner Grundbegriffe der Metaphysik eine Selbstkritik, die auf den ersten Blick überraschen mag. Heidegger behauptet hier nicht nur, dass die gesamte logische Tradition affirmative wahre Aussagesätze zu Unrecht privilegiert habe, indem sie davon ausging, dass aus ihnen auch alle anderen Arten von Aussagesätzen Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 199. 5 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 199. 6 Die Unzulänglichkeit der Ontologie wird erneut in der Vorlesung aus dem Jahre 1929/30 bekräftigt, wo Heidegger schreibt, dass »auch die Ontologie und ihre Idee […] fallen [müsse], gerade weil die Radikalisierung dieser Idee ein notwendiges Stadium der Entfaltung der Grundproblematik der Metaphysik war« (Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 522). 7 Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst. Eine Phase in Heideggers Denken, Frankfurt am Main, Klostermann, 1981, 23. 4
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Bernardo Ainbinder / Ovidiu Stanciu
(affirmative falsche, negative wahre und negative falsche) abgeleitet werden könnten, sondern auch, dass sich diese vorurteilshafte Privilegierung bis in seine eigene Erörterung des logos in Sein und Zeit fortsetze. Die Abhandlung des affirmativen und wahren Aussagesatzes als Musterfall des logos zieht nach Tengelyi eine problematische Konsequenz für die Analyse des Vorprädikativen nach sich. Durch diese drastische Einengung wird nämlich nicht nur unser Verständnis des Vorprädikativen verzerrt – auch die Beweislast einer Untersuchung des Vorprädikativen wird erheblich reduziert, da sie nicht die gesamte Breite der Enthüllungsmöglichkeiten des logos berücksichtigen muss, sondern lediglich die besondere Form, in der wir aufzeigen, dass etwas wirklich (manifest) ist. Laut Tengelyi 8 weist Heidegger in der Formulierung seiner selbstkritischen Anmerkung die »Gleichsetzung der Wahrheit mit der Unverborgenheit der Welt« zurück, denn eine solche Gleichsetzung beraube »das Urteil des eigentümlichen Spielraums […], in dem es wahr oder falsch sein kann«. Damit rücken zwei grundlegende Gedanken in den Vordergrund. Erstens kann dann die Wahrheit nicht der Unverborgenheit des Seienden gleichen, sondern muss eine solche vielmehr voraussetzen, denn ohne diese Unverborgenheit wäre sie eines jeden Grundes beraubt. Insofern sie jedoch in einer Stellungnahme gegenüber dem Offenbaren besteht, muss sie zugleich über die Unverborgenheit als solche (also nicht nur die Unverborgenheit des Seienden, sondern auch des Seins) 9 hinausgehen. Zweitens muss eine vollständige Bestimmung des Vorprädikativen einen Spielraum für Wahrheit und Falschheit berücksichtigen, denn seine Analyse ist erst dann abgeschlossen, wenn eine glaubwürdige Erklärung für die Bivalenz von Aussagen vorliegt. Nach Tengelyi darf diese Revision ferner nicht nur als Erweiterung der Strukturen des Vorprädikativen und als ein Weg des Hervorbringens einer normativen Dimension der vorprädikativen Erfahrung betrachtet werden. Sie ermögliche es Heidegger zudem, einem der wirkungsmächtigsten Einwände gegen sein Verständnis von Wahrheit zuvorzukommen, nämlich dem Einwand, den Ernst Tugendhat in den 1960er Jahren formuliert hat. 10 Danach scheitere
László Tengelyi, Welt und Endlichkeit, Freiburg, Alber, 2014, 253–259. Tengelyi, Welt und Endlichkeit, 256: »[D]er urteilende Mensch muss über das Seiende und das Sein hinausgehen«. 10 Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin, de Gruyter, 1967. 8 9
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Metabolé des Vorprädikativen
Heideggers Gleichsetzung der »Unverborgenheit« mit der »ursprünglichen Wahrheit« nämlich daran, die gesamte Breite des spezifischen Sinnes von Wahrheit auf den Begriff zu bringen, da dieser nicht nur Unverborgenheit beinhalte, sondern eben auch die Möglichkeit, das Unverborgene bestätigt oder aber negiert zu finden. Mit seiner Idee eines »Spielraums« für Wahrheit und Falschheit hat Heidegger nach Tengelyi jedoch die erforderlichen theoretischen Mittel bereitgestellt, um Wahrheit in ihrem spezifischen Sinn zu bestimmen und folglich einer solchen Kritik zu entgehen. Auf den folgenden Seiten wollen wir die Auswirkungen untersuchen, die aus Heideggers Überdenken des vorprädikativen Bereiches resultieren, sowie die Besonderheit seiner Auffassung von Wahrheit in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 interpretierend nachvollziehen. Unsere Hypothese dabei ist, dass diese neue Orientierung dazu dient, das Vorprädikative nicht nur als notwendige Voraussetzung, sondern zugleich als Grund der prädikativen Aussage darzulegen. Heideggers Analyse bezweckt nicht nur die Aufdeckung des Hintergrunds der Entstehung des prädikativen Verhaltens und die Bedingungen, welche die Wirksamkeit des prädikativen Urteils gewährleisten, sondern auch – radikaler –, die Ableitbarkeit des Prädikativen aus der vorprädikativen Erfahrung zu sichern. Dies wiederum impliziert, dass die Aufgabe, die er sich gestellt hat, kein bloßer Hinweis auf die Art und Weise ist, wie die vorprädikative Erfahrung von normativen Verpflichtungen durchdrungen wird, sondern die Feststellung der Tatsache, dass die Annahme einer normativen Haltung eine Beziehung zum Seienden im Ganzen voraussetzt. Abschließend werden wir prüfen, ob Heideggers neue Herangehensweise an das Vorprädikative tatsächlich im Rahmen eines metontologischen Projektes stattfindet oder ob sie nicht vielmehr eine alternative Untersuchung der Weltproblematik darstellt, die über den Begriffsrahmen der Metontologie hinausgeht.
2.
Die Metontologie Heideggers: einige Anmerkungen
In den Jahren nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit und im Zuge einer laufenden Entwicklung innerhalb des theoretischen Horizonts dieses Werkes – welches, im Gegensatz zur späteren Aneignung einer seinsgeschichtlichen Perspektive, als transzendental in einem weiten Sinne verstanden werden kann – führt Heidegger einige wich195 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
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tige begriffliche Innovationen in diese Rahmenbedingung ein. 11 Die wichtigsten Aspekte dieser Wende beziehen sich auf das Projekt einer Beschreibung der ontischen Gründung der Ontologie; die Aneignung einer »heuristischen Verwendung (disquotational use)« des Begriffs Metaphysik 12; die Rehabilitierung der Idee der Weltanschauung als legitimes Thema der Philosophie 13 sowie auf die größere Bedeutung, die der Begriff der Freiheit gewinnt. Diese ineinandergreifenden Interpretationsstränge leisten einen unbestreitbaren Beitrag zum neuen Verständnis des Vorprädikativen, das Heidegger nun erarbeitet. Zwar wurde die Idee, dass Heideggers Analyse des Vorprädikativen in seiner Vorlesung von 1929/30 über seine vorherigen Äußerungen hinausgeht, von der Forschung grundsätzlich anerkannt, sie wurde jedoch unterschiedlich interpretiert. Laut Franco Volpi liegt die Hauptwende dieser Analyse in einem Verständnis des logos, der seine Möglichkeit nicht einer gewissen »Einstellung« oder einem »enthüllenden Verhalten« verdankt, sondern eher der »Freiheit«. Folglich betone Heidegger weniger den aktiven Charakter der Enthüllung als vielmehr die Zugehörigkeit eines jeden subjektiven Vorhabens zu einem »Ereignis«, das über dieses Vorhaben hinausgeht und dieses allererst ermöglicht. Dieser Übergang dürfe daher nicht unterschätzt werden, da er bei näherer Betrachtung auf eine »Änderung, wenn nicht auf eine echte Kehrtwende« hinzuweisen scheine, und zwar nicht nur in Heideggers Verständnis des Vorprädikativen, sondern auch bezüglich seiner Gesamtposition. Laut Volpi ist dieser Nachdruck auf der Freiheit das Kennzeichen eines Übergangs aus einem »existenzial-ontologischen Apriori« zu einem Verständnis der DiFür eine stichhaltige exegetische Rekonstruktion bedeutender Wandlungen im Heidegger’schen Denken im Nachgang der Veröffentlichung von Sein und Zeit vgl. auch: François Jaran, La métaphysique du Dasein. Heidegger et la possibilité de la métaphysique, Bukarest, Zeta Books, 2011. 12 Joanna Hodge, Heidegger and Ethics, London, Routledge, 1995, 177. In Bezug auf die Leibnizvorlesung schreibt Heidegger an E. Blochmann: »[D]as letzte Marburger Kolleg diesen Sommer war ein neuer Weg oder vielmehr ein Beschreiten der Pfade, die ich glaubte noch langehin nur ahnen zu dürfen. All die Fragen, die Sie mit recht und ganz eindeutig stellen, gehören in dieses Feld der Metaphysik« (Martin Heidegger, Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, Marbach, Deutsche Schillergesellschaft, 1990, 24). 13 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 22: »Es gibt in der Tat eine philosophische Weltanschauung, aber sie ist nicht ein Resultat der Philosophie und nicht ihr als praktische Anweisung zum Leben angeheftet, sondern sie liegt im Philosophieren selbst«. 11
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mension des Ursprungs, die »den existenziellen Horizont des Daseins übertrifft und ermöglicht« 14. Das Vorprädikative erscheint demnach als der theoretische Ort, an dem die Abweichung Heideggers von seiner transzendentalen Perspektive bezeugt werden kann. Dadurch, dass er die Freiheit ins Zentrum seiner Bestimmung des Vorprädikativen stellt, evoziert er seine nachfolgende »Kehre« in Richtung einer seinsgeschichtlichen Besinnung. Auch wenn unbestreitbar ist, dass Heideggers Betonung der Freiheit tatsächlich als Grundlage für seine Kehre betrachtet werden kann, insofern sich diese Betonung retrospektiv mit seiner späteren Entfaltung des ›Freien‹ verknüpfen lässt, 15 ist doch eine solche Auslegung nicht unbedingt schlüssig. Erstens wird in einer solchen genealogischen Perspektive – unter Berücksichtigung der Freiheit als Stadium in einem Prozess der progressiven Radikalisierung, die zum Freien führt – nicht auf die spezifische Deutung eingegangen, die die Freiheit in der Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 erfährt, da sie lediglich als zu einer Übergangsphase gehörig betrachtet wird. Zweitens verschleiert ein solcher Interpretationsansatz das einzigartige Projekt, das Heidegger nach Sein und Zeit in Angriff nimmt, und das weniger die Zurückdrängung aller transzendentalen Untersuchungen im Blick hat als vielmehr die Herausstellung einer verbindlichen Grundlage für das Transzendentale. Daher ist es nach unserer Auffassung möglich und nötig, die Bedeutung des Begriffs »Freiheit« im unmittelbaren Nachgang von Sein und Zeit auszuarbeiten, und zwar innerhalb einer transzendentalen Rahmenbedingung. Dennoch darf die zentrale Stellung, die die Freiheit erlangt hat, nicht fehlgedeutet werden. Man sollte Heideggers diesbezüglichen Nachdruck nicht als Kennzeichen eines Versuchs missverstehen, die Fähigkeit zu favorisieren, sich gleichsam aus dem Kausalitätskomplex herausziehen und uneingeschränkt handeln zu können. Vielmehr beFranco Volpi, »La question du logos chez le jeune Heidegger«, in: Jean-François Courtine (Hg.), Heidegger 1919–1929. De l’herméneutique de la facticité à la métaphysique du Dasein, Paris, Vrin, 1996, 37. (Sämtliche Übersetzungen fremdsprachiger Sekundärliteratur stammen von den Verfassern dieses Beitrages.) Siehe auch Franco Volpi, Heidegger e Aristotele, Roma, Laterza, 2010, Kapitel IV, »La collocazione del logos nell’accadere della verità«, 164–170. Der gleiche interpretative Weg wird, wenn auch in einem anderen Kontext, von Claudia Serban verfolgt, vgl. Phenoménologie de la possibilité, Paris, PUF, 2016, 168. 15 Vgl. inter alia Heidegger, Parmenides, GA 54, 213: »Das Freie ist die Bürgschaft, die bergende Stätte für das Sein des Seienden. Das Offene ist als das Freie das Bergende und die Bergung des Seins«. 14
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zeugt Freiheit das Verweilen des Daseins in einem normativen Raum: »Nur was als freies Wesen existiert, kann überhaupt einer Gesetzlichkeit als verbindlicher verhaftet sein. Nur Freiheit kann Ursprung von Bindung sein« 16. Folglich erwägt Heidegger den mutigen Schritt, zu behaupten, dass Dinge einen verbindlichen Status nur dann erlangen können, wenn das Dasein in der Lage ist, eine normative Haltung anzunehmen – also eine Verbindlichkeit hervorzubringen und dieser auch Folge zu leisten. Dementsprechend erweist sich die Freiheit als die notwendige Bedingung der Zuweisung von normativen Schranken. Freiheit stellt eine eigentümliche Eigenschaft des menschlichen Verhaltens dar, nämlich die Offenheit gegenüber normativen Ansprüchen bzw. die Aneignung einer normativen Haltung in Bezug auf das, was erscheint (was auch immer es sei). Dieser Gedanke wird in einem Text aus dem Jahre 1929 explizit formuliert: »Hierin enthüllt sich aber die Freiheit zugleich als die Ermöglichung von Bindung und Verbindlichkeit überhaupt. Freiheit allein kann dem Dasein eine Welt walten und welten lassen. Welt ist nie, sondern weltet« 17. Diese Interpretationslinie wurde jüngst von Sacha Golob verfolgt. Er erkennt nicht nur an, dass »eine der bemerkenswertesten Charakteristika des Heidegger’schen Werks in den später 1920er und den früheren 1930er Jahren die extreme Hervorhebung der Freiheit ist« 18, sondern weist auch darauf hin, dass Freiheit normativ zu verstehen sei, nämlich als die »Fähigkeit, Normen anzuerkennen und sich ihnen zu stellen und auf ihrer Grundlage auch entsprechend zu handeln« 19. Dennoch bringt die Annahme einer solchen Orientierung eine weitere Schwierigkeit mit sich. Falls »Freiheit Sichverstehen aus dem eigenen Seinkönnen« 20 ist, wie es in Heideggers letzter Marburger Vorlesung heißt – ist dann die Betonung der Freiheit lediglich eine Umformulierung der Grundeinstellung, nach der das Dasein »umwillen seiner selbst« existiert? Freilich, nur ein Seiendes, das »zu sein hat«, das sich selbst in Bezug auf sein eigenes Seinkönnen bestimmt, kann frei sein und folglich normative Ansprüche erheben. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 25. 17 Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, GA 9, 123–175, hier 164. 18 Sacha Golob, Heidegger on Concepts, Freedom and Normativity, Cambridge, Cambridge University Press, 2014, 193. 19 Golob, Heidegger on Concepts, Freedom and Normativity, 195. 20 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 276. 16
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Dennoch geht die Betonung der Freiheit über diese bloße Beschreibung einer einzigartigen menschlichen Verhaltensweise hinaus, der nämlich, dass »menschliche Intentionalität eine normative Intentionalität ist« 21, und bringt die Analyse einen Schritt weiter. Heidegger geht von diesem deskriptiven Aspekt (das Dasein hält sich notwendig in einem normativen Rahmen auf) über zu einem regressiven – also transzendentalen – Standpunkt und fragt: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit das Dasein eine solche Haltung annehmen kann? 22 Seine Antwort kann in dreifacher Hinsicht rekonstruiert werden. Erstens betont er, dass Freiheit einen meta-normativen Status besitzt, insofern sie die Einstimmung zum Normativen als solchem bezeichnet. Zweitens hebt er hervor, dass Freiheit die Artikulierung der Welt nicht allein bestimmen kann – Freiheit ist zwar eine konstitutive Grundbestimmung der Welt, aber nicht die einzige. Drittens besteht er darauf, dass Freiheit – als Quelle eines jeden normativen Verhaltens – zwingend eine Beziehung zum Seienden im Ganzen voraussetzt. An erster Stelle liegt seine Betonung der Notwendigkeit, Freiheit als Quelle des Normativen als solchen zu verstehen: Freiheit ermögliche, dass »das Seiende, sich in seiner Verbindlichkeit bekundet […]. Nur wo Freiheit, da die Möglichkeit der Verbindlichkeit« 23. Das ist Heideggers Art, einen berühmten Aspekt in zeitgenössischen Diskussionen über Normativität anzusprechen (wie z. B. in der postSellars’schen Tradition), welcher jedoch eigentlich auf Kant zurückgeht: Die Bindung an eine Norm entfällt nicht mit der Bindung an eine Tat, denn im Gegensatz zur zweifachen Struktur der kausalen Beziehung setzt die normative Struktur der Intentionalität eine dreifache Struktur voraus: eine Norm, einen intentionalen Agenten und eine normative Beurteilung seitens des intentionalen Agenten im Lichte der Norm. Eine solche Beurteilung ist nicht das Ergebnis einer bloßen Bestimmung, sondern eher eine Annahme der Norm als verbindlich, welche als solche von der freien Anerkennung seitens des Subjektes gegenüber der Norm als relevant in der Beurteilung seines Verhaltens abhängt. Golob, Heidegger on Concepts, Freedom and Normativity, 205. Siehe auch Golob, Heidegger on Concepts, Freedom and Normativity, 195: »The question which Heidegger increasingly faces, however, is this: how is such normativity possible?« 23 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 492. 21 22
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Zweitens versucht Heidegger nicht nur, die notwendigen Bedingungen für die Fähigkeit des Daseins, eine normative Haltung anzunehmen, aufzudecken, sondern auch zu verstehen, wie der normative Raum, d. h. die Welt, artikuliert wird. Folglich reicht die Aussage »Freiheit alleine kann die Welt walten lassen« 24 nicht aus, um die Ableitbarkeit der Welt aus der Freiheit zu behaupten, sondern lediglich ihre Unverzichtbarkeit innerhalb der Artikulierung der Welt. Anders formuliert: Freiheit ist eine notwendige und trotzdem nicht hinreichende Bedingung für das Walten der Welt. Wie Heidegger während seines gesamten Denkweges und wohl am deutlichsten im § 7 von Sein und Zeit behauptet, ist die Phänomenalität ein Sich-zeigen – und also Unabhängigkeit, Autonomie. In diesem Fall ist es legitim, eine Untersuchung des »normativen Raums« als solchen vorzunehmen und dies nicht allein im Hinblick auf die menschliche Freiheit. Erneut formuliert Heidegger in ontologischen Begriffen die Kantische Idee, der gemäß die Normbindung sowohl die Annahme der Norm als Wahrhaftigkeitskriterium für unsere Handlung (und unser Urteil) voraussetzt als auch die Anerkennung der Unabhängigkeit solcher Normen von unserer Annahme. Die Autonomie des intentionalen Subjektes – die seiner Rationalität gleichkommt – ist die Verwandlung von Bestimmung in Selbstbestimmung durch die Anerkennung der normativen Kraft der Welt. 25 Gemäß Crowell ist Freiheit somit »keine rätselhafte Eigenschaft, die uns jenseits der Kausalität stellt; sie ist ›Offenheit für das Seiende‹ durch die Verbindlichkeit zum normativen Maß als solche« 26. Wenn Heideggers Betonung der Freiheit als Radikalisierung mancher seiner früheren Ideen betrachtet werden kann, so hat seine Selbstkritik in Bezug auf die Einschränkungen einer auf affirmative und wahre Aussagen beruhenden Auffassung wichtige Folgen für die Art des Verständnisses des normativen Charakters der Wahrheit. Beginnen wir also damit, diese Einschränkungen zu untersuchen.
Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 164. Für eine detaillierte Rekonstruktion dieses Arguments in der transzendentalen Tradition von Kant zu Heidegger vgl. auch Bernardo Ainbinder, »Transcendental Experience«, in: Antonio Cimino, Cees Leijenhorst (Hg.), Phenomenology and Experience. New Perspectives, Leiden, Brill, 2018, 28–45, und, besonders im Blick auf Husserl, Bernardo Ainbinder, »Renovación y Autonomía«, Ideas y Valores (im Erscheinen). 26 Steven Crowell, »We Have Never Been Animals. Heidegger’s Posthumanism«, Études phénoménologiques – Phenomenological Studies, 1, 2017, 233. 24 25
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3.
Die metabolé des Vorprädikativen
Bekanntlich argumentiert Heidegger dafür, dass jede Entbergung eine Art des In-der-Wahrheit-Seins sei. Daher kann er in § 7 von Sein und Zeit erneut die Idee des logos apophantikos mit der Phänomenalität gleichsetzen. Sofern wir uns den Phänomenen hingeben, stehen wir folglich notwendigerweise in der Wahrheit. Wenn es dennoch so etwas wie Falschheit gibt, ist dies darin begründet, dass wir darüber hinaus durch das Urteil Unterscheidungen einführen können, die nicht im ursprünglichen Ereignis der Wahrheit liegen – und dadurch wird das, was ursprünglich als Einheit gegeben wurde, entweder bestätigt oder negiert. Hierin spiegelt sich die zentrale Einsicht eines Denkers wider, der Heidegger maßgeblich beeinflusst hat: Emil Lask. Nach Lask beginnt das logische »Sollen« erst dort eine Rolle zu spielen, wo aufgrund des Eindringens der Subjektivität in das zuvor gegensatzlose Reich des Seins »Gegensätze« entstehen 27. Wenn Freiheit darin besteht, sich vom Gegebenen und von der Art und Weise, wie etwas gegeben ist, binden zu lassen, dann scheint es im Reich des ursprünglich verstandenen logos apophantikos keinen Ort mehr für Falschheit zu geben. Im Rahmen eines zeitgenössischen Lektüreschlüssels scheint Heidegger somit eine Form des Disjunktivismus 28 zu verteidigen: Ist das Gras grün, erkennt man es entweder auch als grün oder man erkennt es, falls es einem z. B. als rot erscheint, gar nicht – es fällt also aus der Wahrnehmung heraus. Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Eugen Herrigel, vol. II, Tübingen, J. B. Mohr, 1923, 174. Für weitere Ausführungen zu diesem Punkt, siehe Dina Emundts, »Lask on Judgment and Truth«, The Philosophical Forum, 39 (2), 2008, 263–281, sowie Alejandro G. Vigo, »Verdad y Validez en Emil Lask«, in: ders., Juicio, experiencia, verdad. De la lógica de la validez a la fenomenología, Navarra, Eunsa, 2013, 41–72, der interessante Parallelen zwischen Lask und Heidegger zieht. Siehe auch Bernardo Ainbinder, »From Neokantianism to Phenomenology. Emil Lask’s Revision of Transcendental Philosophy: Objectivism, Reduction, Motivation«, Studia Phaenomenologica, 15, 2015, 433–456. 28 Eine solche Stellungnahme, definiert als die Idee, dass es eine Grundunterscheidung gibt – im grundlegendsten Fall zwischen der Wahrnehmung von etwas und einer Sinnestäuschung mit demselben Inhalt –, wurde entsprechend in der neueren Forschungsliteratur aus ähnlichen Gründen Husserl zugewiesen; vgl. z. B. Walter Hopp, Perception and Knowledge: A Phenomenological Account, Cambridge, Cambridge University Press, 2011, und Sœren Overgaard, »Motivating Disjunctivism«, Husserl Studies, 29 (1), 2013, 51–63. Uns ist kein systematisches Werk über Heidegger zu diesem Punkt bekannt, aber wenn unsere Analyse von Heideggers Wahrheitsauffassung in Sein und Zeit zutrifft, liegt diese Schlussfolgerung nahe. 27
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Ein ähnliches Argument lässt sich für negative Aussagen vorbringen. Im Gegensatz zu affirmativen Aussagen setzen negative eine Trennung voraus, die in das Sein eingeführt wird, also eine Trennung, die gewissermaßen nach dem »Dass etwas ist« (Faktum) erfolgt. Wenn ich fähig bin, eine Baumkrone als grün zu erkennen, kann ich sie nicht als lila wahrnehmen; der Schritt, der die (ausschließende) Verbindung vom ersten zum zweiten Zustand sichert, scheint eine nicht-phänomenologisch gegründete Durchdringung des prädikativen Denkens zu sein, die sehr wohl – wie Lask es tut – als künstlich bezeichnet werden kann. Dies veranlasst unmittelbar Kritik, wie etwa die von Tugendhat, die wir bereits angesprochen haben. Und gerade aus diesem Grund überprüft Heidegger sein neues Verständnis des Vorprädikativen in seiner Vorlesung von 1929/30. Er behauptet nun, der logos apophantikos könne sowohl enthüllen als auch verbergen: »Diese Möglichkeit zum einen oder anderen macht das positive Wesen dieses logos aus« 29. In diesem Sinne kommt es zu einer Umkehrung in der gründenden Beziehung zwischen der ursprünglichen Unverborgenheit und dem Zusammenbringen und Trennen des in der Aussage Niedergelegten. Im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit grundlegenden Gedanken der aristotelischen Philosophie in Bezug auf die KopulaStruktur, welche die Möglichkeit der Aussage fundiert, bezeichnet Heidegger synthesis und dihairesis als eine Vorbedingung von Wahrheit. In seiner Rekonstruktion der aristotelischen Auffassung des logos (GA 29/30, § 72) besteht Heidegger auf der Notwendigkeit, den logos apophantikos – den einzigen logos, der fähig sein soll, zu enthüllen und zu verbergen, und der folglich wahr oder falsch sein kann – in einem vorgängigen Bereich zu gründen. Folglich scheint die aussagenlogische Wahrheit von der »Einheitbildung« bzw. dem »Vernehmen einer Einheit« abzuhängen. Heidegger charakterisiert eine solche »Einheitbildung« folgendermaßen: Ein einheitbildendes Vernehmen (vernehmendes Einheitbilden) ist der Wesensgrund für die Möglichkeit des Entbergens oder Verbergens, nicht nur für das eine oder das andere, sondern für das »entweder-oder« bzw.
Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 453.
29
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»sowohl-als-auch« beider, und so der Wesensgrund für jedes als solches, solches, was es nur in diesem »entweder-oder« bzw. »sowohl-als-auch« ist 30.
Dies führt jedoch dazu, dass das einheitsbildende Vernehmen weder wahr noch falsch ist, weder aufhellend noch verbergend, gerade weil es allererst den Raum für Entbergung und Verbergung – und ferner für Wahrheit und Falschheit – schafft. Das aber, was die Möglichkeit der Aufhellung und Verbergung gründet, erhellt er nicht. Die Kritik, die Heidegger an sich selber adressiert, kann somit folgendermaßen zusammengefasst werden: Das phainesthai ist nicht mehr notwendigerweise ein aletheuein; das aletheuein ist vielmehr ein Phänomen zweiter Ordnung, welches von der Erscheinung als solcher, vom »als«, vom phainesthai, abhängig ist. Oder, wenn wir von den Begriffen Gebrauch machen, die Heidegger selbst verwendet, um Aristoteles’ Erläuterung des logos apophantikos wiederzugeben: Das einheitsbildende Vernehmen (welches auch eine »Trennung«, eine dihairesis ist) ist die Bedingung der Möglichkeit von Entbergung und Verbergung. An dieser Stelle kann ein scheinbar naheliegender Einwand gegen unsere Interpretation erhoben werden. Unser Beharren auf dem Unterschied zwischen dem phantischen Feld und dem alethischen Feld scheint zumindest einer Passage in GA 29/30 zu widersprechen. Denn hier hebt Heidegger ausdrücklich hervor, dass die Aussagewahrheit »in einer Offenbarkeit gründet, die wir, weil sie vor der Prädikation und Aussage liegt, als vorprädikative Offenbarkeit oder besser als vorlogische Wahrheit bezeichnen« 31. In dieser Hinsicht können wir Folgendes feststellen: 1) dass Heidegger diesen Ausdruck in diesem Vortrag nur einmal verwendet, nämlich in der eben zitierten Passage; 2) dass es eine Spannung gibt zwischen dieser Passage und Heideggers Beharren auf der Notwendigkeit, den vorprädikativen Raum als »Spielraum« zu begreifen, wie der folgende Abschnitt beweist: »Um aber über die Angemessenheit dessen, was der logos aufweisend sagt, bzw. über Unangemessenheit zu entscheiden, genauer, um überhaupt in diesem ›entweder-oder‹ sich verhalten zu können, muß der redend aussagende Mensch im vorhinein einen Spielraum haben für das vergleichende Hin-her des ›entweder-oder‹, Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 455. 31 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 494. 30
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der Wahrheit oder Falschheit, und zwar einen Spielraum, innerhalb dessen schon das Seiende selbst, darüber es auszusagen gilt, offenbar ist« 32. Um es noch deutlicher auszudrücken: Auch wenn das Vorprädikative tatsächlich das Feld ist, dem die Wahrheit entspringt, kann dieses Feld nicht als Ort der »ursprünglichen Wahrheit« bezeichnet werden. Heideggers übliche Schlussfolgerung, wonach »die Bedingung der Möglichkeit von X« das »ursprüngliche X« 33 ist, wird hier abgelehnt. Was wir als Basis und Grundlage für den Bereich der Aussage entdecken, ist ein Zwiefaches: die Offenbarung sowie die Fähigkeit, an das, was sich offenbart, gebunden zu sein: Offenbarkeit und Freiheit. Da das »als« »ein Wesensbestandstück der Welt überhaupt« 34 ist, können wir ferner sagen, dass die Welt sowohl vom alethischen Feld vorausgesetzt als auch nicht auf dieses reduzibel ist. Dies weist auf die metontologische Überwindung der Identifikation zwischen Erscheinung und Wahrheit, die Sein und Zeit bestimmte, und auf eine angemessene Rehabilitierung des Vorprädikativen als solchen hin. Es ist zu beachten, dass Heidegger in Sein und Zeit auf dem vorprädikativen Charakter der Welt, gegeben in ihrer Sinnhaftigkeit, besteht, sodass die Wahrheit des Vernehmens der Welt als praktisches Verhalten die Möglichkeit der Wahrheit der Aussage gründet. Wie schon Golob und andere überzeugend gezeigt haben, ist eine solche Erfahrung, solange die »als«-Struktur die unmittelbare Erfahrung der Welt charakterisiert, nicht prädikativ aber doch begrifflich. 35 Sobald eine metontologische Perspektive eingenommen wird, scheint es so zu sein, dass der alethische Raum, auch wenn er im phänomenalen Feld gegründet ist, keineswegs mit dem letzteren gleichgesetzt werden kann. Oder anders formuliert: Das phänomenale Feld ist noch nicht (nicht per se) ein alethisches Feld. Wäre dies der Fall, gäbe es keine grundlegende Unterscheidung zwischen dem PräHeidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 493. 33 Siehe Hubert L. Dreyfus, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge (Mass.), The MIT Press, 1991, 271. 34 Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 458. 35 Siehe auch Golob, Heidegger on Concepts, Freedom and Normativity, insb. 8–15 sowie ders., »Heidegger on Assertion, Method and Metaphysics«, European Journal of Philosophy, 23 (4), 2013, 878–908. Vgl. auch Steven Crowell, Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning. Paths toward Transcendental Phenomenology, Evanston, Northwestern University Press, 2001. 32
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dikativen und dem Vorprädikativen, und die »Phänomenologie« wäre lediglich eine »Logik«. Bedeutet das, dass die echte metabolé, von der hier die Rede ist, einen Abschied von dem Beharren auf der Sinnhaftigkeit unserer vorprädikativen Erfahrung voraussetzt, so wie sie in Sein und Zeit und in den Vorlesungen jener Zeit dargestellt wird? Wäre es jetzt angebracht, Heideggers neue Deutung des Vorprädikativen als nichtbegrifflichen Weltbezug zu erklären, in dem weder Wahrheit noch Bedeutung eine Rolle spielen? Wäre eine solche Definition – wie sie etwa von Mark Wrathall vorgeschlagen wird – auch noch nach der metabolé angebracht? Wrathall schreibt: Das Vorprädikative ist eine nichtbegriffliche Art und Weise, uns gegenüber den Dingen in der Welt zu verhalten. Anstatt einer begrifflichen oder logischen Gliederung, artikuliert sich die vorprädikative Offenbarkeit der Dinge je nach unserem praktischen Umgang mit ihnen. In einer solchen Gliederung erscheinen die Dinge so, wie sie sind, aber in der ganzen Komplexität dessen, was sie einschließen. 36
Wir werden diese Schlussfolgerung im abschließenden Teil dieses Beitrages bestreiten und dafür argumentieren, dass Heideggers metabolé des Vorprädikativen keineswegs einen Abschied von seiner früheren Betonung auf Normativität und Begrifflichkeit als Wegen zum Verständnis des Vorprädikativen bedeutet, sondern eher eine weitere Entwicklung dieses Ansatzes – und dies ausdrücklich als selbstkritische Antwort auf die Mängel seiner früheren Beschreibungen (die Kritiken wie die von Tugendhat veranlassen konnten). Unser Argument kann dabei folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Vorprädikative – das phainesthai – enthält bereits eine normative Dimension; Normativität ist also nichts, was erst mit dem prädikativen Verhalten zum Zuge käme. Das Vorprädikative ist ein Bedeutungsraum, der jedoch noch keinen Wahrheitsanspruch beinhaltet. Und dies eben deshalb, weil die »als«-Struktur in der Welt gegründet wird, im Vernehmen der Einheit; sie ist somit nicht von der Freiheit abhängig, sondern mit ihr gleichursprünglich. KonMark A. Wrathall, Heidegger and Unconcealment. Truth, Language, and History, Cambridge, Cambridge University Press, 2010, 20. Es lohnt auch die Bemerkung, dass Heideggers metontologische Kehre unter Autoren, die ein begriffliches und normatives Verständnis des Heidegger’schen Frühwerks bevorzugen, eine Art hermeneutisches Unbehagen hervorgerufen hat. Crowell zum Beispiel lehnt die metontologische Kehre als unangebrachten Rückfall in die Metaphysik rigoros ab.
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sequenterweise vermeidet Heidegger das Risiko einer gewissen Form von Idealismus, die in seiner orthodoxeren neukantianischen Auffassung in Sein und Zeit noch durchaus gegenwärtig war.
4.
Das Seiende im Ganzen und das Maß der Wahrheit
Die grundlegende Passage, in der Heidegger die Beziehung zwischen Offenbarkeit des Seienden im Ganzen und Wahrheit zum Ausdruck bringt, ist folgende: Das Offensein für … ist von Hause aus das sich-bindenlassende freie Sichentgegenhalten zu dem, was da als Seiendes gegeben ist. Die bindbare Einspielmöglichkeit auf das Seiende, dieses Sich-beziehen auf es im So-und-sosich-verhalten, kennzeichnet überhaupt jedes Vermögen und Verhalten im Unterschied zu Fähigkeit und Benehmen. In diesen findet sich nie ein Sichbindenlassen durch Verbindliches, sondern nur ein benommenes Enthemmtwerden des Umtriebs. Die vorprädikative Offenbarkeit muß aber nicht nur überhaupt ständig schon geschehen und geschehen sein, wenn die aufweisende Aussage – so oder so – vollziehbar werden soll, sondern diese vorprädikative Offenbarkeit muß selbst ein solches Geschehen sein, darin ein bestimmtes Sich-bindenlassen geschieht. Es ist dies der vorgängige Bezug auf das, was dem aufweisenden Aussagen das Maß gibt: das Seiende, wie es ist. Die Maß-gabe wird im Sinne des sich-bindenlassenden Verhaltens im vorhinein dem Seienden übertragen, so daß an diesem die Angemessenheit oder Unangemessenheit sich regelt. 37
In dieser Passage gibt es zwei entscheidende und für unser Argument äußerst relevante Hinweise. Der erste besagt: Damit Prädikation und Aussage überhaupt möglich sind, muss es ein vorheriges Ereignis der vorprädikativen Offenbarkeit geben, welches der Aussage ihr Maß verleiht. Diese Maßgabe wird, so fährt Heidegger fort, als das Seiende selbst in seinem So-Sein verstanden, und sorgt so für ein Kriterium für die Richtigkeit oder Falschheit der Aussage. Verbindlichkeit ist nur dann möglich, wenn ich etwas von mir und meiner Enthüllung Unabhängiges entberge. Auch wenn es mich erst im Moment der Entbergung bindet, so könnte es doch nie für mich verbindlich werden, wenn ich es nicht als unabhängiges Maß für die Korrektheit meiner Enthüllung entdecken würde.
Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 496–497.
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Metabolé des Vorprädikativen
Der zweite wichtige Hinweis in dieser Textstelle betrifft die Unterscheidung zwischen der Art des Entbergens, die vom »Verhalten« ausgeht – Heideggers Begriff für die menschliche Handlung –, und der Art der Enthüllung, die für Tiere spezifisch ist, deren Verhalten als ein Sich-benehmen definiert wird. Während Heidegger das »Sichbenehmen« als bloßes ›Enthemmtwerden des Umtriebs‹ charakterisiert, also als eine kausale Beziehung zwischen der Umwelt und den Trieben des Tieres, die ein Set an vorgegebenen möglichen Reaktionen offenbart – eigentlich beschreibbar als das, was diese Triebe hemmt oder enthemmt –, wird das menschliche Verhalten als ein Entgegenhalten vorgestellt, als ein Sich-binden-lassen vom Seienden. Wenn Heidegger dies als »freies« Sich-binden-lassen bezeichnet, so deshalb, weil die Freiheit nicht nur ein Maß gibt, sondern zugleich einen Standpunkt einnimmt bezüglich des Seienden im Ganzen – es gibt also so etwas wie ein Verhalten der Freiheit oder ein Sich-bindenlassen von dem, was als verbindlich erfahren wird. Dieser Punkt ist wichtig, da ein nicht-begrifflicher Inhalt, wie Wrathall dies vorschlägt, im Sinne einer reinen Beteiligung an einem unterscheidungsfreien Ganzen niemals diese Rolle spielen könnte. Es würde nicht ausreichen, nur die Bedingungen des Erfolges oder Misserfolges anzuführen, da diese Bedingungen lediglich in Bezug auf das praktische Verhalten beschrieben werden könnten. 38 Im Gegensatz dazu fällt eine solche ›reine‹ Beteiligung auf die Seite dessen, was Heidegger hier als (tierisches) ›benommenes Enthemmtwerden‹ bezeichnet. Damit die Einheit maß-gebend, d. h. zum Maßstab der Korrektheit für das enthüllende Verhalten wird, muss sie sich als Norm offenbaren. Und genau das rückt das begriffliche Verständnis der Weltbildung in den Vordergrund. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Möglichkeit der Wahrheit bzw. der Wahrheitsansprüche, wie sie nicht nur dem prädikativen Denken, sondern auch dem ihm zugrunde liegenden entbergenden Verhalten eignen, zwei Aspekte umfasst: das Sich-binden – genau dieses zeichnet das menschliche Verhalten aus, dessen ontologisches Merkmal die Freiheit ist – und das Sich-(von-etwas)-binden-lassen – die Unabhängigkeit des Maßstabs für die Korrektheit des entbergenden Verhaltens. Für eine entsprechende Argumentation vgl. John Haugeland »Truth and Rule Following«, in: ders., Having Thought. Essays in the Metaphysics of Mind, Cambridge (Mass.), Harvard University Press, 1998, 305–362.
38
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Bernardo Ainbinder / Ovidiu Stanciu
Abschließend können wir nun besser verstehen, in welchem Sinne Heideggers metabolé des Vorprädikativen es ermöglicht, der Art von Herausforderung zu begegnen, die in der berühmten Kritik von Tugendhat paradigmatisch veranschaulicht wird. Wir können dies am besten mit einer alternativen Strategie vergleichen, wie Daniel Dahlstrom sie im letzten Kapitel von Heidegger’s Concept of Truth im Zusammenhang seiner Verteidigung des Heidegger’schen Wahrheitsverständnisses gegenüber der Kritik Tugendhats vorführt. Er schlägt zunächst drei Verwendungen des Begriffes »Sinn« in der diesbezüglichen Diskussion vor: 1) einen ursprünglichen, existenzialhermeneutischen Sinn; 2) einen abgeleiteten, existenziell-hermeneutischen Sinn und 3) einen abgeleiteten, apophantischen Sinn. Der existenzial-hermeneutische Sinn (Sinn1) ist der Sinn des Daseins, der Horizont, auf den sich das Dasein immer schon entwirft, solange es existiert. Der existenziell-hermeneutische Sinn (Sinn2) ist die Funktion von etwas, das benutzt oder verwendet wird (»Was hat das für einen Sinn?«, »Es wird als Hebel benutzt«), oder aber der Zweck der Nutzung (»Dafür ist der Hebel sinnvoll«). Der apophantische Sinn (Sinn3) ist die Bedeutung eines Wortes oder einer Aussage, die eher getätigt als benutzt wird 39. Dahlstrom argumentiert nun, dass »ob etwas gelingt oder fehlschlägt, ob etwas enthüllt oder verdunkelt wird, im Lichte eines existenziell-hermeneutischen Sinnes, oder ob eine Aussage sich als wahr oder falsch erweist, die Wahrheit des ursprünglichen Sinnes (genitivus appositivus), das heißt, die Enthüllung der Zeitlichkeit des Daseins […] in jedem Fall voraus[…] setzt. Dasein heißt enthüllen.« 40 Daraus folge wiederum: Unverborgenheit (die »Lichtung«, die das »Da« im Dasein ausmacht) ist eine Art und Weise, Dinge zu offenbaren, die auf die eine oder andere Weise ihre Bedeutung aus dem gewinnen, wie ich, als Dasein, immer schon bin, und dies wiederum bedeutet, wie ich zu mir komme, wie ich mich wiederfinde oder vergesse auf der Grundlage dessen, wie ich das mir je eigene Seinkönnen entwerfe. Die »als«-Struktur der Enthüllung im Allgemeinen und die enthüllende Aussage im Besonderen ereignen sich in Anbetracht dieses einheitlichen »zeitlichen Horizonts« 41.
Daniel O. Dahlstrom, Heidegger’s Concept of Truth, Cambridge, Cambridge University Press, 2001, 400–401. 40 Dahlstrom, Heidegger’s Concept of Truth, 401. 41 Dahlstrom, Heidegger’s Concept of Truth, 402. 39
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Metabolé des Vorprädikativen
Dahlstrom geht in seiner Strategie so weit, zu behaupten, es sei eben diese »Sinnhaftigkeit«, die die Wahrheit der Aussagen (und deren Falschheit) ermögliche bzw. in seinen eigenen Begriffen, dass Sinn3 Sinn1 voraussetze. Tatsächlich können Wahrheit oder Falschheit nicht außerhalb des Bereichs des Sinnhaften lokalisiert werden (oder überhaupt außerhalb von irgendetwas, was für das Dasein »zählt« bzw. letztlich außerhalb des Zeithorizonts des Daseins). Aber dies geht am Kern der Sache vorbei, denn die Kritik Tugendhats lautet ja, dass Sinnhaftigkeit, selbst wenn sie eine Bedingung der Wahrheit darstellt, dennoch nicht mit der Wahrheit identifiziert werden kann. In den aristotelischen Begriffen, die Heidegger heranzieht, würde dies heißen, dass zwar die Abhängigkeit der prädikativen Aussage von der synthetisch-dihairetischen Einheitsbildung unbezweifelbar feststeht, dies jedoch nicht die Tatsache impliziere, dass diese Einheitsbildung als ursprüngliche Wahrheit bezeichnet werden könne. Der Grund dafür ist nun klarer: Während ein Wahrheitsanspruch normativ ist (und folglich Freiheit voraussetzt), ist das Vernehmen von Einheit bzw. die »als«-Struktur nicht aus der Freiheit ableitbar, sondern eher ein gleichursprüngliches Moment in der Struktur der Weltbildung. Dies ist kein Zufall, sondern entspricht dem normativen Charakter der Wahrheit: Damit es Wahrheit geben kann, muss ein unabhängiger Prüfmaßstab existieren, auf dem diese gegründet werden kann – und genau das nennt Heidegger in seiner Vorlesung von 1929/ 30 (in einem etwas umfassenderen Sinne) »Welt«. Das Normative als solches ist dabei keine Dimension, die erst im Zusammenhang von Propositionen entstünde, sondern bereits an der Ebene der vorprädikativen Erfahrung wirksam. Die genannte Vorlesung impliziert somit eine Spannung zwischen zwei philosophischen Impulsen: Auf der einen Seite steht der Impuls, die Welt als bedeutsam zu erörtern, als etwas, das als artikuliertes Ganzes zu Erscheinung gelangt. Auf der anderen Seite geht es darum, anzuerkennen, dass diese Erörterung das Feld, in dem das Dasein sich bewegt, nicht erschöpft – daher gilt es, die Abhängigkeit der »Existenzialität« von einem weiteren Grund (oder Unter-grund) einzusehen 42. Anstatt jedoch zu einem Widerspruch zu führen, bezeugt diese Spannung die besondere Richtung, welche Heidegger nach Sein und Zeit in Bezug auf die Aufgabe einschlägt, welche die Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 199.
42
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Bernardo Ainbinder / Ovidiu Stanciu
Philosophie zu übernehmen hat. Sie besteht 1) in der Ausarbeitung des Feldes des Sinns als solchen und 2) in dem Aufweis, dass das Feld des Sinnes bzw. der »Bedeutungsraum« nicht autark ist, da die methodologische Abstraktion, die uns den Zugang zu ihm ermöglicht, das Faktum (»Dass«), auf dem es beruht, übergeht. Wie wir gesehen haben, findet Heideggers Durchbruch zur »Metontologie« seinen Ursprung in der Radikalisierung des Versuches, einen »ontischen Grund« für die Ontologie aufzuweisen – Heidegger schreibt sich sogar selbst das Verdienst zu, der Erste zu sein, der die Notwendigkeit erkannt hat, die Ontologie auf ihren ontischen Grund zurückzuführen. 43 Die wertvollste Errungenschaft dabei ist die Anerkennung einer »bifokalen« Ausrichtung der philosophischen Untersuchung. Während die Erkundung des Seins oder des »Sinnraums« – seiner Gliederung und unserer Weisen, diese zu begreifen – eine zentrale Rolle einnimmt und tatsächlich »ganz vorne in der Reihenfolge der Erkundung in allen ›positiven‹ (wissenschaftlichen und metaphysischen) Themen« 44 steht, ist zugleich die Tatsache zu berücksichtigen, dass man diesen Bedeutungsraum nicht für selbstverständlich halten darf. Die Anerkennung seiner Faktizität verpflichtet uns vielmehr zu einer Untersuchung seiner »Infra-struktur« und folglich zu einer Darstellung seiner Eingebundenheit in eine Dimension, die er nicht auf den Begriff bringen kann. Dennoch erfolgt das fundierende Geschehen nicht einseitig. Obwohl die Metontologie in einem gewissen Sinne »fundamentaler als die Fundamentalontologie« ist, 45 kann sie sich lediglich aus einer inneren Wandlung der Ontologie heraus entwickeln, denn das Streben nach einem ontischen Grund kann sich nicht entfalten, solange nicht der »Sinn des Seins« im Voraus geklärt worden ist. Dies eröffnet einen Weg zur Untersuchung der metaphysischen Wurzeln, welche die Basis für die Möglichkeit der Entfaltung einer Beziehung zum Seienden im Ganzen bilden. Die Erkundung dieser Wurzeln verlangt zudem eine Erklärung bezüglich der einzigartigen menschlichen Verfassung, der Art und Weise des aus ihr entspringenden Verhaltens sowie eine Erklärung darüber, inwiefern diese Ver-
Heidegger, »Brief an Karl Löwith von 20. August 1927«, in: Dietrich Papenfuss, Otto Pöggeler (Hg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. II: Im Gespräch der Zeit, Frankfurt am Main, Klostermann, 1990, 27–39, hier 36. 44 Crowell, Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning, 13. 45 Tengelyi, Welt und Unendlichkeit, 231. 43
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Metabolé des Vorprädikativen
fassung eine Erfahrung der Natur als verbindlich – und folglich als »weltlich« und nicht lediglich als »umweltlich« – ermöglicht. Die Auseinandersetzung mit den Fragen, die wir hier lediglich angedeutet haben, könnte zu einer Rehabilitierung der Heidegger’schen Metontologie und ihrer Wichtigkeit beitragen – und zwar sowohl für die Deutung von Heideggers Werk als auch für die Philosophie überhaupt.
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»Geist« und »als« Die Verwindung des Menschen im Dasein zwischen Scheler und Heidegger Giovanni Gurisatti
Zusammenfassung: Der Grundgedanke des Aufsatzes besteht in der These, dass die den Menschen gegenüber dem Tier ausgezeichnete Fähigkeit zur Objektivierung die Voraussetzung eines freien, nicht berechnenden, d. h. »ästh-ethischen« Verhältnisses zur Umwelt, zur Mitwelt und zur Selbstwelt bildet – ein Verhältnis, das vom bios und dessen utilitaristischer Logik absieht. Jenseits der Unterschiede, die oft polemisch zwischen Heidegger und der philosophischen Anthropologie Schelers betont werden, haben die Perspektiven der zwei Autoren einen Punkt gemeinsam, und zwar: Die anthropo-ontologische Definition des ultra-humanistischen Überschusses des »ausgezeichneten« Menschen (»des Asketen des Lebens« bei Scheler, des »Dichters« bei Heidegger), welcher sich sowohl vom Tier als auch vom gewöhnlichen Menschen (vom in das Tierische verfallenen Menschen) differenziert.
1.
Metaphysik des Daseins und philosophische Anthropologie
Im lange unveröffentlicht gebliebenen Text eines Vortrags, den Heidegger am 24. Januar 1929 in der Frankfurter Kantgesellschaft mit dem Titel »Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins« 1 gehalten hat, erklärt der Philosoph mit Nachdruck seine Stellung gegenüber der philosophischen Anthropologie Schelers. Diese wurde bekannterweise im berühmten Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos (1927/28) 2 ausgeführt – einem Text, in dem Heidegger gerade die polare Ko-Präsenz von Metaphysik und AnVgl. Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, in: Vorträge, GA 80.1, 213–51. 2 Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Darmstadt, Otto Reichl, 1928. 1
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Giovanni Gurisatti
thropologie würdigt. 3 Obwohl Heidegger in Scheler – der acht Monate vor dem genannten Vortrag gestorben war – einen ernstzunehmenden Gesprächspartner sieht, behauptet er nicht nur, dass »Philosophische Anthropologie« und »Metaphysik des Daseins« angemessen unterschieden werden sollen, sondern auch, dass die Letztere als eine (metaphysische) Entwicklung und eine (ontologische) Radikalisierung der Ersten zu verstehen ist. Der Grund für eine solche Behauptung liegt Heideggers Ansicht nach darin, dass Schelers Frage nach dem Wesen des Menschen als Grundproblem der Philosophie in die Richtung der wirklichen Grundfrage der Philosophie, das heißt, der Frage nach dem Sein als solchem, überwunden und vertieft werden müsse, und zwar in die Richtung der Seinsfrage – und damit des Seinsverständnisses. Das Seinsverständnis aber setzt seinerseits die Fundamentalfrage nach dem Wesen des Daseins voraus, welche sich letztlich als »ursprünglicher« im Bezug auf die Frage nach dem Menschen erweist. Das Seinsverständnis, so Heidegger, [gehört] nicht nur zum Wesen des Menschen […], sondern [erweist sich] als dasjenige, in kraft dessen der Mensch etwas Ursprünglicheres ist denn Mensch; wenn das Menschsein des Menschen in dem gründet, was wir das Dasein nennen. […] Ursprünglicher und vor aller Frage nach der ganzen Breite des Wesens des Menschen als eines Seienden unter anderen ist die Frage nach dem Wesen des Daseins. […] Die Metaphysik des Daseins muß die innere Möglichkeit des Seinsverständnisses aus dem Wesen des Daseins aufhellen. 4
Obwohl die Daseinsanalyse des faktisch existierenden Menschen, wie sie in Sein und Zeit dargelegt wird, das innovative Merkmal der Metaphysik des Daseins als Fundamentalontologie im Bezug auf die Metaphysik des Menschen als Fundamentalanthropologie ausmacht, ist Heidegger bereit zuzugeben, dass die Metaphysik Schelers den Verdienst aufweist, die Notwendigkeit, die Zentralität und die Eigentümlichkeit der Menschenfrage anerkannt zu haben. Eine solche Anerkennung sei, so Heidegger, aufgrund einer doppelten Feststellung gewonnen. Einerseits habe die Fundamentalanthropologie Schelers die »metaphysische Sonderstellung« 5 des Seienden »Mensch« vor 3 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, GA 80.1, 219 und 221. 4 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, GA 80.1, 236–238 (Hervorh. i. O.). 5 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, GA 80.1, 221.
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»Geist« und »als«
allem anderen Seienden (Pflanzen und Tieren) richtig betont: »Der Mensch ist nicht nur ein Seiendes unter anderen, sondern er erhält eine Vorzugsstellung«. 6 Andererseits habe sie zutreffend unterstrichen, dass eine solche Sonder- bzw. Vorzugsstellung des Menschen in keine »anthropozentrische Orientierung« der Philosophie, das heißt, in keinen empirisch-subjektivistischen »Anthropologismus« mündet, 7 sondern vielmehr in das Gegenteil, und zwar in die »echte, positive, produktive Tendenz«, die in jeder anthropologischen Perspektive unausdrücklich liegt und auf der »radikalen Überwindung des [anthropozentrischen] Anthropologismus« 8 beruht. Die Frage nach dem Menschen erreicht erst dann ihren Höhepunkt, wenn sie sich in die Metaphysik des Daseins überwindet-verwindet, wenn also der Anthropozentrismus sich in den Ontozentrismus, und die Menschenfrage in die Seinsfrage, umkehrt. Metaphysik des Daseins – der Mensch im Zentrum, aber nicht als Mensch! Wesen des Daseins, darin der Mensch existiert, ist qua Zeitlichkeit ekstatisch – exzentrisch. Den Menschen als Dasein ins Zentrum stellen […] heißt zugleich, aus dem Zentrum geworfen werden. Keine Gelegenheit und Anhalt für anthropozentrisch-solipsistischen Individualismus. Gerade hier die radikalste Überwindung. 9
Daraus lässt sich Folgendes ablesen: Obwohl Heidegger im Menschen die »gemeinsame Wurzel« der Anthropologie Schelers und seiner eigenen Metaphysik sieht, gibt er in den abschließenden Worten seines Vortrags einen ausschließenden Vorzug der Daseinsanalytik von Sein und Zeit, also einer Analytik, in der die eigentümlichen Seinscharaktere des Daseins – Transzendenz, Freiheit, Einbruch und Zeitlichkeit – ihre ontozentrische Legitimierung finden. 10 Heideggers gegenüberstellende Betrachtung zwischen seinem Ansatz und dem Ansatz Schelers (Ontologie 6¼ Anthropologie; Daseinsfrage 6¼ Menschenfrage) scheint aber nicht unproblematisch 6 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, 224. 7 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, 225–226. 8 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, 227. 9 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, 240–241. 10 Vgl. Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des GA 80.1, 239 und 251.
GA 80.1, GA 80.1, GA 80.1, GA 80.1, Daseins,
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zu sein, wenn man sie mit seiner nur einige Monate später gehaltenen Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit in Zusammenhang bringt. 11 Diese bekannte Vorlesung – vor allem deren zweiter Teil 12 – (eine Vorlesung, von welcher der Vortrag vom Januar 1929 nichts ahnen lässt) kann als eine wichtige philosophisch-anthropologische Ergänzung von Sein und Zeit, welche der Spur von Die Stellung des Menschen im Kosmos folgt, angesehen werden. Diese Vorlesung macht nämlich aufgrund ihrer »vergleichenden Betrachtung« zwischen Mensch und Tier gerade diejenige Entwicklung und Radikalisierung (Überwindung und Verwindung) der Scheler’schen Thesen aus, ohne welche unseres Erachtens Heideggers Meisterwerk viel dunkler bleiben würde und dies wegen der eigentümlichen Abstraktheit, die trotz jeder Faktizität die Daseinsanalyse auszeichnet. Unter diesem Gesichtspunkt scheint uns Heideggers Auseinandersetzung mit Schelers Anthropologie im Rahmen der 1929/30 gehaltenen Vorlesung äußerst angebracht zu sein, um Heideggers eigene ontologische Perspektive zu erläutern – abgesehen davon, dass auch hier Heidegger, wenngleich er die Fragestellung Schelers als »in vielen Hinsichten wesentlich und allem Bisherigen überlegen« definiert, immerhin Scheler für das Opfer eines »Grundirrtum[s]« hält, »der ihm überhaupt den Weg zur Metaphysik notwendig verschließen muß«. 13
2.
Die Welt des Menschen – die Welt des Daseins
Im Rahmen unserer vergleichenden Betrachtung zwischen Scheler und Heidegger gehen wir zunächst auf den für beide Autoren entscheidenden Begriff von Welt ein. Was ist die Welt für Scheler? Um dies zu verstehen, muss man die Welt von der Umwelt unterscheiden: Das Tier hat keine Welt, sondern nur eine Umwelt, das heißt eine Umgebung, welche für dasselbe eine nur (funktionale, strategische, instrumentale) Relevanz hat, sofern sie nützliche Elemente für die Entwicklung seines spezi11 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30. 12 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 261–532. 13 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 283.
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fischen tierischen bios enthält. Dies bestimmt das eigentümliche, durchaus triebhaft-vitale, »ekstatische Aufgehen« des Tieres in der Umwelt, in die es »nur […] ekstatisch hinein[lebt]«. 14 Der Mensch hat dagegen nicht nur eine Umwelt, in der er (ebenso wie ein Tier mit seinen Lebensbedürfnissen) aufgeht und in die er hinein lebt, sondern (in potenzieller, d. h. in »prinzipieller« 15 Hinsicht) auch eine Welt. Das heißt für Scheler: Der Mensch verfügt wesentlich über die »existentielle Entbundenheit, Freiheit, Ablösbarkeit« von der Umwelt und »vom Banne, vom Drucke, von der Abhängigkeit« von den Bedürfnissen des bios. 16 Der Mensch verwandelt die Umwelt in Welt und öffnet sich der Welt frei und unbegrenzt, in einem völlig zweckfreien, von bio-ethologischen Bedingungen unabhängigen Verhältnis zu derselben. Man kann sagen, dass für Scheler der Mensch – als »Person« – ein solcher ist, sofern er imstande ist, die tierische biologisch zwingende Umwelt mit einem »kräftigen ›Nein‹« 17 »aufzuheben«, »außerkraftzusetzen«, zu »entwirklichen« und zu »inaktualisieren« und sie dadurch auf die pure ästhetisch-asketische, nur dem Menschen eigene Betrachtung der Welt hin zu transzendieren. 18 Was ist die Welt für Heidegger? Seine Antwort weist eine Analogie mit der Antwort Schelers auf und setzt auf ähnliche Weise den Unterschied zwischen Umgebung und Welt voraus. Das Tier ist für Heidegger so umgebungsreich wie weltarm: »[Es] benimmt sich in einer Umgebung, aber nie in einer Welt«. 19 Wie für Scheler, so ist auch für Heidegger das Tier in den untranszendierbaren Ring seiner vitalen Triebe und Instinkte »eingenommen« (»das Tier ist umringt vom Ring der wechselseitigen Zugetriebenheit seiner Triebe« 20), was seine »Benommenheit-Hingenommenheit« in der Umgebung im Dienste seines (funktionalen, strategischen, instrumentalen) bios bestimmt. 21 Wie schon für Scheler, so ist für Heidegger all das, was den Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47 und 49. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. 16 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. 17 Vgl.: »Der Mensch ist der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹« (Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 65). 18 Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 62–65. 19 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 348. 20 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 363 (Hervorh. i. O.). 21 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 347–362, 369–374. 14 15
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vitalen Instinkt des Tieres nicht anregt, für dasselbe irrelevant, das heißt es »vermag im vorhinein nicht in den Umring des Tieres einzudringen«. 22 Es ist gerade diese untranszendierbare Hingenommenheit, die das Tier der Möglichkeit des Welt-Vernehmens (des WeltHabens) beraubt. Der Mensch verfügt hingegen über diese Möglichkeit – welche dennoch für Heidegger wie auch für Scheler eine seltene und ausgezeichnete Potenzialität ist. So ist der gewöhnliche Mensch »zunächst und zumeist«, das heißt in seiner Alltäglichkeit im Kreis seiner vitalen Instinkte, Triebe und Bedürfnisse »benommen« und »eingenommen« – gerade wie ein Tier, obgleich ein »geschichtliches« Tier. Der gewöhnliche Mensch hat eine Umgebung, weiß aber »um die Welt als solche« nicht. 23 »Der vulgäre Verstand« – so Heidegger in seiner Vorlesung von 1929/30 – »sieht vor lauter Seiendem die Welt nicht« 24, er sieht – gerade wie ein Tier – die Bäume, doch nicht den Wald, und überhaupt nicht die »ontologische Differenz« zwischen Bäumen-und-Wald und Seiendem-und-Sein. Wie im Fall des »Man« vom § 27 aus Sein und Zeit, »bewegt sich« der Mensch in seinem alltäglichen Verhalten »nicht in den Grundverhältnissen« der Welt, es ist vielmehr ein »schlafend-entwurzeltes« Verhalten, aus dessen Benommenheit heraus man »wach werden« muss. 25 Heidegger stellt an diesem Punkt wieder die Frage, was der Mensch sei und verschiebt sie endgültig – wie in Sein und Zeit – in die Ebene der »jeweiligen Existenz« 26 jedes einzelnen Menschen, da wo der einzelne sich »in seinem Dasein« begreift: »Die Frage, was der Mensch sei, wirklich gestellt, überantwortet den Menschen ausdrücklich seinem Dasein«. 27 Es ist offensichtlich, dass er dadurch sowohl die »ontologische Sonderstellung« des Daseins gegenüber der (von Scheler behaupteten) »anthropologischen Sonderstellung« des MenschSeins radikalisieren als auch sich von jeder (von Scheler bestrittenen) Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 369. 23 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 392 und 398–400. 24 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 504 (Hervorh. i. O.). 25 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 400. 26 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 407 (Hervorh. i. O.). 27 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 408 (Hervorh. i. O.). 22
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»Geist« und »als«
»anthropozentrischen Orientierung« des subjektivistischen Anthropologismus distanzieren will. Und dennoch ist das Ergebnis bezüglich des Zusammenhangs von Dasein und Welt gar nicht so verschieden vom Zusammenhang Mensch-Welt bei Scheler. Es wurde bereits gesagt, dass für Scheler der Mensch als »Person«, das heißt als Lebewesen, das im transzendierenden und überschreitenden Gegensatz zu den Gesetzen des bios steht – in die er meistens, ähnlich wie das Tier, ekstatisch aufgeht und hineinlebt –, für das Geschehen der Welt als solche frei, unbegrenzt und losgelöst von vitalen Interessen offen werden kann und dadurch zu einer ästhetisch-asketischen Betrachtung derselben gelangen kann. Nun ist das, was bei Heidegger das »schlafend-benommene« Verhalten des gewöhnlichen Menschen vom »wachend-offenen« Verhalten des eigentlichen Daseins unterscheidet, gerade die Fähigkeit, nicht nur für die Welt als reine »Offenbarkeit von Seiendem als solchem« 28 offen zu werden, sondern auch diese Welt im Sinne des Sichdarauf-Einlassens, das heißt des Sein-lassens dessen, was begegnet, zu erleben. 29 Ähnlich wie Scheler zögert Heidegger nicht, einem solchen sein-lassenden Verhalten eine ethische Färbung zuzuschreiben, indem er dieses als eine »Verhaltenheit, Verhaltung, Haltung« gegenüber der Welt-Offenbarkeit versteht; ähnlich wie Scheler erkennt er nur demjenigen Seienden ein solches ethos zu, das »den Charakter des Selbst, […] der Person hat«; und ähnlich wie Scheler behauptet er, dass »nichts davon sich in der Tierheit und im Leben überhaupt [findet]«. 30 Heideggers Überlegungen erhalten echte »ästh-ethische« Charaktere, da wo sich das »ethische« Verhalten des Offenseins für das Geschehen der Offenbarkeit der Welt mit dem »ästhetischen« Verhalten der dem menschlichen Wesen eigenen »Weltbildung« 31 verknüpft. Auch hier gibt es im Grunde nichts, was mit Schelers Ansatz in Widerspruch steht. Denn die Weltbildung, von der hier die Rede Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 397; vgl. auch Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 392–93. 29 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 397. 30 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 397–98. 31 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 413: »der Mensch ist weltbildend«. 28
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Giovanni Gurisatti
ist, ist nicht jene anthropozentrisch-subjektivistische, welche die Welt »formt und herstellt«, ohne sie sein-zu-lassen (die nihilistische [technische] Seite der poiesis: »Welt ist nichts an sich, sondern ein Gebilde des Menschen, subjektiv« 32), sondern jene ontozentrisch-objektivistische, welche die Offenbarkeit der Welt als solche »enthüllt und empfängt« und sie zugleich die Welt, die sie ist, sein lässt (die nicht nihilistische [künstlerische] Seite der poiesis: »Das ›Offensein für‹ ist von Grund aus das sich-bindenlassende freie Sich-entgegenhalten zu dem, was da als Seiendes gegeben ist« 33). Scheler und Heidegger stimmen darin miteinander überein, einerseits das Offensein des weltarmen Tieres – und des gewöhnlichen Menschen – durch das »Hingenommen sein von …« und das »Eingenommen sein in …« zu kennzeichnen. Andererseits darin, die freie Offenheit, das freie Sichbindenlassen, die freie Entgegengehaltenheit gegenüber der Welt als die Charakteristika des weltbildenden da-seienden Menschen anzusehen. 34 Indem Heidegger sich am Ende seiner Vorlesung durch die Anthropologie hindurchwindet, setzt er seinen Gedankengang in die Richtung des Grundgeschehens der Weltbildung bzw. des »Eingehen[s] in das Geschehen des Waltens der Welt« 35 fort, welches jetzt explizit als derjenige eröffnende Entwurf verstanden wird, der »das eigentliche Geschehen [des] Unterschiedes von Sein und Seiendem [das heißt, die ontologische Differenz – A. d. V.]« entbirgt und ermöglicht. 36 Diese Tatsache macht zweifellos eine radikalisierende Überwindung, Verwindung und ontologische Umkehrung der Scheler’schen philosophischen Anthropologie aus, aber lässt zugleich – hierauf werden wir später zurückkommen – einige ästh-ethische Grundzüge derselben Anthropologie unverändert.
Heidegger, Die Grundbegriffe GA 29/30, 413. 33 Heidegger, Die Grundbegriffe GA 29/30, 496. 34 Heidegger, Die Grundbegriffe GA 29/30, 497–98. 35 Heidegger, Die Grundbegriffe GA 29/30, 510. 36 Heidegger, Die Grundbegriffe GA 29/30, 529. 32
der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit,
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»Geist« und »als«
3.
»Geist« und »als«
Diese knappe phänomenologische Analyse einiger Aspekte der Divergenz/Konvergenz zwischen Schelers philosophischer Anthropologie und Heideggers Metaphysik des Daseins kann uns aber eine genaue vergleichende Betrachtung zwischen den zwei Schlüsselbegriffen, die den zwei unterschiedlichen Perspektiven zugrunde liegen, nicht ersparen, und zwar: Zwischen dem »Geist« bei Scheler und dem »als« bei Heidegger. Zunächst kann man sagen, dass in der Vorlesung zu den Grundbegriffen der Metaphysik die Als-Struktur sich als eine Überwindung, Umkehrung und Verwindung des Geistes gestaltet, von dem in der Stellung des Menschen im Kosmos die Rede war. Von Schelers Reflexion greift Heidegger einerseits die ontischen Charakteristika wieder auf; andererseits entwickelt, radikalisiert, wandelt und dreht er dieselben Motive in einem ontologischen Sinne um. Hier wird der Übergang von der Scheler’schen »Geist-Struktur« des Menschen zur Heidegger’schen »Als-Struktur« des Daseins vollzogen. Auch in diesem Fall trägt die vorbereitende Strategie des Vergleiches Mensch-Tier, welche bei den zwei Autoren die vor-diskursive Ebene des Verhaltens in den Vordergrund stellt – als die einzige, in der ein solcher Vergleich angemessen scheint –, dazu bei, der metaphysischen Sonderstellung des Menschen und des Daseins im breiteren Kontext des lebendigen Seienden ästh-ethische Konkretheit zu geben. Was ist der Geist für Scheler? Es ist das, was den »Wesensunterschied« zwischen Mensch und Tier sowie (was im Folgenden deutlich werden wird) die relative Unterscheidung zwischen Mensch und Mensch ausmacht. 37 Es geht daher zunächst darum, zu verstehen, was Menschen und Tieren gemeinsam ist: Nicht nur die mit dem Bedarf des bios verbundenen Instinkte, Triebe, Affekte und Bedürfnisse, sondern auch (insbesondere bei den höheren Tieren) die »praktische Intelligenz« und die »Wahlfähigkeit« 38, welche Scheler keineswegs nur dem Menschen zuschreibt, wie dies hingegen bei Descartes und Kant der Fall war: »Es ist irrig«, so Scheler, »dem Tiere die Wahlhandlung [und die Intelligenz] abzusprechen […]. Das Tier ist kein Triebmechanismus«. 39 Diese »echte Intelligenzhandlungen« setzen 37 38 39
Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 45. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 39 und 44–45. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 44.
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notwendigerweise – zumindest bei den höheren Tieren – ein gewisses Maß, obgleich ein minimales, von der Fähigkeit voraus, zu abstrahieren und die objektiven Verhältnisse in der Umgebung zu vernehmen. 40 Diese Handlungen haben also eine innovative und schöpferische Intelligenz zur Voraussetzung; eine Intelligenz, die aber – gerade weil sie bloß pragmatisch ist – relativ ist, das heißt, »praktisch-organisch-gebunden« 41 bleibt. Um es kurz zu sagen: Scheler gesteht wohl zu, dass sowohl Menschen als auch Tiere in unterschiedlichen Graden – wie Darwin und die Evolutionisten lehren – über eine bio-funktionale (strategische, instrumentale und utilitäre) Intelligenz bzw. Wahlfähigkeit verfügen, welche von den Bedürfnissen der Spezies und der Umwelt abhängig bleibt. Und dennoch will er damit »einen letzten Unterschied zwischen Menschen und Tier« keineswegs ablehnen. 42 Ein solcher Unterschied lässt sich, so Scheler, in all seiner metaphysischen Tragweite an der höchsten »Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst«, 43 d. h. an der – nur dem Menschen eigenen – Fähigkeit erkennen, das »Gegenstand-Sein« der Welt (die Welt »als« Welt, das Seiende »als« Seiendes) »gegenständlich zu fassen«, welche »die formalste Kategorie« des Geistes bildet. 44 Es handelt sich hier nicht um eine relative, immerhin bio-funktionale, Objektivierung, sondern um ihr Gegenteil: Um eine absolute, antibiotische, und daher ethische Objektivierung, wobei sich das ethos dem bios, das ästh-ethische Verhalten dem – auch menschlichen – strategisch-pragmatischen Verhalten entgegenstellt. Hier scheint es entscheidend zu sein, dass für Scheler das metaphysische Wesen des Geistes – die Objektivierung – sich nicht vorrangig und primär (in einem anthropo-logozentrischen Sinne) als logos, ratio, Wort, Rede usw., sondern vielmehr als Verhalten, als Art und Weise, wie man ist, als vor-logisches, vor-diskursives und vor-prädikatives ethos ausdrückt: »Geist-Haben« bedeutet ursprünglich und wesentlich »Person-Sein«. 45 Die Grund-bestimmung eines »geistigen« Wesens ist dann: »[S]eine existentielle Entbundenheit, Freiheit, Ablösbarkeit –
40 41 42 43 44 45
Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 42. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 39 und 42. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 45. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 48 (Hervorh. i. O.). Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 50. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47.
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oder doch die seines Daseinszentrums [d. h. die Person] – vom Banne, vom Drucke, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom ›Leben‹ und von allem, was zum ›Leben‹ gehört, also auch von seiner eigenen triebhaften Intelligenz«. 46 Es ist diese ästh-ethische (vor-logische, vor-diskursive, vor-prädikative) Dimension des objektivierenden Geistes, welche für Scheler die »Person« sowohl vom Tier als auch vom gewöhnlichen Menschen unterscheidet. Der gewöhnliche Mensch ist ein solcher, der entweder versunken in der Umwelt lebt, oder nur die bio-funktionale pragmatische Seite der Objektivierungsfähigkeit (in einem anthropozentrischen Sinne) ausübt (und eine Übung, die letztlich zur »Technik«, egal wie sie verstanden ist, antreibt). Im Gegensatz dazu bedeutet für die Person die vor-diskursive Objektivierung der Welt »als« Welt – wie schon gesagt – ein freies und unbegrenztes Offenwerden für die Welt und eine ästhetische und ethische – weder technische noch pragmatische – Stellungnahme zu derselben: a)
b)
46 47 48 49
Ästhetisch, sofern nur der Mensch als Person (zum Beispiel der Künstler) »ein Bild der Welt selbst zu gewinnen weiß, dessen Gegenstände von seiner psycho-physischen Organisation, […] seinen Bedürfnissen und deren Interessen an den Dingen, ganz und gar unabhängig sind«. 47 Mit anderen Worten: Nur das uneingeschränkt offene Verhalten zur Welt seitens des Menschen als Person kann dasjenige völlig freie Verhältnis zur Welt erreichen, welches darin besteht, »sich darüber [zu] verwundern (thaumazein)« 48, sich über die Nicht-Nichtigkeit der Welt zu wundern. Dabei handelt es sich um ein vor-logisches und vordiskursives Erstaunen, welches das Urphänomen jedes »neuen Kunst- und Zeichenprinzips« ausmacht, das seinerseits jede biologische Verbindlichkeit transzendiert und sich dadurch als »weltexzentrisch« 49 erweist. Ethisch, sofern sich nur der Mensch als Person (beispielsweise der Asket) zum Seienden (zur Welt) auf eine Art und Weise, in der nicht die Funktion (die bio-zentrische Logik des pragmatischen Nutzens), sondern nur der ontologische »Wert« zählt, verScheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 57. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 108. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 108.
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halten kann. 50 Hier erweist sich der Geist als der jederlei technischer Intelligenz völlig fremde »reine Wille« dazu, die Bünde unseres »triebhaften Lebens« und »zentralen Lebensdrangs« 51 aufzuheben, außer Kraft zu setzten, zu entwirklichen und zu inaktualisieren. Hier symbolisiert die Askese die ontologische Fähigkeit des Menschen als Person, die Grenzen seines eigenen bios und der eigenen Umwelt zu durchbrechen bzw. zu transzendieren: »Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – empor zu schwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus Alles, und darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen«. 52 Was ist nun das »als« (beziehungsweise die »Als-Struktur«) für Heidegger? Es ist, genau wie der Geist (die »Geist-Struktur«) bei Scheler, das, worin sowohl der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier als auch die relative Unterscheidung zwischen Mensch und Mensch zu finden sind. Das »als« ist zunächst die rein menschliche Fähigkeit, »sich gegenüber« der Welt als einem Objekt entgegen zu »stellen«, sich gegenüber dem Seienden »als dem und dem überhaupt, als einem Vorhandenen, als einem Seienden« 53 zu stellen. Für Heidegger ist das Tier – ontologisch, nicht axiologisch – benommen-hingenommen nur, weil ihm wesentlich die Möglichkeit des Vernehmens von etwas als etwas genommen ist, und zwar nicht jetzt und hier, sondern genommen im Sinne des ›überhaupt nicht gegeben‹. […] Das Tier steht als solches nicht in einer Offenbarkeit von Seiendem. Weder seine sogenannte Umgebung noch es selbst sind als Seiendes offenbar. […] [Das Seiende] ist kein Bleibendes, das dem Tier als ein möglicher Gegenstand gegenübersteht. 54
Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 44: »Das, was das Tier sicher nicht hat, ist erst jenes Vorziehen zwischen Werten selbst […], unabhängig von den einzelnen konkreten Güterdingen«. 51 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 64–66. 52 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 57. 53 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 360. 54 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 360–361 und 372. 50
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Heidegger sieht noch drastischer als Scheler, und doch derselben Logik folgend, den »Abgrund« zwischen Tier und Mensch in der Unfähigkeit, »etwas als etwas, etwas als Seiendes [zu vernehmen]«, also zu objektivieren. 55 Das Tier »weiß« nichts von der Welt und daher »hat« es sie auch nicht: Es ist weltarm. Dies ist umso triftiger, desto mehr für Heidegger – wie schon für Scheler – gerade die »Als-Struktur« als Fähigkeit, etwas als etwas zu vernehmen, die Bedingung der Möglichkeit für das oben beschriebene ästh-ethische (weder anthropozentrische noch subjektivistische) Verhalten der Weltbildung ausmacht – Weltbildung, die hier zugleich als ästhetische Antwort auf die »Offenbarkeit von Seiendem als solchem« und ethische Haltung im Sinne des »sich-darauf-Einlassens als Sein-lassens dessen, was begegnet«, interpretiert wird. Eine so verstandene Weltbildung unterscheidet, wie schon gezeigt, das »schlafend-benommene« (anthropozentrische) Verhalten des gewöhnlichen Menschen vom »wachend-offenen« (ontozentrischen) Verhalten des eigentlichen Da-Seins, denn Heidegger ist sich völlig bewusst, dass »selbst der Mensch, zu dessen Wesen die Weltbildung gehört, zunächst und zumeist um die Welt als solche nicht eigentlich weiß«. 56 So paradox dies scheinen mag, weisen nämlich für Heidegger, welcher damit die Schelersche Anthropologie in eine ontologische Richtung radikalisiert, »das ›Sein‹ und das ›als‹ […] in denselben Ursprung […]: Die Aufhellung des Wesens des ›als‹ geht zusammen mit der Frage nach dem Wesen des ›ist‹, des Seins. […] Das ›als‹ […] ermöglicht die Hinsicht auf dergleichen wie Sein«. 57 Kein Zweifel: Die »Als-Struktur« ist für Heidegger der Zugangsschlüssel zum Weltbegriff, verstanden als Offenbarkeit des Seienden als Seienden, das heißt hinsichtlich seines Seins. Als-Struktur und Seins-Frage sind eins.
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 384. 56 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 392. 57 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 484. 55
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4.
Die Verwindung des »als« vom logos zum ethos
Scheler distanziert sich, wie schon gezeigt, von der anthropo-logozentrischen Tradition, indem er den Geist nicht primär als logos, ratio, Wort, Sprache usw., sondern als vor-logisches, vor-diskursives und vor-prädikatives ethos begreift, welches auf eine ursprüngliche Weise die ästh-ethische praxis/poiesis der Person auszeichnet. Heidegger tut genau das Gleiche, obwohl er dabei meisterhaft das radikalisiert und vertieft, was bei Scheler nur als Perspektive – im aus guten Gründen begrenzten Kontext von der Stellung des Menschen im Kosmos – umrissen bleibt. Die traditionelle anthropo-logozentrische Antwort auf die Fragen: »Was ist der Mensch?« – »Was unterscheidet ihn wesentlich vom Tier?« lautet nämlich: Der Mensch ist zoon logon echon, das Tier, das den logos als Vernunft, ratio, und Sprache, verbum, hat. »Wenn wir fragen«, so Heidegger, »Was ist mit dem ›als‹, so werden wir zunächst sagen: Es ist eine sprachliche Ausdrucksform«. 58 Und dennoch erzielt für Heidegger die selbstverständliche Identifizierung des logos-»als« mit der logischen, diskursiven und prädikativen Dimension der Aussage, des Urteils und des Satzes, 59 überhaupt nicht die »ursprünglichere Problematik« des logos-»als«, 60 welche – gerade wie im Fall des Geistes bei Scheler – nicht primär logisch-diskursiv, sondern ethisch-vordiskursiv ist. Mit anderen Worten muss das »als« als prädikativer logos, wenn man diesen in seiner ontologischen Wurzel verstehen will, einer Überwindung, Umkehrung und Verwindung unterzogen werden. Das prädikative »als« muss in das »als« als vorprädikatives ethos (ein vor-diskursives ethos, das nicht nur dem diskursiven logos ontologisch vorausgeht, sondern auch dessen notwendige Vorbedingung ist) verwunden werden. Um »über« die Welt als Objekt zu »sprechen«, muss das Da-Sein im Voraus für ihre ontologische Objektivität als solche, das heißt, für die Offenbarkeit des Seienden als solchem im Ganzen, ästh-ethisch offen werden. Der logos als Aussage, so Heidegger, »gründet in einer Offenbarkeit, die Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 416. 59 Zugleich wurde traditionell der logos innerhalb des verhärteten und selbstverständlich gewordenen Zusammenhangs von Logik und Metaphysik (siehe die Logik als Wissenschaft von der Vernunft bei Hegel) betrachtet. 60 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 419–421. 58
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wir, weil sie vor der Prädikation und Aussage liegt, bezeichnen als vorprädikative Offenbarkeit oder besser als vorlogische Wahrheit«. 61 Und es ist völlig konsequent und bedeutsam, dass auch in diesem Fall Heidegger die Einschränkung des logos-»als« auf die leere, formale, logisch-prädikative Wahrheitsbeziehung zwischen a und b in dem Aussagesatz als eine irrtümliche, verhängnisvolle Nivellierung des ganzen Phänomens des »Als« ansieht, welche typisch für das unterschiedslose Verhalten der Alltäglichkeit ist: »Von hier aus noch jemals auf das Wesen des ›als‹ treffen zu wollen, ist aussichtslos«. 62 Um zum Wesen des logos-»als« zu gelangen, muss man also durch die logisch-prädikative Satzstruktur hindurch vordringen, um zurück (und das ist der Absprungs-Umweg bzw. die Verwindung-Umkehrung der Tradition) 63 zu der rechten Dimension, welche die Voraussetzung der Prädikation ist, 64 zu gehen, und zwar: auf die ursprüngliche »völlig andere« – vor-logische und vorprädikative – Bestimmung des logos als ethos. 65 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 494. 62 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 425. Von großem Interesse und fruchttragend ist die Tatsache, dass Heidegger der »indifferenten Normalform der Aussage ›a ist b‹«, welche die dem gleichgültigen »alltäglichen Miteinanderreden« entsprechende Redeform ist, eine andere Form des Miteinanderseins/Miteinandersprechens in der Alltäglichkeit, und zwar jene der (aristotelischen) Rhetorik, entgegensetzt: »Wenn wir sagten, daß die Geschichte der Logik im Abendland von der griechischen Theorie des logos im Sinne des Aussagesatzes bestimmt ist […], dann muß doch zugleich erwähnt werden, daß […] Aristoteles […] in seiner Rhetorik die grandiose Aufgabe erkannte und in Angriff nahm, die Formen und Bildungen der nicht thetischen Rede einer Interpretation zu unterwerfen« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, 439). Ähnlich wie bei Aristoteles verwurzelt für Heidegger der rhetorische logos tief im ethischen Verhalten: vgl. Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18. 63 Diese Logik der Verwindung wird von Heidegger wörtlich erwähnt: »Wenn wir uns von dieser Tradition in einer Hinsicht befreien wollen, so heißt das nicht, sie gewissermaßen abstoßen und hinter sich zu lassen, sondern alle Befreiung von etwas ist nur dann eine echte, wenn sie das, wovon sie sich befreit, beherrscht, sich aneignet. Die Befreiung von der Tradition ist Immerneuaneignung ihrer wiedererkannten Kräfte« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 511). 64 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 435–436. 65 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 440. 61
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Warum aber benutzen wir beharrlich den Terminus ethos (einen Terminus, den Heidegger, dies sei an dieser Stelle betont, weder hier noch anderswo verwendet)? Weil das logos-»als« – wie gesagt – ab origine eine rätselhafte, überhaupt nicht selbstverständliche »Beziehung« zur Welt und zum Sein ist; eine Beziehung, welche zunächst und vor allem den Charakter nicht der sprachlichen Aussage, sondern des praktischen Verhaltens aufweist. Für Heidegger, ähnlich wie für Scheler, ist der logos gerade »ein wesentliches Verhalten des Menschen«, ein vorlogisch-vorprädikatives Verhalten, welches »das Wesen des Menschen« 66 ausmacht. Als ethische (als Sich-Einlassen und Sein-lassen) und ästhetische (als Sich-Öffnen und Bilden) Erfahrung der Offenbarkeit vom Seienden als solchem, ist das »als« primär keine logische Funktion, sondern eine ontologische Struktur der ethischpoietischen Seinsweise, Verhaltensweise und Handlungsweise des Da-Seins, welche jeder anderen möglichen Vollzugsweise des logos (Vernunft, ratio, Sprache, verbum, Aussage, Urteil, Satz, usw.) zugrunde liegt. Indem Heidegger explizit (vermutlich gerade dank der Auseinandersetzung mit Scheler) über Sein und Zeit hinaus geht, 67 definiert er in seiner Vorlesung von 1929/30 den logos seinem Wesen nach, in seinem inneren Wesensbau als ein Vermögen zu … […] die Möglichkeit zu einem Verhalten zu, d. h. die Möglichkeit zu einem Bezug zu Seiendem als solchem. Der logos ist ein Vermögen, d. h. in sich selbst das Verfügen über ein Sichbeziehen zum Seienden als solchem. […] Der logos stellt nicht erst einen Bezug zum Seienden als solchem her, sondern gründet seinerseits auf einem solchen. […] Der logos apophantikos als Aussage […] gründet in einer Offenbarkeit, die wir, weil sie vor der Prädikation und Aussage liegt, bezeichnen als vorprädikative Offenbarkeit oder besser als vorlogische Wahrheit. 68
Der logos apophantikos (die logisch-prädikative Funktion des Urteils, der Aussage, des Satzes usw.) setzt als seinen wesentlichen Grund das Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 486. 67 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 488–489. 68 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 489, 492 und 494. »Allem aussagenden Verhalten streckt sich schon […] ein solches Verhalten vor, das den Charakter des Sichentgegenhaltens einer Verbindlichkeit hat […]. Das eine Moment, das dem logos zugrunde liegt, ist dieses Sichentgegenhalten einer Verbindlichkeit« (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 502–503). 66
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ästh-ethisch-vorprädikative Vermögen der »Als«-Struktur voraus, welche eine direkte Beziehung mit dem Sein hat. Dies ist bedeutend, weil das Tier über eine solche hauptsächlich ästh-ethische Struktur nicht verfügt und deshalb nicht »sprechen« kann, obwohl es die entsprechenden Organe besitzt. Dies ist der Grund, warum Heidegger im letzten Teil der Vorlesung, um in einem ontologischen Sinne die Differenz Tier-Mensch noch stärker zu radikalisieren, den logisch-diskursiven Charakter des logos – als typisch für die anthropo-logozentrische Tradition des zoon logon echon – überhaupt nicht betont. Vielmehr unterstreicht er, entsprechend seiner eigenen existenzialontozentrischen Zugangsweise zum Dasein, den gleichsam ästh-ethischen Charakter des logos: Wie das »logos-Geist«-Haben bei Scheler bedeutet für Heidegger das »logos-›als‹«-Haben das vorprädikativvorlogische (ästhetische) Offensein und (ethische) Freisein für das Seiende als solches, welche ihrerseits die notwendige Voraussetzung des fundamentalen ästh-ethischen Verhaltens der Weltbildung als Enthüllung des Seins des Seienden konstituieren. 69 Abgesehen von der zweifellos entscheidenden theoretischen Frage der »ontologischen Differenz« (das heißt von der Seinsfrage als metaphysischer Grundfrage), welche in den letzten Zeilen der Vorlesung umrissen wird 70 – sind in der Tat Heideggers Schlussfolgerungen bezüglich des in der »Als«-Struktur verwurzelten ästh-ethischen Verhältnisses von Dasein und Welt nicht so verschieden von Schelers Betrachtungen über den im »Geist« fundierten Zusammenhang Mensch-Welt: Das Dasein muss sich der Möglichkeit des Eingehens in das Geschehen des Waltens der Welt als Waltenlassen des Seins des Seienden frei öffnen – darin besteht sein ästh-ethischer »Entwurf«. Dadurch erscheint das Dasein in seinem eigensten Wesen als »das Seiende ureigener Art, das aufgebrochen ist zu dem Sein, […] von dem wir sagen, daß es existiert, d. h. ex-sistit, im Wesen seines Seins ein Heraustreten aus sich selbst ist, ohne sich doch zu veranlassen«. 71 Genau wie für Scheler ist auch für Heidegger die Fähigkeit, sich selbst zu transzendieren und überschreiten, ohne sich doch zu veranlassen, gerade das, was dem Dasein die ästh-ethische Ur-Erfahrung 69 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 495–498 und 507–512. 70 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 517–522. 71 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 531.
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des thauma und des enthousiasmos gegenüber dem Geschehen des Waltens des Welt-Seins erlaubt, da wo »wache Hingerissenheit«, »Gefährlichkeit des Entsetzens« und »Seligkeit des Staunens« eins sind. 72 An dieser Stelle ist es nicht mehr verwunderlich, dass Heidegger, um den ethischen Charakter des »Sich Einlassens und Sein-Lassens« zu markieren, von Schelers Schlüsselwort, d. h. von »Person«, Gebrauch macht: »Alles Verhalten aber ist nur möglich in der Verhaltenheit, Verhaltung, und Haltung gibt es nur, wo ein Seiendes den Charakter des Selbst, wie wir auch sagen, der Person hat«. 73
5.
Geist als Person – Person als Dasein
Diese von Heidegger angedeutete, aber nicht ausführlich entwickelte Konvergenz bezüglich des Selbst als »Person« erlaubt uns eine abschließende Bemerkung zum Zusammenhang zwischen dem Scheler’schen Geist und dem Heidegger’schen »als«. Es wurde deutlich gemacht, dass bei Scheler der Mangel an Geist beim Tier dessen Unfähigkeit, sich der Welt als »Objekt« zu öffnen, und daher zur Welt objektiv (d. h. frei) Stellung zu nehmen, mit sich bringt. Dieses Unvermögen setzt seinerseits ein anderes voraus, und zwar: Die Unfähigkeit, sich dem Selbst als »Gegenstand« zu öffnen: Erst der Geist würde dem Tier diejenige höhere Form von Reflexion gestatten, welche als Selbstobjektivierung, Selbstbewusstsein, Selbstbesitz und Selbstmacht 74 das Tier befähigen würde, sich frei zu seinen eigenen Stellungnahmen zu positionieren, d. h. ein jede Weltoffenheit ermöglichendes ästh-ethisches Verhalten nicht nur zur Welt, sondern noch ursprünglicher zu sich selbst anzunehmen. Nun liegt für Scheler »das Merkwürdigste« des Menschen im Vergleich zum Tier gerade in der folgenden exklusiven Fähigkeit: Nur der Mensch vermag nicht nur die ›Umwelt‹ in die Dimension des ›Welt‹-seins zu erweitern […], sondern er vermag auch […] seine eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes einzelne psychische Erlebnis selbst wieder gegenständlich zu halten. […] Der Mensch [als Person] ist noch ein
72 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 531. 73 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 397–98. 74 Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 50–51.
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»Geist« und »als«
drittes Mal [sich gegeben] im Selbstbewußtsein und in der Gegenstandsfähigkeit aller seiner psychischen Vorgänge. 75
Dabei ist offensichtlich, dass das Gewinnen einer absoluten, anti-biotischen, und daher ethischen Objektivierung seiner selbst, welche in der Fähigkeit besteht, sich »vom Banne, vom Drucke, von der Abhängigkeit« der Bedürfnisse des eigenen impulsiven, pragmatischen, strategischen, bio-funktionalen Selbst zu emanzipieren, zu befreien und zu lösen, nicht nur den Geist des gewöhnlichen Menschen erfordert, sondern gerade den »ausgezeichneten« Geist, der sich nur in der Person entfaltet. Es ist die Person, die sich als »Daseinszentrum« allen »funktionellen ›Lebens‹-zentren, […] die auch ›seelische‹ Zentren heißen« 76 entgegenstellt. Anders gesagt: Nur derjenige, der sich dank eines auto-ethopoietischen Geistes um sich selbst als Person gekümmert hat, »vermag auch sein Leben« über die bio-zentrische Gegenüberstellung von Selbst und Umwelt hinaus »frei von sich zu werfen« 77 und kann auf eine ästh-ethische Weise exzentrisch im Bezug auf seinen eigenen Biozentrismus werden: »Der Mensch allein – sofern er Person ist – vermag sich über sich – als Lebewesen – empor zu schwingen und von einem Zentrum gleichsam jenseits der raumzeitlichen Welt aus Alles, und darunter auch sich selbst, zum Gegenstande seiner Erkenntnis zu machen«. 78 Kurz gesagt: Nur derjenige, der dank seines Geistes imstande ist, sich selbst und ebenso die Welt, zu objektivieren-und-transzendieren, kann im ästh-ethischen Sinne ein »Asket des Lebens« sein. 79 In der Vorlesung von 1929/30 findet man einen ähnlichen Gedankengang, obwohl sich dieser aufgrund der deutlichen Akzentverschiebung auf die Weltfrage zum Schaden der Selbstfrage (und überdies wegen der bekannten Abneigung, der Allergie Heideggers gegenüber der »Ethik«) nur zwischen den Zeilen lesen lässt. Da das Tier nicht über das »als«, das heißt über die Fähigkeit zur Objektivierung, und daher auch zur Selbstobjektivierung verfügt, ist es – dies muss zuerst bemerkt werden – nicht nur in seiner Umgebung, sondern auch in seinem Selbst verbunden, hingenommen, benom-
75 76 77 78 79
Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 51 und 53. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 47. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 51. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 57. Vgl. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 65.
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men. Die Tatsache, dass die Benommenheit das Wesen der Tierheit ausmacht, bedeutet, dass dem Tier weder seine sogenannte Umgebung noch es selbst […] als Seiendes offenbar [sind]. […] [Das Tier] hat grundsätzlich nicht die Möglichkeit, […] auf das Seiende, das es selbst ist, sich einzulassen. […] Deshalb ist das Hingenommensein nie ein Sicheinlassen auf Seiendes, auch nicht auf sich selbst als solches. 80
Das heißt: Das Tier ist immer (nur) »bei sich«, und zwar »ohne Reflexion«, es nimmt niemals von sich Abstand und dieses eingenommene, benommene, tierische Bei-sich-sein hat »nichts von einer Selbstheit des sich verhaltenden Menschen als Person.« 81 So wenig wie das Tier das Problem des Welt-Seins stellen kann, so wenig kann es das Problem des Selbst-Seins (des »Zuseins« und »Seinkönnens« von Sein und Zeit) stellen – so wenig es weltbildend (hetero-poietisch) sein kann, so wenig kann es selbstbildend (auto-poietisch) sein: Es ist weltarm, sofern es selbstarm ist. Zweitens muss man bemerken, dass auch der schlafend-benommene gewöhnliche Mensch, obwohl er über das »als« verfügt, doch in seinem alltäglichen Dahintreiben und indifferenten Verhalten sich kaum um Welt-Bildung und Selbst-Bildung, kaum um das eigentliche Selbst, um das Sein und Da-Sein sorgt: »die tiefste Indifferenz und Gleichgültigkeit des vulgären Verstandes […] hat darin ihr Ungeheures, daß er das Sein des Seienden überhört und nur Seiendes zu kennen vermag«. 82 Für Heidegger können jedoch gerade »aus der Alltäglichkeit heraus« ästh-ethische Grundverhältnisse des Daseins nicht nur zum Welt-Seienden, sondern auch zum Selbst-Seienden wach werden 83, so argumentiert er bereits in Sein und Zeit. Dies aber setzt – wie bei Scheler – eine radikale »Verwandlung des menschlichen Daseins« voraus, welcher sich übrigens »der vulgäre Verstand zufolge einer
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 361 und 376–77. 81 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 347. 82 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 517. 83 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 400. 80
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»Geist« und »als«
natürlichen Behäbigkeit [widersetzt]«. 84 Wie schon gesagt: Alles ethos ist nur da möglich, wo ein Seiendes – ein Mensch, ein Dasein – den Charakter des Selbst, der Selbstheit, d. h. der Person, hat. Abschließend kann für Heidegger das Dasein nur als Selbstreich (indem es sich zu eigen, eigentlich ist, d. h. Selbst, Selbstheit, Person, ist) 85 Welt-reich sein; nur als selbst-bildend (auto-poietisch) kann es welt-bildend (hetero-poietisch) sein: Selbstbildung (Sorge um sich) und Weltbildung (Sorge um die Welt) sind eins. Wenn es wahr ist, dass das ästh-ethische Wesen des Menschen, das Dasein in ihm, »durch den Entwurfscharakter bestimmt ist« 86, ist auch wahr, dass es – wie Sein und Zeit beweist – keinen Weltentwurf ohne Selbstentwurf gibt. Und wenn es wahr ist, dass der Ent-wurf in gewisser Weise den Entwerfenden (das einzelne Dasein) ontozentrisch »von sich weg- und fort-« in Richtung des Seins trägt, ist es auch wahr, dass derselbe Entwurf scheitert, wenn er »gerade eine eigentümliche Zukehrung des Entwerfenden zu ihm selbst« 87 nicht voraussetzt. Das heißt: Das ästhetische Eingehen des Daseins in das Geschehen des Waltens der Welt kann sich nur aufgrund einer ethischen Verwandlung des Daseins selbst vollziehen. Laut Heidegger kann dieser verwandelnde (bzw. verwindende) »Eingang und Rückgang des Menschen in das Dasein in ihm«, welcher uns zu unseren Anfangsüberlegungen und zur Unterscheidung zwischen Metaphysik des Daseins und philosophischer Anthropologie zurückführt, »immer nur vorbereitet, nie erwirkt werden« 88, und dafür ist die Sorge um sich erforderlich. Die ästh-ethische Sorge um sich bedeutet für Heidegger, wach zu sein, sich zu besinnen, eine Haltung des Wartens anzunehmen und das eigene Geschick im Geschick des Seins warten zu können: Die Kraft des Wartens aber gewinnt nur, wer ein Geheimnis verehrt. Diese Verehrung ist in diesem metaphysischen Sinne das Hineinhandeln in das Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 423. 85 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 347 und 397–98. 86 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 526. 87 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 527. 88 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 510. 84
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Giovanni Gurisatti
Ganze, das uns je durchwaltet. […] Der Blick ins Licht reißt die Finsternis als solche herbei, gibt die Möglichkeit jener Dämmerung des Alltags, darin wir zunächst und zumeist das Seiende erblicken […]. 89
Aber auch aus einer deutlich ontologischen Perspektive – bedeutend ist in dieser Hinsicht der abschließende Hinweis auf den Zarathustra von Nietzsche – nehmen die letzten Passagen der Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik eine unmissverständliche mystischmessianische Färbung an, da wo Heidegger von »Geschehen«, »Einbruch« und »Offenbarung« der ontologischen Differenz spricht, auf welche das Da-Sein entsprechend antworten muss, indem es sich in dieser ex-statisch ent-wirft. 90 In ähnlicher Weise führen die letzten Textpassagen von der Stellung des Menschen im Kosmos – gerade aufgrund der menschlichen Fähigkeit, sich selbst und die Welt dank des Geistes zu objektivieren und ex-statisch zu transzendieren – dazu, »die formalste Idee eines überweltlichen, unendlichen und absoluten Seins« 91, d. h. die »formale Seinssphäre eines […] schlechthin in sich selbständigen Seins«, das Scheler »Gott« nennt, zu skizzieren. 92 Im oben erwähnten Vortrag vom Januar 1929 drückt sich Heidegger unter Bezugnahme auf Zur Idee des Menschen (1915/27) von Scheler nicht ohne Hintergedanken folgendermaßen aus: »Scheler sieht im Menschen das Wesen, das betet und Gott sucht. ›Intention und Geste der Transzendenz selbst‹. ›Ein Ding, das anfängt, über sich hinauszugehen und Gott zu suchen‹«. 93 Dies sei eine offensichtliche Grenze der theomorphischen Metaphysik von Scheler. Und dennoch muss Heidegger die folgende, zum abschließenden Teil von der Stellung des Menschen im Kosmos einführende Behauptung nicht fremd gewesen sein: In demselben Augenblick, in dem sich der Mensch überhaupt der Welt und seiner selbst bewusst geworden ist, entdeckt er mit anschaulicher Notwendigkeit »den eigenartigen Zufall, die Kon-
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 510. Vgl. auch Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 530. 90 Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, 529–531. 91 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 105. 92 Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 106. 93 Heidegger, Philosophische Anthropologie und Metaphysik des Daseins, GA 80.1, 221. 89
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»Geist« und »als«
tingenz der Tatsache, daß ›überhaupt Welt ist und nicht vielmehr nicht ist‹, und daß ›er selbst ist, und nicht vielmehr nicht ist‹«. 94 Ist dies letztlich nicht das ursprüngliche Problem der Heidegger’schen Ontologie selbst? Weisen das unbegrenzt offene ästh-ethische Verhalten zur Transzendenz der Welt seitens des Menschen bei Scheler und des Daseins bei Heidegger, das meta-physische thaumazein, mit dem sowohl Die Stellung des Menschen im Kosmos als auch Die Grundbegriffe der Metaphysik enden, nicht im Grunde auf eine – zumindest theoretische und strukturelle – Konvergenz von philosophischen Absichten hin? Stimmt es wirklich, dass das Göttliche (die Deitas) bei Scheler und das Heilige (die Götter) bei Heidegger auf völlig unterschiedliche Erfahrungen anspielen? Und was soll man weiterhin zur Scheler’schen Idee sagen, dass »die Mensch- und die Gottwerdung [von vornherein] gegenseitig aufeinander angewiesen [ist]« 95? Diese Idee geht übrigens so weit, dass der hauptsächliche »Akt des Einsatzes und der tätigen Identifizierung« der Person mit dem überweltlichen, unendlichen, in sich selbständigen und absoluten Sein gerade in der Teilnahme und Mitwirkung an dessen Offenbarung (innerhalb einer »werdenden gegenseitigen Durchdringung« 96) letztlich besteht. Ist aber dies für Heidegger nicht gerade der Bezug von Da-Sein und Sein im Entwurf des »Waltenlassen[s] des Seins des Seienden im Ganzen seiner jeweils möglichen Verbindlichkeit«, da wo im Entwurf »die Welt [waltet]« 97? In der gebotenen Kürze kann man leider die Konvergenzen und Divergenzen zwischen Scheler und Heidegger nicht weiter untersuchen, aber es liegt nahe, dass gerade in diesem problematischen Kontext die »Verwindung des Menschen im Dasein« ihre entscheidende Bestätigung findet. Übersetzung aus dem Italienischen von Chiara Pasqualin
94 95 96 97
Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 107. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 111. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 112–13. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 80.1, 531.
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Das Vorprädikative als das »Pathische« Ein Vergleich zwischen der »großen Stille« bei Heidegger und dem »Sagen« bei Lévinas Chiara Pasqualin
Zusammenfassung: Die in der Fundamentalontologie explizit gestellte Frage des Vorprädikativen kehrt, so die These des vorliegenden Beitrags, auf eine implizite und verwandelte Weise in Heideggers Spätdenken innerhalb seines Projekts einer »ursprünglichen Logik« wieder. Im Rahmen dieses Projekts wird die Dimension des Λόγος des Seins ergründet, welche sich als vorsprachlich erweist. Der unmittelbare Empfang dieses Λόγος seitens des Menschen geschieht ontisch in sprachlosen Grundstimmungen und ontologisch in der Befindlichkeit. Der wechselseitige Bezug zwischen dem Λόγος des Seins und der menschlichen Affektivität findet auf einer vor-hermeneutischen Ebene statt und erreicht im Begriff der »großen Stille« eine besondere Verdichtung. Das Affiziertsein durch das Sein kann als dasjenige vorprädikative Ereignis interpretiert werden, das den Ursprung der menschlichen Sprache ausmacht. Auf der Grundlage dieser Deutung ist es möglich, eine Parallele zu Lévinas’ Konzeption des »Sagens« zu skizzieren und somit zu einem neuen Verständnismodell des Vorprädikativen als des »Pathischen« zu kommen.
1.
Einleitung
Der Begriff des Vorprädikativen nimmt bekanntlich in der ersten, fundamental-ontologischen Phase des Denkens Heideggers eine entscheidende Rolle ein. Als »vorprädikativ« charakterisiert Heidegger in den 1920er Jahren die hermeneutische Strukturierung des phänomenalen Feldes in einen Bedeutungskomplex – eine Strukturierung, welche nicht das Ergebnis der aussagend-definitorischen Rede, sondern eine spezifische Leistung des Verstehens und der dazugehörigen Funktion der Rede ist. 1 Bisher wurde in der Sekundärliteratur aber 1
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, insb. S. 197–213.
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kaum beachtet, ob und inwieweit der Begriff des Vorprädikativen auch im Ereignisdenken des späten Heidegger, in dem der Terminus kaum vorkommt, von Relevanz ist. 2 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Tragweite des Begriffes des Vorprädikativen auch im seinsgeschichtlichen Denken zu ermessen und das in ihm Bezeichnete in keiner Hinsicht sekundär und zu vernachlässigen ist. Man kann diese Behauptung zunächst dadurch begründen, dass man den vorprädikativen Charakter derjenigen Entwurfsmodi hervorhebt, welche im Spätdenken Heideggers besonders aufgewertet werden. Das künstlerische Entwerfen, vor allem das poetische Sagen, und das philosophische Entwerfen bzw. das denkende Sagen sind Existenzvollzüge, die sich als vorprädikativ bezeichnen lassen, da ihre Wirkung keiner prädikativen Funktion gleichkommt, sondern eine ursprünglich hermeneutische ist. Das dichterische und philosophische Sagen 3 ist kein objektivierendes Feststellen, kein Wiedergeben von ontischen Tatbeständen, sondern ein Verstehen des Seins und ein Bilden von neuen Bedeutungen, welche unsere Denk- und Existenzweise von Grund aus umstellen. Denken und Dichten als ausgezeichnete Weisen des bedeutungs- und weltbildenden Sagens gehören daher zu einer vorprädikativen Dimension des λόγος (d. h. der Sprache und des Verstehens). Und doch stoßen wir im Spätdenken Heideggers auf einen weiteren λόγος, und zwar den Λόγος des Seins, der ursprünglicher als der menschliche sein soll. Im Zusammenhang der Erörterung dieses Λόγος nimmt Heidegger sich vor, eine »ursprüngliche Logik« zu entwickeln. 4 Eine solche Logik hält offensichtlich nicht am überkomEine Analyse des Spätdenkens Heideggers in Bezug auf die Frage nach dem Vorprädikativen bleibt auch da, wo es zu einer näheren Diskussion dieses Begriffes kommt, aus: vgl. Cristina Lafont, Sprache und Welterschließung. Zur linguistischen Wende der Hermeneutik Heideggers, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1994; Carl Friedrich Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin/New York, de Gruyter, 1993, insb. 281–321; Vincenzo Costa, La verità del mondo. Giudizio e teoria del significato in Heidegger, Milano, Vita e Pensiero, 2003; Barbara Merker (Hg.), Verstehen nach Heidegger und Brandom, Hamburg, Meiner, 2009. 3 Zum »entwerfenden Sagen« der Dichtung vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, GA 5, 1–74, hier insb. 60–62. 4 Dieses Projekt lässt sich vor allem anhand der Heraklit-Deutung Heideggers in der Vorlesung von 1944 rekonstruieren. Vgl. Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, in: Heraklit, GA 55, 183–402, hier 278: »Der Λόγος, von dem Heraklit spricht, ist […] das Sein selbst, worin alles Seiende west. Diesen Λόγος nachdenken ist freilich 2
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
menen Begriff des λόγος als Aussage fest: Der Λόγος des Seins ist weder ein prädikativer λόγος noch lässt er sich von diesem aus verstehen. Der Leitfaden dieser ursprünglichen Logik ist aber auch nicht – wie zu zeigen ist – die Bedeutung des λόγος als Sprache, Verstehen, Artikulation von Bedeutung und gesprochene Sprache. Damit scheint Heidegger auch die vorprädikative Funktion von Sprache und Verstehen nicht mehr im Blick zu haben. Sein Projekt einer ursprünglichen Logik strebt vielmehr danach, in eine Dimension vorzudringen, welche weder sprachlich noch hermeneutisch im strikten Sinne ist. Wie wird diese Dimension des Λόγος des Seins von Heidegger gedacht? Wie wird dieser Λόγος vom Menschen empfangen? Welches Hören entspricht ihm? Im ersten Teil des Aufsatzes wird die These verfolgt, dass es gerade das Verhältnis zwischen dem Λόγος des Seins und dessen menschlichem Empfangen ist, das eine vorprädikative Dimension umgrenzt. Dabei erhält jedoch das Präfix »vor-« eine radikalisierte Bedeutung, indem es auf eine Dimension hindeutet, welche sogar noch vor der Sprache zu verorten ist. 5 Anhand des Spätdenkens Heideggers lässt sich also eine neue Deutung des Begriffes des Vorprädikativen aufweisen, welche sich auch von jener unterscheidet, welche Heideggers Thematisierung von Denken und Dichten entnommen werden kann. Zur Darlegung und Begründung der erwähnten These sollen im Folgenden 1) die Grundzüge des Λόγος ausgehend von Heideggers Perspektive hervorgehoben werden (Abnicht mehr Logik im üblichen Sinne. Gleichwohl halten wir den Titel ›Logik‹ fest, verstehen darunter jetzt aber […] die Besinnung auf ›den Λόγος‹, als welcher sich das Sein selbst anfänglich kundgibt«. Das Projekt einer in einem neuen Sinne zu verstehenden Logik – als Frage nach dem Wesen der Sprache – steht bereits in der Vorlesung von 1934 fest: vgl. dazu Heidegger, Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache, GA 38, insb. 169–170. 5 Dass der Begriff des Vorprädikativen auch einen Hinweis auf eine vorsprachliche Dimension zulässt – was im Folgenden vor allem in Bezug auf das Spätdenken Heideggers untersucht wird – ist eine Interpretation, die weder bestreiten will, dass es eine Dimension des Vorprädikativen gibt, die sprachlich und hermeneutisch ist, noch in einer pragmatistischen Richtung argumentiert. Weder wird behauptet, dass sich das Vorprädikative bei Heidegger schlicht mit dem Vorsprachlichen decke (was z. B. bei Tugendhat der Fall ist: Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1976, 104–105), noch deutet die hier skizzierte vorsprachliche Dimension auf das Gebiet einer vermeintlich sprachunabhängigen Praxis hin, eine Konzeption, die z. B. Dreyfus (Hubert L. Dreyfus, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge [Mass.], The MIT Press, 1991, insb. 215–224) implizit annimmt.
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Chiara Pasqualin
schnitt 2); 2) gilt es zu zeigen, wie der Mensch mit diesem Λόγος in Beziehung treten kann (sowohl in einem ontischen als auch in einem ontologischen Sinne) (Abschnitt 3); 3) muss präzisiert werden, inwiefern dieser Λόγος und dessen Empfang durch den Menschen vorprädikative Phänomene darstellen (Abschnitt 4). Diese Deutung des Vorprädikativen in Anlehnung an Heideggers Ereignisdenken soll anschließend auf eine bisher unbeachtete Parallele zwischen Heidegger und Lévinas aufmerksam machen, welche zu einem neuen, originellen Verständnismodell des Vorprädikativen führt (Abschnitt 5).
2.
Der Λόγος des Seins
Das Gelangen in eine ursprüngliche Logik wird als Absicht der Vorlesung von 1944 über Heraklits Lehre vom Λόγος ausdrücklich formuliert. 6 Die hier durchgeführte Interpretation von Heraklits Begriff des Λόγος »ruht in der Vermutung des Ereignisses« 7 und gehört somit in den Horizont des Ereignisdenkens. Denn »in diesem Λόγος verhüllt sich und zeigt sich«, so Heidegger, »das Sein selbst«. 8 Den Λόγος aus den Fragmenten Heraklits zu erörtern, bedeutet daher, in den Kern des Seinsgeschehens einzudringen, das im vor-metaphysischen Denken aufgeblitzt ist. Um diesem Λόγος/Sein näherzukommen, muss man sich – so Heidegger – von einer Tradition (d. h. der geläufigen metaphysischen Logik) distanzieren, für welche der λόγος mit der Aussage identisch ist: 9 Es gilt also, den Sinn des Λόγος diesseits der prädikativen Ebene zu suchen. Um das Wesen des Λόγος zu erblicken, muss man sich zugleich vor Augen führen, dass der Λόγος des Seins »nicht ›Wort‹ und nicht ›Rede‹ und nicht ›Sprache‹ bedeutet«, 10 da »die [ursprüngliche] Bedeutung von λόγος und λέγειν
Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 185. Vgl. dazu: Marlène Zarader, Heidegger et les paroles de l’origine, Paris, Vrin, 1990, insb. 153–206; Ivo De Gennaro, Logos – Heidegger liest Heraklit, Berlin, Duncker und Humblot, 2001, insb. 234–279; Giuliana Gregorio, »Vor der Metaphysik? Heidegger, Heraklit und die Suche nach einer ›ursprünglicheren Logik‹«, in: Paola-Ludovika Coriando, Tina Röck (Hg.), Perspektiven der Metaphysik im »postmetaphysischen« Zeitalter, Berlin, Duncker und Humblot, 2014, 145–156. 7 Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 377. 8 Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 278. 9 Vgl. Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 239. 10 Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 239. 6
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
gar nicht auf Sprachartiges und sprachliche Tätigkeit bezogen« 11 ist. Weiter im Vorlesungstext heißt es, dass der Λόγος »nicht das Wort« ist, d. h. kein sprachliches Phänomen, 12 sondern »das Vorwort jeder Sprache«. 13 Es bedeutet für Heidegger ein Missverständnis, zu behaupten, der Λόγος/das Sein habe »etwas zu verkünden« und es gäbe etwas, das der Λόγος »als Spruch verkündet und als Sinn zu verstehen gibt«. 14 Diese und ähnliche im Text zu findenden Behauptungen lassen die Vermutung entstehen, dass der Λόγος des Seins weder etwas mit der prädikativen noch mit der sprachlichen Ebene zu tun hat. Der Λόγος des Seins ist also ein vorprädikatives Phänomen, nicht nur, weil er nicht mit der Aussage identisch ist, sondern auch, weil er sogar diesseits bzw. vor der Sprache geschieht. Die Vorsprachlichkeit des Λόγος kann insbesondere in einem Doppelsinn präzisiert werden. Einerseits erweist sich der Λόγος als vorsprachlich, weil er nicht auf die Ebene der Sprache – auf die Sprache als Gliederung von Sinnesinhalten und deren Verkündung – reduziert werden kann. Andererseits will Heidegger mit der Idee des Λόγος als »Vorwort jeder Sprache« zugleich darauf hinweisen, dass der Λόγος jede menschliche Sprache allererst fundiert und ermöglicht. 15 Wenn das Wesen dieses Λόγος in einer ursprünglicheren Dimension als der des Sprachlichen zu suchen ist, wo liegt dann diese Dimension? Der Λόγος des Seins, den Heidegger auch als »Sage«
Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 240. Im wiedergegebenen Zitat besagt das »Wort« das Phänomen des menschlichen Sprechens und nicht das »anfängliche Wort« als eigentümliche Wesung des Seins (vgl. z. B. Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74, 71). Dass dieses »anfängliche Wort« wiederum nichts Sprachliches im engeren Sinne besagt, wird von Heidegger selbst nahegelegt: »Die Sage des Seyns aber läßt sich weder aus der Sprache noch aus der metaphysischen Erklärung der Sprache je denken und erfahren« (Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74, 122, Hervorh. d. Verf.). Darauf kommen wir später zurück. 13 Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 383 (Hervorh. d. Verf.). 14 Heidegger, Logos, in: Vorträge und Aufsätze, GA 7, 211–234, hier 224–225. 15 Vgl. dazu auch Heidegger, Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, 371, wo Heidegger anmerkt, dass der Λόγος das sei, »worauf« das menschliche Sagen »geht«. Der hier dargelegte Doppelsinn der Sprachlosigkeit des Ereignisses des Seins wird durch die folgende Passage bestätigt: »Das Wort [hier im Sinne der Wesung des Seins] hat aber auch anfänglich nicht die Art einer ›Bedeutung‹ und eines ›Sinnes‹, weil es als die sich zueignende Lichtung des Seyns erst der Grund wird für die nachmalige Bildung von ›Wortbedeutungen‹ und ›Wortlauten‹« (Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 171). 11 12
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Chiara Pasqualin
bezeichnet, 16 macht ein Sagen aus, welches nicht heißt, zu sprechen, sondern »erscheinen [zu] lassen« als ein »[D]ar-reichen dessen, was wir Welt nennen«. 17 Daher besagt die geheimnisvolle »Sprache« des Seins, von der häufig im Spätdenken Heideggers die Rede ist, 18 keine Sprache im engen Sinne, keine Mitteilung einer sprachlich verfassten Botschaft, sondern dasjenige Geschehen, in dem etwas überhaupt – d. h. ein phänomenaler Horizont, eine Welt – für uns offenbar wird. Die Sprache des Seins bezeichnet somit das Ereignis des ursprünglichen Sich-Konstituierens der Phänomenalität. Anders ausgedrückt ist das mit dem Begriff der Sage Gemeinte das Ereignis der Selbstgabe des Seins, welches das Seiende seiend macht und es zum Erscheinen bringt. Die Sage ist das Ereignis des Aufbrechens einer Phänomenalität als radikaler Alternative zum Nichts. Der Λόγος ist daher kein Artikulieren einer ausdrückbaren Bedeutung, sondern das, was wir als die »ursprüngliche Faktizität« bezeichnen können, d. h. dasjenige Seinsfaktum, dass es etwas gibt und dass es für den Menschen offenbar ist. Diese ursprüngliche Faktizität des Seins ist an sich noch kein hermeneutisch-sprachliches Geschehen, 19 weil das, was sich darin zeigt, kein bestimmtes Seiendes in seiner (sprachlich artikulierten) Bedeutung – kein »Etwas als Etwas« 20 – ist, sondern eben das Faktum, dass das Seiende überhaupt ist – d. h. das, was wir (im Rückgriff auf einen früheren Begriff Heideggers) als »Ur-etwas« bezeichnen können. 21 Ein weiteres Indiz für die Hypothese des vorsprachlichen Charakters des Seins können wir gewinnen, indem wir auf den Begriff der Vgl. Heidegger, Logos, GA 7, 232. Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 147–204, hier 188. 18 Als beispielhaft dafür: »Die Sage ist die Weise, in der das Ereignis spricht […]. Die Sprache wurde das ›Haus des Seins‹ genannt. […] Haus des Seins ist die Sprache, weil sie als die Sage die Weise des Ereignisses ist« (Heidegger, Der Weg zur Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 227–257, hier 255). 19 Um von Anfang an ein Missverständnis auszuschließen: Die hier behauptete Vorsprachlichkeit des Seins-an-sich schließt nicht aus, dass sich die menschliche Erfahrung des ursprünglichen Seinsfaktums in der Sprache und in den Worten sedimentiert. Deswegen ist das Sein-für-uns (die Art und Weise, wie sich das Sein für den Menschen erfahrbar macht) auch – aber nicht nur (dazu später) – Sprache und Bedeutung. 20 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 198. 21 Vgl. Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56/57, 1–117, hier 219. 16 17
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
»Stimme« eingehen, mit dem Heidegger das Sein und dessen Ereignis häufig bezeichnet. Wie es emblematisch in dem 1943 veröffentlichten Nachwort zu Was ist Metaphysik? heißt, wird einzig der Mensch unter allem Seienden von der Stimme des Seins angerufen, einer Stimme, die nichts anderes ist als »das Wunder aller Wunder: dass Seiendes ist«. 22 Das Seinsfaktum wird hier als Stimme charakterisiert. Allgemeiner macht Heidegger in verschiedenen Kontexten deutlich, dass das Wort bzw. die Sprache des Seins im Sinne der Stimme zu verstehen sei. 23 Wie kommt er aber überhaupt dazu, das Ereignis des Seins als Stimme zu denken? Die Wahl des Terminus »Stimme« scheint uns nicht willkürlich zu sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass Heidegger die aristotelische Unterscheidung von λόγος und φωνή bestens vertraut war und er bereits 1924 die Stimme als ein vorsprachliches Phänomen fasst. 24 Was versteht Heidegger unter dem Begriff der Stimme? 25 »Nicht ›Laut‹, sondern das Stimmen, d. h. Er-fahren lassen« 26. Entscheidend ist dabei, dass die Stimme stimmt. »Stimmen« besagt, in eine bestimmte Stimmung zu versetzen und dadurch eine Wirkung auf die Affektivität zu haben. Die Betonung dieses Moments erlaubt es, die Dimension des Λόγος des Seins eher in einem affektiven Sinne als in einem sprachlichen zu interpretieren. Der Ausdruck »stimmende Stimme« legt den Akzent darauf, dass das Ereignis des Seins an sich kein Sinnesinhalt ist, der eine unmittelbare hermeneutische Wirkung auf den λόγος des Menschen (auf seine Verständnis- und Sprachfähigkeit) hätte, sondern das Geschehen einer ursprünglichen StimHeidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, in: Wegmarken, GA 9, 303–312, hier 307. 23 Vgl. dazu Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74, 100 und 153. Darauf hat schon Barbarić hingewiesen: Damir Barbarić, »Geläut der Stille. Heidegger und Hölderlin über die Zeugung des Wortes«, in: ders. (Hg.), Zum anderen Anfang. Studien zum Spätdenken Heideggers, Freiburg/München, Alber, 2016, 135–154. 24 Λόγος, Sprache, und φωνή, das stimmungsmäßige Anzeigen bzw. Zeichengeben, bezeichnen jeweils die Seinsweise des Menschen bzw. des Tieres. Tiere sind von der Möglichkeit der Sprache ausgeschlossen; der Mensch hat dagegen – wie Heidegger Aristoteles zustimmend zitiert – »diese Verlautbarung [φωνή] auch, aber sie ist nicht das ἴδιον, das ›Eigentümliche‹, was das Sein des Menschen ausmacht« (Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 46). 25 Zu diesem Begriff vgl. Byung-Chul Han, Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger, München, Fink, 1996, 44–64. 26 Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 283. 22
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Chiara Pasqualin
mung, 27 die uns als Menschen affiziert. Diese Stimmung des Seins kann mit dem Phänomen der Huld bzw. Gunst, 28 das Heidegger auch als χάρις deutet, 29 identifiziert werden. 30 Die Gunst ist nichts anderes als das Sich-Gewähren des Seins, aufgrund dessen dem Menschen etwas überhaupt erscheinen kann. 31 Die Huld ist die Wesung des Seins als dessen ursprüngliches »Mögen«, das ermöglicht, dass Seiendes überhaupt ist. 32 Gerade weil das Sein ein solches Entfaltungsgeschehen der Gunst ist, »übereignet« 33 bzw. »vergönnt« 34 es sich dem Menschen ursprünglich auf einer affektiven und nicht sprachlichen Ebene. 35 Was durch den Begriff der Stimme zum Ausdruck gebracht wird, ist die Idee, dass das Ereignis des Seins nichts Indifferentes ist – vielmehr findet das Seinsfaktum einen Widerhall in der menschlichen Affektivität. 36 Wie kann man also dieses Stimmen des Seins in Bezug auf den Menschen genauer erfassen? Auf diese Frage soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden.
3.
Das menschliche Aufnehmen des Λόγος
Wenn man das Phänomen des Stimmens des Seins anhand von Heideggers Spätdenken untersucht, lässt sich ein erster Aspekt hervorVon einer »Stimmung des Seyns« spricht Heidegger in: Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74, 18. 28 Vgl. dazu Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74, 43–61. 29 In dieser χάρις soll man das Wesen der Sprache und also die Sage des Seins verorten. Vgl. Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, GA 12, 79–146, hier 135. 30 Vgl. dazu Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 172, wo Heidegger von einer »ereignishaften Stimmung« spricht, die auch als Stimme, Anspruch und »Huld des Grußes des Seyns« beschrieben wird. 31 Vgl. Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 310. 32 Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: Wegmarken, GA 9, 313–364, hier 316. 33 Zum »Sich-Übereignen« des Seins vgl. Heidegger, Brief über den »Humanismus«, GA 9, 336. 34 Vgl. Heidegger, Zum Wesen der Sprache und zur Frage nach der Kunst, GA 74, 44. 35 Wir möchten nicht bestreiten, dass es möglich ist, das Sein im Medium der Sprache zu erfahren. Und dennoch hat die vorsprachliche Wesung des Seins zur Folge, dass dessen ursprüngliches Empfangen durch den Menschen auf einer affektiven Ebene stattfindet. Ich komme darauf weiter unten zurück. 36 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 256: »Das Stimmende ist das Ereignis«. 27
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
heben. Die Rede von einem ›Stimmen des Seins‹ deutet zunächst auf ein Geschehen hin, in welchem der Mensch in eine bestimmte Grundstimmung, d. h. in eine bestimmte ontische Lage, versetzt ist, in welcher er eine intensivierte Erfahrung des Seins machen kann. 37 Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich das Sein als dasjenige beschreiben, was die Grundstimmungen im Menschen hervorruft. Heidegger stellt also fest, dass sich das Sein in gewissen ontischen Situationen vom Menschen konkret erfahren lässt. Zu diesen Situationen zählen auch besonders akzentuierte Erfahrungen des Seins, die insofern unvermittelt sind, als das Sein sich darin spürbar macht, ohne dass der Mensch hier auf die hermeneutische Vermittlung des Verstehens zurückgreifen müsste. Beispielhaft sind hierfür die Grundstimmungen des Erstaunens und des Erschreckens. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass der Mensch dabei sprachlos ist. 38 Wie im Nachwort zu Was ist Metaphysik? zu lesen ist, ist das, was im Menschen der stimmenden Stimme des Seins korrespondiert, das »Wunder aller Wunder«, 39 also ein Wunder in Superlativen, welches mit dem von Heidegger in seiner Vorlesung von 1937/38 analysierten Erstaunen 40 zusammenfällt. Im Erstaunen hebt sich ein Moment anfänglicher Desorientierung ab, in dem wir wortlos bleiben. Gerade dieser Aspekt des Wegbleibens der Sprache lässt sich nun als eine Konsequenz der Erfahrung der Stimme des Seins bzw. des Seinsfaktums interpretieren. 41 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass das Erstaunen für Heidegger eng mit dem Erschrecken verbunden ist. Erstaunen und Erschrecken sind nämlich nicht getrennte Grundstimmungen, sondern zusammengehörige affektive Zustände. 42 Wenn man dies beachtet, scheint eine Stelle aus dem zitierten Nachwort besonders aufschlussreich zu sein, in der dieses Erschrecken bzw. der Schrecken überhaupt als »eine der Wesensstätten der
Vgl. dazu Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 483. Vgl. auch Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, GA 52, 72, wo Heidegger zeigt, »dass in jeder Grundstimmung die Stimme des Seyns spricht«. 38 Vgl. Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 171–172. 39 Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 307. 40 Vgl. Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, GA 45, 151–180. 41 So interpretiert Heidegger diejenige »Übergangszustände« bzw. »Ausnahmefälle«, in den wir sprachlos sind: vgl. Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 172. 42 Vgl. Heidegger, Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik«, GA 45, 197. 37
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Sprachlosigkeit« 43 definiert wird. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Erschrecken und Erstaunen scheinen beide auf eine solche Sprachlosigkeit hinzuweisen. Dies lässt sich im Ausgang von Heideggers Thematisierung der Verhaltenheit in den einleitenden Abschnitten der Beiträge verdeutlichen. Die Grundstimmung der Verhaltenheit ist bekanntlich der Name für diejenige Erfahrung des Seins, in der das Seinsfaktum nicht auf die Seiendheit bzw. auf die bloße, völlig entschleierte Vorhandenheit reduziert, sondern in seinem Ereignis- und Verborgenheitscharakter erfahren wird. 44 Wie Heidegger selbst präzisiert, wohnt der Verlassenheit das Erschrecken inne, 45 was weiterhin impliziert, dass mit der Verhaltenheit zugleich das Moment des Erstaunens einhergeht. Was also in den Beiträgen zur Verhaltenheit gesagt wird, ist auch auf die Grundstimmungen des Erstaunens und des Erschreckens übertragbar. Für unsere Argumentation ist von besonderer Bedeutung, dass die Verhaltenheit als »der ausgezeichnete, augenblickliche Bezug zum Ereignis im Angerufensein durch dessen Zuruf« 46 definiert wird. Diese Textstelle erinnert uns sofort an die oben erwähnte Passage des Nachworts, in der das »Wunder aller Wunder« die Erfahrung eines Angerufenseins durch die Stimme des Seins ausmachte. Weiterhin spricht Heidegger in der zitierten Passage aus den Beiträgen von einem Bezug zum Sein, der »augenblicklich« sei – ein Aspekt, der unmittelbar an die »seltenen Augenblicke« 47 der Angst (einer Angst, die das Nachwort »im Sinne des Schreckens« 48 deutet) anknüpft. All dies lässt vermuten, dass zum Phänomen der Verhaltenheit – und daher auch des Erstaunens und des Erschreckens – ein augenblicklicher Zustand gehört, in dem der Mensch auf eine ausgezeichnete, d. h. privilegierte Weise auf das Sein bezogen ist. Wie wird dieser Zustand genauer charakterisiert? Darauf antwortet die folgende Stelle aus dem 13. Abschnitt der Beiträge: Es verschlägt einem das Wort; dies nicht als gelegentliches Vorkommnis, wobei eine vollziehbare Rede und Aussage unterbleibt, wo nur das Ausund Wiedersagen des schon Gesagten und Sagbaren nicht vollzogen wird, sondern ursprünglich. Das Wort kommt noch gar nicht zum Wort, ob es 43 44 45 46 47 48
Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 312. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, insb. 33–36. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 15. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 31. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, GA 9, 103–122, 116. Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 312.
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
gerade durch das Verschlagen auf den ersten Sprung kommt. Das Verschlagende ist das Ereignis als Wink und Anfall des Seyns. 49
Die Sprachlosigkeit, von der im Nachwort die Rede war, erhält in diesem Passus aus den Beiträgen eine genaue Beschreibung. Die Sprachlosigkeit ist demnach mit jener Erfahrung zu identifizieren, die einem das Wort verschlägt. Eine solche Erfahrung unterscheidet Heidegger von der Erfahrung, die wir üblicherweise machen, wenn wir etwas nicht aussprechen, was im Prinzip ausgedrückt werden könnte. Sprachlosigkeit bedeutet also kein Verschweigen von etwas Sagbarem. Es handelt sich vielmehr um ein Schweigen (oder noch besser: um eine Stille), welches einem wesentlich Unsagbaren entspricht, und zwar: dem Ereignis des Seins, dem Λόγος, welches im Grunde »nichts Sprachliches« 50 ist. Das Verschlagen des Wortes bzw. die Sprachlosigkeit als Wesenszeichen von besonderen Grundstimmungen wie z. B. der des Erschreckens oder des Erstaunens ist somit »ursprünglich« zu verstehen. Der von Heidegger betonte Ursprünglichkeitscharakter dieser Erfahrung weist u. E. darauf hin, dass diese als Effekt eines Geschehens zu betrachten ist, welches auf der ontologischen Ebene der Existenzialien des Daseins statthat. In diesen Grundstimmungen sind wir plötzlich in eine vorsprachliche Lage versetzt, in der die Funktion des λόγος (des Verstehens und der Sprache) vorübergehend suspendiert ist. Es ist nämlich die gesamte hermeneutisch-sprachliche Fähigkeit (vollzogen durch die Existenzialien des Verstehens und der Rede), welche außer Kraft gesetzt wird, und dies führt dazu, dass wir für den Moment unfähig sind, uns sprachlich auszudrücken. Die von Heidegger genannten »Wesensstätten der Sprachlosigkeit« sind – so unsere Schlussfolgerung – seltene ontische Seinserfahrungen, die vorsprachlich und vor-hermeneutisch sind. Nun stellt sich die Frage, warum sich das Sein gerade in einer solchen ontischen Erfahrung auf eine privilegierte Weise offenbart. Eine mögliche Antwort erschließt sich aus dem Gesagten: Wenn das Wesen des Λόγος des Seins kein eigentlich sprachliches Geschehen ist, so lässt sich die Stimme des Seins in einem vorsprachlichen Erlebnis, d. h. eher auf einer em-pathischen Ebene als auf einer hermeneutischen, am Intensivsten erfahren. Es geschieht nicht durch den λόγος, dass der Mensch das Sein und die Huld seines Sich-Schenkens konkret erlebt, sondern dies geschieht in einem Zustand, in dem der 49 50
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 36. Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, GA 12, 108.
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λόγος gewissermaßen ausgeklammert ist. Diesbezüglich sollte aber eines deutlich sein: Die Möglichkeit einer Erfahrung des Seins im Denken und in der Sprache wird damit nicht negiert. Nur scheint uns diese Erfahrung immer vermittelt und weniger intensiv zu sein, da sie, wie wir sehen werden, auf einem ursprünglicheren, in der Befindlichkeit gründenden Kontakt zum Sein beruht. Überblickt man die bisherigen Überlegungen, so ist festzuhalten, dass das Sein den Menschen insofern stimmt, als sich das Sein als Stimmung und in einer Grundstimmung des Menschen erfahren lässt. Wir haben gesehen, dass sich das Stimmen des Seins zunächst in dem Sinne interpretieren lässt, dass dieses Ereignis auf eine unmittelbare und privilegierte Weise in besonderen Grundstimmungen erfahren werden kann, welche wiederum Situationen von Sprachlosigkeit gestalten. Nun muss die leitende Fragestellung auf eine noch ursprünglichere Ebene gebracht werden. Wenn wir bisher darauf abzielten, die privilegierten ontischen Erfahrungen des Kontakts mit dem Sein zu betrachten, müssen wir uns nun fragen, welche ontologischen daseinsmäßigen Strukturen es dem Menschen gestatten, eine konkrete Erfahrung des Seins – sei diese sprachlich oder vorsprachlich – zu machen. Welche sind die Existenzialien, die ein Offenwerden des Menschen für das Ereignis des Seins ermöglichen? Zweifellos spielt hier das Verstehen eine unbestrittene Rolle, was von Heidegger immer wieder betont wird. Das Verstehen des Seins wird in den Beiträgen neu als »Gründung« bedacht. 51 Das Sein zu verstehen bzw. zu gründen, bedeutet zwar, dass der Mensch dadurch in einem Verhältnis zum Sein steht und auf die Offenbarung des Seins hört. Und dieses Hören geschieht zweifellos auf der sprachlichen Ebene. Und dennoch: Ist möglicherweise eine ursprünglichere Erschlossenheit des Menschen vonnöten, um das Sein zu verstehen und dieses zur Sprache zu bringen? Es wurde gesagt, dass der Λόγος des Seins an sich kein sprachliches Phänomen sei, kein besonderer, zu verstehender Sinnesinhalt, sondern vielmehr Faktizität, Huld, Gabe. Welche ist dann die ursprüngliche Zugangsweise zu dieser vor-logischen und vor-bedeutsamen Dimension? Neben dem Verstehen postuliert Sein und Zeit eine weitere Weise, das Sein zu erschließen: die Befindlichkeit. 52 Dieses Existenzial ist nicht lediglich ein Name, mit dem Heidegger uns auf die ontische 51 52
Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, insb. 259–260. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 178–186.
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Konstante aufmerksam machen will, die besagt, dass sich das Dasein immer in einer Stimmung befindet. Die Befindlichkeit als ein »fundamentales Existenzial« 53 des Daseins lässt sich darüber hinaus in einem markanten Sinne als eine transzendentale Quelle der Erfahrung neben dem Verstehen interpretieren – ähnlich wie bei Kant die Sinnlichkeit eine fundamentale Erkenntnisquelle neben dem Verstand darstellt. 54 Nicht nur lässt sich in Sein und Zeit neben der ontischen Konnotation auch eine akzentuierte ontologische Bedeutung der Befindlichkeit herausheben; man kann auch behaupten, dass diese letztgenannte Valenz im Ereignisdenken weiter Geltung hat. Im Grunde werden die in Sein und Zeit erarbeiteten Existenzialien im späten Denken Heideggers beibehalten: Sie werden lediglich einer Umdeutung unterzogen, was in den meisten Fällen zu einer Prägung neuer terminologischer Wendungen führt. 55 Auch der fundamentalontologische Sinn des Begriffs von Befindlichkeit wird im Rahmen des Ereignisdenkens umformuliert, da die Geworfenheit radikaler als eine dem Zuwurf des Seins entstammende ausgelegt wird. Dies führt Heidegger zu einer Vorliebe für Redewendungen, die das Moment einer durch das Sein geworfenen Geworfenheit markieren: An die Stelle der Befindlichkeit treten Termini wie »Gestimmtheit« 56 und »Gestimmtsein« 57, welche unmittelbar auf das Agens, d. h. auf das Sein, verweisen. Im Grunde bleibt jedoch die ontologische Bedeutung der Befindlichkeit als Weise des Offen-seins-für unverändert. Die Gestimmtheit des Daseins bezeichnet ein ursprüngliches Affiziertsein, die transzendentale Lage eines unentrinnbaren Ausgesetztseins in das Sein. Die Gestimmtheit/Befindlichkeit besagt eine ursprünglich zu verstehende Affektivität, eine ontologische Nicht-Indifferenz des Daseins gegenüber dem Seinsfaktum. Es ist gerade ein so gedachtes Existenzial, welches es dem Dasein ermöglicht, einen Zugang zum Ereignis des Seins als vorsprachlichem Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 178. Heidegger sieht übrigens in der notwendigen Zusammengehörigkeit von Sinnlichkeit und Verstand »eine Rangordnung in der strukturmäßigen Gründung« des Verstandes auf die Sinnlichkeit (vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 34). 55 Vgl. dazu: Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträge zur Philosophie«, Frankfurt am Main, Klostermann, 1994, 344–347. 56 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 16. 57 Die beiden Termini kommen vor allem in den Zollikoner Seminaren vor: vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe, hrsg. von M. Boss, Frankfurt am Main, Klostermann, 1987, insb. 210–211 und 251–252. 53 54
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und vor-hermeneutischem Geschehen zu haben, und dies, weil die Befindlichkeit eine besondere Zugangsweise zum Sein ist, welche selbst vor-hermeneutisch ist. Die Erschließungskraft der Befindlichkeit ist nämlich vom Verstehen prinzipiell unabhängig: Durch diese transzendentale Struktur ist der Mensch dem Sein gegenüber in einer Weise aufgeschlossen, die an sich keine verstehende ist, sondern jeder hermeneutischen Erfahrungsweise ontologisch vorausgeht. 58 Von diesem Gesichtspunkt aus erweist sich das Stimmen des Seins als das Sich-erfahren-Lassen desselben durch die menschliche Befindlichkeit. Das Seinsfaktum ist ein Ereignis, dem der Mensch immer schon ausgesetzt ist, insofern er ein affizierbares Seiendes im Sinne der Befindlichkeit ist. Wenn wir also zu der eingangs gestellten Frage zurückkehren, welches »Hören« im Menschen der Stimme des Seins entspricht, können wir darauf jetzt eine neue Antwort geben, eine, welche nicht mehr einem ontischen Tatbestand, sondern einer transzendental-ontologischen Beschaffenheit Rechnung trägt. Der Mensch hört dem Sein nicht ursprünglich dank des λόγος zu, sondern dank seiner Befindlichkeit: Er befindet sich immer schon in einer solchen passiven Aufgeschlossenheit. Dem kann man noch hinzufügen: Nur, weil das Sein aufgrund der Befindlichkeit dem Menschen offenbar ist, kann es verstanden bzw. »gegründet« und – in Dichtung und Denken – zur Sprache gebracht werden.
4.
Die große Stille als das Vorprädikative
Das Verhältnis zwischen der Stimme des Seins und dem menschlichen Hören lässt sich knapp durch den in den Beiträgen verwendeten Begriff der »großen Stille« bezeichnen. Im Abschnitt 255 dieses Werkes wird die große Stille als »die Kehre« zwischen dem »Zuruf« und der »Zugehör (des Angerufenen)« beschrieben. 59 Eine Seite dieser Kehre, d. h. des wechselseitigen Bezuges, ist der Anruf, welcher Diese ontologische Autonomie lässt sich ontisch dadurch beweisen, dass in den seltenen sprachlosen Grundstimmungen dem Mensch ein Kontakt zum Seinsereignis durch die Befindlichkeit gewährt ist, unabhängig davon, dass der Vollzug des Existenzials des Verstehens vorübergehend suspendiert ist. Zum autonomen Status der Befindlichkeit vgl.: Chiara Pasqualin, »Der ›pathische‹ Grund des Hermeneutischen. Die ontologische Priorität der Befindlichkeit vor dem Verstehen«, Heidegger Studien, 31, 2015, 129–151. 59 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 407. 58
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
oben mit dem Phänomen der Stimme, des Λόγος und der Sage identifiziert wurde. Ein anderer Name für diesen Zuruf ist »Geläut der Stille«. 60 Heidegger spricht auch von einer »lautlosen Stimme« 61. Diese nachdrückliche Betonung des Moments der Stille, des Schweigens und der Lautlosigkeit lässt sich als ein weiteres Indiz für die hier aufgestellte These lesen, dass nämlich das Ereignis des Seins nicht primär in einer sprachlichen Dimension zu verorten, sondern reine Faktizität und Selbstentfaltung einer ursprünglichen Stimmung ist. Der Begriff der »großen Stille« bezieht sich auch auf den Menschen und dessen eigentümliche Weise des Kontakts zum Sein. Der Bezug des Menschen zum Sein kann, wie oben gezeigt, sowohl aus einer ontischen Perspektive – mit Fokus auf die vor-hermeneutischen Stimmungen – als auch aus einer ontologischen Perspektive – in Hinblick auf die befindliche Zugangsweise zum Sein – betrachtet werden. Von beiden Gesichtspunkten aus lässt sich dieser Bezug als »still« charakterisieren: einerseits, weil er sich in besonderen Grundstimmungen vollzieht, in denen es uns die Sprache verschlägt, andererseits, weil er primär durch eine affektive, vor-logische und vorsprachliche Zugangsweise zur Phänomenalität hervorgebracht wird. Daher deutet die Rede von einer Stille auf Seiten des Menschen sowohl auf das ontisch erfahrene Unvermögen (also auf die augenblickliche Unmöglichkeit, das erfahrene Unsagbare zu sagen) als auch auf die Möglichkeit eines Bezugs zum Sein diesseits der Sprache hin. 62 Die große Stille stellt nach dieser Lektüre einen ontisch-ontologischen Modus des kehrigen Bezugs dar, welcher noch nicht sprachlich oder hermeneutisch ist, sondern pathisch. Denn dieser Bezug findet zwischen dem λέγειν des Seins – der stimmenden Stimme – und dem πάσχειν des Menschen, d. h. seiner befindlich-affektiven Rezeptivität, statt. Darüber hinaus lässt sich unser Gedankengang durch die Feststellung eines zweiten Fundierungszusammenhangs ergänzen: Die ontische Erfahrung des Seins in der Sprachlosigkeit ist nur durch das Existenzial der Befindlichkeit ermöglicht. Nur weil der Mensch aufgrund der Befindlichkeit dem Sein immer schon latent Vgl. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, insb. 27, 204 und 251. Vgl. u. a. Heidegger, »Andenken«, in: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, 79–151, hier 124; Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 283. 62 Vgl. Heidegger, Das Ereignis, GA 71, 171: »Wir vermögen noch nicht zu fassen, daß dieser Anspruch des Anfangs [hier gemeint: der Anspruch des Seyns] ein Ansprechen ist und ein in den Anspruch nehmen, das im Sprachlosen sich ereignet« (Hervorh. d. Verf.). 60 61
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ausgesetzt ist, kann er in seltenen Augenblicken konkret und im Sinne einer Offenbarung jene ek-sistente Konstitution erfahren. Die augenblickliche Erfahrung des Angerufenseins durch das Sein (d. h. das ontische Hören) gründet daher in einem ontologischen Zu(ge)hören, in einem ständigen passiv-befindlichen Bezogensein auf das Sein. Es gibt demnach im Ereignisdenken Spuren einer Kehre zwischen Mensch und Sein, welche sich in einer tieferen Dimension als der des Hermeneutischen abspielt. Nicht nur besteht eine offensichtliche Kehre zwischen dem Zuruf des Seins und dem gründenden Entwurf bzw. dem geworfenen Verstehen des Menschen. 63 Es gibt auch eine weitere (im Text nie explizit formulierte) Kehre zwischen der stimmenden Stimme des Seins und der menschlichen Befindlichkeit. Diese tiefere und verborgene Entfaltungsweise des kehrigen Bezugs zwischen Mensch und Sein lässt sich – wie gezeigt – aus dem Begriff der großen Stille herausarbeiten. Vor dem Hintergrund dieser Interpretation kann man sich nun Heideggers Behauptung zuwenden, dass gerade von der großen Stille »alle Sprache des Da-seins ihren Ursprung« nehme. 64 Hier wird die große Stille als der Ursprung der Sprache betrachtet. Oben wurde die große Stille sowohl ontisch als auch ontologisch gedeutet. Es bleibt jetzt zu zeigen, inwiefern die große Stille in diesen beiden Bedeutungen der Ursprung der Sprache ist. Dass gerade den Situationen von Sprachlosigkeit die Sprache entspringt, wird im 13. Abschnitt der Beiträge in demjenigen Kontext bestätigt, in dem Heidegger die bereits erwähnte Erfahrung des sich entziehenden Wortes beschreibt. Hier bemerkt er, dass »die Verschlagung […] die anfängliche Bedingung für die sich entfaltende Möglichkeit einer ursprünglichen – dichtenden – Nennung des Seins« 65 sei. Auch in dem schon zitierten Nachwort fasst Heidegger die Sprachlosigkeit, welche u. a. im Schrecken erfahren wird, als die »Herkunft« des »Sagens des Denkers« und des »Nennens des Dichters«. 66 Die exemplarischen Modi des menschlichen λόγος – Denken und Dichtung – haben ihre Vorbedingung
Vgl. vor allem Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 261– 262. Der menschliche Entwurf verhält sich dem Sein gegenüber als ein AntwortenEntsprechen, welches nur indirekt ist, weil es im ursprünglicheren Empfang der Befindlichkeit fundiert ist. 64 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 408. 65 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, 36. 66 Heidegger, Nachwort zu: »Was ist Metaphysik?«, GA 9, 311–312. 63
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
bzw. Ursprungsquelle in einem stillen, d. h. vorsprachlichen und affektiven, Empfangen des Seins. Der Gedanke, dass die Sprachlosigkeit der Ursprung der künstlerischen und philosophischen Sprache ist, lässt sich am besten entziffern, wenn man sich Heideggers Deutung des Begriffs von ἀρχή vor Augen führt: Der Sinn von »Ursprung« spiegelt hier die Doppelbedeutung von ἀρχή wider, welche sowohl als der anfängliche Anreiz von etwas als auch als dessen ständiger Motor anzusehen ist. 67 Die augenblickliche ontische Erfahrung des Wegbleibens der Sprache regt einerseits zu einer nachträglichen hermeneutischen Erarbeitung (im Denken und Dichten) des zunächst Erfahrenen an, andererseits gilt sie als eine ständige Inspirationsquelle, da das denkende bzw. dichtende Sagen im Grunde eine unendliche Suche nach angemessenen Worten ist, welche die wesentlich unsagbare Dimension des Seins übersetzen können. Die große Stille wurde aber auch in einem ontologischen Sinne als die durch die Befindlichkeit geleistete ständige Bezogenheit des Menschen auf das Sein interpretiert. Inwiefern erweist sich nun die so verstandene große Stille als der Ursprung der Sprache? Hier lautet unsere Antwort, dass die Sprache auf einem ursprünglicheren vorsprachlichen Offensein des Menschen für den phänomenalen Horizont gründet. Das, was sich zeigt, wird nicht erst im hermeneutischen Prozess des Verstehens und der sprachlichen Gliederung entdeckt, sondern apriorisch in einem affektiv-befindlichen Zugang. Die passive bzw. pathische Entdeckung des Seinsfaktums der Phänomene ist die Bedingung der Möglichkeit für deren hermeneutische Erarbeitung – d. h. für den Prozess der Bedeutungsbildung. Nur weil das Sein durch die Befindlichkeit ursprünglich erschlossen wird und uns dadurch als ein Gegebenes offensteht, kann es verstanden und genannt werden. Das Entspringen der Sprache aus der großen Stille wird hier im Sinne einer Fundierung des hermeneutischen Prozesses (der bedeutungsmäßigen und sprachlichen Artikulierung) im ursprünglichen »Erschließungscharakter« 68 der Befindlichkeit gedeutet. 69 Als geworfener Entwurf bleibt das Verstehen immer an ein Vor-gegebe-
Vgl. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen, Neske, 1956, 25. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 182. 69 Zu einer ausführlicheren Erklärung dieses Fundierungsverhältnisses vgl.: Chiara Pasqualin, Il fondamento »patico« dell’ermeneutico. Affettività, pensiero e linguaggio nell’opera di Heidegger, Roma, Inschibboleth, 2015. 67 68
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nes verwiesen. Der hermeneutische Zirkel wird damit auf eine externe Vorbedingung zurückgeführt: Das Vor-verstandene und das Ausgesprochene 70 sind zwar ständige (interne) Vorbedingungen für das Verstehen, 71 aber dessen ursprüngliches »Vor-« lässt sich mit dem durch die Befindlichkeit erschlossenen Datum – d. h. mit dem Uretwas – identifizieren. Die Feststellung des vorsprachlichen Charakters des Phänomens der großen Stille und seiner wesentlichen Rolle als Inspirationsquelle und Vorbedingung der Sprache erlaubt es uns, hinter dieser Figur des späten Denkens Heideggers eine neue Gestalt des Begriffes des Vorprädikativen zu markieren. Demnach umgrenzt die große Stille eine vorprädikative Dimension, und zwar die des wechselseitigen Bezuges zwischen dem vorsprachlichen Ereignis des Seins und dem ontischontologischen Affiziertsein auf der Seite des Menschen. 72 Der kehrige Bezug zwischen dem Λόγος des Seins und der menschlichen Stimmung bzw. Befindlichkeit ist also vorprädikativ in einem doppelten Sinne: 1. Er geht nicht nur der theoretisch-prädikativen Vollzugsweise der Sprache voraus, sondern sogar dem hermeneutischen Prozess in seiner Ganzheit; 2. er ist Vorbedingung der Sprache. Verweilen wir noch etwas bei beiden Thesen, welche die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen zusammenfassen. Was den ersten Punkt betrifft, also die Vorgängigkeit der großen Stille und daher ihren vor-hermeneutischen Charakter, so sollte man sich drei Aspekte vergegenwärtigen: 1. Die sogenannte »Sprache« des Seins ist ursprünglich kein »Was«, kein sprachlicher Ausdruck bzw. kein Bedeutungsinhalt, sondern ein pures »Dass« (das Faktum, dass es etwas gibt); 2. die zeitlich begrenzte Erfahrung der Sprachlosigkeit ist nicht das Verschweigen eines potenziell aussprechbaren Sinnesinhalts, sondern bedeutet ein momentanes Außer-Kraft-Setzen für das Verstehen und die Sprache (gerade die Unmöglichkeit ihres aktuellen Vollzugs wird hier erlebt); 3. das ständige Affiziertsein durch das Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 222: »Im Ausgesprochenen liegen aber dann je schon Verständnis und Auslegung«. 71 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, insb. 199–204. 72 Obwohl dieses Affiziertsein durch das Sein vorsprachlich ist, ist es nicht ohne Bezug auf die Sprache: Es wirkt auf die und in der Sprache, indem es einerseits als ontische Grenzerfahrung für die sprachliche Tätigkeit erregend und inspirierend ist, andererseits, indem es als ein ontologisches Vorgegebenes den Sprachvollzug ständig ermöglicht (das befindlich Erschlossene ist das, was die Sprache selbst nie hervorbringt, sondern für ihre eigene erschließende Leistung immer voraussetzt). 70
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Das Vorprädikative als das »Pathische«
Sein, die Nicht-Indifferenz gegenüber dem Sein, ist die transzendentale Vorbedingung – das ›pathische Transzendental‹ – für das Verstehen und Sagen des Seins. Die zweite These, die besagt, dass die große Stille auch insofern vorprädikativ sei, als sie die Vorbedingung der Sprache ist, fasst die folgenden zwei Ergebnisse zusammen: 1. Die seltenen Erfahrungen der Sprachlosigkeit sind Inspirationsmotive für die dichterische und denkerische Sprache; 2. die offenbarende, welt- und bedeutungsstiftende Kraft der Sprache liegt in der ursprünglicheren Erschließungskraft der Befindlichkeit begründet.
5.
Der Vergleich mit Lévinas
Wie Heideggers Überlegungen eine Sprache vor der Sprache, d. h. einen Λόγος des Seins als »Vor-wort« ans Licht gebracht haben, so führt Lévinas mit seinem Begriff des »Sagens« (le Dire) die Idee einer »vor-ursprünglichen Sprache« 73 ein, die »vor den Wortzeichen« und ein »Vorwort der Sprachen« sein soll 74. In beiden Fällen scheint diese Sprache vor der Sprache jedoch die Merkmale der im engen Sinne verstandenen Sprache zu verlieren und stattdessen die Konturen einer vorsprachlichen Dimension zu umreißen. Der Begriff des Sagens wird in dem 1974 veröffentlichten Werk Autrement qu’être dargelegt, in dem Lévinas eine Philosophie der Sprache ausarbeitet, welche die Perspektive seines ersten Hauptwerks Totalité et Infini radikalisiert. Während in diesem letzteren Werk die Sprache vor allem als die eigentümliche Weise des Sich-Präsentierens (se présenter) des Antlitzes, d. h. als dessen ethischer Appell, konzipiert war, 75 ist die Sprache, genauer das Sagen, in Autrement qu’être das, was die Subjektivität wesentlich definiert. 76 Das Sagen wird nämlich von Lévinas nicht als der empirische Akt des »etwas Sagens« bestimmt; es ist vielEmmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Th. Wiemer, Freiburg/München, Alber, 1998, 30. 74 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 29. 75 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. von W. N. Krewani, Freiburg/München, Alber, 1993, insb. 277–318. Vgl. dazu: Matthias Flatscher, Sergej Seitz, »Unterwegs zur Sprache des Anderen«, in: Burkhard Liebsch (Hg.), Der Andere in der Geschichte – Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges. Ein kooperativer Kommentar zu Emmanuel Lévinas’ ›Totalität und Unendlichkeit‹, Freiburg, Alber, 2016, 219–234. 76 Das Sagen konstituiert die Subjektivität, indem es diese ab-setzt. Vgl. dazu: François Aubay, »Le Dire come déhiscence de la subjectivité«, in: Jean Greisch, Jacques 73
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mehr der Name für die strukturelle Ausgesetztheit des Subjekts an den Anderen. 77 Im Kontext dieser radikalisierten Philosophie der Sprache bezieht sich Lévinas explizit auf Heideggers »Geläut der Stille«. 78 Sowohl Lévinas’ Sagen als auch Heideggers Sage sind still und vor-verbal, 79 aber zugleich dazu fähig, im gesagten Wort zu erklingen und Spuren zu hinterlassen. 80 Und dennoch ist Lévinas weit davon entfernt, seinen Begriff des Sagens mit der Heidegger’schen Sage gleichzusetzen. 81 Es liegt auf der Hand, dass die Sage ein ontologisches Ereignis ist, während der Begriff des Sagens aufgrund seines Bezugs auf die radikale Alterität ein »Anders-als-sein« 82 anstrebt. Inwieweit lässt sich dann aber ein Vergleich zwischen den beiden Autoren begründen? Unser Beitrag zielt nicht darauf ab, die grundsätzliche NichtIdentifizierbarkeit der beiden Begriffe zu negieren, sondern will zeigen, dass das Sagen bei Lévinas eine vorprädikative Dimension konstituiert, welche analoge Kennzeichen zu den Wesenszügen der großen Stille aufweist. Die Sage und le Dire gehören einer vorprädikativen Ebene an, nicht nur, weil sie der Sprache als apophantischer Rede vorausgehen. Der Hauptakzent soll vielmehr darauf gelegt werden, dass sich das Sagen bei Lévinas – ähnlich wie die große Stille bei Heidegger – vor allem in zwei Hinsichten als vorprädikativ erweist: 1. Es hat immer schon (toujours déjà) vor der Sprache und zwar auf einer affektiven Ebene das Subjekt betroffen; 2. es umgrenzt eine radikal ursprüngliche Dimension, welche die Möglichkeit der Sprache fundiert. Diese Behauptungen müssen jetzt unter Beweis gestellt werden. Für eine solche Interpretation des Sagens im Sinne des VorRolland (Hg.), Emmanuel Lévinas: L’éthique comme philosophie première, Paris, Éditions du Cerf, 1993, 411–425. 77 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 115. Dieses wesentliche Außer-sich-Sein setzt keine Autonomie, kein In-sich-Sein des Subjekts voraus, eine Autonomie, welche dagegen in Totalité et Infini als glückliches, selbstgenügsames Leben noch behauptet wurde (vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 150–170). 78 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 296–297. 79 Vgl. dazu Emmanuel Lévinas, Gott und die Philosophie, in: Bernhard Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München, Alber, 1981, 81–123, hier insb. 112 und 116. 80 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 331 und 346. 81 Vgl. dazu: Krzysztof Ziarek, »Semantics of Proximity: Language and the Other in the Philosophy of Emmanuel Lévinas«, Research in Phenomenology, 19 (1), 1989, 213–247, hier insb. 231–233. 82 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 71.
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prädikativen ist es jeweils nötig, ein angemessenes Verständnis des »Vor-« zu gewinnen. Die offensichtlichere Analogie zwischen den beiden Perspektiven besteht darin, dass sowohl Heidegger als auch Lévinas daran interessiert sind, eine Dimension der »Sprache« zu untersuchen und aufzuwerten, welche von der apophantischen zu unterscheiden ist. Lévinas ist davon überzeugt, dass das Sagen sich nicht im Apophantischen erschöpft. 83 Warum nimmt Lévinas eine solche Präzisierung vor? Durch diese Unterscheidung will er eine Dimension der Sprache retten, die nicht in jene totalisierende Logik zurückfällt, welche der Funktion der Aussage als einseitiger Zurückführung eines Prädikats auf ein Subjekt (nicht nur direkt auf das Subjekt der Aussage, und damit auf eine Modalität des Seins, 84 sondern auch indirekt auf das prädizierende Subjekt und dessen aneignende Erkenntnisabsichten) implizit ist. Nicht nur gleicht das Sagen für Lévinas keinesfalls der prädikativen Sprache – es ist sogar deren Voraussetzung. 85 Denn das intentionale und selbst-gerichtete Zuschreiben eines Prädikats geschieht nur aufgrund einer vorgängigen Nähe, eines unmittelbaren, desinteressierten Kontakts des prädizierenden Subjekts zur Exteriorität. 86 Das Sagen ist also vorprädikativ in einem ersten Sinne, insofern es einerseits nicht-apophantisch, andererseits die Vorbedingung bzw. die notwendige Prädisposition der assertorisch-definitorischen Rede ist. Um die wichtigsten Aspekte des Sagens als einer vorsprachlichen, affektiven und fundierenden Dimension zu erhellen, muss man den Unterschied und den Zusammenhang betrachten, welche für Lévinas zwischen dem Sagen und dem sogenannten »Gesagten« (le Dit) bestehen. Das Gesagte ist bei Lévinas ein breiter Begriff, der vielerlei ausdrückt: Er beinhaltet nicht nur die ausgesprochene Sprache in ihren verschiedenen Formen, sondern auch die hinsichtlich ihrer Funktion betrachtete Sprache, d. h. die Sprache als Zeichensystem und Instrument der Äußerung und des Austausches von Inhalten. 87 Der Begriff des Gesagten bezeichnet also das Gebiet dessen, Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 32. Vgl. dazu Lévinas, Jenseits des Seins, 96–106. 85 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 32. 86 Vgl. dazu Emmanuel Lévinas, Sprache und Nähe, in ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. von W. N. Krewani, Freiburg/München, Alber, 1999, 261–294, hier insb. 274–275. 87 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, insb. 313–314 und 99. 83 84
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was in einem spezifischen Doppelsinn sprachlich ist: a. sprachlich, weil es in (gesprochenen oder nur gedachten) Worten artikuliert ist; 88 b. bedeutsam in dem Sinne, dass es Bedeutungen ausdrückt und stiftet. 89 Und die Bedeutung einer Sache – so Lévinas – »beruht in ihrer Beziehung zu etwas anderem«, 90 d. h. in ihrem Verweis sowohl auf ein entwerfend-gebrauchendes Subjekt als auch auf einen breiteren Kontext von zusammenhängenden Bezügen. Mit einem so verstandenen Gesagten (d. h. mit der sprachlichen Dimension im strikten Sinne) bringt Lévinas das Sagen in einen Zusammenhang. Nun gilt es, die Natur dieses Zusammenhangs zu explizieren. Man könnte ihn einfach im Sinne einer Gleichursprünglichkeit, d. h. einer Ko-Implikation, deuten: Es gibt kein Sagen ohne Gesagtes und umgekehrt. Die Rede von der Ko-Implikation läuft aber Gefahr, eine »Synchronie« zwischen den zwei Momenten zu etablieren – eine Gleichzeitigkeit, der gegenüber Lévinas zumeist Misstrauen äußert. 91 Zwar betont er, dass dem Sagen eine Tendenz zum Gesagten innewohne. 92 Das heißt: Die wesentliche Hinwendung des Subjekts zum Anderen muss die konkrete Form eines wörtlichen Ansprechens des Anderen, einer empirischen Mitteilung, annehmen. Und dennoch: Indem das Sagen als »vor-ursprünglich« 93 (und in einer »unvordenklichen Vergangenheit« 94 geschehend) bezeichnet wird, scheint dies das Schema der Gleichursprünglichkeit zu sprengen. Dass eine unüberwindliche Diskontinuität zwischen dem Sagen und dem Gesagten besteht, lassen unterschiedliche Motive im Text vermuten: die ausdrückliche Absicht Lévinas’, auf »ein Sagen ohne Gesagtes« zurückzugehen, 95 die Rede von einem »Sagen diesseits des Gesagten« 96 und »vor allem Gesagten«, 97 die Idee einer »Dia-
Das Gesagte ist »Wort« nicht nur als »Ausdruck eines Sinnes«, sondern auch als »Identifizierung«, »Sanktionierung von ›diesem als diesem‹« und also als »Sinnstiftung« (vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 87–93). 89 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, insb. 158–159. 90 Lévinas, Ethik und Unendliches, übers. von D. Schmidt, Wien, Passagen Verlag, 2008, 64. 91 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, insb. 364. 92 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, insb. 107. 93 Vgl. u. a. Lévinas, Jenseits des Seins, 29. 94 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 95–96 und 272–273. 95 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 110–116. 96 Lévinas, Jenseits des Seins, 106. 97 Lévinas, Jenseits des Seins, 107. 88
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chronie« 98 zwischen dem Sagen und dem Gesagten. Darüber hinaus suggeriert Autrement que’être die Präsenz einer Vorgängigkeit des Sagens vor dem Gesagten, 99 die zwar weder in einem kausalen noch in einem chronologischen Sinne zu verstehen ist, aber doch als Anzeige einer Exzedenz. Alle diese Aspekte zeigen, dass die Dimension des Sagens den Wirkungsbereich des Gesagten, d. h. der Sprache im strikten Sinne, transzendiert und daher eine nicht reduzierbare Exzedenz ausmacht. Das Sagen weist also einen Grad von Ursprünglichkeit auf, welcher in keinem Gesagten erreicht werden kann. Da das Sagen die Sprachlichkeit des Gesagten transzendiert, kann es in diesem spezifischen Sinne als »vorsprachlich« bezeichnet werden. Wenn oben der sprachliche Charakter des Gesagten darin verortet wurde, dass dieses immer in Worten und Bedeutungen artikuliert ist, kann man die hier behauptete Vorsprachlichkeit des Sagens als das Kennzeichen eines doppelten Aspektes auslegen. Erstens ist das Sagen vorsprachlich, indem es vor-verbal ist: Das Sagen ist an sich kein artikuliertes bzw. ausgedrücktes Wort, 100 sondern es ist vielmehr das Unartikulierte und wesentlich Unartikulierbare. 101 Zweitens ist das Sagen vorsprachlich in dem Sinne, dass es nicht in Bedeutungen artikuliert und daher vor-bedeutsam 102 ist. Trotz dieser Bemerkungen ist das hier verwendete Wort »vorsprachlich« nicht mit »a-sprachlich« synonym. Denn das Sagen ist nie komplett außerhalb der Dimension der Sprache. Das Sagen ist nämlich im Gesagten in gewisser Weise präsent – so wie auch das Antlitz in einem bestimmten Sinne in der Welt präsent ist – da es sich in dem Gesagten niederschlägt und in ihm anklingt. Deswegen deutet die Transzendenz des Sagens auf keinen jenseitigen oder überweltlichen Bereich
Vgl. u. a. Lévinas, Jenseits des Seins, 108. Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 111. 100 Vgl. u. a. Lévinas, Jenseits des Seins, 266. 101 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 108, wo das Sagen als »das Unsagbare« definiert wird. 102 Diese Vor-bedeutsamkeit des Sagens schließt nicht aus, dass das Sagen eine andere Art von Bedeutsamkeit verkörpert. Die eigentümliche Bedeutsamkeit (signification) des Sagens ist aber nicht mit dem Sinn der Bedeutung als Referenz und Verweis zu verwechseln (vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 47–48). Vgl. dazu: Lenore Hipper, »Ethik des Bedeutens nach Emmanuel Lévinas«, in: Jörg Sternagel, Dieter Mersch, Lisa Stertz (Hg.), Kraft der Alterität. Ethische und aisthetische Dimensionen des Performativen, Bielefeld, Transcript, 2015, 95–117. 98 99
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hin, 103 ganz ähnlich, wie in Totalité et Infini die Transzendenz des Antlitzes nicht dessen Überweltlichkeit impliziert. 104 Um nicht nur ex negativo, sondern auch positiv das Wesentliche des Sagens zu erfassen, muss man bedenken, dass dieses sich letztlich mit der Affektivität, so wie Lévinas sie neu denkt, deckt. Das Sagen ist für Lévinas das Ausgesetztsein des Subjekts an den Anderen und daher das ursprüngliche Affiziertsein – ein Affiziertsein, das von der empirischen Begegnung mit einem konkreten Anderen unabhängig 105 und daher gewissermaßen transzendental ist. 106 Die Affektivität bezeichnet bei Lévinas eine radikale und nie übernehmbare Passivität, 107 ein immer schon Betroffenwerden durch die Alterität, welches nicht allzu schnell in Aktivität bzw. Spontaneität aufgehoben und nivelliert werden kann. 108 Lévinas behauptet, dass sich die Affektivität, von der er spricht, von Heideggers Begriff der Befindlichkeit unterscheide, denn die letztere lasse sich nie vom Moment des subjektbezogenen Entwurfs bzw. des Verstehens trennen. 109 Und dennoch wurde bei Heidegger für den autonomen Status der Befindlichkeit argumentiert. Gerade eine solche Lektüre erlaubt es uns, die zwei Auffassungen von Affektivität einander näherzubringen. Beide Ansätze lassen nämlich den vor-hermeneutischen Charakter der Affektivität erkennen, d. h. die Tatsache, dass Affektivität an sich weder Verständnis noch ein bloßes Moment des Verstehensprozesses ist. Allgemeiner weisen Heideggers und Lévinas’ Deutungen der Affektivität auf eine unumgängliche transzendentale Lage hin: auf das nie vom Subjekt selbst entworfene Ausgesetztsein an die Exteriorität bzw. Alterität. Diese Alterität wird aber von den beiden Autoren unterschiedlich gefasst: Bei Heidegger handelt es sich um eine phänomenale Alterität (das »Dass« des Seins als die Selbst-Eröffnung eines phänomenalen Horizontes), bei Lévinas Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 29. Die Transzendenz des Anderen bedeutet »seine Abwesenheit aus dieser Welt, in die es eintritt« (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 102). 105 Das Sagen bedeutet »eine Verpflichtung des Selben auf den Anderen, die in Beschlag nimmt vor jedem In-Erscheinung-Treten des Anderen« (Lévinas, Jenseits des Seins, 70). 106 Vgl. dazu Sebastiano Galanti Grollo, »La sensibilità di là dal tempo. Passività e affezione nel pensiero di Lévinas«, Discipline filosofiche, 24 (1), 2014, 75–96, hier insb. 81. 107 Vgl. dazu Lévinas, Jenseits des Seins, 115–116. 108 Vgl. dazu Lévinas, Jenseits des Seins, 223. 109 Vgl. dazu Lévinas, Jenseits des Seins, 152 und 198, Anm. 25. 103 104
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hingegen um die nackte und bedürftige Alterität des anderen Menschen. Bei Lévinas – ähnlich wie bei Heidegger – geht diese Affektivität dem Verstehen voraus. Die Verstrickung (intrigue) des Affiziertseins spielt sich diesseits des Verstehens ab. Dies wird durch Lévinas’ Behauptung bestätigt, dass sich die Alterität dem Verstehen entziehe und einen »unbegreifbaren (incompréhensible) Charakter« 110 aufweise. Die Alterität ist gerade das, was uns affiziert, obwohl sie weder im Voraus verstanden noch überhaupt verstehbar ist, sondern außerhalb des Wirkungskreises des Verstehens anzusiedeln ist. Damit wird der vor-hermeneutische Charakter der Affektivität bzw. des Sagens ersichtlich und dadurch ein neuer Aspekt der behaupteten Gleichsetzung von Sagen und Vorprädikativem deutlich: Das »Vor-« besagt die Vorgängigkeit und Autonomie des Sagens vor dem Hermeneutischen, d. h. die Tatsache, dass sich ein Affiziertsein immer schon und unabhängig vom Verstehensprozess ergeben hat. 111 Die Analogie mit der vorigen Deutung der großen Stille liegt nahe: Wie das auf die Stimme des Seins gerichtete Hören, so ist jetzt das Sagen bei Lévinas ein vor-hermeneutisches Affiziertsein. Nicht nur ist das Sagen für Lévinas dem Verstehensprozess vorgängig, es fundiert sogar die Dimension der Bedeutung und deren Artikulation. Das vorprädikative Sagen ist die Vorbedingung des Hermeneutischen. Dies findet im Text an all jenen Passagen Halt, in denen Lévinas das intentionale Bewusstsein, die Erkenntnis und die Sinngebung (als die eigentlich hermeneutische Funktion des Verstehens von etwas als etwas, d. h. als etwas Bedeutsames) in der ursprünglichen Bedeutsamkeit des Sagens verwurzelt sieht. 112 Nur auf110 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 278. Das Verstehen sei der Akt, in dem etwas angeeignet und in eine Welt integriert werde, indem das Subjekt ihm einen Sinn verleihe und es am Ende konstituiere (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 279). 111 Vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 424: »Diese Bedeutung [d. h. der Empfang des Anderen] geht meiner Initiative der Sinngebung voraus«. Dies spiegelt sich in der Idee wieder, dass »früher als die Ebene der Ontologie die Ebene der Ethik [ist]« (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 289). 112 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 70, wo das Affiziertwerden vom Anderen als »die versteckte Entstehung des Bewußtseins selbst« beschrieben wird. Vgl. auch Lévinas, Jenseits des Seins, 342: »Es gilt also, in der Bedeutung oder in der Nähe oder im Sagen die latente Entstehung der Erkenntnis und des sein, des Gesagten zu verfolgen«. Vgl. zuletzt Lévinas, Jenseits des Seins, 156: »Die Begriffe des Seinszugangs, der Vorstellung und der Thematisierung eines Gesagten – setzen jeweils die Sensibilität voraus und insofern Nähe, Verwundbarkeit und Bedeutsamkeit«.
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grund der Bedeutsamkeit, die sich durch die Instanz der Alterität eröffnet, kann sich das Subjekt konstituieren und als sinngebendes bzw. bedeutungsbildendes Ich verwirklichen. 113 Ausgehend von Lévinas kann man darüber hinaus argumentieren, dass sich das intentionale, erkennende Wahrnehmen auf einen Horizont bezieht, welcher einem Subjekt nur dann erscheinen kann, wenn dieses schon im Voraus das Reale als ein nie konstituiertes Gegebenes »erlitten«, d. h. auf eine nicht hermeneutisch-erkenntnismäßige Weise »erfahren« hat. Das Fundierungsverhältnis zwischen dem Sagen und dem Hermeneutischen knüpft an einen anderen Aspekt an, nämlich an die Tatsache, dass im Text das Sagen als die Bedingung der Möglichkeit des Gesagten dargestellt wird. 114 Das »Vor-« des vorprädikativen Sagens weist daher auch auf eine neue Beziehung des Grundes hin: Das Sagen fundiert die Möglichkeit des Verstehens und dadurch des Gesagten, das sich darin bewegt. Inwiefern die Rede von einer solchen Fundierung berechtigt ist, ist aber keine einfache Frage. Lévinas zeigt, dass das Sagen die »äußerste Anspannung der Sprache« 115 ist und somit die wesentliche Tendenz, welche jedes Sprechen prägt und belebt. 116 Das Sagen ist gewissermaßen die Seele jedes Sprechaktes, 117 indem dieses als ursprüngliche Zuwendung an den Anderen bzw. als ursprüngliche (Hin)gabe das Zeichen-Geben, welches im Gesagten stattfindet, beseelt und trägt. Das Sagen erweist sich also als die Voraussetzung und das Fundament der Sprache zunächst in dem Sinne, dass das Sagen die alteritätsorientierte Tendenz jedes Sprachaktes und jeder empirischen Kommunikation bildet. 118 Aber dies ist vielleicht nicht die einzige mögliche Deutung der Lévinas’schen Rede von einem Sagen, das als Voraussetzung des Gesagten gilt. Wenn man den Zusammenhang zwischen Sagen und Gesagtem vor dem Hintergrund des Fundierungsverhältnisses zwischen Sagen und Verstehen betrachtet, kann man das Sagen als die transzendentale Bedingung für das Gesagte interpretieren. Wenn nämlich Vgl. dazu Lévinas, Jenseits des Seins, 227–243. Vgl. vor allem Lévinas, Jenseits des Seins, 314, Anm. 6. 115 Lévinas, Jenseits des Seins, 313. 116 Vgl. dazu Étienne Feron, De l’idée de transcendance à la question du langage. L’itinéraire philosophique de Lévinas, Grenoble, Jérôme Millon, 1992, insb. 34–35. 117 Vgl. Lévinas, Sprache und Nähe, 286: »[Das Sagen] ist das eigentliche Wesen der Sprache (langage) vor der Sprache (langue)«. 118 Vgl. Lévinas, Jenseits des Seins, 116: »Das Sagen ist Kommunikation, gewiß, aber als Bedingung aller Kommunikation, als Ausgesetztheit«. 113 114
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das Sagen den hermeneutischen Prozess ermöglicht, so ist dieses auch Vorbedingung des Gesagten als eines Wesensmomentes jenes Prozesses. Denn das Gesagte, verstanden als die spracheigene Funktion der Stiftung und des Ausdrucks von Bedeutungen, ist ein notwendiger Bestandteil des Verstehensprozesses, in dem sich die Sinngebung aufgrund des intentionalen Entwurfs vollzieht. Dementsprechend kann man die vor-ursprüngliche Affektivität bzw. das Sagen als ein »pathisches« 119 Transzendental 120 interpretieren, sofern sie das Hermeneutische und dadurch das Sprachliche ermöglicht. Ohne dieses Sagen, ohne diese geworfene (weil nur erlittene und nie selbst beschlossene) Ausgesetztheit, gäbe es kein Gesagtes. 121 Daraus ergibt sich ein neuer
119 Aufgrund seiner Etymologie ist u. E. das Wort »pathisch« besonders angebracht, da es das Moment des ursprünglichen Affiziertseins des Subjekts – welches wesentlich Leiden ist (vgl. z. B. Lévinas, Jenseits des Seins, 278) – bezeichnet. 120 Ein solches Transzendental ist aber kein festes, be-greifbares Fundament im traditionellen Sinne, sondern vielmehr ein »an-archischer« Grund, der sich in einer unvordenklichen Vergangenheit entzieht und nie endgültig vorstellbar und durchschaubar ist. Die »Vorgängigkeit« dieses Transzendentals ist in diesem Sinne »›älter‹ als das Apriori« (Lévinas, Jenseits des Seins, 223). Schnell interpretiert das Denken Lévinas’ als eine eigentümliche Gestaltung der Transzendentalphilosophie (Alexander Schnell, En face de l’extériorité. Lévinas et la question de la subjectivité, Paris, Vrin, 2010) und erkennt in Autrement qu’être die Präsenz eines neu gedachten Transzendentals, welches zugleich Bedingung und »Unbedingung« ist, weil es sich zugleich enthüllt und entzieht (Alexander Schnell, »L’incondition. Autrement que fonder ou au-delà du transcendantal«, in: Danielle Cohen-Lévinas, Alexander Schnell [Hg.], Relire Autrement qu’être ou au-delà de l’essence d’Emmanuel Lévinas, Paris, Vrin, 2016, 61–76). Eine Deutung von Lévinas’ Denken im Sinne einer Transzendentalphilosophie vertritt auch: Theodorus de Boer, »An Ethical Transcendental Philosophy«, in ders., The Rationality of Transcendence. Studies in the Philosophy of Emmanuel Lévinas, Amsterdam, Gieben, 1997, 1–32. 121 Kann auch behauptet werden, dass es umgekehrt kein Sagen ohne Gesagtes gibt? Zu dieser Interpretation tendieren z. B.: Bernhard Waldenfels, »Sagen und Gesagtes«, in ders., Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2005, 208–223; Matthias Flatscher, Zur responsiven Dimension der Sprache und ihren Implikationen auf das menschliche Selbstverständnis. Überlegungen zum Verhältnis zwischen Heidegger und Lévinas, in: Andris Breitling, Chris Bremmers, Arthur Cools (Hg.), Debating Lévinas’ Legacy, Leiden/Boston, Brill, 2015, 225–243. Zwar ist empirisch die Möglichkeit eines puren Sagens ohne Gesagtes selten. Außerdem ist für uns Menschen das Sagen nur innerhalb des Gesagten beschreibbar. Und dennoch scheint uns der Versuch Lévinas’ darin zu bestehen, einen an sich vor-intentionalen Kern der Subjektivität zu retten, welcher durch die erkenntnismäßig-intentionale Tätigkeit des Bewusstseins (d. h. durch das Gesagte) unangetastet bleibt und eine ursprüngliche Berufung zum Guten vor jeder faktischen Positionierung enthält und sichert.
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Chiara Pasqualin
und letzter Sinn des »Vor-«: Das Sagen lässt sich als das Vorprädikative deuten, insofern es die Sprache – als Funktion und empirischen Vollzug – ermöglicht. Zu einem analogen Ergebnis hat uns die Interpretation der großen Stille bei Heidegger geführt. Diese wurde als Vorbedingung der bedeutungsmäßigen und sprachlichen Artikulierung dargelegt. Die Hervorhebung der Analogien zwischen Heidegger und Lévinas erlaubt uns letztlich, ein neues Verständnis des Vorprädikativen zu gewinnen. Dieses deutet zwar auf den aktiven, bedeutungsbildenden Prozess hin, welchem die theoretisch-reflexive Haltung entstammt. Und dennoch ist das Vorprädikative nicht nur die Bezeichnung für das Hermeneutische vor dem Apophantischen. Die vorprädikative Dimension birgt in sich eine Tiefe, die sich auf das Hermeneutische nicht reduzieren lässt. Sie erstreckt sich vielmehr bis zum pathischen Ursprungsbereich des Hermeneutischen – bis zu einem Affiziertsein, das die vom Subjekt nie ableitbare Alterität allererst spürbar macht.
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Die Autor*innen
Bernardo Ainbinder ist Honorarprofessor am Institut für Philosophie der Universität Diego Portales (Chile) und Präsident der Iberoamerikanischen Heidegger-Gesellschaft (SIEH). Zurzeit ist er als Research Fellow an der School of Humanities and Social Inquiry der Universität von Wollongong, Australien tätig. Zuvor war er Postdoktorand und Junior Researcher beim Nationalen Rat für Forschung, Innovation und Technologie (CONICET) in Argentinien, Gastwissenschaftler (2012–2014) am Center for Subjectivity Research (CFS) der Universität Kopenhagen sowie Assistenzprofessor an der Universität Diego Portales (2015–2019). Seine Forschungsinteressen umfassen Neukantianismus und Phänomenologie sowie deren Relevanz für zeitgenössische Diskussionen in der Philosophie des Geistes und der Metaontologie. Andreas Beinsteiner studierte Informatik und Philosophie und promovierte 2017 mit einer medienphilosophischen Rekonstruktion des Denkens von Martin Heidegger. Er unterrichtete an den Universitäten Freiburg, Innsbruck und Wien sowie an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Seine Forschungsinteressen umfassen Medien- und Technikphilosophie, (Post-)Phänomenologie und (Post-)Hermeneutik, Macht- und Subjektivierungstheorien, Theorien des Digitalen sowie die Rolle der Sprache angesichts von Posthumanismus, affective turn und neuen Realismen. Giovanna Caruso studierte Philosophie an der Universität Tor Vergata in Rom und an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2017 wurde sie im Rahmen der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« am Campus Landau der Universität Koblenz-Landau mit einer Arbeit zur Bedeutung der Kunst für das Leben in Anlehnung an Adorno, Benjamin und Heidegger promoviert. Von 2017 bis 2018 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität 265 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Die Autor*innen
Koblenz-Landau, Campus Landau. Dort ist sie seit 2018 Habilitationstipendiatin und Lehrbeauftragte. Diego D’Angelo hat Philosophie an der Statale Universität in Mailand studiert und an der Universität Freiburg im Breisgau wurde er mit einer Arbeit zu Edmund Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung promoviert. Er war Postdoctoral Research Fellow an den Husserl Archives in Leuven und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Koblenz-Landau. Seit 2018 ist er Assistent am Institut für Philosophie der Universität Würzburg. Matthias Flatscher arbeitet als Universitätsassistent im Fachbereich Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Seine Arbeitsgebiete bilden die Sprach- und Sozialphilosophie sowie die Politische Theorie unter besonderer Berücksichtigung phänomenologischer, poststrukturalistischer Zugänge und der Kritischen Theorie. Veröffentlichungen u. a. Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, Freiburg/München, Alber, 2011. Einführung in die Sprachphilosophie (zus. mit G. Posselt), Wien, facultas, 2018 [1. Auflage 2016]. Giovanni Gurisatti lehrt Geschichte der modernen und gegenwärtigen Philosophie am Institut für Philosophie, Soziologie, Pädagogik und angewandte Psychologie (FISPPA) an der Universität Padua (Italien). Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Begriffsgeschichte, Ästhetik und Philosophische Anthropologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Er hat zahlreiche Werke von Heidegger, Schopenhauer und Schmitt übersetzt und herausgegeben. Sein letztes Buch erschien 2016 und trägt den Titel L’animale che dunque non sono. Filosofia pratica e pratica della filosofia come est-etica dell’esistenza (Milano/Udine, Mimesis, 2016). Chiara Pasqualin studierte Philosophie in Padua (Italien) und an der Scuola Galileiana di Studi Superiori. 2013 wurde sie an den Universitäten Padua und Innsbruck mit einer Dissertation zum Thema Affektivität, Denken und Sprache im Werk Martin Heideggers promoviert (erschiehen als: Il fondamento »patico« dell’ermeneutico. Affettività, pensiero e linguaggio nell’opera di Heidegger, Roma, Inschibboleth, 2015). Anschließend arbeitete sie als PostDoc am Phi266 https://doi.org/10.5771/9783495823965 .
Die Autor*innen
losophischen Institut der Universidade de São Paulo in Brasilien. Derzeit ist sie Habilitationsstipendiatin und am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau als Lehrbeauftragte tätig. Anne Kirstine Rønhede erhielt ihren Bachelor an der Royal Danish Academy of Music, Kopenhagen, als Orchestermusikerin mit Hauptfach Violine. Sie studierte Philosophie in Tel Aviv, wo sie während ihres Masterstudiums auch als Teaching Assistant tätig war. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zu Sein und Wahrheit bei Heidegger als Stipendiatin in der Graduiertenschule »Herausforderung Leben« an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Ovidiu Stanciu ist assoziierter Professor an der Universität Diego Portales (Chile) sowie assoziiertes Mitglied des Husserl-Archivs in Paris. 2008 hat er sein Masterstudium in zeitgenössischer Philosophie an der Université Paris I Panthéon-Sorbonne abgeschlossen. 2015 wurde er an der Universität von Burgund und der Bergischen Universität Wuppertal mit einer Dissertation zum Thema: »The problem of metaphysics in Heidegger and Patočka« promoviert. Er ist Mitherausgeber eines Sammelbands zur Patočka’s Rezeption von Aristoteles (Patočka lecteur d’Aristote. Phénoménologie, ontologie, cosmologie, Argenteuil, Cercle Herméneutique, 2015). Yuliya Tsutserova erhielt ihren Bachelor in Fine Arts (»Painting and Drawing«) an der Asbury Universität (KY, USA) und hat anschließend ihr Masterstudium in Theologie am Asbury Theological Seminary abgeschlossen. 2018 wurde sie mit einer Arbeit zum Thema »The Artwork as a Momentous Site of Encounter in Martin Heidegger« bei Jean-Luc Marion an der Universität von Chicago promoviert. Zurzeit macht sie einen Forschungsaufenthalt an der University of Chicago Center in Paris, wo sie an einem Postdoc-Projekt mit dem Titel »Le phénomène de la liaison dans la philosophie de Husserl de La Philosophie de l’arithmétique (1891) à l’Expérience et jugement (1938)« arbeitet. Sie unterrichtet im Bereich der Literaturkritik, der Religionspolitik sowie der Ethik an der American University of Paris, am CIEE Global Institute in Paris und an der Sorbonne Universität.
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