Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie?: Perspektiven der Kulturgeschichte im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner 9783839441961

What are the possibilities of a "philosophy of history after the philosophy of history"? Interrogating the wor

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German Pages 346 Year 2021

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Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie?: Perspektiven der Kulturgeschichte im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner
 9783839441961

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Reinhard Blänkner, Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner (Hg.) Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie?

Histoire  | Band 129

Reinhard Blänkner (Dr.) ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Kulturgeschichte und seit 2017 Senior Scholar der Fakultät für Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Falko Schmieder (Dr.) ist Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin. Darüber hinaus arbeitet er am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin im Forschungsprojekt »Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte«. Christian Voller arbeitet am Institut für die Kultur und Ästhetik digitaler Medien (ICAM) der Leuphana-Universität Lüneburg. Er studierte Kulturwissenschaften und Kulturgeschichte in Frankfurt (Oder) und Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Theorie, Technikphilosophie und Reactionary Modernism. Jannis Wagner studierte Kulturwissenschaften und Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), und der Universidad de Córdoba (Andalucía). Seine Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Mentalitäten- und Gewissensgeschichte, Geschichtsdenken und Geschichtsbilder in der heroischen Moderne.

Reinhard Blänkner, Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner (Hg.)

Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie? Perspektiven der Kulturgeschichte im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4196-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4196-1 https://doi.org/10.14361/9783839441961 Buchreihen-ISSN: 2702-9409 Buchreihen-eISSN: 2702-9417 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort | 7 Intentionen der Vergangenheit Kittsteiner und seine Frühschriften

Moritz Neuffer | 21 Heinz Dieter Kittsteiners Historismus Geschichte zwischen Unverfügbarkeit und Reflexivität

Reinhard Blänkner | 51 Das Durcheinander im Nacheinander oder: Treppenwitze der gestuften Moderne Eine Befragung, nebst einem Antwortversuch

Achim Landwehr | 101 Stufen der Moderne Die Entheroisierung der Geschichte

Heinz Dieter Kittsteiner | 125 Geschichtsdenken nach der Geschichtsphilosophie Kittsteiner und Heidegger

Jan Eike Dunkhase | 143 Trauerarbeit in den Stufen der Moderne

Christian Voller | 155 ›Dem Gehirne der Lebenden‹ Zur ikonischen und symbolischen Erfassung der Geschichte

Sascha Freyberg | 177 Der Fort-Schritt Kittsteiners Geschichtsbilder

Jost Philipp Klenner | 207 Von den Zeichen des Bösen zum Geschichtszeichen Historisch-semiotische Überlegungen im Anschluss an Kittsteiners Signaturen einer Historiographie der Moderne

Wolfert von Rahden | 227

Die unsichtbare Hand sichtbar machen Heinz Dieter Kittsteiners Programm einer »Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte«

Rüdiger Zill | 263 Die Stufen der Moderne – Entwurf einer deutschen Gewissensgeschichte

Jannis Wagner | 287 Vorbemerkungen zu Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert

Richard Faber | 315 Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert

Heinz Dieter Kittsteiner | 321 Autoren | 341

Vorwort Jannis Wagner, Reinhard Blänkner, Falko Schmieder, Christian Voller

Jürgen Kaube nannte ihn den »nachdenklichsten Historiker seiner Generation«, und Helmut Lethen schreibt in seinen autobiografischen Erinnerungen, Kittsteiner sei, neben dem Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, »das einzige Genie« gewesen, »das ich in meinem Leben treffen durfte.«1 Diese Würdigungen stehen in bemerkenswertem Kontrast zur zurückhaltenden allgemeinen Rezeption des Kittsteinerschen Œuvres. Selbst in einigen Feldern, zu denen Kittsteiner einschlägig gearbeitet hat, finden seine Beiträge kaum Erwähnung und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass deren Inhalte vielfach kaum mehr bekannt sind. Die Gründe dafür sind vielfältig. Er verstarb 2008 während der intensiven Arbeit an seiner langjährig entwickelten Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne, von der postum nur der erste von sechs geplanten Bänden erschien. 2 Doch liegt es sicher auch an dem hohen theoretischen Anspruch der Arbeiten Kittsteiners, die in Zeiten einer allgemeinen Dekomposition von Theorie als antiquiert erscheinen. Vielleicht ist das eine der Signaturen eines immer kurzatmiger werdenden, von Mode zu Mode, von turn zu turn hastenden und gleichzeitig in ständige Verwertungszwänge, Verwaltungs- und Bürokratisierungsroutinen ein1

Vgl. Jürgen Kaube, Einleitung, in: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618 – 1715, München 2010, S. 9-22, hier: S. 9; Helmut Lethen, Denn für dieses Leben bin ich nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin 2020, S. 164.

2

Als theoretische Vorarbeiten, Versuchsstücke und Materiallager sind Kittsteiners Texte in den drei in diesem Zeitraum publizierten Sammelbänden zu begreifen (aber auch viele weitere verstreut publizierte Arbeiten): Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. 1998; ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004; ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006.

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gespannten Wissenschaftsbetriebes, in dessen immer stärker verdichteten Abläufen kaum noch Zeit für die Beschäftigung mit anderen Stoffen bleibt als denen, die für die Fertigstellung des nächsten Projektantrages oder die Vorbereitung der nächsten Begehungsrunde unbedingt benötigt werden. Die Zeit für ein freischweifendes Nachgehen von Interessen, für zweckentlastete, nicht-instrumentelle Lektüren – nach Wilhelm von Humboldt der eigentliche Inbegriff von Bildung – scheint vorbei zu sein: Eine logische Folge der von Hartmut Rosa konstatierten »Temporalinsolvenz«. Kittsteiner selbst hat sich diesen Tendenzen des Wissenschaftsbetriebes zeitlebens widersetzt und selbstbewusst die Position eines Randständigen und Einzelgängers bezogen.3 Für die so gewonnene Autonomie hatte er jedoch auch den Preis einer gewissen Isolation innerhalb der forschenden Gemeinschaft zu entrichten. Eine Folge davon war, keinen Netzwerken anzugehören, die für eine fortdauernde Popularisierung sorgen können. Kittsteiner war dies ebenso bewusst wie die eigentümliche Unzeitgemäßheit seines Handelns in einer universitären Welt, die er kritisch betrachtete: »An den Universitäten ist heute alles erlaubt; verdächtig macht sich nur, wer still in einer Ecke sitzt und über irgend etwas nachdenkt.«4 Für sich selbst nahm er hingegen in Anspruch: »Ich kann denken, was ich will; ich bin keiner Schule zugehörig.«5 Kittsteiner, der erst spät auf einen Lehrstuhl an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) berufen wurde (1993), hatte auch keine Schülerschaft im klassischen universitären Sinne. Eher lässt sich von einer Leserschaft oder Zuhörerschaft sprechen, aus der heraus vielfach von den starken Eindrücken berichtet wird, die Kittsteiners Art, Fragen zu stellen und Ideen zu entwickeln, seine intellektuelle Streitlust sowie die Breite seines theoretischen Einzugsbereiches zu hinterlassen pflegte.6 Doch auch hier zeigt sich immer wieder: Die Wahrnehmung seines Werkes ist meist eine fragmentierte, auf bestimmte Berei-

3

So vermerkte er in seinem 2001 erschienenen »Forschungsbericht mit Fußnoten« über Das Komma von SANS, SOUCI ausdrücklich, die Arbeit sei »Gedruckt ohne Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft«, vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Das Komma von SANS, SOUCI, Heidelberg 2001, S. 4.

4

Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München 2008, S.164.

5

Heinz Dieter Kittsteiner, Der deutsche Idealismus, Manuskript im Nachlass Kittsteiner, Archiv der Europa-Universität Viadrina, Sign. 20.

6

Vgl. Agnieszka Pufelska, Vergebliche Abschiede – Kittsteiner als Denk-Lehrer, in: Agnieszka Brockmann, Jannis Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte? Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner, Universitätsschriften Nr. 35, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), S. 37-45.

Vorwort | 9

che und Komplexe, also Ausschnitte fokussierte – eine Folge der bei erster Betrachtung beinahe verwirrend vielschichtigen Themen, die Kittsteiner bearbeitete. Die bisher marginale Auseinandersetzung mit seinem Werk liegt sicher auch darin begründet, dass sein zentrales Projekt eines kulturwissenschaftlichen Anschlusses an die Geschichtsphilosophie und sein Insistieren auf der Notwendigkeit, eine Auseinandersetzung mit Geschichtsphilosophie fruchtbar zu machen,7 allen zeitgenössischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Bewegungen strikt zuwiderzulaufen scheint. Denn so unübersehbar vielfältig die Denkbewegungen der vergangenen Jahrzehnte sind, so besteht ihr gemeinsamer Nenner doch in der Abkehr von der klassischen Geschichtsphilosophie. Dabei wird häufig übersehen, dass das in jüngerer Zeit formulierte Plädoyer für eine »Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie« ausdrücklich auf einer Kritik an der traditionellen geschichtsphilosophischen Frage nach dem »Sinn der Geschichte« basiert. Die Frage nach den »Möglichkeiten einer Geschichtsphilosophie nach dem Ende der Geschichtsphilosophie«8 wird stattdessen u.a. in der Auseinandersetzung mit Posthistoire, Globalisierung und dem Versuch eines kritischen Wiederanschlusses an übergreifende Theorien der Moderne ausgelotet. In diesem diskursiven Feld bewegt sich auch Kittsteiner mit seinem Forschungsprogramm einer von »geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleiteten Kulturgeschichte«. Im Zuge der jüngeren Distanzierung von postmodernen Einsätzen ging es ihm dabei nicht um die Rehabilitierung einer materialen Geschichtsphilosophie, sondern um den Anschluss an die – maßgeblich von ihm selbst freigelegten – Fragestellungen, auf die die Geschichtsphilosophie des Deutschen Idealismus heute nicht mehr anschlussfähige Antworten zu geben versuchte. Hierin gründet auch sein Interesse an den Arbeiten von Reinhart Koselleck und Paul Ricœur, die durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie und ihrem Erbe hindurchgegangen sind. Ein Schlüssel zur

7

»Für unseren Fall bedeutet das nichts anderes, als eine Kritik der einzelnen Kategorien der Geschichtsphilosophie. Sie müssen sich befragen lassen, welche Hoffnungen sie erweckten, welche Enttäuschungen mit ihnen verbunden waren, schließlich, wie man sich ›progressiv von ihnen ablöst‹ – um ein kritisches Verhältnis zu ihnen zu gewinnen.« Heinz Dieter Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte, in: ders., Out of Control, S. 33-48, hier: S. 36; zuvor in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1/2000, S. 67-77.

8

Johannes Rohbeck, Herta Nagl-Docekal, Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 7-17, hier: S. 8.

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spezifischen ›Denkform‹ Kittsteiners besteht darüber hinaus in dem Versuch, eine geschichtsphilosophisch reflektierte Kulturgeschichtsschreibung auch als Programm für eine Neuinterpretation und Neubestimmung der Marxschen Gesellschaftstheorie und -kritik zu verstehen. Es würde daher zu kurz greifen, allein die kritische Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie und ihrer spezifischen Fragestellungen zu betonen. Es ging Kittsteiner dabei auch immer um ein kritisches Anknüpfen an Marx, und um eine Kapital und Weltmarkt als geschichtsmächtig ernst nehmende Kulturgeschichtsschreibung. Alle Versuche, sich von dieser Realität abzuwenden, seien zum Irrlichtern verdammt: »Dieser machthabende Geschichtsprozess spukt seither in unbegriffenen Hintergrundmetaphern durch die Schriften der Historiker und Philosophen.«9 Überblickt man Kittsteiners Gesamtwerk, so fällt auf, dass seine späteren Leitthemen in gewisser Weise bereits in seiner Dissertationsschrift angelegt sind, die in ihrer Inauguralfassung den Titel: Karl Marx und der Ausgang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie. Auch ein Beitrag zur Rekonstruktion des historischen Materialismus trug, der dann in der Buchfassung ersetzt wurde durch den Titel: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens (1980). Ein Charakteristikum dieses Buches ist die theoretische Verbindung von vier avancierten Diskursfeldern, die zeitgenössisch weitgehend getrennt diskutiert wurden, nämlich der Debatten um den Status des Marxschen Werkes, der Diskussionen um die klassische deutsche Geschichtsphilosophie, der Debatten zur Metaphorologie (vor allem im Anschluss an Hans Blumenberg) und schließlich der Überlegungen zu einer Theorie historischer Zeiten (Reinhart Koselleck). Bereits mit dieser Arbeit hat Kittsteiner sich als ›geschichts-philosophierender Historiker‹, als den er sich selbst gelegentlich beschrieb,10 buchstäblich zwischen alle Stühle gesetzt und dabei in Missachtung disziplinären Grenzwächtertums die Konventionen des akademischen Fachbetriebes provoziert. Der Rezeption seiner Arbeiten war dies wenig förderlich. Wo sie stattfand, blieb sie zumeist auf einen dieser Themenstränge reduziert, ohne deren Einheit aufzugreifen. Die disparate Wahrnehmung seiner Schriften, die sich daraus ergab, lässt sich aber nur durch den Blick auf das Gesamtwerk überwinden, das jedoch, auch unter Berücksichtigung seiner unveröffentlichten Arbeiten, noch zu erschließen bleibt.

9

Heinz Dieter Kittsteiner, Zur Einführung, in: ders., Out of Control, S. 17.

10 Siehe: Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – Mit Heidegger für Marx, München 2004, S. 120.

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Auffällig oft sind es NachwuchswissenschaftlerInnen, die Anregungen von Kittsteiner aufgenommen und weitergeführt haben. Ein erstes Rezeptionsfeld stellt die Auseinandersetzung mit Marx und dem historischen Materialismus dar. Wie Ingo Elbe gezeigt hat, spielte Kittsteiner eine wichtige Rolle in der Formierung der sogenannten ›Neuen Marx-Lektüre‹ in der Bundesrepublik. Speziell seine Betonung der Differenzen zwischen dem Marxschen und Engelsschen System der Wissenschaft sowie seine Ausführungen zum Verhältnis von Historischem und Logischem im Kontext der Diskussion um die Methode der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie setzte hier neue Maßstäbe.11 In diesen Zusammenhang gehört auch Kittsteiners spätere zeittheoretisch orientierte Interpretation von Marx’ Theorie12, die thematisch mit anderen internationalen Ansätzen zu einer Neuaneignung des Marxschen Werkes konvergiert13 und wiederum jüngere Beiträge inspiriert hat.14 Ein zweites Feld der Kittsteinerrezeption bezieht sich auf die Interpretation und Neuaneignung des Werkes von Walter Benjamin. Eine Fragestellung ist hier etwa die nach der Spezifik von Benjamins Marx-Rezeption, gerade auch in Abgrenzung vom Ansatz der kritischen Theorie Theodor W. Adornos.15 Aus der Perspektive theoriegeschichtlicher und zeitungswissenschaftlicher Forschung ist vor allem Kittsteiners Beitrag zur ›Entdeckung‹ Benjamins in den späten 60ern sowie die Diskussion zwischen Alternative und Argument interessant.16 Die geschichtsphilosophischen Interessen Kittsteiners finden in Benjamin jedoch nur einen Gegenstand und wurden darüber hinaus in einzelnen Arbeiten aufgenommen, die sich anderen Vertretern und

11 Vgl. Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin: Akademie Verlag 2008, bes. S. 105-120. 12 Vgl. Kittsteiner, Geschichtsphilosophie und Politische Ökonomie. Zur Konstruktion der historischen Zeit bei Karl Marx, in: ders., Listen der Vernunft, S. 110-131, S. 216228 (zuerst engl. 1991). 13 Der Klassiker, den Kittsteiner offenbar nicht kannte, ist Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003; vgl. auch Peter Osborne, Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London, New York 1995. 14 Vgl. Frank Engster, Das Geld als Maß, Mittel und Methode. Das Rechnen mit der Identität der Zeit, Berlin 2014. 15 Vgl. u. a. Sami Khatib, The Time of Capital and the Messianity of Time: Marx with Benjamin, in: Studies in Social and Political Thought, Vol. 20/Winter 2012, S. 46-69; ders., ›Teleologie ohne Endzweck‹. Walter Benjamins Ent-stellung des Messianischen, Marburg 2013. 16 Vgl. den Beitrag von Moritz Neuffer in diesem Band.

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exponierten Kritikern dieser Denkform widmeten. Besonders hervorzuheben ist hier Kittsteiners Auseinandersetzung mit Oswald Spengler17 und Martin Heidegger.18 Neu in den Fokus gerückt wurde zudem in letzter Zeit Kittsteiners Bedeutung für die Begriffsgeschichte und Historische Semantik.19 Als produktiv erscheint in diesem Zusammenhang vor allem seine Zusammenführung von Kosellecks sozialhistorischer Begriffsgeschichte mit Blumenbergs Metaphorologie, speziell die Analyse der Entwicklung von Hintergrundmetaphoriken in der Moderne als Sukzession absoluter Metaphern, die er – unter der Formel des ›Zwang-wird-Sinn-Syndroms‹20 – als Geschichte historischer Bewältigungsversuche und Selbstdeutungen unter den Bedingungen der Unverfügbarkeit der Geschichte interpretierte. Das noch am ehesten – und doch meist randständig – rezipierte Element aus Kittsteiners Werk bildet schließlich sein Stufenkonzept, das die Moderne selbst noch einmal in verschiedene Etappen unterteilt, die jeweils durch spezifische Fragestellungen und Signaturen charakterisiert sind. 21 Bemerkenswert bleibt in diesem Zusammenhang, dass das von Kittsteiner so herausgehoben verfolgte und immer wieder umrissene Forschungsgebiet des

17 Vgl. dazu Christian Voller, Gottfried Schnödl, Jannis Wagner (Hg.), Spenglers Nachleben. Studien zu einer verdeckten Wirkungsgeschichte, Lüneburg 2018. 18 Paul Kuder, Heideggers Kierkegaard, Baden-Baden 2016. 19 Vgl. Ernst Müller, Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt a.M. 2016, S. 740-746. 20 Vgl. dazu Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner, Zwang wird Sinn. Kittsteiners Benjaminlektüren im Kontext, in: Christine Blättler, Christian Voller (Hg.), Walter Benjamin. Politisches Denken, Baden-Baden 2016, S. 233-241. 21 Siehe beispielsweise: Ulrich Bröckling, Postheroische Helden – Ein Zeitbild, Berlin 2020; Wolfgang Eßbach, Gegenwart, Felder, Epoche und Legitimität. Modi moderner und postmoderner Anschauungen, in: Magnus Striet (Hg.), ›Nicht außerhalb der Welt‹. Theologie und Soziologie, Freiburg i. Br. 2014, S. 33-60; Thomas Etzemüller, La storia del ›moderno‹. I problemi della sua concettualizzazione, in: Christof Dipper, Paolo Pombeni (Hg.), La ragione del moderno, Bologna 2014, S. 221-238; Peggy H. Breitenstein, Die Befreiung der Geschichte. Geschichtsphilosophie als Gesellschaftskritik nach Adorno und Foucault, Frankfurt a.M. 2013, S. 30; Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920-1960, Göttingen 2007, S. 44. Kennzeichnend für das Unverständnis einiger Historiker gegenüber dem Konzept ist die oberflächliche Zusammenfassung bei: Christof Dipper, Geschichtswissenschaft, in: Friedrich Jaeger, Wolfgang Knöbl, Ute Schneider (Hg.), Handbuch Moderneforschung, Stuttgart 2015, S. 94-109, hier: S. 95 f.

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historischen Wandels von Gewissensnormen hingegen eine kaum angenommene und wenig thematisierte Anregung geblieben ist.22 Der vorliegende Band ist von dem Wunsch getragen, die verschiedenen Einsätze und Felder des Kittsteinerschen Denkens zu rekonstruieren, aufeinander zu beziehen und eine tiefergehende Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten anzuregen. Das Gravitationszentrum seines geschichtstheoretischen Nachdenkens bildet die Auseinandersetzung mit Problemen und Fragestellungen, die die Geschichtsphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts aufgeworfen hatte. Dies gilt insbesondere für die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, die durch Metaphern und Denkfiguren wie ›Naturabsicht‹ (Kant), ›List der Vernunft‹ (Hegel) oder ›invisible hand‹ (A. Smith) teleologisch überspielt und geschichtsphilosophisch kompensiert wurde. Noch Marx und Engels, die in ihrer Kritik der Geschichtsphilosophie den Hegelschen ›Weltgeist‹ als ›Weltmarkt‹ entmystifizierten, blieben mit ihrer These vom ›historischen Beruf‹ des Proletariats als vermeintlichem Totengräber des Kapitalismus der geschichtsphilosophischen Teleologie verhaftet. Die über die Kritik hieran ›vergessene Erkenntnis‹ der Unverfügbarkeit des historischen Prozesses freigelegt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst Kittsteiners, das nicht nur einen anderen Blick auf die Geschichtsphilosophie um 1800 ermöglicht, sondern mit dem Kittsteiner sich auch von Reinhart Koselleck, unter dessen Ägide er sich habilitiert hatte, abgrenzt. Wie Koselleck, so verweist auch Kittsteiner auf das unheilvolle Potenzial der geschichtsphilosophischen Utopien. Während aber Kosellecks Blick auf die desaströsen Wirkungen des utopischen Denkens gerichtet ist,23 fragt Kittsteiner vor allem nach den Problemstellungen, auf die die teleologischen Denkfiguren kompensatorisch antworten. Die Spannung zwischen der noch immer aktuellen, im Zeichen multipler Krisen des – derzeit gern als ›Globalisierung‹ apostrophierten – Weltmarktes gesteigerten 22 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M., Leipzig 1991. Auch in Kittsteiners Forschungsprogramm zu den Stufen der Moderne nahm die gewissensgeschichtliche Dimension eine Schlüsselposition ein. Siehe hierzu die Beiträge von Richard Faber und Jannis Wagner sowie die beiden Texte Kittsteiners in diesem Band. 23 Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1973 (zuerst 1959); ders., Über die Verfügbarkeit der Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 260-277 (zuerst 1977). Siehe hierzu Manfred Hettling, Wolfgang Schieder, Theorie des historisch Möglichen. Zur Historik Reinhart Kosellecks, in: dies. (Hg.), Bedingungen möglicher Geschichten. Reinhart Koselleck als Historiker, Bielefeld 2021, S. 9-60, insbes. S. 46-51.

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Problemstellung der Geschichtsphilosophie und deren obsolet gewordenen Antworten führte Kittsteiner zu der Frage nach den Möglichkeiten einer Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie.24 Was also wird aus der Geschichtsphilosophie, nachdem ihre spekulativteleologischen Angebote nicht mehr plausibel erscheinen? Was kann man mit ihr anfangen, warum gar sollte man sie nicht aus den Augen verlieren? Allein schon deshalb, weil mit der Abwendung von ihr auch ihre wertvolle Erkenntnis aus dem Blick geriet25: Der Verlust der ursprünglichen geschichtsphilosophischen Einsicht in die Unverfügbarkeit der Geschichte (bereits ausgehend von den Geschichtsdenkern, die diese Einsicht selbst formuliert hatten) mündete in fortdauernde Bemühungen, diese einem ›vernünftigen‹ Zweck zu unterstellen, oder gar ›Geschichte zu machen‹. Solche – vielfach gewaltsamen – Versuche, die Geschichte unter menschliche Kontrolle zu bringen, verfolgte Kittsteiner – stets verwoben mit seinen gewissensgeschichtlichen Fragestellungen26 – bis zu den totalitären Machbarkeitsphantasien des 20. Jahrhunderts, den Aufständen gegen den Verlauf der Geschichte während der von ihm so genannten heroischen Moderne. Diese Versuche hätten, so Kittsteiner, stets Schlimmeres hervorgebracht, als das, was sich aus naturwüchsigen Marktbeziehungen bis dato ergeben hatte. Sein provozierendes Fazit lautet, dass die Menschheit mit der nicht machbaren Geschichte angstfrei zu leben lernen müsse. Oder, in den Worten des Schlusssatzes seiner Dissertation, die sein Werk leitmotivisch durchziehen und sich auch als Aufgabe und Frage einer historischen Anthropologie verstehen lassen: »Schlägt man sich einmal die Vorstellung aus dem Kopf, ihres [der Geschichte; die Hg.] inhaltslosen Prozesses irgendwann Herr werden zu können, so kommt es auch nicht mehr auf die Aufgabenstellung an, sie durch ›gesellschaftliche Praxis‹ auf einen imaginären Kontrollzustand zu bringen, sondern man muss nach neuen Bestimmungen suchen, was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht machbaren Geschichte nicht entrinnt.«27 24 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. 25 Siehe auch die ganz ähnlichen Analysen und Schlussfolgerungen zu Schlüsseltexten der klassischen Geschichtsphilosophien bei: Tamás Miklós, Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens, München 2016. 26 In diesen liege die »geradezu tagespolitische Aktualität« von Kittsteiners Arbeiten, wurde jüngst konstatiert. Richard Faber, Claude Conter, Vorbemerkungen, in: dies. (Hg.), Bernhard Groethuysen. Deutsch-französischer Intellektueller, Philosoph und Religionssoziologe, Würzburg 2021, S. 7-17, hier: S. 16. 27 Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, S. 221; s. a. ders., Zur Einführung, in: ders., Out of Control, S. 7-29, hier: S. 13.

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Unzweifelhaft schwingt in diesen Sätzen die Ernüchterung eines Intellektuellen mit, der einmal Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)28 und Redakteur der Zeitschrift Alternative gewesen und dessen Beschäftigung mit der Geschichte durchaus von dem Interesse angetrieben war, mitwirkend in sie einzugreifen, um Geschichte zu ›machen‹.29 Die theoretische Beschäftigung mit diesen Versuchen lässt sich so auch als kritische Selbstreflexion und als Beitrag zur Geschichte seiner Gegenwart sehen, in der diese Versuche niemals aufgehört haben – wie er etwa in der Auseinandersetzung mit Antonio Negris und Michael Hardts Bestseller Empire vorführt, die nicht zufällig die Coda seines Buches Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses bildet.30 In Kittsteiners Arbeiten werden besonders die kollektiv-wahnhaften Dimensionen solcher Unterfangen untersucht, die mit historischen Mythenbildungen, der Herstellung von Gruppen-Identitäten und, zu ihrer Stabilisierung und Selbstermächtigung, von Feindbildern verbunden sind, die eminent politische Konsequenzen haben. Als einen wesentlichen Mechanismus wertet Kittsteiner dabei die Strategie der Re-Personalisierung anonymer Strukturen, die beispielhaft im Antisemitismus wirksam ist. »Die Nationalsozialisten haben selbstverständlich nicht die Macht des Kapitals beseitigt, sondern sich an der ›Gestalt‹ vergriffen, die sie hinter dem ›Kapital‹ zwanghaft wahrzunehmen glaubten.«31 Die bedrückende Persistenz dieser Krisenreaktion verweist auf das perennierende Problem, unter geschichtlichen Bedingungen zu leben, die sich nicht nach humanen Zwecksetzungen richten. Denn auch eine post-heroische Gegenwart bleibt dem Weltmarkt als dem sich fortwährend beschleunigenden Antrieb der Geschichte unterworfen – und auch das Bestreben, ›Geschichte zu machen‹, wird nicht aus dieser verschwinden.32 Heute, im Zeichen des ›Anthropozäns‹, scheint Kittstei-

28 Siehe: Materialien zu einer Biographie, in: Brockmann, Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte?, S. 63-73, hier: S. 63. 29 Als zeitgenössisches Dokument der 68er-Studentenbewegung s. hierzu Rudi Dutschke, Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens. Mit einem Nachwort von Jürgen Miermeister, Berlin 2018 (zuerst 1980). 30 Vgl. Kittsteiner, Empire. Über Antonio Negris und Michael Hardts revolutionäre Phantasien, in: ders., Out of Control, S. 277-309. 31 Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes, in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, S. 103-128, hier: S. 128. 32 Vgl. hierzu: Kurt Bayertz, Matthias Hoesch (Hg.), Die Gestaltbarkeit der Geschichte, Hamburg 2019, in dem Kittsteiners Arbeiten allerdings nur am Rande und vor allem seine Rekonstruktion der geschichtsphilosophischen Problemstellungen überhaupt

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ners Frage, »was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht machbaren Geschichte nicht entrinnt«, in letzter Konsequenz zu bedeuten, wie die Überlebensbedingungen dieses animal politicum gesichert werden können. Benötigen wir nicht zum Verständnis der Welt, in der wir leben, eine Wissenschaft, die diese Fragen nicht nur mit einschließt, sondern zu ihrem zentralen Gegenstand macht? Die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft bleibt die von Heinz Dieter Kittsteiner hinterlassene Frage – sein eigenes Vorhaben einer Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne ist Fragment geblieben. Angelegt war es als eine weit ausgreifende historische Untersuchung des ›Geschichte-Denkens‹, von jenen Bildern ›der Geschichte‹, die den Menschen zur Orientierung in der Welt und der Gegenwart dienen. Diese sinn- und orientierungsstiftenden Geschichts-Bilder zu untersuchen, hielt Kittsteiner, gemeinsam mit dem Unverfügbarkeitstheorem, für den zentralen Ansatzpunkt einer kulturwissenschaftlich profilierten Kulturgeschichte. Die kulturellen Erzeugnisse der Moderne dechiffrierte er als Versuche der Bewältigung der Angst vor der Unverfügbarkeit der Geschichte. Dies ist auch die Frage danach, wie die Bilder, die sich die Menschen von ihrer Geschichte machen, ihr (planvolles) Handeln und das so hervorgebrachte (unkontrollierbare) Geschehen bedingen. Diese Geschichts-Bilder als einen Zugang zum Verständnis der menschlichen Schlüsse und Handlungen zu begreifen, ist eine Anregung, die auch und gerade heute intensiv diskutiert werden sollte. Die Bedingungen dafür stehen nicht schlecht, denn das postmoderne Denken, das mit seinen Thesen der Verabschiedung der großen Erzählungen und des Endes der Geschichte ein konstanter polemischer Bezugspunkt für Kittsteiner war, befindet sich seit längerem schon auf dem Rückzug. Als Historiker strebte Kittsteiner eine »von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleitete Kulturgeschichte« an, die »wieder von einem machthabenden, nicht verfügbaren Ganzen [ausgeht], […] das einer neuen Erzählung bedarf«, einer »Erzählung von der condition humaine in der Geschichte«.33 Der aufklärerische Anspruch dieses Unternehmens, nicht unähnlich dem Denken Hannah Arendts oder auch den Ansätzen der Kritischen Theorie, besteht darin, die Vorstellungswelten, Ideensysteme, politischen Ideologien kritischanalytisch zu erschließen und auf die Strukturbedingungen der Moderne zu beziehen. Weil er an diesen, der Marxschen Theorie folgend, die Strukturmomente des Fremden, der Bewegung ›hinter dem Rücken‹ sowie das Irrational-

nicht erwähnt werden. Siehe hierzu die Rezension des Bandes von Reinhard Blänkner, in: HZ 311 (2020), S. 399-402. 33 Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, S. 48

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Selbstzweckhafte der Kapitalakkumulation betont, ergeben sich in dieser Kulturgeschichte immer wieder Spannungen zu den auf menschliches Verstehen, Bedürfnis und Sinn bezogenen Deutungen des Gangs ›der‹ Geschichte und den Rollen der Menschen in ihr. Die These von der Unverfügbarkeit der Geschichte machte Kittsteiner zu einer Art Leitsignatur seines Denkens, die gleichwohl nicht mit Fatalismus zu verwechseln ist. Vielmehr verstand er seinen Geschichtsbegriff als Beitrag zur »Aufklärung über die Objektivität von objektiven Prozessen«34 und als theoretische Voraussetzung für emanzipatorisches politisches Handeln, das sich auf die Geschichte, historische Notwendigkeiten oder gar historische ›Gesetze‹ weder berufen kann noch muss. Dieser Ausgangspunkt – aus der Erfahrung der gesellschaftlichen Dringlichkeit von Wissenschaft, aus dem Wissen und Verstehen wollen, um wirken zu können – muss immer mitgedacht werden. Der vorliegende Band vertritt nicht den Anspruch, Kittsteiners Themen und Werk umfassend zu beleuchten, er bietet vielmehr ein Spektrum aus den möglichen Feldern. Die Beiträge behandeln exemplarische Bereiche, erhellen einzelne Denkfiguren und Bezugspunkte, gehen Anregungen von und für Kittsteiner nach, stellen Verknüpfungen und Übergänge fest, vertiefen besondere Aspekte und fragen nach weiterführenden Wegen. Sie diskutieren Aspekte des Kittsteinerschen Werkes kontrovers und stehen teilweise auch so zueinander. Dieser Band kann und soll keine allgemein- und schon gar keine endgültige Wertung sein, sondern ein Anstoß zum Beginn einer Diskussion, an die sich anknüpfen lässt. Das Labyrinth reicht weiter und zahlreiche Erkundungsgänge stünden noch an. Unternommen wird eine Expedition in die prägende Frühzeit und das Milieu der Studentenbewegung der 60er Jahre, die an der Schwelle eines neuen Bewusstseins und einer Zeitenwende zu stehen meinte. Zusammenhänge zwischen Biographie und Werkgenese, Ausschnitte einer intellektuellen Biographie, stehen hier im Zentrum (Neuffer). Es wird eine kritische Diskussion von Kittsteiners Stufen-Konzept, dem ihm zugrundeliegenden Geschichtsbegriff vorgenommen und Zeit-theoretisch reflektiert (Blänkner, Landwehr, Voller). Ein Text aus Kittsteiners Nachlass bietet einen unmittelbaren Einblick in seine Entwürfe zu den Stufen der Moderne und führt lebendig die Technik der von ihm intendierten Durchführung seines Themas am historischen Material – mit einigen der von ihm immer wieder bemühten Protagonisten – vor. Auch Überlegungen zur mentalitätengeschichtlichen Reichweite der heroischen Moderne nach ihrem Ende kommen hier zum Tragen (Kittsteiner). Kittsteiners eigene Theoriebildung lehnte

34 Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, S. 243.

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sich an eine Reihe von Denkern und Gedanken an, die er immer wieder explizit nannte und mit denen er sich meist jahrzehntelang, teilweise lebenslang beschäftigte – wenn auch oft sehr eigenwillig und an temporären Rezeptionsmoden vorbei. Hier wird die langandauernde und – wie so oft – sehr eigene Beschäftigung Kittsteiners mit Martin Heidegger beleuchtet und im Kontext der wiederholten und anhaltenden Diskussionen um diesen Philosophen eingeordnet und gewürdigt (Dunkhase). Eine weitere langjährige Konstante in Kittsteiners Arbeit war die Beschäftigung mit Ernst Cassirers Werk, das für ihn als theoretischer Anknüpfungspunkt, insbesondere in Bezug auf die Erfassung von Geschichte in symbolisch aufgeladenen Bildern, relevant war und in zahlreichen Texten aufscheint. Dieser Linie wird hier nachgegangen und dabei auch die Verwandtschaft zu den teilweise gleichzeitigen Arbeiten von John Krois offengelegt – eine Überlagerung von Interessen, die beiden Protagonisten in ihrer Intensität wohl verborgen blieb (Freyberg). Wie hier schon deutlich wurde, führte Kittsteiner der hohe Stellenwert der Erforschung von Vorstellungen von Geschichte in seinen Arbeiten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ganz konkreten Verbildlichungen und Bildern. Anhand seiner Auseinandersetzung mit und Behandlung von Bildwissenschaften geraten – manchmal durchaus vom Ziel her bestimmte – Aneignungstechniken in Bezug auf Theorien und Methoden in den Blick (Klenner). Kittsteiners Auseinandersetzung mit der klassischen Geschichtsphilosophie zieht sich durch die meisten der Beiträge, würde aber an sich eine eigene, den Rahmen dieses Bandes überschreitende Auseinandersetzung erfordern. Hier wird beispielhaft der Bedeutung der Kantischen Denkfigur des (oft in einem Bild gefassten) »Geschichtszeichens« für Kittsteiner, die Verwendung bei ihm, sowie den Implikationen für die Gegenwart nachgegangen und so der Ort des Bösen in Kittsteiners Geschichte der Moderne erkundet (von Rahden). Ein weiteres großes Themenfeld, das vielfältige Verzweigungen eröffnet, wird beschritten, wenn die Rolle der Begriffsgeschichte, und damit auch der intellektuellen Verbindungen über Reinhart Koselleck zu Blumenberg, in Kittsteiners Horizont erörtert wird. Auch ein weiterer Lehrer, Jacob Taubes, dessen Bedeutung für Kittsteiner einer eigenen Würdigung bedürfte, kommt hier in den Blick (Zill). In einer weiteren Auseinandersetzung mit den Stufen der Moderne wird argumentiert, dass diese als eine Ausweitung und Fortführung der von Kittsteiner in seiner Habilitationsschrift betriebenen mentalitätengeschichtlichen Erforschung des Gewissens als Gewissensgeschichte Deutschlands gedacht waren, die von der Frage nach den Voraussetzungen der Verbrechen des 20. Jahrhunderts her angelegt wurde (Wagner). In diese Richtung führt auch ein kurzes Vorwort zu einem Aufsatz Kittsteiners, in dem ein langjähriger Wegbegleiter den Stellenwert der Auseinandersetzung mit der Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands als Kern

Vorwort | 19

der Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und Geschichtsdenken in Deutschland bei Kittsteiner hervorhebt. Die erdrückende Einsicht in die fatale Geschichte der eigenen Gesellschaft als Folge der großen Prozesse (Nürnberger, Eichmann- und Auschwitz-Prozesse) und der durch sie erzwungenen Aufklärung in den 1960er Jahren steht hier als generationsspezifische Erfahrung im Hintergrund eines Lebenswerkes (Faber). Der Band öffnet und schließt also mit einer biographischen Einlassung. Ein letztes Wort gebührt jedoch sicherlich dem Besprochenen: Es wird hier ein Aufsatz Kittsteiners zum deutschen Gewissen im 20. Jahrhundert wieder abgedruckt, der, im Kontext der Stufen der Moderne, den Stellenwert der Auseinandersetzung mit der gar nicht fernen deutschen Geschichte in seinem Werk verdeutlicht. Die beiden hier abgedruckten Texte Kittsteiners, der wieder- und der erstveröffentlichte, sollen beispielhaft darauf hinweisen, wohin weitere Erkundungen führen könnten: Nicht zuletzt in die kurzen Texte Kittsteiners, in denen sich ein Großteil seiner konzeptionellen und geschichtstheoretischen Überlegungen niederschlugen. Schon die verstreut erschienenen Aufsätze wären zusammenzuführen – und bisher gänzlich Unbekanntes aus dem Nachlass zu erschließen. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf eine Tagung zurück, die im Dezember 2016 an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), und der Hellen Panke e.V., Berlin, stattfand. Unser Dank gilt dem Viadrina Center B/Orders in Motion der Europa-Universität Viadrina und der Hellen Panke e.V., durch deren Finanzierung diese Tagung ermöglicht wurde. Für die Finanzierung des Drucks dieses Bandes danken wir der Fakultät für Kulturwissenschaften der EuropaUniversität Viadrina und dem Viadrina Center B/Orders in Motion. Die redaktionelle Betreuung wurde durch eigene Mittel der Professur für Neuere Geschichte und Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina unterstützt. Wir danken Peter Iwatiw für seine engagierte Hilfe beim Lektorat. Für Hinweise und weitere Unterstützung danken wir Hortense von Heppe sowie den Mitarbeiterinnen des Universitätsarchivs und der Bibliothek der Europa-Universität Viadrina. Unser besonderer Dank gilt den Autoren dieses Bandes und allen Mitwirkenden der Tagung. Erst ihr Engagement und ihre Geduld haben sein Erscheinen ermöglicht.

Intentionen der Vergangenheit Kittsteiner und seine Frühschriften Moritz Neuffer

I. ERINNERUNGSARBEIT

»[E]rst dem konkreten Vorschlag stellen sich die Widerstände.« Heinz Dieter Kittsteiner, 19671

Im Jahr 2008 erschien der erste posthum veröffentlichte Text von Heinz Dieter Kittsteiner. Für eine Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte, deren Mitgründer er war, hatte der Historiker Erinnerungen an das Leben im geteilten Westberlin festgehalten, die von seinem Studienwechsel aus Tübingen an die Freie Universität im Jahr 1965 bis zum Mauerfall 1989 reichten.2 In der kurzen intellektuellen Autobiographie skizzierte der Autor seine Teilnahme an der Studentenbewegung, seine ersten publizistischen Gehversuche und seine philosophische Selbstbildung, die im Laufe der 1970er und 1980er Jahre in einer zunehmend kritischer werdenden Auseinandersetzung mit dem Marxismus als Geschichtsphilosophie und »Theorie der menschlichen Emanzipation« resultiert hatte. 3 Diese Selbstauseinandersetzung bedeutete auch eine Kritik seines frühesten 1

Heinz Dieter Kittsteiner, Demonstration als Aufklärung. Theorien auf dem Campus, in: alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion 10 (1967) 55, S. 141 f., hier: S. 142.

2

Heinz Dieter Kittsteiner, Unverzichtbare Episode. Berlin 1967, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008) 4, S. 31-44.

3

Heinz Dieter Kittsteiner, Marxismus und Subjektivität. Ein Dialog, neuere Philosophie betreffend (I. Teil), in: Berliner Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik (1978) 9, S. 2-12, hier: S. 2.

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Schaffens, das von der Überzeugung getragen gewesen war, dass Geschichte, und das hieß: Revolution, durch handelnde Subjekte machbar sei. Diese Position hatte Kittsteiner während seiner Tätigkeit als Redakteur der alternative verteidigt, einer linken Literatur- und Theoriezeitschrift, die von 1964 bis 1982 von der Germanistin Hildegard Brenner herausgegeben wurde. Für diese Zeitschrift schrieb er in den Jahren 1966 und 1967 seine ersten Aufsätze und Rezensionen. Später entwickelte Kittsteiner – vor allem im Rückgriff auf den späten Marx der Kritik der politischen Ökonomie – »objektivistischere« Konzeptionen von Geschichte, die deren Unverfügbarkeit, sogar Nicht-Machbarkeit betonten und sich damit von den frühen Texten deutlich absetzten.4 Das Manuskript seiner »Erinnerungsarbeit«, wie er sie nannte, war dem Historiker im Jahr 2008 selbst trivial erschienen. Deshalb hatte er die Einsendung mit dem Betreff »Unverzichtbare Episode« überschrieben, den die Redakteure der Zeitschrift für Ideengeschichte trotz ihres berechtigten Ironieverdachts zum Titel der Veröffentlichung machten.5 Unverkennbar ist der Text von spöttischen Tönen und Zwischentönen durchzogen. Der Text beginnt mit einem Abschnitt, der davon berichtet, wie der Protagonist auf Empfehlung seines Kommilitonen Klaus Laermann die Redaktion der alternative »betreten durfte«, jenes »Reich der Hildegard Brenner, die im Kreise ihrer wechselnden studentischen Mitarbeiter in einem Gartengebäude der Düsseldorfer Straße 4 jene ›roten gedrahteten Hefte‹ herausgab«.6 Vor seinem Beitritt hatte sich Kittsteiner seiner Erinnerung nach die alternative einmal gekauft, und zwar ein Heft mit dem Titel Karl Korsch. Lehrer Bertolt Brechts, das passenderweise das Erlernen marxistischen

4

Vgl. grundlegend zur theoretischen Entwicklung in Kittsteiners Werk Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner, Zwang wird Sinn. Kittsteiners Benjaminlektüren im Kontext, in: Walter Benjamin. Politisches Denken, hg.v. Christine Blättler und Christian Voller (= Staatsverständnisse, Bd. 93), Baden-Baden 2016, S. 233-242.

5

Das Manuskript war nach Angaben von Stephan Schlak und Wolfert von Rahden einen Tag vor dem Tod des Autors im Juli 2008 in der Redaktion der Zeitschrift für Ideengeschichte per E-Mail eingegangen. In der Vorbemerkung der beiden Heftherausgeber heißt es, dass Kittsteiner den Text nur auf »massives Drängen« hin angefertigt hatte. Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 1.

6

Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 31. Zu den Redakteuren der alternative, die Hildegard Brenner zum Jahreswechsel 1963/64 übernommen hatte und bis zur Einstellung der Zeitschrift 1982 herausgab, gehörten in Kittsteiners Zeit als Mitarbeiter außerdem Georg Fülberth, Helga Gallas, Helmut Lethen, Hartmut Roshoff, Peter B. Schumann, Jürgen Schutz und Kathrin Vier.

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Denkens zum Gegenstand gehabt hatte.7 Erwerb und Lektüre solcher Theoriepublikationen aus dem Umfeld der Neuen Linken boten intellektuelle Orientierung, die redaktionelle Mitarbeit an einem Zeitschriftenprojekt umso mehr. 8 Die alternative, im Untertitel Zeitschrift für Literatur und Diskussion, druckte Kittsteiners Beschreibung zufolge Einführungen, die in das »Handgepäck jedes kritischen Jung-Marxologen« gehörten, der sich mit der Theorie als »Rüstzeug im Tornister« auf die Suche nach dem »Subjekt der Tathandlung« machen wollte.9 Nicht nur in der Metaphorik der Bildungsreise wurde das intellektuelle Leben von 1968 durch den Kittsteiner des Jahres 2008 dargestellt, sondern auch vermittels der Physiognomie der Akteure. »[G]anz kluge Köpfe« hätten damals schon von einer »historischen Wiederaufführung des Fichteanismus unter verschärften linkshegelianischen Vorzeichen« geraunt, deren Protagonisten bildhaft in Szene gesetzt werden: Was Rudi Dutschke in einem Referat zu Georg Lukács, gehalten in einer Lehrveranstaltung des Philosophen Hans-Joachim Lieber, genau gesagt habe, erinnerte Kittsteiner 2008 nicht mehr, umso mehr aber dessen schnellen, »stoßweise[n]« Duktus.10 Im Vergleich mit Dutschke kommen andere Wortführer und Funktionäre der Studentenbewegung in dem Text schlechter weg: Unangenehmer als die »gewaschenen Jungs vom Sozialistischen Hochschulbund« waren demnach nur die »kleinen Tyrannen vom SDS, später in den Kaderparteien«.11 Und in Ost-Berlin, wohin den jungen Redakteur eine Sprechstunde bei Wolfgang Heise an der Humboldt-Universität führte, verkörperte eine nicht weniger typische Figur die Farblosigkeit der Orthodoxie: 7

Das Heft enthielt Dokumente aus dem Nachlass Korschs und Brechts, darunter Korrespondenzen, in denen der Dramatiker den Philosophen um kritische Prüfung seiner lyrischen Umsetzung des Kommunistischen Manifests ersuchte. Vgl. dazu Moritz Neuffer, Arbeit am Material. Die Theorie-Dokumentationen der alternative (= Sonderdruck, Bd. 4), Berlin 2017, S. 3 f.

8

Ein wiederkehrendes Moment in autobiographischen Erinnerungen an '68 besteht darin, dass Zeitschriftenarbeit nicht nur die an den Universitäten gelernten Inhalte maßgeblich ergänzte, sondern auch eine wichtige Etappe der Selbstkonstitution als Autorin oder Publizistin dargestellt habe. Solche Berichte finden sich für den Fall der alternative beispielsweise bei Helga Gallas, Auf Umwegen zur Psychoanalyse, in: Literatur & Psychoanalyse. Erinnerungen als Bausteine einer Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Wolfram Mauser und Carl Pietzcker, Würzburg 2008, S. 191-208 und Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht (= Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge, Bd. 1), Göttingen 2012.

9

Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 32.

10 Ebd., S. 31 f. 11 Ebd., S. 41.

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»Vorne nölte ein Herr im grauen Anzug über den ›Historischen Materialismus‹, und das studentische Publikum döste auch. [...] Was war das gegen Ernst Bloch und seine Tübinger Einleitung in die Philosophie. Zusammen mit Herbert Marcuse und den «Pariser Manuskripten», gekauft im November 1966, gelesen unter zähen Mühen, das war für mich Marxismus.«12

In der Gegenüberstellung wird das vitale Gegenbild zu Dogmatik und Langeweile benannt, und dies sind prägende, aufregende Theorie-Lektüren. Am Horizont der für sie aufgebrachten Mühen, so lässt sich der Erzählung entnehmen, stand ein Anspruch auf Verwirklichung der Theorie – eine Suche nach »Chancen auf Praxis«, wie es Kittsteiner 1967 selbst formuliert hatte. 13 Doch dieser Anspruch sollte von begrenzter Haltbarkeit sein: Schon 1975 hielt Kittsteiner den wichtigsten Text aus seiner frühesten Phase, eine Interpretation der Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins für ein Heft der alternative im Jahr 1967, für ein wissenschaftlich gescheitertes »Dokument aus der Geschichte der Studentenbewegung«.14 In der Historiographie und in den Memoiren zu ’68 ist vielfach beschrieben worden, wie das Auseinanderbrechen der politischen Bewegung und die Nichteinlösung des Anspruchs auf Praxis selbstkritische oder melancholische »Repräsentationsarbeiten« dieser Generation nach sich zog.15 Im Falle Kittsteiners lassen sich sowohl Versuche historischer Kontextualisierung als auch deutliche Absagen an früher Gedachtes und Geschriebenes beobachten, mit Verweis auf dessen Naivität, Unwissenschaftlichkeit oder Verfasstheit in »der damals grassierenden schauerlichen Sprache«.16 Über die nachvollziehende Historisierung

12 Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 39. 13 Heinz Dieter Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹, in: alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion, 10 (1967) 56/57, S. 234-251, hier: S. 251. 14 Nachwort zum Wiederabdruck von: Die ›Geschichtsphilosophische Thesen‹, in: Materialien zu Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, hg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt a.M. 1975, S. 28-42, S. 39 f. 15 Silja Behre, Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um »1968« in deutschfranzösischer Perspektive, Tübingen 2016, S. 20. Vgl. auch Jana König, »Falsche Wege und neue Anfänge«. Die Bedeutung von Theorie in Zeiten linker Krisen – im Kontext von »Deutscher Herbst« und »Wiedervereinigung«, in: Arbeit-BewegungGeschichte 17 (2018) 2, S. 88-104. 16 Brief Kittsteiners an den Suhrkamp Verlag, Betr.: Herausgabe einer Aufsatzsammlung zum Werk Walter Benjamins, Berlin, den 2. Mai 1975, Nachlass Kittsteiner, Signatur: 75, zitiert bei Schmieder, Voller, Wagner, Zwang wird Sinn, S. 235.

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hinaus unterliegen seine frühen Texte damit einem strengen späten Urteil, ausgesprochen durch den Autor selbst. Mit dem folgenden Durchgang durch das Frühwerk wird jedoch insistiert, dass Kittsteiners Frühschriften tatsächlich als unverzichtbar betrachtet werden können, und zwar auf eine ganz unironische Weise. In ihnen ist bereits ein Interesse am Problem der historischen Subjektivität angelegt, das Kittsteiner in späteren Schriften ausführlich theoretisierte. Biographische Erfahrung, so die hier vertretene These, half dabei der theoretischen Erkenntnis auf die Sprünge und lieferte ihr Argumente. Kittsteiners Reflexionen über die (Un-)Verfügbarkeit von Geschichte basierten auf den zähen Mühen philosophiegeschichtlicher Arbeit, aber auch auf der kritischen Auseinandersetzung mit geschichtsphilosophischen Überzeugungen, die er um ’68 selbst politisch vertreten hatte. Diese kritische Auseinandersetzung des Autors mit den Intentionen der eigenen Vergangenheit, so zeigt sich im Blick auf unterschiedliche Werkphasen, weist somit mehr Etappen auf als nur den Modus später Ironie.

II. ZERNIERTE AUFKLÄRUNG Kittsteiners veröffentlichte Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie begann mit Buchrezensionen, die ab Februar 1966 in der alternative erschienen. Die jeweils nicht mehr als ein bis drei Seiten umfassenden Texte behandelten Neuauflagen literarisch-philosophischer Schriften aus den Jahren um 1800, die in der seit 1965 von dem Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich verlegten Buchreihe sammlung insel erschienen waren. Boehlichs Reihe war als Kanon konzipiert, der Traditionsbeständen aufklärerischen Denkens, die in der deutschen Geistesgeschichte marginalisiert geblieben waren, Öffentlichkeit verschaffen sollte.17 Insbesondere verstand Boehlich die Reihe als Fortführung der geschichtspolitischen Intentionen Walter Benjamins, mit denen sich auch Kittsteiner in diesen Jahren beschäftigte: Die sammlung insel stellte eine praktische Form der »Rückerinnerung« an unterdrückte und vergessene Texte dar.18 Eine Textauswahl, die von Bettina von Arnim bis Karl Marx reichte, sollte mit Blick auf den National-

17 Richard Faber, Walter Boehlichs sammlung insel der 60er Jahre. Wiederaufnahme eines Walter Benjaminschen Projekts der 30er Jahre, in, Walter Boehlich. Kritiker, hg. v. Helmut Peitsch und Helen Thein, Berlin 2011, S. 181–212, hier: S. 182. 18 Ebd., Zitat S. 182. Zur Reihe der für die einzelnen Bände verantwortlichen Herausgeber gehörten Theodor W. Adorno, Hans Blumenberg, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Harich, Walter Jens, Herbert Marcuse, Hermann Schweppenhäuser und Jacob Taubes.

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sozialismus und seine Vorgeschichte, aber auch vor dem Hintergrund der konservativen Restauration in der BRD der 1950er und 1960er Jahre davon zeugen, »dass einst auch Deutschland demokratische Traditionen besaß«. So formulierte es der Marxismushistoriker Iring Fetscher, bei dem Heinz Dieter Kittsteiner in Tübingen studiert hatte, im Vorwort zu seinem sammlung insel-Band über den Freiherrn von Knigge.19 Kittsteiner beschäftigte sich in seinen Rezensionen mit Ausgaben von Jean Paul, Georg Forster und Johann Peter Hebel und legte dabei besonderes Augenmerk auf die Neuinterpretationen der Schriften im Licht ihrer Rezeptionsgeschichte. Vor allem prüfte der alternative-Redakteur, ob und mit welchen Mitteln die Reihe ihren Anspruch, historischen Texten Aktualität zu verleihen, einlöste. Schließlich wurden alle drei Autoren von der sammlung, mit Blick auf ihre politischen Positionen in den Jahren nach der Französischen Revolution, als Vorbilder aufklärerischen Denkens und Handelns präsentiert. Den Anfang machte eine Besprechung der zwischen 1810 und 1812 unter napoleonischer Herrschaft in Deutschland entstandenen Politischen Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, die von dem Germanisten Hans Mayer neu bearbeitet und kommentiert worden waren.20 Kittsteiner konzentrierte sich in seiner Rezension auf Mayers Nachwort Der unzuverlässige Jean Paul, das er für eine misslungene Aktualisierung hielt, insofern sich darin eine lange Reihe von politischen Indienstnahmen fortsetze, die sich in der Wirkungsgeschichte des Dichters beobachten ließen: Mal sei Jean Paul als Gewährsmann für vaterländische Aufopferung (1917), mal als Pazifist (1918) und mal als Vordenker des Nationalsozialismus (1939) gelesen worden, womit sich die Rezeption »als trauriges Resultat deutscher Geschichte«, voller Vereinfachungen und Instrumentalisierungen, erweise.21 Im Nachwort der sammlung insel war zwar zu lesen gewesen, dass die unmittelbare Aktualität der politischen Schriften Jean Pauls verstrichen sei, dass er aber dennoch in einem wichtigen Punkt als Vorbild gelten könne. Anders als die deutsch-nationale Lesart es wollte, hatte Hans Mayer in seiner Darstellung betont, dass Jean Paul in der napoleonischen Zeit keineswegs ein glühender Vertei19 Adolph von Knigge, Des seligen Herrn Etatraths Samuel Conrad von Schaafskopf hinterlassene Papiere; von seinen Erben herausgegeben. Mit einem Nachwort von Iring Fetscher (= sammlung insel 11), Frankfurt a.M. 1965, S. 104. 20 Heinz Dieter Kittsteiner, Rezension von Jean Paul: Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche. Nachwort von Hans Mayer (= sammlung insel, Bd. 13, Frankfurt a.M. 1966), in: alternative 9 (1966) 46, S. 40 f. 21 Ebd., S. 40. Die Ausgabe aus der Zeit des Nationalsozialismus, auf die sich Kittsteiner und Meyer beziehen, ist Bd. 14 der Sämtlichen Werke, hg. v. Wilhelm von Schramm, Weimar 1939.

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diger deutscher Souveränität gewesen sei, sondern allein die falsche Umsetzung der französischen revolutionären Ideale abgelehnt habe.22 Weil Jean Paul – »[w]eder dezidierter Patriot also, noch Bonapartist«23 – in den Jahren der Befreiungskriege sorgfältig zwischen den Ideen der Aufklärung und dem Regiment Napoleons unterschieden habe, machte ihn Mayer, der häretische Marxist, der 1963 die DDR verlassen hatte, zum Vordenker einer »dritten Position« und aktualisierte ihn so für die Gegenwart des Kalten Krieges. Denn unterschiedliche sozialistische Akteure und vor allem die studentische Neue Linke suchten damals nach Alternativen sowohl zum Kapitalismus des Westens als auch zum Stalinismus des Ostens.24 Kittsteiner stand, als Autor einer marxistischen Zeitschrift, die gegen die marxistische Orthodoxie stritt, selbst in einer ›dritten Position‹. 25 Und er gestand Hans Mayer durchaus zu, die auf Vernunft gegründete politische Unzuverlässigkeit Jean Pauls richtig herauszustellen. Dennoch störte er sich an dem Verfahren Mayers, diese Haltung auf die Gegenwart zu beziehen. Denn das hieße, einer weiteren »Versuchung einer Aktualisierung« zu erliegen und »auf die Methode unvermittelter Inanspruchnahme« zurückzufallen.26 Ratsamer wäre es gewesen, so Kittsteiners vages Fazit am Ende der Rezension, »die bisherige Jean PaulRezeption kritisch zu beerben«, anstatt die ideologische Indienstnahme fortzusetzen.27 Die Absicht von Kittsteiners geschichtspolitischer Intervention tritt in einer weiteren, wenig später veröffentlichten Buchkritik noch deutlicher hervor. In einer Neuauflage von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten, einer von Ernst Bloch betreuten Auswahl von Texten aus dem Rheinischen Hausfreund, den Hebel von 1807 bis 1815 mit herausgegeben hatte, fand Kittsteiner ein positiveres Beispiel einer Aktualisierung – eben weil sie genau dies nicht sei. Die Rezension, die sich wie im vorigen Fall vor allem um Blochs Lektüre dreht, unterscheidet zunächst zwei differierende Lesarten der populären didaktischen Erzäh22 Hans Mayer, Der unzuverlässige Jean Paul. Nachwort in: Jean Paul, Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche (= sammlung insel, Bd. 13), Frankfurt a.M. 1966, S. 143-153, hier: S. 148. 23 Ebd., S. 153. 24 Vgl. Alexander Gallus, Eckhard Jesse, Was sind Dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17 (2001), S. 6-15. 25 Vgl. Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt a.M. 1976. Von der alternative besprochene Theoretiker waren – in Kittsteiners Redaktionszeit - neben Karl Korsch v.a. Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Lucien Goldmann. 26 Kittsteiner: Rezension von Jean Paul, Politische Fastenpredigten, S. 41. 27 Ebd.

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lungen. Dies ist zum einen die volkstümelnde Rezeption des alemannischen Dichters, betrieben von lokalpatriotischen Dichter-Freundeskreisen, die sich, mit einem Wort Walter Benjamins, ihr »Nippesfigürchen Hebel« formten.28 Die andere Rezeption, eine modernere und kosmopolitischere, war Hebel durch Benjamin, aber auch durch Franz Kafka und Bertolt Brecht zuteil geworden.29 Kittsteiner lobte den Herausgeber Bloch nun dafür, dass er Hebel durch seine Zusammenstellung von Kalendergeschichten für die sammlung insel seinen »aufklärerischen Sinn« zurückgebe.30 Bloch hatte geschrieben, dass Hebel nicht »obwohl, sondern weil er Heimatdichter war, Napoleonliebe, erklärte Sympathie fürs Land der Bauernbefreiung, Revolution, Aufklärung« hegte. 31 Für Kittsteiner war er damit auf unpatriotische Weise »volkstümlich«, zudem noch in dem ganz handfesten Sinne, dass die Kalendergeschichten ihren Ausgang in Alltagskultur und Produktionsweise, d.h. in »Bibel, Spinnstube, Einmachen und Muskochen« nähmen.32 Dass Kittsteiners Urteil über Blochs materialistischen Hebel deutlich freundlicher ausfiel als über Hans Mayers Jean Paul, lag daran, dass Bloch Hebel – auch wenn er die »schlichte Tiefe seiner Freundlichkeit« schätzte 33 – nicht unvermittelt als Vorbild in Anspruch genommen hatte. Vielmehr, so Kittsteiner, habe Bloch versucht zu klären, wie sich Hebels Aufklärungsarbeit zu deren gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungschancen verhielt, und ihn als geschichtlichen Text behandelt habe. Dabei habe Bloch aufzeigen können, wie Hebels »freundliche Aufklärung« von der beginnenden Industrialisierung überholt worden sei. Hebel verkörpere geradezu die Niederlage des Citoyen, des am Gemeinwohl orientierten Staatsbürgers gegenüber dem Bourgeois, und damit den Siegeszug des Kapitalismus, der an der Verwirklichung der Aufklärung vorbeizogen war.34 Angesichts veränderter historischer Bedingungen, so wusste 28 Walter Benjamin, Hebel gegen einen neuen Bewunderer verteidigt, in: Gesammelte Schriften Bd. III, Frankfurt a.M. 1972, S. 203-206. 29 Zur Rezeptionsgeschichte grundlegend Achim Aurnhammer, Hanna Klessinger (Hg.), Johann Peter Hebel und die Moderne (= Litterae, Bd. 185), Freiburg 2011. 30 Heinz Dieter Kittsteiner, Rezension zu Johann Peter Hebel: Kalendergeschichten. Auswahl und Nachwort von Ernst Bloch (= sammlung insel, Bd. 7), Frankfurt a.M. 1965, in: alternative 9 (1966) 48, S. 116. 31 Ernst Bloch, Nachwort zu Johann Peter Hebel: Kalendergeschichten. Auswahl und Nachwort von Ernst Bloch (= sammlung insel, Bd. 7), S. 147. 32 Kittsteiner, Rezension zu Johann Peter Hebel: Kalendergeschichten, S. 116. 33 Bloch, Nachwort zu Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten, S. 150. 34 Vgl. zur Unterscheidung des politisch und rechtlich definierten Citoyen einerseits, des Bourgeois als einer »aufs Ökonomische gerichteten Statusbezeichnung« andererseits

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Kittsteiner mit Bloch, konnte an die Intentionen der Vergangenheit nicht bruchlos angeknüpft werden – jeder Versuch in diese Richtung laufe notwendig Gefahr, zum »romantischen Antikapitalismus« zu werden.35 Eingedenk dieser Problematik habe Bloch schon um 1930, in einer neuen Sprache, für eine neue Zeit, das Programm einer »aufsässigen«, revolutionären Märchen- und Kolportageliteratur entworfen und damit – vergeblich – einen Beitrag dazu leisten wollen, das Kippen der pauperisierten Mittelschichten in die Reaktion zu verhindern: ein neuer Entwurf, eingedenk der historischen Vorbilder, aber keine unvermittelte Übertragung ihrer Ideen auf die Gegenwart.36 »Die Entdeckung der Zukunft im Vergangenen, das ist Philosophie der Geschichte«: Trotz aller Einschränkungen ging es um eine vorwärts gerichtete Erinnerung, für die der 1966 von Kittsteiner zitierte Leitsatz aus Blochs Tübinger Einleitung in die Philosophie – an deren prägende Bedeutung er sich noch 2008 erinnerte – stand.37 Der Ansatz Blochs wurde Kittsteiner zum positiven Gegenbeispiel zu den ahistorischen Indienstnahmen, von denen die Rezeptionsgeschichte der deutschen Aufklärung geprägt war. Diese Wirkungsgeschichte, die damit eine Geschichte deutscher Nicht-Aufklärung wird, rückte auch ins Zentrum der Besprechung von Georg Forsters Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften, ediert von dem DDRMedienwissenschaftler Wolfgang Rödel für die sammlung insel. Auch zur Forster-Rezeption hatte sich Walter Benjamin, der geistige Pate der Reihe, einst geäußert und angemerkt, dessen Werk sei »im Andenken der Deutschen zerniert wie einst er selbst in Koblenz von deutschen Truppen«.38 Der deutsche Jakobiner Forster, so Kittsteiner in Weiterführung dieser These, hatte zu denjenigen Denkern gehört, die dem Objektivitätsideal bürgerlicher Wissenschaft zum Opfer Florian Schmaltz, Immanuel Wallerstein: Bourgeoisie, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, Hamburg 1995, Spalten 302-330. 35 Kittsteiner, Rezension zu Johann Peter Hebel: Kalendergeschichten, S. 116. 36 Ebd. Kittsteiner bezieht sich, was den Aufruf zu einer solchen modernen Märchenliteratur angeht, auf Blochs Aufsatz Poesie im Hohlraum [1931], in: ders., Literarische Aufsätze, Gesamtausgabe Bd. 9, Frankfurt a.M., S. 117-135. 37 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe, Bd. 13, Frankfurt a.M. 1977, hier: S. 152. Aus der vorwärts gerichteten Erinnerung schöpft Peter Bürger, 'Nach vorwärts erinnern'. Relektüren zwischen Hegel und Nietzsche, Göttingen 2016. 38 Walter Benjamin, Einleitung zu Carl Gustav Jochmanns Rückschritten der Poesie, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Angelus Novus, Frankfurt a.M. 1966, S. 169178, hier: S. 177, zitiert bei Faber, Walter Boehlichs sammlung insel der 60er Jahre, S. 182.

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gefallen seien. Forsters Vergehen gegenüber der deutschen Bourgeoisie hatte darin bestanden, die Französische Revolution nicht nur in Wort, sondern auch in Tat unterstützt zu haben, und zwar indem er sich 1792, unter französischer Besatzung, an der Gründung der Mainzer Republik beteiligt und als deren Abgeordneter für die Eingliederung in das revolutionäre Frankreich eingesetzt hatte. Der (groß)bürgerliche Common Sense rechts des Rheins habe ihm dies nie wieder verziehen, weshalb die Rezeption des zu Lebzeiten hofierten Entdeckers nicht zufällig erst in der Deutschen Demokratischen Republik nachgeholt worden sei.39 Die Rezeptionsgeschichte Forsters wurde für Kittsteiner so zum Ausweis der deutschen Unvernunft, die den Naturforscher schon zu Lebzeiten traf, weil er seiner Überzeugung, dass Geschichte gemacht werden müsse, praktische Konsequenzen folgen ließ: »Forsters Verhalten bietet Material für eine Studie über die aufgeklärte Intelligenz eines Landes, in dem selbst keine revolutionäre Praxis stattfindet. Natürliches Glück, das geht aus seiner Kritik an Rousseau hervor, ist für ihn nichts Vorgegebenes, sondern etwas, das qua Vernunft in der Geschichte hergestellt werden muß: Daher sein konsequent anthropozentrischer Begriff von Geschichte und Revolution, den er sich auch angesichts des jakobinischen Terrors in Paris nicht ausreden läßt«.40

Für Kittsteiner konnte aber auch Forster nicht zum unvermittelten Vorbild werden. Zwar hob er das Verdienst des Naturforschers hervor, an der Revolution festgehalten zu haben, als diese »noch nicht auf ihre großbürgerliche Anwendung reduziert war, also noch verbrüdernde Citoyen-Ideologie exportierte«.41 Doch zugleich wollte er nicht über die Widersprüche im Denken Forsters hinwegsehen: Dieser habe zu Unrecht geglaubt, dass Deutschland zum damaligen Zeitpunkt für eine Revolution nach französischem Vorbild bereit gewesen sei. Es sei zwar fortschrittlich, dass Forster versucht habe, das deutsche Ressentiment gegenüber den französischen Revolutionären abzubauen und den Fortschritt zu importieren. Wo die Theorie aber nur durch den Einmarsch fremder Truppen hätte »praktisch werden« können, da die sozialen Voraussetzungen für die Revo-

39 Ab 1953 wurde an der Berliner Akademie der Wissenschaften die fortlaufende Gesamtausgabe erstellt, zuerst erschienen 1958 die Ansichten vom Niederrhein. 40 Heinz Dieter Kittsteiner, Rezension von Georg Forster: Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften, hg. v. Walter Rödel (= sammlung insel 20, Frankfurt a.M. 1966), in: alternative 9 (1966) 48, S. 87-89, hier: S. 88. 41 Ebd., S. 89.

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lution noch fehlten, habe Forsters Denken zu kurz gegriffen. 42 Solche Hoffnung auf den Import der Revolution mit militärischen Mitteln hatte auch Jean Paul geäußert, später jedoch resignierte Selbstkritik geübt. Wichtig für Kittsteiner ist bei all dem, dass die deutschen Aufklärer Geschichte machen wollten – es aber nicht konnten. Hoffnung und Resignation, Machbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte treten als Grundmotive dieser frühen Rezensionen hervor: »1817 sind sie [die Fastenpredigten, M.N.] als Sammlung 1810 bis 1812 geschriebenerStücke erschienen; jedoch wurden sie nicht unverändert neugedruckt: zu Beginn der Restauration hat Jean Paul sie mit ironischen Zusätzen und Scheinkorrekturen versehen, in denen er seine Hoffnungen der Kriegszeit reflektiert – und zu Grabe trägt.«43

III. PRAKTISCH WERDEN Das Frühwerk Kittsteiners ist damit zum einen von Ideologiekritik als Kritik der deutschen Geistesgeschichte geprägt, zum anderen von der Frage nach den menschlichen Möglichkeiten geschichtlichen Handelns. Die thematische Nähe zu den Marxschen Frühschriften, die sich in den Rezensionen ausdrückt und mit geschichtsphilosophischen Motiven Benjamins und Blochs verbindet, passt auch zeitlich zu Kittsteiners autobiographischer Angabe, dass er im November 1966 damit begonnen habe, die Pariser Manuskripte zu lesen.44 In den Texten für die alternative, die darauf folgten, buchstabierte Kittsteiner die geschichtsphilosophischen ebenso wie die praxistheoretischen Motive weiter aus. Die August-Ausgabe von 1967 wurde in der immer heißeren Phase der studentischen Proteste produziert und nahm explizit auf die Ereignisse des 2. Juni und die folgende Kampagne der konservativen Presse gegen die Protestierenden Bezug. Ein Text Kittsteiners, der den Titel Demonstration als Aufklärung. Theorien auf dem Campus trug, eröffnete das Heft. In sechs Thesen stellte er darin die Universität als politisch umkämpften, heteronomen Ort dar. Sowohl die Studierenden als auch die Hochschulleitung, gegen die sie opponierten, hatten demnach das Ideal akademischer Freiheit aufgegeben: die Studierenden, indem sie die Gesellschaft als Resonanzraum ihrer Aufklärungsarbeit und umgekehrt die Universität als Ort gesellschaftspolitischer Kämpfe adressierten, und die Gegenseite, indem sie die Allianz mit der staatlichen Exekutive suchte, um die Infrage-

42 Ebd. 43 Kittsteiner, Rezension von Jean Paul: Politische Fastenpredigten, S. 40. 44 Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 39.

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stellung ihrer »blinde[n] Bürokratie« zu unterbinden.45 Angesichts von Notstandsgesetzen und massenmedialer Manipulation sah Kittsteiner die Bildung einer außerparlamentarischen Opposition als Notwendigkeit an. Spontane Aktionen wie Besetzungen, Sit-Ins und March-Ins galten ihm als Anteil der Studierenden an praktischer Aufklärung. Erst viel später sollte Kittsteiner sich mit dem kantischen Begriff des »Geschichtszeichens«, jenem markanten Punkt historischer Orientierung und bildlich-sinnhaft wahrnehmbarer Zäsur in einem unübersichtlichen Geschichtsprozess, beschäftigen.46 Avant la lettre taucht das Motiv aber schon in der alternative-Ausgabe des August 1967 auf, genauer in einem Abschnitt, in dem es um das Zusammenwirken der Springer-Presse mit der staatlichen Exekutive geht: »Sie [die Exekutive, M.N.] offenbart in Umrissen die bislang verschleierte Phase des Terrors; unsere Gesellschaft, nur ganz lose mit dem historischen Fortschritt in Berührung gebracht, zeigt blitzartig die zukünftigen Konstellationen: diese können hier besichtigt werden. Diese Besichtigung ist gefährlich, denn die Figuren sind ganz vital. Der Schläger in Uniform ist genauso wenig antiquiert wie die Administration, die den Großeinsatz befiehlt.«47

Doch anstatt angesichts der handfesten Konfrontation mit der Staatsgewalt in Apathie zu verfallen, forderte Kittsteiner in seinem Manifest, dass die fortgeschrittensten Teile der Studierendenschaft zunächst auf die unpolitische Mehrheit ihrer Kommilitonen einwirken sollten. Die Schritte lauteten: Kritik an positivistisch verstandener Wissenschaftlichkeit und Objektivität, Entlarvung dieser Ideale als Negationen humaner Interessen, Vermittlung wissenschaftlicher Selbstaufklärung und aufklärerischer Aktion in der Öffentlichkeit. Diese schrittweise aufklärerische Praxis – »erst dem konkreten Vorschlag stellen sich die Widerstände« – bedeutete für Kittsteiner aber zugleich nicht, dass der Wissenschaftsbetrieb einer völligen politischen Indienstnahme unterstellt werde: Die »Logik der Fachdisziplinen darf nicht negiert, kann aber kritisiert werden« schrieb er in sein Programm.48 Kittsteiners Thesen zu Theorie und Praxis, Aufklärung und Öffentlichkeit, Bürokratie und Manipulation lagen auf Höhe dessen, was im Sommer 1967 an Begrifflichkeiten virulent war, und es ist wahrscheinlich, dass auch das redaktio45 Heinz Dieter Kittsteiner, Demonstration als Aufklärung, S. 141. 46 Heinz Dieter Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: ders. (Hg.), Geschichtszeichen, Köln 1999, S. 81-115. 47 Heinz Dieter Kittsteiner, Demonstration als Aufklärung, S. 142. 48 Ebd.

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nelle Umfeld, in dem er schrieb, nicht unbedeutend an der Verfertigung dieser Thesen mitgewirkt hatte. Dass Kittsteiner sich an einer Zeitschrift beteiligte, deren Wirkradius vorrangig in Wissenschaft, Theoriediskurs und Universität lag, und deren Theoriebildung sich auf die Grundlagen und Interessen der wissenschaftlichen Praxis selbst richtete, blieb nicht folgenlos. Von der Kritik am unreflektierten Objektivitätsideal des akademischen Normalbetriebs, wie Kittsteiner sie gemeinsam mit seinen alternative-Mitstreiterinnen äußerte, lassen sich Linien zu seinen späteren Auseinandersetzungen über Fragen von Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft ziehen.49 Diese Auseinandersetzung fand einen ausführlicheren Vorlauf bereits in Kittsteiners letztem Text für die alternative, in dem er aus Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte ein wissenschaftliches Ethos herausarbeitete, das mit der Normalwissenschaft und dem akademischen Betrieb radikal in Konflikt trat.50 Im Winter 1967 erschien das berühmt-berüchtigte erste Heft der Zeitschrift über Walter Benjamin, in dem die Redaktion diesen als marxistischen Denker zu rehabilitieren versuchte, gestützt auf Archivmaterial aus Benjamins Potsdamer Nachlassteil und gerichtet gegen Theodor W. Adorno, Rolf Tiedemann und Siegfried Unseld, die in Frankfurt Benjamins Schriften verlegten. 51 In ihrem Heft aus dem Herbst 1967 unterstellte die alternative eine vermeintliche Ausnutzung der rechtlichen Monopolstellung Adornos auf den Nachlass: Die Frankfurter hätten Benjamin durch editorische Bearbeitung posthum überwältigt und den revolutionstheoretischen Gehalt seiner Schriften zu Gunsten einer rein theologischen Lektüre, die Adorno angeblich bevorzuge, marginalisiert. Im Zentrum des Streits stand unter anderem die Auslassung eines Satzes im Wiederabdruck von Benjamins Theorien des deutschen Faschismus in der Zeitschrift Argument im Jahr 1964, die auf Veranlassung der Frankfurter Seite vorgenommen worden war. In dieser gestrichenen Passage hatte Benjamin 1930 geschrie49 Heinz Dieter Kittsteiner, Objektivität und Totalität. Vier Thesen zur Geschichtstheorie von Karl Marx, in: Reinhart Koselleck u. a. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 1), München 1977, S. 159-170, hier: S. 165. Vgl. Abschnitt IV und V dieses Aufsatzes. 50 Heinz Dieter Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹, in: alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Nr. 56/57 (1967), S. 243-251. In den Suhrkamp-Bänden Schriften von 1955 und Illuminationen von 1961 lautet der Titel des Benjamin-Aufsatzes Geschichtsphilosophische Thesen. 51 Vgl. zu dieser Kontroverse jüngst Robert Pursche, Forcierte Distanz, ungewollter Kontakt. Theodor W. Adorno und die DDR, in: Im Vorraum. Lebenswelten Kritischer Theorie um 1969, hg. v. Dennis Göttel und Christina Wessely (= Kaleidogramme 81), Berlin 2019, S. 47-66.

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ben, dass die »Verwandlung« des kommenden Krieges in den Bürgerkrieg – »in Anwendung des marxistischen Tricks« – die Revolution und mit ihr den Sieg über den Faschismus bringen könnte.52 Kittsteiner schrieb sich in seinem Beitrag mimetisch in die Benjaminschen Thesen ein- und diese fort, und verfuhr sogar in der Nummerierung der Thesen analog zum Originaltext. Von diesem Verfahren wich nur eine »Vorerinnerung« ab, die anhand des Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte und Briefen aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern den Marxschen Geschichtsbegriff einführte: Geschichte, menschliche Geschichte, das sei bei Marx »Geschichte des Subjekts, das sich des historischen Prozesses bewußt bemächtige«.53 Was diese Bemächtigung bedeute oder wie sie zu vollziehen sei, fand Kittsteiner jedoch nicht in den Marxschen Frühschriften selbst angelegt, sondern erst durch Benjamins geschichtsphilosophische Thesen in Aussicht gestellt. In seiner Lektüre musste sich Kittsteiner aber auch zwei Einsichten über die Historizität von Theorie stellen: dass weder Marx’ Vorstellung, nach der auch Niederlagen in Klassenkämpfen dem Fortschritt dienlich wären, noch Benjamins 1930 geäußerte Hoffnung auf den Bürgerkrieg und den proletarischen Sieg über den Faschismus nach 1945 nicht mehr ohne Weiteres aktualisierbar waren, womit er auch an die Problemstellungen seiner Rezensionen anknüpfte. Der alternative-Redakteur gestand Adorno und Horkheimer zu, dass ihre pessimistische Geschichtsphilosophie zwar zurecht dem geschehenen Grauen und auch einer veränderten gesellschaftlichen Situation Rechnung trage. »Doch«, und hier formuliert er seine harsche Kritik an der von ihm als kontemplativ erachteten Kritischen Theorie, die den Geschichtsverlauf als Katastrophe zementiere, »in der ohnmächtigen Bestätigung naturgeschichtlichen Grauens denunziert sich Denken als negatives Element; folgerichtig verzichtet es auf einen Begriff von Fortschritt, dessen es sich noch bemächtigen könnte und macht mit der Verwirklichung von Geschichte ein

52 Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift ›Krieg und Krieger‹. Herausgegeben von Ernst Jünger, in: Das Argument 6 (1964) 3, S. 129137. Der Satz wurde wieder aufgenommen in: Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift ›Krieg und Krieger‹. Herausgegeben von Ernst Jünger, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, hg.v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1980, S. 238-250, Zitat S. 250. Vgl. dazu Thomas Küpper und Timo Skrandies, Rezeptionsgeschichte, in: Burkhard Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2006, S. 17-56, hier: S. 24. 53 Heinz Dieter Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹, S. 243-251.

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Ende. Es toleriert die bestehenden Verhältnisse, um nicht auch noch die darauf errichteten Stätten der Zuflucht verlassen zu müssen.«54

In einer neuen historischen Situation, so war Kittsteiner überzeugt, müssten die vergangenen revolutionären Intentionen Benjamins nicht verabschiedet, sondern aufs Neue geprüft werden: »Das Verfahren, Benjamin heute theologisch zu interpretieren, hat sein Korrelat in der Negation möglichen Fortschritts als gesellschaftlicher Veränderung. Hinter dem Rücken jener Exegeten [Adorno und Tiedemann, M.N.] aber ist der historische Prozeß vorangegangen; Abschied vom erzwungenen Bedenken des Geschichtsverlaufs als Katastrophe ist die Konsequenz.«55

Damit schlug Kittsteiner in dieselbe Kerbe wie sein Freund und Redaktionsgenosse Helmut Lethen, der bereits 1966 in einer Rezension über Tiedemanns Studien zur Philosophie Walter Benjamins ähnliche Auffassungen formuliert hatte und diese nun im Benjamin-Heft von 1967 wiederholte. Diese Rezension, deren Druckfassung wie üblich intensive Korrekturen der Herausgeberin Hildegard Brenner durchlaufen hatte, bezichtigte die Geschichtsphilosophie der Kritischen Theorie, deren Deutungshoheit das Werk Benjamins entzogen werden sollte, einer (vermeintlichen) Unterschlagung des »Anteil[s] der Theorie am geschichtlichen Prozeß« und eines (vermeintlichen) räsonierenden Zusehens bei der Formierung von geschichtlichem Unheil.56 Diese Zitate stellten eine Aktualisierung des Bildes vom »Grand Hotel Abgrund« dar, das Georg Lukács einst von den Frankfurtern gezeichnet hatte.57 Zugleich sind diese Anwürfe repräsentativ für den Bruch der Studentenbewegung mit den von ihr als attentistisch kritisierten Protagonisten der Kritischen Theorie.58 54 Ebd., S. 247. 55 Ebd., S. 251. 56 Helmut Lethen, Rezension von Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins (Frankfurt a.M. 1965), in: alternative 46 (1966), S. 38-40. 57 Georg Lukács zitiert die eigene, auf Schopenhauer gemünzte Formulierung aus der Zerstörung der Vernunft in der Neuausgabe von Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied 1971, S. 16. 58 Für die widersprüchliche Rezeption der Kritischen Theorie um 1968 vgl. – neben einer Vielzahl an zeitgeschichtlichen Darstellungen zur Studentenbewegung – Jens Benicke: Von Adorno zu Mao. Über die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung, Freiburg 2010.

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Die Kritik der Kritischen Theorie – und auch die in ihr enthaltenen Anmaßungen angesichts der historischen Erfahrung Adornos und Benjamins – hatten damit einen eindeutigeren zeitlichen Index als die Kritik des Historismus, die ebenfalls Teil von Kittsteiners Benjamin-Lektüre war. Der Autor folgte darin Benjamins Gegensatz zwischen einer bürgerlichen und einer proletarischen bzw. materialistischen Geschichtsschreibung. Zitiere die bürgerliche Auffassung von Geschichte »das Vergangene, um das beibehaltene Kontinuum der Herrschaft des Menschen über den Menschen erst zu verschleieren, dann zu rechtfertigen«, so Kittsteiner mit Benjamin, trachte letztere nach »der Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit«.59 Erst in marxistischer »Anwendung« werde Geschichte zur Vorgeschichte der Revolution und als solche ein »ins Bewusstsein dechiffrierbarer Traum«.60 Zu Leopold von Ranke, dem Benjamin entgegengehalten hatte, dass es etwas anderes sei, Vergangenes historisch zu bearbeiten, als zu erkennen, wie es eigentlich gewesen,61 führt er aus: »Man erzählt von Ranke, er habe in freudiges Lachen ausbrechen können, wenn es ihm gelungen sei, eine Situation so zu rekonstruieren, wie sie sich zugetragen. Diesem Lachen haftet etwas Beschwörendes an: Erst wenn er sie in sein historisches Museum eingebracht hatte, fühlte er sich vor den revolutionären Inhalten der Geschichte sicher. [...] Indem der Historiker des Historismus sich den späteren Verlauf der Geschichte aus dem Kopf schlägt, um eine Epoche recht nachzuerleben, eskamotiert er jene unausgelöste Nachgeschichte vorgeblicher ›Fakten‹, an deren Ende er selbst als historisches Subjekt zu stehen hätte, mit dem Auftrag, Geschichte so voranzubringen, daß der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit überhaupt erst zufiele (III). Seit Dilthey hat jener Historiker gelernt, sich immerhin als Subjekt zu begreifen, wenn auch nur als einfühlend-genießendes: [...] Die Zumutung, er solle auch historisches Subjekt sein, ist ihm nach wie vor abscheulich.« 62

Erst eine marxistische Kritik des Historismus und eine daraus hervorgehende proletarische Geschichtsschreibung konnte für Kittsteiner die Indienstnahme des Gewesenen für den Status Quo beenden. Sein Festhalten an historischer Subjektivität war hier noch ein Plädoyer für eine parteiliche Geschichtswissenschaft, und der »historische Materialist« aus den Geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins derjenige, der eine »Dechiffrierarbeit ins Bewusstsein« zu leisten hatte: Er 59 Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹, S. 244. 60 Ebd. 61 Im Original »wie es eigentlich gewesen«: Leopold von Ranke, Vorrede zu: Geschichten der romanischen und germanischen Völker (1824), in: Sämtliche Werke, Bd. 33/34, Leipzig 1877, S. VII. 62 Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹, S. 248.

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war Geschichtsschreiber, Geschichtsphilosoph, Geschichtstheoretiker und Geschichtspolitiker zugleich, der antrete zu verhindern, dass »die Nachwelt die Intentionen ihrer eigenen Vergangenheit liquidieren« könne.63 Ein solcher Anspruch bildete um 1968 – in unterschiedlichen Ausführungen – das Credo der sammlung insel ebenso wie das der neulinken Zeitschrift alternative. Anstelle des Rankeschen »Einfühlens«, das die deutsche historische Schule kanonisiert hatte, folgte der Geschichts- und Philosophiestudent Kittsteiner Benjamins Theologie des Eingedenkens: Sie wurde ihm zu einem intellektuellen »Protest«, der das »Recht des Gewesenen« wahrnehme, »das diesem nicht wurde und das es unverjährt an die Gegenwart hat«, wie es Hermann Schweppenhäuser formuliert hat.64 Das Schlusskapitel des alternative-Aufsatzes, das die Überschrift »Die historische Sonne« trägt, schließt mit der These, dass eben dieses Verfahren auch auf die Texte der Theorie anzuwenden sei, um sie in einem neuen Licht, in einer neuen historischen Situation »heliotropisch« zu aktualisieren und ihren Wahrheitsgehalt zu bestätigen.65 Kittsteiner fasste dies selbst 2008 noch einmal zusammen: »Trotz seiner revolutionären Phraseologie war der Text praxisfern. Es ging im Wesentlichen darum, daß sich Texte im ›Unglücklich-Abgeschlossenen‹ – gleichsam heliotropisch – ›auf dem bedruckten Papier‹ verändern sollten, wenn sie rückwirkend von einer im Aufgehen begriffenen ›historischen Sonne‹ beschienen werden. Diese Sonne waren natürlich WIR, und die geheime Verbindung zwischen Benjamins Thesen und der ›revolutionären Jetztzeit‹ von 1967 mußte ans Licht gebracht werden.«66

IV. ENTSUBJEKTIVIERUNG Dass sein Versuch über Benjamin kein wissenschaftlicher Text, sondern ein »Dokument der Studentenbewegung« sei, befand Kittsteiner schon in kürzerem

63 Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹, S. 251. 64 Dies in demselben Benjamin-Band von 1975, in dem Kittsteiner die erste Revision seines Textes von 1967 veröffentlichte: Hermann Schweppenhäuser, Praesentia praeteritorum, in: Materialien zu Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, hg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt a.M. 1975, 7-22, hier: S. 12. 65 Vgl. Raimar Zons, Walter Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 34 (1980) 3, S. 361-384, hier: S. 361. 66 Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 40.

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zeitlichen Abstand.67 In dem 1975 bei Suhrkamp erschienenen Sammelband, der den Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹ gewidmet war, blickte er auf seinen hier wieder abgedruckten alternative-Text von 1967 zurück. Die Anwendung Benjamins auf Benjamin selbst, so lässt sich seine damalige Selbstkritik zusammenfassen, sei weniger eine wissenschaftliche Auseinandersetzung als vielmehr eine historische Selbstauslegung und ein Orientierungsversuch gewesen: »Die aufbrechenden Widersprüche des damals so genannten ›Spätkapitalismus‹ [...] erschienen vielen als Möglichkeit, das schlechte historische Kontinuum aufzusprengen und eine auf ›Glück‹ ausgerichtete ›Ordnung des Profanen‹ herzustellen. In diesem Prozeß enthüllte sich schrittweise eine von den ›Herrschenden‹ unterdrückte Tradition; indem wir von deren tabuierten Theorien lernten, fühlten wir uns allen bislang unterlegenen Kämpfern gegen Unterdrückung und Ausbeutung verbunden. Unsere Bilder, Transparente und Fahnen sollten in die Geschichte zurückleuchten und das unglücklich Abgeschlossene mit revolutionärer ›Jetztzeit‹ aufladen. [...] Walter Benjamin schien über ein Wissen zu verfügen, wie in einer solchen Konstellation Geschichte zu denken sei.« 68

Großes Interesse an einer Relektüre Benjamins hatte der Autor acht Jahre später nicht mehr. Politisch seien ihm, so schrieb er 1975, die Grenzen Benjamins deutlich geworden: Dieser habe Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen im Kapitalismus theoretisieren können, aber wenig analytisches Potential zum Verständnis seiner Funktionsweise besessen. Anstatt weiterhin für eine marxistische Lektüre Benjamins zu streiten, habe Kittsteiner im Anschluss erneut begonnen, Marx selbst zu lesen, nun aber nicht das philosophische Frühwerk, sondern vor allem die späte Kritik der politischen Ökonomie. 1972 veröffentlicht Kittsteiner im Argument, einer der wichtigsten akademischen Zeitschriften der bundesrepublikanischen Neuen Linken, einen Beitrag für ein Themenheft zur »Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft«.69 Sein Beitrag war gegen die neuere westdeutsche Sozialgeschichte gerichtet. Diese trat in Abgrenzung von der deutschen historistischen Tradition auf, insofern sie das 67 Heinz Dieter Kittsteiner, Die ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹. Wiederabdruck mit einem Nachwort in: Materialien zu Benjamins Thesen ›Über den Begriff der Geschichte‹, hg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt a.M. 1975, S. 28-42, Nachwort S. 39 f., hier: S. 39. 68 Ebd. 69 Heinz Dieter Kittsteiner, Theorie und Geschichte. Zur Konzeption der modernen westdeutschen Sozialgeschichte, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Sonderband Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft II, 75 (1972), S. 18-32.

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»einfühlende«, interpretierende Verstehen des Historismus durch sozialwissenschaftliche Methoden ersetzt hatte. Dieses progressive Selbstverständnis stellte Kittsteiner jedoch in Frage und behauptete, dass die Sozialgeschichte mit dem Historismus immer noch entscheidende Prämissen teilte, die sie als eine weitere Variante bürgerlicher Geschichtsschreibung entlarvten – sie sei nicht jenseits des Historismus, wie Wolfgang J. Mommsen in seiner Düsseldorfer Antrittsvorlesung 1970 proklamiert hatte, sondern ganz diesseits.70 Warum das so sei, führte Kittsteiner anhand einer Analyse der Theoriebildung Hans-Ulrich Wehlers, des führenden Vertreters der Sozialgeschichte, und seiner Orientierung an Max Webers Wissenschaftstheorie aus. Weber zufolge war die Objektivität von Wissenschaft relational an die »letzten Wertideen« der Gesellschaft gebunden, in der diese Wissenschaft betrieben wird. Hatte Webers Theoriebildung dabei das individualistisch-liberal-kapitalistische System zugrunde gelegen, orientierte sich der Sozialhistoriker Wehler am »Fernziel des massendemokratischen Sozialstaats«.71 Die Austauschbarkeit der Inhalte dieser Wertbeziehungen zeigte für Kittsteiner, dass das Problem tiefer liege, insofern »die Form einer Wissenschaft, die eine solche Anpassung gestattet, selbst zum Gegenstand der Kritik werden muß, daß es also nicht nur um die jeweilige Werthaltung, sondern um die Methode der Wertbeziehung als Methode der bürgerlichen Geschichtswissenschaft überhaupt geht«.72

Diese Methode der Wertbeziehung, die letztlich immer von einem Gegenwartsideal auf die Vergangenheit schließe, bringe die Geschichtswissenschaft um die Möglichkeit, Bewegungsgesetze des historischen Prozesses als Ganzes zu befragen. Dann, so der Kittsteinersche Gedanke, werde die Geschichtswissenschaft eben das, was sie vorgebe, nicht zu sein: eine Ideologieproduzentin, die von ihrer jeweiligen Warte aus nur die Erscheinungsformen des historischen Prozesses beschreibe, den Prozess selbst aber methodisch verschleiere. Was dann nicht mehr erkannt werden könne – hier schlägt Kittsteiners Aneignung der Kritik der politischen Ökonomie analytisch durch –sei, dass der historische Prozess vom Kapitalverhältnis geprägt sei, jener, wie es in Marx’ Grundrissen heißt, über den Menschen stehenden fremden gesellschaftlichen Macht, die von dem »Aufei-

70 Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971. 71 Vgl. Hans Ulrich Wehler, Moderne Deutsche Sozialgeschichte (= Neue wissenschaftliche Bibliothek 10), Köln 1966, S. 80. 72 Kittsteiner, Theorie und Geschichte, S. 22.

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nanderstoßen« gesellschaftlicher Individuen selbst produziert werde. 73 Die traditionelle Geschichtswissenschaft war Kittsteiners Auffassung nach nicht bereit, dieses Kapital- als Geschichtsverhältnis anzuerkennen, weil es das Selbstverständnis bürgerlicher Subjektivität selbst ins Wanken bringe, wenn die Person »nur ›ökonomische Charaktermaske‹« sei, »deren Wille in den Waren haust«.74 Weil Wehler genau diese Abwehrbewegung in Gestalt einer modifizierten, sozialdemokratischen Fortschrittsgeschichte wiederhole, sei diese in der Kontinuität bürgerlicher Geschichtswissenschaft zu lesen – ungeachtet des Anspruchs der Sozialgeschichte, mit der Perspektivierung historischer Strukturen und Prozesse dem Historismus gegenüber einen Unterschied ums Ganze zu machen. Kittsteiners Einspruch gipfelt deshalb in einem Verdikt, das er mit einem Zitat aus Marx’ Elend der Philosophie enden lässt: »Indem [Wehler] die apologetischen Gehalte bürgerlicher ökonomischer Theorie auf den historischen Prozeß projiziert, erbringt er einen Scheinbeweis für die Dauerhaftigkeit des kapitalistischen Systems. Damit rückt die Sozialgeschichtsschreibung wieder in die Reihen der zeitgemäßen Ideologiespender der bürgerlichen Gesellschaft ein und versucht die Stellung zurückzuerobern, die der alte Historismus einmal innehatte. Alle Widersprüche und revolutionären Möglichkeiten sind aus der Geschichte vertrieben, übriggeblieben ist eine Art wachstumstheoretisches ›posthistoire‹ für das die Kollegen vom Fach die Integration der Arbeiterklasse liefern: ›Somit hat es eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr‹.«75

Nach wie vor plädierte Kittsteiner 1972 für eine Wissenschaft, die sich auf die Seite der »revolutionären Möglichkeiten« schlage, statt wie Wehler einer Modernisierungstheorie das Wort zu reden. An die Stelle der Methode des Eingedenkens, das noch zuvor diese Möglichkeiten benjaminianisch hatte »rückerinnern« sollen, war nun aber eine streng analytische Methode getreten. Von einer doktrinären Geschichtswissenschaft, wie sie parallel in der DDR betrieben wurde, grenzte sich Kittsteiner dabei mit derselben Argumentation ab, die er gegen die bürgerliche Sozialgeschichte bemühte.76 In einer 1974 veröffentlichten Sam-

73 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie [1858], MEW 42, Berlin 1953, S. 127. 74 Kittsteiner, Theorie und Geschichte, S. 25. 75 Ebd., S. 32. Das Zitat findet sich in Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends« [1847], MEW 4, S. 139. 76 Heinz Dieter Kittsteiner, Bewußtseinsbildung, Parteilichkeit, dialektischer und historischer Materialismus. Zu einigen Kategorien der marxistisch-leninistischen Ge-

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melrezension zur DDR-Geschichtswissenschaft, die Kittsteiner für die am Berliner Otto-Suhr-Institut herausgegebene Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung verfasste, stellte er die marxistisch-leninistische Historiographie als nicht minder problematisch dar: Sie übersetze lediglich die parteilich geforderten Ideologeme – also die Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus, die führende Rolle der Arbeiterklasse und der marxistisch-leninistischen Partei als Träger des Fortschritts sowie die Notwendigkeit des Bündnisses mit der Sowjetunion und des Kampfes gegen den Imperialismus – in Methode.77 Die Parteilichkeit einer solchen Geschichtswissenschaft sei Ausdruck des geforderten Klassenbewusstseins, demzufolge die Arbeiterklasse sich 1917 als historisches Subjekt ermächtigt habe, das zugleich das Subjekt historischer Erkenntnis sei. Kittsteiner ließ dies nicht gelten: Schon allein aufgrund der Systemkonkurrenz zwischen sozialistischem und kapitalistischem Lager, so wendete er spitzfindig ein, seien die Arbeiterklasse und die marxistisch-leninistische Partei de facto nicht das agierende Subjekt der Geschichte. Das Selbstverständnis von Historikern und Geschichtstheoretikern, die sich dem anschlössen, gründe damit letztlich auf politischer und epistemologischer Selbstüberschätzung. Zu erkennen sei nur, dass das Subjekt der Geschichte kein menschliches sei: »Nach wie vor ist die Geschichte noch ein naturwüchsiger Prozeß hinter dem Rücken der Individuen; das zu erkennende ›Subjekt‹ ist das Kapitalverhältnis in seiner historischen Ausprägung als Weltmarkt. Dieses den historischen Prozeß bestimmende gesellschaftliche Verhältnis, das den Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital impliziert, ist in seinen objektiven Widersprüchen unparteiisch zu analysieren. Genau darin besteht die Objektivität der Marxschen Untersuchung: in der genetischen Entwicklung der ökonomischen Formen dieses bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses.«78

Damit ging in dieser Übergangsphase von Kittsteiners Werk die Kritik der Wertbeziehungen in den bürgerlichen wie realsozialistischen Geschichtswissenschaften mit der Abkehr von einer subjektivistischen Konzeption von Geschichte einher. Statt den Menschen, oder sich selbst, geschichtsphilosophisch als ›Subjekt der Tathandlung‹ zu definieren, betonte Kittsteiner jetzt als Geschichtstheoretiker die Notwendigkeit einer objektiven Analyse des historischen Prozesses. Auch wenn hier ein ›noch‹ seiner Behauptung voranstand, die Geschichte sei schichtsmethodologie, in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 10 (1974), S. 409-430. 77 Ebd., S. 414 f. 78 Ebd., S. 419.

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›ein naturwüchsiger Prozeß hinter dem Rücken der Individuen‹, die Hoffnung auf die zukünftige Geschichte als eine menschliche Geschichte also offenbar noch nicht restlos aufgegeben war, trat das Motiv ihrer Unverfügbarkeit nun zunehmend in den Vordergrund.

V. SELBSTAUFKLÄRUNG Kittsteiner entwickelte seine objektivistischen Thesen in der Auseinandersetzung mit Historismus und Sozialgeschichte im Laufe der 1970er Jahre weiter. Damit zielte er offenbar weniger auf die Begründung einer Methode als auf eine Intervention auf dem Terrain der Geschichtstheorie, die Kittsteiner nicht nur als Theorie der Geschichtswissenschaft, sondern tatsächlich als eine Theorie der Geschichte verstanden wissen wollte. Dies bekräftigte er in dem von Reinhart Koselleck herausgegebenen Band Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft der Gruppe Theorie der Geschichte von 1977. Dort formulierte er vier Thesen zu Marx’ Geschichtstheorie, von denen eine seine Distanznahme von der Geschichtsphilosophie besonders konzise ausdrückte: Marx’ Kritik der politischen Ökonomie sei keine ›Geschichtsphilosophie‹, heißt es dort, »sondern eine Wissenschaft sui generis von der Totalität der kapitalistischen Gesellschaft«.79 Kittsteiner lag es fern, einen neuen, teleologisch aufgeladenen Kollektivsingular Geschichte zu konstruieren, es ging ihm vielmehr darum, historische Erscheinungen auf das grundlegendste gemeinsame Prinzip ihrer Hervorbringung zurückzuführen. Dieser Ansatz – und hier scheint er bereits auf sein eigenes Frühwerk und auf die Debatten der 68er geantwortet zu haben – war nicht mehr im engeren Sinne parteilich, jedoch als Orientierung immer noch »praktisch«: »Marx’ Geschichtstheorie ist nicht ›objektiv‹, weil sie ›parteilich‹ ist, sondern sie gewährt eine praktische Orientierung, weil sie von der Möglichkeit der Einsicht in den objektiven Zusammenhang einer Gesellschaftsformation ausgeht.«80

Am Ende des »roten Jahrzehnts«81 lässt sich bei Kittsteiner zudem eine erste autobiographische Wendung dieser Einsicht beobachten. Praktische Orientierung

79 Heinz Dieter Kittsteiner, Objektivität und Totalität, S. 165. 80 Ebd., S. 168. 81 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 19671977, Frankfurt a.M. 2001.

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bot ihm und anderen Intellektuellen seiner Generation nun eine neugegründete Zeitschrift, in der sich Kittsteiner ebenfalls der Frage nach Subjektivität und Objektivität im historischem Prozess annahm – anders als zuvor in der alternative, aber auch anders als in seinen Auseinandersetzungen mit der Geschichtswissenschaft. Ab 1979 beteiligt er sich an den Berliner Heften. Zeitschrift für Kultur und Politik.82 Helmut Lethen, einer der Gründungsredakteure, nannte diese Zeitschrift später ein »Forum der Läuterung« heimatloser Linker nach 1968. 83 Die beiden alten Freunde, die sich während der K-Gruppen-Zeit vorübergehend entzweit hatten,84 veröffentlichten hier unter anderem einen langen gemeinsamen Artikel über das Buch Ästhetik des Schreckens von Karl Heinz Bohrer, in dem sie sich gegen dessen ästhetisierende Lektüre der Kriegsschriften Ernst Jüngers verbündeten.85 Mit Marx und Freud widersprachen sie damals Bohrers These, dass dem Denken der Gegenaufklärung eine besondere Wahrnehmungsschärfe innewohne und wiesen nach, dass Jüngers Versuch, ein heroisches, soldatisches, aber vor allem: menschliches Subjekt zu beschreiben, ein Dokument des Scheiterns sei. In diesen Aufsatz streut Kittsteiner sein Theorem vom Kapitalverhältnis als einzigem historischen Subjekt noch einmal explizit ein: »Jünger irrt. Hinter allem steckt nicht ›der Mensch‹, sondern das Kapitalverhältnis. Daß es ab und an der Menschen bedarf, wenn schon keinen Sinn, so doch wenigstens eine Richtung zu geben, ändert nichts an dieser Einsicht. Die Menschen im Bauch der Flugzeuge und Panzer dürfen eine Zeit lang ihren Destruktionstrieben freien Lauf lassen. Das Wann und Wo bestimmen nicht sie. Sie sind daher auch keine heroische Alternative zur bürgerlichen Welt, keine eigenständige geschichtliche Gestalt, die sich in ihren Taten geschichtlichen Ausdruck verschafft. Die ›heroische Weltanschauung‹ ist der untaugliche Versuch, die Entsubjektivierung der Geschichte rückgängig zu machen.«86

Die Einsicht über die Entsubjektivierung war zugleich auf die Studentenbewegung und ihr Festhalten an dem »subjektiven Faktor« in der Geschichte appli82 Zur Redaktion und den ständigen Mitarbeiterinnen dieser im »Verlag Kantstraße« erschienenen Zeitschrift gehörten u. a. Walter Aschmoneit, Volkmar Braunbehrens, Antonia Grunenberg, Hortense von Heppe, Manfred Lefèvre und Rüdiger Safranski. 83 Lethen, Suche nach dem Handorakel, S. 28. 84 So Kittsteiner, Unverzichtbare Episode, S. 43. 85 Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, München 1978. 86 Heinz Dieter Kittsteiner, Helmut Lethen, Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus. Überlegungen zur »Ästhetik des Schreckens«, in: Berliner Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Heft 11 (1979), S. 20-51, hier: S. 32.

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zierbar.87 Das Ende des gesellschaftlichen Projekts der Neuen Linken war der rote Faden in der fünfjährigen Existenz der Berliner Hefte. Eine Aufarbeitung dieses Prozesses leistete Kittsteiner 1978 und 1979 in einem zweiteiligen Beitrag unter dem Titel Marxismus und Subjektivität, der als generationengeschichtliche Reflexion die Verbindungslinien zwischen autobiographischen und geschichtstheoretischen Einsichten hervortreten lässt. Es handelt sich bei diesem Text um ein fiktives Gespräch, in dem drei Gelehrte – Teofilo, Bernardo und Lorenzo – über Geschichte, Gegenwart und Zukunft linker Theorie und Bewegung philosophieren.88 Aufhänger ist das zeitnah erschienene Buch Les maîtres penseurs des französischen Nouveau Philosophe – und ehemaligen 68ers – André Glucksmann. Das Buch machte damals mit der These Furore, dass das deutsche geschichtsphilosophische Denken von Fichte und Hegel über Nietzsche bis hin zu Marx zwangsläufig in den Totalitarismus geführt habe.89 Die drei Gesprächspartner, die Kittsteiner auftreten ließ, setzen sich detailliert und im Modus des platonischen Dialogs mit den Thesen Glucksmanns auseinander. In einer längeren, zentralen Stelle schaut Teofilo auf das Denken der Studentenbewegung zurück – und damit Kittsteiner auf seine eigenen vermeintlichen Dokumente des Scheiterns: »Die Studentenbewegung hat nur hören wollen, wie das eigentliche Subjekt der Geschichte – der Mensch – wieder in sein Recht eingesetzt werden könne. Am nächsten waren diesem Subjekt – in der ersten Phase der Bewegung – die Studenten, in der zweiten, der

87 Vgl. beispielsweise Rudi Dutschke, Vom Antisemitismus zum Antikommunismus, in: Uwe Bergmann u. a. (Hg.), Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 58-85, hier: S. 69 f. 1967 hatte Herbert Marcuse in direkter Bezugnahme auf die Protestbewegung geäußert, die Arbeit an dem subjektiven Faktor bestehe darin, »den Menschentypus freizulegen und zu befreien, der die Revolution will, der die Revolution haben muß, weil er sonst zusammenbricht: das ist der subjektive Faktor, der heute mehr als ein subjektiver Faktor ist.« Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie, Berlin 1967, S. 29. 88 Heinz Dieter Kittsteiner, Marxismus und Subjektivität. Ein Dialog, neuere Philosophie betreffend (I. Teil), in: Berliner Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Heft 9 (1978), S. 2-12 und ders., Marxismus und Subjektivität. Ein Dialog, neuere Philosophie betreffend (II. Teil), in: Berliner Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Heft 10 (1979), S. 2-18. 89 André Glucksmann, Les maîtres penseurs, Paris 1977, deutsche Erstausgabe Die Meisterdenker, Stuttgart 1987.

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K-Gruppen-Zeit, die Wiederentdeckung der Arbeiterklasse als das alte und neue Subjekt der Geschichte«.90

Dabei sei allerdings nicht beachtet worden, dass Marx über einen doppelten Subjektbegriff verfügt habe. Neben dem Menschen als historischem Subjekt sei dies der Verwertungsprozess des Kapitals selbst: »In der allbekannten Formel G-W-G' für den Prozeß der Kapitalverwertung steht das ›W‹ in der Mitte – nicht nur, aber vor allem – für die Ware Arbeitskraft, für den Menschen also, der in das Kapitalverhältnis eingespannt wird, ganz so wie der Arbeiter für den gewöhnlichen Gang der Dinge nur ein Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie ist«.91

Selbst wenn es einmal eine Einheit der Marxschen Theorie als Emanzipationstheorie gegeben haben sollte, so sei diese nicht mehr zu halten gewesen – weshalb der zweite Subjektbegriff, das Kapital als Subjekt, den ersten abschaffe: »Wir kommen mit Marx in das Kapitalverhältnis hinein, wir können auch in den Grundzügen erklären, wie es funktioniert und wie es entstanden ist – aber wir kommen nicht wieder heraus. [...] Es mag sein, daß jede Generation, die auf die Marxsche Theorie trifft, diese Erfahrungen für sich wiederholen muß. [...] Marx war kein Pessimist, sofern er eine Einheit von Analyse und Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu sehen glaubte. Er ist erst zu einem Pessimisten geworden, die reale Verlaufsform des historischen Prozesses hat ihn gegen seine Intentionen für uns dazu gemacht. Die nichtrevolutionäre Seite seiner Theorie hat ihre Gültigkeit behalten – die revolutionäre ist dahin.«92

Mit dem Dahin-Sein der revolutionären Seite hinterlassen die eigenen, optimistisch-aktivistischen geschichtsphilosophischen Anfänge, die Kittsteiner mit dem frühen Marx und dem späten Benjamin in der alternative unternommen hatte, eine Leerstelle. An seiner 1980 erscheinenden Dissertation zeigen sich eindrücklich die Verbindungslinien zwischen den Ambitionen und Überzeugungen von einst, wie sie in dem fiktiven Gelehrtengespräch nachgezeichnet wurden, und den wissenschaftlichen Problemstellungen einer aus der Geschichte der Geschichtsphilosophie hervorgehenden Geschichtstheorie. 1980 erschien Kittsteiners erstes Buch Naturabsicht und unsichtbare Hand, das auf seiner Dissertation 90 Kittsteiner, Marxismus und Subjektivität. Ein Dialog, neuere Philosophie betreffend (I. Teil), S. 8. 91 Ebd., S. 9. 92 Ebd., S. 11.

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beruht, die er unter dem Titel Karl Marx und der Ausgang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie. Auch ein Beitrag zur Rekonstruktion des historischen Materialismus bei Jacob Taubes am Institut für Hermeneutik am Philosophischen Seminar der FU Berlin eingereicht hatte.93 Theoriegeschichtlich rekonstruierte er darin Marx’ Antwort auf das Subjekt-Objekt-Problem der idealistischen Geschichtsphilosophie. Dieses erfasste er als »Kontingenzproblem der evolutiven Moderne«:94 Geschichtsphilosophische Subjekte wie der Weltgeist oder die Naturabsicht, so Kittsteiners Rekonstruktion, seien im Verlauf des 19. Jahrhunderts obsolet geworden. Der Weltgeist habe sich als Weltmarkt herausgestellt, und das historische Subjekt sei schon für den späten Marx weder ein transzendentales noch ein menschliches Subjekt, sondern das Kapitalverhältnis selbst gewesen. Doch die Machbarkeit oder Unverfügbarkeit von Geschichte, die Frage nach dem ›Subjekt der Tathandlung‹, stellte sich als bleibende Problemstellung heraus, deren Lösungsversuche auch die von Kittsteiner als ›heroische Moderne‹ theoretisierte Epoche des späten 19. und 20. Jahrhunderts prägten, die er durch ihre Versuche der revolutionären und zivilisationskritischen Auflehnung gegen die Geschichte charakterisierte.95 »Die Geschichtsphilosophie ist besser als ihr Ruf«, hatte Kittsteiner deshalb schon 1977 in dem Band der Gruppe Theorie der Geschichte geschrieben – »wenn man sie nicht von ihren Resultaten, sondern von ihrer Problemstellung her betrachtet«96, Geschichte also vielleicht nicht mit, aber im Ausgang der Geschichtsphilosophie schreibt. Der Kittsteiner des Jahres 1979, der bei einer pessimistischeren Sicht auf die Geschichte angelangt war, machte sich von hier aus auf den Weg zu seiner von »geschichtsphilosophischen Fragen angeleiteten Kulturgeschichte«.97 Dieser

93 Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Berlin 1980. 94 So die Formulierung bei Reinhard Blänkner, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte? Perspektiven auf das geschichtstheoretische Werk von Heinz Dieter Kittsteiner, in: Sinn/Bild der Geschichte? Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner (= Universitätsschriften 35), hg. v. Agnieszka Brockmann und Jannis Wagner, Frankfurt (Oder) 2017, S. 14-25, hier: S. 18. 95 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Die heroische Moderne. Skizze einer Epochengliederung, in: Neue Zürcher Zeitung, 10.11.2001, S. 83. 96 Kittsteiner, Objektivität und Totalität, S. 163. 97 Heinz Dieter Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, in: ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin 2004, S. 33-48, hier: S. 43 (zuerst 2000).

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Weg ist an anderer Stelle weiterverfolgt worden.98 Springt man aber abschließend noch einmal von 1979 zu den spätesten Werkphasen, die 2008 mit der Erinnerung an die Unverzichtbare Episode enden, so scheint es, als hätte der analytische Objektivismus und Pessimismus schließlich einer weiteren historischen (Ver-)Stimmung Platz gemacht, in der Resignation und Reformismus miteinander einhergingen. Denn die letzte Monographie Weltmarkt, Weltgeist, Weltgericht und andere späten Schriften Kittsteiners verleihen noch einmal einem anderen Blick auf das Kapitalverhältnis Ausdruck: Die Verheerungen des Kapitalismus werden darin zwar nicht geleugnet, der Autor kommt aber zu der Feststellung, dass der Kapitalismus im 20. Jahrhundert – im Vergleich mit den Versuchen seiner Überwindung – das kleinere Übel gewesen sei.99 Alle heroischen Versuche, sich der Geschichte im großen Maßstab zu bemächtigen, hätten katastrophische Folgen gehabt. Deshalb wurde die 11. Feuerbachthese, für die Nullerjahre umformuliert, für Kittsteiner zum Reformprogramm: »Die Linke hat versucht, den Kapitalismus zu überwinden. Es kömmt aber darauf an, ihn vor sich selbst zu schützen«.100 Das Konsumangebot des freien Marktes könne faschistoide Tendenzen immerhin »sistieren«, schreibt er an anderer Stelle, was sich als Plädoyer für die Aussöhnung mit einem Kapitalismus liest, der, richtig geschützt, wenigstens das Schlimmste noch verhindere.101 Das Erscheinen des Buchs, in dem diese Thesen stehen, fiel mitten in die Finanzkrise der Jahre 2007ff. Ob Kittsteiner die These vom Befriedungspotential in den Folgejahren der Finanzkrise, die von Austeritätspolitik und zunehmender autoritärer Formierung geprägt sein sollten, noch aufrecht erhalten hätte? Mit Resignation und Fatalismus, aber auch mit der Akzeptanz der Verhältnisse als vermeintlich geringstem Übel hatte sich Kittsteiner jedenfalls zu einem viel früheren Zeitpunkt selbst auseinandergesetzt. 1966 hatte er für die alternative neben seinen Rezensionen zur deutschen Aufklärung auch eine Besprechung zweier autobiographischer Arbeiterromane geschrieben, Der Honigkotten von Bruno Gluchowski sowie Krupp und Krause von K. H. Helms, die beide 1965 erschienen waren. Kittsteiner kritisierte an ihnen literarische »Verfahren«, die den Rückzug der Romanfiguren aus der Sphäre politischer Kämpfe legitimier98 Jannis Wagner, Gewissen und Geschichte. Zur thematischen Beharrlichkeit im Werk Heinz Dieter Kittsteiners, in: Sinn/Bild der Geschichte? (wie Anm. 92), S. 46-59. Zu einer späteren Auseinandersetzung mit Benjamin und einer implizit vollzogenen Wiederannäherung an Adorno vgl. Schmieder, Voller, Wagner, Zwang wird Sinn. 99 Heinz Dieter Kittsteiner, Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 46. 100 Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München 2008, S. 251. 101 Ebd., S. 183.

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ten.102 Beide Bücher handeln vom proletarischen Alltag aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Weimarer Republik, und in beiden Fällen verläuft die Narration so, dass sich streikende und kämpfende Protagonisten mit dem Fortgang der Handlung entweder ins private Glück – in »subjektiven Utopismus«, wie Kittsteiner es nannte – oder in »resignativen Fatalismus« flüchten:103 Im Honigkotten tauscht ein Arbeiter sein anfänglich noch vorhandenes klassenkämpferisches Engagement für das lang ersehnte Eigenheim ein, das er sich dank einer Salärerhöhung leisten kann, die ihm für gehorsames Betragen gewährt wird. Am Ende ist das Kapital mit seinen harten und weichen Methoden unvermeidlich stärker als die kämpfenden Arbeiter, was der Roman, so schrieb Kittsteiner damals, als unabänderliches »bloße[s] Faktum« zementiere, gegen das kein Handeln mehr möglich sei. Zu Gluchowskis Roman, der Kittsteiners Kritik zufolge das Bild des »unpolitischen Arbeiters« der BRD in die Weimarer Republik zurückprojiziert, um die Geschichte für die Gegenwart in Dienst zu nehmen, heißt es: »Sein Roman liefert die Apologie des Bewußtseins jener Gesellschaftsschicht, die sich für ihre historischen Folgen als nicht kompetent empfindet. Auf diese Kontinuität kann er beruhigt zurückgreifen, so schafft er sich den Bruch zwischen den Intentionen der Arbeiterschaft der Weimarer Republik und dem derzeitigen Resultat vom Halse; so wird sein Buch in unserer Gesellschaft recht kommensurabel.«104

Waren Kittsteiners späte Thesen in ähnlicher Weise kommensurabel geworden? Folgt man der Selbstauslegung des Autors, galten ihm die Kämpfe der Jahre um 1968 als zum Scheitern verurteilt. Hatte er dieses Scheitern in den späten 1970er Jahren aber noch mit geschichtstheoretischen Einsichten begründet, ersetzte er diese in der Erinnerungsarbeit des Jahres 2008 durch autobiographische Anekdoten, in anderen Essays durch ein Plädoyer für die politische Sistierung und das kleinere Übel. Ironie trat dabei offenbar an die Seite des Pessimismus, und auch fatalistische Töne schlagen in der Absage an eine grundlegende Verbesserung der Verhältnisse durch.105 Gleichzeitig scheint der späte Kittsteiner, aus der Resigna102 Heinz Dieter Kittsteiner, Arbeitermemoiren. Bruno Gluchowski ›Der Honigkotten‹; K. H. Helms ›Krupp und Krause‹, in: alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion, 51 (1966), S. 180-185. 103 Ebd., S. 185. 104 Ebd. 105 Vgl. Moritz Neuffer, Christian Voller, Marxismus-Fatalismus. Heinz Dieter Kittsteiners Geschichtsphilosophie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11 (2017) 3, S. 21-32.

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tion heraus, an der Hoffnung festgehalten zu haben, dass Möglichkeiten menschlichen Handelns in einem bescheidenen, defensiven Rahmen bestehen. Ob Optimismus oder Pessimismus, Fatalismus oder Reformismus im Angesicht des historischen Prozesses bei ihm die Oberhand behalten hätten, wäre nur einem noch späteren Werk des Autors zu entnehmen gewesen. Für alle Optionen darf angenommen werden, dass sie zugleich theoretische wie autobiographische Lösungsversuche für das Problem der subjektiven und objektiven Faktoren in der Geschichte darstellen – jener bleibenden Hinterlassenschaft der Geschichtsphilosophie, von der das Werk Kittsteiners seinen Ausgang nahm.

Heinz Dieter Kittsteiners Historismus Geschichte zwischen Unverfügbarkeit und Reflexivität Reinhard Blänkner

I. BENJAMIN UND MARX In seinem Aufsatz Walter Benjamins Historismus kommt Heinz Dieter Kittsteiner zu dem Resultat, dass Benjamin trotz seiner Kritik des Historismus diesem »doch näher steht, als er selbst meinte.«1 Dies mag auch auf Kittsteiner selbst zutreffen, wenngleich in anderen Hinsichten und unter einem erweiterten Verständnis von Historismus, als Kittsteiner es bei Benjamin mit Blick auf dessen Passagenwerk und Über den Begriff der Geschichte kritisch freilegte. Kittsteiners Kritik entzündet sich an Benjamins gleichsam kulturalistischer Lesart des Marxschen historischen Materialismus, die mit einem fragwürdigen Begriff von Geschichte verbunden sei. Gegen den objektivistischen Rankeschen Historismus, zeigen zu wollen, »wie es eigentlich gewesen« ist, aber auch gegen die neukantianische Erkenntnistheorie, die den historischen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch »Wertbeziehungen« herzustellen versucht, betont Benjamin die rückwirkende plastische Kraft der Bilder, die dem Akt geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis zukomme. »Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusammentritt. [...] Diese Bilder kommen, wie man weiß, unwillkürlich.«2 1

H. D. Kittsteiner, Walter Benjamins Historismus, in: Norbert Bolz, Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, München 1984, S. 163-197, hier: S. 171.

2

Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften (GS). Hg. von Ralf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/3, Frankfurt a.M. 1974,

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Das »Motiv des unbewußt sich einstellenden historischen Bildes« verweist, so Kittsteiner, auf die Geschichte als »unbewußte Produktion«, als Traum. Benjamins selbst gestellte Aufgabe sieht er in der Rolle eines Traumdeuters, der durch die historische Methode der Rekonstruktion der Phantasmagorien die Menschen zum ›Erwachen‹ aus dem Traumschlaf der Geschichte, zumal »aus dem neunzehnten Jahrhundert« bewegt. Kittsteiners luzide, hier lediglich angedeutete Kritik gilt zunächst dem verkürzten, von Marx als »Fetisch« beschriebenen Verständnis von »Verdinglichung« im kapitalistischen Produktionsprozess, die Benjamin wohl sieht, aber nur unter dem Aspekt untersucht, »die Phantasmen des träumenden Kollektivs zu dechiffrieren. [...] So feinsinnig Benjamin auf die Signale der Phantasmagorie reagiert,« resümiert Kittsteiner, »so schwerhörig steht er vor dem Lärm des historischen Prozesses.« Benjamins gegen die historistische Auffassung der Geschichte als Kontinuum gerichtete These, »Geschichte« zerfalle »in Bilder, nicht in Geschichten«, hält Kittsteiner unter Hinweis auf Reinhart Koselleck nachdrücklich entgegen, dass Geschichte weder in Bilder noch in Geschichten, überhaupt nicht zerfalle, sondern »sich als Kollektivsingular mit materialem Substrat im Prozeß der Kapitalakkumulation (behauptet).« Überdies, so Kittsteiner weiter, wäre »(g)egen eine Metaphorik von Traum und Schlaf für die unbewußte Produktion von Geschichte [...] nichts einzuwenden, wenn dieses Bild nicht zwanghaft die Vorstellung von einem ›Erwachen‹ mit sich führte.« Die »Komplikation« bestehe darin, daß »immer ein Erwachen vor dem Erwachen gedacht werden müsse. Bevor die Menschheit ihre Produktion mit Bewußtsein regele, müsse, Marx folgend, »wenigstens die revolutionäre Klasse zu Verstand gekommen sein.« Bei Benjamin nehme in dessen letzten Jahren angesichts des Faschismus die Hoffnung auf ein »linkes« Erwachen »dramatische Akzente an«. Trotz seiner Kritik am faschistischen Mythos zeige Benjamin »sich selbst nicht frei von der Verführung, den historischen Prozeß libidinös zu besetzen.« »Historie im strengen Sinn«, so Benjamin, »ist also ein Bild aus dem unwillkürlichen Eingedenken, ein Bild, das im Augenblick der Gefahr dem Subjekt der Geschichte sich plötzlich einstellt. Die Befugnis des Historikers hängt an seinem geschärften Bewußtsein für die Krise, in die das Subjekt der Geschichte jeweils getreten ist. Dieses Subjekt ist beileibe kein Transzendentalsubjekt sondern die

Nachwort der Herausgeber, S. 1242 f.; s. a. ders., Über den Begriff der Geschichte, in: ebd., Bd. I/2, S. 695; ders., Das Passagen-Werk, in: GS, Bd. V/2, hg. v. Ralf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1983, S. 576 f.; vgl. Kittsteiner, Benjamins Historismus (wie Anm. 1), S. 175.

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kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation. Historische Erkenntnis gibt es für sie allein und für sie einzig im historischen Augenblick.« 3 Kittsteiners Einwände gegen Benjamin münden in die Kritik, dass dieser sich von Marx’ Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses als dem »realen Substrat der Geschichte« der Moderne abwende und diese Abwendung mit allem Historismus teile: »Sein Historismus ist materialistisch, weil er die Entstellung in den Phänomenen liest; sein Materialismus bleibt historistisch, weil er den Begriff der Phantasmagorie, anstatt ihn auf die kapitalistisch produzierten Dinge einzugrenzen, in die humane Signatur eingegangen ist, auf die Geschichte selbst ausweitet; zum Bezugspunkt der Analyse also nicht den qualitätslosen Realprozeß wählt, sondern einen geschichtstheologischen Einbruch, von dem her Rettung und Erlösung zu denken wäre.«4

Auf Kittsteiners Aufsatz wurde hier als Ausgangspunkt nicht aus besonderem Interesse an der Benjamin-Forschung Bezug genommen, in der er einen wichtigen Beitrag darstellt.5 Der 1984 publizierte Text gibt vor allem Auskünfte über Kittsteiners eigenen Denkweg seit der Mitte der 1960er Jahre und markiert den vorläufigen Abschluss seiner Benjamin-Lektüren, die nach anfänglicher Affirmation den Anstoß für die Hinwendung zu einer intensiven Marx-Lektüre gab6 und 3

Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Bd. I/3 (wie Anm. 2), S. 1243.

4

Kittsteiner, Benjamins Historismus (wie Anm. 1), S. 196; die vorangegangen Zitate S. 189-194.

5

S. a., von Kittsteiners Benjamin-Kritik ausgehend: Sami Khatib, Walter Benjamin und Karl Marx. Der »Begriff der Geschichte« und die »Zeit des Kapitals«, in: Helmut Lethen, Birte Löschenkohl, Falko Schmieder (Hg.), Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx, München 2010, S. 227-244. Ohne expliziten Bezug auf Kittsteiners Benjamin-Aufsatz: Christine Blättler, Gesellschaftliche Phantasmagorie der Moderne. Zum Problem des Fortschritts und zur Unverfügbarkeit der Geschichte, in: Arne De Winde, Sientje Maes, Bart Philipsen (Hg.), StaatsSachen, Matters of State. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19. Jahrhundert, Heidelberg 2014, S. 225-237.

6

S. hierzu Heinz Dieter Kittsteiner, Die »Geschichtsphilosophischen Thesen«. Nachwort, in: Peter Bulthaup (Hg.), Materialien zu Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«. Beiträge und Interpretationen, Frankfurt a.M. 1975, S. 28-42, insbes. S. 39-42. S. hierzu a. Jannis Wagner, Mit Marx und Benjamin. Heinz Dieter Kittsteiner und die (Un)Verfügbarkeit der Geschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 102 (2020), S. 195-210; Khatib, Walter Benjamin und Karl Marx (wie Anm. 5). Zu Kittsteiners Benjamin-Lektüren s. a. Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner, Zwang wird Sinn. Kittsteiners Benjaminlektüren im Kontext, in: Christine Blättler,

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in die Kritik der »messianischen Geschichtsschreibung« bei Benjamin und darüber hinaus des teleologischen Geschichtsdenkens der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel mündeten.7 In deren Tradition platziert Kittsteiner auch kritisch Marx, »der eine reale Grundlegung für die von der Geschichtsphilosophie und der klassischen Politischen Ökonomie wahrgenommenen Bewegungsweise der modernen Geschichte jenseits der Verfügungsgewalt der Produzenten« entwickelt habe. Dass Marx »zugleich mit der Diagnose sich an einer heute nicht mehr gültigen Therapie« versucht habe, ändere »nichts an der Bedeutung seiner Leistung. Er erkennt den Weltmarkt hinter der Figur des ›Weltgeistes‹; er entqualifiziert die inhaltsbestimmte Zeit der Geschichtsphilosophie und setzt an ihre Stelle die Zeit der Kapitalverwertung.«8 Zum politischen Marxismus der ausgehenden Studentenbewegung der 1960er Jahre mit ihren aktivistischen Zirkel- und Parteigründungen ging Kittsteiner bald auf Distanz.9 Marx’ Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses hingegen blieb zeitlebens ein zentraler Aspekt seines wissenschaftlichen Werks.10 Auch an seiner Kritik an Benjamin hielt er fest und präzisierte sie später in einem Aufsatz, der zugleich sein weiteres Forschungsprogamm einer europäischen, insbesondere deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne umriss. 11 Christian Voller (Hg.), Walter Benjamin. Politisches Denken, Baden-Baden 2016, S. 233-241. Zu Kittsteiners frühen Denkwegen s. Moritz Neuffer, Intentionen der Vergangenheit. Kittsteiner und seine Frühschriften (in diesem Band). 7

Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. 1980.

8

Kittsteiner, Benjamins Historismus (wie Anm. 1), S. 191.

9

S. hierzu Kittsteiners autobiographische Auskünfte in: Karl Marx. 1968 und 2001, in: Richard Faber, Erhard Stölting (Hg.), Die Phantasie an die Macht? 1968 – Versuch einer Bilanz, Berlin, Wien 2002, S. 214-237; ders., Unverzichtbare Episode. Berlin 1967, in: Zeitschrift für Ideengeschichte II/4 (2008), S. 31-44. S. hierzu a. Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, Göttingen 2012, S. 23, 95-97; 111112, 125; ders., Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin 2020, S. 202-208.

10 Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft, Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. 1998, insbes. S. 16-22; ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin 2004; ders., Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München 2008. 11 Heinz D. Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts, in: Willem van Reijen (Hg.), Allegorie und Melancholie, Frankfurt a.M. 1982, S. 149171. S. a. den wichtigen Hinweis auf Benjamin im Vergleich zu Ernst Cassirer, in: ders., Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine ge-

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Überblickt man Kittsteiners intellektuelle Biographie, nimmt die kritische Auseinandersetzung mit Walter Benjamin einen zentralen Ort der Selbstverständigung ein. Sein Interesse an der Metaphorologie und der »Untersuchung der Funktion der ›Bilder‹ beim Zustandekommen historischen Wissens« 12 ist maßgeblich durch die Kritik an Benjamins Konzept der »Phantasmagorien« geprägt. Die frühe kritische Auseinandersetzung mit Benjamin und Marx öffnete den Raum zur Grundlegung für sein »philosophisches ABC« 13 und sein »Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte.« 14

II. GESCHICHTSWISSENSCHAFT, GESCHICHTSPHILOSOPHIE – UND MITTENDRIN DIE KULTURGESCHICHTE Den methodischen Eingangsparagraphen seines Buches Die Entstehung des modernen Gewissens hat Kittsteiner unter den Titel »Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte« gestellt. In scharfer Abgrenzung von Louis Althussers Spinoza-Interpretation und im Rückgriff auf Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation hatte er die Gewissensthematik als kulturgeschichtlichen Aspekt der Herausbildung »neuzeitlicher Subjektivität« bereits in seiner Dissertation angeschnitten.15 Die spätere Bezugnahme auf die Begriffsgeschichte ist sachlich durch den Blick auf die sich verändernde Bedeutung des Gewissens und ihrer Diskurse im Zeitraum zwischen Reformation und Aufklärung plausibel begründet. Ein besonderes Motiv liegt darüber hinaus zweifellos darin, dass das zugrundeliegende Manuskript zunächst unter der Ägide von Reinhart Koselleck als Habilitationsschrift an der Universität Bielefeld eingereicht wurde (und damit in die querelles der Bielefelder Historiker zwischen der Koselleckschen »Begriffsgeschichte« und der Wehler-Kockaschen »Historischen Sozialwissenschaft« geriet). Ein weitergehendes Interesse an der Begriffsgeschichte, das in dem von Otto Brun-

schichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte, in: ders., Out of Control (wie Anm. 10), S. 33-48, hier: S. 43 (zuerst 2000). 12 Heinz Dieter Kittsteiner, »Iconic turn« und »innere Bilder« in der Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 153-182, hier: S. 178. 13 Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht (wie Anm. 10), S. 15. 14 Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 17. 15 Vgl. Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 27 f.

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ner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebenen Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe paradigmatischen Niederschlag fand, wird man Kittsteiners Buch jedoch nicht attestieren können.16 Mit seinem Konzept einer »Begriffsgeschichte als Mentalitäts- und Kulturgeschichte« wollte er vielmehr zeigen, wie der »Bedeutungswandel des Begriffs (sc. »Gewissen«, R.B.) zusammenhängt mit den Versuchen, dieser zu schwachen Anlage im Menschen ›Gehör‹ zu verschaffen.« Hierzu untersucht er die Gewissensdiskurse der zwischen der »Kultur der Eliten« und einer »Kultur des Volkes« sich herausbildenden »normsetzenden Schichten« der Gebildeten im Zeitraum zwischen der Reformation bis zum Ende des 18. Jahrhundert. Der »Kulturhistoriker«, als der Kittsteiner sich ausdrücklich selbst versteht, dürfe sich dabei nicht »auf disziplinär eingegrenztes und segmentiertes Wissen [...] verlassen«, sondern setze »die weit auseinanderliegenden Ebenen in Verbindung [...].«17 Waren diese »historisch-philosophische(n) Bemühungen« (ebd. S. 27) Ende der 1980er Jahre noch unzeitgemäße Betrachtungen über eine Neukonzeptualisierung der Kulturgeschichte, gerieten sie wenig später in das Feld der sich neu konstituierenden Kulturwissenschaften und der neuen Kulturgeschichte bzw. der Debatte über Geschichte als Historische Kulturwissenschaft.18 Im Anschluss an seine vorangegangenen Arbeiten hat Kittsteiner auf diesem transdisziplinären Feld eigene Akzente gesetzt, die jedoch ohne Berücksichtigung des institutionellen Kontexts der neugegründeten Fakultät für Kulturwissenschaften und seines Rufs auf den Lehrstuhl für »Vergleichende europäische Geschichte der Neuzeit«

16 S. hierzu a. mit anderen Akzentsetzungen Ernst Müller, Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt a.M. 2016, S. 740-746; Rüdiger Zill, Die unsichtbare Hand sichtbar machen. Heinz Dieter Kittsteiners Programm einer »Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte« (in diesem Band). 17 Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M., Leipzig 1991, S. 13-18. 18 Aus der umfänglichen Literatur sei hier lediglich verwiesen auf: Robert Berdahl et al., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1982; Wolfgang Frühwald et al., Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a M. 1991; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2001; Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Mit Beiträgen von Rudolf Vierhaus und Roger Chartier. Hg. v. Hartmut Lehmann, Göttingen 1995; Wolfgang Hardtwig, Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996; Wolfgang Hardtwig (Hg.), Wege zur Kulturgeschichte, Göttingen 1997 (Geschichte und Gesellschaft 23, H. 1); Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg 2006.

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im Rahmen der Disziplin Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) nicht hinreichend deutlich werden.19 Der zentrale Text, der hierüber Aufschluss gibt, ist Kittsteiners 1994 gehaltene Frankfurter Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?.20 Im Vergleich zu seinen früheren Umrissen einer Kulturgeschichte hat Kittsteiner hier eine programmatische Skizze entworfen, in der er den systematischen Ort der Kulturgeschichte innerhalb der Kulturwissenschaften »mitten drin« zwischen einer (traditionell politisch orientierten) Geschichtswissenschaft und der Geschichtsphilosophie präzisiert. Neben der kulturwissenschaftlichen Analogie zu Friedrich Schillers geschichtsphilosophischer Jenaer Antrittsvorlesung (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, 1789) stehen im Mittelpunkt von Kittsteiners Antrittsvorlesung Überlegungen zu einer »Kulturgeschichte des Sozialen« in Abgrenzung zu einer »Sozialgeschichte als Kulturgeschichte«. Hierzu bezieht Kittsteiner sich zunächst auf die Arbeiten von Roger Chartier, sodann, über diesen hinausführend, vor allem auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Zu fragen sei nach deren »Verwendbarkeit für eine neue Kulturgeschichte« – in erkenntnistheoretischer Hinsicht ebenso wie mit Blick auf materiale kulturgeschichtliche Forschung. Gelinge es dem Historiker nicht, so Kittsteiner Cassirer zitierend,

19 Zum intellektuellen Profil der Frankfurter Kulturwissenschaften s. Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften (wie Anm. 12). Zu den kulturgeschichtlichen Ansätzen s. hier insbesondere Gangolf Hübinger, Kulturelle Vergesellschaftung. Die Orientierung des Historikers zwischen Kultur- und Sozialforschung, S. 135-152; Kittsteiner, »Iconic Turn« und »innere Bilder« in der Kulturgeschichte, S. 153-182; Karl Schlögel, Kartenlesen, Augenarbeit, S. 261-279; ders., Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003; Reinhard Blänkner, Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35), S. 7196; ders., Historische Kulturwissenschaften im Zeichen der Globalisierung, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 341-372. 20 Heinz Dieter Kittsteiner, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?, in: Hardtwig (Hg.), Wege zur Kulturgeschichte (wie Anm. 18), S. 5-27. S. hierzu Reinhard Blänkner, »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte? Perspektiven auf das geschichtstheoretische Werk Heinz Dieter Kittsteiners, in: Agnieszka Brockmann, Jannis Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte? Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner. EuropaUniversität Viadrina Universitätsschriften Nr. 35, Frankfurt (Oder) 2017, S. 14-26.

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»die symbolische Sprache seiner Denkmäler zu entziffern, so bleibt Geschichte für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.«21 Kittsteiners Hinwendung zu Cassirers Kulturphilosophie war keine singuläre Denkbewegung. Sie vollzog sich im Rahmen eines verbreiteten Rückbezugs auf Cassirer und andere aus Deutschland nach 1933 vertriebene Repräsentanten der Kulturwissenschaften des frühen 20. Jahrhundert, die für die sich neu formierenden Historischen Kulturwissenschaften einflussreich wurden.22 Auch für Kittsteiners Idee einer Kulturgeschichte löste sie einen neuen Schub aus, der über das kritische Interesse an Benjamins Erforschung der Phantasmagorien und Allegorien epistemologisch und kulturphilosophisch hinauswies23 und in einer originellen Verknüpfung der Arbeiten von Koselleck und Cassirer das methodische Fundament für sein Großprojekt der Stufen der Moderne schuf (s. hierzu unten). Trotz des originellen Durchschreitens thematisch weiter Felder, das Kittsteiners Kulturgeschichte charakterisiert, sind blinde Flecken nicht zu übersehen. Unter ihnen ist die Kulturgeschichte des Politischen besonders auffällig. Diese Leerstelle allein mit Kittsteiners Kritik an der traditionellen Politikorientierung der Geschichtswissenschaft zu erklären,24 schiene kurzschlüssig. Aufschlussreich jedenfalls erscheint Kittsteiners Selbstauskunft über seine Begegnung mit der Berliner Polizeigewalt anläßlich des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967, in dessen Verlauf der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde: »Am späten Nachmittag des 2. Juni stand ich vor dem Bauzaun gegenüber der deutschen Oper und ärgerte mich, daß das Orchester nicht streikte (sc. wegen des Schah-Besuchs, R.B.) und meine Lieblingsoper jenem Tyrannen aus dem Morgenland darbot. Und anstatt an Freundes Hand vergnügt und froh ins bess’re Land zu wandeln, bekam ich eins mit dem Gummiknüppel auf den Kopf. ([...]) Die Erfahrung am 21 Ebd., S. 27. 22 S. hierzu Otto Gerhard Oexle, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Hardtwig, Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute (wie Anm. 19), S. 14-40; ders., Historische Kulturwissenschaft heute, in: Rebekka Habermas, Rebekka v. Mallinckrodt (Hg.), Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und angloamerikanische Positionen der Kulturwissenschaften, Göttingen 2004, S. 25-52; Daniel, Kompendium Kulturgeschichte (wie Anm. 18). 23 Zu Kittsteiners Benjamin-Cassirer-Bezug s. ders., Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 42 f. 24 S. hierzu Kittsteiner, Die Listen der Vernunft. Über die Unhintergehbarkeit geschichtsphilosophischen Denkens, in: ders., Listen der Vernunft (wie Anm. 10), S. 742, hier: S. 8; ders., Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 43 f. u. 47 f.; ders., Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715, München 2010, S. 29 f.

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eigenen Kopf ersparte die Analyse des Staatsapparats.«25 Diese wurde Gegenstand anderweitiger neomarxistischer Theoriedebatten, während Kittsteiner sich der Entschlüsselung des Unbewussten in der Geschichte im Ausgang von Benjamin, Marx und Freud sowie in der Folge der Entstehung des modernen Gewissens zuwandte. Vor diesem Hintergrund fällt auch ein spezielles Licht auf sein gleichnamiges Buch, das als unausgesprochener Kommentar auf Reinhart Kosellecks Kritik und Krise (1959) gelesen werden kann. Gegenstand dieser Studie ist das sich verändernde Verhältnis zwischen Politik und Moral im Prozess der »Pathogenese der bürgerlichen Welt« im 17. und 18. Jahrhundert. Kosellecks Ausgangspunkt ist die von Carl Schmitt übernommene These, dass die Entstehung des absolutistischen souveränen Staates eine friedenstiftende Antwort auf den »konfessionellen Bürgerkrieg« des 17. Jahrhunderts gewesen sei.26 Bedingung für den dauernden, auf dem Gewaltmonopol des Staates beruhenden Frieden sei die gleichzeitige Konstituierung eines Binnenraums entpolitisierter Moral. Kosellecks eigene, über Schmitts juristisches Argument hinausgehende weiterführende These lautet, dass jedoch innerhalb dieses Binnenraums Schübe aufklärerischer Kritik am absolutistischen Staat kumulierten, die in die (Französische) Revolution mündeten. Das apolitische Gewissen als Bedingung für die Überwindung des (konfessionellen) Bürgerkriegs und als Garant dauerhaften Friedens sei dialektisch umgeschlagen in die geschichtsphilosophisch motivierte Idee des »Bürgerkrieg(s) als moralisches Gericht.«27 Kittsteiner hat Kosellecks und Schmitts These, dass »der absolutistische Staat die geschichtliche Antwort« auf die »epochale Frage«, wie »Friede« aus den konfessionellen Bürgerkriegen »zu gewinnen« war,28 nicht aufgenommen. Auch in seinem Buch Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 25 Kittsteiner, Unverzichtbare Episode (wie Anm. 9), S. 32. 26 Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Mit einem Vorwort zur Taschenbuchausgabe, Frankfurt a.M. 1973. Zum leitenden »Bürgerkriegs«-Topos bei Koselleck und Schmitt s. erhellend Jan-Friedrich Missfelder, Die Gegenkraft und ihre Geschichte. Carl Schmitt, Reinhart Koselleck und der Bürgerkrieg, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 58 (2006), S. 310-336. 27 Ebd. S. 151. Zum Gewissen als moralische Instanz s. insbes. S. 13-17, 120-132, 163165 u. 172. Zur Kritik an Kosellecks Deutung der Aufklärung s. Hans Erich Bödeker, Aufklärung über Aufklärung? Reinhart Kosellecks Interpretation der Aufklärung, in: Casten Dutt, Reinhard Laube (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, S. 128-174, über den »apolitischen Innenraum« insbes. S. 135 u. 147-157. 28 Vgl. ebd., S. 13.

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1618 bis 1715 – dem ersten und einzig erschienenen Band seiner Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne – wird das Moment des Friedensschlusses als »Stunde der Regierungen«, 29 der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner »Staatsbildungskrieg«30 wie generell die Gesamtproblematik des »frühmodernen Staates« nicht thematisiert. 31 Diese Ausblendung ist umso irritierender, als Kittsteiner nicht nur mit Schmitts und Kosellecks einschlägigen Arbeiten, sondern ebenso mit den jüngeren Forschungen zur Kulturgeschichte des Politischen vertraut war.32 Bei der Behandlung des Verhältnisses von Politik und Moral ließe sich argumentieren, dass Schmitt und Koselleck vor allem die Aussenstabilisierung sozialer Ordnung durch den absolutistischen Staat im Blick hatten, während Kittsteiner die Binnenstabilisierung durch die Entstehung des modernen Gewissens betonte. Für die konzeptuelle Begründung der »Stabilisierungsmoderne« erschiene eine solche komplementäre Lesart durchaus plausibel. Allerdings bliebe dann zu fragen, warum Kittsteiner selbst diesen Bezug nicht explizit hergestellt hat und die Schmitt-Koselleck-These lediglich beiläufig und zudem kritisch erwähnt.33 Tatsächlich ist Kittsteiners Ausgangspunkt für das Interesse an der Entstehung des modernen Gewissens ein gänzlich anderer als jener von Schmitt und Koselleck. Er liegt nicht in der Frage nach dem Verhältnis von 29 Rudolf Vierhaus, Staaten und Stände. Vom Westfälischen bis zum Hubertusburger Frieden. 1648 bis 1763, Berlin 1984, S. 98-101. 30 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a.M. 1992, S. 20-28. 31 S. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 100-124; Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1987; Reinhard Blänkner, Strukturprobleme des frühmodernen Staates, in: Frederick Carney u. a. (Hg.), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie. Beiträge des Herborner Symposions zum 400. Jahrestag der Politica des Johannes Althusius 1603-2003, Berlin 2004, S. 399-435. 32 An Kittsteiners Frankfurter Lehrstuhl bestand eine unausgesprochene Arbeitsteilung, in deren Rahmen ich selbst eine an Cassirer und der jüngeren Institutionenforschung orientierte Kulturgeschichte des Politischen im Blick hatte. S. hierzu u. a. Reinhard Blänkner, Integration durch Verfassung? Die »Verfassung« in den institutionellen Symbolordnungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Hans Vorländer (Hg.), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, S. 213-236; ders., Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen (wie Anm. 19). 33 S. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (wie Anm. 17), S. 237, Anm. 106.

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Politik und Moral, sondern in dem bereits in seiner Dissertation aufgeworfenen Problem des Unbewussten (in) der Geschichte, das Kittsteiners These von der Nichtmachbarkeit der Geschichte unterliegt. Die Gewissensproblematik korrespondiert als subjektive Seite des Unbewussten mit dem naturwüchsigen Prozess der kapitalistischen Ökonomie. Werkgeschichtlich gehören daher die Kritik des (klassischen) geschichtsphilosophischen Denkens in Naturabsicht und unsichtbare Hand und die anders gelagerte, hiervon scheinbar abseits gelegene Thematik der Entstehung des modernen Gewissens von Beginn an in Kittsteiners Verständnis von Kulturgeschichte »in gleichzeitiger Distanz zur politischen Ereignisgeschichte und zur nachhegelschen Geschichtsphilosophie« systematisch zusammen.34

III. GESCHICHTSPHILOSOPHIE NACH DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE Geschichtsphilosophie als Frage nach dem Sinn der Geschichte ist nach dem Zerfall des deutschen Idealismus in Verruf geraten. Ob nach dem Plausibilitätsverlust der teleologischen Geschichtsphilosophie und der Krise des Historismus um 1900 Geschichtsphilosophie überhaupt, und wenn wie, noch möglich sei, bewegt bis heute die geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatten. Deren Konjunkturen – von der Lebensphilosophie und der Existentialontologie über die Säkularisierungskontroversen bis hin zum prinzipiellen »Abschied von der Geschichtsphilosophie« (Odo Marquardt) – sind hier nicht zu verfolgen.35 Bemer-

34 Kittsteiner, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte (wie Anm. 21), S. 16 u. 19-22. Weiter ausgeführt bei Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 39, 220 f.; ders., Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: ders., Out of Control (wie Anm. 10), S. 217-251 (zuerst 1996); ders., Wir werden gelebt. Über Analogien zwischen dem Unbewußten in der Geschichte und dem »Ich«, in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 129-167 (zuerst 2004). S. hierzu auch Jannis Wagner, Gewissen und Geschichte. Zur thematischen Beharrlichkeit im Werk Heinz Dieter Kittsteiners, in: Brockmann, Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte? (wie Anm. 21), S. 4659. 35 S. hierzu Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg, München 1974; Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973; Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie. Eine Einführung, 2. Aufl., Basel 2012. Zur antipodischen Kritik an Marquard und Kittstei-

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kenswert ist jedoch, dass seit den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der allgemeinen Fortschrittskritik die Frage nach den »Möglichkeiten einer ›Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie‹« aufgeworfen wurde; 36 sodann, dass diese Diskussionen bis heute weitestgehend ohne Beteiligung von HistorikerInnen stattfinden. Kittsteiners Œuvre nimmt hier einen besonderen Ort ein, denn trotz der Kritik an der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie habe sich die »Kulturgeschichte [...] niemals ganz von geschichtsphilosophischen Fragestellungen abgelöst [...].«37 Ob dies, abgesehen von Jacob Burckhardt und Ernst Bernheim, auf die Kittsteiner sich mehrfach bezieht,38 eine zutreffende Beschreibung der deutschen Kulturgeschichtsschreibung oder eher eine Charakterisierung seiner eigenen Positionierung ist, sei dahingestellt. Jedenfalls galt sein Plädoyer einer »von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleitete(n) Kulturgeschichte«.39 Um diese programmatische Formel aufzulösen, ist zunächst zu fragen, welche geschichtsphilosophischen Fragestellungen Kittsteiner aufruft; sodann, welner s. Peter Vogt, What was »Geschichtsphilosophie«?, in: Journal of the Philosophy of History 10 (2016), S. 195-210. 36 Johannes Rohbeck, Herta Nagl-Docekal, Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Eine Einleitung, in: dies., (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 7-21, hier: S. 8; Herta Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a.M. 1996; Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), H. 1: Schwerpunkt: Ist eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie möglich?; Myriam Bienenstock (Hg.), Der Geschichtsbegriff: eine theologische Erfindung?, Würzburg 2007; Jürgen Große, Geschichtsphilosophie heute, in: Philosophische Rundschau 55 (2008), S. 123-155 u. 209-236; Peggy H. Breitenstein, Geschichtsphilosophie, in: dies., Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophie. Geschichte – Disziplinen – Kompetenzen, Stuttgart, Weimar 2011, S. 345-354; Rudolf Langthaler, Michael Hofer (Hg.), Geschichtsphilosophie. Stellenwert und Aufgaben in der Gegenwart, Wien 2015 (Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. XLVI, 2014). 37 Kittsteiner, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte (wie Anm. 20), S. 27; ders., Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 44. 38 Kittsteiner, Jacob Burckhardt als Leser Hegels, in: ders., Out of Control (wie Anm. 10), S. 75-102 (zuerst 2000); ders., Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 27 u. 31. 39 Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 41. S. a. ders., Art. Geschichtsphilosophie, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 117 –120.

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che Fragestellungen er als geschichtsphilosophische identifiziert. Hierbei ist vorab hervorzuheben, dass es Kittsteiner keineswegs um die Rehabilitierung einer materialen Geschichtsphilosophie ging, wie sie jüngst erneut ins Gespräch gebracht wurde.40 Vielmehr richtete sich sein Interesse auf die klassische deutsche Philosophie von Kant und Hegel bis Marx als diskursivem Gründungsort geschichtsphilosophischen Denkens. Dieses setzt die Selbstreflexion des Menschen im Prozess der Zivilisation im symbolischen Modus der »Geschichte« voraus, die – nach Kosellecks einflussreicher These – als Kollektivsingular erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gedacht wird und damit das bis dahin vorherrschende Verständnis von historia als Teil der alteuropäisch-aristotelischen Poetik und Rhetorik ablöst. An diesen begriffsgeschichtlichen Befund Kosellecks knüpft Kittsteiner ausdrücklich an.41 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass er mit seiner Verortung geschichtsphilosophischen Denkens zugleich in Spannung zu Koselleck gerät, der die aus dem Binnenraum des Ancien Régime hervorgehende aufklärerische Fortschrittsphilosophie kurzschlüssig als »Geschichtsphilosophie« bezeichnet.42 Dass der zeitliche Zusammenhang zwischen »Geschichtsphilosophie« und dem Aufkommen des Kollektivsingular »Geschichte« quellenmäßig weniger eindeutig ist, als Koselleck unterstellt, soll hier

40 S. etwa Johannes Rohbeck, Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 2000; ders., Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft, Berlin 2010; Peggy Breitenstein, Die Befreiung der Geschichte. Geschichtsphilosophie als Gesellschaftskritik bei Adorno und Foucault, Frankfurt a.M. 2013. 41 S. hierzu Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 38-66 (zuerst 1967); ders., »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: ebd., S. 349-375 (zuerst 1976); ders., Art. »Geschichte, Historie«, Abschnitt V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647-717; Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 36 f. 42 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 26), S. 105-157. Auf die gegensätzliche Argumentation bei Koselleck und Kittsteiner machen zurecht auch Ernst Müller und Falko Schmieder aufmerksam, s. dies., Begriffsgeschichte und historische Semantik (wie Anm. 16), S. 742.

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nicht näher verfolgt werden.43 Gravierend – und für die allgemeine Debatte über Geschichtsphilosophie bis heute nachwirkend – ist jedoch, dass Kosellecks These der ideengeschichtlichen Tradition von Wilhelm Dilthey bis Karl Löwith verhaftet ist, in welcher der Fortschritts- und Menschheitsdiskurs des 18. Jahrhunderts pauschal unter den Begriff der »Geschichtsphilosophie« subsumiert wird. Besondere Bedeutung kommt hierbei Giambattista Vico zu, der mit seiner vermeintlichen These, dass die Menschen ihre Geschichte machen, zum Begründer der enttheologisierten, säkularen Geschichtsphilosophie stilisiert wird. Diese These beruht in besonderem Maße auf eigenwilligen, philologisch irreführenden Übersetzungen der einschlägigen Passagen in Vicos Hauptschrift Scienza Nuova (1744), die bis heute einflussreich geblieben sind. Erich Auerbach übersetzt in seiner klassischen Ausgabe (1924) den § 331, man könne »in keiner Weise in Zweifel ziehen: daß diese historische Welt ganz gewiß von Menschen gemacht worden ist.«44 Löwith – Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1953) – ersetzt Auerbachs Version »historische Welt« durch »geschichtlichzivile Welt«.45 Im italienischen Original Vicos heißt es dagegen: »[...]non si può a patto alcuno chiamar in dubbio: che questo mondo civile (Hervh. R.B.) egli certamente è stato fatto dagli uomini [...]«.46 Der Terminus »mondo civile« erlaubt verschiedene begriffliche Bezüge. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Semantik des älteren Naturrechts erscheint am plausibelsten, ihn als Kon43 S. hierzu die Kritik von Jan Marco Sawilla, »Geschichte«: ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des »Kollektivsingulars Geschichte«, in: ZHF 31 (2004), S. 381-428. 44 Giambattista Vico. Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach. 2. Aufl. mit einem Nachwort von Wilhelm Schmidt–Biggemann, Berlin 2000, S. 125 (zuerst 1924). 45 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949/1953), in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 7-239, hier: S. 130. 46 Giambattista Vico, Principi di Scienza Nuova (1744), in: ders., Opere. A cura di Fausto Nicolini, Milano, Napoli 1953, S. 479. In einer neuen Vico-Ausgabe übersetzen Vittorio Hösle und Christoph Jermann »mondo civile« als »politische Welt«. Dies ist zwar anders, jedoch nicht weniger irreführend als die Übersetzungen von Auerbach und Löwith, denn die »zivile Welt«, d. h. die »bürgerliche Welt«, ist im Begriffshaushalt des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts nicht identisch mit der »politischen Welt«; s. Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übersetzt von Vittorio Hösle und Christoph Jermann und mit Textverweisen von Christoph Jermann, Hamburg 2009, S. 142.

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trastierung zum »mondo naturale« zu verstehen. Die Terminologie des »Historischen« im modernen Sinn, besonders aber des »Geschichtlichen« – ein Ausdruck (»storicità«), der im Italienischen des 18. Jahrhunderts gar nicht existiert – ist Vico noch gänzlich unbekannt. Tatsächlich lag Vicos gegen Descartes‘ Philosophie gerichteter Scienza Nuova keine geschichtstheoretische Intention, sondern die Untersuchung der kulturellen Bedingungen menschlicher Erkenntnis zugrunde. Vico gehört damit in die Genealogie der Kulturwissenschaften, keinesfalls aber in die der Geschichtsphilosophie.47 Auf die Voraussetzungen dieser Interpretation, die im »Geschichtlichkeits«– und Historismusdiskurs des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts liegen, ist hier nicht näher einzugehen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die willkürlichen und irreführenden Übersetzungen eine bis heute andauernde Debatte über ein Scheinproblem in der Ideengeschichte der Geschichtsphilosophie ausgelöst haben, unter deren starkem Eindruck nicht nur Koselleck, vermittelt über Löwith, dem Heidelberger Zweitgutachter seiner Dissertation,48 sondern auch Kittsteiner stand. Ausgehend von Auerbach und Löwith, erörtert er eingehend das »Vico-Axiom« (Ferdinand Fellmann) – »Der Mensch macht die Geschichte« – und verortet, unter weiterer Berufung auf Max Horkheimer, Vico an den Beginn der »Entstehung der Geschichtsphilosophie« und sieht dessen Denkfigur der »Vorsehung« als »Vorwegnahme« der »invisible hand« bei Adam Smith, die sich »in den Grundlagen der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis zu Hegel und Marx« wiederhole.49

47 S. hierzu Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. 6., unveränd. Auflage, Darmstadt 1994, S. 9-15 (zuerst 1942); Uwe Wirth, Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturwissenschaften, in: ders. (Hg.), Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt a.M. 2008, S. 9-67, insbes. S. 10-20. 48 Über Kosellecks Beziehung zu Löwith s. Niklas Olsen, Reinhart Koselleck, Karl Löwith und der Geschichtsbegriff, in: Dutt, Laube (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte (wie Anm. 28), S. 236-255; ders., History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York, S. 21-23; Reinhart Koselleck, Carsten Dutt, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 37 f. 49 Vgl. Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 41-43, 142-148, 154 f.; ders., Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: ders. (Hg.), Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 81-115, insbes. S. 83 f.; ders., Zur Einführung, in: Out of Control (wie Anm. 10), S. 7-10. In Kittsteiners nachgelassener Bibliothek (Archiv der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)) befindet sich sein intensiv durchgearbeitetes Handexemplar der 1961 im Kohlhammer Verlag, Stuttgart, erschienenen Taschenbuchausgabe von Löwiths »Weltgeschichte

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Der terminologische Zusammenhang dieser Denkfiguren ist unstrittig. Ob zwischen Vicos »Vorsehung« und der »invisible hand« sowie Kants »Naturabsicht« und Hegels »List der Vernunft« auch ein systematischer Zusammenhang besteht, wäre allerdings noch näher zu belegen. Ein »geschichtsphilosophischer« jedenfalls nicht. Eher ließe sich von einer geschichtsphilosophischen Transformation der Vicoschen »Vorsehung« sprechen. Hierzu wäre ein detaillierter und differenzierter Blick auf das weite Feld der sich formierenden Ästhetik, der Anthropologie, der Zivilisationstheorien und der Universalgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts zu werfen, die selbst keineswegs unter das Prädikat der Geschichtsphilosophie fallen, an das die Geschichtsphilosophie – nicht nur Kants und Hegels – jedoch anknüpft.50 Hätte Kittsteiner die überwiegend erst nach seinem Tod publizierten Arbeiten aus diesen Forschungsfeldern gekannt, wäre er möglicherweise von seiner These einer ideengeschichtlichen Kontinuität des »Vico-Axioms« abgerückt. Dies wäre umso unproblematischer, als der irreführende Bezug auf Vico als vermeintlichen Begründer einer säkularisierten Geschichtsphilosophie kein systematisch tragendes Argument in Kittsteiners Versuch einer Rekonstruktion der genuin geschichtsphilosophischen Fragestellung ist. Diese Fragestellung setzt den Vico und Heilsgeschehen«. Gekauft hat Kittsteiner es, wie seine übliche handschriftliche Datierung ausweist, im Juni 1966. 50 Aus der umfänglichen jüngeren Literatur s. hierzu lediglich, ohne weitere Kommentierung: Wolfgang Proß, Herder und Vico. Wissenssoziologische Voraussetzungen des historischen Denkens, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 17441803, Hamburg 1987, S. 88-113; Norbert Waszek, The Scottish Enlightenment and Hegel’s account of »civil society«, Dordrecht 1988; Andreas Urs Sommer, Geschichte als Trost. Isaak Iselins Geschichtsphilosophie, Basel 2002; ders., Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006; ders., Die Erkennbarkeit des Vergangenen und die Entstehung der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie, in: Das Achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnen Jahrhunderts 31 (2007), S. 203-212; Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert, Göttingen 2007; Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Historia Literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007; Annette Meyer, Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung, Tübingen 2008; Lucas Marco Gisi, Wolfgang Rother (Hg.), Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung, Basel 2011; André de Melo Araújo, Weltgeschichte in Göttingen. Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken, 1765-1815, Bielefeld 2012.

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noch unbekannten Begriff der »Geschichte« als Kollektivsingular in seiner semantischen Doppelbedeutung als objektiven Ereigniszusammenhang und als subjektive Erzählung einer Begebenheit voraus. An diesen von Koselleck begriffsgeschichtlich dargelegten Formierungsprozess hat Kittsteiner, wie erwähnt, angeschlossen, ihn aber zugleich – gegen Kosellecks ausdrückliche Skepsis – mit der »Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse« seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verknüpft.51 Die Frage nach einer genuin geschichtsphilosophischen Fragestellung im Kittsteinerschen Sinn setzt den genannten, von ihm hergestellten Problemzusammenhang voraus. Die »Geschichtsphilosophie« folgt der Konstituierung der »Geschichte« in ihrer Doppelbedeutung als begriffliche Totalisierung der Geschehenszusammenhänge und als deren Wissensform. Ihr Gegenstand ist die reflexive Verarbeitung der spezifisch neuzeitlich aufbrechenden Kluft zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, als deren zentralen Auslöser Kittsteiner die Konstituierung des gesellschaftlichen Kapitalverhältnisses sieht.52 Dieser verschränkte Prozess lässt sich als Komplexitätssteigerung der frühneuzeitlichen Globalisierung beschreiben, deren Anonymität und Undurchschaubarkeit zunehmend Skepsis gegenüber aufgeklärten Fortschritts- und Planbarkeitsideen auslöste. Kant hat ihr mit seiner Frage, »ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«,53 klassischen Ausdruck verliehen. Die »Geschichtsphilosophie« – am prominentesten bei Kant und Hegel – ist der intellektuelle Ort, an dem, so Kittsteiner, diese Frage jenseits kosmologischer Ordnungsmodelle und der pragmatischen Aufklärungshistorie spekulativ reflektiert, nun aber durch Metaphern wie »Naturabsicht« (Kant) oder »List der Vernunft« (Hegel), die als »Leitfaden a priori« (Kant) den Gang der Menschheitsgeschichte regulativ ordnen, teleologisch überspielt wurde. Auf die hierdurch erneut aufgeworfene Frage, aus welchen Erfahrungen oder Begebenheiten sich das »Fortschreiten zum Besseren« schließen lasse, antwortete Kant mit der Denkfigur des »Geschichtszeichens«, als das er, der nicht involvierte Königsberger 51 Vgl. hierzu Kittsteiners Brief an Koselleck v. 2. 7. 1975 und Kosellecks Antwortbrief v. 23. Sept. 1975, abgedruckt in: Gennaro Imbriano, Krise und Kritik. Reinhart Koselleck liest Karl Marx, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XI (2017), S. 97-112, hier: S. 108-109. 52 Vgl. Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« (wie Anm. 41); Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 38 f. 53 Vgl. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt. Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen (1798), in: ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie. Mit einer Einleitung hg. v. Manfred Riedel, Stuttgart 1974, S. 183-200.

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Beobachter des zeitgeschichtlichen Geschehens, die Französische Revolution deutete.54 Diese spekulativ-teleologischen Aspekte der Geschichtsphilosophie sind bald nach Hegels Tod dauerhaft in Verruf gekommen. Geschichtsphilosophie ist seither nur unter der Voraussetzung der Kritik an der Teleologie und der Frage nach dem »Sinn der Geschichte« möglich.55 Diese Kritik hat auch Kittsteiner geteilt, dabei aber vor allem gegenüber der in der Geschichtswissenschaft vollzogenen Abkehr von der Geschichtsphilosophie auf deren Fragestellungen aufmerksam gemacht. Es gehe nicht darum, »an ihre alten Antworten anzuknüpfen, sondern [...] um die Rettung der Problemstellung, die diesen Antworten zugrundelag und noch immer zugrunde liegt.«56 Die beiden leitenden Motive des geschichtsphilosophischen Denkens bei Kant und Hegel – die Frage nach der Machbarkeit der Geschichte und die Frage nach der Orientierung in der Geschichte – sind gemeint, wenn Kittsteiner von einer »von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleiteten Kulturgeschichte« spricht. Beide Fragen und den Versuch, hierauf post-teleologische Antworten zu finden, hat Kittsteiner ausführlich begründet. Die These der Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte zunächst gegen eine an politischen Interessen orientierte Geschichtsschreibung, sodann gegen eine am Weberschen »Objektivitäts«–Postulat orientierte sozialhistorische Forschung, deren verborgene geschichtsphilosophische Überspielungen des »chaotischen Stromes von Geschehnissen« (Max Weber) durch den Blick auf ihre »Hintergrundmetaphern« aufzuhellen seien.57

54 Vgl. ebd., S. 189. S. hierzu Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entdeckung der Kantischen Geschichtsphilosophie, in: Günther Lottes, Uwe Steiner (Hg.), Immanuel Kant. Deutscher Professor und Weltphilosoph, Hannover 2007, S. 143-167, insbes. S. 160 f. 55 Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel (wie Anm. 36); ders., Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt a.M. 1983; Herta Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt a.M. 1996; Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Hg.), Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek b. Hamburg 1997; Jörn Rüsen, Sinn und Widersinn der Geschichte – Einige Überlegungen zur Kontur der Geschichtsphilosophie, in: Langthaler, Hofer (Hg.), Geschichtsphilosophie (wie Anm. 37), S. 9-26. S. a. oben Anm. 37. 56 Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 46. 57 Vgl. Kittsteiner, Listen der Vernunft (wie Anm. 25), S. 22-27 (das Weber-Zitat S. 25); ders., Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 4446; ders., Die Krisis der Historiker-Zunft, in: Rainer Maria Kiesow, Dieter Simon

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Einen besonderen systematischen Ort in seiner Idee der Kulturgeschichte nimmt das Problem des »Geschichtszeichens« ein, anhand dessen Behandlung sich Kittsteiners von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleitete Denkwege leitmotivisch rekonstruieren lassen. Man könne, so Kittsteiner, die »Genese der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie als ihre Geburt aus der Frage nach dem Geschichtszeichen verstehen.« Damit sei »ihr Sündenfall verknüpft«, der nur rückgängig gemacht werden könne durch den Rückgang auf die ihr zugrundeliegende »Frage nach der Orientierung in der Geschichte.« 58 Bereits in seiner Dissertation – Naturabsicht und unsichtbare Hand – verhandelt er Kants »Geschichtszeichen« im Kontext der Diskussion über »historische Zeit« als spezifisch geschichtsphilosophische Zeit;59 historische Zeichendeutung ist auch Benjamins Unternehmung einer kulturellen Entzifferung der kapitalistischen Warenwelt. Benjamins hierfür verwendeten Begriff der »Phantasmagorie« interpretiert Kittsteiner als »Äquivalent« zu Kants »Geschichtszeichen«.60 War seine Antwort auf die Frage nach den Möglichkeiten einer Dechiffrierung der allegorischen Struktur der Geschichte in der kritischen Auseinandersetzung mit Kant und Benjamin zunächst noch offen geblieben, 61 denkt Kittsteiner später in einem einschlägigen Aufsatz Kants Theorie des Geschichtszeichens um und fragt nach einer »nicht-teleologischen Theorie von Geschichtszeichen« als Bedingung der Möglichkeit, sich überhaupt in der Geschichte orientieren zu können. Hierzu verbindet er Kosellecks historisch-anthropologische Kategorien »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« mit Ernst Cassirers Kulturphilosophie der »symbolischen Formen«.62 Hintergrund für diese originelle Verknüpfung ist der erkenntnistheoretische Einwand, »daß es überhaupt keine theoriefreien, unmittelbaren ›Erfahrungen‹ (Hg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 71-86, insbes. S. 76-79. 58 Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie (wie Anm. 11), S. 43; ders. Die Listen der Vernunft (wie Anm. 24), S. 42. 59 Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 100. 60 Vgl. ebd., S. 43. 61 Vgl. Kittsteiner, Die Listen der Vernunft (wie Anm. 24), S. 35. 62 Heinz Dieter Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: ders. (Hg.), Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 81-115, insbes. S. 107-111; ders., Einheit im Pluralismus: Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden?, in: Evelyn Schulz, Wolfgang Sonne (Hg.), Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, Zürich 1999, S. 41-87, insbes. S. 52-58; ders., Die Entdeckung der Kantischen Geschichtsphilosophie (wie Anm. 54), S. 160-163.

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gibt, die einen ›Erfahrungsraum‹ stiften könnten.« Nicht erst die Region der abstrakten Begriffe, »sondern«, so Kittsteiner Cassirer zitierend, »bereits die der ›gemeinen‹ Erfahrung ist mit theoretischen Deutungen und Bedeutungen durchdrungen.« Singuläre Wahrnehmungen seien immer schon eingebunden in einen allgemeinen Ordnungsrahmen, der wiederum nur, so Kittsteiner, »aus der Geschichte« stammen könne und mit einem auf ein »Sinn-Ganzes« bezogenen Bedeutungsüberschuss verbunden sei, den Cassirer als »symbolische Prägnanz« bezeichnet. »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont«, so fasst Kittsteiner sein Konzept eines nicht-teleologischen Geschichtszeichens zusammen, »schaffen symbolische Formen der Weltauslegung, die dann selbst wieder als transzendentale Vorbedingungen neuer Wahrnehmungen gelten.« Diese konzeptuelle Wende bildet fortan die Grundlage für die Unterscheidung je spezifischer »Geschichtsbilder« innerhalb seines Stufen-Entwurfs der Moderne, der schließlich in das Projekt einer »Deutsche(n) Geschichte in den Stufen der Moderne« mündete. Kittsteiners 2003 vorgelegter Entwurf der Stufen der Moderne endet mit der Bemerkung, dass die Leistung einer geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte sich erst noch am historischen Material bewähren müsse. 63 Er selbst beabsichtigte, diese in seiner »Deutsche(n) Geschichte in den Stufen der Moderne« zu erproben. Sein vorzeitiger Tod hat dies verhindert. Erschienen ist nur der erste Halbband zur »Stabilisierungsmoderne«, doch liegen weitere Fragmente und vor allem das detaillierte Gesamtkonzept seines auf drei Bände angelegten Hauptwerks vor.64 Ob die Publikation die geweckten hohen Erwartungen erfüllt und die Bewährungsprobe bestanden hätte, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, ob und wie Kittsteiners Perspektiven einer erneuerten Kulturgeschichte in der Forschung produktiv aufgenommen werden. Die beiden Hauptaspekte – die Unverfügbarkeit der Geschichte und die Frage nach der Orientierung in der Geschichte – bieten hierzu, auch über die Geschichtswissenschaft hinaus, ohne Zweifel Anknüpfungspunkte. Der Einwand, die Unverfügbarkeitsthese habe ein fatalistisches Verhältnis zur politischen Praxis zur Folge, 65 63 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne. Erfahrungsraum, Erwartungshorizont, symbolische Form und Narration, in: Rohbeck, Nagl–Docekal (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik (wie Anm. 36), S. 91-117, hier: S. 117. 64 S. Jürgen Kaube, Einleitung, in: Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 9-22, hier: S. 13-17. 65 S. die Kritik bei Rohbeck, Aufklärung und Geschichte (wie Anm. 40), S. 22; Kurt Bayertz, Einleitung: Was könnte mit der These gemeint sein, dass der Mensch die Geschichte macht?, in: ders., Matthias Hoesch (Hg.), Die Gestaltbarkeit der Geschichte, Hamburg 2019, S. 19-38, hier: S. 36; Johannes Rohbeck, Machbarkeit oder Unverfügbarkeit der Geschichte? Zur doppelten Bedeutung historischer Kontingenz, in: ebd.

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ist jedoch kein schlüssiges Argument in der Sache, wenngleich Kittsteiner selbst zwar ein engagierter Beobachter des Zeitgeschehens war, zur handelnden Politik und zu jeder »Art der Geschichtsschreibung als Geschichtspolitik«66 jedoch ein distanziertes Verhältnis pflegte. Vielmehr wird nach dem Abschied vom universalhistorischen Fortschrittsdenken das Problem kontingenter und prekärer Ordnungen auch in den Sozialwissenschaften – ganz unabhängig von Kittsteiner – unter wechselnden Begriffen wie »Risikogesellschaft«, »Umgang mit Unsicherheit« oder »Unverfügbarkeit« breit diskutiert.67

S. 50-66, insbes. S. 49 f. u. 57; Moritz Neuffer, Christian Voller, Institut für Marxismus-Fatalismus. Heinz Dieter Kittsteiners Geschichtsphilosophie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XI/3 (2017), S. 21-32. S. dagegen Wagner, Mit Marx und Benjamin (wie Anm. 6), S. 208-210. Auf die Unterscheidung zwischen der Machbarkeit der Geschichte und der Machbarkeit der Politik weist nachdrücklich Vogt, What was »Geschichtsphilosophie«? (wie Anm. 35), S. 208 f. hin. Zu Kittsteiner als engagiertem und kritischem Beobachter des Zeitgeschehens s. vor allem ders., Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht (wie Anm. 10). 66 Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 29; ders., Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht (wie Anm. 10). 67 S. etwa Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1987; Adalbert Evers, Helga Novotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987; Michael Makropoulos, Modernität und Kontingenz, München 1997; Mihran Dabag, Kristin Platt (Hg.), Die Machbarkeit der Welt, München 2006; Falko Schmieder, Geschichte als Realexperiment. Problem und Metaphorik der Unverfügbarkeit, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 8 (2014), S. 35-46; Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Salzburg, Wien 2018. Aus kultursoziologischer Sicht besonders anregend über Unverfügbarkeit und Reflexivität: Karl-Siegbert Rehberg, Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen. Hg. v. Hans Vorländer, BadenBaden 2014. Zum Begriff der »Unverfügbarkeit« s. auch die einschlägigen Artikel von H. Vorster, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 334-336, u. Hartmut Rosenau, Katrin Bosse, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig neu bearb. Aufl., hg. v. Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janoswski, Eberhard Jüngel, Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 811-813.

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IV. GESCHICHTE IN DEN STUFEN DER MODERNE Eine an »prägnante(n) symbolische(n) Ereignisse(n)« 68 orientierte Darstellung der deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne plante Kittsteiner als sein spätes Hauptwerk – von der »Stabilisierungsmoderne« (1618-1781) über die evolutive »Fortschrittsmoderne« (1780-1883) bis zur »Heroischen Moderne« (1880-1945/89), der sich, nach dem letzten Entwurf, eine »Globalisierungsmoderne«69 anschließen sollte. Dass Kittsteiner die Stufen der Moderne am Beispiel der deutschen Geschichte, eingebettet in die europäische und globale Geschichte, durchspielen wollte, hatte nicht nur pragmatische Gründe. Als neue große Erzählung war sie auch Teil einer kollektiven Verständigung der studentenbewegten 68er Generation über die Ursachen der katastrophischen deutschen Geschichte in der Moderne.70 Diese Motivlage verbindet Kittsteiners Vorhaben mit den politischen Intentionen der Protagonisten der »Modernen Deutschen Sozialgeschichte«. Vor dem Hintergrund dieser konfliktuösen Konstellation 71 erscheint die Vermutung nicht abwegig, Kittsteiners geplantes opus magnum auch als Antwort und Gegenentwurf zur Deutsche(n) Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler zu lesen, der Kittsteiner in einer polemischen Replik aufgefordert hatte, eine »Probe aufs Exempel« seines Postulats einer geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte zu geben.72

68 Kittsteiner, Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 31. 69 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Geschichte durch Geschichte überwinden. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006, S. 21-47, hier: S. 45; ders., Formprobleme der Moderne, in: ders., Wir werden gelebt (wie Anm. 35), S. 7-24, hier: S. 15; ders., Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 297. 70 S. hierzu Kittsteiners wichtigen Aufsatz Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: ders., Out of Control (wie Anm. 10), S. 217-251; ders. Marx. 1968 und 2001 (wie Anm. 8), S. 214-219. 71 Zu Kittsteiners Kritik an Wehler und der »Modernen deutschen Sozialgeschichte« s. ders., Die Krisis der Historiker-Zunft (wie Anm. 57), sowie frühzeitig ders., Theorie und Geschichte. Zur Konzeption der modernen westdeutschen Sozialgeschichte, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaft, Nr. 75: Sonderband Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft II, Berlin 1972, S. 18-32. 72 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Die Hybris einer Geschichtsphilosophie, in: Kiesow, Simon (Hg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit (wie Anm. 57), S. 119-127, hier: S. 127.

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Die Fokussierung auf die deutsche Geschichte und ihre Deutung zwischen dem ersten (1618-1648) und dem Zweiten Dreißigjährigen Krieg (1914-1945) wäre eines gesonderten, mit ähnlichen Versuchen zu vergleichenden Blicks wert, der im Rahmen dieses Aufsatzes jedoch nicht verfolgt werden kann. Zu diskutieren ist hier lediglich das generelle Konzept einer Geschichte in den Stufen der Moderne in seiner zweifachen Bedeutung – als in Stufenfolge gedachte (neuere) Geschichte und mit Blick auf die »Geschichte« als Wissensform in den Stufen der Moderne. 1. Die Stufen der Moderne in der Geschichte Die Verwendung der »Stufen« als Prozessmetapher der (neueren) Geschichte hat Kittsteiner verschiedentlich, bisweilen polemische Kritik eingebracht.73 Dabei war er sich selbst der Missverständnisse, die diese Metapher für sein Vorhaben auslösen konnte, durchaus bewusst. Wie sich in seinem Gesamtwerk nachverfolgen lässt, sprach er alternierend von »Schichten« und konzedierte dies als »terminologische Unsicherheit«. Jedenfalls waren beide von ihm synonym gebrauchten Termini ausdrücklich nicht im Sinne einer progressiven Abfolge gedacht. Ergiebiger als das polemische Spiel mit den missverständlichen Metaphern ist der erläuternde Blick darauf, was Kittsteiner sachlich mit ihnen zum Ausdruck bringen wollte: »Die Zeit-Schichten, von denen ich spreche, liegen eben nicht wie in sich abgeschlossene Gesteinsformationen übereinander, sondern sie durchdringen sich auf vielfältige Weise, da die ›Grundaufgaben‹ einer Epoche niemals abgeschlossen sind und ›vergangene‹ Aufgabenstellungen auch in den späteren Schichten weiterwirken. Diese Grundprobleme werden niemals gelöst, sie werden nur von neuen Aufgaben überlagert, die sich in den Vordergrund drängen. Insofern kann man von einer Anreicherung von Problemen sprechen; das Verhältnis zur Geschichte wird zunehmend komplexer.«74

Übereinstimmungen mit vereinzelten sprachlichen Wendungen legen die starke Vermutung nahe, dass Kittsteiner den hier verwendeten Begriff der »Zeit73 S. etwa Achim Landwehr, Das Durcheinander im Nacheinander oder: Treppenwitze der gestuften Moderne. Eine Befragung nebst einem Antwortversuch (in diesem Band). S. aber kritisch anregend: Christian Voller, Trauerarbeit in den Stufen der Moderne. Auch eine Charakteristik Heinz Dieter Kittsteiners als Historiker, in: Anne Gräfe, Johannes Menzel (Hg.), Un/Ordnungen denken. Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften. FS für Reinhard Blänkner, Berlin 2017, S. 216-234. 74 Kittsteiner, Die Stufen der Moderne (wie Anm. 63), S. 97.

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Schichten« dem kurz zuvor erschienenen gleichnamigen Buch von Koselleck übernommen hat. Wie bereits im Vorwort zur Taschenbuchauflage von Kritik und Krise (1973) angedeutet und in einem späteren Aufsatz weiter ausgeführt, legt Koselleck im Vorwort dieser Aufsatzsammlung sein Konzept der »Wiederholungsstrukturen« dar, das gleichsam als theoretisch elaborierter Unterbau der Kittsteinerschen Stufen- bzw. Schichten-Idee gelesen werden kann.75 Hätte Kittsteiner, anstatt sein Konzept lediglich knapp zu skizzieren, hierauf Bezug genommen, wäre ihm vermutlich manche Kritik erspart geblieben. Jedenfalls ist Kosellecks Konzept der »Wiederholungsstrukturen« im Unterschied zu Kittsteiners hiervon inhaltlich nicht weit entferntem »Stufen«-Konzept auf positive Resonanz gestoßen. Dies mag auch mit den gegenläufigen semantischen Konnotationen zu erklären sein. Während die »Stufen«-Metapher eine gleichsam »anstößige« Assoziation auslöst, verbindet sich mit der von Koselleck verwendeten »Schicht«-Metapher eher Geschmeidigkeit. Der Grund, dass Kittsteiner für den Titel seines Projekts auf die StufenMetapher zurückgreift und nicht die Schicht-Metapher verwendet und von »›Zeit-Schichten‹ der Moderne« spricht, dürfte zum einen an der Besetzung des Titels durch Kosellecks Buchpublikation liegen. Zum anderen war Kittsteiner durch die Lektüren von Hegels Idee einer »Stufenfolge« der Weltgeschichte, Marx’ Theorie der »wachsenden Stufenleiter« des sich reproduzierenden Kapitals und darüber hinaus durch Benjamins Idee einer »Stufenfolge der Phantasmagorien« und Carl Schmitts These einer »Stufenfolge wechselnder Zentralgebiete« in der neueren Geschichte seit dem 17. Jahrhundert terminologisch geprägt, die sich beide in zeitlicher Nachbarschaft zur verbreiteten Stufen– Begrifflichkeit der 1920er Jahre wie etwa in Helmuth Plessners Schrift Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) befanden.76 Die Genese des Konzepts der Stufen der Moderne lässt sich werkgeschichtlich präzise rekonstruieren. Kittsteiner selbst gibt hierzu im Vorwort der Stabili75 Vgl. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, Einleitung: S. 9-16. u.: Zeitschichten, in: ebd., S. 19-26; ders., Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Hg. u. mit einem Vorwort v. Carsten Dutt, Frankfurt a.M. 2010, S. 96-114 (zuerst 2006). 76 An Plessners Schrift und ihrem Zusammenspiel mit dem Schichtentheorem in Nicolai Hartmanns fundamentalontologischer Kategorienlehre wird exemplarisch deutlich, wie unergiebig die Kontrastierung von »Stufen« und »Schichten« ist. S. hierzu Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2008, S. 52-55. Zu möglichen metaphorischen Anleihen Kittsteiners bei Oswald Spengler s. Voller, Trauerarbeit in den Stufen der Moderne (wie Anm. 73), S. 228-230.

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sierungsmoderne eine allerdings unbefriedigende Auskunft. Seit Antritt seines Frankfurter Lehrstuhls 1993 habe er eine Einführungsvorlesung über »Vergleichende europäische Geschichte der Neuzeit« an der Universität zu halten gehabt, aus der »allmählich eine ›Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne‹ (wurde)« und in das – hier bereits mehrfach erwähnte – Konzept aus dem Jahr 2003 mündete.77 Tatsächlich liegen die Anfänge des Konzepts deutlich früher und lassen sich bis in seine Dissertation zurückverfolgen. Dort spricht er von einer »erste(n) Schicht der ›Moderne‹«, die in der Krise des 17. Jahrhunderts gipfelte, und einer nachfolgenden »zweite(n) Schicht der ›Moderne‹«, in der das »geschichtsphilosophische Denken« das Problem der Machbarkeit der Gesellschaft verarbeitet.78 Hieran knüpft Kittsteiner in seinem ebenfalls bereits erwähnten Aufsatz über »(d)ie geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts« an. Ging es in der Dissertation vor allem um den Problemzusammenhang zwischen der anglo-schottischen Politischen Ökonomie (Adam Smith) und der deutschen Geschichtsphilosophie (Kant, Hegel), so wird dieser Ansatz vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Benjamin um den sachlichen Aspekt »einer historischen Verortung der Allegorie in den Schichten der Moderne« und zugleich zeitlich – der »Stabilitätsmoderne« und der »Evolutionsmoderne« nachfolgend – um eine dritte Schicht, die »Heroische Moderne« des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, erweitert. 79 Dieser 1989 geschriebene und drei Jahre später publizierte Aufsatz ist das eigentliche Gründungsdokument des Konzepts der Stufen der Moderne. In der Habil-Schrift Die Entstehung des modernen Gewissens ordnet Kittsteiner unter Verweis auf seine Dissertation das religiöse Gewissen der »Stabilitätsmoderne« des 17. Jahrhunderts und das moralphilosophisch geprägte Gewissen der »evolutiven Moderne« seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu.80 Weitergehende Gewissensstudien zur »Heroischen Moderne«, die durch die Habil-Schrift lediglich vorerst abgebrochen worden waren, hat Kittsteiner vor allem bis Ende der 77 Vgl. Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 23. 78 Ders., Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 218 f.. S. zuvor bereits, die spätere Argumentation vorbereitend, Heinz-Dieter Kittsteiner, The Sediments of Modernity. A Review of Benjamin Nelson’s Der Ursprung der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp 1977), in: The Comparative Civilizations Review 9 (1982), S. 86-89. S. hierzu a. Jannis Wagner, Die Stufen der Moderne – Entwurf einer deutschen Gewissensgeschichte (in diesem Band). 79 Ders., Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 156 u. 160-164. 80 Vgl. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (wie Anm. 17), S. 291, Anm. 1.

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1990er Jahre verfolgt.81 Der schließlich maßgebende programmatische Text ist der von Kittsteiner selbst genannte Aufsatz Die Stufen der Moderne aus dem Jahr 2003. Die aus diesem Aufsatz bereits zitierte Bemerkung Kittsteiners, dass sein Konzept sich am historischen Material erst noch bewähren müsse, lässt sich nachträglich als Hinweis auf die Exemplifizierung an der deutschen Geschichte lesen, die Kittsteiner explizit erstmals in seinem im Februar 2004 gehaltenen Vortrag und zwei Jahre später veröffentlichten Troeltsch-Aufsatz anspricht.82 Tatsächlich hatte Kittsteiner sich in dieser Zeit, nachdem ein zuvor geplantes Projekt einer Fortführung seiner Gewissensstudien ins 20. Jahrhundert nicht zustande gekommen war, dem neuen Großvorhaben der »Deutsche(n) Geschichte in den Stufen der Moderne« zugewandt. Die hier genannten Vorträge und Publikationen zum zeitlichen Nachvollzug der gleichsam stufenweisen Formierung seines Konzepts korrespondieren mit Kittsteiners Lehrveranstaltungen an der Viadrina seit 1993, die schwerpunktmäßig die »Stufen der Moderne«, nach der Erweiterung des Lehrstuhlprofils über die Zusammenhänge zwischen Kulturwissenschaften und Globalisierung »Europa in der Welt« sowie bis zum Wintersemester 2000 Aspekte der Ausbildung des modernen Gewissens vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts behandeln. Die stufenförmige Epochengliederung der Moderne durchzieht kontinuierlich Kittsteiners Gesamtwerk. Dies gilt nicht nur, von kleineren Modifizierungen etwa bei der »evolutiven« bzw. »Fortschrittsmoderne« abgesehen, 83 für die formalen Datierungen, sondern vor allem für die sachlichen Begründungen, die ihnen zugrunde liegen. Allerdings lohnt hier ein näherer Blick auf argumentative Verschiebungen und Akzentuierungen, wie sie etwa bei der »Stabilisierungsmoderne« deutlich werden. Den Terminus verwendet Kittsteiner in Anlehnung an 81 S. Heinz Dieter Kittsteiner, Das Gewissen der Europäer, in: Paragrana 3 (1994), S. 303-315; ders., Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert, in: Richard Faber (Hg.), Politische Religionen – religiöse Politik, Würzburg 1997, S. 227-242 (wieder abgedruckt in diesem Band). Zu geplanten Ausstellungen, die jedoch nicht realisiert wurden, s. Jannis Wagner, Heinz Dieter Kittsteiner. Das Gewissen. Eine historischanthropologische Ausstellung, in: Brockmann, Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte? (wie Anm. 20), S. 98-105. 82 Vgl. Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne (wie Anm. 69), S. 40. Auch in diesem Aufsatz spricht Kittsteiner durchgehend alternierend von »Schichten« und »Stufen«. 83 S. hierzu, allerdings ohne auf die Modifizierungen einzugehen, Agnieszka Pufelska, Kittsteiners »evolutive Moderne« als eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte, in: Iwan Michelangelo D’Aprile, Ricardo K. S. Mak (Hg.), Aufklärung – Evolution – Globalgeschichte, Hannover 2010, S. 173-193.

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Theodore K. Rabbs Buch The Struggle for Stability in Early Modern Europe (1975), dessen Panorama der politisch-sozialen, technischen und kulturellen Befriedung der Krise des 17. Jahrhunderts er jedoch in mehreren Hinsichten erweitert. Neben Rabb stützt Kittsteiner sich vor allem auf Immanuel Wallerstein, der eingangs des zweiten Bandes seines Werks Das Moderne Weltsystem (1600-1750/63) den gesamteuropäischen Dreißigjährigen Krieg in den Kontext der konjunkturellen ökonomischen Kontraktion stellt und vor diesem Hintergrund das 17. Jahrhundert als »Stabilisierungsperiode« der »kapitalistische(n) Weltwirtschaft als System« bezeichnet.84 Auf Kittsteiners kritische Wallerstein-Lektüre ist noch zurückzukommen. An dieser Stelle bleibt zunächst lediglich festzuhalten, dass Rabbs und Wallersteins unterschiedlich begründete These einer politisch-sozialen und kulturellen Stabilisierung nach dem krisenhaften Umbruch des »langen 16. Jahrhunderts« einen zentralen Bezugspunkt in Kittsteiners Gesamtwerk markiert. 85 Hatte er in Naturabsicht und unsichtbare Hand polit-ökonomisch und geschichtsphilosophisch argumentiert, verschiebt sich der argumentative Ausgangspunkt der Stabilisierung in der Deutschen Geschichte jedoch auf den Dreißigjährigen Krieg als »deutsches Trauma«,86 das im sog. Zweiten Dreißigjährigen Krieg der Heroischen Moderne wiederkehrt. An dieser Analogie, die Kittsteiner in der Entstehung des modernen Gewissens explizit herstellt und die einen »fernen Spiegel« für die Problematik seiner politischen Generation bildet,87 wird ein Schlüsselgedanke seines Stufenkonzepts, dass »Grundaufgaben« einer Epoche (Stufe) niemals endgültig gelöst, sondern »nur von neuen Aufgaben überlagert« werden und in späteren Stufen wiederkehren,88 paradigmatisch deutlich. Dies gilt insbe-

84 Vgl. Immanuel Wallerstein, Das Moderne Weltsystem II – der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750, Wien 1998, S. 23-27 (zuerst amerik. 1980). 85 Vgl. Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 123-125 u. 137, Anm. 267; ders., Die Stufen der Moderne (wie Anm. 63), S. 98-102; ders., Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte (wie Anm. 69), S. 37; ders., Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 179, Anm. 366, u. 291-295. 86 Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 77-95. 87 Vgl. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (wie Anm. 18), S. 409; Lethen, Suche nach dem Handorakel (wie Anm. 9), S. 96. Zu dieser verbreiteten Analogie bzw. über Nähe und Ferne des Dreißigjährigen Krieges und der Gegenwart s. jüngst auch Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen 2019, S. 11-21. 88 Vgl. Kittsteiner, Die Stufen der Moderne (wie Anm. 63), S. 97; ders., Formprobleme der Moderne (wie Anm. 69), S. 10 f. u. 15.

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sondere für das Problem der stabilisierenden Ordnungsstiftung, das alle Stufen bzw. Schichten der Moderne durchzieht. Die These, dass eine Epoche durch eine »gemeinsame Grundaufgabe« charakterisiert wird, übernimmt Kittsteiner von Ernst Cassirer. »Die verschiedenen Formen der Kultur«, so Cassirer, »werden nicht durch eine Identität in ihrem inneren Wesen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sich ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt.«89 Die Aufnahme dieses Theorems markiert einen entscheidenden Schritt innerhalb des Konzeptualisierungsprozesses einer von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleiteten Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne. Bis dahin hatte Kittsteiner sich bei der Begründung der historischen Stufen häufig auf Carl Schmitts Konzept einer »Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete« vom 16. bis zum 20. Jahrhundert gestützt – »vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen.« Der Wendung dieser Zentralgebiete liege, so Schmitt, ein elementar einfaches, für Jahrhunderte bestimmendes Grundmotiv zugrunde, »nämlich das Streben nach einer neutralen Sphäre.« Die Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete sei daher eine Stufenfolge der Neutralisierungen. Mit der Neutralisierung sei aber das jeweils vorausgegangene Zentralgebiet nicht prinzipiell überholt, sondern werde lediglich überlagert. »Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selber ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebiets gelöst sind.«90 Dieser Schmittsche »große Wurf«, der Kittsteiners Arbeiten seit den frühen 1980er Jahren durchzieht,91 müsse aber, so Kittsteiner, kulturhistorisch ergänzt 89 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, Frankfurt a.M. 1990, S. 337 (zuerst amerik. 1944). Vgl. Kittsteiner, Die Stufen der Moderne (wie Anm. 64), S. 94; ders., Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte (wie Anm. 69), S. 39; ders., Formprobleme der Moderne (wie Anm. 69), S. 10 f. 90 Vgl. Carl Schmitt, Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, in: ders., Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 79-95, Zitate S. 80-88. 91 Vgl. Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte (wie Anm. 69), S. 29-31, Zitat S. 30; ders., Die Stufen der Moderne (wie Anm. 63), S. 97; ders., Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 160, Anm. 37. Schmitts »großer Wurf« ist auch Ausgangspunkt eines Konzeptpapiers, das Kittsteiner am 2. Sept. 1994 für die Gründung einer »Arbeitsgruppe ›Moderne‹« vorlegte (im Besitz des Vf.). Kittsteiner hat den 1979 erschienenen Nachdruck von Schmitts Der Begriff des Politischen (s. Anm. 90) im Oktober 1982 gekauft und, wie die zahl-

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werden, »um eine Periodisierung zu entwerfen, die das Bewußtsein der in die Geschichte verstrickten Menschen in ihren jeweiligen Erfahrungsräumen zum Ausgang einer Gliederung nimmt.«92 Diesen Entwurf, der die Kluft zwischen Schmitts Stufenfolge und Kosellecks Erfahrungsgeschichte schließen soll, legt Kittsteiner in seinem programmatischen Aufsatz 2003 (Die Stufen der Moderne) vor, in dem er, wie bereits dargelegt, Kosellecks historisch-anthropologische Kategorien mit Cassirers »symbolischen Formen« verknüpft und zugleich Schmitts Theorem der epochenspezifischen »Zentralgebiete« durch Cassirers kulturphilosophisches Theorem »gemeinsamer Grundaufgaben« ergänzt. Eine – nicht nur deutsche – Geschichte in den Stufen der Moderne, orientiert an der Freilegung der je epochenspezifischen Grundaufgaben als rotem Faden, vermag unter darstellerischen Aspekten durchaus zu faszinieren. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass mit diesem Zentrismus die sozial-kulturelle und politische Komplexität sowie den »Grundaufgaben« gegenläufige Bewegungen aus dem Blick zu geraten drohen. Kittsteiner war sich dieses Problems durchaus bewusst: »Alle Phänomene einer Epoche nach einem Modell erklären zu wollen, wäre ebenso sinnlos wie pedantisch. Die Vielfalt des Historischen muss in jedem Fall gewahrt bleiben.«93 Dass ihm dies in dem – einzig erschienenen – (Halb-)Band über die Stabilisierungsmoderne nicht durchgehend gelungen ist, ist nicht zu Unrecht kritisch vermerkt worden.94 Und dass die »vielschichtige Wirklichkeit« (Nicolai Hartmann) der frühen Neuzeit nicht nur in ihrer Diachronizität, sondern auch in ihrer Synchronizität multiperspektivisch in den Blick genommen werden kann, zeigen parallel und unabhängig von Kittsteiners Arbeiten

reichen Unterstreichungen und Anmerkungen belegen, intensiv durchgearbeitet. Das Exemplar befindet sich in der Kittsteiner-Bibliothek in der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). 92 Kittsteiner, Konzeptpapier 1994 (wie Anm. 91), S. 2. 93 Kittsteiner, Die Stufen der Moderne (wie Anm. 63), S. 96 f. 94 S. etwa Winfried Schulze, H. D. Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne, in: H-Soz-uKult, 17.5.2011; Achim Landwehr, Rez.: H. D. Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne, in: ZHF 39 (2012), S. 350-352; ders., Das Durcheinander im Nacheinander (wie Anm. 73; in diesem Band); Christof Dipper, Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: IASL 37 (2012), S. 37-62, hier: S. 48-50; Thomas Etzemüller, La storia del ›moderno‹. I problemi della sua concettualizzazione, in: Christof Dipper, Paolo Pombeni (Hg.), Le ragioni del moderno, Bologna 2014, S. 221-238 (dt. Ms.: Die

Geschichte

der

›Moderne‹



Probleme

ihrer

Konzeptualisierung:

https://uol.de/f/4/inst/geschichte/personen/thomas.etzemueller/Etzemueller_La_storia _del_moderno_Ms_dt.pdf), S. 4.

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entstandene Studien.95 Jedenfalls erschiene die – ohnehin nicht unumstrittene – These von den »Grundaufgaben« plausibler, wenn die Gleichzeitigkeit konfligierender Strömungen nicht nur darstellerisch stärkere Berücksichtigung gefunden hätte.96 Der Blick auf synchrone Pluralitäten hätte auch Missverständnissen vorbeugen können, die Kittsteiners Verwendung des Begriffs »Moderne« ausgelöst hat. Sein eigenes Verständnis von »Moderne« hat Kittsteiner freilich nicht präzisiert. Was das spezifisch Moderne an der »Moderne« sei, bleibt auch in seiner Aufsatzsammlung über »Formprobleme der Moderne« verborgen. Dass Kittsteiners Moderne-Verständnis sich nicht nur im Strom der allgemeinen ModerneRhetorik seit den 1950er Jahren bis hin zur »Postmoderne«-Diskussion und der in den Sozialwissenschaften debattierten sog. »Zweiten Moderne« bewegt, sondern entscheidend durch seine frühe Marx-Lektüre angeregt ist, wird allerdings erst beim Blick auf seine Überlegungen zur Temporalstruktur der Geschichte

95 S. hierzu etwa Rudolf Vierhaus u. a. (Hg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992. Ich selbst habe in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, »geschichtliche Epochen als jeweils spezifische Figuration älterer und jüngerer materieller Strukturen und Mentalitäten sowie von Ereignissen« als Grundlage für ein »Modell ineinandergreifender historischer Schichten« zu begreifen, vgl. Reinhard Blänkner, »Absolutismus« und »frühmoderner Staat«. Probleme und Perspektiven der Forschung, in: ebd., S. 48-74, hier: S. 49. Zum Dreißigjährigen Krieg s. insbesondere die dokumentarische Mikrogeschichte von Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 87). 96 Zur jüngeren, die Geschichtswissenschaften überschreitende Diskussion über simultane Verweisungszusammenhänge, die häufig unter dem irreführenden Titel der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« diskutiert wird, s. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008; ders., Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 65 (2011), S. 583-595; Achim Landwehr, Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: HZ 295 (2012), S. 1-34; ders., Das Durcheinander im Nacheinander (wie Anm. 73; in diesem Band); Lucian Hölscher, Die Geburt der Geschichtswissenschaft aus dem Geist der Gleichzeitigkeit, in: Keiko Hamazaki, Christine Ivanovic (Hg.), Simultaneität – Übersetzen, Tübingen 2013, S. 159-168; Reinhard Blänkner, Geschichte und Geschehen. Zur Historizität der »Geschichte« als Wissensform, in: Friedrich Wilhelm Graf, Edith Hanke, Barbara Picht (Hg.), Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven, Tübingen 2015, S. 38-55, insbes. S. 5255.

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deutlich. 97 Ob und (seit) wann es eine Epoche der Moderne gegeben hat und welche Kriterien ihr zugrundliegen, ist jedoch bis heute ebenso umstritten wie die Frage, ob die Moderne ein spezifisch europäisch-nordamerikanisches Kulturphänomen ist oder auch, und wenn wie, globale Bezüge mitberücksichtigt. 98 Wege aus der substantialistischen Moderne-Debatte kann der Versuch einer zweifachen Historisierung der Moderne öffnen »als eine alle geschichtlichen Epochen durchziehende relationale Modernität sowie als ›historistische‹ Vergewisserung und Überprüfung der Kategorien, mit denen ›Modernität‹ jeweils beschrieben wird.« Dieses Konzept »einer für jede Epoche spezifischen relationalen Modernität« 99 könnte auch anschlussfähig für das Stufen-Modell sein, zumal Kittsteiner selbst von »Modernen« im Plural spricht und bereits in Naturabsicht und unsichtbare Hand auf den »Fortschritts«-Begriff der »Moderne«Vertreter in der Querelle des Anciens et des Modernes und bei Francis Bacon hinweist, der noch in der Tradition der Geschichtsauffassung des Humanismus stand und kein Vorgriff auf den geschichtsphilosophischen Fortschrittsbegriff der evolutiven Moderne sei.100 Die – wegen seiner (vermeintlich) begrifflichen Unschärfe nicht unberechtigte – Kritik an Kittsteiners Moderne-Verständnis greift daher zu kurz, sofern sie sich lediglich auf die Stufen-Metapher bezieht und die von Kittsteiner angesprochenen sachlichen Aspekte des »Formwandels der Moderne« unberücksichtigt lässt. Strittig ist darum die These, Kittsteiners Entwurf beruhe auf einer »säkularen Modernisierungsperspektive«.101 Und unhaltbar ist insbesondere die Kritik, Kittsteiners Stufenkonzept der Moderne sei aufgrund seiner geschichtsphiloso-

97 S. hierzu Kittsteiner, Formprobleme der Moderne (wie Anm. 69), S. 7-10. Siehe auch den Abschnitt 2.1. in diesem Aufsatz. 98 S. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe. (wie Anm. 42), Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131; Wolfgang Knöbl, Beobachtungen zum Begriff der Moderne, in: IASL 37 (2012), S. 63-77; Etzemüller, Die Geschichte der »Moderne« (wie Anm. 94); Christof Dipper, Moderne. Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.1.2018 http://docupedia.de/zg/Dipper_moderne_v2_de_2018; Barbara Picht, Moderne denken. Zeittheorien bei Bauman, Braudel und Koselleck, in: Graf, Hanke, Picht (Hg.), Geschichte intellektuell (wie Anm. 96), S. 56-65. 99 Blänkner, »Absolutismus« und »frühmoderner Staat« (wie Anm. 94), S. 48 f. 100 Vgl. Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 195; ders., Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 135-140. 101 Medick, Der Dreißigjährige Krieg (wie Anm. 87), S. 19.

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phischen Begründung teleologisch,102 denn gerade die Kritik an der Teleologie war der Ausgangspunkt seines Plädoyers für eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte. Im übrigen hat sich, ganz unabhängig von Kittsteiners Plädoyer, die Geschichtsphilosophie längst von ihren vormaligen teleologischen Fragestellungen verabschiedet. Vielmehr ist, trotz diverser Differenzen im einzelnen, die Teleologiekritik gemeinsamer Ausgangspunkt der jüngeren Debatte über eine Rehabilitation der Geschichtsphilosophie. 103 Gewichtiger erscheint stattdessen der Einwand, dass Kittsteiner die Datierung des Beginns der Moderne als Stabilisierungsmoderne Mitte des 17. Jahrhunderts bzw. mit Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 1618 nicht hinreichend plausibel begründet habe.104 Tatsächlich wird auch hier eine Verschiebung deutlich, in der das Argument der feudalen Temporalstruktur hinter das Argument, dass die Stabilisierungsmoderne überhaupt erst die Voraussetzungen für die Aufklärung des 18. Jahrhunderts geschaffen habe, zurücktritt. Unbefriedigend bleibt auch das von Kittsteiner freilich nur angedeutete Problem einer nachheroischen Moderne. Zwar hat ihn hierbei die »Phantasie« keineswegs »verlassen«, wie Christof Dipper meint.105 Im Gegenteil: die Überlegung, dass Auswege aus dem die gegenwärtige »Globalisierungsmoderne« prägenden »Kampf der Kulturen« (Samuel Huntington) auf die Toleranzdebatten zur Bändigung der konfessionellen Bürgerkriege im 17. Jahrhundert zurückverweisen, 106 ist nicht nur ein originelles und gewichtiges historisches Argument. Es demonstriert darüber hinaus erneut Kittsteiners These, dass die Stabilisierung als Grundmotiv alle Schichten der Moderne durchzieht. Das Problem der nach-heroischen Moderne liegt vielmehr in ihrer Beschreibung als »Globalisierungsmoderne«. Mit Recht hatte Kittsteiner gegen das Konzept der »Zweiten Moderne« eingewandt, dass dieses in seiner analytischen Unterscheidung zwischen nationalstaatlicher und postnationalstaatlicher Moderne nicht hinter das 19. Jahrhundert zurückgreift. Um die Globalisierung (die 102 Vgl. Dipper, Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne (wie Anm. 94), S. 48; Landwehr, Das Durcheinander im Nacheinander (wie Anm. 73; in diesem Band). 103 S. hierzu oben Anm. 35, 40 u. 55. 104 Vgl. Landwehr, Das Durcheinander im Nacheinander (wie Anm. 73; in diesem Band). 105 Vgl. Dipper, Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne (wie Anm. 95), S. 50. S. a. Voller, Trauerarbeit in den Stufen der Moderne (wie Anm. 73), S. 232234. 106 Vgl. Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte (wie Anm. 69), S. 46 f.

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»Zweite Moderne«) zu verstehen, müsse man jedoch nicht nur historisch weiter zurückgehen, sondern zudem die »kulturgeschichtliche Dimension« in die soziologische Betrachtung miteinbeziehen. Die Globalgeschichte sei alt, »aber erst in der gegenwärtigen Globalisierungsmoderne« werde »das Interesse wieder auf sie zurückgelenkt.«107 Wenn Kittsteiner allerdings, gestützt auf die inzwischen breite historische Forschung insbesondere zur frühen Neuzeit, die Anfänge der Globalisierung mit Recht auf die Zeit um 1500 datiert, verliert die Addition einer zusätzlichen vierten Stufe der Moderne, einer »Globalisierungsmoderne«, ihre Plausibilität. Stattdessen wäre dann die Moderne in der gesamten zeitlichen Erstreckung, die den »Stufen der Moderne« zugrunde liegt, eine »Globalisierungsmoderne«. Eine »Deutsche Geschichte«, geschrieben unter der Prämisse globaler Verflechtungen, wäre jedoch in das vorliegende Konzept der Stufen der Moderne nicht integrierbar gewesen. Dies hätte einen grundlegenden Umbau in der konzeptuellen Architektur erfordert, der mit dem Blick auf nun andere »prägnante symbolische Ereignisse« eine erhebliche Modifizierung des Profils der Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne zur Folge gehabt hätte. Der Einschub der »Globalisierungsmoderne« verweist so auf ein werkgeschichtliches Dilemma: ähnlich wie Wallersteins »Modernes Weltsystem«, wurde auch Kittsteiners in Schüben über drei Jahrzehnte formuliertes Konzept der »Stufen der Moderne« von neuen Problemstellungen und daraus hervorgegangenen materialen Forschungen zur Globalisierung überholt, die schliesslich die Konsistenz und Reichweite des Gesamtkonzepts verblassen lassen. 2. »Geschichte« in den Stufen der Moderne 2.1 Temporalstrukturen Die Stufenmetapher verleitet dazu, die »Stufen der Moderne« einseitig unter dem Aspekt ihrer zeitlichen Abfolge zu lesen und damit die spezifische Zeitlichkeit der einzelnen Stufen aus dem Blick zu verlieren. Die Temporalstrukturen und ihre Veränderungen stehen jedoch im Zentrum von Kittsteiners Epochengliederung, ohne ihre Berücksichtigung und die hiermit jeweils verbundenen Geschichtsbilder können die Stufen der Moderne nicht hinreichend verstanden werden. Ausgangspunkt ist hierbei die Konstituierung der »Geschichte« als

107 Vgl. Kittsteiner, Formprobleme der Moderne (wie Anm. 69), S. 8 f.; ders., Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 297.

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Wissensform, die mit der begrifflichen Formierung des Kollektivsingulars »Geschichte« seit der Mitte des 18. Jahrhunderts korrespondiert. Gegen diese von Reinhart Koselleck ausführlich dargelegte These hat Jan Marco Sawilla darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck »Geschichte« bzw. »histoire« im Französischen bereits früher nachweisbar ist. 108 Diese wortgeschichtliche Ergänzung ändert allerdings nichts an dem Befund, dass erst mit der Ausdifferenzierung der politisch-sozialen Ständeordnung und der Komplexitätssteigerung der frühneuzeitlichen Globalisierung der Wahrnehmungshorizont der alteuropäischen »historia« überschritten wurde und damit die Bedingungen ermöglichten, »Geschichte« begrifflich von einer singulären Begebenheit zu unterscheiden und als interdependenten Geschehenszusammenhang einer nachtheologischen »Universal«- oder »Weltgeschichte« zu verstehen. »Geschichte« ist eine Antwort auf diese historisch neue Situation. Pointierter als in den Sozialtheorien der schottischen und französischen Aufklärung wurden die neuzeitlichen Kontingenzerfahrungen in der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus reflektiert, in der nicht nur die Unverfügbarkeit der »Geschichte« mithilfe totalisierender Metaphern teleologisch überspielt, sondern »Geschichte« zugleich zu einer »absoluten Metapher« (Hans Blumenberg) des historischen Geschehens hypostasiert wurde. Seither steht der Diskurs über Geschichte unter der Doppelbedeutung als Geschehen sowie als Erzählung desselben. Hegel hat diese Doppelbedeutung in seiner Philosophie der Weltgeschichte prägnant beschrieben: »Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als die subjektive Seite und bedeutet ebenso gut die historiam rerum gestarum als die res gestae selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung.«109 Dieses bis heute vorherrschende Verständnis von »Geschichte« ist also keineswegs selbstverständlich, sondern vielmehr höchst voraussetzungsvoll. Die Hypostasierung der Geschichte zur absoluten Metapher und die Doppeldeutigkeit der Geschichte sind gemeint, wenn im Folgenden von Historismus gesprochen wird und unter deren Vorzeichen bis heute die aporetische Rede von »Geschichte« steht, in der nicht hinreichend deutlich wird, ob damit das Geschehen selbst oder die Erzählung des Geschehens gemeint ist. Vor allem verstellt dieser »Absolutismus der Geschichte« (Peter Sloterdijk) den Blick auf die Historizität der »Geschichte« als Wissensform des Geschehens110 und damit auf die Frage, in 108 S. oben Anm. 43. 109 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Bd. 12, Frankfurt a.M. 1970, S. 83. 110 S. hierzu Blänkner, Geschichte und Geschehen (wie Anm. 96).

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welchen (absoluten) Metaphern das Geschehen vor und nach der hegemonialen Rede von der »Geschichte« (totalisierend) beschrieben wird. Innerhalb dieses historistischen Denkhorizonts und seines begrifflichen Vexierspiels über »Geschichte« bewegen sich, ungeachtet ihrer grundlegenden Kritik am »traditionellen Historismus«111 und differenzierender Reflexionen über »Geschichte« als Wissensform, auch die Arbeiten Kosellecks und, hieran teilweise anschließend, von Kittsteiner. Koselleck hatte das Aufkommen des neuen Geschichts-Begriffs mit der These der »Verzeitlichung« verbunden. Gemeint war damit einerseits die neuzeitliche Beschleunigung der politisch-sozialen Geschehenszusammenhänge, die zu einer wachsenden Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung führte und sich im Aufkommen neuartiger Bewegungsbegriffe niederschlug; andererseits war damit die Dynamisierung der Zeit »zu einer Kraft der Geschichte selber« gemeint, die aber, so Koselleck, den neuen Begriff der Geschichte als Kollektivsingular voraussetzte und erkenntnistheoretisch mit der Verzeitlichung der Perspektivik korrespondiert.112 Die Temporalisierung der Zentralperspektivität, die Johann Martin Chladenius‘ in die Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752) übertragener raumbezogener Erkenntnislehre noch unbekannt war, wurde nun als Ordnungsmodell unter dem Reflexionsbegriff »Geschichte« auf das kontingente historische Geschehen übertragen. Zugleich verdrängte, so Koselleck, das zentralperspektivische Zeitmodell langfristig seit dem 16. Jahrhundert und gipfelnd in den technisch-industriellen Fortschritten des 19. Jahrhunderts das an den Abläufen in der Natur orientierte zyklische Zeitdenken in der vor-industriellen Welt. An dieses, hier nur grob skizzierte Konzept der Verzeitlichung und dem mit ihr verknüpften Aufkommen des Kollektivsingulars »Geschichte« schließt Kittsteiner in Grundzügen an. Das Interesse an der Aufhellung historischer Temporalstrukturen verbindet seine Arbeiten generell mit jenen Kosellecks an einer »Theorie historischer Zeiten«.113 Nicht zu übersehen ist allerdings, dass Kittstei111 Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (wie Anm. 17), S. 27. 112 Vgl. Koselleck, Art. »Geschichte, Historie« (wie Anm. 41), S. 695-702; ders., Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: Zeitschichten (wie Anm. 75), S. 150176 (zuerst 1976); ders., ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ (wie Anm. 41), S. 359-369 (zuerst 1976); ders., »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft (wie Anm. 41), S. 300-348, insbes. S. 321-339 (zuerst 1977); ders., Die Verzeitlichung der Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 77-85 (zuerst 1997). 113 S. hierzu Kosellecks programmatischen Text: Wozu noch Historie?, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte (wie Anm. 75), S. 32-51, insbes. S. 48 f. (zuerst

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ner im Rahmen seines Stufenkonzepts der Moderne den Koselleckschen Ansatz nicht nur modifiziert, sondern darüber hinausgehend originäre Akzente setzt, die auf seinen kritisch-marxistischen Ausgangspunkt zurückverweisen. Eine zentrale Modifikationen bei grundsätzlicher Zustimmung wird in der historischen Begründung der Verzeitlichung sichtbar, die Kittsteiner nicht nur in einer generell wachsenden frühneuzeitlichen Kluft zwischen lebensweltlichem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sieht, sondern die neuzeitliche Beschleunigung auf den Fundamentalaspekt der Kapitalverwertung fokussiert, die in der von Koselleck als »Sattelzeit« und von Kittsteiner als evolutive Fortschrittsmoderne beschriebenen historischen Schicht zum Durchbruch kommt und seither die »Stufen der Moderne« grundiert. Einen besonderen Ort in der Wissenschaftsgeschichte der »Geschichte« als Wissensform nimmt die »Stabilisierungsmoderne« ein. Sie unterliegt einem grundlegend anderen Zeitlichkeitsregime als die evolutive Fortschrittsmoderne und die Heroische Moderne. Kittsteiner geht hierauf im zweiten Kapitel von Naturabsicht und unsichtbare Hand ein, in welchem er das »Problem sich verändernder historischer Zeitstrukturen« bei der »Transformation des Feudalismus in den Kapitalismus« ausführlich behandelt. Ausgangspunkt sind hierbei Marx’ historische Ausführungen zur sog. »ursprünglichen Akkumulation des Kapitals«, die in den 1950er und 1960er Jahren in den internationalen Debatten über Feudalismus – Kapitalismus sowie über die »Krise des 17. Jahrhunderts« bis hin zu Wallersteins Modern World-System intensiv diskutiert wurden. Kern dieser Debatten war die Frage nach den ursächlichen, entweder internen, durch den Produktionsprozess, oder externen, durch das zirkulierende Handelskapital ausgelösten Impulsen zur Konstituierung des Kapitalismus. Kittsteiner trat im Nachgang dieser Debatten auf die Seite der Verfechter der ersten These, derzufolge in dieser Übergangsphase der feudale Aneignungsprozess von Mehrarbeit noch vorherrschend war, aber noch keine kapitalistische Mehrwertproduktion stattgefunden habe. Es seien, so Kittsteiner, »die Aneignungsstrukturen der feudalen Rente und der Verwertungsbewegungen des Handelskapitals, die an dem von ihnen nicht direkt beherrschten Arbeitsprozeß ihre Grenzen finden. Sie befreien sich aus diesem Dilemma, indem sie sich schließlich die Produktion unmittelbar unterwerfen. Dieser Prozeß führt aus der immanenten Dynamik der feudalen Produktionsweise hinaus und eröffnet in der Akkumulationsbewegung des Kapitals die Grundlage für eine neue Temporalstruktur der Geschichte.«114 1971); Kittsteiner, Einheit im Pluralismus: Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden? (wie Anm. 62), insbes. S. 74-79. 114 Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 128.

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Und an späterer Stelle schreibt Kittsteiner, wiederum auf Koselleck Bezug nehmend, vor dem »Einbruch des geschichtsphilosophischen Denkens zu Beginn der ›Sattelzeit‹« hätten Auffassungen dominiert, »die der Geschichte unentrinnbare Kreisläufe und ein zielloses Auf- und Abschwanken zuschreiben.« Die historischen Grundlagen dieser Denkweise seien »in der Reproduktionsdynamik der feudalen Gesellschaftsformation aufzufinden. Die Anstrengungen, sich gegen diese Geschichte zu behaupten, kennzeichnen eine erste Schicht der ›Moderne‹. Sie gipfelten in der ›Krise des 17. Jahrhunderts‹ in konstruktiven Entwürfen, in denen der Mensch mit dem Anspruch auftritt, durch Technik und rationale Kontrolle der menschlichen Affekte der permanenten Bedrohung durch die krisenhafte Verlaufsform der Geschichte ein stabiles System entgegenzusetzen.«115

Diese Passagen wurden hier nicht nur ausführlich zitiert, weil bereits an dieser Stelle wichtige Aspekte der späteren »Stabilisierungsmoderne« genannt werden. Vor allem wird hier die sachliche Begründung für die erste Stufe der als »Moderne« begriffenen Geschichte seit der frühen Neuzeit deutlich: »Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals.« 116 An diesen Marxschen Begriff der Modernität schließt Kittsteiner an. 117 Dies trifft auch auf Wallerstein zu, der jedoch im Unterschied zu Kittsteiner den ursächlichen Impuls für die Entstehung des Kapitalismus nicht in der Mehrwertproduktion, sondern in externen Momenten sieht und im übrigen an den Temporalstrukturen kein Interesse zeigt. Dass mit der Entstehung des Weltmarkts die Ära des Kapitalismus »eröffnet« wurde – wenngleich, so das Argument, aufgrund der Mehrwertproduktion erst seit Ausgang des 18. Jahrhunderts zum Durchbruch kam –, ermöglicht Kittsteiner den Anschluss an Wallersteins Konzept des »Modernen Weltsystems«. Erst der Rückgriff auf dieses Kapitel in Kittsteiners Dissertation lichtet den Nebel um Kittsteiners Verständnis der »Moderne«: Ihr Charakteristikum ist die Dominanz des Weltmarkts und des Kapitals, das sich, einmal etabliert, »auf stets wachsender Stufenleiter (reproduziert).«118 An keiner späteren Stelle seines Werks hat Kittsteiner diese Begründung für die Datierung des Beginns der Moderne ähnlich prägnant hervorgehoben, die jedoch

115 Ebd., S. 218. 116 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd.1., in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1974, S. 161. 117 S. explizit a. Kittsteiner, The Sediments of Modernity (wie Anm. 78). 118 Marx, Das Kapital (wie Anm. 116), S. 742.

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wegen der mangelnden Berücksichtigung seiner Dissertation in der Kritik übersehen worden ist. 2.2 Zeit-Allegorien Als Kulturhistoriker gilt Kittsteiners Interesse jedoch weniger den Veränderungen der ökonomischen Aneignungsstrukturen und eigenen Analysen der bis heute ungebrochenen Dominanz des durch die Verwertungsbedingungen des Kapitals geprägten Weltmarkts, als vielmehr dem Blick auf die mit der Veränderung der Temporalstrukturen korrespondierenden Geschichtsbilder, vor allem der evolutiven Fortschrittsmoderne und der Heroischen Moderne. Eindrücklich beschreibt Kittsteiner am Beispiel von Dampfmaschine und Eisenbahn als geschichtsphilosophisch-teleologischen Bewegungsallegorien ein historisches Zeitverständnis, in dem die Menschheit die »Geschichte« gleichsam beschleunigend im Rücken hat. Diese synergistische Geschichtsallegorie verliert jedoch, so Kittsteiner, mit dem zivilisationskritischen Einbruch in die Zeit des Fortschritts – repräsentiert vor allem durch Nietzsche – ausgangs 19. Jahrhunderts an Plausibilität. Die »Geschichte« dient nicht mehr dem »Leben«, und der Fortschritt muss gegen die lebensfeindlichen Mächte mit heroischer Kraft erkämpft werden. Die Bewegungsallegorien der »Geschichte« werden nun verdrängt von personalisierten Allegorien bis hin zu einem Verständnis von »Geschichte«, das sich, um die Krise des Historismus zu überwinden, vom tatsächlichen Geschehen ablöst und, wie prominent bei Heidegger, in eine existentielle Daseinsontologie abgleitet. 119 Hier, in den zahlreichen kulturgeschichtlichen Einzelstudien über die Geschichtsbilder der Fortschrittsmoderne und der Heroischen Moderne, die in dem Gesamtprojekt über die Stufen der Moderne nicht mehr zu einer zusammenfassenden Darstellung gekommen sind, liegt der zeitliche und argumentativ überzeugende Schwerpunkt des Projekts. Weniger plausibel sind hingegen Kittsteiners Darlegungen über die Geschichtsallegorien der Stabilisierungsmoderne und der nach-heroischen Moderne. Der spezifischen Temporalstruktur der Epoche der ursprünglichen Akkumulation als »Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produkti119 S. Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 11), insbes. S. 155-164; ders., Die Angst in der Geschichte und die RePersonalisierung des Feindes, in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne (wie Anm. 34), S. 103-128, hier: S. 122-128 (zuerst 1999); ders., Einheit im Pluralismus: Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden? (wie Anm. 62), S. 58-74; ders., Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München 2004, S. 95-112.

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onsweise«120 stellt Kittsteiner in einem einschlägigen Aufsatz über die Möglichkeit, widersprüchliche Zeitvorstellungen geschichtstheoretisch zu verbinden, die Ikonologie der frühneuzeitlichen »Historia« zur Seite, die er als »Vorspiel« zu den geschichtsphilosophischen Allegorien der evolutiven Fortschrittsmoderne interpretiert. Anhand der Historia-Darstellungen in Cesare Ripas Iconologia (1593), die in einer neu bebilderten Auflage nochmals im Jahre 1760 erschien, zeigt Kittsteiner, dass sich die Zeit- und Historia-Allegorien noch ganz an den antiken Vorbildern orientierten. Vor allem fehle hier noch eine »Allegorie der historischen Zeit« und »jeglicher Hinweis auf einen möglichen Fortschritt des Menschengeschlechts im ganzen.« Denn diese »Historia« sei nicht gleichbedeutend mit dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Begriff »Geschichte«, in dem die bis dahin geläufigen Kreislaufmetaphern durch den »Fortschritt« darstellenden linearen »Zeitpfeil« ersetzt wurden. Hintergrund für die allegorische Transformation vom Zyklus zur Linie sei der »Einbruch der Geschichte in die Zeit«, der überhaupt erst »historische Zeit« konstituiere. 121 Für den diachronen Blick auf die Geschichtsbilder in den Stufen der Moderne ist der Hinweis auf die gleichsam vor-geschichtliche »Historia«, vor allem im Vergleich zu neuzeitlich bewegten Zeitallegorien der evolutiven Fortschrittsmoderne, typologisch durchaus erhellend. Ob Ripas antike Bildmotive aufnehmende »Historia« eine allegorische Entsprechung der spezifischen Temporalstruktur der frühneuzeitlichen Transformation von Feudalismus zum Kapitalismus darstellt, scheint allerdings begründungsbedürftig. Überzeugender wäre hier ein vergleichender synchroner Blick auf den Historia-Diskurs und die ZeitAllegorien in den im 16. Jahrhundert rasch entstehenden Printmedien der Zeitläufte, wie etwa dem Theatrum Europaeum.122 120 Marx, Das Kapital (wie Anm. 116), S. 742; vgl. Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 108. In diesen Kontext stellt Kittsteiner auch Francis Bacons Verständnis von »Historia« und Vicos »Geschichtsphilosophie«, s. ebd., S. 138-142. 121 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Einheit im Pluralismus (wie Anm. 62), S. 41-47; ders., Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 157 f. 122 S. hierzu Arndt Brendecke, Peter Vogt (Hg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity, Berlin, Boston 2017; Gianna Pomata, Nany G. Siraisi (Hg.), Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge (MA): MIT Press 2005; Anthony Grafton, What was History? The Art of history in early modern Europe, Cambridge University Press 2007; Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007; Achim Landwehr (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformati-

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Im Unterschied zum ikonologischen »Vorspiel« der Stabilisierungsmoderne ist für Kittsteiner das Nachspiel der post-heroischen Moderne ikonologisch unergiebig, denn die »unheroisch gewordene Moderne« bedürfe »keiner Erlösung und keiner finalen Ordnung.« Erst damit komme sie »bei einer wirklichen Ent-Allegorisierung der Geschichte an, bei einer Aufgabenstellung, die gleichbedeutend ist mit der Zumutung, sich in einem nicht-kontrollierbaren Prozeß angstfrei zu bewegen.«123 Die generelle These der Ent-Allegorisierung der Geschichte in der post-heroischen Moderne wird hier allerdings nicht eigentlich begründet, sondern argumentativ mit der genannten Aufgabenstellung verknüpft, die Kittsteiner bereits in seiner Dissertation umrissen hatte und die seither als existentielles Grundmotiv sein Nachdenken über Geschichte subkutan durchzieht.124 Das hiermit verbundene Problem einer Öffnung der Geschichtstheorie zur Ethik ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher zu behandeln. Dass sich in der »Zumutung, sich in einem nicht-kontrollierbaren Prozeß angstfrei zu bewegen«, jedoch eine post-sozialistische Utopie im Rahmen eines als alternativlos erscheinenden »Streit(s) um den besten Kapitalismus«125 verbirgt, sei wenigstens am Rande notiert. Unterstellt man die nicht unplausible These einer Ent-Allegorisierung der Geschichte in der post-heroischen Moderne als Faktum, wird man zur ihrer Begründung nach Argumenten suchen müssen, die jenseits der Ikonologie in jenem Bereich liegen, den Kittsteiner – in loser Anknüpfung an Johan Huizinga – als »Formveränderung der Geschichte«126 bezeichnet. Hiermit ist jedoch nicht die »Geschichte« als eine spezifische, erst im 18. Jahrhundert aufkommende Wissensform des historischen Prozesses, sondern dieser selbst als das allgemeine Geschehen gemeint. Die Vermischung von »Geschichte« als Geschehen und als historisch spezifische symbolische Form der Welterschließung führt jedoch in

on und Revolution, Bielefeld 2012; Hans Medick, Im Druck des Ereignisses. Zeitzeugnisse zur Schlacht bei Lützen 1632 in ihrer medialen Dynamik, in: ZHF 44 (2017), S. 409-440; Benjamin Durst, Archive des Völkerrechts. Gedruckte Sammlungen europäischer Mächteverträge in der frühen Neuzeit, Berlin 2016, S. 177-291; Arno Seifert, Cognitio historica. Die Geschichte als Namensgeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976. 123 Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 165. 124 Vgl. Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 221; ders., Zur Einführung, in: ders., Out of Control (wie Anm. 10), S. 13 u. 41 f. 125 Kittsteiner, Out of Control (wie Anm. 10), S. 21 f. 126 Ebd. S. 14.

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jene bereits angedeutete begriffliche Aporie des Historismus, in der auch Kittsteiner letztlich befangen bleibt. In seinem begriffsgeschichtlich wegweisenden Artikel über »Geschichte« hatte Koselleck hervorgehoben, dass »der Ausdruck ›die Geschichte‹ den Beginn der Neuzeit (sc. im 18. Jahrhundert, R.B.) ankündigte, mit deren Ende also auch verschwinden könne.« Gleichwohl werde bislang »nirgendwo ernsthaft auf den Begriff verzichtet.«127 Mochte diese Feststellung Anfang der 1970er Jahre noch zutreffend sein, so ist sie heute keineswegs mehr selbstverständlich. Denn seither haben neue, kritisch gegen lineares Prozess- und Kontinuitätsdenken gerichtete und stattdessen an Simultaneität orientierte Narrative128 sowie postkoloniale Kritiken am linearen Zeitmodell des Historismus129 die Plausibilität der »Geschichte« und die lange unbestrittene These der »Einheit der Geschichte« erschüttert. 130 Vor diesem Hintergrund erscheint auch Kittsteiners Versuch, widersprüchliche Zeitvorstellungen geschichtstheoretisch zu einer Einheit zu verbinden, problematisch. Perspektivenreicher als Kittsteiners vage umrissene »Bausteine einer

127 Reinhart Koselleck, Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647-717, hier: S. 716. 128 S. etwa Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008; ders., Chronotop – Überlegungen zur Räumlichkeit von Geschichte nach dem »spatial turn«, in: Graf, Hanke, Picht (Hg.), Geschichte intellektuell (wie Anm. 96), S. 1937; Hamazaki, Ivanovic (Hg.), Simultaneität – Übersetzen (wie Anm. 96). 129 S. etwa Edouard Glissant, Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen, Heidelberg 1986; Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, Tübingen 2000; Stuart Hall, Was war der »Postkolonialismus«? Denken an der Grenze, in: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius, Theres Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 219-246 (zuerst 1996). 130 S. hierzu Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003; Reinhard Blänkner, Historische Kulturwissenschaften im Zeichen der Globalisierung, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 341-372; ders., Geschichte und Geschehen. Zur Historizität der »Geschichte« als Wissensform (wie Anm. 96), S. 38-55; Chris Lorenz, Berber Bevernage, (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future, Göttingen 2013; Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, Frankfurt a.M. 2016, S. 281-316.

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Theorie historischer Zeit«131 erscheint Kosellecks Programm einer auf »Zeitschichten« und »Wiederholungsstrukturen« aufbauenden »Theorie historischer Zeiten« (im Plural).132 Darüber hinaus endet Kittsteiners Versuch mit der Heroischen Moderne. Das in der postkolonialen Kritik am eurozentrischen Geschichtsverständnis aufgeworfene Problem der »disjunktiven Zeitlichkeiten« 133 bleibt ausserhalb des Blickfelds. Die jüngsten Verdichtungen und Komplexitätssteigerungen des Weltgeschehens lassen sich jedoch unter der Wissensform der »Geschichte« nicht mehr hinreichend beschreiben. In seiner philosophischen Theorie der Globalisierung hat Peter Sloterdijk daher nachdrücklich die These von der »nachgeschichtliche(n) Modalität heutiger Ereignisströme« vertreten.134 Die Reflexionen über die Temporalstrukturen und Geschichtsallegorien in der prae-»geschichtlichen« »Stabilisierungsmoderne« und in der post-heroischen Moderne haben Folgen für die Konzeptualisierung des Verhältnisses von »Geschichte« und »Moderne«. Bereits in Kittsteiners Stufen der Moderne sind sie zeitlich nicht kongruent, denn die Stabilisierungsmoderne kannte bekanntlich zwar eine »Historia« als »magistra vitae«, aber keine »Geschichte«. Deren »Einbruch in die Zeit«135 erfolgte erst mit der Durchsetzung des ökonomischen Kapitalverhältnisses in der evolutiven Moderne. Seither ungebrochen, gilt Kittsteiner der »Weltmarkt [...] in seinem blind-dynamischen Wesen als der eigentliche Hintergrund-Akteur des Geschehens«136, allerdings lassen sich die Beziehungsgeschichten der Welt in der post-heroischen globalen Moderne in der totalisie131 Kittsteiner, Einheit im Pluralismus (wie Anm. 62), S. 74-79. 132 S. hierzu jüngst Manfred Hettling, Wolfgang Schieder, Theorie des historisch Möglichen. Zur Historik von Reinhart Koselleck, in: dies. (Hg.), Reinhart Koselleck als Historiker. Zu den Bedingungen möglicher Geschichten, Göttingen 2021, S. 9-60, insbes. S. 42-46 u. 51-60. 133 Homi Bhaba, DissemiNation. Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation, in: ders., Die Verortung der Kultur (wie Anm. 129), S. 207 - 253, insbesondere S. 226. 134 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2005, insbes. S. 258-264, Zitat S. 261. Aus postkolonialem Blick s. a. Arif Dirlik, The Postcolonial Aura. Third World Criticism in the Age of Globalisation, Boulder 1997; ders., Is There History after Eurocentrism? Globalism, Postcolonialism, and the Disavowel of History, in: ders., Postmodernity’s History. The Past as Legacy and Project, Lanham 2000, S. 63-89 (zuerst 1999). 135 Vgl. Kittsteiner, Einheit im Pluralismus (wie Anm. 62), S. 46 f. 136 Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 29; ders., Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht (wie Anm. 10), insbes. S. 68-104.

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renden Wissensform der «Geschichte« nicht mehr hinreichend beschreiben. Hatte Kittsteiner gegen Benjamin eingewandt, dass Geschichte weder in »Bilder« oder »Geschichten« noch überhaupt zerfalle, sondern »sich als Kollektivsingular mit materialem Substrat im Prozeß der Kapitalakkumulation« behaupte, so erweist sich seine eigene Anbindung der »Geschichte« an das ökonomische Kapitalverhältnis nun als fragwürdige axiomatische Engführung. Als historisch spezifische Wissensform des Geschehens besitzt »Geschichte« nur für die evolutive und die heroische Moderne Plausibilität. Dieser Befund ist einerseits weniger dramatisch, als er auf den ersten Blick erscheint, denn er deckt sich weitgehend mit dem »Erfahrungsraum des Historismus« 137. Andererseits öffnet er den Blick auf globale Interdependenzketten, die zwar durch den ökonomischen Verwertungszusammenhang des Kapitals, aber nicht mehr durch die kulturelle Wissensform der »Geschichte« oder andere totalisierende symbolische Formen der Welterschließung zusammengehalten werden. Erst mit diesem analytischen Gedankenschritt wird die Historizität der Geschichte als historisch spezifische Wissensform des Geschehens klar erkennbar. Diesen Schritt ist Kittsteiner, der postkoloniale Fragestellungen erst spät und zudem zögerlich wahrgenommen hat, nicht mehr gegangen. Die aporetische begriffliche Doppelverwendung von Geschichte als Geschehen und als Erzählung desselben durchzieht auch sein Werk, das sich daher am treffendsten als »reflektierter Historismus«138 charakterisieren lässt.

V. EINE VON GESCHICHTSPHILOSOPHISCHEN FRAGESTELLUNGEN ANGELEITETE KULTURGESCHICHTE? Der archimedische Punkt in Kittsteiners geschichtstheoretischem Nachdenken ist die These der Unverfügbarkeit der Geschichte. Sie stand als Problem am Ausgang der kritischen Rekonstruktion der deutschen Geschichtsphilosophie von Kant und Hegel bis Marx, die Kittsteiner mit ihren Fragen, nicht aber mit ihren teleologischen Antworten auf das Kontingenzproblem der (frühen) Moderne für die Kulturgeschichte nutzbar machen wollte. Aus dem Problem der Unverfüg-

137 Koselleck, Wozu noch Historie? (wie Anm. 113), S. 50. 138 Diese Charakterisierung in Anlehnung an Kosellecks methodologische Selbstbeschreibung; vgl.: Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: NPL 43 (1993), S. 187-205, hier: S. 188.

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barkeit der Geschichte erwuchs als Folgeproblem die Frage, wie und woran Menschen sich in der Geschichte orientieren können. Unverfügbarkeit und Orientierung sind daher die beiden Hauptaspekte des Kittsteinerschen Forschungsprogramms einer von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleiteten Kulturgeschichte. Was aber bleibt von einer so profilierten Kulturgeschichte, wenn »Geschichte« ihre Plausibilität als Wissensform verloren hat? Zur Beantwortung dieser Frage ist zuerst an die Doppelbedeutung von Geschichte als Geschehen sowie als historisch spezifische Wissensform des Geschehens zu erinnern, aus deren aporetischem Dilemma die systematische Unterscheidung zwischen »Geschichte« und »Geschehen« und damit die Verabschiedung der Geschichte als Metabegriff bzw. als »absolute Metapher« herausführen kann. Dieser Ausweg ermöglicht auch eine seriöse Antwort auf die ansonsten rhetorisch bleibende Frage: Können wir der Geschichte entkommen?139 Der Geschichte zu entkommen bedeutet daher nicht, ein erneutes »Ende der Geschichte« (F. Fukuyama) oder ein post-histoire auszurufen, in dem das Geschehen in »hochtourigem Leerlauf« stagniert.140 Es bedeutet vielmehr den Beginn eines Nachdenkens über eine erneuerte Historie, die die »Modalität heutiger Ereignisströme« nach dem Plausibilitätsschwund der »Geschichte« zu beschreiben vermag.141 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Unverfügbarkeitstheorem schärfer konturieren, das als Problemstellung keineswegs allgemeine Geltung besitzt, sondern zunächst auf seine historische Bedingtheit zu befragen ist. 142 Unverfügbarkeit setzt begrifflich Verfügbarkeit voraus. Diese wird als technischexperimentelle Machbarkeit der Welt erst in der Philosophie um 1600 (prominent bei Francis Bacon) gedacht, bevor sie auf das Feld der Möglichkeit innerweltlicher Ordnungsstiftung (prominent bei Thomas Hobbes) übertragen wur139 Christian Schmidt (Hg.), Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2013. 140 Vgl. Arnold Gehlen, »Post-histoire« (1962/1994), in: ders., Gesamtausgabe. Hg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Bd. 6, Frankfurt a.M. 2004, S. 352-361. Dazu Karl-Siegbert Rehberg, Utopien der Stagnation. »Postmoderne« und »post-histoire« als kulturkritische Zeitdiagnosen, in: Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt a.M., hg. im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie v. Wolfgang Zapf, Frankfurt a.M. 1990, S. 212227. 141 S. hierzu Blänkner, Geschichte und Geschehen (wie Anm. 96), S. 52-55. 142 Zur Geschichte des Begriffs, der erst bei Heidegger und Bultmann systematische Verwendung findet, s. den einschlägigen Artikel »Unverfügbarkeit« von Vorster (wie Anm. 67).

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de.143 Bis dahin war Unverfügbarkeit bzw. Machbarkeit kein philosophisches Problem, denn die Kontingenz des allgemeinen Geschehens war eingebettet in gedachte kosmologische Ordnungen und theologisches Heilsgeschehen. 144 Dass »Geschichte« mach- und planbar sei, ist allerdings erst mit der Formierung dieses Begriffs zur Metakategorie politisch-sozialen Handelns seit der Mitte des 18. Jahrhunderts denkbar, die als Kollektivsingular das faktische Geschehen ebenso wie dessen Erzählung meint. Den utopischen Gehalt dieser Planbarkeitsideologie hat die frühe Geschichtsphilosophie seit Kant kritisch freigelegt und die Erfahrung der Unverfügbarkeit der »Geschichte«, wie Kittsteiner überzeugend dargelegt hat, mit telelogischen Metaphern zu überspielen versucht. Worauf die Unverfügbarkeit sich bezieht, ob auf die Geschichte als Geschehen oder auf deren Erzählung, blieb dabei jedoch ungeklärt, und unter dieser Aporie steht die Rede von der Verfügbarkeit oder Unverfügbarkeit der Geschichte bis heute. Dem steht sowohl die erkenntnistheoretische als auch methodologische Einsicht entgegen, dass das permanente Umschreiben der »Geschichte« eine unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit von Geschichtswissenschaft ist.145 Die Problemstellung präzisierend, geht es also nicht um die Unverfügbarkeit der Geschichte, sondern um die Verfügbarkeit der Geschichte und die Unverfügbarkeit des Geschehens. Der aporetische, doppeldeutige Geschichtsbegriff hat auch Folgen für das Problem der Orientierung. Seit der Krise des Historismus um 1900, vor allem aber nach der katastrophalen »Maßlosigkeit der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts«146 hat die »Geschichte« als symbolische Wissensform der Welter143 S. hierzu Wolfgang Krohn, Revolutionen als Experimente mit politischen Ideen, in: Bayertz, Hoesch (Hg.) Die Gestaltbarkeit der Geschichte (wie Anm. 65), S. 311331; Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a.M. 1980, S. 166-183. Zu aktuellen Debatten in der Wissenschaftsgeschichte s. Schmieder, Geschichte als Realexperiment (wie Anm. 67). 144 S. hierzu Brendecke, Vogt (Hg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity (wie Anm. 122). 145 S. hierzu Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 176-207 (zuerst 1979); ders., Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historischanthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S. 27-77 (zuerst 1988). 146 Jörn Rüsen, Sinnverlust und Sinnbildung im historischen Denken am Ende des Jahrhunderts, in: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 5: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, Frankfurt a.M. 1999, S. 360-377, hier: S. 373.

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schließung ebenso wie als akademische Disziplin ihren vormaligen Status als »leitende Orientierungsmacht«147, also bereits vor der Herausforderung durch die postkoloniale Kritik, eingebüßt. Von einem philosophisch unterstellten Sinn der Geschichte hat man sich allenthalben verabschiedet, und der Anspruch, »sich an der Geschichte zu orientieren«148, ist auch in der Geschichtswissenschaft längst aufgegeben worden. Zurückgeblieben ist die Frage, ob und wie Orientierung in der Geschichte möglich sei. Diese Frage verharrt aber im Horizont des historistischen Verständnisses von Geschichte, und auch Kittsteiner hat sich hierzu noch im Vorwort der Stabilisierungsmoderne ausdrücklich bekannt.149 Im Mittelpunkt der Kittsteinerschen Frage nach der Möglichkeit, sich in der Geschichte zu orientieren, steht das Problem der von Kant formulierten Idee des »Geschichtszeichens«, das Kittsteiners Gesamtwerk durchzieht. Sein Versuch, hierauf mit einer »nichtteleologischen Theorie des Geschichtszeichens«, die auf der Verknüpfung von Koselleck und Cassirer basiert, eine Antwort zu finden, ist originell und anregend, provoziert jedoch zugleich kritische Anfragen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschehen erscheint zunächst ein allgemeiner Begriff des »Geschichtszeichens« fragwürdig. Der Begriff setzt die »Geschichte« als Kollektivsingular und dessen kulturelle Plausibilität als Wissensform voraus. Keineswegs alle politischen Zeichendeutungen unterschiedlicher Epochen sind daher »Geschichtszeichen«.150 Der diskursive Raum des Geschichtszeichens liegt in der Epoche des Historismus, d. h. in der Evolutiven und Heroischen Moderne. Für die nach-heroische Moderne hatte Kittsteiner von einer »Ent-Allegorisierung der Geschichte«, gesprochen, dabei jedoch noch nicht die »Globalisierungsmoderne« im Blick gehabt. Der globale Kampf der Kulturen hat aber, spektakulär mit der islamistisch motivierten Zerstörung des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 eröffnet, zu einer Rückkehr der Allegorisierung des politischen Geschehens geführt. Diese Vernichtung als »negatives« Geschichtszeichen für den Beginn einer neuen Epoche

147 S. hierzu Gangolf Hübinger, Geschichte als leitende Orientierungsmacht im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 149-158. 148 Thomas Nipperdey, Sich an der Geschichte orientieren?, in: Der Mensch als Orientierungswaise. Ein interdisziplinärer Erkundungsgang. Beiträge von Hermann Lübbe u. a., Freiburg-München 1982, S. 107-144. S. a. Koselleck, Wozu noch Historie? (wie Anm. 113). 149 Vgl. Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 24), S. 28. 150 So aber in dem von Kittsteiner herausgegebenen Band Geschichtszeichen (wie Anm. 49).

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zu interpretieren,151 bewegt sich im Rahmen eurozentrischen Geschichtsdenkens, denn aus islamistischer Sicht war diese Aktion stattdessen ein Moment des religiösen Heilsgeschehens. Die islamistische Allegorisierung dieses Ereignisses fügt sich nicht mehr in die Idee des Geschichtszeichens ein. Die Idee eines – auch nicht-teleologischen – Geschichtszeichens hinterlässt daher als Antwort auf das Problem der Orientierung in der Geschichte eine Reihe offener Fragen. Ob hier die These eines »heroischen Postmodernismus«152 weiterführt, wäre zu diskutieren. Mit diesen kritischen Hinweisen die beiden zentralen Aspekte der Kittsteinerschen Kulturgeschichte als erledigt zu betrachten, wäre jedoch verfehlt, denn sie betreffen lediglich ihren Bezug auf das historistische Geschichtsverständnis. Unverfügbarkeit und Orientierung bleiben auch für eine nicht-historistische Historie, die sich nicht auf »bloßes empirisches Herumtappen ohne leitendes Prinzip«153 beschränkt, unhintergehbare Probleme. Sie entstammen nicht dem Repertoire genuin geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen. In einem späten Aufsatz hat Kittsteiner luzide dargelegt, wie die aus einer existentiellen Situation hervorgegangene Kantische Problemstellung der Unverfügbarkeit der Geschichte im klassischen Historismus und im Neukantianismus, der diese Grundstimmung nicht geteilt habe, übersehen wurde und erst nach den Erfahrungen des Zweiten Dreißigjährigen Krieges von 1914 bis 1945 neu wieder hervortrat. Kittsteiners Rückgriff auf Kant folgt der Einsicht, dass »zentrale philosophische Texte (nicht) veralten; sie sind gleichsam auf die Zukunft hin geschrieben und geben ihren Gehalt erst in der Konstellation mit je verschiedenartigen Gegenwarten preis. Wir verstehen unsere Zeit besser«, so Kittsteiner, »in der Abarbeitung an diesem geschichtsphilosophischen Text (sc. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, RB) aus den Tagen der Spätaufklärung.« Ob Kants Schrift einen Weg aufzeigt, »wie man Geschichte denken kann«154, bleibt jedoch fraglich. Denn auch Kants Verständnis von Geschichte bewegte sich in der seit Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Aporie zwischen »Geschichte« als Geschehen und deren Erzählung. Über die Mathematik und die Naturwissenschaft hinausgehend, bezog sich seine »Revolution der Denkungsart« auf die epistemologisch bahnbrechende Frage nach den Möglich151 Vgl. Kittsteiner, Formprobleme der Moderne (wie Anm. 69), S. 16. 152 S. hierzu Christian Voller, Trauerarbeit in den Stufen der Moderne (in diesem Band). 153 Immanuel Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788), in: ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie. Mit einer Einleitung hg. v. Manfred Riedel, Stuttgart 1974, S. 85-117, hier: S. 87. 154 Vgl. Kittsteiner, Die Entdeckung der Kantischen Geschichtsphilosophie (wie Anm. 54), S. 143.

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keitsbedingungen menschlicher Erkenntnis auf dem Feld der Metaphysik. Die Kritik der reinen Vernunft (1781/87) verstand Kant als »Traktat von der Methode«, die eine Reflexion über die Geschichte als Wissensform jedoch (noch) nicht enthielt. Kritisch an Kant anschließend, hat erst Georg Simmel die Frage gestellt: »Wie ist Geschichte möglich?«155 Kittsteiners Forschungsperspektive einer von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleiteten Kulturgeschichte beruht auf dem Postulat, die Unverfügbarkeit der Geschichte als »Problemstellung« der klassischen Geschichtsphilosophie zu retten. So unbestritten die Unverfügbarkeitsthese sein mag und sich in die gegenwärtigen Debatten über die Kontingenzprobleme der Moderne einfügt, so unbefriedigend bleibt sie aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen, d. h. an den symbolischen Wissensformen der Welterschließung interessierten Geschichtstheorie. Denn dieses Postulat setzt die »Geschichte« bereits voraus und vermischt die Problemstellung der klassischen Geschichtsphilosophie – die Unverfügbarkeit – mit der vorausgehenden Frage nach der Frage, auf die »Geschichte« eine Antwort ist, d.h. der Komplexitätssteigerung der globalen Geschehenszusammenhänge seit der frühen Neuzeit. Bei der Suche nach einer nach-teleologischen Antwort auf die – sein geschichtsphilosophierendes Nachdenken grundierende – Frage, »was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt«156, schließt Kittsteiner an die moralphilosophisch begründete Problemstellung Kants an. Ob hierin ein verborgenes utopisches Motiv nach der Verabschiedung sozialistischer, studentenbewegter Praxis am Ende der Heroischen Moderne liegt, das sich nach der unerwartet sich einstellenden Globalisierungsmoderne im Zustand der Parusieverzögerung befindet, oder sich ein weitergehendes moralphilosophisches Interesse verbirgt, das Kittsteiner veranlasste, sich auf das Wagnis einer Auseinandersetzung mit Heideggers Existenzialontologie einzulassen157, mag hier bis auf weiteres auf sich beruhen. Die Frage, was aus der nichtkontrollierbaren Geschichte werden könne, ließ Kittsteiner ausdrücklich unbeantwortet.158 Diese Frage auf dem Weg zu einer nachhistoristischen Kulturge-

155 Georg Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (Zweite Fassung 1905/1907), hg. v. Guy Oakes u. Kurt Röttgers, Frankfurt a.M. 1997, S. 227-419, insbes. S. 229 f. (Georg Simmel, Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 9). 156 Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand (wie Anm. 7), S. 221. 157 S. hierzu Jan Eike Dunkhase, Geschichtsdenken nach der Geschichtsphilosophie. Kittsteiner und Heidegger (in diesem Band). 158 Vgl. Kittsteiner, Zur Einführung, in: ders., Out of Control (wie Anm. 10), S. 12.

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schichte zwischen Unverfügbarkeit und Reflexivität aufzunehmen und weiter zu denken, bleibt – im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner.

Das Durcheinander im Nacheinander oder: Treppenwitze der gestuften Moderne Eine Befragung, nebst einem Antwortversuch Achim Landwehr

Er In dem Hause, wo ich wohnte, hatte ich den Klang und die Stimmung jeder Stufe einer alten hölzernen Treppe gelernt, und zugleich den Takt, in welchem sie jeder meiner Freunde, der zu mir wollte, schlug, und, ich muß gestehen, ich bebte allemal, wenn sie von einem Paar Füßen in einem mir unbekannten Ton heraufgespielt wurden. Georg

Christoph

Lichtenberg,

Sudelbücher

(B75)

STUFENKULTUR Wann ist eigentlich Jetzt? Und wie lange dauert die Gegenwart? Leben wir in der Moderne? Und wenn ja, in was (oder wo, oder wie) haben dann diejenigen gelebt, die noch nicht von sich behaupten konnten, in der Moderne zu leben? Und in was (oder wo, oder wie) leben diejenigen, von denen wir kaum behaupten können, unter modernen Bedingungen zu existieren? Und ist die Moderne ein Zustand, vorbehalten denjenigen, die sich selbst als Moderne wahrnehmen? Sind modern nur diejenigen, die für sich reklamieren, modern zu sein, was sie erst zu den Modernen macht, die sie zu sein sich anmaßen?1 Oder handelt es sich bei der 1

Heinz Dieter Kittsteiner hätte darauf womöglich geantwortet, dass als »›modern‹ eine Denkhaltung verstanden werden soll, die die wirklichen Schwierigkeiten des Men-

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Moderne um eine historische Epoche, bei der alle mitmachen müssen, selbst wenn sie an ihren Segnungen nicht partizipieren und von ihren Schädigungen nur mittelbar betroffen sind? Haben wir denn jemals in der Moderne gelebt? Und hat diese Moderne jemals angefangen? Waren wir möglicherweise nie modern, wie Bruno Latour behauptet hat?2 Aber wenn wir nie modern waren, was waren wir dann die ganze Zeit? Haben wir es also mit einer Moderne zu tun, die schon längst vorbei ist, obwohl sie nie angefangen hat? Festzustellen, dass man erst im Nachhinein bemerkt, in einer Moderne gelebt zu haben, die möglicherweise nie stattgefunden hat, ist eine etwas elaboriertere Form des Treppenwitzes – der seinen Namen bekanntermaßen daher bezieht, dass einem erst auf dem Nachhauseweg von der Kneipe, erst auf der Treppe die schlagfertige Bemerkung einfällt, mit der man zum Ereignis des Abends geworden wäre. Die zweifelnden, Treppenwitze provozierenden (und produzierenden) Fragen sind mit Blick auf dasjenige, was wir als ›Moderne‹ zu bezeichnen pflegen, alles andere als neu. Seit man von ›der Moderne‹ in Form eines singularisierten Substantivs sprechen kann, damit zunächst Kunstrichtungen, sodann aktuelle Modeerscheinungen, schließlich eine ganze Epoche bezeichnen zu können meinte, seit man also ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in dieser Form von ›der Moderne‹ spricht,3 sind auch schon grundsätzliche Zweifel an diesem Konzept formuliert worden. Eine der ganz frühen, erst postum veröffentlichten Erzählungen von Alfred Döblin, die er im Alter von 18 Jahren geschrieben hat, trägt den Titel »Modern«. In diesem aus essayistischen und erzählerischen Elementen bestehenden Prosastück erwähnt Döblin ein Wortspiel, bei dem das Wort ›mo-

schen mit seiner ›Arbeit‹ im historischen Prozeß adäquat wiedergibt.« Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980, S. 156. 2

Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2002.

3

Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131; Christof Dipper, Die Epoche der Moderne. Konzeptionen und Kerngehalt, in: Ulrich Beck, Martin Mulsow (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, Berlin 2014, S. 103180; Christof Dipper, Moderne, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.01.2018, http://docupedia.de/zg/Dipper_moderne_v2_de_2018 (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2018).

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dern‹ auf unterschiedlichen Silben betont wird: »Modérn wird módern.« 4 Die Moderne moderte also schon, kaum dass sie richtig begonnen hatte. Möglicherweise ist es ja ein Indiz für das Döblin’sche Wortspiel, wenn man feststellen kann, dass diese Moderne, kaum dass sie ihrer selbst gewahr wurde, unmittelbar mit der Selbsthistorisierung begann. Diese Autoattestierung (oder sollte man sagen: Autosuggestion?) provozierte einige der Fragen, die ich bereits angedeutet habe: Seit wann sind wir modern? Was gab es vor der Moderne? Welche Formen der Vor- oder Frühmoderne lassen sich identifizieren? Um die Antworten auf solche Fragen in entsprechende Formen kleiden zu können, mag ein Stufenmodell naheliegen. Unsere Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Welt und Wirklichkeit sind nun einmal – unter anderem – dadurch bestimmt, dass wir metaphorisierend Gegenstände zu verdeutlichen suchen, die nicht anders ›anschaulich‹ zu machen sind als über solche bezugnehmenden Bilder. Die Zeit mag hier als besonders markantes Beispiel eines Phänomens dienen, dem man nicht anders denn über Verbildlichungen habhaft werden kann. Denn bekanntlich knabbert die Menschheit bereits seit einigen Jahrtausenden an der Frage herum, was die Zeit denn nun eigentlich sei. Antwortvorschläge liegen zahlreich auf dem Tisch, es gibt auch mehr als genug Bearbeitungen dieses Problems, die überzeugend wirken und auf weitgehende Akzeptanz stoßen.5 Trotzdem hört das Fragen nicht auf und scheint sich die Verwirrung nicht vertreiben zu lassen, die sich einstellt, sobald man das Phänomen der Zeit problematisiert, das vor allem deswegen zum Problem werden kann, weil es für uns üblicherweise kein Problem darstellt. Eine fast zwangsläufig gewählte und durchaus naheliegende Lösung ist die Verbindung von Zeitformen mit Raummetaphern. 6 Das liegt schon deswegen nahe, weil sich sehr viele unserer zeitlichen Einheiten von bestimmten Bewegungen im Raum ableiten lassen, seien das nun das Jahr oder der Monat – und selbst die Sekunde von Atomuhren lässt sich auf die periodische Bewegung von Atomen zwischen den Hyperfeinstrukturniveaus des Nuklids Caesium 133 zurückführen.7 Zeitbewegungen sind also gekoppelt an Raumbewegungen.

4

Alfred Döblin, Modern, in: ders.: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Frankfurt a.M. 2013, S. 537-555, hier: S. 544.

5

J. T. Fraser, Die Zeit: vertraut und fremd, Basel, Boston, Berlin 1988.

6

Das wäre zugleich ein Beispiel für eine Hintergrundmetapher, wie sie Hans Blumenberg bestimmt hat: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 2013 [1960], S. 91 f.

7

Stefan Klein, Zeit. Der Stoff aus dem das Leben ist. Eine Gebrauchsanleitung, Frankfurt a.M. 2008, S. 70.

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Derartige Raummetaphern zu verwenden, um auch andere temporale Einheiten zu beschreiben, ist durchaus naheliegend. Deswegen sprechen wir ja auch im historischen Kontext von Gesellschaften, die (angeblich) mit linearen oder mit zyklischen Zeit- und Geschichtsmodellen operieren, deswegen hantieren wir mit Epochen, also wörtlich: Haltepunkten zwischen größeren historischen Einheiten, deswegen können wir Veränderungen beschreiben als Fortschritt (bei dem etwas zu schreiten scheint) oder als Entwicklung (bei der sich wohl ein Faden abwickelt), deswegen erscheint es uns plausibel von Zeiträumen ebenso zu sprechen wie von (Einstein’schen) Raumzeiten, deswegen konnte Michail Bachtin seine Chronotopoi8 entwerfen und deswegen besitzen historische Schichtungsmodelle ihre eigene Plausibilität, wie Braudels übereinander lagernden drei Formen der Dauer9 oder Kosellecks Zeitschichten10. Und selbstredend können auch historische Stufenmodelle auf eine lange Tradition zurückblicken.11 Ich kann (und will) die ganze Fülle vorhandener Kulturstufenmodelle an dieser Stelle überhaupt nicht nennen, möchte mich vielmehr auf einige exemplarische Nennungen beschränken, mit denen die große Bedeutung solcher Entwicklungsschemata insbesondere im Zusammenhang aufklärerischer Diskussionen zumindest angedeutet sei. Giambattista Vico (1668-1744) will in seinem Hauptwerk über die ›Neue Wissenschaft‹, den Principj di scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni, erstmals 1725 erschienen und in wesentlich erweiterter dritter Auflage 1744 publiziert, den Plan einer göttlich vorherbestimmten Geschichte offenbaren, um so die Geschichte der Menschheit wissenschaftlich zu begründen. Neben der erkenntnistheoretischen Voraussetzung des verum-factumPrinzips entwirft er zur Erreichung dieses Ziels ein Stufenmodell, das es ermöglichen soll, Grundprinzipien in der Transformation der unterschiedlichen ›Völker‹ zu erkennen. Nicht gar so überraschend ist diese Entwicklung bestimmt von einer Zunahme an Rationalität und Humanität. Vico identifiziert die drei Kultur8

Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a.M. 2008.

9

Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Marc Bloch u. a. (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a.M. 1977, S. 47-85.

10 Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2003. Vgl. auch Erich Landsteiner, Epochen, Stufen, Zeiten. Vom historistischen Epochenschema zu Fernand Braudels Dialektik sozialer Zeitabläufe, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1 (2001) Heft 2, S. 17-37. 11 Vgl. Peter Martin, Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg 2001, S. 273-277; Lynn Hunt, Measuring time, making history. Budapest, New York 2008, S. 57-65.

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stufen des theokratischen, heroischen und menschlichen Zeitalters, jeweils geprägt durch typische Herrschafts-, Rechts- und Sprachformen.12 Eine gewisse Spannung lässt sich ablesen an Voltaires kulturhistorischgeschichtsphilosophischem Konzept, das einerseits zwar programmatisch außereuropäische Räume mit in seine Geschichte der Menschheit einbezieht (insbesondere im Essai sur les moeurs et l’ésprit des nations, 1756), andererseits aber doch wieder ein eurozentrisches Stufenmodell entwickelt. Darin werden vier kulturelle Blütezeiten bestimmt, in denen sich hohe intellektuelle Produktivität mit günstigen sozialen und politischen Rahmenbedingungen verbinden. Voltaire macht vier solcher Phasen aus: Griechenland unter Perikles und Alexander dem Großen, Rom unter Caesar und Augustus, Florenz unter den Medici und Frankreich unter Ludwig XIV.13 In eine ähnliche Falle scheint Johann Gottfried Herder in seinem geschichtsphilosophischen Frühwerk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit zu tappen. Auch er propagiert einen universalhistorischen Ansatz, schreitet aber dann die durchaus bekannten Kulturstufen ab von einer idealisierten Schäferwelt über die Ägypter, Phönizier, Griechen, Römer und Germanen bis zur Reformation als Anbruch seiner eigenen historischen Gegenwart. Und auch wenn seine Darstellung in einen für Herder durchaus typischen, beißenden Spott über die Überheblichkeit der Aufklärung mündet, so gelingt es doch auch ihm nicht, den Fängen einer eurozentrischen Universalisierung zu entkommen, die immer schon ausgelegt zu sein scheinen. 14 Johann Christoph Adelung (1732-1806) hat 1782 den Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts vorgelegt, in dem auch er – es wird nun schon beinahe zu einer gewissen aufklärerischen Gewohnheit – ein Kulturstufenmodell aufstellt, das in seinem Fall acht Phasen aufweist. Adelung lässt in seinem universalhistorischen Ansatz die auch hier wieder sehr europäisch geratene Menschheit von einem ›barbarischen‹ zu einem ›gesitteten‹ Zustand fortschreiten. Phase eins reicht vom Ursprung der Menschheit bis zur Sintflut, die zweite Phase erstreckt sich bis Moses, eine dritte Phase findet ihren Ein12 Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744, 2. Aufl. Berlin, New York 2000, S. 346-398. 13 Voltaire, Siècle de Louis XIV, Bd. 1 (Oeuvres complètes de Voltaire, Bd. 14), Paris 1878 [1751] S. 155 f. 14 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts, hg. v. Hans-Dietrich Irmscher, Stuttgart 1990 [1774]. Vgl. auch Ralph Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995.

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schnitt in der griechischen Antike, die vierte Phase dehnt sich bis Christi Geburt, die fünfte bis zur Völkerwanderung, die sechste bis zu den Kreuzzügen, die siebte bis in das 16. Jahrhundert, das Adelung in gut protestantischer Tradition mit der »völligen Aufklärung« identifiziert, und die achte Phase währt schließlich seit diesem 16. Jahrhundert bis zu seiner eigenen Gegenwart. Im Gegensatz zum kritischen Herder sieht Adelung diese letzte Entwicklungsstufe als durchaus glänzendste an.15 Solche Kulturstufenmodelle des 18. Jahrhunderts behalten mitsamt ihren die historische Zeit metaphorisierenden Auswirkungen auch während des 19. und 20. Jahrhunderts ihre Wirksamkeit. Oswald Spenglers »Morphologie der Weltgeschichte« schließt hieran beispielsweise an, wenn auch mit einer unübersehbaren kulturpessimistischen Grundtendenz, die ja schließlich münden soll im »Untergang des Abendlandes«.16 Die ganze Breite kulturgestufter Abhandlungen ist damit allerhöchstens angedeutet. Auch im frühen 21. Jahrhundert sind sie nicht ausgestorben, zeichnen sich nun aber eher durch geographische Bescheidenheit aus. Im Gegensatz zu vielen der Vorläufer wird nun nicht mehr so getan, als sei das Europäische automatisch das Universale. Ansonsten haben sich die Modelle im Grundsatz nur wenig verändert. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Silvio Vietta hat 2005 eine Europäische Kulturgeschichte vorgelegt, die neben vielen anderen Facetten auch das Modell einer kulturhistorischen Entwicklung Europas enthält. Transformationen des europäischen Kontinents sollen demnach in ihrer Gesamtheit geprägt gewesen sein durch bestimmte »Leitsysteme«, die ihrerseits wieder unter der »Schirmherrschaft von Leitkodierungen« stehen.17 Unter Leitkodierungen versteht Vietta Ideen, welche die Leitsysteme inhaltlich und methodisch steuern. Daraus ergibt sich eine Abfolge von Kulturepochen, welche die kulturhistorische Entwicklung Europas in aller Kürze wiedergeben soll: Auf eine mythisch-urgeschichtliche Zeit (bis ca. 6. Jh. v. Chr., Leitkodierung Mythos) folgt die griechische Antike (ca. 6. Jh. v. Chr. bis ca. 4. Jh. v. Chr., Leitkodierung Logos). Die dritte Epoche ist geprägt durch die römi15 Johann Christoph Adelung, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1782 (http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn :nbn:de:bvb:12-bsb10446029-1, zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2018). 16 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bde., Wien 1918, München 1922. Zur zeitgenössischen Kritik an Spengler und seines Kulturstufenmodells vgl. Otto Neurath, Anti-Spengler, in: ders.: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 1, hg. v. Rudolf Haller u. Heiner Rutte, Wien 1981, S. 139-196 [1921]. 17 Silvio Vietta, Silvio, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München 2005, S. 42.

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sche Antike (ca. 3. Jh. v. Chr. bis 476 n. Chr., Leitkodierung imperiale Macht Roms), gefolgt vom christlichen Mittelalter (ca. 5. Jh. bis ca. 1500, Leitkodierung christliche Offenbarungsreligion) und schließlich von der Neuzeit (seit ca. 1500, Leitkodierung des wissenschaftlich-rationalistischen Logos).18 Auch wenn Vietta versucht, das Vokabular seiner Modellierung systemtheoretisch-medienwissenschaftlich aufzufrischen, so mutet das Ergebnis doch wenig überraschend, um nicht zu sagen: recht altbacken an. Wir haben es hier, wie in den meisten anderen Fällen solcher Kulturstufenmodelle auch, mit einer entwicklungslogischen, modernisierungstheoretischen und nicht zuletzt linearen Narration zu tun, die allem Geschehenen eine Zwangsläufigkeit, wenn nicht gar eine Vorherbestimmung unterstellt. Es dürfte deutlich sein, dass dies alles andere als eine systematische, vielmehr eine eher akzidentiell zustande gekommene Reihung von Kulturstufenmodellen ist, die mir zumeist durch mehr oder minder zufällige Lektüreerfahrungen zugefallen ist. Ein Überblick über derartige Verlaufsmodelle, der den Namen eines Überblicks tatsächlich verdiente, müsste möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, dass wir es ob der zahlreichen Kulturstufen geradezu mit einer Stufenkultur zu tun haben. Die Zeit stufenweise zu metaphorisieren, scheint zumindest einen recht hohen Plausibilitätsgrad für sich verbuchen zu können. Und habe ich etwas anderes gemacht, wenn ich selbst in mehr oder minder strenger Chronologie die Stufen all der Kulturstufenmodelle hinaufgeschritten bin, nur um schließlich – Wunder über Wunder! – in der Gegenwart anzulangen? Die immer wieder aufscheinende Frage bei solchen Skalierungen ist also, ob wir die bereits vorfindliche Treppe nur noch angemessen beschreiten müssen oder ob wir sie als solche erst erkennen, nachdem wir sie beschritten haben. Stufenmodelle rufen also Schwierigkeiten hervor – und zwar, weil sie mit ihrer Verbildlichung ganz spezifische Sinnangebote machen. So muss es bei jeder Treppe eine erste, eine unterste Stufe geben, von der aus man den Anstieg zu bewältigen hat oder auf die man zurückfallen kann. Des Weiteren: Wo war denn das Treppengebäude, bevor es als solches erkannt und benutzt wurde? Entstand es vielleicht erst, als man es als solches beschrieb (und beschritt)? Und schließlich muss es als schwierig erscheinen, dass es sich offenbar immer nur um eine Treppe handeln soll: um ›die Geschichte‹, um ›den historischen Prozess‹, um den Kollektivsingular Geschichte. Diese Singularisierung des Historischen zu der einen ›Geschichte‹ ist deswegen problematisch, weil sie dazu einlädt, andere Pfade, die man auf dieser vermeintlichen Treppe gehen könnte, oder ganz andere Treppen, die daneben existieren, oder überhaupt gänzlich andere, nicht treppenartige Verständnisse von Transformationen einem angeblich universalen Norma18 Ebd., S. 41-47.

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lisierungsmodell zu unterwerfen. Und das wäre doch recht schade. Was daher in unterschiedlichen Stufenmodellen letztlich immer wieder entworfen wird, ist eine »Rolltreppe der abnehmenden Gleichzeitigkeit. Auf ihren Kulturstufen, außer der jeweils obersten selbstverständlich, sind ungleichzeitige Zeitgenossen versammelt, nach unten immer unmodernere Menschen, Erscheinungen einer überholten Vergangenheit […].«19

MODERNISIERUNGSSKALA Nun muss ich an dieser Stelle kein Plädoyer dafür halten, dass sich in Heinz Dieter Kittsteiners Stufen der Moderne viele der von mir angedeuteten Probleme solcher Modellierungen ausdrücklich nicht finden, einfach schon deswegen, weil er sich vieler der damit verbundenen Schwierigkeiten in hohem Maße bewusst war. Und ich vermute, dass genau aufgrund dieser Problemreflexion Kittsteiners Modell für eine Erzählung über die Moderne und ihre Gestuftheit zumindest in Teilen durchaus paradoxale Formen annimmt. Denn die Abfolge einer Stabilisierungsmoderne (1618-1780), einer evolutiven Moderne bzw. Fortschrittsmoderne (1780-1880) und einer heroischen Moderne (1880-1945)20 soll laut Kittsteiner gerade nicht mit einem Telos verbunden werden,21 obwohl er sich der Tatsache bewusst gewesen sein muss, dass gerade die Metapher der Stufen genau zu einer solchen teleologischen Deutung einlädt.22 Diese Abfolge will sich auch nicht in

19 Wolf Schäfer, Ungleichzeitigkeit als Ideologie. Beiträge zur historischen Aufklärung, Frankfurt a.M. 1994, S. 146. Vgl. auch Ludolf Herbst, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004, S. 117-119. 20 Kittsteiners Stufen der Moderne haben in den von ihm veröffentlichten Texten immer wieder umformulierte epochale Zuschnitte und veränderte Begrifflichkeiten erfahren. Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 25-57; Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715, München 2010, S. 23-33. 21 Vgl. dazu auch Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand (wie Anm. 1), S. 3444. Eine solche explizit nicht-teleologische Theorie beziehungsweise Geschichtsphilosophie strebt Kittsteiner auch mit Blick auf das Geschichtszeichen an: Kittsteiner: Wir werden gelebt (wie Anm. 20), S. 82. 22 Dass er sich von einer Teleologie nicht ganz freimachen kann, wird deutlich, wenn Kittsteiner von einer »Subgeschichte Europas« spricht, die sich in den Stufen der Moderne offenbare: »Sie führt von der Ordnung im 17. und 18. Jahrhundert zum Aufstieg

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die Tradition der großen Erzählungen einordnen, deren Verabschiedung Kittsteiner zur Kenntnis nimmt, will aber trotzdem in großen Zusammenhängen erzählen. Und sie will die Stufen (alternativ von Kittsteiner auch ›Schichten‹ genannt) nicht als Formationen begreifen, die in sich abgeschlossen sind, sondern die sich gegenseitig durchdringen, so dass ältere Probleme auch in jüngeren Stufen immer wieder auftauchen,23 obwohl die Vorstellungen von Stufen oder Schichten eine solche Abgeschlossenheit nahezu zwangsläufig evozieren müssen. Ähnlich wie Kittsteiner es unternommen hat, eine Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie zu betreiben,24 versucht er auch einen historischen Überblick über die deutsch-europäische Geschichte zu gewinnen, von dem er selbst sagt, dass dieser Überblick überhaupt nicht mehr gewonnen werden kann. 25 Die Kurzformel hierfür lautet: »Eine historische Entwicklung ist überhaupt nicht zu übersehen, andererseits läuft sie nicht auf ein geschichtsphilosophisch zu bestimmendes ›Ziel‹ hinaus und ist in diesem Sinne nicht teleologisch. Erstrebenswert erscheint mir eine neue ›große Erzählung‹, die sich in den teleologischen Fallstricken der alten nicht mehr verfängt.« 26

Ich werde an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung inhaltlicher Aspekte der Stufen der Moderne verzichten.27 Man muss sich jedoch vor Augen und Zenit im 19. Jahrhundert und zum Niedergang im 20. Jahrhundert.« Kittsteiner: Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 20), S. 25. 23 Am ehesten scheint diese gegenseitige Durchdringung bei der Beschreibung von Fortschrittsmoderne und Heroischer Moderne zu gelingen. Demnach leben wir seit dem 19. Jahrhundert in einer Fortschrittsmoderne, von der sich die heroische Moderne gar nicht als eigenständige Formation abgrenzt, sondern eine zivilisationskritische Reaktion auf die Fortschrittsbewegung darstellt: Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 20), S. 26. 24 Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. 1998, S. 10 f. 25 Kittsteiner: Wir werden gelebt (wie Anm. 20), S. 32 f. 26 Ebd., S. 33. 27 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, in: Johannes Rohbeck, Herta NaglDocekal (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 91-117; Heinz Dieter Kittsteiner, Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004, S. 13-17, S. 120125; Heinz Dieter Kittsteiner, Die Generationen der »Heroischen Moderne«. Zur kollektiven Verständigung über eine Grundaufgabe, in: Ulrike Jureit, Michael Wildt (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg

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halten, wie Kittsteiner in seinem Modell die symbolische Form von Ernst Cassirer und das Begriffspaar von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont von Reinhart Koselleck miteinander amalgamiert hat, um daraus einen Epochenbegriff zu formen, der sowohl objektiv vorgegeben als auch subjektivistisch konstruiert ist.28 Für jede Epoche lässt sich demnach nicht nur die Vorherrschaft spezifischer Symbole nachweisen, sondern Kittsteiners Epochengliederung organisiert sich »nach den symbolischen Formen des Verhältnisses der Menschen zur historischen Zeit.«29 Genau darin sieht er eine wesentliche Aufgabe einer geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte, nämlich nicht »eine substanzhafte ›Identität‹ als Wurzel einer Kultur freizulegen«, sondern zu fragen, »was sich welche Zeiten als ihre ›gemeinsame Grundaufgabe‹ gestellt haben.«30 In der ersten der von ihm identifizierten Stufen der Moderne besteht diese gemeinsame Grundaufgabe darin, Stabilisierung in einer als krisenhaft erfahrenen Zeit sicherzustellen; auf der zweiten Stufe weichen diese Stabilisierungsbestrebungen einer dynamischen Auffassung des historischen Prozesses; und auf der dritten Stufe wird die Idee eines obwaltenden Plans in der Geschichte aufgegeben zugunsten der Idee, dass es gewaltige Helden seien, die den historischen Prozess bestimmten.31 Aber selbst wenn Kittsteiner diverse Probleme klar vor Augen standen, die sich mit dem Begriff der Moderne und ihrer gestuften Modellierung ergeben, kommt man doch nicht umhin, einige zweifelnde Fragen zu stellen. An erster Stelle: Wenn Kittsteiner schon die teleologischen Fallstricke der Stufenmetapher erkannt hat, warum hat er sie dann trotzdem verwendet? Wenn schon von Stufen die Rede ist, dann muss man auch die dazugehörige Treppe in Kauf nehmen, die nicht nur durch einen Anfang und ein Ende, sondern auch durch eine Richtung samt einem Oben und einem Unten konstituiert wird. Und einen Anfang hat Kittsteiner ja – aber warum diesen? Warum lässt er die Moderne in seinen frühen 2005, S. 200-219, S. 204-206; Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), »Geschichte durch Geschichte überwinden«. Ernst Troeltisch in Berlin, Gütersloh 2006, S. 21-47, S. 38-44; Heinz Dieter Kittsteiner, Europa. Anmerkungen zur Genese eines rastlosen Kontinents, in: Timm Beichelt u. a. (Hg.), Europa-Studien. Eine Einführung, 2. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 35-51. 28 Kittsteiner, Wir werden gelebt (wie Anm. 20), S. 9-11, S. 90-96. 29 Ebd., S. 29. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 34-53. Ich darf an dieser Stelle anführen, dass es insbesondere die heroische Moderne gewesen wäre, deren genauere Ausformulierung mich interessiert hätte, weil mir hier Kittsteiners Deutungsangebot überzeugend zu sein scheint. Leider kam Kittsteiner vor seinem Tod nicht über einige Skizzen hinaus.

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Entwürfen in der Mitte des 17. Jahrhunderts beziehungsweise im Buch zur Stabilisierungsmoderne dann mit dem Jahr 1618 beginnen? Was befindet sich vor diesem Urknall der Moderne? Die unendlichen Weiten der Vormoderne? 32 Könnte man nicht auch für Buchdruck, europäische Expansion und Reformation um 1500 plädieren, vielleicht mit dem Ausdruck einer Differenzierungsmoderne? Oder wie wäre es mit der Renaissance als einer Die-Vergangenheit-ist-dieZukunft-Moderne (wahlweise auch einer Individualisierungsmoderne)? Oder muss uns nicht die europäische Geschichte ab der Mitte des 14. Jahrhunderts in gewisser Hinsicht besonders nah anmuten, da sich in der Folge des Schwarzen Todes von einer Destabilisierungsmoderne sprechen ließe? Oder wie wäre es mit Einschnitten um 1200 oder auch um 800? Haben wir es nicht schon hier mit den sogenannten Renaissancen des 12. Jahrhunderts beziehungsweise der karolingischen Zeit mit Universalisierungs- oder Stabilisierungsmodernen zu tun? Und wo befinden sich in Kittsteiners Modell die anderen, diejenigen, die in seiner deutsch-europäischen Geschichte nicht vorkommen? Sind sie nicht Bestandteil dieser Moderne? Oder einer anderen Moderne? Oder stehen sie ganz außerhalb dieses Moderne-Konzepts? Aber dann würde sich erst recht die Frage aufdrängen, welchen epochalen Zustand wir ihnen zuschreiben können und wollen. Diese vielleicht nicht ganz ernst gemeinten Vorschläge könnten recht schnell durch das treffende Argument ausgehebelt werden, dass sich in diesen angeblichen Modernen viel zu viel Unmodernes vorfinden lasse. Gegenargument: Gilt das nicht auch für alle späteren Modernen, in denen die Annahmen einer eher überschaubaren Gruppe von Ausnahmen zu normgebenden Regeln erhoben wurden? Welchen Stellenwert lassen wir all den gegenläufigen Tendenzen zukommen, die sich nicht diesen Modernen unterordnen lassen? Begeht man mit all diesen Bestimmungen der Moderne nicht immer wieder die gleichen Fehler, die entsprechende Etikettierungen inzwischen eigentlich unrettbar verloren gemacht haben? (Und halten wir nicht nur noch aus einer Mischung aus Bequemlichkeit und Alternativlosigkeit daran fest?) Warum wird man das fatale Gefühl nicht los, dass jede Beschreibung der Moderne immer noch und immer wieder den Lapsus begeht, den europäisch-provinziellen Ursprungsort dieser Selbstbeschreibung geflissentlich zu übersehen, um eben diese Selbstbeschreibung flugs zu universalisieren? Wiederholen wir damit nicht einfach die Wahrheiten der 32 Zur verhältnismäßig jungen Konjunktur des Begriffs ›Vormoderne‹ vgl. Thomas Kohl, Steffen Patzold, Vormoderne – Moderne – Postmoderne? Überlegungen zu aktuellen Periodisierungen in der Geschichtswissenschaft, in: Thomas Kühtreiber, Gabriele Schichta (Hg.), Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung, Heidelberg 2016, S. 23-42.

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Herrschenden, bei denen wir gar nicht mehr merken, wie partikular und situiert sie sind, weil man sich üblicherweise nicht rechtfertigen muss (oder sich erst in jüngster Zeit rechtfertigen muss) für die Zugehörigkeit zu einer europäischwestlichen, weißen, männlichen, heterosexuellen und eben auch modernen Minderheit – während alle anderen Minderheiten (bei denen es sich um quantitative Mehrheiten handelt) permanent darauf verwiesen werden, sich für ihre Situation oder Haltung rechtfertigen zu sollen?33 Sind dann also vor allem diejenigen modern, die uns selbst auf die eine oder andere Weise noch halbwegs nahe sind, während alle anderen umstandslos der Vormoderne zugeschlagen werden können (selbstredend mit der notorischen Ausnahme derjenigen, denen wir attestieren, entweder zeitlos oder Teil einer Avantgarde und damit ›ihrer Zeit voraus‹ zu sein – die also Anteil an unserer Gegenwart und unserer Moderne haben)? Betreiben wir dann aber nicht auf einer temporalen Ebene immer noch fröhlich und ohne größere Bedenken etwas, das wir uns in räumlicher Hinsicht schon längst verboten (wenn auch noch nicht praktisch abgestellt) haben – nämlich einen eurozentrischen Kolonialismus, der sich nun auch über die eigene frühere Andersartigkeit hermacht (und die Andersartigkeit der Anderen ohnehin), diese Andersartigkeit als Nicht-Jetzt ausbeutet, um sich daraus eine Identität der Modernen zu basteln? Heißt eine solche fortgesetzte Form des historischen Kolonialismus nicht vor allem, dass die Gegenwärtigen oder gar ›Modernen‹ den anderen vorhalten, wie sie hätten sein können, wenn auch sie am ›richtigen‹ Ende des historischen Prozesses stehen würden? Hat dann die ›Vormoderne‹ in ihrer Gesamtheit nicht die Funktion des ›Wilden‹ zu übernehmen, hat sie nicht den ›Zivilisierten‹ respektive den ›Modernen‹ als Negativspiegel zu dienen, in dem sich das eigene Selbstbild entwerfen lässt?34 Läuft das Ganze nicht darauf hinaus, dass sich diese westlich-europäischen Modernen zwar nicht mehr als Zentrum der Welt, aber immer noch als Speerspitze der Entwicklung (und zwar jeglicher Entwicklung) ansehen können, getreu dem Motto: Wo wir sind, ist vorne? Und finden sich die Schwierigkeiten, die man mit dem Moderne-Konzept haben kann, nicht auch noch in Alternativentwürfen wie der reflexiven Moderne35 oder den multiplen Modernen36 oder noch anders gearteten Formatierungen dieser Epoche, weil all diese 33 Donna Haraway, Situated knowledges. The science question in feminism and the privilege of partial perspective, in: Feminist Studies 14 (1988), S. 575-599; Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, 2. Aufl. Berlin 2016, S. 92. 34 Johannes Fabian, Time and the other. How anthropology makes its object, New York 1983. 35 Ulrich Beck, Wolfgang Bonß, (Hg.): Die Modernisierung der Moderne, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2009. 36 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple modernities, in: Daedalus 129 (2000), S. 1-29.

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Ansätze zwar versuchen, Schwierigkeiten der gewissermaßen ›reinen Moderne‹ nicht zu wiederholen, indem sie dieses Konzept revidieren oder multiplizieren oder alternieren, damit aber den Geburtsfehler des Moderne-Konzepts weiterhin mit sich herumtragen, nämlich auf einem bestimmten temporalen Modell aufzuruhen? Hat nicht gerade Jean-François Lyotard dieses Problem messerscharf erkannt, als er in seinem Buch Der Widerstreit (Le différend) auf seine eigene These vom Ende der großen Erzählungen,37 dieser confessio der Postmoderne, zurückblickte und bemerkte, dass ohne Frage auch dieses Ende der großen Erzählungen bereits wieder eine große Erzählung sei? 38 Und wenn das stimmt, ist dann möglicherweise nicht die Größe, sondern eher die Erzählweise das echte Problem der Moderne? Die Grundlage für Kittsteiners Stufenmodell ist in seiner Überzeugung, vielleicht sogar in seinem geradezu als Kampf zu bezeichnenden Bemühen zu sehen, an der ›Einheit der Geschichte‹ festzuhalten. Dass eine solche ›Einheit der Geschichte‹ für Kittsteiner nicht verhandelbar war, hat er in verschiedenen Veröffentlichungen immer wieder betont.39 Er richtete sich dabei explizit gegen eine so genannte Postmoderne, der er attestierte, für Fragmentierung, Zersplitterung und Dissonanz verantwortlich zu sein und damit eben diese Einheit der Geschichte zu gefährden. Die Konsequenzen solcher postmodernen Angriffe lagen nach seinem Dafürhalten nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene: »Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß die Jahre der ›Postmoderne‹ mit ihrem Beharren auf dem Recht der Dissonanz zugleich die Jahre des Zunehmens diffuser Gewalt waren und sind. Denn wer mutwillig die Einheit der Geschichte der Menschheit zerschlägt, angeblich um sie von erdrückenden universalistischen Normen zu befreien, der liefert sie dem Streit der friedensunfähigen Gruppengedächtnisse aus.«40

37 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 4. Aufl. Wien 1999. 38 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, 2. Aufl. München 1989, S. 226. 39 Unter anderem sind solche Argumente zu finden in: Heinz Dieter Kittsteiner, Einheit im Pluralismus: Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden?, in: Evelyn Schulz, Wolfgang Sonne (Hg.), Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, Zürich 1999, S. 41-86; Heinz Dieter Kittsteiner, Gegen die postmoderne Fragmentierung der Geschichte – für eine neue »große Erzählung«. Thesen, in: Divinatio 13 (2001), S. 91-106; Kittsteiner: Out of Control (wie Anm. 27), S. 47 f. 40 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Rückkehr der Geschichte und die Zeit der Erzählung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 27 (2002), S. 185207, S. 195.

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Vor dem Hintergrund solcher Überzeugungen sich aufzumachen, um eben dieser Einheit der Geschichte wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und daraus ein nichtteleologisches Stufenmodell der Moderne abzuleiten, mag sinnvoll erscheinen. Allerdings wird Kittsteiners Argumentation dadurch nicht von der Frage verschont, wer oder was denn dazu in der Lage sein soll, eine ›Einheit der Geschichte‹ festzulegen. Von welcher Warte, nach welchen Prinzipien, vor welchem kulturellen oder institutionellen Hintergrund soll eine solche Einheitlichkeit festgestellt werden – wenn man sich nicht der fahrlässigen Naivität schuldig machen will, eine Uniformität des Historischen als selbstverständlich oder gar natürlich vorauszusetzen? Schließlich ist jeder Voraussetzung bereits eine frühere Setzung vorangegangen. Im Fall der ›Einheit der Geschichte‹ muss man nach einer solchen Setzung auch gar nicht lange suchen, denn allein schon von ›Geschichte‹ im kollektivsingularischen Sinn zu sprechen, ist höchst voraussetzungsreich.41 Diese ›Geschichte‹ ist nicht nur ein europäisch-westliches Produkt, sondern kann in der genannten Form gerade einmal auf ›eine Geschichte‹ von knapp zweieinhalb Jahrhunderten zurückblicken. (Hält damit bereits die postmoderne Auflösung von Universalismen ihren Einzug?). Wenn man dann aber die ›Einheit der Geschichte‹ als angeblich voraussetzungslose Voraussetzung propagiert, muss das nicht im Umkehrschluss heißen, gegen die fragmentarische Perspektivierung einen hegemonialen Zentralismus zu setzen, der im Zweifelsfall westlicher Provenienz ist und alle anderen der Unbedarftheit oder Belanglosigkeit zeiht?

ZWISCHENSTUFE Man kann von Stufen und Treppen auch anders erzählen. Diese Skalierungen können, sieht man etwas genauer hin, so weitaus komplexer und verworrener sein, als eine spontane Vermutung das nahezulegen scheint. Vertrauen wir uns für einen Moment einem ausgewiesenen Kenner dieser Thematik an: Heimito von Doderer hat in dem Roman Die Strudlhofstiege eine Treppe verewigt, die im 9. Wiener Bezirk das Gefälle zwischen Strudlhofgasse und Liechtensteinstraße überwindet. Und was Melzer, die zentrale Figur in Doderers Roman, in dieser Treppenanlage erblickt, ist weit mehr als eine bloße Stufenschichtung. Melzer

41 Zum Kollektivsingular natürlich immer noch Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, zum Beispiel S. 5056, S. 262-265.

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»betrachtete das Werk […] zum ersten Mal mit ein wenig Aufmerksamkeit und trennte sich so innerlich von einer endlosen Reihe der Passanten, die täglich unter ihre Füße treten, was sie eben darum nie gesehen. Als eine Gliederung des jähen und also seine Natur nach stumpfen und brüsken Terrain-Abfalles wuchs es empor oder kam es eigentlich herab, dessen unausführliche und also beinahe nichtssagend-allzufertige Aussage nun in zahlreiche anmutige Wendungen zerlegend, an denen entlang der Blick nicht mehr kurz ab und herunter glitt, sondern langsam fiel wie ein schaukelndes und zögerndes Herbstblatt. Hier wurde mehr als wortbar, nämlich schaubar deutlich, daß jeder Weg und jeder Pfad (und auch im unsrigen Garten) mehr ist als eine Verbindung zweier Punkte, deren einen man verläßt, um den anderen zu erreichen, sondern eigenen Wesens, und auch mehr als seine Richtung, die ihn nur absteckt, ein Vorwand, der versinken kann noch bei währendem Gehen. […] dort oben schwang sich der Abgang zur ersten Rampe herein, würdig und ausholend in den baumreichen Hang, mit flachen, nicht mit steilen, eiligen, mühseligen Treppen. Hier war empor zu schreiten, hier mußte man herunter gezogen kommen, nicht geschwind hinauf oder herab steigen über die Hühnerleiter formloser Zwecke. Die Stiegen lagen da für jedermann, für’s selbstgenuge Pack und Gesindel, aber ihr Bau war bestimmt, sich dem Schritt des Schicksals vorzubereiten, welcher nicht geharnischten Fußes immer gesetzt werden muß, sondern oft fast lautlos auf den leichtesten Sohlen tritt, und in Atlasschuhen, oder mit den Trippelschrittchen eines baren armen Herzens, das tickenden Schlags auf seinen Füßlein läuft, auf winzigen bloßen Herzfüßlein und in seiner Not: auch ihm geben die Stiegen, mit Prunk herabkaskadierend, das Geleit, und sie sind immer da, und sie ermüden nie uns zu sagen, daß jeder Weg seine eigene Würde hat und auf jeden Fall immer mehr ist als das Ziel. Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor.«42

In der Architektur dieser Treppe und in den Begebnissen, die sich auf der Strudlhofstiege abspielen, offenbart sich also weit mehr als ein schlichtes Auf-und-Ab, weit mehr als ein strebsam-eindeutiges Von-Hier-nach-Dort. Die Verworrenheit, die Vielfalt und die Eigentümlichkeiten der vielen Lebenswege und Geschichten, die auf und mit dieser Stiege vollzogen werden, hüllt Doderer in eine nicht minder vertrackte Syntax, die mäandert und sich ineinander verschlingt, so dass sich dank all dieser sprachlichen ›Verstiegenheiten‹ am Ende nicht mehr sagen lässt, wo sich das Oben und das Unten dieser vermeintlich eindeutigen Konstruktion namens Treppe befindet. Die Botschaft, indes, scheint eindeutig. So wie wir alle unsere jeweils eigenen Wege über die Strudlhofstiege finden, so müssen wir auch unsere eigenen Lebenswege beschreiten und müssen die Vielfalt möglicher 42 Heimito v. Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, München 2002 [1951], S. 318 f.

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Geschichten in ›der Geschichte‹ hervorheben. Doderers darstellerische Art, die Strudlhofstiege in die Seiten seines Romans hineinranken und herumwinden zu lassen, machen aus dieser Treppe ein M.C. Escher-artiges Möbiusband. Wir alle ergehen uns auf ihren Stufen jeweils anders und machen somit unsere eigene Strudlhofstiege:43 »[…] wenn ein Gang hier zur Diktion wird auf diesen Bühnen übereinander, und der würde-verlustige Mensch nun geradezu gezwungen scheint, sein Herabkommen doch ausführlicher vorzutragen trotz aller Herabgekommenheit: so ist damit der tiefste Wille des Meisters der Stiegen erfüllt, nämlich Mitbürgern und Nachfahren die Köstlichkeit all‘ ihrer Wegstücke in allen ihren Tagen auseinanderzulegen und vorzutragen […].«44

Wenn sich die »Köstlichkeit« all dieser »Wegstücke« schon beim Blick auf eine städtische Treppenanlage offenbart, um wie viel komplexer müssen sich erst die Stufen und Wege erweisen, die sich Menschen in all ihren individuellen und kollektiven Formen durch die Zeit bahnen? Angeleitet von Heimito von Doderer lässt sich der Versuch unternehmen, eine andere Beschreibung der Treppen und Stufen, der Zeiten und Veränderungen, der Bewegungen und Vorgehensweisen zu wagen. Es ginge dann nicht mehr darum, sich zu fragen, wie denn die historischen Stufen im Einzelnen ausgestaltet waren oder wie man sich die Aufwärts- und Abwärtsbewegungen darauf vorzustellen hat, sondern es gilt die Treppe an sich in Frage zu stellen. Mit Blick auf Kittsteiners Geschichtsphilosophie habe ich nicht nur das Problem, dass sie immer noch Philosophie sein will (wenn auch eine nach der Geschichtsphilosophie), sondern dass sie auch immer noch mit einem hegelianisch angeleiteten Verständnis von Geschichte hantiert. In einer prägnanten Formulierung schreibt Kittsteiner: »Die Geschichte besteht nicht aus einer Aneinanderreihung von Geschichten, sondern jenseits des Aktions- und Leidensraumes der Handelnden entsteht überhaupt erst ›die Geschichte‹, ein Prozess, der von keinem der Akteure so gewollt worden ist, wie er sich dann zugetragen hat. Die Geschichte entsteht unbewusst, und zugleich ist sie der machthabende Hintergrund, vor dem das begrenzte Leben der Menschen sich abspult. Wir sind Gefangene unserer Zeit; sie teilt uns zu, was wir erleben durften oder erfahren mussten, aber auch, was uns erspart geblieben ist. Jede Generation klebt angekettet an ihre Epoche.«45 43 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Michel de Certeau über die Rhetorik des Gehens: Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 188-197. 44 Doderer, Die Strudlhofstiege (wie Anm. 42), S. 319. 45 Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne (wie Anm. 20), S. 28 (Hervorhebungen im Original).

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Das ist der Punkt, an dem es möglicherweise nicht einfach nur um unterschiedliche Auffassungen von ›Moderne‹ geht, sondern an dem unterschiedliche Weltbilder, oder besser: Geschichtsbilder aufeinandertreffen. Es geht also nicht mehr einfach nur um das bessere Argument, es geht um die Darlegung jeweils unterschiedlicher Überzeugungen. Was mich an Kittsteiners Verständnis von ›der Geschichte‹ zu stören vermag, ist zum einen, dass sie in altbekannter Manier als Kollektivsingular daherkommt, also letztlich als übermenschlicher Superprozess, fast wie ein Ding aus einer anderen Welt oder einer anderen Zeit (obwohl gerade das keinen Sinn ergeben würde), das – in den Worten Kittsteiners – uns etwas zuteilt. Erst mit historischen (vielleicht auch erst mit geschichtsphilosophischen) Mitteln soll dann wohl etwas erkennbar werden, das sich zugleich unbewusst vollzieht und zum machthabenden Hintergrund wird. Stehen dann aber die Nachgeborenen, die diese alles zermalmende Dampfwalze namens ›Geschichte‹ rückblickend einer Betrachtung unterziehen, außerhalb der Geschichte? Sie müssten es eigentlich, um erkennen zu können, wie sich dieser Prozess vollzieht, der doch eigentlich nicht erkennbar ist. Tatsächlich können sie aber schwerlich außerhalb dieser ›Geschichte‹ stehen, weil ihnen selbst ja von den ihnen folgenden Nachgeborenen in die Gräber hinterhergerufen wird, was sich alles im Hintergrund ihres begrenzten Lebens abgespielt hat, wie sie in ihrer Zeit gefangen waren und wie die Ketten aussahen, mit denen sie ihrer Epoche anhafteten. Neben dieser theoretischen Frage macht sich zum anderen auch ein ethisches Problem bemerkbar. Wenn es ›die Geschichte‹ ist, die uns etwas zuteilt – wer trägt dann eigentlich noch die Verantwortung für die Geschehnisse, die geschehen? Wenn wir Gefangene unserer Zeit, Opfer unserer Epoche, Fadenwürmer unseres historischen Schicksals sind, wird dann ›die Geschichte‹ nicht umgekehrt zum Gottersatz? Insbesondere mit Blick auf die hegelianische Geschichtsphilosophie wurde ja schon des Öfteren festgestellt, dass sie das heilsgeschichtliche Modell von der Vertikalen in die Horizontale gekippt habe, dass die Antworten auf die Fragen nach dem Warum und dem Weshalb nicht mehr dort oben, sondern nun dort hinten gesucht wurden.46 Dabei wird – eben auch von Kittsteiner – geflissentlich die Historizität übersehen, die einem solchen Konzept von ›Geschichte‹ eigen ist. Wie wir dank Reinhart Koselleck wissen, hat dieser Kollektivsingular wenn schon kein genaues Geburtsdatum, dann doch zumindest eine klar einzugrenzende Geburtsphase.47 Die Auffassungen eben dieses Ge-

46 Rudolf Burger, Im Namen der Geschichte. Vom Mißbrauch der historischen Vernunft, Springe 2007, S. 55. 47 Reinhart Koselleck, Geschichte V–VII, in: Otto Brunner, Werner Conze, ders. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in

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schichtsverständnisses zu universalisieren und zu einem allzeit gültigen Modell zu machen – und das muss man fast zwangsläufig tun, wenn man für das Verständnis einer solch übermächtigen ›Geschichte‹ eintritt –, würde den widersprüchlichen Effekt nach sich ziehen, dass alle und alles dieser ›Geschichte‹ unterworfen sind – außer dieses Verständnis von ›Geschichte‹ selbst. ›Die Geschichte selbst‹ wäre mithin das einzig Unhistorische.48 Niemand Geringerer als Reinhart Koselleck selbst hat jedoch darauf aufmerksam gemacht, diesem Kollektivsingular grundsätzlich zu misstrauen: »Es gibt keine ›Geschichte an und für sich‹, und es gibt keine ›Geschichte schlechthin‹. Diese Konstruktion selber ist eine Leimrute, der wir sprachlich aufsitzen und auf der wir klebenbleiben, solange wir unseren selbstevozierten Sinn auch allen anderen unterstellen müssen.«49

Mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse dürfen wir daher feststellen, dass es sich bei einem solchen Verständnis von ›der Geschichte‹ um den größten historischen Irrtum handelt: »Wenn es einen ›Misthaufen der Geschichte‹ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.«50 In diesem Sinn lässt sich auch eine Bemerkung aus Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte verstehen. Benjamin schreibt dort bekanntermaßen über den »Schachtürken«, einen vorgeblichen Schachautomaten aus dem 18. Jahrhundert, der seine Schachpartien deswegen immer gewinnt, weil in ihm ein kleinwüchsiges Schachgenie sitzt, das den vermeintlichen Automaten bedient. Der historische Materialismus funktioniert laut Benjamin wie der Schachtürke, weil in ihm die unbesiegbare Theologie sitzt.

Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647-717. Vgl. aber auch Jan Marco Sawilla, »Geschichte«: Ein Produkt der deutschen Aufklärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des »Kollektivsingulars Geschichte«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 381-428. 48 Die Konsequenzen, die aus einer solchen Kritik zu ziehen sind, habe ich auszuformulieren versucht in Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a.M. 2016. 49 Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. v. Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 28. 50 Robert Menasse, »Geschichte« – der größte historische Irrtum, in: Die Zeit, 13. Oktober 1995: http://www.zeit.de/1995/42/Geschichte__der_groesste_historische_Irrtum (27.05.2015).

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»Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« 51

Auch im Schachtürken namens Moderne, mit all seiner Leistungsfähigkeit und seinen Errungenschaften, sitzt immer noch ein Zwerg namens Theologie. 52 Denn diese Moderne hat ein Zeitmodell zu ihrem Fetisch gemacht, das außer Wachstum, Fortschritt, Linearität, Teleologie, Homogenität, Uniformität und Synchronisierung eher wenig zu bieten hat. Dabei dürfte klar sein, dass Zeit so nicht ist. Es gibt eine Unmenge unterschiedlicher Zeitpfeile, die dort draußen herumschwirren und in unterschiedlichen Kontexten Verwendung finden. Warum sollte sich ausgerechnet der historisch-kulturelle Zeitpfeil darauf beschränken, stupide, monoton, gleichmäßig und beständig nur eine Richtung einzuschlagen und immer im gleichen kalendarischen Rhythmus zu operieren? 53

BARRIEREFREI Es geht also nicht nur um die Frage der Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie, sondern ebenso um die Rolle der Zeitphilosophie in einer solchen Geschichtsphilosophie. Oder zutreffender formuliert (weil ich den Anspruch des Philosophischen für mich nicht reklamieren kann und eine Geschichtsphilosophie für mich nicht reklamieren will): Es geht um das Zeittheoretische im Geschichtstheoretischen. Welche Rolle ist dieser Zeit in geschichtstheoretischen Zusammenhängen zugedacht? Zu behaupten, diese Rolle existiere überhaupt nicht, käme fraglos einer Übertreibung gleich. Aber ich werde wohl nicht über Gebühr vereinfachen, wenn ich behaupte, dass – irritierenderweise – der Zeit im geschichtstheoretischen Rahmen eine überraschend nebensächliche Position zugedacht ist. Ein wesentlicher Bestandteil des zeittheoretischen Nachdenkens im geschichtstheoretischen Kontext sollte meines Erachtens dem Umstand gewidmet sein, dass eine Gegenwart mit sich selbst immer ungleichzeitig ist. Nicht die

51 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, hg. v. Gérard Raulet, Berlin 2010, S. 16. 52 Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004 [1953]. 53 Vgl. zur Diskussion der Zeit auch Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München 2004, S. 120-127.

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Korrespondenz eines bestimmten Standpunkts mit einer angenommenen historischen Entwicklungslinie ist daher das Normale. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzeitigkeit (Pluritemporalität) zu tun, mit der parallelen Existenz unterschiedlicher Verzeitungen, die uns in einen Kontemporalismus führt, in eine Welt, in der wir gleichzeitig mit vielen anderen Zeiten existieren. Und wir haben es immer auch mit der Anwesenheit vielfältiger abwesender Zeiten zu tun, seien dies nun vergangene oder zukünftige abwesende Zeiten, die in unserer Gegenwart anwesend sind. Eine Gegenwart ist also immer mit sich selbst ungleichzeitig, weil in ihr immer schon so viele andere Zeiten vorkommen, so dass temporale Identität oder Einheitlichkeit nicht zu erreichen ist.54 An die Stelle des chronologischen Nacheinanders tritt ein polychrones Durcheinander. Damit ist aber nicht einer vermeintlich relativistischen Beliebigkeit das Wort geredet, sondern zunächst der Umstand beschrieben, dass eine Gegenwart immer schon über so viele Vergangenheiten und Zukünfte (und zahlreiche andere Verzeitungen) verfügen kann. Sodann ist nicht zu verkennen, dass es gerade diese (eben nicht beliebige) Vielzahl von Zeiten und Geschichten ist, die einen Freiheitsgaranten darstellt. Wie Odo Marquard hervorgehoben hat, ist die Polymythie der Monomythie in jedem Fall vorzuziehen. Denn viele Mythen und Geschichten zu besitzen, also polymythisch zu existieren, eröffnet die Möglichkeit, sich von der einen Geschichte zu befreien und einer anderen anzuschließen. Eine monomythische Existenz führt hingegen zur restlosen Verstrickung in eine einzige Identität. Das Ergebnis ist laut Marquard »die Unfreiheit der Identität aus Mangel an Nichtidentität.«55 Vielzeitigkeit eröffnet also gerade die Möglichkeit zur Befreiung von Monotonie, von Identitätszwängen, von der Einheit der Geschichte – auch wenn solche Wechsel zwischen möglichen Geschichten alles andere als konfliktfrei ablaufen. Nota bene: Genau diesen Umstand versuchte Kittsteiner deutlich zu machen, wenn er von seinen Stufen der Moderne explizit verlangte, durchlässig zu bleiben und sich nicht hermetisch gegen vorangegangene ›Vorstufen‹ abzuschotten. Trotzdem setzt er die Stufen an die erste Stelle und schiebt die Durchlässigkeit nur erklärend nach. Ich würde deutlich prominenter hervorheben wollen, dass wir es zu einer gegebenen kalendarischen Zeit immer mit der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten zu tun haben. Mit dem Begriff der Chronoferenz möchte ich darauf hinweisen, dass Gegenwarten nie mit sich gleichzeitig, sondern immer durch die Anwesenheit abwesender Zeiten geprägt sind, dass sich also 54 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 2004, S. 11. 55 Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, S. 98.

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menschliches Leben nicht zuletzt dadurch auszeichnet, sich auf Zeiten beziehen zu können, die schon längst nicht mehr existieren oder noch gar nicht stattgefunden haben.56 Es gibt unterschiedliche Konsequenzen, die sich mit einem solchen chronoferentiellen Ansatz verbinden: Die Beschreibung von ›Moderne‹ müsste sich wandeln von der Bezeichnung einer Jetztzeit zur Betonung eines Jetzt der Zeiten. ›Moderne‹ könnte also ihren ursprünglichen Wortsinn wieder zurückgewinnen,57 nämlich das Gegenwärtige zu meinen – auch und gerade das Gegenwärtige der vielfältigen Zeiten. Damit würde aber auch der Kollektivsingular ›Geschichte‹ obsolet, weil mit seiner Hilfe nicht mehr fassbar ist, was zu fassen wäre, nämlich die Diversität der Verzeitungen und ihrer möglichen Beschreibungen. Und aus dieser Konsequenz müsste wiederum eine andere Form der Geschichtsschreibung erwachsen, deren Konturen sich bisher höchstens erahnen lassen. Kann ich derartige Konsequenzen nur andeuten, möchte ich auf eine weitere Folgerung gesondert hinweisen. Nimmt man die Idee der Chronoferenzen ernst, gälte es auch das etablierte Schema an Epochengliederungen über Bord zu werfen. Dass diese Epochenschemata ungenügend sind, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Jedes auch nur flüchtige Nachdenken über diese diskursiven Gebilde macht recht schnell deutlich, dass sie mit zahlreichen Unzulänglichkeiten behaftet sind, oberflächlich bleiben, Komplexität verschwinden lassen, regionale Eigenheiten allzu schnell universalisieren, undsoweiter undsofort. 58 Zumeist hat man sich jedoch darauf zurückgezogen, dass es keine echte Alternative zur etablierten Epochengliederung gibt, denn irgendwie müsse man doch bezeichnen, wovon man da spreche.59 Das Problem lässt sich kaum durch den Entwurf alternativer Epochengliederungen lösen. Diese verschieben das Problem nur von der einen inhaltlichen Ebene auf eine andere. Aber man muss bei der Frage der Kategorisierung des Historischen umschalten von der Sachebene auf die Beschreibungs- und die Zeitebene. Tut man das, erweisen sich die Beschreibungseinheiten ›Epoche‹ und 56 Eine ausführlichere Darlegung des Konzepts der Chronoferenz bei Landwehr: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit (wie Anm. 48), S. 149-165. 57 Vgl. Walter Freund, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters, Köln, Graz 1957. 58 Zur jüngsten Diskussion um die Epochengliederung vgl. Jacques Le Goff, Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, Darmstadt 2016. 59 William A. Green, Periodization in European and world history, in: Journal of World History 3 (1992), S. 13-53; Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 10 (2002), S. 45-64.

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›Moderne‹ in einem ähnlichen Sinn als problematisch wie die Beschreibungseinheit des Ereignisses. So wie Jacques Derrida das Ereignis als problematisch beschreiben konnte, können (und müssen) wir daher auch die Epoche der Moderne als problematisch beschreiben.60 Alfred Döblin hat mit seinem Wortspiel von der modernden Moderne ja bereits darauf hingewiesen, dass die historische Beschreibung von Epochen üblicherweise immer schon zu spät dran ist. Für die Mehrzahl dieser Einteilungen gilt, dass man erst im Nachhinein bestimmen kann, in welchem historischen Kontext diejenigen gelebt haben sollen, die selbst von der Begrifflichkeit dieses Kontextes keine Ahnung hatten. Wir erleben dieses Dilemma gerade am eigenen Leib (oder in unserer eigenen Kultur), da wir im höchsten Maße verunsichert sind, in welcher historischen Epoche wir uns denn befinden. (Das Anthropozän ist ein Bestimmungsversuch auf geologischer Basis, aber ist nicht frei von Konkurrenz und Kritik.) Das heißt, auch wir werden es uns wohl gefallen lassen müssen, dass man uns sagt, wann wir historisch gelebt haben, und möglicherweise wird das mit einer so großen Verspätung geschehen, dass wir es gar nicht mehr erfahren können. Aber diese Verspätung ist nichts Besonderes, sondern der kulturelle Normalfall. Und in dieser Form des Zu-spät-Seins ist die historische Arbeit zugleich immer sehr gegenwärtig, wenn sie beschreibend das Vergangene in das Hier und Jetzt hineinholt und auf diesem Weg die unverzichtbaren Chronoferenzen etabliert. Jede Epoche wird also erst in der nachträglichen Beschreibung zu dem, was sie schon immer gewesen sein soll – auch sie zeichnet sich aus durch eine anwesende Abwesenheit, durch eine gegenwärtige Nicht-Gegenwärtigkeit. Das ist eben das Paradox des Ereignisses, auf das Derrida hingewiesen hat und das sich auf die Epoche als Ereigniskomplex übertragen lässt. Das Sprechen über die Epoche findet immer gleichzeitig zu unterschiedlichen Zeiten statt: Erstens kann das Sprechen über eine Epoche immer nur stattfinden, nachdem die Epoche stattgefunden hat – und damit handelt es sich bereits um das Sprechen von einer Nicht-(mehr)-Epoche. Weil jedes Sprechen diese Epoche aber beständig aktualisiert, findet die Epoche auch immer wieder neu und anders statt. Die Vergangenheit wird mit jeder Hineinholung in die Gegenwart eine andere als sie zuvor war (insofern kann man durchaus sagen, dass das Mittelalter nie aufhört). Und drittens wird jede Epoche durch jedes zukünftige Sprechen eine andere werden als sie bisher war. Das kann sogar so weit gehen, dass man solcher Epochen verlustig geht. Die europäische Geschichtsschreibung zum 17. Jahrhundert muss schon seit bald 25 Jahren mit dem nicht ganz unproblematischen Umstand zurechtkommen, dass ihr die Epoche des Absolutismus abhandengekommen ist und man 60 Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003.

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nun nicht mehr so recht weiß, wie man diesen Zeitraum bezeichnen soll (es sei denn als Stabilitätsmoderne …).61 Wenn man also auf das Jetzt der Zeiten anstatt auf eine eindeutige Bestimmung der Jetztzeit setzt, dann folgt daraus eine Inversion des Epochenkonzepts. In Anlehnung an Derrida kann man feststellen, dass Epochen überhaupt nicht existieren, es sei denn als Versuch zur Bestimmung eines Zeitraums, der immer schon stattgefunden hat und gleichzeitig immer wieder erst stattfinden wird, weil jede Beschäftigung mit einer solchen Epoche den Zeitraum überhaupt erst herstellt, den es schon längst gegeben haben soll. Als Bestandteil einer nicht vorhersehbaren Zukunft ist auch die Vergangenheit, mit der wir uns zukünftig immer wieder neu und anders beschäftigen werden, in der gleichen Weise nicht nachhersagbar. Zu sagen, wir würden die Stufen der Moderne erst in dem Moment erschaffen, in dem wir sie beschreiben, ist also noch nicht hinreichend. Eher sitzen wir wie Lichtenberg in seinem Studierzimmer und spitzen die Ohren nach den Gehenden, die sich durchs Haus bewegen, erkennen bekannte Gehweisen und lassen uns von fremden Schritten überraschen. Und in ganz wachen, in ganz kritischen Momenten können wir uns fragen: Ist dort, jenseits dieser Tür, überhaupt eine Treppe?

61 Ronald G. Asch, Heinz Duchhardt (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550-1700), Köln, Weimar, Wien 1996.

Stufen der Moderne Die Entheroisierung der Geschichte Heinz Dieter Kittsteiner

[Bei diesem hier erstmals publizierten Text handelt es sich um ein undatiertes Vortragsmanuskript aus dem Nachlass Heinz Dieter Kittsteiners im Universitätsarchiv der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt (Oder). Wie häufig, ist er in mehreren Exemplaren vorhanden, die in unterschiedlichen Zusammenhängen abgelegt wurden. Der Text findet sich unter den Signaturen 20, im Zusammenhang mit Entwürfen aus den ersten Jahren der Viadrina zum Komplex der Stufen der Moderne, und 68, gemeinsam mit Materialien und Entwürfen zum nicht realisierten »Buchprojekt: Die Frage nach dem Gedächtnis«, in dem die Themen der Stufen der Moderne, im Anschluss an Kittsteiners Arbeiten 1991-1993 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, mit geschichtstheoretischem Schwerpunkt und insbesondere im Hinblick auf die Themenkreise »Gedächtnis« und »Geschichtsbilder« behandelt worden wären, sowie nochmals gesondert unter der Signatur 106. Aus den Zusammenhängen lässt sich schließen, dass der Vortrag im Umfeld der frühen Entwürfe zu den Stufen der Moderne und wahrscheinlich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre entstand. Die Eigentümlichkeiten des Typoskripts und die ursprünglich nur für die eigene Orientierung gedachten Zitatnachweise wurden beibehalten. Die zitierte Literatur bezieht sich überwiegend auf Ausgaben aus der Bibliothek Kittsteiners, die als Sondersammlung in der Universitätsbibliothek der Viadrina erhalten ist. JW]

Der Titel dieser Vortragsreihe lautet »Erkenntnissituationen des 20. Jahrhunderts«. Wenn ein Historiker diese Serie eröffnet, müssen Sie damit rechnen, daß er hinter das 20. Jahrhundert zurückgeht, denn es ist sein Beruf, das Gewordene »historisch« zu erklären. Wenn er seinen Beitrag nennt: »Stufen der Moderne« können Sie sicher sein, daß er Ihnen ein Entwicklungsschema präsentieren will. Und wenn der Nachsatz heißt: »Die Entheroisierung der Geschichte«, dann meint er damit die Gegenwart – eine mehr oder minder klare Gegenwartsdiagnose

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ist immer der Einsatzpunkt historischen Denkens. In der Gegenwart ist die Geschichte unheroisch geworden; sie ist aber einmal als heroisch betrachtet worden. Das Interessante an solchen Überlegungen sind die Umschlags- und Wendepunkte. Wann bricht ein Weltbild zusammen, und aus welchen Erfahrungen und ihrer gedanklichen Verarbeitung stellt sich ein neues her? Erfahrungen – sagt Gadamer – sind immer Erfahrungen die man macht. Man hatte etwas anderes erwartet, aufgrund bewährter Erfahrungsräume einen begründeten Erwartungshorizont ausgebildet – aber dann durchschlagen plötzliche Ereignisse diesen Erwartungshorizont, und man muß – wohl oder übel – eine Erfahrung machen. Es scheint mir nicht falsch zu sein, einen solchen Punkt als Erkenntnissituation zu bezeichnen, und daß diese Situationen (im europäischen Rahmen) mit den beiden Weltkriegen zusammenhängen, scheint mir ebenso richtig. Nehmen Sie nur Freuds Schrift »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915) als Exempel dafür, wie man eine Erfahrung macht. Der sicher geglaubte »Genuß der Kulturgemeinschaft« wird gestört. »Der Krieg an den wir nicht glauben wollten, brach aus und er brachte die – Enttäuschung.« (X, 328) Die Ethiker mitsamt ihrem Gewissen blamieren sich vor der neuen Einsicht, daß es seinem Ursprung nach eben nichts anderes ist als »soziale Angst«. Und wo die »Gemeinschaft den Vorwurf aufhebt, hört auch die Unterdrückung der bösen Gelüste auf, und die Menschen begehen Taten von Grausamkeit, Tücke, Verrat und Roheit, deren Möglichkeiten man mit ihrem kulturellen Niveau für unvereinbar gehalten hatte.« (X, 330) Zwar spendet die Theorie Trost aus der neuen Einsicht: die Menschen seien gar nicht so tief gefallen, weil sie nie so hoch gestiegen waren, wie man vormals annahm (X, 336), denn es zeigt sich nun, daß sie moralisch über ihre Verhältnisse gelebt hatten. Aber das ehrliche Entsetzen sitzt doch tief und wird nur mühsam ausbalanciert durch den Erkenntnisgewinn, wenn Illusionen an der Wirklichkeit zerschellen. (X, 331) Freud arrangiert sich mit der neuen Wirklichkeit – aber er beurteilt sie doch aus der Sicht des 19 Jahrhunderts. Das literarische Pendant zu dieser Haltung ist der berühmte »Donnerschlag«, der die Zeit-Erosion des »Zauberberges« durch den Einbruch der Zeit des Flachlandes beendet. Zwar sind die kommenden Positionen von Settembrini und Naphta schon durchgespielt, aber die Wirklichkeit, die nun Hans Castorp ereilt, ist doch von anderen Ausmaßen: »Da ist unser Bekannter, da ist Hans Castorp! [...] Er glüht durchnässt, wie alle. Er läuft mit ackerschweren Füßen, das Spießgewehr in hängender Faust. Seht, er tritt einem ausgefallenen Kameraden auf die Hand, – tritt diese Hand mit seinem Nagelstiefel tief in den schlammigen, mit Splitterzweigen bedeckten Grund hinein. Er ist es trotzdem. Was denn, er singt!

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[...] Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdenschweren Füßen, bewußtlos singend: ›Und sei-ne Zweige rau-uschten, Als riefen sie mir zu - ‹ Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er uns aus den Augen.« (Z, II, 628) Er kommt uns aus den Augen – und mit ihm das 19. Jahrhundert, denn das 19. Jahrhundert endet nicht mit der Jahreszahl 1900, sondern in den Materialschlachten vor Verdun. Ein hereinbrechendes Ereignis, ein Donnerschlag, hat es ausgelöscht. Aber gab es nicht auch Kräfte die diesen Donnerschlag bewußt erzeugen wollten? Der jüdisch-jesuitisch-revolutionäre Leo Naphta gehört zu diesen Feuerwerkern, denn was verkündet er? »Nur aus der radikalen Skepsis, dem moralischen Chaos geht das Unbedingte hervor, der heilige Terror, dessen die Zeit bedarf.« (Z, II, 599) (Daniel Bell hat kürzlich noch einmal darauf hingewiesen, daß wohl Georg Lukács für diese Figur Pate gestanden hat. (ZEIT, 39. Sept. 1992, S. 77ff.) Nicht sehr viel anders schreibt einer, der es wissen muß, aus dem Rückblick des Jahres 1929: »Es war ein zerstörerischer Krieg, ein konzentrisches Wüten gegen einen geheimen Mittelpunkt, ein Ereignis auf der westlichen Oberfläche. Wir haben stramm nihilistisch einige Jahre mit Dynamit gearbeitet und, auf das unscheinbarste Feigenblatt einer eigentlichen Fragestellung verzichtend, das 19. Jahrhundert – uns selber – in Grund und Boden geschossen.« (Jünger, Werke 7, 132) (L/K) Ein »schillernder ikonoklastischer Affekt« (Martin, HN, 25), angeleitet durch die Begriffe »Kraft« und »Leben«, die zugleich suggerieren, daß das was geschieht, einem gar nicht »zugestoßen« ist, sondern daß man es selbst gemacht hat. Eine Erlebnissituation – sicherlich. Aber auch eine »Erfahrung« inmitten der Geschichte? Diese Generation wird von einer »Erkenntnissituation« erst später eingeholt, denn wir haben in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zwei Weltkriege zur Verfügung. Wahrscheinlich haben wir uns heute – verführt durch die wachsende zeitliche Distanz – schon viel zu sehr angewöhnt, den ersten und zweiten Weltkrieg als eine große Einheit zu betrachten. Dafür spricht einiges – dagegen spricht aber, dass der 2. Weltkrieg nicht mehr von den Heeren des 19. sondern von den Armeen des 20. Jh. geführt wurde; anders gesagt, von einem Menschentypus, der sich selbst als das Produkt des ersten Krieges fühlte und der glaubte, so und nicht anders für das Neue Jahrhundert gehärtet worden zu sein. Erst in diesem zweiten Prozeß und in seinen Schuldverstrickungen ging etwas verloren, das man als eine »heroische« Betrachtungsweise der Geschichte bezeichnen könnte. Ich selbst trauere ihr nicht nach.

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Kluge Beobachter – die übrigens gar nicht über jeden Zweifel erhaben sein müssen – registrieren diesen Wandel während des Krieges selbst, denn was für den ersten Weltkrieg Verdun war, ist für den zweiten Stalingrad. 1943 schrieb Gottfried Benn eine ausführliche Notiz »Zum Thema Geschichte« nieder; veröffentlicht wird sie erst 1959. »Die ganze Geschichte, die Geschichte der weißen Rasse, ist der Weg der verlorenen Illusionen von der Glorie des Helden und der Mythe der Macht.« (I, 372) Es war auch ein Abschied von seinen eigenen Illusionen, denn 1933 hatte derselbe (war es derselbe?) Gottfried Benn geschrieben: »Lange genug, sagte sich diese Jugend, haben wir das mit angehört, Geistesfreiheit: Zersetzungsfreiheit – antiheroische Ideologie! Aber der Mensch will groß sein, das ist seine Größe; dem Absoluten gilt unausweichlich sein ganzes inneres Bemühen.« (I, 448) 1933 weiß er: Geschichte lässt sich nicht demokratisch abstimmen, sondern an ihren Wendepunkten schickt sie einen »neuen biologischen Typ« vor, und kein anderer als Nietzsche hat ihn kommen sehen. (I, 443/444) In der Antwort auf den Brief von Klaus Mann vom 9.05.33 bietet er auch eine Galerie von Geschichtsdenkern auf, die ihn so zu denken gelehrt haben: die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks (Fichte; ob er Hegel meint?) Völker müssen das, was sie zu tun haben, ohne Rücksicht auf das Lebensglück einzelner durchsetzen (Burckhardt) und schließlich und vor allem, immer wieder Nietzsche: »die zunehmende Verkleinerung des Menschen ist gerade die treibende Kraft, an die Züchtung einer stärkeren Rasse zu denken. [...] Problem: wo sind die Barbaren des zwanzigsten Jahrhunderts. Das alles hatte die liberale und individualistische Ära ganz vergessen.« (IV, 79) Als sich die neue Zucht dann ausbreitet, wendet er sich erschrocken ab. Und auch von seinen Geschichts-Vordenkern nimmt er Abschied: »Hegel, Darwin, Nietzsche – : sie wurden die tatsächliche Todesursache von vielen Millionen Menschen, Gedanken töten. Worte sind verbrecherischer als irgendein Mord, Gedanken rächen sich an Helden und Herden.« (I, 385) Benns Reflexion von 1943 schließt mit »Wünschen für Deutschland«: »Neue Begriffsbestimmung für Held und Ehre. Ausmerzung (sic!) jeder Person, die innerhalb der nächsten hundert Jahre Preußentum oder Reich sagt. Geschichte als Verwaltung mittleren Beamten des gehobenen Dienstes überlassen, aber als Richtung und Prinzip einer europäischen Exekutive öffentlich unterstellen. Die Kinder vom sechsten bis sechzehnten Jahr nach Wahl der Eltern in der Schweiz, in England, Frankreich, Amerika, Dänemark auf Staatskosten erziehen.« (I, 388) Das liest sich als eine Vorschau auf die Bundesrepublik – und als Blick in eine entheroisierte Geschichte. Aber die Disposition zum »Heroischen« war vorhanden in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts – und in irgendeiner Weise hing sie zusammen mit den so

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konträren Geschichtsauffassungen von Nietzsche und Hegel. Dieser Genealogie will ich nun nachgehen.

II. Das zwanzigste Jahrhundert setzt realhistorisch im ersten Weltkrieg ein; geistig beginnt es bereits mit Nietzsche. (Martin, HN, 36) Um aber zu sehen, wogegen Nietzsche sich abgrenzt, müssen wir noch weiter zurück, denn der alten Aufklärung setzt er eine neue entgegen. Also: Zurück zur Aufklärung, zurück zu Kant. Bei Kant müssen wir sogar ein wenig verweilen, denn bei ihm kann man das geschichts-philosophische Denken in nuce studieren. Ist Geschichte heroisch? Nein, würde Kant antworten. Aber in praktischer Absicht kann sie »erhaben« gedacht werden. In einer Schrift von 1798 stellt er drei Geschichtsauffassungen zur Auswahl. Die erste ist terroristisch. Darunter versteht er den ständigen Verfall ins Schlimmere – aber der »fromme Schwärmer« (denn um den geht es hier noch) sieht es mit Begeisterung – denn schlimmer kann es nun nicht mehr werden – der Jüngste Tag steht vor der Tür, die alte Welt geht im Feuer unter und eine vollkommen erneuerte Welt wird aus ihrer Asche entstehen. (Kommt Ihnen diese Betrachtungsweise nicht auch aus dem 20. Jahrhundert bekannt vor?) Die zweite ist grundlos-optimistisch, also das gerade Gegenteil der ersten. Die dritte aber hat wohl die Mehrzahl der Stimmen für sich: die Welt ist »abderitisch«, es geht weder vorwärts noch rückwärts, nichts Neues unter der Sonne, die Menschen bleiben wie sie sind. Auf diesem Globus führen sie nichts anderes auf als ein »Possenspiel«. (AA VII, 81 f.) Der Philosoph sieht es mit Unwillen, daß die Menschen nicht wie vernünftige Weltbürger ihre Geschichte nach einem Plan machen – und um diesen Possen zu entkommen, führt er eine »Vorsehung« ein, ein teleologisches Prinzip, das in praktischer Absicht – um der Verwirklichung der Moral willen – muß wenigstens gedacht werden können. (XX, 307) [sic] Kann man in dem Gang des Geschehens etwas von dieser »Absicht der Natur« mit den Menschen entdecken? Ja, denn es gibt »Geschichtszeichen«, an denen dieser verborgene Plan offenbar wird. Kant exemplifiziert das an der Französischen Revolution – genauer: nicht an der Revolution selbst, sondern an der moralischen Erhebung des fernen Zuschauers in Königsberg. Deren Denkungsart ist das »Geschichtszeichen« (wenngleich er diese Trennung nicht immer präzise durchhält). Der Zuschauer befindet sich in (zumindest relativer) Sicherheit, aus der Distanz aber wird das Ereignis erhaben. Hier gibt es eine Analogie zu den Bestimmungen des »Dynamisch-Erhabenen« aus der »Kritik

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der Urteilskraft«. Denn auch der Anblick der Übermacht der Natur wird nur faszinierend, »wenn wir uns in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenkräfte über ihr gewöhnliches Maß erhöhen.« (V, 261) Der Mensch spürt dann die Erhabenheit seiner Bestimmung. Nun wendet er gegen sich selbst ein, da es doch mit der Gefahr nicht ernst sei, es die Erhabenheit ebenso wenig wäre. Und genau in diesem Punkt spielt der sonst so friedfertige Kant den Ernstfall durch: »Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und heiliger Achtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volkes, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, [...] da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volkes zu erniedrigen pflegt.« (V, 263) Das sind nun Sätze, die man bei Kant ohne weiteres nicht vermuten würde. Die Stufen ihrer Herkunft lauten: Die reale Geschichte ist der moralischen Bestimmung der menschlichen Gattung nicht angemessen. Also wird in praktischer Absicht eine Teleologie konstruiert, d. h. der reale Prozeß wird mit einem Ziel überlagert, das die Geschehnisse für sich arbeiten lässt. So werden sie zu »Geschichtszeichen«. Die aber im teleologischen Licht entzifferten Zeichen rufen selbst wieder erhabene Gefühle hervor, die auch Bewährungssfelder wie den Krieg nicht zu scheuen brauchen, wenn er nur nach sittlichen Regeln geführt wird. Vom Heldentum würde Kant wohl nicht sprechen, wenn er auch die »Affekte von der wackeren Art« hoch preist. (V, 272) Das ändert sich bei Hegel. Das Verhältnis von Zweck und Mittel, wie es bei Kant vorgeprägt war, bleibt bestehen, aber nun ist der wirkliche Prozeß selbst »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«. (12, 32) und insofern »Theodicee«, eine Rechtfertigung des Übels in der Geschichte. Hegel weiß sehr wohl, was er sagt, denn: »In der Tat liegt nirgends eine größere Aufforderung zu solcher versöhnender Erkenntnis als in der Weltgeschichte.« (12,28) Und warum? »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.« (12,42) Die Vernunft bedarf zu ihrer Durchsetzung nicht solcher ruhigen Existenzen, sondern sie braucht für ihre Zwecke die »welthistorischen Individuen«: »Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigene partikuläre Zwecke das Substanzielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. Sie sind insofern Heroen zu nennen.« (12, 45) Hier haben wir das Wort und mit dem Wort zugleich das Problem: die Vernunft verfügt über keine eigene Kraft, sie muß sich inkarnieren in den Gestalten, die unbewußt für sie arbeiten, deren Rechtfertigung (was immer sie tun mögen) aber in dieser Verbindung zum Weltgeist besteht. Sie sind seine »Geschäftsfüh-

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rer«. Sie selbst brauchen kein glückliches Leben. »Sie sterben früh wie Alexander, sie werden wie Cäsar ermordet, wie Napoleon nach St. Helena transportiert.« (12, 47) Aus der Kammerdienerperspektive kommt man ihnen nicht bei: »Dieser zieht dem Helden die Stiefel aus, hilft ihm zu Bette, weiß, daß er lieber Champagner trinkt« – kurz, er hat das Wissen, womit uns jede Woche das Magazin DER SPIEGEL beliefert. Erst aus der Perspektive der Vernunft wird legitimiert, daß sie auf ihrem Wege manches zertrümmern müssen, dass sie »manche unschuldige Blume« zertreten. (12, 49) Allerdings: Diese Helden bleiben eingebunden in das Recht des Weltgeistes, das über alle besonderen Berechtigungen geht. Als Agentin des Geistes haben sie eigentlich nur ein Recht – das alte »Heroenrecht zur Stiftung von Staaten« (7, 507, § 350). Im Staat aber gibt es keine Heroen mehr (die gibt es nur noch als Piraten »beyond the line«, wie Carl Schmitt sich sofort notiert. Glossarium, 236). Es wiederholt sich aber auf der staatenbildenden Ebene noch einmal so etwas wie ein Heroenkampf, die Abfolge der welthistorischen Reiche. Bekanntlich gibt es deren viere: Das orientalische, das griechische, das römische – und das germanische. Auch hier hat der Weltgeist das letzte Recht (denn die Weltgeschichte ist das Weltgerichte), aber das Reich, das gerade an der Zeit ist, hat sein absolutes Recht, »und das darin lebende Volk und dessen Taten erhalten ihre Vollführung und Glück und Ruhm.« (Rph, § 345) (Sie sehen {aus solchen Worten} den kriegswichtigen Beitrag des Meiner-Verlages, der 1944 noch eine »Frontbuchhandelsausgabe für die Wehrmacht« herausbrachte). Ist die Geschichte für Hegel heroisch? Nein, sie ist vernünftig. Aber die Mittel, durch die die Vernunft sich in die Existenz setzt, sind heroisch. Die Helden sind teleologisch mediatisiert, sie sind nicht Selbstzweck, sondern um eines Zweckes willen da. Aber die Kraft zur Durchsetzung liegt ganz auf ihrer Seite, die Idee hält sich »unbeschädigt im Hintergrunde«. Damit ist der künftige Knoten schon geschürzt: Man muß nur auf den Augenblick warten, in dem das vermeintliche Mittel die teleologische Umhüllung aufsprengt, und sich selbst als Zweck setzt. Und dieser Zeitpunkt kam. In den 40er Jahren des 19 Jahrhunderts – nicht zufällig parallel mit dem Sichtbarwerden der Industrialisierung – blättert die moralisch teleologische Überlagerung vom Realprozeß ab. Und das, was sichtbar wird, flößt Schrecken ein. Ein heute fast vergessener Denker hatte damals den Hegelschen Weltgeist als den Weltmarkt entziffert; er setzte diesem negativen Helden einen positiven entgegen, der sich aber darauf verlassen sollte, daß die Krisenzyklen des Kapitals ihm den Weg ebneten. Insofern blieb er im Bann des teleologischen Denkens. Andere, wie Nietzsche, waren da radikaler. Hellsichtig hat er Hegel ein Erkennen aus dem Instinkt der Furcht zugewiesen: dieser Philosoph wähnte die Welt erkannt, als er sie auf die »Idee« zurückführte,

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»ach, war es nicht deshalb, weil ihm die Idee so bekannt, so gewohnt war? Weil er sich so wenig mehr vor der Idee fürchtete?« (II, 222) Natürlich war es so, denn dieser Instinkt stand auch schon am Anfang der Teleologisierung: es ging darum, den als neu und bedrohlich empfundenen Prozeß der Geschichte noch einmal einzufangen, ihm ein Ziel zu geben, in dessen Rahmen die mehr als bedenklichen Antriebskräfte gebändigt würden. Nun mußte mit der Aufgabe einer Bändigung der Geschichte ganz von vorn begonnen werden.

III. Um nun thesenhaft zuzuspitzen, wie diese neuen Versuche zur Bändigung der Geschichte aussehen, will ich nicht unmittelbar zu Nietzsche übergehen, sondern seine geschichts-philosophischen Überlegungen in einen weiteren Rahmen stellen. Ich hatte Ihnen eingangs ein Entwicklungsschema angedroht, und das werde ich nun – möglichst kurz – vorstellen. Ich experimentiere seit einiger Zeit damit, denn Periodisierungen sind einerseits unerläßlich, andererseits dürfen sie aber – darauf hat der Kulturhistoriker Johan Huizinga hingewiesen – gar nicht zu präzise sein, denn sonst werden sie an Stelle einer heuristischen Hilfe zu einer Zwangsjacke. Unter anderem deshalb, weil sich eine historische Entwicklung niemals [so] – sozusagen in Scheiben – schneiden lässt, daß etwas Älteres ganz aufhört und etwas Neueres völlig neu anfängt. Zwar verschwindet das Alte – die Vergangenheiten sind nicht mehr, sagt Johann Droysen in seiner Historik – aber in der historischen Erinnerung, im kulturellen Kanon, bleiben sie erhalten und wirken weiter. Insofern ähnelt das historische Gedächtnis jenem Bild, das Sigmund Freud für den Aufbau des Seelenlebens bemüht hat: nichts, was einmal gebildet wurde, kann untergehen, alles bleibt »irgendwie erhalten« und kann unter geeigneten Umständen wieder zum Vorschein gebracht werden. (SW XIV, 426) Bei jedem Versuch einer Periodisierung sollte man sich also – gleichsam als Gegenbild – jenes Rom vorstellen, in dem alles gleichzeitig sichtbar ist, in dem das historische Nacheinander zu einem räumlichen Nebeneinander wird, obwohl doch derselbe Raum nicht zweierlei Ausfüllung verträgt. (XIV, 428) Nach diesem methodischen Vorspruch nun das Modell: Ich pflege zu unterscheiden 1. 2. 3. 4.

eine Stabilisierungsmoderne des 17. Jahrhunderts von einer evolutiven Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts, gefolgt von einer heroischen Moderne des späten 19. und frühen 20. Jh., die übergeht in eine unheroische Moderne.

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Zur Begründung würde ich so sagen: Man kann – ich bin da angeregt durch das Buch von Theodore K. Rabb »The Struggle for Stability in Early Modern Europe« die kulturellen Bemühungen des 17. Jahrhunderts in einem einzigen Motiv zusammenfassen: es geht um die Stabilisierung einer als krisenhaft erfahrenen Zeit. Das Ideal der Kontrolle erstreckt sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens; dazu gehört die Entschärfung der konfessionellen Spannungen ebenso wie die subjektive Seite des gleichen Prozesses: die neuen Versuche zur individuellen Affektkontrolle. In den Naturwissenschaften tritt die Frage nach der »Methode« in den Vordergrund; der Erkenntnisfortschritt wird in Akademien organisiert, usw. Dennoch gelten alle diese »Progresse« auf den verschiedenen Gebieten noch nicht als Initiation eines unendlichen Fortschritts, wenn sich auch in der »Querelle des Anciens et des Modernes« schon ein vorsichtiges Hinausgehen über das Kreislaufdenken der Renaissance ankündigt. An die Stelle der »fortschreitenden Weltbemächtigung« ist aber noch kein »weltbemächtigender Fortschritt« getreten, und insofern kann man mit einem gewissen Recht von einer Stabilisierungsmoderne sprechen. Mit der Mitte und dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts machen die Stabilisierungsmodelle einer dynamischen Geschichtsauffassung Platz. Einerseits beginnen nun die zivilisatorischen Effekte zu greifen – dies geschieht aber in einem übermächtigen Prozeß, in den die Menschen hineingerissen werden, ohne daß er verfügbar wäre. Wir können – sagt Kant – auf das Ganze der Geschichte zwar unsere Ideen, nicht aber unser Handeln erstrecken (VIII, 310). Die geschichtsphilosophische Modellbildung (die ich bereits kurz skizziert habe) ist die kulturelle Reaktion auf diese Erfahrung: die Geschichte wird libidinös besetzt, dem unbewußt sich herstellenden Prozeß wird ein humanes Ziel zugewiesen. Daran zeigt sich zugleich, daß die älteren Vorstellungen von »Kontrolle« nicht aufgegeben sind; sie werden jetzt lediglich an das Ende der bisherigen Verlaufsform der Geschichte gestellt – unübersehbar bei Karl Marx, der der noch naturwüchsigen Geschichte, die eigentlich planmäßige, sozialistische folgen läßt. Dies alles bildet aber nur den Hintergrund, von dem sich die »heroische Moderne« abstößt. Denn seit das Vertrauen in die zielgerichtete Evolution abnimmt, radikalisieren sich die geschichtsphilosophischen Kulturentwürfe. »Wer sich in der Geschichte zurechtfinden will« – schreibt Baudelaire 1855 – »muss zuerst diesen hinterlistigen Leuchtturm zum Erlöschen bringen.« Er meint damit die Idee des Fortschritts, denn »diese moderne Laterne wirft Finsternis über alle Gegenstände der Erkenntnis.« (AW, Blei, 1925, 233) Als deutscher Protagonist dieses neuen Denkens kann Nietzsche gelten. Er vollzieht – kulturhistorisch betrachtet – eine Umkehrung des bisherigen Verhältnisses von »Geschichte« und »Leben«. Seit dem Beginn der effektiven europäischen Akkulturationsbewegung

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im 17. und 18. Jahrhundert (der »Fundamentaldisziplinierung«, wie es der Absolutismusforscher G. Oestreich einmal genannt hat) – mußte immer der Mensch mit seinen Affekten sich vor Gesellschaft und Geschichte verantworten, nämlich ob er sich hinreichend angepaßt habe, zur Friedensstiftung befähigt sei. Nun wird umgekehrt die »Geschichte« vor das Tribunal des »Lebens« gestellt und angeklagt. Die Kulturanforderungen haben schon viel zu viel Lebendiges verschlungen – und wofür? Für einen Prozeß, dem die Zielsetzung abhanden gekommen ist; Triebopfer sollen für Kulturanforderungen gebracht werden, deren Sinn nicht mehr wirklich geglaubt wird. Geschichte hat sich als eine dem Leben feindliche Macht erwiesen – und weil das so ist, kann man den Grundgedanken der »heroischen Moderne« so formulieren: da »Geschichte« im teleologischen Verbund nicht mehr synergistisch an der Realisierung humaner Zwecke in der Welt mitarbeitet, muß sie als Ganzes in neuer Weise bekämpft werden. Anders gewendet: in allen teleologischen Denkmodellen konnten die Menschen (auch die Heroen) sozusagen mit halber Kraft arbeiten, weil sich »hinter ihrem Rücken« und jenseits ihres Bewußtseins doch noch eine ersprießliche Lösung ausmachen ließ. Eben darauf zielte der Vorwurf Walter Benjamins aus dem Jahre 1940 an die Sozialdemokratie: wer noch glaubt, »mit dem Strome« zu schwimmen, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. In der heroisch gewordenen Moderne muß verdoppelte Kraft aufgewendet werden, um sich dem inhaltslosen Geschichtsprozeß entgegenzustemmen – vielleicht sogar, um ihn schließlich zu überwinden. Das Arsenal dieses Denkens ist bereits in Nietzsches zweiter »Unzeitgemäßer Betrachtung« entwickelt; es fällt auf, daß in dieser Schrift die Moralbegriffe in Kraftbegriffe verwandelt sind. Das »Leben«, jene »dunkle, treibende unersättlich sich selbst begehrende Macht« (I, 229) sitzt zu Gericht – sowohl über die Arten der Geschichtsschreibung, als auch über den historischen Prozeß selbst. Das Übermaß von Historie (in diesem doppelten Sinne) hat die »plastische Kraft des Lebens angegriffen, es versteht nicht mehr, sich der Vergangenheit wie einer kräftigen Nahrung zu bedienen.« (I, 281) »Plastische Kraft« – das ist der Zentralbegriff der Schrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Nietzsche versteht darunter die Kraft eines »Menschen, eines Volkes, einer Kultur […], jene Kraft aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben«. (I, 213) Es geht darum, »das Chaos zu organisieren.« (I, 284) Das Chaos? Ja, denn zum Chaos ist der historische Prozeß wieder herabgesunken, seit seine teleologische Bändigung aufgeplatzt ist. Die Stoffmassen ergießen sich über die Menschen, »das Gedächtnis öffnet alle seine Tore und ist doch nicht weit genug geöffnet [...] diese fremden Gäste zu empfangen«. (I, 231)

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Dennoch wirkt auch in dieser bedrohlichen Situation noch die Philosophie des Professors Hegel weiter, der den Deutschen eingebläut hat, vor dieser überbordenden Macht des Faktischen »den Rücken zu krümmen.« (I, 263) – und das, weil sie immer noch glauben, »daß der Sinn des Daseins im Verlaufe seines Prozesses immer mehr ans Licht kommen werde.« (I, 217) Diesen »historischen Menschen« setzt Nietzsche den »überhistorischen Menschen« entgegen, »der nicht im Prozesse das Heil sieht, für den vielmehr die Welt in jedem einzelnen Augenblicke fertig ist und ihr Ende erreicht.« (I, 270) An diesem Punkt zeigt sich die Herkunft eines neuen, kulturformenden Heros aus der Kritik an der Teleologie am deutlichsten: »Nein, das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren.« (I, 270) Das Telos wird vom Prozeß auf den Menschen zurückgewendet, allerdings nicht auf jeden beliebigen, sondern auf denjenigen, der es mit der Geschichte aufnehmen kann. »Wäre die Geschichte überhaupt nichts weiter als ›das Weltsystem von Leidenschaft und Irrtum‹, so würde der Mensch so ihn lesen müssen, wie Goethe Werther zu lesen riet: gleich als ob sie riefe ›sei ein Mann und folge mir nicht nach‹. Glücklicherweise bewahrt sie aber auch das Gedächtnis an die großen Kämpfer gegen die Geschichte, das heißt gegen die blinde Macht des Wirklichen.« (I, 265) Der Held ist nun nicht mehr – wie bei Hegel – von der Geschichte mediatisiert; er ist aus ihr heraus- und gegen sie zum Kampf angetreten. Wie weit nun dieser »überhistorische Mensch« schon eine Vorform des »Übermenschen« ist, das zu untersuchen betrachte ich hier nicht als meine Aufgabe. Denn ich bin ja nicht von dem Satz ausgegangen »Gott ist tot«, sondern von dem Befund, daß die Geschichte ent-teleologisiert ist. Eine Verbindung besteht allerdings zwischen beiden, denn Nietzsche als zu spät gekommener Junghegelianer wusste natürlich, daß die Geschichte Gottes letztes Refugium war. (I, 263) Ebenso schwierig ist es, Nietzsches Kraftbegriffe ins Verhältnis zu setzen zu seiner »Artistenmetaphysik«; die Auflösung der Hegelschen Teleologie scheint in beide Richtungen zugleich zu gehen. Das ästhetische Bedürfnis wächst – über das Dasein ein »Netz der Kunst« auszubereiten in dem Moment, da das »Netz des Gedankens« zerrissen ist. (Bolz, Schein, 83) Aber es wächst auch das Bedürfnis, diese Ästhetik in die Welt hineinzubilden, sie umzuformen – und dafür bedarf es wiederum der »Kraft«. Sicher ist nur, daß Nietzsche mit solchen Gedanken gespielt hat: »Die Welt vermenschlichen, d. h. immer mehr uns in ihr als Herren fühlen.« Und dazu notiert er jenen berüchtigten anderen Satz: »Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war.« (III, 427 f.)

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IV. Und damit komme ich zurück ins 20. Jahrhundert, genauer, zu einer heute wohl vergessenen Schrift aus dem Jahre 1948, zu Alfred von Martins Buch: »Der heroische Nihilismus und seine Überwindung.« Am Beispiel Ernst Jüngers entwickelt der Autor eine bedenkenswerte Grundthese: was für Nietzsche noch Spiel war, wird für die Generation der Nietzsche-Leser blutiger Ernst. Zugleich bilden sich Vergröberungen heraus: man will »aristokratisch« sein, ist aber in Wahrheit nur antibürgerlich. (57) Aus der Herrenmoral wird eine Verhaltensanweisung für »prächtige Landsknechtsnaturen«, denn es scheint gelungen zu sein, die Gestalt des Arbeiters der Bourgeoisie zu entreißen und sie mit hineinzuziehen in den »Willen zur Macht«. Eine physiognomische Veränderung hat stattgefunden. Das Gesicht, das dem Beobachter unter dem Stahlhelm entgegenblickt, ist »metallischer geworden, auf seiner Oberfläche gleichsam galvanisiert, der Knochenbau tritt deutlich hervor, die Züge sind ausgespart und angespannt.« (Arbeiter, 107) In bürgerlicher Kleidung machte der Deutsche immer eine unglückliche Figur – es fehlt ihm an Urbanität. Besser steht ihm die Uniform, wobei die soldatische Uniform jetzt zum Spezialfall der Arbeitsuniform geworden ist. (119 f.) Die ersehnten »Barbaren des 20. Jahrhunderts« formieren sich – die Politik ist ihnen eigentlich gleichgültig. »Je zynischer, spartanischer, preußischer oder bolschewistischer im übrigen das Leben geführt werden kann, desto besser wird es sein. [...] Wie es ein gutes Bild ist, die freien Wüstenstämme zu sehen, die Lumpen auf dem Leibe tragen und deren einziger Reichtum in ihren Pferden und wertvollen Waffen besteht, so wäre es auch ein gutes Bild zu sehen, wie das gewaltige und kostbare Arsenal der Zivilisation durch ein in mönchischer oder soldatischer Armut lebendes Personal geleitet wird.« (201) Diese Leitung aber vibriert von Dynamik. Die »Aktion« hat ihren Sinn in sich selbst, eben darin, dass ein »Kraftbeweis« gebracht wird. »Da eine positive Zuweisung fehlt, kann die Kraft sich nur ausweisen als Fähigkeit zur ›totalen Vernichtung‹. Was – im Namen des Lebens – vernichtet werden soll, ist allemal das Unkräftigere, das, als solches, sein Lebensrecht eingebüßt hat; und was an seiner statt aufgerichtet werden soll, ist die Macht eines stärkeren Wollens und eines überlegenen Könnens.« (Martin, 121) Ich wäre geneigt, diese »attitude devant la vie« in die Kurzformel zu fassen: Rasse und Motoren. All dies hat bei Jünger immer etwas von einem militärischen l’art pour l’art – eigentlich ist es Selbstzweck – aber zugleich wartet es auf die Gelegenheit, um sich zu bewähren. Diese Ambivalenz könnte man, in geschichtsphilosophischen Traditionslinien denkend, so erfassen: der Sieg Nietzsches über die Teleologie war niemals vollständig. Lasse ich die bislang aufgezeigten Positionen Revue passieren und

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frage: Wann wurde denn Geschichte heroisch gedacht, so kann die Antwort nur lauten: bei Kant nicht und auch nicht bei Hegel. Für Nietzsche ist sie eine »blinde Macht« – und der Held tritt gegen sie an. Er unterstellt sich ihr nicht. Aber das geschichtsphilosophische Denken in seinem Kernbestand »Geschichtszeichen« deuten zu wollen, läuft zugleich ungebrochen weiter – und an bestimmten Knotenpunkten amalgamieren sich diese beiden, im Grunde unvereinbaren Positionen. Und dann wird Geschichte selbst »heroisch«. Man kann sich das verdeutlichen an den Reflexionen wiederum Gottfried Benns in der Niederschrift »Doppelleben« von 1949. Um seine Haltung 1933/34 sich noch einmal vor Augen zu führen, greift er auf den Begriff eines »Erfahreneren« zurück – er meint Thomas Manns Ausdruck »Schicksalsrausch«, der zurückgeht auf die »Betrachtungen eines Unpolitischen«. Darüber hatte Thomas Mann noch 1930 geschrieben, zu diesem »Gedankendienst mit der Waffe« sei er nicht von Staat und Wehrmacht, sondern von der »Zeit selbst« eingezogen worden. Das Gefühl einer »epochalen und zeitalterscheidenden Wende« habe eben jenen Schicksalsrausch erzeugt und ihn im Krieg einen »deutsch-positiven Charakter« erblicken lassen. (Benn, IV, 84) Um eine Analogie zu geben: So wie für Kant die Französische Revolution in der durch sie bewirkten moralischen Erhebung zum »Geschichtszeichen« werden konnte, so wird für eine potenziell »heroisch« gestimmte Generation die »Deutsche Erhebung« von 1933 zur Allegorie ihrer eigenen Gefühlslage. Nicht zur Allegorie als Personifikation – da bleiben die Abgrenzungsmechanismen gegenüber der NSDAP zumeist intakt (und wenn nicht, dann sind die Verflechtungen sehr verschieden, bei Heidegger und Carl Schmitt liegt der Fall anders als bei Jünger oder Benn). Aber Allegorie als Allegorese: als das »anders lesen« eines empirischen Kontextes, nicht »buchstäblich«, sondern »heroisch«; im (figürlich, moralisch, anagogisch) Geiste Nietzsches – aber nun doch exegetisch ausgerichtet von einer »Bewegung«. Die Ent-Allegorisierung vollzieht sich dann je nach »Erkenntnissituation« in verschiedener Geschwindigkeit, und mit ihr die Entheroisierung der Geschichte. Eine umfassende Geschichte der Desillusionierung jener Teile der deutschen Intelligenz, die den Nationalsozialismus 1933 allegorisch-heroisch überlagert hatte, ist meines Wissens noch nicht geschrieben. Den Kultur- bzw. Zivilisationsschock eines großen Teils von ihnen hat Thomas Mann im »Doktor Faustus« so beschrieben, daß man nicht wirklich hatte glauben mögen, daß die »entnervten Demokratien« auch in der Lage seien, das Kriegsgerät zu bedienen; »eine ernüchternde Erfahrung, unter der wir uns täglich mehr des Irrtums entwöhnen, als sei Krieg ein deutsches Prärogativ, und in der Kunst der Gewalt müssten andere sich als dilettantische Stümper erwei-

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sen.« (Faustus, ) Tatsächlich hatte z. B. Martin Heidegger in seiner NietzscheVorlesung von 1940 bewiesen, daß es nicht genügt, »Panzerwagen, Flugzeuge und Nachrichtengeräte« zu besitzen, nicht einmal ein geschultes Personal reiche für den Sieg. »Der unbedingten ›machinalen Ökonomie‹ ist nur der Übermensch gemäß, und umgekehrt: dieser Bedarf jener zur Einrichtung der unbedingten Herrschaft über die Erde.« (Werke, 48, 205) Benn ärgert sich über die Stupidität der Generäle. »Sie lesen wohl Bücher – habe ich nie gemacht. Zigarre, Schnaps und Zungenkuss und sonntags natürlich in den Gottesdienst.« (I, 372) »›Die Juden‹ – sagen die Militärs, wenn die Amerikaner in Nordafrika landen«. (I, 379) Und alle »ausnahmslos sehen die Lastwagen, auf die jüdische Kinder, vor aller Augen aus den Häusern geholt, geworfen werden, um für immer zu verschwinden«. Und alle applaudieren: die Abkömmlinge alter Adelsgeschlechter, Seite an Seite mit den Abkömmlingen alter Pfarrersfamilien, in denen seit 400 Jahren 52 Mal im Jahr das Gebot der Liebe gepredigt wurde, Seite an Seite mit den ehrbaren Kaufleuten, »schlagen mit die Juden tot und bereichern sich an ihren Beständen, überfallen kleine Völker und plündern sie mit der grössten Selbstverständlichkeit bis aufs Letzte aus«. (I, 377) Und das alles geschieht – sagt Benn – im Namen des Weltgeistes, »denn das was ist, ist die Vernunft«. (I, 384) Was sich im »Schicksalsrausch« 1933 amalgamiert hatte: die heroische Attitüde aus dem Geist Nietzsches und die geschichtsphilosophische Legitimation, daß ihre Verwirklichung das Gebot der Stunde sei, fällt nun wieder auseinander. Die Helden sind nicht heroisch, und das was ist, ist nicht die Vernunft.

V. Geschichte ist nicht heroisch – das war die europäische (speziell aber deutsche) Erkenntnissituation nach zwei Weltkriegen – und in dieser entheroisierten Geschichte leben wir nun schon seit über 45 Jahren. Viele der alten Heroen haben sich schwergetan das zu akzeptieren; zu sehr waren sie gewöhnt an das Klischee von den »Händlern und Helden«. Einige haben – verärgert – sogar das Ende der Geschichte verkündet. Ich will Sie aber nicht mit der »Posthistoire« langweilen, sondern vielmehr – denn nach der Tragödie kommt die Komödie – noch ein typisches Zeitdokument aus den 50er Jahren zu Rate ziehen, um zu zeigen, was nun aus dem Helden in einer unheldischen Zeit geworden ist. Niemand hat das schöner dargestellt als Ernst Jünger in den »Gläsernen Bienen«. Der arbeitslose Rittmeister sucht einen Posten in der Industrie – eigentlich mehr, worauf beständig verwiesen wird, um seiner Ehefrau einen angemessenen

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Lebensstandard liefern zu können, als um seiner selbst willen. Ein alter Kamerad wird die Stellung beschaffen. Mit der alten Reiterherrlichkeit ist es übrigens schon lange vorbei, seit ein »mickriger Bursche«, irgend so ein Messerschmied aus Sheffield oder ein Weber aus Manchester (da sind noch einmal die Händler) ihn mit einer Art MG aus dem Sattel geholt hat. (52) Doch die Krieger hatten noch nicht aufgegeben, und kamen das nächste Mal mit Panzern wieder. (56) Aber auch dieses Mal hatte sich der Mann aus Manchester ein Gegenmittel erdacht. Das ist die Lage. Die besten Jobs sind auch schon vergeben, nur in einer maßlos dämonisierten Automatenfabrikation scheint noch eine Stelle frei zu sein: Rittmeister Richard muß beim undurchsichtigen Industrieboß Zapparoni vorsprechen. In einem Garten, wartend sich selbst überlassen, stößt er auf eine ansehnliche Anzahl abgeschnittener Ohren – und fühlt sich zugleich in seiner Reaktion beobachtet. »Als ich den Anschlag durchschaute, ergriff mich die blinde Wut. Ein alter Krieger, ein Leichter Reiter und Monterons Schüler antichambrierte vor einem Laden, in dem abgeschnittene Ohren gezeigt wurden, während man im Hintergrunde kicherte. Bis jetzt hatte ich noch mit guten Waffen gefochten und den Dienst verlassen, bevor scheußliche Kalfaktoren ihre Mordbrände ausklügelten. (Sic!) Hier sollten neue Finessen vorbereitet werden, im Liliputanerstil. [...] Der Rauchkopf war jetzt höchst munter geworden, stieg auf und nieder wie ein Späher, der einen Vorgang in jeder Perspektive genießen will. Ich griff nach der Golftasche und riß eines der stärkeren Eisen heraus, mit dem ich weit ausholte. Als ich in Position stand, ertönte eine knappe Warnung, wie man sie in den Luftschutzbunkern hört. Ich ließ mich aber nicht anfechten, sondern traf, nachdem ich mich um die Achse gedreht hatte, den Rauchkopf mit der Fläche des Eisens, das ihn zerschmetterte. Ich sah eine Spirale aus seinem Bauch springen. Dem folgte eine Reihe von Zündungen, als ob ein Knallfrosch explodierte, und eine rotbraune Wolke stieg vom Eisen auf.« (Gläserne Bienen, 134) Es ist interessant zu lesen, was der Klappentextschreiber von 1960 zu sagen weiß: »Zum Brotberuf gezwungen, wird er von einem mächtigen Wirtschaftsführer getestet, besteht aber die Prüfung nicht, da er einen bienenhaften MikroRoboter, der ihn umkreist, abwehrend zertrümmert.« Hat er denn das Buch nicht zuende gelesen? »Rittmeister Richard« – spricht Zapparoni zum Schluß – »würden Sie das annehmen? – Gut, dann will ich Sie drüben anmelden. Ich hoffe, daß auch ein Vorschuß Sie nicht kränken wird.« (140) Natürlich wird er angestellt, und nun kann er auch Theresa das schöne Sommerkleid kaufen. »Es paßte wie angegossen; ich kannte genau ihr Maß.« (142) Bemerken Sie den heroischen Singular »ihr Maß«? Nicht etwa ihre Maße 90 – 60 – 90 oder dergleichen demokratische Schweinereien. Und warum wird er eingestellt? Weil im entscheiden-

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den Augenblick noch einmal seine alten Tugenden aufblitzen – und er zuschlägt, wenn auch nun mit einem Golfschläger. Denn eine harte, gleichwohl abwägende Hand bleibt gefragt in der Industrie, die es beständig mit unbotmäßigen Facharbeitern zu tun hat, die den kostbaren Filmmarionetten (Filme werden nur noch mit künstlichen Menschen gedreht, weil sie perfekter sind), die also den Filmmarionetten die Ohren abschneiden, um vielleicht der Konkurrenz in die Hände zu spielen. Hier findet der alte Militär Unterschlupf, und daß er zwischen den Kriegen in der Panzerabnahme gearbeitet hat, kommt ihm nun auch zugute. Fast scheint es so, als schämte sich Jünger dieser bundesrepublikanischen Kompromißlösung, denn in der zweiten Auflage hat er noch einen Epilog hinterhergeschickt; die Biografie des Rittmeisters Richard ist im »Historischen Seminar« gespeichert, Abteilung »Probleme der Automatenwelt«. Aber bei den Historikern ist für das Leben Richards keine Gerechtigkeit zu erwarten. Denn nach der Niederlage kriechen nun die Moralisierer hervor, die post festum alles schon vorher gewußt haben. Und nun tut der Autor ein Äußerstes: Er ruft Gott und die Geschichte an. »Es bleibt die tröstliche Vermutung, daß in und über der Geschichte ein Sinn obwaltet, der mit unseren Mitteln nicht zu errechnen ist. Wir wissen nicht und dürfen nicht wissen, was Geschichte in der Substanz, im Absoluten ist, jenseits der Zeit. Wir ahnen, aber wir kennen nicht das Urteil im Totengericht. Da könnte unverhoffter Glanz hereinbrechen und Mauern umwerfen.« (145 f.) An diesem Punkt wird die Parabel interessant. Inmitten der unheroisch gewordenen Geschichte, die es gelernt hat, von Endlösungen aller Art Abstand zu nehmen, die darauf verzichtet, den dynamischen historischen Prozeß »stillstellen« zu wollen, die aber nach kritischen Bifurkationspunkten Ausschau hält, wie man ihn vielleicht in jeweils erträgliche Richtungen steuern kann – inmitten dieser neuen Zeit mit neuen Problemen haben sich die alten Heroen eingegraben –und warten auf Erlösung durch Gott und die Geschichte. Tatsächlich treffen sie damit auf einen wunden Punkt – zumindest des klassischen Historismus – in der Beurteilung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn nach der Sentenz des Leopold von Ranke aus dem Jahre 1854 erscheinen vor Gott »alle Generationen der Menschheit gleichberechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen.« Wäre eine Generation moralisch vortrefflicher als eine andere, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Man muß sich klar machen vor diesem Hintergrund, was mit dieser Generation nach 1945 geschehen ist: man sprach ihnen im Sinne des Historismus die gleiche Nähe zu Gott ab – oder, falls Sie nicht an diese Hypothese glauben – man sprengte sie aus dem Verbund der Menschheit heraus. Da man ihnen aber die Erlösung versagt hat, konnten sie auch unabgegolten weiterwirken. Natürlich kann man auch sagen: fallen wir nicht auf eine Finte herein? Mit welchem Recht beruft sich denn der Rittmeis-

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ter/Autor auf das Jüngste Gericht? Ist er ein Anhänger der Lehre des Origenes von der »Apokatastasis« – von der endgültigen Erlösung selbst des Satans, damit Gott sei alles in allem und kein Feind mehr übrig bleibt? Er soll sich vorsehen. Denn die Lehre von der Apokatastasis (zu der es von Ranke her übrigens Verbindungen gibt) war immer eine Häresie. Wird er vor das gewöhnliche »Jüngste Gericht« gestellt, das diese umfassende Gnade nicht kennt – kann es durchaus geschehen, daß er gewogen und zu leicht befunden wird. Und dann kommt er nicht nur in das Fegefeuer der Literaturkritik, sondern endgültig und unwiderruflich in die Hölle. Weniger apodiktisch geht es bei der Berufung auf die Geschichte zu, denn die Geschichte ist offen. Hier geht es nicht um eine theologische, sondern um eine politische Frage, um die nämlich, ob man es schaffen wird, das mühsam erreichte Stadium der entheroisierten Geschichte zu bewahren. Das 20. Jahrhundert folgte einem eigenartigen Rhythmus: alle welterschütternden Ereignisse (aus europäischer Sicht) drängten sich in seiner ersten Hälfte zusammen. Die zweite hatte bislang nichts anderes zu tun, als das dort Geschehene allmählich zu begreifen, wenn auch die Probleme des Verstehens hinter die des Bewertens zunächst zurückgestellt wurden. Für die Zeit des »Kalten Krieges« mit seinen eindeutigen Werthierarchien in Ost und West hatte dieses Verfahren sein gutes Recht; aber diese Zeit ist vorbei und wir befinden uns auf einem neuen Terrain. Alte historische Ängste – die von Europa als einer »belagerten Festung« (denken Sie an das Buch von Jean Delumeau über die »Angst im Abendland«) breiten sich wieder aus, und es wird an uns liegen, daran mitzuwirken, daß sich damit nicht zugleich auch der Ruf nach den Helden und der heroischen Geschichte wieder erhebt. Alexandre Kojève hatte ihnen nach dem Krieg den Snobismus der Kamikaze-Flieger als letztes Refugium zugewiesen; sein Schüler Francis Fukuyama die Risikosportarten. Wir wollen hoffen, daß es dabei bleibt.

Geschichtsdenken nach der Geschichtsphilosophie Kittsteiner und Heidegger Jan Eike Dunkhase

»Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie«? – Die Frage, die sich im Anschluss an Heinz Dieter Kittsteiners »Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte«1 stellt, legt es nahe, nach einem alternativen Begriff Ausschau zu halten, um die geschichtsphilosophische Anleitung vom herkömmlichen Begriff der Geschichtsphilosophie zu entlasten. Einen geeigneten Kandidaten, ein Synonym, das eben doch keines ist, könnte das »Geschichtsdenken« darstellen. Der Begriff wirkt auf den ersten Blick unproblematisch, da er mit keiner bestimmten Philosophie verbunden zu sein scheint; darin unterscheidet er sich von der meist mit den Fortschrittslehren aus dem 18. und 19. Jahrhundert assoziierten Geschichtsphilosophie. In diesem offenen Sinn eines irgendwie philosophisch angeleiteten Nachdenkens über Geschichte ist er seit dem 20. Jahrhundert vielfach verwendet worden, auch von Kittsteiner. »Geschichtsdenken« gehört nicht zu den Grundbegriffen der Geschichtswissenschaft, die Stefan Jordan in seinem handlichen Reclam-Lexikon versammelt hat; würde es hierzu einen Beitrag geben, wäre er von Kittsteiners Beitrag zur Geschichtsphilosophie durch die Stichworte »Geschichtsdidaktik« und »Geschichtskultur« getrennt.2 Ganz unbesetzt ist der Begriff allerdings nicht. Ernst

1

Heinz Dieter Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte (1999/2000), in: ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004, S. 33‒44.

2

Stefan Jordan, Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe (2002), Stuttgart 2007.

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Nolte hat ihn in seinem Werk Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas (1991) von Geschichtsphilosophie, Geschichtstheorie, politischem Denken und Zeitdiagnose abzugrenzen versucht. Er verharrte bei negativen Merkmalen: »Unsicherheit statt Selbstgewißheit, Problematik statt Apodiktizität, Ratlosigkeit statt hilfreicher Doktrin«. Als Hauptkennzeichen des Geschichtsdenkens identifizierte er die »Betroffenheit, die aus der Verworrenheit der Gegenwart und der Bedrohlichkeit der Zukunft erwächst«.3 Doch soll es hier nicht um eine denkerische Verbindung Kittsteiners mit Ernst Nolte gehen, sondern um die mit einem Philosophen, der den Begriff des Geschichtsdenkens lange vor Nolte dezidiert vertreten hat. Martin Heidegger war, wie Kittsteiner, ein Kritiker der Geschichtsphilosophie, der der Geschichte philosophisch begegnete. Wie begegnete Kittsteiner Heidegger? Heideggers Hauptwerk, Sein und Zeit, erwarb und las Kittsteiner bereits 1970 als Student an der Freien Universität Berlin.4 Zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit Heidegger hinaus kam es aber wohl erst knapp zwei Jahrzehnte später, und zwar anlässlich eines Schocks. Schockiert war dabei nicht Kittsteiner, schockiert war das intellektuelle Frankreich. Die Rede ist von dem ersten großen Schock innerhalb der so schockreichen Wirkungsgeschichte des Denkers nach Erscheinen von Victor Farías Buch über Heidegger und den Nationalsozialismus im Jahr 1987.5 Wir befinden uns in Paris, im März 1988. Kittsteiner, Sprachschüler am CNRS, schreibt an Reinhart Koselleck: »Nebenbei bekümmere ich mich um die hiesige Rezeption des Historiker-Streits (H. Wismann hat gerade das bei Piper erschienene Buch herausgebracht) und um den immer noch anhaltenden Heidegger-Schock. Aus französischer Sicht wird so E. Nolte in der Tat zum Verbindungsglied zwischen beiden Ereignissen. So weit die großen Dinge dieser Welt.«6

3

Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas (1991), 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 23.

4

Diesen Befund aus Kittsteiners Bibliothek im Archiv der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) verdanke ich Jannis Wagner.

5

Victor Fariàs, Heidegger et le nazisme, Paris 1987; dt.: Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1989.

6

Kittsteiner an Koselleck, 6. März [1988], in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Koselleck. Bei dem Piper-Band handelt es sich um: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München, Zürich 1987. Die französische Ausgabe mit einem Vorwort von Luc Ferry und einer Einleitung von Joseph Rovan erschien in der seinerzeit von Heinz Wismann herausgegebenen Reihe »Passages« der Éditions du Cerf: Dévant l’histoire.

Geschichtsdenken nach der Geschichtsphilosophie | 145

Die Briefstelle wirft nicht nur Licht auf den französischen Kontext von Kittsteiners Heidegger-Lektüre, die in seinem Spätwerk reiche Früchte tragen sollte. Sie versammelt zugleich die drei Historiker, auf die sich die Heidegger-Rezeption innerhalb der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft weitgehend beschränkt zu haben scheint: Nolte, Koselleck, Kittsteiner – eine fragwürdige Zusammenstellung, fragwürdig, wie so vieles, was mit Heidegger zu tun. Ernst Nolte war unter den drei Historiker-Philosophen derjenige, der sich die Zuschreibung »Heideggerianer« am Ehesten hätte gefallen lassen. Er geriet im Sommersemester 1944 als Freiburger Student in Heideggers Bann, brachte ihm im Februar 1945 mit dem Fahrrad Wäsche über den Schwarzwald nach Meßkirch und vereinbarte mit ihm sogar noch ein Promotionsvorhaben über Plotins Zeit-Vorstellungen, das dann nicht mehr verwirklicht werden konnte.7 1992 legte er eine umfangreiche politische Biographie Heideggers vor, um ihn gegen Farías verstehend in Schutz zu nehmen.8 Dabei scheint für Nolte fast mehr der »Durchschnittsvolksgenosse«, als den Thomas Meyer Heidegger im Hinblick auf dessen ab 1938/39 vereinzelt in den Schwarzen Heften auftauchende antisemitische Äußerungen identifiziert hat,9 von Interesse gewesen zu sein als Heideggers philosophisches Werk, durch das er sich so eklatant von seinen Volksgenossen unterschied. Spuren desselben sind bei Nolte eher spärlich ausgeprägt. In seinem Hauptwerk Historische Existenz etwa taucht Heidegger nur ganz am Rande, als Vordenker des ökologischen Bewusstseins, auf. 10 Wichtiger noch: Noltes Geschichtsdenken ist erklärtermaßen gar nicht dahin vorgedrungen, wo sich Heidegger explizit als Geschichtsdenker präsentiert. Dem seinsgeschichtlichen Spätwerk fühlte sich Nolte nach eigener Auskunft »nicht gewachsen«.11 So entging dem Vertreter der notorischen These vom »kausalen Nexus« zwischen Gulag und Auschwitz neben vielem anderen auch Heideggers vehemente Kritik am »ergebnissichere[n] Denken in ›Kausalitäten‹«, an der »Rechtfertigungen und ›Sinngebungen‹« verpflichteten historischen Methode, »die völlig in Kausalitäten Les documents de la controverse sur la singularité de l’extermination des Juifs par le régime nazi, Paris 1988. 7

Ernst Nolte, Rückblick auf mein Leben und Denken, Reinbek, München 2014, S. 27 f.

8

Ders., Martin Heidegger. Politik und Geschichte im Leben und Denken, Frankfurt a.M. 1992.

9

Thomas Meyer, Heidegger aus der Sicht eines Ideenhistorikers, in: Walter Homolka, Arnulf Heidegger (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit, Freiburg 2016, S. 300−309, hier: S. 305.

10 Ernst Nolte, Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, München, Zürich 1998, S. 609, 611 u. 634. 11 Ders., Rückblick (Anm. 7), S. 129.

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denkt und das ›Leben‹ und das ›Erlebbare‹ der kausalen Nachrechnung zugänglich macht und allein darin die Form des geschichtlichen ›Wissens‹ sieht«.12 Was dies anging, stand Reinhart Koselleck mit seiner Bevorzugung der phänomenologischen gegenüber der genetischen Betrachtungsweise Heidegger viel näher. Er behielt es als »sehr ›belehrend‹, schlicht grossartig« in Erinnerung, wie Heidegger in Heidelberger Kolloquien »Texte von Hegel mit Kant verglich, dann die Begriffe über Leibniz, Thomas und Augustin zu Aristoteles zurückverfolgte« und dadurch »Geschichte hörbar« wurde.13 Sein und Zeit war ein »Initiationsbuch«14, Heideggers Daseinsanalyse stand am Anfang von Kosellecks lebenslangem Ringen mit der »Zeitlichkeit« und wirkte tief in seine Historik hinein. Auch bei Kosellecks Kritik der Vorstellung von der »Verfügbarkeit der Geschichte«15, mit der er Kittsteiner dessen geschichtsphilosophisches Lebensthema vorformulierte, hallt Heidegger nach. »Das Erkennen als Forschung zieht das Seiende zur Rechenschaft darüber, wie es und wieweit es dem Vorstellen verfügbar zu machen ist. Die Forschung verfügt über das Seiende, wenn es dieses entweder in seinem künftigen Verlauf vorausberechnen oder als Vergangenes nachrechnen kann.« 16 Heideggers Vortrag Die Zeit des Weltbildes von 1938, aus dem diese Sätze stammen, hat Koselleck nicht nur gelesen – er hat ihn auch zur Grundlage eines Referats gemacht, in dem er um 1950, noch im Studium, Heidegger mit Marx verglich und »die sich selbst enthüllende Geschichte als die entscheidende Analogie aufzeigte«.17 »Kann es gelingen, die Vergegenständlichung einmal aufzuheben, dann öffnet sich die Zukunft des Seins«, heißt es am Ende dieses Referats. »Marx analysierte die Ökonomie der Geschichte, und sah mit ihrer Überwindung die Revolution unse12 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1989 (= GA 65), S. 147 f. 13 Koselleck an Carl Schmitt, 3. Januar 1977, in: Jan Eike Dunkhase (Hg.), Reinhart Koselleck, Carl Schmitt. Der Briefwechsel 1953–1988, Berlin 2019, S. 307. 14 Manfred Hettling, Bernd Ulrich, Formen der Bürgerlichkeit. Gespräch mit Reinhart Koselleck (2003), in: dies. (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 40−60, hier: S. 56. 15 Reinhart Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte (1977), in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, S. 260−277. 16 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes (1938/1950), in: ders., Holzwege, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2003 (GA 5), S. 75−113, hier: S. 86 f. 17 Reinhart Koselleck, Carsten Dutt, Erfahrene Geschichte, Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 40.

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rer Welt beendet. Heidegger hinterfragt die metaphysischen Voraussetzungen unserer Zeit und vermutet nach deren Überwindung den dauerfähigsten Abschnitt unserer Geschichte.«18 Kittsteiner hat dieses nachgelassene Referat nicht gekannt, als er ein halbes Jahrhundert später, in seinem 2004 erschienenen Werk Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx ebenfalls daranging, die beiden Denker miteinander kurzzuschließen. Dafür kannte er – anders als Koselleck, der im Allgemeinen ähnlich wie Nolte Abstand zu Heideggers Spätphilosophie hielt – Heideggers zweites Hauptwerk, die zwischen 1936 und 1938 entstandenen, 1989 aus dem Nachlass herausgegebenen Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Die zeitliche Koinzidenz von deren Erscheinen nicht nur mit Heideggers 100. Geburtstag, sondern auch mit dem Ende des real existierenden Sozialismus erschien ihm bemerkenswert.19 Anfang der neunziger Jahre hatte sich Kittsteiner erst einmal wieder dem Heidegger von Sein und Zeit zugewandt, genauer: dem Vertreter eines, wie er fand, spezifisch deutschen, transmoralischen Gewissenskonzepts, das er in der geplanten Fortsetzung seines Werks über die Geschichte des modernen Gewissens20 behandeln wollte. Dieses Vorhaben wurde zwar nicht verwirklicht, dafür gewann allmählich sein historiographisches Programm der »Stufen der Moderne« Konturen. In seiner auf sechs Halbbände angelegten Deutschen Geschichte, von der er nur den ersten vollenden konnte, war Heidegger eine prominente Stellung zugewiesen: Im letzten Halbband über die »letzten Tage der Menschheit« von 1916 bis 1945 sollte ein ganzes der acht Kapitel den berühmten § 27 aus Sein und Zeit über »das Man« behandeln. Ein weiteres Kapitel, über den »Schicksalsrausch« im Jahr 1933, sollte sich Heidegger mit Gottfried Benn teilen.21 Er fungierte als zentraler Protagonist der von Kittsteiner 18 Reinhart Koselleck, Die Zeit des Weltbilds (ca. 1950), in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, A: Koselleck, S. 12. 19 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München 2004, S. 18. Kittsteiners Vermittlungsversuch hat nur wenig Anklang gefunden. Der Philosoph Peter Trawny etwa bezweifelte jüngst noch einmal apodiktisch, dass es eine »sinnvolle Verbindung Heidegger’scher und Marx’scher Gedanken« geben könne (Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie, Frankfurt a.M. 2018, S. 197). Vgl. dagegen: Jan Eike Dunkhase, Heidegger, Marx und die Wertkritik, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11 (2017) 3, S. 33-40. 20 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. 1991. 21 Vgl. die Einleitung von Jürgen Kaube, in: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618−1715, München 2010, S. 9−22, hier: S. 17.

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diagnostizierten »Heroischen Moderne«, eine alles andere als positive Rolle, wie Kittsteiners Aufsatz über Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung zeigt, der mit dem folgenden Resümee endet: »Die Deutschen sind aus dem Taumel nicht in den Stand gekommen, vielleicht begreifen sie auch allmählich, in Abkehr ihrer Tradition der Zivilisationskritik, dass das keine wünschenswerte Perspektive ist. Sie haben aber im 20. Jahrhundert den ›Block eines Werkes‹ hinterlassen, das zu dem Unheimlichsten gehört, was je geschehen ist.«22 Gleichzeitig fing Kittsteiner bei seiner kritisch motivierten HeideggerLektüre doch irgendwie Feuer. Er war kein Scheuklappenleser, der in einem Text nur das findet, was er sucht, das, was zur vorgefertigten Problemstellung passt. Eine solch offene Geistes- und Lesehaltung ist heute, zumal in Bezug auf Heidegger, keineswegs mehr selbstverständlich. Manch einem geht noch Jürgen Habermas’ klassisches Diktum »Es scheint an der Zeit zu sein, mit Heidegger gegen Heidegger zu denken«23 nicht weit genug: »Heute müssen wir einen entscheidenden Schritt weiter gehen«, meint etwa der Chefredakteur eines philosophischen Magazins. »Es gibt kein ›mit Heidegger‹. Es ist an der Zeit, ohne Heidegger zu denken.«24 Kittsteiner fiel es seit der Jahrtausendwende offensichtlich immer schwerer, ohne Heidegger zu denken. Hinter seiner Zusammenführung von Heidegger und Marx stand eine intellektuelle Krise. Marx und Heidegger stützen sich hier nicht nur gegenseitig, sie stützen auch das ins Wanken geratene Denkgebäude eines in die Jahre gekommenen Westberliner Marxisten. Outete sich Kittsteiner selbst als Gnostiker, wenn er die beiden Denker unter der Prämisse ineinander montierte, »die Weltsicht der Gnosis vom schlechten Schöpfergott und dem kommenden Gott der Erlösung« habe sich auf sie »verteilt«, wenn er konstatierte: »Marx begreift, was ist, und Heidegger er-denkt was fehlt«?25 Jürgen Kaube hat dies nahelegt, als er in seiner FAZ-Rezension den Verdacht äußerte, es handele sich hier »wie schon bei Heidegger um den Entwurf einer Intellektuellenreligion«. 26

22 Heinz Dieter Kittsteiner, Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung (1997), in: ders., Out of Control (Anm. 1), S. 165−192, hier: S. 192. 23 Jürgen Habermas, Mit Heidegger gegen Heidegger denken. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.Juli 1953. 24 Thomas Vasek, Schluss mit Heidegger?, in: Homolka, Heidegger (Anm. 9), S. 392−404, hier: S. 404. 25 Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger (Anm. 19), S. 14 f. 26 Jürgen Kaube, Die Unvernunft in der Geschichte. Vom falschen Gott: Heinz Dieter Kittsteiner verlötet Weltmarkt und Seinsgeschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. März 2004.

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Man mag nun darüber streiten, was schwerer wiegt, das religiöse Moment oder der Anschluss desselben an Heidegger; politisch gewiss Letzteres. Was dies angeht, würdigt Kaube in seiner im Lob insgesamt zurückhaltenden Besprechung, dass Kittsteiners »unaufgeregt trockene Deutung der ›Holzwege zum Führer‹ […] zum Besten« gehört, »was man in dieser Sache lesen kann«. 27 So wenig Kittsteiner irgendetwas an Heideggers politischer Verfehlung beschönigen wollte, so wenig wollte er sich von der immer wieder aufflackernden Debatte über Heidegger und den Nationalsozialismus eine produktive Auseinandersetzung mit dem Philosophen verbauen lassen. Als 2007, kurz vor Erscheinen der französischen Ausgabe des Werks28, sein Übersetzer Emmanuel Prokob aus Paris bei ihm anfragte, wie er sich angesichts der aktuellen Debatte um das Enthüllungsbuch von Emmanuel Faye29 verhalten wolle, antwortete Kittsteiner ihm, er habe um die ganze Kontroverse »einen großen Bogen gemacht«, weil ihm »das alles etwas altertümlich« zu sein scheine.30 Der Heidegger, in dem Kittsteiners Vermittlungsversuch mit Marx gipfelt, ist der Seinsgeschichtsdenker, der nach seiner inneren Abkehr vom Nationalsozialismus den »Rückzug ins Unzeitgemäße«31 antritt, wie er sich in den Beiträgen zur Philosophie manifestiert. »Unzeitgemäß« ist hier in einem ganz radikalen Sinne zu verstehen; denn in Heideggers »Geschichte des Seyns« fehle, so Kittsteiner, »alles von dem, was wir als ›Geschichte‹ bezeichnen würden. Das ist für Heidegger ›Historie‹. Heidegger liefert eine Geschichtstheologie, die den Grundzug guter Geschichtstheologien bewahrt hat: sie läßt sich nicht auf ihren Verwirklichungsort in der Geschichte ein, sondern verbleibt in einer schwebenden Parallelaktion.«32 Unter dem Aspekt einer neuen »Geschichtstheologie« attestiert Kittsteiner Heidegger gar eine Gesinnungsgleichheit mit Walter Benjamin – eine bemerkenswerte Pointe, wenn man Kittsteiners tiefe Verbundenheit 27 Ebd. 28 Heinz Dieter Kittsteiner, Marx – Heidegger. Les philosophes gnostiques de l’histoire, Paris 2007. 29 Emmanuel Faye, Heidegger, l'introduction du nazisme dans la philosophie: autour des séminaires inédits de 1933-1935, Paris 2005; dt.: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935 (2005), Berlin 2009. 30 Prokob an Kittsteiner (Email), 17. Januar 2007; Kittsteiner an Prokob (Email), 19. Januar 2007, in: Archiv der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), NL Kittsteiner. Ich danke Jannis Wagner auch für diesen Hinweis – und Emmanuel Prokob für die freundliche Genehmigung zur Zitation. 31 Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger (Anm. 19), S. 179. 32 Ebd., 201.

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mit Benjamin33 bedenkt. »Ihr Zurückgehen in die theologischen Vorformen der Geschichtsphilosophie war zugleich ein Vorwärts über die Geschichtsphilosophie hinaus. Heideggers Denken zwischen 1936 und 1939 ist nur ein Teil dieser umfassenden Bewegung. Benjamin schlägt den Weg in den Messianismus offen ein; Heidegger nimmt theologisches Vokabular in sich auf und hofft ebenfalls auf die Ankunft eines Anderen«.34 Das »Große an den ›Beiträgen zur Philosophie‹ mit dem eigentlichen Titel: Vom Ereignis« liegt für Kittsteiner am Ende darin, dass Heidegger den »Kampfplatz« der Metaphysik offengehalten hat, und damit auch die »Hoffnung auf die Wiederbringung des Seienden aus der Wahrheit des Seins – als regulative Idee für das Denken und Handeln in der tiefen Langeweile der Gegenwart«.35In einer Fußnote deutet Kittsteiner mit einem Zitat aus Heideggers Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit an, was unter der tiefen Langeweile zu verstehen ist: die »Leergelassenheit im Sinne des Sichversagens des Seienden im Ganzen«. In der Freiburger Vorlesung von 1929/30 unterscheidet Heidegger die so umschriebene tiefe Langeweile von den oberflächlichen Langeweilen des Gelangweiltseins von etwas und des Sichlangweilens bei etwas. Die tiefe Langeweile ist die Grundstimmung, aus der heraus überhaupt erst das »zutiefst verborgen Bedrängende«, d. i. »das Ausbleiben einer wesenhaften Bedrängnis unseres Daseins im Ganzen«, die Seinsverlassenheit, offenbar werden kann. Dies wiederum ist nach Heidegger die Voraussetzung dafür, dass die Grundfrage der Metaphysik gefragt werden kann – die Frage nach dem Sein. An Kittsteiner wäre also die Frage zu richten, wie die Frage nach dem Sein eine »regulative Idee« für gegenwärtiges Denken und Handeln bedingen kann. Auf unsere Ausgangsfrage hin reduziert, richtet sich die Frage auf Heideggers Geschichtsdenken. Kann es womöglich als »regulative Idee« für die Historie dienen? Die Historie nimmt in Heideggers Denken eine Stellung ein, die mit der Zeit immer negativer wird, wenn man die Entwicklung von seiner Freiburger Antrittsvorlesung zum »Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft« von 1915 über die Vorstellung einer »eigentlichen Historie« in Sein und Zeit bis hinein in die

33 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Benjamins Historismus, in: Norbert Bolz, Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, München 1984, S. 162-197; Jannis Wagner, Mit Marx und Benjamin. Heinz Dieter Kittsteiner und die (Un)Verfügbarkeit der Geschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 102 (1/2020), S. 195-210. 34 Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger (Anm. 19), S. 216 f. 35 Ebd., S. 225 f.

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seinsgeschichtliche Phase betrachtet.36 Es wäre aufschlussreich, diese Entwicklung eingehender mit der Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in diesem Zeitraum zu konfrontieren. Am Ende letzterer stand die sog. Volksgeschichte, die im Dritten Reich zur Blüte gelangte und nach 1945 in Teilen der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte fortwirkte. 37 Bei Heidegger stand am Ende die absolute Gegnerschaft gegenüber der Historie. In den Schwarzen Heften lässt er ihr, ausgehend von der wiederholt konstatierten »Wesensgleichheit der Historie mit der Technik«38, an unzähligen Stellen freien Lauf: »Die geschichtliche Erfahrung lehrt nur dieses, daß man durch Historie nichts lernt«, 39 heißt es hier, oder auch: »Der Historiker ist die personifizierte Negation der Geschichte.«40 Dabei macht Heidegger seinen Abscheu vor der Historie gerade an deren völkischen Spielarten fest, nicht zuletzt an der »Historie ›über‹ das Bauerntum«. Zu dieser meint er: »Mein Hund – der ›Spitz‹ – hat noch mehr ›Bauerntum‹ in der Schnauze und in den Knochen als diese aufgeblähten, bodenlosen und lehrstuhlsüchtigen Falschmünzer. Doch der völkische und andere Snob wird solche Bauerntumshistorie mit Behagen ›lesen‹ – und seine Genossen vielleicht noch damit ›schulen‹.«41 Die Seinsgeschichte war Heideggers Gegenwurf zur Volksgeschichte. Kittsteiner konnte die harschen Notate zur Historie in den Schwarzen Heften nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Er hat aber ähnliche Aussagen aus bereits publizierten Schriften Heideggers gekannt, einige von ihnen auch genüsslich zitiert. »Wie wahr« schrieb er in seinem programmatischen Aufsatz über die »Stufen der Moderne« hinter einen Satz aus Heideggers Nietzsche-Vorlesung von 1940, der lautet: »Die Historiker haben darin ihre Auszeichnung, dass sie nicht geschichtlich denken können und auch nicht zu denken brauchen; denn sie sind nur die verärgerten oder übereifrigen Handlanger ihrer Gegenwart.« 42 36 Martin Heidegger, Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft (1916), in: ders., Frühe Schriften, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1978 (GA 1), S. 413‒433; ders., Sein und Zeit (1927), 12. Aufl., Tübingen 1972, S. 394-397. 37 Vgl. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993. 38 Martin Heidegger, Überlegungen XII‒XV (Schwarze Hefte 1939–1941), hg. von Peter Trawny, Frankfurt a.M. 2014 (GA 96), S. 63. 39 Ders., Anmerkungen I−V (Schwarze Hefte 1942 – 1948), hg. von Peter Trawny, Frankfurt a.M. 2015 (GA 97), S. 353. 40 Ebd., S. 91. 41 Ders., Überlegungen XII−XV (Anm. 38), S. 90 f. 42 Ders., Nietzsche. Der europäische Nihilismus (1940), hg. von Petra Jaeger, Frankfurt a.M. 1986 (GA 48), S. 184.

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Auf die Zustimmung zu dieser Sentenz, die Kittsteiners Unbehagen in der Geschichtswissenschaft seiner Gegenwart zum Ausdruck bringt, folgt jedoch – chronologisch nicht korrekt − sogleich die Kritik an Heideggers eigenem Handlangertum wenige Jahre zuvor: »An die Stelle des Geschichtsdenkens tritt wieder der Mythos.«43 Kittsteiner trennt also das heideggersche Geschichtsdenken vom heideggerschen Mythos. Hier liegt womöglich der springende Punkt: Lässt sich Heideggers seinsgeschichtlich motiviertes Geschichtsdenken ohne seine seinsgeschichtliche Überwölbung als »regulative Idee« für eine Geschichtsschreibung bedenken, die mit Kittsteiner postgeschichtsphilosophisch geschichtsphilosophisch angeleitet sein will? In den Beiträgen zur Philosophie behandelt Heidegger die Historie als zentrales Moment der neuzeitlichen Wissenschaft, durch die wesentlich über die Seinsverlassenheit mitentschieden wird. Historie meint dabei das »feststellende Erklären des Vergangenen aus dem Gesichtskreis der berechnenden Bestrebungen der Gegenwart. Das Seiende ist hierbei vorausgesetzt als das Bestell-, Herstell- und Feststellbare (ίδέα).« Und das »Fest-stellen dient einem Behalten, das nicht so sehr das Vergangene nicht entgleiten lassen will, als vielmehr das Gegenwärtige als das Vorhandene verewigen will. Verewigung ist immer als Strebnis die Folge der Herrschaft der Historie, ist die anscheinend der Geschichte verschriebene Flucht vor der Geschichte. Ver-ewigung ist das Nicht-von-sich(als einem Vorhandenen)-Loskommen einer geschichtsfernen Gegenwart. Die Historie ist als dieses Fest-stellen ein ständiges Vergleichen, das Herbeiholen des Anderen, darin man sich als das Weitergekommene spiegelt; ein Vergleichen, das von sich weg denkt, weil es nicht mit sich selbst fertig wird.« 44 Gegen all dies führt Heidegger sein »Geschichtsdenken« ins Feld: »Wird die Geschichte nicht historisch erklärt und auf ein bestimmtes Bild zu bestimmten Zwecken der Stellungnahme und Gesinnungsbildung verrechnet, wird vielmehr die Geschichte selbst in die Einzigkeit ihrer Unerklärbarkeit zurückgestellt und durch sie aller historische Umtrieb und jedes von ihr entspringende Meinen und Glauben in Frage und zur ständigen Entscheidung über sich selbst gestellt, dann vollzieht sich das, was das Geschichtsdenken genannt werden kann. Der Geschichtsdenker ist ebenso wesentlich verschieden vom Historiker wie vom Philosophen. Er darf am allerwenigsten mit jenem Scheingebilde zusammengebracht werden, das man ›Geschichtsphilosophie‹ zu nennen pflegt. Der Geschichtsdenker hat die Mitte seiner Besinnung und Darstellung jeweils in einem bestimmten Bereich des Schaffens, der Entscheidungen, der Gipfel und Abstürze innerhalb 43 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne (2003), in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 25‒57, hier: S. 55 f. 44 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Anm. 12), S. 493.

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der Geschichte […].« Heute würden sich dabei »notwendig, von außen gesehen, die Grenzen der Gestalten des Historikers und des Geschichtsdenkers« verwischen, »umso mehr, als die Historie entsprechend der zunehmenden Ausprägungen ihres zeitungswissenschaftlichen Charakters auf Grund ihrer reportagemäßigen Gesamtdarstellungen den verfänglichen Anschein einer überwissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung verbreitet und so die geschichtliche Besinnung völlig in Verwirrung bringt.«45 »Die Verfügung über alles Tatsächliche«, so Heidegger, »führt zu einer Absperrung von der Geschichte, die, je entschiedener sie wird, umso unkenntlicher den Abgesperrten bleibt«.46 Heideggers Geschichtsdenken fordert dazu heraus, das Wesen der Geschichtswissenschaft in ihrem modernen Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen. Kittsteiner, der parallel zu seinen Heidegger-Studien an einer Gesamtdarstellung zur deutschen Geschichte vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart arbeitete, hat das getan. Ihm war bewusst, dass die von ihm immer wieder aufgeworfene Frage der Verfügbarkeit der Geschichte auch die Frage der Verfügungsgewalt der Historie betrifft. Der gängigen »Zurechtmachung der Geschichte«, wie er im Vorwort seines Werks gut heideggerisch formulierte, steuerte Kittsteiner dabei mit etwas entgegen, was Heidegger in seinem apokalyptischen Groll ganz fernlag. Er nannte es »eine leise Ironie des Erzähltons – selbst da, wo es schwfällt −, denn sie allein ist der Grundstruktur einer nicht machbaren Geschichte angemessen.«47

45 Ebd., S. 154. 46 Ebd., S. 494. 47 Kittsteiner, Stabilisierungsmoderne (Anm. 21), S. 29.

Trauerarbeit in den Stufen der Moderne 1 Christian Voller Die Menschen sind es noch nicht. Unterm Zwang der zerbröckelnden Kontinua, die sie formten, reagieren sie restaurativ, wollen sie wiederherstellen, was noch nicht war.2 Hermann Schweppenhäuser, 1963

Über Hans Blumenberg wurde einmal geschrieben, seine Arbeiten müssten immer auch als ein »Stück Trauerarbeit« verstanden werden, »in denen er von etwas für immer Zerbrochenen Abschied nimmt, ohne den Abschied vom Abschied jemals zu vollziehen.«3 Ich denke, dass sich dieser Befund auf Heinz Dieter Kittsteiner, den in mehr als einer Hinsicht kongenialen Leser Blumenbergs, übertragen ließe. Sein programmatisches Bekenntnis, er »versuche aller-

1

Der folgende Text basiert auf einem Vortrag, den ich am 2. Dezember 2016 anlässlich der Tagung »Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie? Perspektiven einer Kulturgeschichte ausgehend von Heinz Dieter Kittsteiner« gehalten habe. Erstmals veröffentlicht wurden meine Überlegungen unter dem Titel »Trauerarbeit in den Stufen der Moderne. Auch eine Charakteristik Heinz Dieter Kittsteiners als Historiker« in: Un/Ordnungen denken. Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, hg. v. Anne Gräfe und Johannes Menzel, Berlin 2017, S. 216-234. Für den vorliegenden Band wurde der Aufsatz überarbeitet und ergänzt.

2

Hermann Schweppenhäuser, Diskontinuität als scheinkritische und als kritische gesellschaftliche Kategorie (1963), in: ders., Tractanda. Beiträge zur kritischen Theorie der Kultur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1972, S. 68-92, hier: S. 91.

3

Franz Josef Wetz, Abschied ohne Wiedersehen. Die Endgültigkeit des Verschwindens, in: ders., Hermann Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a.M. 1999, S. 28-55, hier: S. 31.

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dings, Geschichtsphilosophie neu wieder in Stellung zu bringen«, 4 mutet nämlich nur auf den ersten Blick beherzt und streitlustig an. Bei genauerer Betrachtung offenbart es auch Züge einer tief empfundenen Melancholie. Denn wer wollte bestreiten, dass die Zeit der ›großen Erzählungen‹ und geschichtsphilosophischen Entwürfe im Raum des postmodernen Wissens (Jean-François Lyotard) unwiderruflich an ihr Ende gekommen ist? Kittsteiner zumindest hat das nicht bestritten, und er hat auch den »Reflexionsgewinn«, den die Dekonstruktion der modernen Großerzählungen wohlmöglich gebracht hat, nicht prinzipiell geleugnet. Auch die Frage, ob die postmodernen Menschen »ihren ›verlorenen Erzählungen‹ nach[trauern]« würden, kann er verneinen.5 Denn eine Welt, in der das Kapital »pantheistisch« geworden ist, wie es in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Essay einigermaßen lakonisch heißt,6 bringt schlicht keinen Bedarf nach Geschichtsphilosophie mehr hervor. Auch glaube ich nicht, dass es Kittsteiner darum zu tun war, eine neue Geschichtsphilosophie zu erarbeiten, die an Stelle der alten würde treten könne. Sein Thema seit den 1970er Jahren war die »Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens«,7 nicht dessen Rehabilitierung als plausible Wissensform. Diese Kritik wiederum war sich nicht selbst Zweck, sondern wurde zunächst als »Beitrag zur Rekonstruktion des historischen Materialismus« gerechtfertigt, wie es in Kittsteiners Promotionsschrift noch programmatisch hieß.8 So wie Georg Lukács, der nach dem Scheitern der Revolution von 1918/19 philosophisch in der erklärten Absicht hinter Marx zu Hegel zurückgegangen ist, das »Wesen« der Marx’schen »Methode […] richtig zu verstehen«,9 gab auch Kittsteiner das Scheitern einer ›Revolution‹ – der von 1968 – Anlass, die Probleme der Geschichtsphilosophie wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Aus dieser Konstel4

Heinz Dieter Kittsteiner, Der deutsche Idealismus (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript. Zit. n. Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner, Zwang wird Sinn. Kittsteiners Benjaminlektüren im Kontext, in: Walter Benjamin. Politisches Denken, hg. v. Christine Blättler u. Christian Voller (= Staatsverständnisse, Bd. 93), Baden Baden 2016, S. 233-241, hier: S. 233.

5

Heinz Dieter Kittsteiner, Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 7.

6

Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München 2008, S. 172.

7

So der Untertitel der Dissertation von 1980. Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980.

8

Ebd., 11.

9

Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Neuwied, Berlin 1968, S. 51.

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lation, der notwendigen Revision also der gescheiterten Revolten der späten 1960er Jahre, zu der Kittsteiner seinen Beitrag leisten wollte, ergab sich ein lebenslanges Interesse für das geschichtsphilosophische Denken, das mit jenem Befund korrespondiert, den Theodor W. Adorno an den Anfang der Negativen Dialektik stellte: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.«10 Dieser Satz, so man ihn denn als Schlüssel gelten lässt, rückt vor allem einen Aspekt des Kittsteinerschen Projekts in den Vordergrund: Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Moment ihrer Verwirklichung nicht in der Theorie, sondern der Praxis hätte erfolgen müssen. In diesem Sinn notierte Kittsteiner 1967: »nicht wer sie erforscht macht darum schon Geschichte, sondern der sie durch Revolution in eine neue Qualität überführt, so ganz handgreiflich ›macht‹, kann die Vergangenheit forschend zum glückhaften Abschluß bringen.« 11 Schon einige Jahre später wollte Kittsteiner derartige Formulierungen dann nur mehr als ein »Dokument aus der Geschichte der Studentenbewegung« verstanden wissen.12 Nicht mehr die Machbarkeit, sondern die wesentliche Unverfügbarkeit von Geschichte wurde nun zu seinem Thema und sollte es ein Leben lang bleiben. Aus der handgreiflichen politischen Auseinandersetzung zog er sich, wie viele seiner Generationsgenossen, zurück, um sich fortan der Reflexion des Geschichtsdenkens und insbesondere der Geschichtsphilosophie zuzuwenden, hielt dabei an grundsätzlichen Einsichten, die er seinen Marxlektüren verdankte, aber fest. Das gilt vor allem für seine Kritik der Geschichtsphilosophie, denn im genuin geschichtsphilosophischen Begriff der historischen Totalität hatte er – Marx und Engels folgend13 – früh schon den Weltmarkt als ein alles 10 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a.M., 1970ff. (im Folgenden GS). Bd. 6, S. 7-412, hier: S. 15. 11 Heinz Dieter Kittsteiner, Die ›geschichtsphilosophischen Thesen‹, in Hildegard Brenner (Hg.), alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Nr. 56/57 Berlin 1967, S. 250. 12 Heinz Dieter Kittsteiner, Brief an den Suhrkampverlag, Betr.: Herausgabe einer Aufsatzsammlung zum Werk Walter Benjamins, Berlin, den 2. Mai 1975, zit. n. Schmieder, Voller, Wagner, Kittsteiners Benjaminlektüren, S. 235. 13 »In der bisherigen Geschichte ist es allerdings […] eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung ihrer Tätigkeit zur weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind (welche sie sich denn auch als Schikane des sogenannten Weltgeistes vorstellten), einer Macht, die immer massenhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist.«

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durchdringendes gesellschaftliches Verhältnis erkannt, und an dieser Erkenntnis bis in seine spätesten Schriften hinein festgehalten. Allein, die praktische Aufhebung dieser Totalität erschien ihm immer weniger wahrscheinlich und den »revolutionären Phantasien«, die er selbst einmal gehegt und ausgelebt hatte, begegnet er nun mit zunehmender Skepsis.14 Der von Marx begründeten Methode des historischen Materialismus bleibt Kittsteiner also zeitlebens verpflichtet, gibt die diesseitige Perspektive einer revolutionären Aufhebung des Kapitalverhältnisses im Nachgang der gescheiterten Versuche, sie zu verwirklichen, allerdings auf. Was dann bleibt ist die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses als Tatsache, und die unabgegoltenen Hypotheken jener philosophischen Tradition, die sie erstmals zum Gegenstand erhoben hatte, als Thema. Diese philosophische Tradition ist und bleibt für Kittsteiner ein singuläres Phänomen mit einem konkreten historischen Index: erst mit der Aufklärung und nur in Europa haben Philosophie und Historiographie auf eine sehr spezifische Weise zueinandergefunden, um miteinander ein Bündnis einzugehen, das auf die Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte zielte. Dieses Bündnis war je schon prekär und es fehlte weder an Philosophen noch an Historikern, die es lieber heute als morgen aufgekündigt hätten. Im Laufe der Moderne sind aufklärende Philosophie und spekulative Geschichtsforschung dann jede für sich in eine Krise geraten, in deren Folge sich auch ihre Allianz löste. Irgendwann zwischen den Weltkriegen hat die bürgerliche Geschichtsphilosophie als Wissensform ihre Plausibilität dann endgültig eingebüßt, und mit der gewaltsam erzwungenen Einsicht, dass es in der Geschichte eben nicht vernünftig zugeht, ist auch das Bündnis namens Geschichtsphilosophie zerbrochen. Für die einzelnen Disziplinen stellte das kein grundsätzliches Problem dar. Historiographie lässt sich ohne Philosophie – wenn auch nicht ohne Theorie – treiben, und ›postmoderne‹ Philosophie kommt gut und gerne ohne den Kollektivsingular Geschichte aus, solange sie sich auf den methodischen Pluralismus etwa der Genealogien Nietzsches oder der Geschichtlichkeit Heideggers stützen kann. Auch hier ist also kein Bedarf nach Geschichtsphilosophie zu konstatieren. Und doch erhält sich geschichtsphilosophisches Denken auf impertinente Weise gerade dort am Leben, wo es mit einiger Vehemenz als überholt verworfen wurde. Geschichtsphilosophische Motive – darauf hat Kittseiner immer wieder hin-

Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3, S. 37. 14 Vgl.: Heinz Dieter Kittsteiner, EMPIRE. Zu den revolutionären Phantasien von Antonio Negri und Michael Hardt, in: Richard Faber (Hg.), Imperialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 125-151.

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gewiesen – schleichen sich nämlich auch und gerade dann wieder ein, wenn die Historiographie ihnen endgültig entronnen zu sein glaubt. Vom klassischen Historismus Leopold von Rankes bis zur Sozialgeschichte Ulrich Wehlers und darüber hinaus entfaltet sich so eine Tradition innerhalb der Geschichtswissenschaft, die Kittsteiner vor allem deshalb kritikbedürftig erschien, weil sie im furor gegen die Geschichtsphilosophie geschichtsphilosophische Latenzen mitschleppt, die es zu erhellen gälte, anstatt sie zu verdrängen. 15 Kittsteiners Arbeiten zum Thema Geschichtsphilosophie müssen vor diesem Hintergrund in einem Problemfeld verortet werden, das sich zwischen zwei Polen aufspannt: Auf der einen Seite gibt es zwar keinen wie auch immer artikulierten Bedarf nach Geschichtsphilosophie mehr, dafür aber geschichtsphilosophische Latenzen, die unbewusst wirken und der Reflexion harren. Auf der anderen Seite ist die Austreibung der Geschichtsphilosophie aus der Geschichtswissenschaft Kittsteiner zufolge zwar insofern erfolgreich gewesen, als heute »jeder Historiker weiß, daß [teleologisches Fortschrittsdenken, CV] verboten zu sein hat«,16 damit allerdings hat man sich Probleme eingehandelt, die auch dort der Aufarbeitung bedürfen, wo die »Stimmung […] frohgemut« ist.17 Genaugenommen geht es Kittsteiner also nicht darum, die Geschichtsphilosophie neu wieder in Stellung zu bringen (denn sie ist nach seinem Dafürhalten ja nie wirklich verschwunden), sondern darum, die Probleme durchzuarbeiten, die mit der Unmöglichkeit ihrer Verabschiedung auf den Plan getreten sind. Und dieses Programm scheint mir Trauerarbeit in einem sehr spezifischen Sinn zu sein, der sich ehestens in Hinblick auf eine Stimmung oder Gestimmtheit begreifen lässt, die Martin Jay einmal als »manic-depressive temperament of postmodernism« beschrieben hat. Für die ›Postmoderne‹ diagnostizierte Jay nämlich ein unvermitteltes Nebeneinander von »celebrations of excess« auf der einen und »apocalyptic visions« auf der anderen Seite, das er im Rückgriff auf die psychoanalytisch motivierte Nachkriegstheorie des Ehepaars Mitscherlich durch eine

15 Vgl.: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Krisis der Historiker-Zunft, in: Rechtshistorisches Journal 18 (1999), S. 496-510. Die Beiträge zu der von Kittsteiner angestoßenen Debatte um die Unmöglichkeit der Abkehr von der Geschichtsphilosophie wurden wiederabgedruckt in: Rainer Maria Kiesow, Dieter Simon (Hg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 2000. 16 Kittsteiner, Stufen der Moderne, S. 33. 17 Ebd., S. 7.

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»inability to mourn« begründete.18 Gerade weil sich eine artikulierte Trauer um den Verlust des modernen Denkens – und damit auch und vor allem der systematischen Geschichtsphilosophie – innerhalb der Postmoderne nicht bemerkbar macht, stellt sich eine objektive Form lähmender Melancholie ein, die produktive Trauerarbeit als Verarbeitung des Verlustes verunmöglicht, weil das Subjekt zwar benennen kann, »wen« es verloren hat, nicht aber, »was [es, CV] an ihm verloren hat.«19 An genau diesem Punkt scheint mir Kittsteiners Durcharbeitung der modernen Geschichtsphilosophie Aufklärung leisten zu wollen, um die ›postmoderne‹ Melancholie in artikulierte Trauer zu verwandeln. Diesen Verdacht möchte ich im Folgenden durch eine Lektüre von Kittsteiners dreistufigem Modernekonzept plausibilisieren, die weniger den Inhalt dieses Konzepts als vielmehr dessen Machart nachzuvollziehen versucht. Denn die verschiedenen Aspekte der Trauerarbeit im Sinne eines philosophischen Durcharbeitens des modernen Geschichtsdenkens bei Kittsteiner lassen sich – so meine Arbeitshypothese – adäquat eher als ein performatives Verfahren verstehen, denn als diskursive Argumentation oder historiographische Leistung im engeren Sinn.

ZÄSUREN Die plausible Definition – also Abgrenzung – von Epochen ist ein Grundproblem der Geschichtsschreibung seit ihren Anfängen in der Antike. Die Aufgabe besteht darin, eine abzählbare Menge von Kriterien anzugeben, nach denen sich das vergangene Geschehen sinnvoll in eine abzählbare Folge einigermaßen klar bestimmter Epochen ordnen lässt. Mit dem ›Postmodernwerden‹ der Historiographie, der ›Überwindung‹ also von Verfahrensweisen, die selbstbewusst an den Problemen orientiert waren, die sich aus der Vorstellung einer in sich geschlossenen historischen Totalität ergeben, ist jedoch auch das Problem des Zäsurensetzens in den Hintergrund getreten. Versuche, eine sinnvolle und haltbare Gliederung des Geschehens vorzuschlagen, werden heute nicht mehr ohne weiteres unternommen. Was stattdessen zu beobachten ist, ist ein seltsames Nebeneinander verschiedener Vorgehensweisen. Während einerseits der Druck, Drittmittel

18 Martin Jay, The Apocalyptic Imagination and the Inability to Mourn, in: Gilliam Robertson, John Rundell (Hg.), Rethinking Imagination: Culture and Civilisation, New York 1994, S. 30-47, hier S. 31. 19 Sigmund Freud, Trauer und Melancholie (1917), in: Freud-Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachery, Frankfurt a.M. 1975 (im Folgenden FSA), Bd. III, S. 197-212, hier: S. 199.

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zu akquirieren, der heute auf historiographischen Unterfangen lastet, eine drastische Inflation hochtrabender Begriffe wie Zeitalter, Epoche, Ära etc. in Gang gesetzt hat, ist andererseits eine Rückkehr jener bruchlosen Kontinuitätsgeschichten zu registrieren, die ihren jeweiligen Gegenstand von den frühesten verfügbaren Zeugnissen bis in die Jetztzeit hinein verfolgen, als ob der wesentlich derselbe geblieben wäre. Letzteres betrifft vor allem, aber nicht ausschließlich die populärwissenschaftliche Geschichtsschreibung, während innerhalb der Fachwelt seit Jahrzehnten schon ein materialgesättigter Mikrologismus Konjunktur hat, der wesentlich im Modus einer thick description synchroner Phänomene verfährt. Was diese, in sich widerstrebenden, Tendenzen eint, ist der Umstand, dass sie alle, wenn auch auf je eigene Weise, das Problem einer sinnvollen und nachvollziehbaren Epochengliederung umgehen. Das bringt einerseits die Gefahr mit sich, einer unreflektierten, naiven Periodisierung, also jenem historiographischen common sense, auf den Leim zu gehen, der sich stets dort wieder einzuschleichen droht, wo man auf das mutwillige Setzen schematischer, wohlmöglich allzu schematischer Zäsuren glaubt verzichten zu können. Andererseits erscheinen, wenn man dem Problem der Zäsur nicht mit dem gebührenden Problembewusstsein begegnet, historisch entlegene Phänomene verführerisch intelligibel, obwohl sie doch in hohem Maße erklärungs- und übersetzungsbedürftig wären, weil uns von ihnen ein Bruch trennt, der reflektiert werden müsste, um das scheinbar Naheliegende in seiner tatsächlichen Fremdheit zu erkennen und so letztlich verstehbar zu machen. Ein Zustand, in dem Epochengliederung und Zäsurbildung als historiographische Verfahrensweisen so wenig problematisiert werden, wie das in der ›postmodernen‹ Geschichtsforschung der Fall ist, ist deshalb kritikbedürftig. Kittsteiner hat dieses Problem deutlich gesehen. Im Vorwort der 2006 erschienenen Aufsatzsammlung Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne hat er sein Konzept der Stufen der Moderne deshalb explizit auf eine Krise der postmodernen Historiographie bezogen: nachdem im Anschluss an Lyotard vorübergehend das Programm, ein »neues, ungeschütztes Dasein zu entwerfen, das auf die alten teleologischen Ganzheiten verzichtete«, Konjunktur gehabt habe, »trübte sich der Horizont«, so Kittsteiner, mit der Zeit zusehends ein. 20 Dieser Befund liegt präzise auf der Linie der eingangs zitierten Diagnose Martin Jays, denn die genuin postmodernen celebrations of excess finden ihr Korrelat in jenen apocalyptic visions, die Kittsteiner symptomatisch in Ulrich Becks These von einer ›zweiten Moderne‹ vertreten findet, die durch eine »Rückkehr der

20 Kittsteiner, Formprobleme der Moderne, S. 7.

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Unsicherheit, Ungewißheit und Uneindeutigkeit« gekennzeichnet sei.21 Die Moderne, im Singular, kehrt als historisches Problem also in dem Moment zurück, in dem ihre postmoderne Verabschiedung selbst zum Problem geworden ist – und damit kehren auch die Probleme mit der Geschichtsphilosophie zurück. Von Interesse ist dabei nicht allein der Umstand, dass Beck jene bedrohlichen Figuren der Unverfügbarkeit von Geschichte erneut beschwört, die im Diskurs der postmodernen Diversitätseuphorie viele Jahre lang keinen Platz hatten, sondern vor allem, dass er die Frage der Zäsurbildung wieder auf die Tagesordnung setzt. In seiner These von den zwei Stufen der Moderne wird nämlich auf der einen Seite die Moderne als historische Totalität verhandelt, gleichzeitig aber thematisiert, dass der Begriff ›Moderne‹ nur dadurch handhabbar wird, dass man Zäsuren einzieht. Kittsteiner begrüßt diesen Versuch, bemängelt allerdings, dass die von Beck vorgeschlagene Gliederung einerseits historisch zu kurz greife und andererseits in ihrer primär soziologisch motivierten Anlage die kulturgeschichtliche Dimension der Moderneproblematik weitgehend ausblende. Er möchte deshalb zu einer »kulturwissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Ergänzung der gegenwärtigen Diskussion einladen«, in deren Zentrum er das Formproblem zu stellen vorschlägt.22 Sein Angebot ist eben jenes dreistufige Modell, an dem er zu diesem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren gearbeitet hatte, und das die methodologische Blaupause für sein Fragment gebliebenes Großprojekt abgeben sollte, die Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne zu erzählen.23 Dieses Modell soll zwar all jenen begründeten Bedenken gerecht werden, die gegen die Rede von der Moderne im vereinheitlichenden Singular vorgebracht wurden, begegnet ihnen allerdings nicht durch eine Verabschiedung des Begriffs zugunsten einer Pluralisierung des Phänomens, sondern im Modus einer Epochengliederung, die sich auf das klassische Modell der Trias festlegt. Schon der Umstand, dass statt von der einen Moderne nun ausgerechnet von drei Stufen der Moderne ausgegangen werden soll, lässt dabei ein provozierendes Pathos häretischer Orthodoxie erkennen, das Kittsteiners Verhältnis zum Kanon der Geschichtstheorien ganz allgemein kennzeichnet.24 Denn bekanntlich sind es von

21 Ebd., S. 8. 22 Ebd., S. 9. 23 Erschienen ist einzig der erste Teilband der auf 6 Teilbände angelegten Deutschen Geschichte. Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715, München 2010. 24 Slavoj Žižek hat in Bezug auf das Verhältnis von Lacan zu Freud wiederholt auf eine eigentümliche Dialektik von Orthodoxie und Häresie hingewiesen, die darin besteht,

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Hesiod bis Burckhardt, von Platon bis Marx, von der Orphik bis zu Freud etc., immer drei Epochen gewesen, in die sich das Geschehen zu fügen hatte. Im Großen wie im Kleinen findet das abendländische Begehren nach Epochengliederungen seine Befriedigung in der Trias, wobei Ausnahmen diese Regel tatsächlich vor allem zu bestätigen scheinen. Die drei Zeitalter – so kann man vielleicht sagen – sind der Historiographie das, was der Psychoanalyse das Ödipale Dreieck ist: sie strukturieren das Geschehen auf fraktale Weise. Denn so wie sich das ödipale Dreieck von den vereinzelten libidinös besetzten Objekten bis hinauf zur Kultur im Ganzen stets triadisch zur Geltung bringt, können die drei Zeitalter auf die Geschichte im Ganzen angewendet werden, lassen sich aber offenbar recht problemlos auch auf überschaubarere Zeitabschnitte runterskalieren, ohne dabei ihrer Dreifaltigkeit verlustig zu gehen. Wenn nun auch Kittsteiner eine solche Trias vorschlägt, dann ist ihm das nicht einfach passiert. Man muss hier Vorsatz unterstellen, und ich sehe vor allem zwei – von Kittsteiner nicht explizit angegebene – Gründe, die sein Modell als triadisch konzipiertes plausibel erscheinen lassen. Erstens übernimmt er die Trias aus dem Material, das er untersucht, denn seine Geschichte der Moderne will vor allem als eine Geschichte jenes modernen Geschichtsbewusstseins verstanden werden, das seinerseits wesentlich triadisch organisiert gewesen ist. Man könnte das als ein Moment mimetischer Einfühlung in den Gegenstand fassen. Zweitens stellt Kittsteiner seine eigene Trias, wie mir scheint, bewusst und bekennend in die Tradition der klassischen Geschichtstheorien, mit der zu brechen er nie für einen gangbaren Ausweg aus den Krisen der Geschichtswissenschaft gehalten hat. Noch einmal Adorno: »Tradition [stellt] heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.« 25 Kittsteiner, so denke ich, begegnete diesem unauflöslichen Widerspruch, vor dem eben auch die Geschichtswissenschaft nach dem Ende der Geschichtsphilosophien steht, mit einer gewissen Ironie und einer Haltung, die keinen Standpunkt außer-

dass einerseits die orthodoxe Rückkehr zu den Quellen dazu tendiert, in Häresie gegen deren gängige Auslegung umzuschlagen, und sich andererseits zukünftige Orthodoxien regelmäßig aus Diskursen speisen, die von Zeitgenossen als häretisch wahrgenommen werden. Žižek begründet diesen Befund im Rekurs auf seine Version des Wiederholungszwangs, wenn er schreibt: »Ein Ereignis wird beim erstenmal notwenigerweise verfehlt, wahre Treue ist nur in Form der Wiederbelebung möglich, als Abwehr gegen den ›Revisionismus‹« Slavoj Zizek, Auf verlorenem Posten, Frankfurt a.M. 2009, S. 189. 25 Theodor W. Adorno, Über Tradition (1966), in: GS Bd. 10.1, S. 310-320, hier: S. 315.

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halb der geschichtstheoretischen Tradition beziehen will, sondern auf den Modus einer immanenten Kritik verpflichtet bleibt. Sein Modell der Moderne setzt sich so in einen Bezug zur geschichtstheoretischen Tradition und ihren Ordnungskategorien, der sich mit Freud auf die Formel Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten bringen ließe, und dadurch die Verfahrensweisen der Trauerarbeit zu erkennen gibt.26 An einem Neuanfang jedenfalls war Kittsteiner nicht gelegen, sondern im Gegenteil an der Durcharbeitung des abendländischen Geschichtsdenkens, das eben nicht nur die Erinnerung, sondern auch die Wiederholung im Sinne Freuds zur Voraussetzung hätte. Und so stellt er seine eigene Trias nicht nur gegen ein monolithisches Modernebild, sondern explizit auch gegen jene Zweiteilung der Moderne, die Beck vorgeschlagen hatte, sowie schließlich gegen die ungehemmte Pluralisierung der Moderne, wie sie nach Lyotard zur Parole der postmodernen Historiographie geworden ist. Indem er ausgerechnet eine Dreiteilung der Moderne vorschlägt, stellt Kittsteiner so nicht nur die Gemachtheit seiner eigenen Epochengliederung heraus, sondern auch und vor allem jenen unauflöslichen Widerspruch, vor den uns die Tradition der historischen Wissenschaften stellt, seit die modernen Fortschrittserzählungen ihre Plausibilität eingebüßt haben, ohne doch verabschiedet werden zu können. Als metahistorische Konvention stellt die Abfolge der drei Zeitalter ein fachgeschichtliches Verhängnis dar, das sich nicht einfach überwinden oder wegdekretieren lässt, sondern wieder und wieder durchgearbeitet werden muss. Die Trias erscheint so selbst als ein Formproblem der Moderne, dessen Kritik Kittsteiner zwar nicht diskursiv entfaltet, dem sein Gliederungsvorschlag allerdings auf performative Weise Rechnung trägt. Dieses performative Element nun würde jede Kritik seines Periodisierungsversuchs verfehlen, die darauf zielte, das Modell zu ›präzisieren‹, indem etwa weitere Stufen der Moderne modelliert würden, was zwar zweifellos möglich, aber aus den bisher angeführten Gründen wenig sinnvoll erscheint.

KONSTRUKTION Nun lässt es Kittsteiner nicht dabei bewenden, seinem Schema der Moderne die denkbar traditionellste, und also trivialste Form zu geben, die sich im Arsenal metahistorischer Tropen finden lässt, sondern macht sich zudem dadurch angreifbar, dass er seine dreigliedrige Stufenfolge sehr präzise, teilweise auf das

26 Sigmund Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914), in: FSA. Bd. 10, S. 126-136.

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Jahr genau, datiert. Die Stabilisierungsmoderne reicht von 1640-1680 bzw. 1715, die evolutive Moderne wird auf die Jahre 1770-1880 veranschlagt, und die heroische Moderne schließlich beginnt 1880 und dauert bis 1945 bzw. im Einflussbereich der Sowjetunion bis 1989. Sie endet also abrupt mit der ›Stunde Null‹ bzw. dem Kollaps des realexistierenden Sozialismus. Das wirkt so unhaltbar fest gefügt und starr, dass das historische Material schon ohne fremdes Zutun, also ganz von selbst, zu ächzen scheint: so klar ist das alles nicht. Man muss sich also genauer anschauen, wie Kittsteiner seine Zäsuren setzt und begründet. Zwei seiner Stufen hat er eingestandenermaßen anderen Historikern entlehnt: Die Stabilisierungsmoderne findet er bei Theodore K. Rabb.27 Sie beginnt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, genauer gesagt mit den europäischen Friedenschlüssen zwischen 1648 und 1660. Ihren Anfang markiert also ein Datum aus der politischen Ereignisgeschichte und ihr Selbstbewusstsein wird als ein wesentlich statisches, an der Homöoesthase orientiertes beschrieben. Die darauf folgende evolutive Moderne ist Kittseiners Variation über Reinhart Kosellecks Sattelzeittheorem.28 Das statische Selbstverständnis der Stabilisierungsmoderne wird hier durch jenes dynamische ersetzt, dessen Erforschung Kittsteiner die meiste Aufmerksamkeit entgegengebracht hat. Die paradigmatischen Wissensformen dieser Moderne sind die politische Ökonomie und die bürgerliche Geschichtsphilosophie – dynamische Konzepte, die nicht mehr von einer prästabilierten Harmonie des Geschehens ausgehen, sondern diese Harmonie als vorgegebenen Endzweck einer Entwicklung setzen, der sich im historischen Prozess dann zu verwirklichen hätte. Bemerkenswert ist nun, dass zwischen der Stabilisierungsmoderne, die Kittsteiner im Rekurs auf Paul Hazard 1680 in eine erste Welle der Aufklärung münden lässt, die 1715 verebbte, ohne Deutschland erreicht zu haben, und der evolutiven Moderne eine ›leere‹ Zeitspanne von gut 60 Jahren liegt. 60 Jahre Latenzzeit, in denen sich das herausbildet, was Kittsteiner zeitlebens für den ›eigentlichen‹ Motor der modernen Geschichte gehalten hat: der Weltmarkt. Die ersten beiden Stufen der Moderne – und das dämpft das Ächzen der Konstruktion erheblich – sind also schwimmend verfugt. Es gibt hier keine diskrete Epochenschwelle, sondern die evolutive Moderne bildet sich zusammen mit dem Weltmarkt heraus, ohne dabei einen präzise datierbaren Bruch mit der Stabilisierungsmoderne zu vollziehen. Das Verhältnis der beiden Stufen wird durch Kitt27 Vgl.: Theodore K. Rabb, The Struggle for Stability in Early Modern Europe, London, 1975. 28 Vgl.: Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XIII-XXVII, insbes. S. XV.

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steiner im Bild der Erbfolge gefasst, denn von der Stabilisierungsmoderne erbt seine evolutive Moderne vor allem ein Problem: das Problem der Stabilisierung, das durch die sich entfaltende Dynamik der ökonomischen und politischen Prozesse wieder auf den Plan getreten ist und nach neuen Konzepten der (philosophischen) Bändigung verlangt. Geschichtsphilosophie und politische Ökonomie vermochten dieses Problem vorrübergehend einzuhegen, denn Kants Naturabsicht, Smiths unsichtbare Hand und Hegels Weltgeist machten das Paradox philosophisch handhabbar, nach dem der historische Prozess der Verfügbarkeit des Menschen zwar grundsätzlich entzogen ist, an seinem Ende jedoch etwas Menschenmögliches, ja Menschenwünschbares in Erfüllung gehen lassen soll. Geschichte – das wäre nach Kittsteiner die philosophische Grundannahme der evolutiven Moderne – kann zwar nicht gemacht werden, geht allerdings aufgrund einer philosophisch säkularisierten Vorsehungsmetaphysik am Ende gut aus. Mit dieser Vorstellung hat die heroische Moderne dann gebrochen. Genauer gesagt: der Bruch mit dieser Vorstellung markiert nach Kittsteiner den Anfang dieser dritten Stufe der Moderne. Er lässt sie präzise 1880, also etwa zeitgleich mit der Morgenröte Nietzsches anbrechen. Und hier, so scheint mir, muss man sich die Konstruktion der Stufen der Moderne etwas genauer anschauen. Während nämlich den terminus post quem der Stabilisierungsmoderne Vertragsabschlüsse markieren, Kittsteiner also der politischen Ereignisgeschichte folgt, und die Datierung der evolutiven Moderne sich Wallerstein vielleicht eher als Marx verpflichtet zeigt, letztlich allerdings ein historisch materialistisches Strukturmoment geltend macht, ist es plötzlich ein Gedanke – also ein Datum der Ideengeschichte – das eine neue Stufe der Moderne eingeläutet haben soll. Das ist insofern überraschend, als Kittsteiners Untersuchungen zu dem, was er rückblickend als evolutive Moderne verbuchen wird, Philosophie und ökonomische Theorie sehr deutlich – und darin nicht nur Marx folgend, sondern auch den Arbeiten der Kritischen Theorie verwandt29 – als Reflex eines wesentlich blinden, ökonomisch-gesellschaftlichen Vorgangs deutet. Warum also übernimmt er anlässlich seiner dritten Stufe der Moderne dann Nietzsches Selbststilisierung als fleischgewordene Epochenzäsur und sich selbst begründendes Schicksal so bereitwillig? Die Antwort auf diese Frage lässt sich, glaube ich, nicht direkt bei Nietzsche finden, sondern hat mit Kittsteiners Moderne-Konstruktion, also seinem Stufen-

29 Paradigmatisch: Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie / Hegel und das Problem der Metaphysik / Montaigne und die Funktion der Skepsis, Frankfurt a.M. 1971; Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt a.M. 1963.

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modell zu tun. Als er dieses Modell 2003 unter dem Titel Die Stufen der Moderne skizzierte, verwandte er einige Zeilen darauf, seine Begriffswahl zu begründen: »Daß ich die Begriffe ›Schichten‹ und ›Stufen‹ nebeneinander benutze, kann als terminologische Unsicherheit ausgelegt werden. Denn Schichten liegen sozusagen neutral übereinander, wie die Gesteinsformationen der Erdzeitalter. Sie wären – gut historisch und frei nach Rankes Geschichtstheologie gleichwertig. Sage ich aber ›Stufen‹, so wird mir jenes teleologische Fortschrittsdenken unterstellt, von dem doch jeder Historiker weiß, daß es verboten zu sein hat. Vielleicht hilft ein sachlicher Befund aus dem Dilemma: Die Zeitschichten, von denen ich spreche, liegen eben nicht wie in sich abgeschlossene Gesteinsformationen übereinander, sondern sie durchdringen sich auf vielfältige Weise, da die ›Grundaufgaben‹ einer Epoche niemals abgeschlossen sind und ›vergangene‹ Aufgabenstellungen auch in den späteren Schichten weiterwirken. Diese Grundprobleme werden niemals gelöst, sie werden nur von neuen Aufgaben überlagert, die sich in den Vordergrund drängen. Insofern kann man von einer Anreicherung von Problemen sprechen; das Verhältnis zur Geschichte wird zunehmend komplexer. «30

Offensichtlich korrespondiert dieses Prolegomenon mit einer ganzen Reihe von Geschichtskonzeptionen. Hier geht es um Archäologie, gewiss auch in jenem Sinn, den Foucault dem Wort beigebracht hat.31 Zu denken wäre auch an Hans Blumenbergs Bild des Leitfossils, an dem sich der Historiker zum Zweck der

30 Kittsteiner, Formprobleme der Moderne, S. 32 f. 31 Von Foucaults Archäologie-Konzept hatte sich Kittsteiner freilich bereits 1980 klar distanziert: »Im Gegensatz zu einer ›Archäologie des Wissens‹ betrachten wir unsere Untersuchung als eine ›interpretative Disziplin‹. Wir nehmen den zu analysierenden Diskurs als ›Zeichen für etwas anderes‹, weil wir davon ausgehen, daß er sich im Augenblick seines Entstehens seiner Bedingungen nicht bewußt sein konnte. Er wird erst transparent im Verlauf des historischen Prozesses, vor dem Hintergrund eines anderen, kritischen Diskurses. Er wird darum nicht auf jenen zweiten reduziert, sondern hebt sich erst vor ihm in seiner Spezifik ab. Als historischer Materialist können wir auch nicht darauf verzichten, ›den rätselhaften Punkt wieder[zu]finden, wo das Individuelle und das Soziale sich eins ins andere umkehren«. Schließlich suchen wir auch die ›Wiederherstellung dessen, was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen, […] gedacht, gewollt, anvisiert, verspürt, gewünscht‹ worden ist. Gerade weil die Intention des menschlichen Handelns nicht identisch mit dessen Resultaten sind, bleibt die Erkenntnis der Differenz zwischen Gewolltem und Gewordenem ein wesentlicher Punkt der historischen Untersuchung.« Kittsteiner, Unsichtbare Hand, S. 226 FN. 1.

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Epochengliederung zu orientieren habe,32 oder auch an Gehlens KristallisationsBegriff.33 Vor allem aber drängt sich ein Bild auf, das Kittsteiner sowohl bei Sigmund Freud als auch bei Oswald Spengler entlehnt haben könnte: das Bild der Lavaeruption. Bei Freud sieht es folgendermaßen aus: »Man kann sich jedes Triebleben in einzelne zeitlich geschiedene und innerhalb der (beliebigen) Zeiteinheit gleichartige Schübe zerlegen, die sich etwa zueinander verhalten wie sukzessive Lavaeruptionen. Dann kann man sich etwa vorstellen, die erste und ursprünglichste Trieberuption setze sich ungeändert fort und erfahre überhaupt keine Entwicklung. Ein nächster Schub unterliege von Anfang an einer Veränderung […] und addiere sich nun mit diesem neuen Charakter zum früheren hinzu usw. «34

Bei Spengler finden wir dasselbe Bild in folgender Form: »In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrig bleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quellen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt.«35

Dem Metaphorologen Kittsteiner ist die geschichtstheoretische Sprengkraft dieser mächtigen Bilder klar gewesen, denn die Vorstellung verflüssigten Gesteins erlaubt es, das Historismusproblem – hier verstanden als das Problem des ›Übergangs‹ zwischen zwei diskreten Epochen – insofern zu lösen, als man es weder mit einem im ganzen zielgerichteten Prozess, noch mit einer Anzahl gleichwertig festgefügter Schichten zu tun hat. Von Freud, das scheint mir offensichtlich zu 32 Vgl.: Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotenzial des Mythos, in: Manfred Fuhrmann [Hg.], Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (= Poetik und Hermeneutik 4) München 1971, S. 11-67, hier: S. 26. 33 Vgl.: Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 133-143. 34 Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale (1915), FSA Bd. III, S. 81-102, hier: S. 94. 35 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918/1922), München 2006, S. 784.

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sein, übernimmt Kittsteiner die Figur sich überlagernder Eruptionen, deren früheste zwar letztlich aushärten, den folgenden allerdings als formgebendes Bett unterliegen und so niemals nur Vergangenheit sind, sondern stets auch als latente Gegenwart wirken. Damit gewinnt er einen Begriff, den er zwar an keiner prominenten Stelle verwendet, der seinem Konzept der heroischen Moderne allerdings in vielerlei Hinsicht entspricht. Freud: »Die Tatsache, daß zu jener späteren Zeit der Entwicklung neben einer Triebregung ihr […] Gegensatz zu beobachten ist, verdient die Hervorhebung durch den […] Namen: Ambivalenz.«36 In Bezug auf Kittsteiners dreistufiges Modernemodell: widerstrebende Triebregungen wie Stabilität und Dynamik folgen nicht einfach aufeinander, sondern verbinden sich im Modus der Ambivalenz miteinander. Zieht man nun Spengler in Betracht, so verkompliziert sich die Geschichte noch einmal, denn hier kommt ein äußeres Zwangsmoment zum Tragen, das die freie Entfaltung einer Kultur (oder Epoche) hemmt. Der Prozess der Kulturmorphologie stößt an eine objektive Grenze und verkümmert zur Pseudomorphose. Nach Spengler ist das ein defizienter Modus der Entwicklung. Allerdings hat Eva Geulen unlängst die These vertreten, dass die Pseudomorphose der historische Normalfall sei und es eine ›ungehemmte‹ Kulturentfaltung gar nicht geben könne.37 Ich denke, hiermit wäre Kittsteiner einverstanden gewesen. Und vielleicht lässt sich damit arbeiten. Die Stufen der Moderne würden sich in ihrem Verhältnis zueinander dann etwa folgendermaßen darstellen lassen: Die Stabilisierungsmoderne, von der Kittsteiner – im Metaphernbereich der Mineralogie – schreibt, sie sei die Folge der »frühneuzeitlichen Kriegsverdichtung«38 gewesen, stellt eine erste Eruption dar, die das Bett für alle weiteren bereiten wird. Zudem stiftet sie den Trieb zu einer endgültigen Stabilisierung, den neuzeitlichen Todestrieb, wenn man so möchte, an dem sich das Geschichtsdenken fortan ausrichtet. Kittsteiner spricht in diesem Sinn von einem »Phantasma der ›Stabilisierung‹«, das sich durch sämtliche Stufen der Moderne hindurch am Leben erhält.39 Die zweite Eruption hat mit dem politischen Prozess der Kriegsverdichtung zunächst nichts zu tun, sondern ist induziert durch die Dynamisierung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Sie entspringt also nicht in wie auch immer folgerichtiger Weise der ihr vorausgehenden Stufe, sondern überlagert diese. Was sie philosophisch einzuhegen sucht – den blinden Trieb des Weltmarkts – bildet aber fortan das

36 Freud, Triebe und Triebschicksale, S. 94. 37 Vgl.: Eva Geulen, Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016, passim. 38 Kittsteiner, Formprobleme der Moderne, S. 38. Hervorhebung von mir. 39 Ebd., S. 53.

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objektive Zwangsmoment, das jede weitere Eruption nur mehr als Pseudomorphose erscheinen lässt: die glühenden Massen der folgenden Eruptionen quellen in ihn herein, erstarren und kristallisieren aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun – sie sind kulturelle Pseudomorphosen an den raumgreifenden Weltmarkt. Die heroische Moderne hat, so gesehen, einen anderen epistemischen Status als die vorhergehenden Stufen der Moderne. Kittsteiner: »Das bedeutet, daß die ›heroische Moderne‹ im strengen Sinn keine eigene historische ›Form‹ ist, sondern ein Mischgebilde, das auf der weiterlaufenden ›evolutiven Moderne‹ aufruht.«40 »Denn die evolutive Moderne, der industriekapitalistische Fortschritt in Europa unter Einbeziehung der Welt, läuft ungebremst weiter – was sich ändert ist seine kulturelle Bewertung für das Leben.«41 Eingezwängt in das Strukturprinzip der evolutiven Moderne – G-W-G' – bleibt der heroischen Moderne also nichts anderes übrig, als sich gegen diesen Zwang zu entwerfen, ohne ihn doch brechen zu können. Dieser Entwurf allerdings ist von vorne herein eine Kopfgeburt, weshalb es triftig erscheint, die neue Stufe weder mit einem Ereignis noch mit einem ökonomisch-politischen Strukturmerkmal einsetzen zu lassen, sondern mit einem heroischen Gedanken – Nietzsches ›Entdeckung‹ der Sinnlosigkeit des historischen Prozesses. Im strengen Sinn ist die heroische Moderne also gar keine eigene historische ›Form‹. Was sie allerdings zur eigenständigen Stufe der Moderne qualifiziert, ist eine eigentümliche, historisch beispiellose Zerissenheit zwischen einerseits der nihilistischen Konfrontation mit dem als sinnlos durchschauten Weltgeschehen, einem heroisch-leidenden Standhalten also, und der Perspektive eines letzten Bändigungsversuchs mit übermenschlichen Kräften andererseits. Bereits bei Nietzsche sind diese beiden Pole angelegt und Kittsteiner findet sie bei einer ganzen Reihe von Denkern fortgeführt: Oswald Spengler, Ernst Jünger, Arnold Gehlen, Martin Heidegger, Georg Lukács, um nur einige der Protagonisten zu nennen, mit denen er seine heroische Moderne bevölkert. Als ein unvermitteltes Nebeneinander von tragischem Fatalismus und heroischen Machbarkeitsphantasmen drückt sich in ihren Schriften auf je unterschiedliche Art eben jener Ambivalenzkonflikt aus, den man auf das unvermittelte Nebeneinander gegenteiliger Triebregungen innerhalb der heroischen Moderne zurückführen müsste, wenn man das freudianische Erbteil innerhalb von Kittsteiners Konzept in den Vordergrund stellen wollte. Historisch materialistisch ließe sich sinngemäß argumentieren, dass das ›Grundproblem‹ der heroischen Moderne Verdinglichung ist: ohnmächtig begegnet sie den Strukturen, die gesellschaftlich

40 Ebd., S. 13. 41 Ebd., S. 45.

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sind und also prinzipiell veränderbar wären, die sich allerdings zu einem ›Verhängnis‹ verdichtet haben, dem man heillos unterworfen ist. Hermann Schweppenhäuser fasste diesen Zustand treffend als »ein Chaos voll der blinden Ordnung, in dem […] jenes Kontinuum sich karikiert, das die idealistische Geschichtsphilosophie in der Irregularität der Interessen zum Besten des regulären Ganzen walten ließ«.42

NACH DER HEROISCHEN MODERNE? Die ›postmoderne‹ Gegenwart – ein Chaos voll der blinden Ordnung, in dem der Systemgedanke des klassischen deutschen Idealismus karikiert, geistlos und unreflektiert fortwest. Gegen diesen Zustand versuchte Kittsteiner eine durcharbeitende Rückbesinnung auf die ungelösten Probleme der bürgerlichen Geschichtsphilosophie ins Feld zu führen, die er auf den Begriff einer von »geschichtsphilosophischen Fragen angeleiteten Kulturgeschichte« brachte.43 Die Stufen der Moderne stellen in Hinblick auf dieses umfassende Projekt eine architektonische Skizze dar, deren Ausarbeitung und Modifikation dann im Durchgang durch das je konkrete historische Material zu erfolgen hätte. Für sich genommen sind sie jedoch mit allen Malen des Entwurfs und der Vorläufigkeit gezeichnet: das Modell ist unvollständig, in den Details nicht ausgearbeitet, skizzenhaft und mancher Strich ist wohl auch allzu rasch gezogen worden. Das gilt insbesondere für den Schlussstrich, den Kittsteiner nach der heroischen Moderne setzt. Mir zumindest erscheint sein Vorschlag, diese im Westen »abrupt im Jahr 1945« enden zu lassen,44 während sie im Osten unter realsozialistischer Bedingung, »gebrochen« zwar aber doch kontinuierlich, bis 1989 fortläuft, 45 revisionsbedürftig. Beide Daten sind zu glatt, zu verhaftet auch der offiziellen Vergangenheitsbewältigungskultur, um derart unkritisch übernommen zu werden.

42 Schweppenhäuser, Diskontinuität als scheinkritische und als kritische gesellschaftliche Kategorie, S. 70. 43 Kittsteiner, Formprobleme der Moderne, S. 54 ff. 44 Ebd., S. 52. 45 Heinz Dieter Kittsteiner, Die in sich gebrochene Heroische Moderne. Ein geschichtstheoretischer Versuch zum Menschenbild in der Kunst der DDR, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 442-461. Vgl. auch: ders., Die ›Heroisierung‹ im geschichtstheoretischen Kontext, in: Monika Flacke (Hg.), Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin 1994, S. 146 -159

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Im Westen zeigt sich das allein schon daran, dass viele der Protagonisten der heroischen Moderne den Weltkrieg unbeschadet überlebt haben, um dann in der Bundesrepublik ihren zweiten und manchmal dritten publizistischen Frühling zu erleben. Kittsteiner selbst schreibt diesbezüglich, die heroische Moderne habe in der Bundesrepublik »noch Nachläufer in den 50er Jahren« gezeitigt, misst ihnen allerdings wenig Bedeutung bei.46 Das ist insofern überraschend, als genau diese ›Nachläufer‹ – man denke nur an den späten Heidegger – eine immense und für die Entwicklung der Kulturwissenschaften und der Geschichtsforschung folgenreiche Wirkung entfalteten, als sie im Frankreich der späten 1960er Jahre zu den Stichwortgebern einer Erneuerung der Theorie wurden, die als Poststrukturalismus mit dem bürgerlichen Idealismus und den ›großen Erzählungen‹ endgültig brechen wollte. Während im Osten also ein heroisches Menschenbild von offizieller Seite propagiert und konserviert wurde, das einen Sozialismus legitimieren sollte, der letztlich kraft- und kampflos vor den Verlockungen des freien Marktes kapitulierte, um im Zuge einer friedlichen Revolution zu entschlafen, war im Westen bereits der ideologische Boden für eine Postmoderne jenseits der großen geschichtsphilosophischen Erzählungen bereitet worden. Wie aber verhält sich diese ›Postmoderne‹ zur heroischen Moderne? Generell hat Kittsteiner der poststrukturalistischen Theorieentwicklung (mit Ausnahme von Louis Althusser, dessen Kritik er lange Passagen innerhalb seiner Dissertation widmete) wenig, vielleicht zu wenig, Beachtung geschenkt, und den Begriff ›Postmoderne‹ selten nur und dann ironisch gebraucht. Trotzdem ist nicht ohne weiteres einsichtig, dass er gerade im Zusammenhang der Nachkriegsordnung und ihres Niedergangs für einen historischen Bruch votiert und nicht – wie er das sonst innerhalb seiner Modernetheorie tut – einen Standpunkt bezieht, der Kontinuität und Totalität des historischen Prozesses betont. Mit Kittsteiner (und gegen ihn) ließe sich ein solcher Standpunkt in Hinblick auf die ›Postmoderne‹ beziehen, indem man die ererbten Grundprobleme der ersten beiden Stufen der Moderne auch hier stärker zur Geltung bringt: Stabilisierungsphantasma und Weltmarkt. Beide ›Grundprobleme‹ sind durch die Weltkriege nicht gelöst worden und kommen spätestens mit dem Ende des Nachkriegsbooms, das nicht zufällig mit der theoretischen Erneuerungsbewegung vom Ende der 1960er Jahre zusammenfällt, an die Oberfläche zurück. Denn so wenig der Krisenzyklus der 1970er Jahre etwas genuin Neues gewesen ist, so wenig stellt der Poststrukturalismus, der – polemisch zwar, aber nicht ohne Grund – als »hyperbolische Wiederholung« des philosophischen Diskurses der

46 Ebd., S. 14. Vgl. auch ebd., S. 52, wo Kittsteiner von einem »Nachleben« der heroischen Moderne »bis in die 50er Jahre hinein« schreibt.

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1920er Jahre in Deutschland bezeichnet worden ist,47 etwas genuin Neues dar. Zweifellos verhandelt er die Probleme, die sich nach dem Ende der Geschichtsphilosophie in der deutschen philosophischen Tradition gestellt hatten, auf originelle Weise – aber es sind eben dieselben, alten Probleme. Anstatt sie also 1945 abrupt enden zu lassen, würde ich im kritischen Anschluss an Kittsteiner vorschlagen, einen Strukturwandel der heroischen Moderne zum Gegenstand einer historiographischen Heuristik zu machen, die nachzuvollziehen hätte, wie sich der Ambivalenzkonflikt, der im ›Heroischwerden‹ der Moderne erstmals virulent wurde, über die mythische ›Stunde Null‹ hinaus fortgeschrieben hat. Es könnte so gezeigt werden, dass sich das von Jay diagnostizierte manic-depressive temperament of post-modernism aus denselben Quellen speist wie der Diskurs der heroischen Moderne, der mit der Geschichtsphilosophie nicht abschließen konnte, weil er die Totalität einer kapitalgetriebenen globalen Vergesellschaftung nicht überwinden konnte. Im Gegenteil: die Versuche, Geschichte doch noch in den Verfügungsbereich des Menschen zu zwingen, haben bislang stets noch zu Schlimmerem geführt und den Menschen tiefer nur in den Bann der geschichtlichen Totalität geschlagen. Dem späten Kittsteiner erschienen vor diesem Hintergrund »alle Formen einer ›heroischen‹ Reaktion auf die kapitalistische ›Weltverdüsterung‹«, wie er es Heidegger zitierend fasst, am »bedenklichsten«,48 und er votiert dafür, die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses auszuhalten, anstatt sich revolutionären Hoffnungen hinzugeben. Eine solche Haltung ließe sich auf den Begriff eines postheroischen Modernismus bringen, der sich von der heroischen Moderne dadurch absetzt, dass er aus den Verheerungen der Weltkriege, dem Scheitern der kommunistischen Revolution und dem Zivilisationsbruch der Shoa die Lehre einer prinzipiellen Unverfügbarkeit der Geschichte gezogen hat. Seine politische Erscheinungsform wäre das sprichwörtliche ›Fahren auf Sicht‹, sein Ethos ist am Ideal einer weitgehenden gesellschaftlichen Stabilität ausgerichtet. Der postheroische Modernismus, für den Kittsteiner letztlich zu votieren scheint, ist jedoch keine genuin neue Haltung. In ihm setzt sich vielmehr das melancholischstandhaltende Motiv fort, das Kittsteiner zufolge ein Charakteristikum schon des

47 »Das 68er-Denken, weit davon entfernt, ein rein einheimisches Produkt zu sein, ist das Resultat einer mehr oder weniger komplexen Verwendung von Themen und Thesen, die deutschen Philosophen – d.h. im wesentlichen Marx, Nietzsche, Freud und Heidegger – entlehnt sind«. Luc Ferry und Alain Renaut, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen (1985), München, Wien 1987, S. 35 ff. Zum Begriff der hyperbolischen Wiederholung vgl. ebd. passim. 48 Vgl.: Kittsteiner, Formprobleme der Moderne, S. 15.

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Geschichtsverhältnisses der heroischen Moderne gewesen ist. Er stellt also kein genuin neues Verhältnis zur Geschichte dar, sondern basiert auf Motiven, die sich bereits in der heroischen Moderne herausgebildet hatten. Für die Nachkriegsjahrzehnte kann ein derart postheroisch gewendeter Modernismus als die paradigmatische Verarbeitungsform des Problems einer unvollendeten Moderne in ganz Europa und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland gelten. Auf der Basis einer hinreichend gelungenen sozialstaatlichen Integration wurde das »postheroische Management« zur verallgemeinerten »Lebensform«, denn es galt nunmehr, die persönlichen, ökonomischen und politischen Belange so zu managen, dass »Ungewißheit auf eine Art und Weise […] bearbeitbar« erschien, »ohne das Ergebnis mit Gewißheit zu verwechseln.«49 Kein Plan sollte das Geschehen mehr richten, keine ›große Erzählung‹ die Erfahrung strukturieren. Die Geschichte wurde einem sozialstaatlich eingehegten, der Idee nach aber freien Markt überantwortet, der das ihm entgegengebrachte Vertrauen für einige Jahrzehnte mit einer Stabilität quittierte, die Viele mit Gewißheit verwechselten. Anderen hingegen erschien die postheroische Gestimmtheit als erdrückend und beengt. Sie suchten nach neuen ›Lebensformen‹, probten den Exzess, schließlich die Revolte. Und es waren diese Milieus, in denen sich eine Tendenz herausbildete, die man vielleicht als heroischen Postmodernismus fassen könnte. Im Unterschied zum seinerzeit noch herrschenden postheroischen Modernismus, in dem sich vor allem die depressiven Züge der heroischen Moderne fortschrieben, wurde hier deren manisches Temperament erneut virulent. Den heroischen Postmodernismus drängt es zur Tat, auch wenn er keinen ›großen Entwurf‹ mehr präsentieren kann und will. Seine politischen Erscheinungsformen sind der Aktivismus und die Disruption, an gesellschaftlicher Stabilität ist ihm nicht gelegen. Er begehrt unbedingte Dynamik, auch wenn er an den Fortschritt nicht mehr glaubt. Seinen augenscheinlichen Höhepunkt erlebte der heroische Postmodernismus in den 1960er und 70er Jahren als ein widerständiges, linkes Projekt; tatsächlich entfaltet er seine eigentümliche Kraft allerdings vollends erst, als jene Episode postheroischer Stabilität an ihr Ende gekommen war, als die sich die politische Nachkriegsordnung rückblickend erwiesen hat. Den Hemmschuh moralischer und sozialer Verantwortung, der ihn als linkes Projekt noch zwickte, hat er abgeworfen. Er ist individualistisch und erfolgreich geworden, hat sich längst schon eine Heimstatt in den Chefetagen von Konzernen und den Regierungsbüros von Staaten bereitet, und drängt heroisch stets zur Tat. Seine Pathosformel ist das unbedingte Ja, seine

49 Dirk Baecker, Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994, S. 9.

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»Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung«.50 Und so ist er hart geworden, die »Schaffenden nämlich sind hart«.51 Die sozialstaatliche Stabilität, deren philosophischer Ausdruck der postheroische Modernismus gewesen ist, hat sich also als vorübergehend erwiesen und der heroische Postmodernismus, einst ein linkes Projekt, hat längst schon rechte Protagonisten hervorgebracht. Die kapitalgetriebene Geschichte ist jedenfalls wieder in Bewegung geraten und das bedeutet wohl auch, dass die Stufen der Moderne nicht einfach hinter uns liegen. Die heroische Moderne mit ihren widerstrebenden Triebregungen und unabgegoltenen Hypotheken ist auch unsere Gegenwart. Fernab davon, durchgearbeitet und überwunden zu sein, drängt der Ambivalenzkonflikt, der sie charakterisiert, unvermindert zu einer Auflösung, die er im nunmehr globalisierten Kapitalismus nicht finden kann. Angesichts dessen gibt Kittsteiners Entwurf einer beständigen Durcharbeitung vergangener und doch nicht überwundener Geschichtsverständnisse weiterhin zu denken. Und sei es auch nur als ein Stück Trauerarbeit, die hemmend und gehemmt zugleich wirkt, weil sie nicht einfach, »ungerührt im Angesicht der großen aufklärerischen Entwürfe«,52 voranschreiten kann.

50 Friedrich Nietzsche, Ecce Homo (1908, posthum), in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1988 (im Folgenden KSA) Bd. 6, S. 255-374, hier: S. 276. 51 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883–1885), KSA Bd. 4, S. 268. 52 Schweppenhäuser, Diskontinuität als scheinkritische und als kritische gesellschaftliche Kategorie, S. 81.

›Dem Gehirne der Lebenden‹ Zur ikonischen und symbolischen Erfassung der Geschichte Sascha Freyberg Our torments also may, in lenght of time, Become our elements1

1.

THIS QUEER SELF-CONSCIOUSNESS – IMAGINATION UND FORMPROBLEME DER GESCHICHTE

Die Bedeutung der Sätze von Marx am Anfang seines Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte für die geschichtsphilosophischen Reflektionen des 20. Jahrhunderts kann kaum überschätzt werden, ganz gleich ob es sich dabei um kritische, ablehnende oder apologetische und weiterführende Arbeiten handelte. Marx berührt dort mit Blick auf Hegel fast beiläufig etwas, das auch das Fortschrittsdenken betrifft und als Paradox der Geschichte bezeichnet werden könnte: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«2 Wichtig ist diese Formulierung nicht nur in dem, was sie bekräftigt und auf den Punkt bringt, sondern auch in dem, was sie nur suggeriert. Dazu gehören die Vorstellungen, die sich die Menschen von Geschichte als einem konkreten Verlauf der Zeit, den Pfadabhängigkeiten von Entwicklungen und der herauszulesenden und zu erwartenden Zukunft machen. Denn dies wirft letztlich die Frage auf, ob Geschichtsbetrachtung selbst nur eine nachgeordnete Kompensationsform angesichts eines unverfügbaren chaotischen Geschehens ist oder eine genu1

John Milton, Paradise Lost, Book II, 274-5.

2

Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), MEW 8, Berlin 1972, S. 115.

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ine Orientierungsfunktion besitzt. Marx gibt dazu den Hinweis auf die Bedeutung des, durch die vorgegebenen Strukturen aufgebauten, Drucks der »Tradition aller toten Geschlechter«. Geschichte ist konkret, sie formiert die Sinnlichkeit, wirkt selbst auf das Zerebrale. Nach Marx laste das von Simmel später als »Tragödie der Kultur« bezeichnete Verhältnis zu den vorgeprägten Objektivationen und gesellschaftlichen Strukturen »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« – kaum ein Indiz für bloßes Fortschrittsdenken. Am Anfang von Robert Musils (1880-1942) großem Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften, das den Untergang des kakanischen Staatskonstrukts und den Übergang von einer Epoche in eine andere verarbeitet, steht ein grundlegendes Postulat, das Marx’ Diktum ergänzen kann: »Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.« 3 Die Doppeldeutigkeit des Begriffs des Möglichkeitssinns findet seine Entsprechung bereits in Musils (am 14. Oktober 1911 skizzierten) Plan »eine Art Satire auf unsere seelischen Verhältnisse durch die Darstellung unbegrenzter Möglichkeiten« zu schreiben. 4 Die melancholischen Obertöne resonieren in Heiner Müllers Gedicht »Mommsens Block«, in dem der Austausch der Idole zur Wendezeit betrachtet wird. Es sind nun aber gerade diese Idole oder allgemeiner gesagt, der Zusammenhang von Geschichte und Ideologie, schon im basalen Sinne der Imagination, der der Geschichtsphilosophie Probleme bereitet. »Die Achillesferse der Geschichtsphilosophie«, so schreibt Lutz Niethammer in seiner Analyse des Diskurses vom ›Ende der Geschichte‹, »ist die Gegenwart.«.5 Dieser Umstand ist für ihn besonders augenfällig in der »Verführung zur Konkretion« im Sinne figuraler Formation und physiognomischer Verdichtung, die den Blick für die Komplexität gegenwärtiger Situationen verstelle. Jedoch bleibt die Frage offen, wo die Grenze zur hyperbolischen Repersonalisierung überschritten wird und ob die zugrundeliegende Verbildlichung nicht auch eine erschließende Funktion hat. Auch die Position des Erzählers (als Prophet, Chronist, Philosoph oder Zeuge usw.) ist ein Aspekt, der den geschichtsphilosophischen Gegenwartsbezug verstellen kann und der bekanntlich die Geschichtswissenschaft in der Frage der ›historischen Objektivität‹ umtreibt. Geschichtsphilosophie, sofern sie nicht als messianische Mantik entwertet wird, und Geschichtswissenschaft, sofern sie versucht sich noch zu historischen Erfahrungen 3

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1, Reinbek b. Hamburg 1987, §4.

4

Robert Musil, Tagebücher I, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1976, S. 243. Siehe dazu auch Jiyoung Shin, Der »bewusste Utopismus« im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Würzburg 2008.

5

Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek b. Hamburg 1989, S. 73.

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zu verhalten oder die eigenen Methoden zu prüfen, werden einander nicht los.6 Auch wenn Geschichtsphilosophie mit dem Mythos verglichen wird, es geht letztlich nicht nur um den ›Überbau‹ der Deutung, sondern um die ›Basis‹ der impliziten Voraussetzungen historischer Artikulation.7 Trotzdem werden Fragen nur selten gemeinsam angegangen, jeweils in der Annahme, dass nur die klare Abgrenzung das disziplinierte Unternehmen überhaupt erst ermöglicht. Die Bedeutung des Werkes von Heinz Dieter Kittsteiner (1942-2008) liegt insbesondere darin, diesen neuralgischen Punkt historischer Forschung nicht nur konstatiert und untersucht zu haben, sondern auch in dem Versuch, an dieser Stelle neue Verbindungen herzustellen. Eine »geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte«, die Kittsteiner so emphatisch gefordert hat, 8 bleibt jedoch so lange fraglich, wie die Ambivalenz in der Darstellung dieses Vorschlags, wenn nicht beseitigt, so doch wenigstens erkannt wird. Die Spannung mag durchaus in der Sache selbst begründet sein und insofern vermag auch Kittsteiners Werk, sogar dort wo es nicht überzeugen mag, produktiv zu provozieren. Seine performative Qualität liegt u.a. darin, dass es Fragen gestellt und dadurch Wege eröffnet und offengehalten hat. Die Frage nach der Form der Geschichte und die Dialektik ihrer Objektivierung (etwa im Sinne von Sinn und Zwang), legt das Werk von Kittsteiner selbst nahe. Es zielt auf den Versuch einer neuen

6

Christian Schmidt (Hg.), Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M., New York 2013. Siehe auch Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert, Göttingen 2003.

7

Siehe dazu auch Wilhelm Schmidt-Biggemann, Erwarten. Über die gegenwärtigen Formen der Zukunft, in: In Erwartung eines Endes. Apokalyptik und Geschichte, hg. v. Helmut Holzhey u. Georg Kohler, Zürich 2001, S. 7–19.

8

Heinz Dieter Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte, in: DZPh 48 (2000) 1, S. 67-77. Zur Reaktion von Hans-Ulrich Wehler (in: ders., Die Hybris einer Geschichtsphilosophie, zuerst in: Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit, hg. v. Rainer Maria Kiesow, Dieter Simon, Frankfurt a.M. 2000, S. 119-127, wiederveröffentlicht in: Hans-Ulrich Wehler, Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000) siehe Heinssen, Historismus und Kulturkritik, S. 37; und Jannis Wagner, Gewissen und Geschichte, in: ders., Agnieszka Brockmann (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte? Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner. Universitätsschriften der Europa Universität Viadrina Nr. 35, Frankfurt (Oder) 2018, Online unter: https://opus4.kobv.de/opus4-euv/files/302/Universitaetsschriften_35_Kittsteiner.pdf

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großen Narration,9 doch könnte gerade im »Schwebezustand« der differenzierenden Vorarbeit seine eigentliche Stärke liegen – vorausgesetzt, dass er erkenntnisgeleitet und nicht nur Ausweichbewegung oder Zug ins unverbindlich Aporetische ist. Das Formproblem ist jedenfalls deutlich in Kittsteiners großem unvollendeten Projekt einer »Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne« erkennbar und am Anfang als Spannung zwischen philosophisch-theoretischem Modell und historischer Erzählung explizit gemacht. Die schon im Vorwort zur Stabilisierungsmoderne,10 dem ersten Band des Projektes, aufscheinende Unentschiedenheit besteht allgemein formuliert darin, ob überhaupt, und wenn, wie Illusionslosigkeit und Enthusiasmus, Fatalismus und Emanzipation vermittelt werden sollen. Die von Kittsteiner nur tentativ angedeutete Vermittlung sollte, grob gesagt, die Widersprüche so aufeinander beziehen, dass die Desillusionierung zur Grundlage der Aufklärung wird. Da Desillusionierung jedoch immer mit einer Art Ikonoklasmus einhergeht, wird dadurch zunächst nur eine Seite der Aufklärung betont. Es war Anliegen Kittsteiners, insbesondere in den Vorarbeiten zu diesem Projekt die Bildhaftigkeit von Geschichtsbildern zu untersuchen, um zu einem weiteren Verständnis beizutragen. Entsprechend soll es im Folgenden darum gehen, bestimmte Wegmarken dieses Werks im Werden zu analysieren, die noch kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, aber für das Thema der Orientierung, Darstellung und des Vollzugs historischer Vermittlungen entscheidend sind. Dazu gehört zunächst die Frage nach der Möglichkeit des historischen Bewusstseins selbst; ein Bewusstsein, das Erwin Panofsky einmal in einem Brief an Siegfried Kracauer pointiert und in unverkennbar selbstironischer Weise als »this queer self-consciousness« charakterisiert hat.11 Die derart herausgestellte Frage 9

Siehe Heinz Dieter Kittsteiner, Gegen die postmoderne Fragmentierung der Geschichte – für eine neue ›große Erzählung‹, in: Divinatio. studia culturologica series 13, 2001, S. 91-106; sowie ders., Die Rückkehr der Geschichte und die Zeit der Erzählung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 27/2, 2002, S. 185-207.

10 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 16181715, München 2010. In seinem Vorwort dazu stellt Jürgen Kaube auch das Gesamtprojekt vor. Ob das Projekt nun Erfüllung des Programms einer neuen »großen Erzählung« oder eine bescheidenere Version darstellt, muss offen bleiben. Auf jeden Fall hat Kittsteiner hier versucht, in der Darstellung dem Begriff des »dialektischen Bildes« von Benjamin gerecht zu werden. 11 Brief Panofsky an Kracauer, 7. März 1962, zitiert nach: Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky Briefwechsel, hg. u. kommentiert v. Volker Breidecker, Berlin 1996, S. 67.

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bildet nicht nur eine Grundfrage der klassischen Geschichtsphilosophie, die bei Hegel im Geistbegriff (als »schlechterdings lebendig[e]« Relation von Bewusstsein und Gegenstand) aufgehoben ist.12 Sie kann auch als verbindendes Element derjenigen Forschungen gelten, die man heute im Begriff der »Ersten Kulturwissenschaft« zusammenfasst. Deren Vertreter besaßen allesamt und in hohem Maße das von Panofsky angesprochene historische (Selbst-)Bewusstsein und die Reflexivität, nach dessen Bildern, Figuren und Motiven zu fragen. Zumeist stammten die Forscher aus jüdischen Familien, was sie auch in der Weimarer Republik in eine Außenseiterposition und dadurch vielleicht verstärkt zu Fragen der kulturellen Wahrnehmung, der Ent- und Verfremdung drängte.13 Entscheidend ist, dass das historische Bewusstsein und die Kenntnis der »letzten 3000 Jahre« (wie Goethes bekannte Verse aus dem »Buch der Unmut« des WestÖstlichen Diwans fordern, die Kittsteiner seiner Stabilisierungsmoderne voranstellt),14 die kulturwissenschaftlichen Forschungen vor dem Bruch von 1933 auf den Weg zu einer Kulturtheorie brachte, die, neben historischen und philosophischen Fragestellungen, insbesondere ästhetische und aisthetische Aspekte mit Blick auf das wissenschaftliche Ideal und die eigene Gegenwart aufeinander bezogen hielt. »Unsere ganze Lebensführung hängt von unseren Sinnen ab«, so kündet bereits der vermeintliche Erzrationalist Descartes. 15 Und das Interesse für

Mit Blick auf das historische Bewusstsein früherer Epochen seit der Antike schreibt Panofsky: »so far as I know it was only the Renaissance that developed this queer self-consciousness (thereby laying the foundations of all our historical efforts).« 12 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 1955, S. 54. 13 Siehe dazu Peter Gay, Weimar Culture: The Outsider as Insider, New York 1968. 14 Unerwähnt lässt Kittsteiner, dass dies auch Lenins Forderung an den Komsomol entspricht: »Kommunist kann einer nur dann werden, wenn er sein Gedächtnis um all die Schätze bereichert, die von der Menschheit gehoben worden sind« Wladimir I. Lenin, Die Aufgabe der Jugendverbände, in: LW 31, Berlin 1966, S. 277. Es sei das Charakteristikum des Marxismus, dass er sich »alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete«. W. I. Lenin, Über proletarische Kultur – Resolutionsentwurf, in: LW 31, Berlin 1966, S. 308. 15 Das ist der erste Satz in Descartes’ Dioptrik, die einen Teil seines Discours de la méthode bildet. Zur ästhetischen Rehabilitierung von Descartes’ Werk siehe Claus Zittel, Theatrum Philosophicum. Descartes und die ästhetischen Formen der Philosophie, Berlin 2008.

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dieses Verhältnis war in den kulturwissenschaftlichen Arbeiten der Weimarer Zeit noch ungebrochen und auf hohem Differenzierungsniveau. Doch über 60 Jahre später musste die Abwesenheit einer solchen Theorie (also eine Regression) konstatiert werden. Prägnant markierten Bernhard Dotzler und Ernst Müller die bestehende Lücke auf kantianische Weise: »Ohne eine Verhältnisbestimmung von ›Wahrnehmung und Geschichte‹ keine Kulturtheorie, die als Wissenschaft wird auftreten können.«16 Dieses bis heute bestehende Desiderat soll im Folgenden als Leitfaden dienen und dementsprechend geht es vor allem um die Zusammenhänge, die Kittsteiner in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie als Kulturhistoriker entwickelt hat, die aber weder nur geschichtsphilosophisch noch kulturhistorisch, sondern nur in den Verhältnissen von Kognition und Geschichte sowie mit Hilfe ästhetischer Instrumente bearbeitet werden können. Kurz, es geht vor allem um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtsbildern, im weiten Sinne der »images of the past«.17 Von deren prinzipieller Orientierungsfunktion ging Kittsteiner aus.18 In ihrer Umfassung versucht er auch die verschiedenen Ebenen von Alltagswelt bis zur historischen Forschung miteinander in Beziehung zu setzen. Dadurch wird zum einen deutlich, wie weit er diese bildlichen Formen fasst und verfolgt, nämlich bis hin zu Fragen ihrer Möglich- und Notwendigkeit, wie sie Kant bereits berührt hatte.19 16 Bernhard J. Dotzler, Ernst Müller (Hg.), Wahrnehmung und Geschichte, Berlin 1995. Die Einleitung beginnt mit der Variation der Schillerschen Frage: »Wozu und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?«, VII. Fast zeitgleich, am 15.11.1994, hält Kittsteiner seine Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte? an der Viadrina. 17 »It is not the literal past that rules us, save, possibly, in a biological sense. It is images of the past. These are often as highly structured and selective as myths. Images and symbolic constructs of the past are imprinted, almost in the manner of genetic information, on our sensibility. Each new historical era mirrors itself in the picture and active mythology of its past or of a past borrowed from other cultures. It tests its sense of identity, of regress or new achievement against that past.« George Steiner, Bluebeard’s Castle: Some Notes Towards the Redefinition of Culture (T.S. Eliot Memorial Lectures), New Haven 1971, S. 3. 18 Es sollte deutlich sein, dass damit Grundfragen der ›historischen Anthropologie‹ berührt werden, so man diese auch auf philosophische Weise in ihrer inneren Spannung (d.h. als Oxymoron) versteht. 19 Kants Aufsatz: Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786) hebt an mit dem Hinweis auf diesen quasi ›metaphorologischen‹ Zusammenhang: »Wir mögen unsre Be-

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Kittsteiner gibt dem eine historische Wendung; eine Konkretisierung, die zu forschungsrelevanten Fragen führt. »In welcher Weise bestimmen ›Bilder in unserem Kopf‹ unser historisches Wissen, wie gehen sie in die Wahrnehmung und damit auch in die Verarbeitung des historischen Materials mit ein?« 20 Zum anderen wird hier die Dimension der Hegemonie, der »Kämpfe im Bereich der Repräsentationen« deutlich, die auch Roger Chartier betont hat, denn diese Kämpfe um die Deutungsmacht »sind nicht minder wichtig als die ökonomischen Kämpfe, [...] durch die eine Gruppe ihre Sicht der sozialen Welt, ihre Werte und ihre Herrschaft durchsetzt oder durchzusetzen sucht.«21 Aus dieser verwickelten Problematik heraus ergab sich nun bei Kittsteiner neben dem Anschluss an Koselleck (und manchmal in gewisser Spannung dazu) ein griffe noch so hoch anlegen und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahiren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen.« Immanuel Kant, AA VIII, Berlin 1912, S. 131147, hier: S. 133. Kant hat die rationale Orientierung der Vernunft, welche die Voraussetzung zum Selbstdenken und damit für Aufklärung ist, explizit an »bildliche Vorstellungen« gebunden und damit den Ansatzpunkt für eine Pragmatik der Bilder gekennzeichnet. Enno Rudolph reformuliert ganz im Sinne Kittsteiners: Was heißt: Sich in Geschichte orientieren?, in: ders., Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen 2003, S. 148-158. 20 Heinz Dieter Kittsteiner, Iconic Turn und ›innere Bilder‹ in der Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, Paderborn 2004, S. 153182, hier: S. 156. Kittsteiner betont, dass es bei diesem Komplex um verschiedene Ebenen geht, angefangen beim Quellenmaterial und den verschiedenen Medien, wobei jedoch die erkenntnistheoretische Ebene ausschlaggebend sei, um überhaupt im emphatischen Sinne von einem »iconic turn« der Kulturgeschichte sprechen zu können (ebd.). Das scheint noch zu wenig beachtet bei Bernhard Jussen, Plädoyer für eine Ikonologie der Geschichtswissenschaft. Zur bildlichen Formierung historischen Denkens, in: Hubert Locher und Adriana Markantonatos (Hg.): Reinhart Koselleck. Politische Ikonologie. Perspektiven interdisziplinärer Bildforschung, München, Berlin 2013, S. 260–279. 21 Siehe Roger Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, übers. v. Ulrich Raulff, Berlin 1989, S. 11. Diese Weiterführung der Annales-Schule, der soziologischen Perspektive von Halbwachs folgend, öffnet den Blick für den Zusammenhang von historischen und politisch-epistemologischen Fragen. Ähnlich hat auch Panajotis Kondylis die Bedeutung der zeitgenössischen Polemiken (insbesondere für die frühe Neuzeit) betont. Siehe Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, S. 19 ff.

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bemerkenswerter Rückgriff auf Werke der »Ersten Kulturwissenschaft«, die lange kaum rezipiert worden waren (Benjamin vielleicht ausgenommen). Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer, die auch als Indikator für Kittsteiners perspektivische Verschiebungen fungieren kann. Anhand ihrer Rezeption bei Kittsteiner lässt sich einerseits ganz allgemein die Problematik der Erfassung von Geschichte verfolgen, sowie andererseits eine Möglichkeit der Weiterführung aufzeigen, die – in Konvergenz mit der »philosophischen Ikonologie« von John Michael Krois (1943-2010)22 – die Bildelemente historischen Bewusstseins, die Darstellung historischer Subjektivität und die Medien mythischer Re- und Protention zu erfassen hilft.

2.

ONE STEP FORWARD, TWO STEPS BACKWARD KITTSTEINER IN BABYLON

Die Richtung von Kittsteiners Frühwerk lässt sich mit einem Ausspruch von Gershom Scholem zusammenfassen: »Hinaus aus dem Paradies, hinein in die Geschichte«.23 Doch liegt auch später noch die Doppelperspektive desjenigen zu Grunde, der den geschichtsphilosophischen Enthusiasmus an sich selbst erfahren hat und mehr oder weniger ironisch zu überwinden vermochte, somit selbst als Zeuge der Macht von Geschichtsbildern fungiert, und gleichzeitig deren Erforscher und um angemessene Distanz ringender Historiker wird. Aus dieser Spannung beziehen Kittsteiners Arbeiten ihre Nachdrücklichkeit. Angefangen mit Benjamins Thesen zur Geschichte über die Dissertation zur Kritik der Geschichtsphilosophie, die Geschichte der Entstehung des modernen Gewissens, Kants ›Geschichtszeichen‹, bis hin zu den späteren kulturgeschichtlichen Konkretionen und ihrer methodischen Reflexion, ist die geschichtsphilosophische Problematik der Einstellung zur Geschichte das Leid- und Leitmotiv.

22 Siehe insbesondere die gesammelten Aufsätze in John Krois, Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. v. Horst Bredekamp u. Marion Lauschke, Berlin 2011. 23 So Scholem über den Sinn der Vertreibung aus dem Paradies in einem unveröffentlichten Vortrag zum Thema Mystik und Zeit; zitiert nach: Enno Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, S. 159. Dieses Bild wurde ganz ähnlich auch von Kleist in seinem Text Über das Marionettentheater (1810) geprägt und wird in dieser Form öfter bei Ernst Cassirer zitiert; so etwa in seinem Aufsatz: ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart (1930), in: ders., Werke (ECW), Hamburg 1995 ff., Bd. 17, S. 185-205, hier: S. 186.

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Für denjenigen, der das politische Bewusstsein des ›Geschichtemachens‹ in der Studentenbewegung der 1960er Jahre erfahren hatte,24 das ein babylonisches System bekämpfte, war die Legitimität und Entstehung dieses Bewusstseins zu klären – spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem es fragwürdig wurde. Das Problem des Kapitalismus erledigt sich zwar nicht mit einer veränderten Einstellung, aber kann nun ohne Heilsversprechen analysiert werden. Die klassische Geschichtsphilosophie interpretierte er dementsprechend als Einsicht in die »Unverfügbarkeit der Geschichte«. Im Zuge der erfahrenen EntTäuschung wendet sich Kittsteiner der Zeit- und Geschichtstheorie von Koselleck zu. Mit Koselleck verteidigt er dabei den Kollektivsingular »der Geschichte«, als Ausdruck objektiver Erfahrungen – was allerdings nicht unproblematisch ist. Nicht weil es diese Erfahrungen nicht gäbe, sondern weil bei Koselleck sowohl Konstitution und Quellenlage, wie Genese und Gültigkeitsbereich ungeklärt bleiben.25 In der Historik Kosellecks sind Theorie und Diagnose vermischt anstatt verbunden. Dementsprechend scheint auch »Kittsteiners rettende Lektüre Kosellecks«26 fragwürdig und quasi zu hoch anzusetzen (Denn: Wie kommt es überhaupt zu einem ›Geschichtsbewusstsein‹ im Sinne des Kollektivsingulars ›Geschichte‹ und bei wem? Auf welcher sozialen Grundlage wird hier geurteilt? Wer will wissen, ›wohin es geht‹ und wozu? Wer oder was ist hier bestimmend? usw.). Doch erweist sich auch in dieser Hinsicht Kittsteiners Werk als fruchtbarer Ausgangspunkt, wird doch in seinem Kontext der Rückgriff auf die erwähnte kulturwissenschaftliche Tradition27 und die »Rehabilitierung der zu Unrecht in 24 Siehe dazu auch Jannis Wagner, Obsessive Lektüren. Heinz Dieter Kittsteiners Nachlass, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (ZIG) X/2 (2016), S. 110-114. 25 Der Inhalt der historischen Erfahrung(en) wird bei Koselleck insbesondere in Kritik und Krise (1959) recht tendenziös vorausgesetzt. Es wird quasi eine ›Dialektik der Aufklärung‹ von konservativer Seite dargestellt, der dann jedoch das selbstkritische Element fehlt, und dabei ein Modernebegriff verwendet, der auf starken geschichts(bzw. verfalls-)philosophischen Annahmen beruht. Eine prägnante und durchaus ähnliche Einschätzung von diesem Aspekt in Kosellecks Werk geben: Ernst Müller, Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 278-337. 26 Ebd., S. 742. 27 Dieser Rückgriff, der seit den 1980er Jahren auch in anderen geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Bereichen auftrittt, wurde durchaus auch negativ bewertet. Siehe dazu am Beispiel der Kunstgeschichte Otto K. Werckmeister, Von Marx zu Warburg in der Kunstgeschichte der Bundesrepublik, in: BILD/GESCHICHTE: Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 31-38. Englische Version: The Turn from Marx to Warburg in West German Art History, 1968-90, in: Andrew Hemingway (Hg.), Marxism

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Misskredit geratenen ›Kulturphilosophie‹«28 als doppelte Emanzipationsbewegung vom anthropologischen Nachkriegspessimismus (etwa neokonservativer und kritisch-theoretischer Provenienz) einerseits, sowie andererseits von der revolutionär-utopistischen Reaktion und ›politischen Theologie‹ im Umkreis der 68er Studentenbewegung deutlich.29 In einem Vortrag vor einer Studentenversammlung an der Viadrina in Frankfurt an der Oder, der gleichzeitig ein autobiographisches Zeugnis darstellt, berichtet Kittsteiner, dass »Bewusstseinsbildung« und Formierung des »Orientierungswissens« seiner Studentengeneration vor allem von der Realisierung der geistigen Konsequenzen des historischen Bruchs von 1933 geprägt war: »wir begriffen allmählich, daß es eine deutsche Wissenschaft gegeben hatte, die sich mit dem Naziregime arrangiert hatte – und eine andere, die emigriert war.«30 Diese Form der theoretischen (Wieder-)Aneignung, die auch gleichsam eine Brücke über den ›Zivilisationsbruch‹ der deutschen Geschichte darstellt, parallelisiert er dann mit den Entwicklungen im sich formierenden kulturwissenschaftlichen Bereich, in die er sich selbst einbegriffen sieht. Zwar charakterisiert er so den Modus der theoretischen Retrospektion sehr treffend, zieht jedoch gleichzeitig nicht ganz korrekt die Wiederentdeckungsphasen zusammen. Nicht nur für sein eigenes Werk ist es nämlich durchaus entscheidend, dass erst lange nach der and the History of Art. From William Morris to the New Left, London 2006, S. 213220. 28 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, in: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, hg. v. Johannes Rohbeck, Herta Nagl-Docekal, Darmstadt 2003, S. 91117, hier: S. 92; wiederabgedruckt in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Berlin 2006. 29 Das könnte man auch als nachträgliche Überwindung falscher Alternativen während der Zeit der ›Systemopposition‹ verstehen. 30 Heinz Dieter Kittsteiner: Erinnerungen auf einer Vollversammlung, in: ansichtssache. alternative festschrift. 18 semester studentisches leben an der europa-universität viadrina, Frankfurt (Oder) 2001, S. 50-66, hier: S. 52. Siehe auch S. 52-54: »Es gab eine komplette Alternativ-Wissenschaft im Wartestand. Sie mußte nur wiederentdeckt werden. Es waren alle Wissenschaftszweige, die 1933 in Deutschland abgebrochen waren, die aber in der Emigration unter erschwerten Bedingungen weiterexistiert hatten. Unsere offiziellen Professoren hatten von ihr keine Ahnung und wollten sich damit auch nicht beschäftigen. (S. 52) [...] Und – das merkten wir nun auch – gerade diese aus der Emigration zurückgekehrte Wissenschaft hatte diese beiden Teufel zusammengebracht: Freud und Marx. Das wurde nun zum Ausgangspunkt für unser Orientierungs-Wissen.« (S. 54) Siehe dazu auch ders., Unverzichtbare Episode. Berlin 1967, in: ZIG (2008), IV/2, S. 31-43.

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Auseinandersetzung mit Benjamin, Marcuse und Adorno, »auch vergessene Großordinarien wie Ernst Cassirer«31 wiederentdeckt wurden. Ganz klar stand zunächst die Kritische Theorie im Vordergrund, nicht zuletzt »war das verbunden mit einer Kritik an den Geistesgrößen, mit denen wir an der Universität empfangen worden waren: vor allem an Martin Heidegger.« Erst im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit den Quellen der Kritischen Theorie, wie Marx und Freud (und sicherlich auch durch die veränderte Lage nach 1989), kam es zu einer umfassenderen Anerkennung der nicht-zurückgekehrten Wissenschaft.32 Der Darstellung der Wiederentdeckungsphasen liegt deutlich Kittsteiners eigener Weg zu Grunde, der ihn dann dazu führte, die Philosophie von Ernst Cassirer (die nicht nur bei Horkheimer und Adorno mit einer damnatio memoriae belegt schien) als wichtige methodische Orientierung seiner »geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte« anzusehen. Das war jedoch für Kittsteiner kein Grund einer völligen Umorientierung. Vielmehr baut er die pluralistische Grundidee der symbolischen Formen, die die Wege des Wirklichkeitsverstehens und -erkennens bilden, und Cassirers Grundbegriff der symbolischen Prägnanz in sein bestehendes Instrumentarium ein, wobei sich die Teile oft nicht ganz fügen wollen. Das liegt nicht nur am theoretischen Material. Ein ums andere Mal zeigt sich Kittsteiner irritiert ob der unzeitgemäßen Haltung und Position des altrepublikanischen Kulturphilosophen, dessen Denken sich nicht ohne Weiteres in Kittsteiners Stufenlandschaft der Moderne und ihre Taxonomie von Evolutionisten und Heroikern einordnen lässt (was Kittsteiner übrigens gern zur Kenntnis nahm).33 Kittsteiner zitiert die eher historischen Arbeiten Cassirers schon seit seiner Dissertation (insbesondere Das Erkenntnisproblem und Die Philosophie der Aufklärung). Es blieb jedoch meist bei eher konventionellen historischen Bezügen. Den philosophischen, gar politischen, Gehalt dieser »Geschichte« nahm er

31 Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, S. 53. 32 Obwohl Kittsteiner in seinem Bericht an die Studenten gerade die Unterschiede von 1967 und 1997 (sowie, mit Blick auf die Übertragbarkeit von Theorien, die Unterschiede der 1920er und 1970er Jahre) herausstellen wollte, werden sie also in Bezug auf die theoretischen Anschlüsse zusammengezogen. 33 Siehe die Bemerkungen in den Nachlassaufzeichnungen zu »Ernst Cassirers ›Die Philosophie der Aufklärung‹« (UK 47) »Freiheit und Form« (UK 67) und »Ernst Cassirers Konzept einer Kulturgeschichtsschreibung«. Der Nachlass ist verzeichnet unter: https://uniarchiv.europa-uni.de/OnlineFindbuch_Hauptbestand/index.htm. Beim Auffinden von Nachlassmaterial halfen Jannis Wagner und Agnieszka Brockmann.

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zunächst nicht wahr.34 Das sollte sich erst Anfang der 90er Jahre ändern. In Auseinandersetzung mit den theoretischen Entwicklungen der Kulturgeschichte, den Werken von Paul Ricouer, sowie durch Gespräche mit dem Philosophiehistoriker Enno Rudolph, wurde er auf die weiteren Dimensionen von Cassirers Ansatz aufmerksam.35 Sein Interesse kann (abgesehen von den veröffentlichten Aufsätzen vor allem im Nachlass) anhand von Vorlesungen, Vorträgen, eigenen Buchentwürfen und Exzerpten nachvollzogen werden.36 Das im Vorfeld des großen historischen Unternehmens zur Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne aufgegebene Buchprojekt mit dem Titel »Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen« stützt sich stark auf Cassirers Konzeption. 37 Dass es auf34 Eine vereinzelte Ausnahme bildet die interessante Beobachtung, dass Cassirer Begriff und Prinzip der genetischen Methode bei Spinoza und Hobbes fand. Siehe Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Berlin 1980, S. 17. Damit ist jenes morphologische, d.h. formtheoretische und logisch-historische Prinzip berührt, das Cassirer im Ausgang von seinen Marburger Lehrern sowie insbesondere Leibniz, Kant und Goethe ausarbeitet. Kittsteiner, der diesen Hintergrund nicht kennt, verfolgt das nicht weiter – sogar als er sich später mit der entsprechenden Terminologie Cassirers herumschlägt, kommt er nicht darauf zurück. 35 In einer Notiz an Rudolph berichtet Kittsteiner 1992: »Was Cassirer betrifft – ich habe schon die ersten Historiker mit seiner Hilfe erlegt. Es kommen sicher noch mehr hinzu.« Es handelt sich um eine Notiz auf der Rückseite einer Kopie von Kittsteiners Rezension zu: Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärung, Band 1, Stuttgart 1991, welche unter dem Titel »Historia matrix vitae« in der FAZ am 24.01.1992 erschien. Die Notiz ist mit 31.1. datiert. Universitätsarchiv Frankfurt (Oder), Nachlass Kittsteiner, Sign. 28. Enno Rudolph, der dabei auch auf den geschichtsphilosophischen Austausch mit Kittsteiner hinweist, teilt dazu in einer E-Mail mit: »Die besagte Notiz, die den stets wachen Jagdinstinkt von HDK belegt, habe ich leider nie erhalten.« Für Rudolphs Auseinandersetzung mit Cassirers Geschichtsphilosophie siehe Enno Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, Tübingen 2003, S. 134-186 (§ »Konstruktiver Historismus«). Rudolph versucht dabei, Cassirer der relativistisch-historistischen Position von Blumenberg anzunähern. 36 Insbesondere in folgenden Konvoluten »Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen« (Buchentwurf mit Kapiteleinteilung, handschriftlich datiert 26.7.96), »Freiheit und Form« (Vortrag, UK 67), »Ernst Cassirers ›Die Philosophie der Aufklärung‹« (Vortrag, UK 47), »Gedächtnis und Kulturwissenschaft«, »Symbolbildung und historisches Bildgedächtnis«, alle im Universitätsarchiv Frankfurt (Oder). 37 Dabei gibt es nur wenig Überschneidungen zum gleichnamigen Aufsatz: Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen, in: Erfahrung und Form. Zur kulturwis-

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gegeben wurde, mag verschiedene Gründe haben (Kittsteiner verweist im Vorwort der Stabilisierungsmoderne allgemein auf theoretisch-praktische Probleme), doch korrespondiert dem der seit Anfang des Jahrtausends nachlassende Bezug auf Cassirer. Erwies sich dessen Konzeption als inkompatibel mit Kittsteiners historiographischen Absichten? Was Kittsteiner bei Cassirer irritiert hat, ist nicht nur die Allgemeinheit des Symbolbegriffs, den er möglichst wieder eingrenzen und historisch spezifizieren will. Es ist auch Cassirers Stellung zur Geschichtsphilosophie38 und der sozusagen politisch-historische Gehalt von Cassirers Systematik, deren Irritationspotential lange Zeit nicht wahrgenommen wurde. Kittsteiners Reaktionen zeugen von einer ernsthaften aber nicht umfassenden Auseinandersetzung, in deren Verlauf er insbesondere der Interpretation von John Michael Krois folgt, wie dieser sie in seinem Aufsatz zur »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen« umrissen und mit einem starken Akzent auf die wahrnehmungstheoretischen und gestaltpsychologischen Grundlagen von Cassirers Philosophie versehen hat.39 Kittsteiners konkretere Beschäf-

senschaftlichen Perspektivierung eines transdisziplinären Problem-komplexes, hg. v. Alfred Opitz, Trier 2001, S. 147-160. 38 Zur Geschichtsphilosophie bei Cassirer gibt es verschiedene, jedoch teilweise komplementäre, Positionen. So spricht etwa Krois von einer Entwicklung Cassirers hin zu sozial- und geschichtsphilosophischen Themen und einer in der Kulturphilosophie impliziten, aufgehobenen Geschichtsphilosophie der Philosophie der symbolischen Formen, während Rudolph die »Überwindung« oder »Verabschiedung« der klassischen Geschichtsphilosophie bei Cassirer betont. Siehe auch Gunter Scholtz, Dilthey, Cassirer und die Geschichtsphilosophie, in: Dilthey und Cassirer: Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, hg. v. Thomas Leinkauf, Hamburg 2003, S. 127-148. Wenn Cassirers Kulturphilosophie den Prozess der »Selbstbefreiung« und das antagonistische Drama betont, kann weder von einem Fortschrittsdenken noch einer Verabschiedung von Geschichtsphilosophie die Rede sein. 39 John M. Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, in: Über Ernst Cassirer, hg. v. Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth, Frankfurt a.M. 1988, S. 15-44. Die englische Monographie von Krois über Cassirer scheint Kittsteiner nicht wahrgenommen zu haben, was deswegen bedauerlich ist, da Krois dort ausführlich den Zusammenhang von Philosophie der Geschichte und Systematik von Cassirers Ansatz und die wahrnehmungstheoretische Grundlage thematisiert. Siehe John M. Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven 1987. So bleiben Kittsteiner sowohl die weitergehenden Übereinstimmungen mit Cassirer, wie auch die Verbindungen zu Krois’ weiteren Ar-

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tigung mit Geschichtsbildern setzt genau an dem Punkt an, von dem aus auch die bildtheoretischen Arbeiten von Krois ihren Ausgang nehmen.

3.

THE COLOR OF OUR PASSIONS – CASSIRER UND DIE SYMBOLISCHE PRÄGNANZ DER GESCHICHTE

Worum es Kittsteiner beim Anschluss an Cassirer zunächst geht, kann unter anderem durch die Arbeiten im Vorfeld der »Stufen der Moderne« erschlossen werden, wo die Auseinandersetzung mit Cassirers Begriffen der »symbolischen Formen« und der »symbolischen Prägnanz« entscheidend wird. Das 2003 vorgestellte Modell dieser »Stufen« lag dann leicht abgeändert der späteren »Deutschen Geschichte« zugrunde (nämlich als Stabilisierung, Fortschritt und heroischer Widerstand). Den ersten Versuch, Cassirers Symboltheorie für eine Kulturgeschichte fruchtbar zu machen, unternimmt Kittsteiner in seiner später mehrfach publizierten Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?40 Hier geht es mit Cassirer vor allem darum, der Kulturgeschichte eine autonome Position zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft zu sichern, insbesondere jedoch um die Abwehr des Kulturpessimismus. So soll das verlockende Verfallsnarrativ der heroischen Moderne auf Distanz gehalten werden. Diese scheint Kittsteiner später jedoch wieder ein Stück weit aufgegeben zu haben.41 In den Entwürfen des Moderne-Projektes wird der Symbolbegriff programmatisch eingeführt. Kittsteiner will hier »von der Frage ausgehen, ob das Verhältnis der Menschen zu dem, was sie unter ›Geschichte‹ verstehen, und was epochenspezifisch sich wandelt, als Grundlage für einen Begriff des Symbolischen genommen werden kann.«42 »In einem nächsten Schritt könnte dann, davon ausgehend, eine Epochengliederung der ›Moderne‹ versucht werden. Diese Epochengliederung ist von vornherein beschränkt auf

beiten verborgen. Doch da Kittsteiner bei Cassirer am selben Punkt wie Krois anschließt, ist die Konvergenz der Ansätze schon vorgezeichnet. 40 Heinz Dieter Kittsteiner, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?, in: Universitätsschriften der Europa-Universität Viadrina. Antrittsvorlesungen II, Frankfurt (Oder) 1995, S. 54-68; (wiederveröffentlicht in: Wege zur Kulturgeschichte, hg. v. Wolfgang Hardtwig, Göttingen 1997, S. 5-27). 41 Ebd., S. 65-67. 42 Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, S. 91.

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den Zeitraum der ›Neuzeit‹. Denn wenn das Kriterium der ›Neuzeit‹ die ›Eroberung der Welt als Bild‹ ist, dann werden wir die Schwierigkeiten zu untersuchen haben, in die die Menschen mit ihrem ›Gebild des vorstellenden Herstellens‹ hineingeraten. Nun mag man einwenden, ein solcher Ansatz sei geschichtsphilosophisch. […] Ich räume ein, dass ich seit längerem versuche, eine von geschichtsphilosophischen Fragen angeleitete Kulturgeschichte auszuarbeiten.[...] Um dieses Programm zu erläutern, werde ich zwei Kategorien von Reinhart Koselleck – ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – mit der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ von Ernst Cassirer verbinden.«43

Die von Kittsteiner beabsichtigte Montage ist nicht nur wegen der Antwort auf Heidegger,44 sondern auch deswegen hervorzuheben, weil die Symboltheorie hier auf sehr konstante Elemente seiner Theorie trifft. Bereits in Naturabsicht und unsichtbare Hand (1980) waren Kosellecks Kategorien von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« zentral und die Relationierung dieser Kategorien, die nicht mehr nur in ihrem verhängnisvollen Auseinandertreten, sondern in ihrem Zusammenwirken gezeigt werden, markiert einen wichtigen Unterschied zu Koselleck.45 In Verbindung von Kulturphilosophie und Historik soll die Forschung in die Lage versetzt werden, Heideggers Weltbildverdikt (und damit ein Kriterium für die »Neuzeit« bzw. »Moderne«), zu hinterfragen. 46 Wie schon angedeutet, ist damit eine Distanzierung zumindest impliziert. Die symboltheoretische Prämisse, die Kittsteiner in Abwandlung von Cassirers Ansatz zugrunde legt, bleibt jedoch vage und durchaus widersprüchlich. Wenn das Modell des Symbolischen aus der Beziehung der Menschen zu ihren Geschichtsbildern gewonnen werden soll, während gleichzeitig die Symboltheorie Cassirers zur Erfassung dieser »Bilder« in Anschlag gebracht wird, ist nicht mehr klar, was wodurch erklärt wird. Steht die Einstellung zur Geschichte, steht Geschichte selbst außerhalb des Symbolischen? Offenbar richtet sich Kittsteiners 43 Ebd., S. 92. 44 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M., 1950, S. 69-104. 45 Das betonen auch sowohl Ernst Müller und Falko Schmieder (2016) wie Jürgen Kaube (2010). 46 So formuliert Jürgen Kaube in der Einleitung zu Kittsteiners posthum erschienenen ersten Band der Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne: »Heinz Dieter Kittsteiner hat ein Modell dafür geliefert, was historisch möglich ist, wenn man Philosophie so ernst nimmt, dass man ihre Fragen nicht durch Philosophie, sondern durch Forschung nachzugehen sucht.« In: Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne, S. 22. Wobei hinzuzufügen wäre, dass die Beziehung von Forschung und Philosophie eben nicht zwangsläufig eine getrennte ist.

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Umformulierung gegen ein vermeintliches »Beharren auf der Autonomieposition des Menschen« in Bezug auf den Geschichtsprozess.47 Davon kann jedoch bei Cassirer nur insofern die Rede sein, als dass er sich weigert diesen Prozess als gestell- oder schicksalshaft oder als »Tragödie der Kultur« (Simmel) zu hypostasieren.48 Dabei erkennt Cassirer den agonalen Charakter durchaus an, spricht jedoch lieber von einem offenen »Drama der Kultur«. Die kulturellen Formen können für ihn, wie insbesondere im Myth of the State deutlich wird, durchaus Mittel der Herrschaft und Unterdrückung sein, stellen aber gleichzeitig immer auch die Mittel der Emanzipation und (Selbst-)Befreiung dar.49 Die Objektivität historischer Erfahrung muss also im Sinne der Objektivität der Ausdrucksfunktion verstanden werden.50 Die Interpretation der Entwicklung kann nicht schon vorgegeben sein, eben weil sie sonst doch wieder auf fingierte Muster zurückgreifen muss, und »Geschichte ist schon schmerzhaft genug«. 51 Insofern Kittsteiner noch an der tatsächlich determinierenden Übermacht und Unverfügbarkeit der Geschichte als Schicksal festhalten will, 52 gerät er mit Cassirers Konzeption in Konflikt.53 Dass er diese Konzeption zunächst explizit af47 Müller, Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 741. Dazu Kittsteiner, ›Iconic Turn‹ und ›innere Bilder‹ in der Kulturgeschichte, S. 174: »Cassirer [betrachtet] die sich in die Zukunft entwerfende Zeitlichkeit primär unter dem Aspekt der Erzeugung der Geschichte durch den wollenden Menschen; die Problematik der klassischen Geschichtsphilosophie seit Kant und Hegel von der Unverfügbarkeit des historischen Prozesses ist ihm im Grunde fremd.« Falko Schmieder hat bereits darauf hingewiesen, dass die These der Unverfügbarkeit den ›klassischen‹ Positionen teilweise untergeschoben wird und diese zu oft darauf reduziert werden. Siehe ders., Die Nichthintergehbarkeit der Geschichtsphilosophie, in: Gedenkschrift für H. D. Kittsteiner (1942-2008), hg. v. Gangolf Hübinger, Frankfurt (Oder) 2009, S. 29-41. 48 Siehe dazu die zustimmenden Bemerkungen Kittsteiners in: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?, S. 65-67. 49 Cassirer war kein Essentialist, daher bleibt die Frage ob »Sinn zu Zwang« oder »Zwang zu Sinn« wird, bei ihm letztlich eine völlig pragmatische: Warum EntwederOder, wenn Sowohl-als-auch eine ausreichende Erklärung ist? 50 Siehe Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte (ECN), Bd. 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929-1941, Hamburg 2004; in Bezug auf Schmieder, Voller und Wagner, Aus Zwang wird Sinn. Kittsteiners BenjaminLektüren im Kontext. 51 So Kittsteiner im Vorwort zu: Die Stabilisierungsmoderne, S. 30. 52 Ebd., S. 28-29. 53 Diesbezüglich ist Cassirers Analyse von Schellings Mythostheorie aufschlussreich, die den Bezug von Kittsteiners Arbeiten zur Romantik verdeutlicht. Cassirer vermerkt

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firmiert und gegen »tragische« oder kulturpessimistische Narrationen ins Feld führt, mag Hinweis auf die bereits angedeutete Unsicherheit sein. Dass die Weite des Symbolbegriffs ein wichtiges Element der »Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie« (Cassirer) ist, die eine grundsätzlich andere Begrifflichkeit, etwa sozialer54 oder psychologischer Formen55 ermöglichen sollen, erschließt sich Kittsteiner dadurch nur ansatzweise. in einem Abschnitt über den Einfluß der Religionsgeschichte auf das historische Erkenntnisideal, dass die Schellingsche Philosophie stark auf die romantische Geschichtsbetrachtung gewirkt habe und »lehrt, daß der Mensch nicht sowohl der bewußte Schöpfer des Mythos ist, als daß er von ihm geschaffen wird. […] Das Bewußtsein ist, vor aller Reflexion, in die Bewegung des mythischen Prozesses verstrickt. Es erfährt diesen Prozeß als ein Schicksal, als ein Verhängnis, gegen das es nichts vermag.« (Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. 4, ECW 5, S. 347.) Schelling schreibt, die Entstehung der Mythologie beginne »durch einen (in Ansehung des Bewußtseins) nothwendigen Proceß, dessen Ursprung ins Uebergeschichtliche sich verliert und ihm selbst sich verbirgt« (Friedrich W. J. Schelling, Philosophie der Mythologie, 3. u. 8. Vorlesung, zitiert bei Cassirer, ebd. S. 347-348) Doch musste »die moderne historisch-kritische Forschung« über Schelling hinaus gehen. Denn ein Ursprung im »Uebergeschichtlichen« wurde »als eine unerträgliche Fessel der historischen Methodik empfunden. Diese Methodik ist nichts, wenn sie nicht im Prinzip über alles menschliche Geschehen erstreckt werden kann« (Ebd., 348). Dies führt nicht nur hin zum Historismus, sondern habe, in Herder und Goethe Fürsprecher einer Geschichte der inneren Form gefunden, deren Begriff zur Entwicklung von Forschungsansätzen geführt habe, die versuchen, historische Subjektivität und Erfahrung in ihren Objektivierungen zu erfassen (etwa bei Usener oder Warburg). Zu Herder als Vorläufer dieser Kulturgeschichte siehe Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, ECW 3, S. 257 und ders., Goethe und die geschichtliche Welt, ECW 18, S. 359. 54 Peter Gay berichtet in einem Aufsatz für die Marcuse-Festschrift, wie er Herbert Marcuse mit einem Buch von Cassirer unter dem Arm traf und dieser angesprochen auf die Lektüre meinte »I suppose, nothing that this man writes is ever totally bad.« Gay, damals bekennender Cassirer-Leser, später Ideenhistoriker und Freud-Experte, scheint dies als Nettigkeit Marcuses auszulegen, wenn er in seinem Artikel antwortet, dass Cassirer auch niemals »totally good« schrieb, da Unterbewußtsein und Gesellschaft bei ihm völlig abwesend seien. Peter Gay, The social history of ideas: Ernst Cassirer and After, in: The Critical Spirit. Essays in Honour of Herbert Marcuse, hg. v. Kurt H. Wolff u. Barrington Moore, Boston 1967, S. 106-120, hier: 106. Dieser öfter auftauchende Einwand hat Yehuda Elkana zu einer intensivierten Auseinandersetzung provoziert, um dafür zu argumentieren, dass soziale und ethische Fragen in der Konzeption der symbolischen Formen aufgehoben seien. Siehe Yehuda Elkana, The

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Für Cassirer ergab sich der Symbolbegriff aber aus prinzipiellen methodologischen Überlegungen, um pluralen Grundverhältnissen gerecht zu werden.56 Jede »symbolische Form« ist eine autonome Struktur und »Energie des Geistes« und doch immer auf die anderen Formen bezogen, die quasi als Medien und Material (über)codiert oder umfunktioniert werden. Bei Cassirer ergibt sich eine historische Dynamik daher zunächst aus dem Zusammenspiel von Autonomie und Antagonismus der symbolischen Formen.57 Das Modell für das Symbolische fand Cassirer hingegen im Leib-Seele-Verhältnis, die »Logik des Symbolbegriffs« basiert auf der »Korrelation von Verschiedenem«.58

Political Epistemology of Ernst Cassirer, in: ders., John Krois, The Enlightenment Project, hg. v. Sascha Freyberg und Ohad Parnes (in Vorbereitung). 55 Kittsteiner kritisiert Cassirer auch in Bezug auf den scheinbar ausgeschlossenen Bereich der »Produktion des Unbewussten«. Siehe Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie«, S. 73. Jedoch hat Cassirer durchaus für eine Geschichte der inneren Form plädiert (s.o. Fn. 51) und bereits Susanne Langer hat gezeigt, inwiefern es in Bezug auf Traumarbeit und Imagination neben den Unterschieden auch Übereinstimmungen bei Freud und Cassirer gibt. Alfred Lorenzer hat im Anschluss an Langer, Cassirer und Piaget den Symbolbegriff entsprechend gegen die psychoanalytische Fassung in Anschlag gebracht. Siehe A. Lorenzer, Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs, Frankfurt a.M. 1970. 56 Ernst Cassirer, Einleitung und Problemstellung, in: ders., Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I, ECW 11, S. 1-15. Siehe zur damit zusammenhängenden Aufgabe, umfangreiches empirisches Material in eine Ordnung zu bringen, d.h. die »Empirisierung des Transzendentalen« umzusetzen: Arno Schubbach, Die Genese des Symbolischen, Hamburg 2015. 57 Auch wenn Cassirer historisch prägnante Analysen liefert, es ist ein besonderes Merkmal und eine Schwierigkeit seiner philosophischen Konzeption, dass sie verschiedene genetische Ebenen berührt (oft über den Umweg der Auseinandersetzung mit verfügbaren empirischem Material). Wenn daher Gunter Scholtz bei Cassirer eine »Philosophie der Kulturgeschichte« erkennt (Gunter Scholtz, Dilthey, Cassirer und die Geschichtsphilosophie, in: Thomas Leinkauf [Hg.], Dilthey und Cassirer. Die Deutung der Neuzeit als Muster von Geistes- und Kulturgeschichte, Hamburg 2003, S. 146), so kommt es darauf an, den Umfang dieser Kulturgeschichte möglichst weit zu fassen, wenn die Deutung nicht zu kurz (nämlich nur bezogen auf die europäische Geistesgeschichte) greifen will. 58 Ernst Cassirer, Zur Logik des Symbolbegriffs (1938), in: ECW 22, S. 115. Das Modell der symbolischen Relation beschreibt quasi Ort und Prozess der Begegnung von Welt und Geist. Siehe John M. Krois, Cassirer´s ›Prototype and Model‹ of Symbo-

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Einen weiteren Schritt, die Philosophie der symbolischen Formen stärker in seine Konzeption und Erforschung der Geschichtsbilder einzubinden, macht Kittsteiner im später als Aufsatz ausgearbeiteten Vortrag Einheit im Pluralismus: Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden? 59 Diesen beginnt er mit einem »ikonologischen Vorspiel«, das einige Allegorien der Zeit und insbesondere die Zeitformen von Zyklus und Linie kontrastiert, um anhand der Umbrüche der Zeitvorstellung Elemente seines späteren Stufenmodells einzuführen, sowie »Bausteine für eine Theorie der historischen Zeit« zu liefern. Wie im bereits erwähnten Aufsatz zu den Stufen der Moderne wird Cassirer zusammen mit Kosellecks Kategorien eingeführt, doch ist hier der Fragehorizont auf historische Zeit überhaupt bezogen und daher noch weiter gefasst. Dadurch wird auch die Rolle, die Cassirer spielt, klarer und das (später nicht voll ausgeführte) Programm einer Kulturgeschichte der affektiven, prägnanten Zeitbilder tritt deutlicher hervor. Der Ansatz sei daher hier etwas länger zitiert. »An solchen kritischen Punkten wie beim Übergang von einer in sich kreisenden Zeit zu einer Zeit-Linie – das ist meine erste These – zwingt die neue Erfahrung der Geschichte die Menschen, über ihr Leben in der Geschichte neu und anders nachzudenken. Der Erwartungshorizont, auf den sie zu leben, hat sich verändert. Und mit ihm verändert sich die Symbolisierung der historischen Zeit, die nun in anderen neuen Bildern ihren Ausdruck findet. Meine zweite These: Historische Zeit wird niemals punktuell von bestimmten ›Erlebnissen‹ her erfahren; diese Erlebnisse sind eingebettet in einen überwölbenden Horizont, von dem her sie ihre bestimmte ›allgemeinen Beleuchtung‹ beziehen. Erst dann werden sie zu einer ›Erfahrung‹. Damit rückt der von Ernst Cassirer entfaltete Begriff der ›symbolischen Form‹ als dritte verbindende Kategorie zu ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ hinzu. Die ersten beiden Begriffe sind ohnehin nicht voneinander zu trennen: Der Erfahrungsraum begründet den Erwartungshorizont; aber vom Erwartungshorizont wird zugleich der Erfahrungsraum überhaupt erst konturiert. Mit Cassirer kann man so sagen: Es gibt überhaupt keine bloße, sozusagen nackte Wahrnehmung, sondern was lism, in: Science in Context 12/4 1999, S. 531-547; wieder in: ders., Bildkörper und Körperschema, Berlin 2011, S. 44-62. 59 Heinz Dieter Kittsteiner, Einheit im Pluralismus. Wie kann Geschichtstheorie widersprüchliche Zeitvorstellungen verbinden?, in: Kontinuität und Wandel. Geschichtsbilder in verschiedenen Fächern und Kulturen, hg. v. Evelyn Schulz und Wolfgang Sonne, Zürich 1999, S. 41-87. Wie eng der spätere Aufsatz Die Stufen der Moderne (2003) für Kittsteiner selbst mit diesem zusammenhing, zeigt Fußnote 655 in seinem Buch Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, wo er ihn unter dem Titel des zentralen Abschnitts anführt als »Erfahrungsraum, Erwartungshorizont und symbolische Repräsentation«.

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wir erfahren und erleben, ist immer schon durchsetzt und ›gewissermaßen beseelt von bestimmten Akten der Sinngebung‹. Mehr noch: Für den Historiker ist diese Ausdruckswahrnehmung, also die symbolische Beleuchtung der Fakten von einem projektierten Geschichtshorizont her, wichtiger als die (zwar immer wieder intendierte, aber gar nicht mögliche) Wahrnehmung der Fakten selbst. Wir orientieren uns in der historischen Zeit, indem wir eine Zukunftsprognose entwerfen, deren Licht uns rückstrahlend die Gegenwart erleuchtet. Auch das was wir Vergangenheit nennen ist nur eine hinter die Gegenwart zurückreichende Re-Konstruktion in diesem handlungsbezogenen Licht. […] Das ›Verstehen von Ausdruck‹ geht dem ›Wissen von den Dingen‹ voran. Wenn wir diesen Satz Cassirers auf die Erfahrung der historischen Zeit beziehen, können wir sagen: Auch für die Darstellung der historischen Zeit gilt der Grundbegriff der ›symbolischen Prägnanz‹.« 60

Hier versammelt Kittsteiner Elemente dessen, was man eine reflektiert ikonologische Kulturgeschichte im Anschluss an Cassirer nennen könnte, und bezieht dabei historisches Wissen auf die von Cassirer herausgearbeitete symbolische Funktion der Ausdruckswahrnehmung. Er skizziert hier ein Programm, das nicht nur mit Grundintentionen von Cassirer und insbesondere der Warburgschen Kulturwissenschaft zusammenpasst,61 sondern auch mit diesen Protagonisten die Ansichten von Geschichte überhaupt teilt. Auch wenn das Programm nur fragmentarisch ausgeführt wurde, so lohnt es sich, diese Übereinstimmung und das sich daraus ergebende Desiderat der Erforschung des Zusammenhangs von Wahrnehmung und Geschichte, Affekt und Methode festzuhalten. Kittsteiner bezieht sich dafür auf Cassirers Definition der »symbolischen Prägnanz«, die (insbesondere für die von Krois vertretene Interpretation von Cassirers Philosophie) einen Grundbegriff von Cassirers eigenem systematischen Ansatz darstellt.

60 Kittsteiner, Einheit im Pluralismus, S. 56 f. 61 Entgegen den heute dominanten oder zumindest »lautstärksten« Interpretationen von Warburgs Werk, die sich allerdings an ganz anderen, als veraltet empfundenen, Vorstellungen von Zeit, Bild und Geschichte abarbeiten, kann durchaus von einer gewissen Komplementarität von Warburgs und Cassirers Bemühungen gerade in diesem Punkt ausgegangen werden. Kittsteiner folgt in dieser Frage insbesondere Krois, der die Gemeinsamkeiten betont. Siehe dazu auch Sascha Freyberg, Colliding Chaoïds in Iconology, in: Art History after Deleuze and Guattari, hg. v. Sjoerd van Tuinen und Stephen Zepke, Leuven 2017, S. 105-124.

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»Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.« 62

Dabei ist jedoch nicht an bloße ›Konstruktion‹ gedacht, sondern an eine konkrete Allgemeinheit als besondere Wechselbestimmung von begrifflicher Ordnung und sinnlicher Erscheinung. »Hier handelt es sich nicht um bloß ›perzeptive‹ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ›apperzeptive‹ Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört.« 63

Die damit zusammenhängende weitreichende Übereinstimmungen mit Cassirers Rekonstruktion der Geschichtstheorie, ihrer Ideale und Einstellungen, 64 sowie mit seinen historiographischen Auffassungen, die von der ›pragmatischen‹ und ›metapolitischen‹ bis zur rekonstruktiven Ebene der »Akt-Analyse« des »Symbolbewußtseins« reichen,65 wäre hier ein wichtiges Thema, kann aber an dieser

62 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III (Phänomenologie der Erkenntnis), ECW 13, S. 231. 63 Ebd. 64 Cassirer hat die Entstehung des historischen Ideals (eben auch im Sinne der Einstellung zur Geschichte) immer wieder thematisiert. Hier sei nur auf Das Erkenntnisproblem und das Kapitel aus dem Essay on Man verwiesen. 65 In der Logik der Kulturwissenschaften (1942) spricht Cassirer von zwei gegensätzlichen (aber durchaus komplementär funktionierenden) Ansätzen kulturwissenschaftlicher Forschung überhaupt. Der »Werdensanalyse«, die auf Ursache und Wirkung fokussiert, steht so etwas wie eine Strukturanalyse gegenüber, welche auf drei Ebenen bzw. in drei Schritten erfolgt: Werk-, Form- und Aktanalyse. In der Aktanalyse »fragen wir nicht nach den Gebilden, den Werken der Kultur – und ebensowenig fragen wir nach den allgemeinen Formen, in denen sie sich uns darstellen. Wir fragen nach den seelischen Prozessen, aus denen sie hervorgegangen sind und deren objektiven Niederschlag sie bilden. Wir erforschen die Eigenart des ›Symbolbewußtseins‹, das sich im Gebrauch der menschlichen Sprache bekundet; wir fragen nach der Art und der Richtung des Vorstellens, des Fühlens, der Phantasie und des Glaubens, auf denen die Kunst, der Mythos, die Religion beruhen. Jede dieser Betrachtungsweisen hat ihr eigenes Recht und ihre eigene Notwendigkeit, und jede bedient sich, logisch gesehen,

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Stelle nicht weiter verfolgt werden. Für Kittsteiner waren diese Übereinstimmungen nicht ohne weiteres überschaubar. Seine Auseinandersetzung mit Cassirer zeigt aber (zumindest in den 90er Jahren) deutlich die Tendenz, die Krois bei Cassirer hervorgehoben hat, nämlich die einer Aufhebung der Geschichtsphilosophie im dialektischen Sinne, wodurch sie als Kulturforschung realisiert werden kann: ὄλβιος ὅστις τῆς ἱστορίας ἔσχε μάθησιν. 66

4.

WITH ME IT 'S ALL IN BITS – DIE REPRÄSENTATION »POLITISCHER SINNLICHKEIT«

Mit Blick auf die Fragen, die Kittsteiner in Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie und im Anschluss an Koselleck entwickelt hat, erscheint seine Hinwendung zur epistemologisch-symboltheoretischen bzw. kritischikonologischen Analyse der Geschichtsbilder als nicht vollständig vollzogene Entwindung aus der »Einsicht in die historische Subjekt-Objekt-Verkehrung«67 in die »kopernikanische Drehung«. Zunächst wären demnach die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte zu klären, nämlich wie ›Geschichte‹ überhaupt ›wahrgenommen‹ wird. Auch in dieser Hinsicht schloss Kittsteiner zunächst an Koselleck an, der in seinen Ausführungen zu dem, was er in einem kurzen Text bereits 1963 als »politische Ikonologie« bezeichnete, aber nie systematisch ausgearbeitet hat, die Frage nach der Funktion der Bilder stellte.68 Koselleck ging es

besonderer Instrumente und macht von Kategorien Gebrauch, die ihr spezifisch zugehören«. ECW 24, S. 456-457. 66 Euripides, Fragment 910. »Reich [olbios] ist, wer durch Forschung [istoria] Wissen [mathesis] erlangt«. Zitiert ist der Anfang des Fragments, das Klibansky und Paton 1936 in Gänze der Cassirer-Festschrift als Motto voranstellten. 67 Müller, Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 741. 68 Siehe dazu Hubert Locher, Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm »Zur politischen Ikonologie«, ZIG 4/2009, S. 81-96. Dass Koselleck die ersten Ausführungen im Zusammenhang mit der Lektüre von Arnold Gehlens Zeit-Bilder (1960) entwickelte, entbehrt nicht der Relevanz. Gehlen hat die Affektivität der »Seele im technischen Zeitalter« immer wieder im Zusammenhang mit der Wahrnehmungstheorie im Rahmen seiner Anthropologie thematisiert (ohne Auseinandersetzung mit oder Verweis auf Cassirer, versteht sich). In seinen Zeit-Bildern wird in Bezug auf moderne Kunst eine auch explizit normative Ebene eingeführt. Instinkt und Institution – hier kommt auch das »Zeit-Bild« aus Gilles Deleuzes Kinobüchern in den Sinn, das im Unterschied zum »Bewegungs-Bild« als subjektlos und schwebend, als illusionäre,

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dabei um die Frage der Wirkmacht der Bilder im Sinne einer »politischen Sinnlichkeit«. Im selben Sinne spricht Krois von der Wirkung »ikonischer Formen«, die Einstellungen bewirken ohne auf propositionale Aussagen festgelegt werden zu können. You cannot argue against myth.69 Oder mit Spinoza: Eine Leidenschaft wird nur durch eine größere Leidenschaft überwunden. Gerade aufgrund ihrer Vagheit und dem in ihnen suggerierten »Möglichkeitssinn« sind sie überzeugend und wirken bereits auf unbewusster Ebene. Krois ging dabei von Cassirers Analyse des »mythischen Denkens« und der Ausdruckswahrnehmung aus, um im »Körperschema«, wie es in den Kognitionswissenschaften gefasst wird, eine Voraussetzung des Verstehens von Bildlichkeit (und ihrer Suggestivität) zu erkennen. Wenn Cassirer die Primordialität der Ausdrucks- vor jeder Dingwahrnehmung (des Du vor dem Es) betont, wird die zunächst physiognomische Verfassung der Wahrnehmung im mythischen Denken, d.h. insbesondere die Verbindung von emotionalen, synästhetisch-transmodalen und intermedialen Aspekten hervorgehoben.70 Eine »ikonische Form« ist dementsprechend bei Krois keine feste Form »im Bild«,71 sondern (im Anschluss an Charles S. Peirce) eine dyna-

ziellose Temporalität beschrieben wird. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, übers. v. Klaus Englert. Frankfurt a.M. 1996. 69 Mit Blick auf Gobineaus zirkuläre Methode stellt Cassirer entsprechend fest: »You cannot argue against an analytical judgment; you cannot refute it by rational or empirical proofs.« The Myth of the State, ECW 24, S. 235. 70 Ernst Cassirer, An Essay on Man (1944), ECW 23, S. 85: »Mythical perception is always impregnated with [...] emotional qualities. Whatever is seen or felt is surrounded by a special atmosphere – an atmosphere of joy or grief, of anguish, of excitement, of exultation or depression. Here we cannot speak of ›things‹ as a dead or indifferent stuff. All objects are benignant or malignant, friendly or inimical, familiar or uncanny, alluring and fascinating or repellent and threatening. We can easily reconstruct this elementary form of human experience, for even in the life of the civilized man it has by no means lost its original power. If we are under the strain of a violent emotion we have still this dramatic conception of all things. They no longer wear their usual faces; they abruptly change their physiognomy; they are tinged with the specific color of our passions, of love or hate, of fear or hope. There can scarcely be a greater contrast than between this original direction of our experience and the ideal of truth that is introduced by science.« 71 Wie es etwa bei Ulrike Kregel verstanden wird in: dies., Bild und Gedächtnis. Das Bild als Merkzeichen und Projektionsfläche des Vergangenen, Berlin 2009, S. 104 f.

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mische Form, eine Kontinuität.72 So kann die Wahrnehmung von ›Geschichte‹ ebenfalls als ausdruckshaft verstanden werden. Wenn dazu Cassirer das Alltagsbewusstsein stark von solchen Elementen des Mythischen durchzogen sieht, so gibt das zusammen einen Ansatz um nicht nur die »Angst in der Geschichte« einzuordnen, sondern auch Warburgs Grundbegriff des »phobischen Reflex«. Die Ausdruckswahrnehmung muss darüber hinaus in ihren Verbindungen mit den Ebenen der »Darstellung« und der »reinen Bedeutung« angesprochen werden, selbst wenn Richtungen der Welterschließung, etwa von Mythos und Wissenschaft, diametral entgegengesetzt scheinen.73 Einer der wenigen Kulturhistoriker, der den von Cassirer vielfach ausgeführten Zusammenhang der Ausdruckswahrnehmung mit dem Mythos als symbolischer Form ernst nahm, war Michail Bachtin,74 der bei Cassirer sah, dass mythisches Denken der Welt begegnet, sich in ihr orientiert und sich aneignet, indem es sie mit dem Bild des Körpers und seiner Organe koordiniert, wobei die Analogie von Körper und Welt die Einheit von Mikro- und Makrokosmos sichert.75 Einen (auch in Bezug auf die Verschwiegenheit) ähnlichen Anschluss an Cassirer unternahm Blumenberg in seiner Metaphorologie. Erst John Michael Krois versuchte jedoch, als genauer Kenner von Cassirers Werk, diesen Punkt systematisch zu einer »philosophischen Ikonologie« zu entwickeln. Damit machte er auch die politische Philosophie und Diskursethik auf ein schwerwiegendes Prob-

72 John M. Krois, Image Science and Embodiment, or: Peirce as Image Scientist, in: ders., Bildkörper und Körperschema, Berlin 2011,S. 202-207. 73 Ludwik Fleck hat in seinem Aufsatz Schauen, sehen, wissen (1946) den gestalt- und wahrnehmungspsychologischen Aspekt seiner Denkstilanalyse vertieft, der mehrdimensional von der affektiv-physiognomischen bis zur epistemischen Ebene reicht und ihre Wechselwirkung thematisiert. »Um zu sehen, muß man zuerst wissen«, konstatiert Fleck, um davon ausgehend die Rolle des »Denkkollektivs« ins Spiel zu bringen: »Wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs.« Ludwik Fleck, Schauen, sehen wissen, in: Erfahrung und Tatsache, hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a.M. 1983, S. 147-174; und nun in: Denkstil und Tatsachen, hg. v. Sylvia Werner und Claus Zittel, Berlin 2011, S. 390-418. Diese grundlegende Übereinstimmung mit Cassirer und anderen Kulturwissenschaftlern dieser Zeit ist noch weitgehend unbeachtet geblieben, könnte aber bei weiteren Forschungen nützlich sein. 74 Auch bei Benjamin und Eisenstein spielt die Rezeption von Cassirers Mythostheorie eine Rolle. 75 Siehe Brian Poole, Bakhtin and Cassirer, in: Symbolic Forms and Cultural Studies, hg. v. John M. Krois und Cyrus Hamlin, New Haven 2004, S. 101.

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lem aufmerksam.76 Denn »Feindbilder üben einen Reiz auf Menschen aus, auch weil sie Bilder sind«.77 Ihre semantische Vagheit ist insofern von Vorteil, als dass sie eine Evidenzsuggestion herstellen, ohne direkt widerlegbar zu sein. Sie zeigen nur eine »Möglichkeit«, doch ihre deiktische ist verbunden mit einer imperativen Dimension. So können solche »Bilder« Vorurteile verstärken, ja durch »framing« (Lakoff) eine Art »Konsensfiktion« (C. Knobloch) hervorrufen oder bestimmte »usurpierte Begriffe« (Kant) in Umlauf bringen. Eine Bildwissenschaft, so forderte Krois, muss dementsprechend eine Theorie des Mythos umfassen.78 Die Mythostheorie, die mit der Ausdruckswahrnehmung bei der menschlichen Affektivität ansetzt, der politisch-historische Hintergrund, der klassische Staatstheorien mit den modernen, insbesondere nationalsozialistischen, politischpropagandistischen Praktiken konfrontiert, und die alles verbindende Frage nach dem Funktionieren der »modern political myths«, die letztlich das Gesellschaftsleben bestimmen, all das wird in Cassirers letztem Werk The Myth of the State thematisiert. Umso verwunderlicher, dass Kittsteiner sich scheinbar nicht auf eine weitergehende Auseinandersetzung mit dessen Konzeption eingelassen hat. Er belässt es bei der Andeutung der Parallele zwischen der »heroischen Moderne« und der von Cassirer beschriebenen fatalistisch-dezisionistischen »Geschichtsphilosophie«.79 Doch genau in dieser Thematik besteht eine weitere Konvergenz von Kittsteiner mit Cassirer, was aus der Sicht von Krois‹ Arbeiten deutlich wird.

76 Siehe John M. Krois, Cassirer und die Politik der Physiognomik, in: Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, hg. v. Claudia Schmölders, Berlin 1996, S. 213226; sowie: Kultur als Symbolprozess, in: ders., Bildkörper und Körperschema, Berlin 2011, S. 73-75. 77 John M. Krois, Feindbilder und Bildwissenschaft (Sonderdruck), Leipzig 2007. 78 Siehe John M. Krois, Cassirer’s ›symbolic values‹ and philosophical iconology, in: Cassirer Studies I (Philosophy and Iconology) 2008, S. 101-117. 79 Ernst Cassirer, The Myth of the State (1946): »A philosophy of history that consists in somber predictions of the decline and the inevitable destruction of our civilization and a theory that sees in the Geworfenheit of man one of his principal characters have given up all hopes of an active share in the construction and reconstruction of man’s cultural life. Such philosophy renounces its own fundamental theoretical and ethical ideals. It can be used, then, as a pliable instrument in the hands of the political leaders.« ECW 25, S. 288. Dieser Absatz wird auch bei Kittsteiner mehrmals zitiert.

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Von Kittsteiners weiteren Arbeiten zur Bild- und Symbolproblematik seien noch der kürzere Text Diskriminierendes Sehen80 und der Aufsatz Das Wirklichkeitsverständnis der Kulturgeschichte81 hervorgehoben, bei dem Cassirer noch als Stichwortgeber fungiert. Obwohl die Philosophie der symbolischen Formen zunächst als Verbündete für die Kulturgeschichte eingeführt wird, 82 wurde ihre Rolle später deutlich eingeschränkt. Hier steht die Kulturgeschichte vor der perspektivistischen Forderung des dialektischen Bildes: der Darstellung des »gleichzeitig Ungleichzeitigen«.

80 Heinz Dieter Kittsteiner, Diskrimierendes Sehen, in: Diskriminierung Antidiskriminierung, hg. v. J. C. Joerden, Berlin, Heidelberg 1996, S. 27-38. Hier macht Kittsteiner anhand von Hitlers Mein Kampf im Anschluss an die Wahrnehmungspsychologie sowie die »Affektlogik« einige interessante Beobachtungen zur affektiven Prägnanz von Minderheiten im Sinne von sozialpsychologischen Attraktoren, ohne jedoch die Verbindung zu den einschlägigen Arbeiten von Serge Moscovici zum »social imaginary« herzustellen. 81 Heinz Dieter Kittsteiner, Das Wirklichkeitsverständnis der Kulturgeschichte, in: Die Einheit der Wirklichkeit. Zum Wissenschaftsverständnis der Gegenwart, hg. v. BerndOlaf Küppers, München 2000, S. 9-27. 82 Im längsten Kapitel von Cassirers Hauptwerk, zur Pathologie des Symbolbewußtseins, deren Beschreibungen oft an Hofmannsthals Chandos-Brief erinnern und eine wichtige Anregung für Merleau-Ponty war, wird auch die Korrespondenz von Symbolverstehen, Desorientierung und Formlosigkeit der Geschichte deutlich. Dabei soll, wie Cassirer explizit betont, kein substantieller Zusammenhang gemeint sein und kein Symbolvermögen hypostasiert werden. »›[W]ith me it’s all in bits‹, so sagte ein Kranker Heads, ›I have to jump […] like a man who jumps from one thing to the next. I can see them, but I can’t express.‹ Deutlicher kann es kaum bezeichnet werden, daß jede Störung des darstellenden Charakters, der Wahrnehmung und des Bedeutungscharakters des Wortes die Kontinuität des Erlebens in irgendeiner Weise angreift – daß die Welt des Kranken durch sie ›in Stücke zu gehen‹ droht.« Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. III (Phänomenologie der Erkenntnis), ECW 13, S. 2789.

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5.

OBJECTIVE ANTHROPOMORPHISM IN THE TECHNICAL CENTURY – LEIDSCHATZ UND WISSENSCHAFT

Kittsteiner hat in seiner Deutschen Geschichte versucht, sowohl dem Pluralismus wie der politischen Sinnlichkeit gerecht zu werden. Folgt man dem bildtheoretischen Ansatz, wie er bei Krois (und ansatzweise bei Koselleck) erscheint, so gehört zur Realität und Wirksamkeit von Geschichtsbildern gerade auch ihre Bildhaftigkeit. Der (Alp-)Druck auf das kollektive (Unter-)Bewusstsein83 wird jedoch nicht nur durch »die Tradition aller toten Geschlechter« sondern auch durch mediale Übertragung erzeugt. Auf die Affektivität wird nicht zuletzt in Strategien der Werbung und Propaganda gezielt. Diese Rückwirkungen und Wirkschleifen verkomplizieren auch die Untersuchung der Geschichtsbilder. Es gilt entsprechend nicht sofort zum Sprung in die (wiederum ›geschichtsphilosophisch‹ stark aufgeladene) Diagnosen, etwa einer »Zeit des Weltbildes« (Feuerbach, Heidegger) oder einer »Gesellschaft des Spektakels« (Debord), anzusetzen, sondern (quasi unterhalb solcher Verdichtungen und Narrative) zunächst die konkreten Zusammenhänge zu erforschen. »Geschichte als Allegorie darzustellen, ist immer ein geschichtsphilosophischer Akt. An den objektiven Prozess selbst wird delegiert, was sich nicht unmittelbar verwirklichen lässt. «84

Die Verteidigung der Narrative ist richtig, nur muss ihre Funktion auf die Hypothese beschränkt und entsprechend dargestellt werden. Nur so kann bloße Fiktionalität auf Distanz und die narrative Struktur transparent gehalten werden. 85 Die Narrative müssen widerlegbar bleiben. Inwieweit Geschichtsbilder im Sinne von Einstellungen und Erwartungen aus dem sozialen und kulturellen Zusammenhang herausgelöst werden können, muss hier offen bleiben. Die Einsicht in die Unverfügbarkeit von Geschichte

83 Mario Erdheim hat in seinem gleichnamigen Buch die damit verbundenen Verdrängungsprozesse im Anschluss an die Ethnopsychologie von Georges Devereux als Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit (Frankfurt a.M. 1982) bezeichnet. 84 Heinz Dieter Kittsteiner »Stellung der Allegorie in Hegels Ästhetik«, Notizen zum Hauptseminar »Allegorie und Geschichte« im Wintersemester 1981/82, Nachlass Kittsteiner, Sign. UK 300, zitiert nach: Brockmann, Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte? Frankfurt (Oder) 2018. 85 Kittsteiners Versuch, »Weltgeist« mit »Weltmarkt« zu ersetzen, geht oft über diese methodologische Fassung hinaus.

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schützt nicht vor Dezisionismus, sondern kann einfach zur Haltung der Unverbindlichkeit und zum (politisch steuerbaren) Relativismus führen. Das Geschichtsdenken sollte nicht nur in seinen passiv-widerfahrenden, sondern vor allem auch in den aktiv-gestaltenden Aspekten deutlich werden.86 Geschichtsphilosophie wäre demnach auch immer Zukunftsphilosophie. Denn es ist nicht nur die Gegenwart, die auf die Darstellung der Vergangenheit zurückwirkt, sondern gleichzeitig auch die Zukunft. Durch den wechselseitigen Bezug von Wahrnehmung, Erwartung und Geschichte können durch die Untersuchung prägnanter semantischer und figurativer Verdichtung Hypothesen aufgestellt werden, die auch Kultur- und Sozialanalyse aufeinander beziehbar machen. 87 Cassirer argumentierte für einen »objektiven Anthropomorphismus« der Historiographie, weil dies die Erkenntnis der eigenen Position einbezieht, die sich in der Hypothese niederschlage und durch sie der Objektivation zugänglich werde. Dadurch sind parteilichen Haltungen durch Überprüfbarkeit Grenzen gesetzt und ein plurales Modell eines »Geisterchors« instantiiert. So wird auch die gesellschaftliche Rolle des Historikers deutlich, zumindest insoweit, wie er durch Forschung Einfluss auf Geschichtsbilder (und Vorstellungen von Zukunft) hat. Mit der Analyse des Zusammenhangs von historischen und anthropologischtranszendentalen Aspekten von Wahrnehmung und Geschichte stehen die affektiven und symbolischen Grundlagen gesellschaftlicher Kommunikation und ihre 86 Ernst Cassirer, An Essay on Man, ECW 23, S. 206: »In history man constantly returns to himself; he attempts to recollect and actualize the whole of his past experience. But the historical self is not a mere individual self. It is anthropomorphic but it is not egocentric. Stated in the form of a paradox, we may say that history strives after an ›objective anthropomorphism‹. By making us cognizant of the polymorphism of human existence it frees us from the freaks and prejudices of a special and single moment. It is this enrichment and enlargement, not the effacement, of the self, of our knowing and feeling ego, which is the aim of historical knowledge.« 87 Das markiert einen blinden Fleck des ›Geschichtsdenkens‹ im 20. Jahrhundert. Tradition und Utopie blieben so meist aporetisch gegenübergestellt. Entweder ging es um tragischen Verlust oder bewussten Bruch, doch was die Analyse der betreffenden sozialen Lebenswelt und -form, sowie die Stiftung von Sozialität betrifft, verhielt man sich zurückhaltend. Das war bekanntlich kein Hinderungsgrund, um weitreichende (und oft desaströse) politische oder politisch-theologische Konsequenzen zu ziehen. Eher war es wohl die Voraussetzung der Dynamik, die durch die steigende Diskrepanz zwischen politischer und ökonomischer Entwicklungen noch verstärkt wird. Zur Kritik an der politischen Philosophie sowie zur Idee der Analyse von Kulturpraktiken der Gemeinschaftsbildung siehe Iris Därmann, Figuren des Politischen, Frankfurt a.M. 2009.

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Manipulierbarkeit zur Disposition.88 Dies hat Cassirer in seinem Spätwerk The Myth of the State betont und der Kulturforschung im Begriff der fatalen »technique of modern political myth« die Aufgabe gestellt, die ikonisch-mythische Verfahrenstechnik zu untersuchen, die durch die fortschreitende »Technisierung der Lebenswelt« (Blumenberg) einen prinzipiell anderen Charakter bekommt. »Myth was no longer a free and spontaneous play of imagination. It was regulated and organized; it was adjusted to political needs and used for concrete political ends. What formerly appeared to be an ungovernable unconscious process was subjected to a severe discipline. It was brought under control and trained to obedience and order. Myths were brought into being by the word of command of the political leaders. They could be made at will, becoming an artificial compound manufactured in the great laboratory of politics. The twentieth century is a technical century. It invented a new technique of myth and this invention proved to be decisive in the final victory of the National Socialist party in Germany. This victory was made possible because the adversaries of National Socialism never were able to understand the character and the full strength of the new weapon.« 89

Die anfangs angesprochene Ambivalenz, die auch die verschiedenen Stellungen bedingt, die Kittsteiner zu Cassirers Werk einnahm, erscheint nun als solche objektivierbar, wenn man Wahrnehmungsurteile, Herrschafts- und Sinnverhältnisse aufeinander bezogen hält. Im Konflikt der geschichtsphilosophischen Ansichten etwa von Kant und Herder wird deutlich, was die Differenz von symbolischer (im engeren Sinne als vermittelnder) und ikonischer (im Sinne affizierender) Geschichtserfassung ausmacht. Während der eine den aufklärerischen Optimismus mit einem politischen Skeptizismus und der Enthaltung von erzeugtem Enthusiasmus verbinden will, versucht der andere die sinnliche Verkörperung und kulturelle Institutionalisierung und damit die Möglichkeiten der Umsetzung in Bezug auf einen konkreten Ausgangspunkt, seine »wirklichen Bedingungen« und überlieferten Umstände im Auge zu behalten. Cassirers Vorhaben bestand darin, diesen Konflikt als innere Form der Aufklärung zu integrieren. Damit soll die Möglichkeit offen gehalten werden, dass der »Leidschatz der Menschheit«, wie es Aby Warburg einmal programmatisch

88 Siehe John M. Krois, Kultur als Symbolprozess. Philosophische Konsequenzen eines Paradigmenwechsels, in: DZPh 49/3 (2001), S. 367-375; wiederveröffentlicht in John Krois, Bildkörper und Körperschema, Berlin 2011, S. 64-75. 89 Ernst Cassirer, Judaism and the Modern Political Myths (1944), ECW 24, S. 198.

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formulierte, »humaner Besitz« werden kann.90 Nicht als Versöhnung am Ende aller Tage, sondern als praktisch wirksames, regulatives Ideal, das auch Wunden nicht einfach zudeckt. Diese Idee blieb in ihrer subtilen Radikalität lange ungehört und Kittsteiners Vernehmen bleibt unbedingt festzuhalten. Die Irritationen und Probleme die das in Bezug auf die konkrete historiographische Arbeit nach sich zieht, liegen im Problem der Verbindung verschiedener Ebenen der Entwicklungen innerhalb einer Epoche, begründet. Die Stellung zur Geschichte allein reicht nicht aus, um diese Ungleichzeitigkeiten zur Darstellung zu bringen, oder auch nur in ihrem Antagonismus oder ihrer Interferenz zu erfassen. In Bezug auf die Geschichtsbilder gelang es Kittsteiner jedoch über den Anschluss an Koselleck und die Kulturphilosophie Cassirers hinaus einen Weg für eine »geschichtsphilosophisch angeleitete« und »ikonologisch« informierte Kulturgeschichte aufzuweisen, die den Beziehungen von Leidschatz und Wissenschaft, Erfahrungswelten und Reflektionsstrukturen gerecht werden kann. Durch die Analyse der »ikonischen Formen« zwischen Sozialisierung und Technologie wird ein Mythos-Komplex und so auch eine oft verdeckte ästhetische Ebene ansprechbar. Die kritische Arbeit an den »Bildern« sollte nicht vergessen, dass der »Möglichkeitssinn«, wie es bei Musil heißt, nicht unbedingt fatal sein muss, sondern auch helfe »alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.«91 Mit herzlichem Dank an Jannis Wagner, der nicht nur die Auseinandersetzung anregte, sondern entscheidende Hinweise zu Werk und Nachlass von Heinz Dieter Kittsteiner gab. Der ersten Kontakt mit Kittsteiners Werk kam durch Studien an der Fernuniversität Hagen zu Stande, wo der Aufsatz Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte? im Studienbrief zur Einführung in die Kulturwissenschaften quasi kanonisiert wurde. Verantwortlich dafür war, wie er im persönlichen Gespräch verriet, Kittsteiners Freund Ludolf Kuchenbuch, dem somit auch Dank gebührt. Die Abfassung des Beitrags wurde unterstützt durch das ERC-Projekt EarlyModernCosmology (Horizon 2020, GA 725883) an der Universität Ca' Foscari in Venedig.

90 Notiz zu einem Vortrag vor der Hamburger Handelskammer, 10. April 1928, WIA 12.27. Siehe auch Werner Hofmann, Georg Syamken, Martin Warnke, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt a.M. 1980. 91 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1987, S. 14.

Der Fort-Schritt Kittsteiners Geschichtsbilder Jost Philipp Klenner

Im Nachlass Heinz Dieter Kittsteiners findet sich ein Manuskript, in dem er eine erste Skizze seines Artikels zum Iconic turn entwarf. Auf der ersten Seite vermerkte er: »Kein Kunsthistoriker, Kein Fotohistoriker, Historiker: ›Bild‹ aus theoretischem Interesse an künftiger ›Historik‹, alles etwas abstrakt, weil noch in Anfängen«.1 Die Ankündigung einer »künftigen Historik« bleibt zunächst dunkel, zumal die bildtheoretischen und bildgeleiteten Schriften im Werk Kittsteiners marginal blieben. Worin bestand also jenes »theoretische Interesse«? Sollte man vielleicht den ersten Halbband seiner Deutschen Geschichte Die Stabilisierungsmoderne als Anhaltspunkt nehmen, in dem die Abbildungen wie eine eigene, nur zuweilen kommentierte Bildgeschichte über der Erzählung des Historikers schweben (Abb. 1) – obschon der Autor selbst von einer »vergleichsweise sparsamen« Bebilderung sprach – und am Schluss des Halbbandes schließlich in die Erzählstrategie einziehen?

1

Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina (UA/EUV), NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 378 »Historienbilder – Bild und Quelle«/»Bild und Quelle«. Der Beitrag zum »Iconic turn« erschienen als: Heinz Dieter Kittsteiner, »Iconic turn« und »innere Bilder« in der Kulturgeschichte, in: ders. (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 153-182.

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Abbildung 1: Bild und Geschichte. Doppelseite aus Kittsteiners »Die Stabilisierungsmoderne«.

Quelle: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618–1715, München 2010.

Im letzten Absatz seines Buches traute der Autor der realen Bildwanderung von Antoine Watteaus Firmenschild, das die Abnahme eines Portraits Ludwigs XIV. zeigt, den gedanklichen Übergang in den zweiten Halbband Die Bewegung vor dem Sturm zu. Der letzte Satz der Stabilisierungsmoderne lautet: »Wir folgen dem Weg des Bildes – und so kommen wir von Versailles nach Potsdam – zunächst aber einmal zu seinem krassesten Gegenstück: Es verschlägt uns nach Königswusterhausen. (Ende des ersten Halbbandes. Fortsetzung folgt)«.2 Oder lässt sich das theoretische Interesse Kittsteiners am Bild aus der Praxis des Historikers erklären? Dann bekäme man es mit dem Material, dem Archiv zu tun, den Manuskript- und Notizsammlungen des Nachlasses, der Hängeregistratur und den Vorlesungsmaterialien, die häufig beigelegte Folien und Kopien von Bildwerken, Druckgrafiken, Plakaten und anderen visuellen Zeugnissen enthalten. Auch einzelne Bildsammlungen mit thematischen Gruppen lassen sich aus2

Ebd., S. 355.

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machen (Abb. 2), die Jannis Wagner als »Materialsammlungen zu Pathosformeln in Politischer Ikonographie« oder »politischer Gebrauchsgraphik« beschrieben hat.3 Dass die gesammelten Bildwelten dem Gegenstandsbereich der politischen Ikonographie angehören, steht außer Frage. Aber hatte Kittsteiner ein Konzept politischer Ikonographie oder Ikonologie? Hat er bildgeschichtlich gearbeitet oder hatte er andere Motive? Auffällig bleibt zunächst, dass schon die Sammlungen nur bestimmte Motive umkreisen. Abbildung 2: Allegorische Kampfzone. Bildsammlung aus Kittsteiners Hängeregistratur.

Quelle: © Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, NL Kittsteiner.

Bleibt noch die eigene Hand des Historikers: Die Notizblätter Kittsteiners sind in einigen Fällen mit kleinen Randzeichnungen und Figuren besiedelt. So begegnet man beim Blättern in den Nachlassmappen etwa der Historia aus Cesare Ripas Iconologia, die im Aufsatz Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts Erwähnung fand, wie auch dem jungen Soldaten mit verschatteter Stirn, dessen Photographie aus dem Jahr 1916 zum Ausgangspunkt für Kittsteiners Artikel zum Iconic turn wurde. Diese Randzeichnungen scheinen spontan 3

Jannis Wagner, Obsessive Lektüren. Heinz Dieter Kittsteiners Nachlass, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (X/2), 2016, S. 110-114, hier: S. 113; ders., Topographie der Passionen. Zur Bibliothek Heinz Dieter Kittsteiners, in: Agnieszka Brockmann, Jannis Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte, Frankfurt (Oder) 2017, S. 85-95, hier: S. 93.

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aus Lektüren und beim Nachvollzug von Denkfiguren und Argumenten entstanden zu sein, als Verdichtung von Ideen und geschichtstheoretischen Gesten. Als Kittsteiner im Mai 1992 zu einer von Michael Diers veranstalteten Tagung zum Fall der Denkmäler in Leipzig als Podiumsdiskutant eingeladen wurde, notierte er nicht nur die aus der Geschichte des Bildersturms argumentierenden Überlegungen der vortragenden Kunsthistoriker, sondern entwarf parallel ein zügig hingeworfenes Thesenpapier für die Diskussion. Am Kopf des Blattes liest man: »Sehe meine Aufgabe nicht primär darin, dafür oder dagegen zu sprechen, sondern Situation [zu] analysieren, in der solche Fragestellung zustande kommt. Glaube aber nicht, daß Kontinuität so betont werden sollte, Differenz. Sehe ich 18.19. Jh. gekommen«. Und weiter: »Denkmäler für die Zukunft auf ein Geschichtsziel ausgerichtet. Interpretieren als ›Zeichen‹ → daß Geschichtsprozeß auf dem richtigen Weg«.4 An dieser Stelle nun ließ Kittsteiner seine These, dass politische Denkmale einen Erinnerungsbogen um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlagen, auch zeichnerisch um ein »Geschichtszeichen« kreisen (Abb. 3). Abbildung 3: Gezeichnetes Geschichtszeichen. Tagungsmitschrift, 1992.

Quelle: © Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, NL Kittsteiner.

Könnte man also mit Horst Bredekamp von der »denkenden Hand« 5 des Historikers sprechen (nicht der unsichtbaren Hand, die Kittsteiner als Thema6 bekannt4

UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 101 »Denkmäler, Ikonoklasm«/»Der Fall der Denkmäler. Tagung, Leipzig, 15.-17.5.1992«.

5

Horst Bredekamp, Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: Monika Lessl, Jürgen Mittelstraß (Hg.), Von der Wahrnehmung zur Erkenntnis – From Perception to Understanding, Berlin 2005, S. 109-132.

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lich bevorzugte)? Der Kunsthistoriker hatte diesen schon der Renaissance bekannten Gedanken der zeichnenden Verdichtung aus der Verkörperungsphilosophie verschärft: »Unabhängig von jeder künstlerischen Begabung verkörpert die Zeichnung als erste Spur des Körpers auf dem Papier das Denken in seiner höchstmöglichen Unmittelbarkeit«.7 Dieser Gedanke ergibt sich bei Bredekamp aus der Eigenaktivität der Bilder und Artefakte, die nur historisch zu erschließen sei. Aber wir müssen die Frage zurückstellen, solange nicht klar ist, wie Kittsteiner zum Bild kam. Auch der Beitrag zum Iconic turn selbst gibt nur wenige Anhaltspunkte. Er erweist sich, obschon gelegentlich als »Glanzstück in Kittsteiners Gesamtwerk« 8 bezeichnet, als Collage verschiedener Themen aus unterschiedlichen Zeitschichten der Werkbiographie des Historikers. Hier kehren Ideen zum Geschichtszeichen wieder, zu Angst und Re-Personifizierung, zu Gedächtnis und inneren Bildern, alles der Frage unterworfen nach dem »kritischen Umgang mit zu Geschichtszeichen geronnenen ›inneren Bildern‹«.9 Die zunächst starken theoretischen Bezüge auf die Ikonologie Ernst Panofskys aus dem zweiten Abschnitt werden im Zuge des Entwurfs immer stärker von philosophischen Konzepten verdrängt. Nüchtern bis polemisch, mit einem feinen Sinn für Ironie zielte Kittsteiner aus extrem unterschiedlichen Perspektiven auf die Theoriefähigkeit geschichtsbildlichen Denkens. »Clio hilf!« rief er in seinem Beitrag die Muse der Geschichtsschreibung an,10 als er Beiträge zum Bild in der Geschichtswissenschaft durchsah. Als »wilder Leser« hatte er Ernst Gombrichs The Use of Images ebenso zur Hand genommen wie Gehlens Zeit-Bilder. An den Bestimmungen und Selbstverortungen der eigenen Zunft hingegen verzweifelte er. Seine Kopie von Bernd Roecks Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder11 versah er mit ironischen Randbemerkungen wie »na so was!« oder »Heidegger glatt vergessen«, auch wenn eine Fußnote sein Interesse weckte, die auf »Hardtwig, Der Historiker und die Bilder« verwies. Allgemein notierte er sich: »mit ›iconic turn‹ beschäftigt«. Dies solle nicht heißen, dass »Historiker Bilder als ›Quellen‹ be6

Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. u. a. 1980.

7

Bredekamp, Denkende Hände, S. 131.

8

Reinhard Blänkner, »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturgeschichte?« Perspektiven auf das geschichtstheoretische Werk von Heinz Dieter Kittsteiner, in: Brockmann, Wagner (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte, S. 14-23, hier: S.20.

9

Kittsteiner, »Iconic turn«, S. 178.

10 Ebd., S. 155. 11 Bernd Roeck, Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: Geschichte und Gesellschaft (29, H2: »Der Krieger«), 2003, S. 294-315.

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nutzen] banal« [sic], sondern dass »untersucht wird, wie Bilder in den Erkenntnisvorgang eingehen«.12 Wie aber stand es mit denen, die gewöhnlich nicht Clio, sondern deren Mutter – Mnemosyne – anriefen? Woran dachte Kittsteiner eigentlich, wenn er von »Ikonographie« oder »Ikonologie« oder gar von der »Pathosformel« sprach? Verfolgt man seine Lektüren und Lesespuren zur Bildgeschichte Hamburger Prägung, so fällt ein Großteil in die 1990er Jahre, als die wissenschaftsgeschichtlichen Bemühungen um die Warburg-Tradition in voller Blüte standen. In Kittsteiners Nachlassbibliothek finden sich etwa Charlotte Schoell-Glass’ Aby Warburg und der Antisemitismus, Ron Chernows Die Warburgs. Odyssee einer Familie oder die Edition der Briefwechsel Siegfried Kracauers und Erwin Panofskys.13 Daneben erwarb der Bücherfreund aber auch antiquarisch Gertrud Bings kleines Warburg-Porträt aus den 50er Jahren im Original14 und legte seinen Büchern zahlreiche Zeitungsartikel und Rezensionen zu Warburg und Panofsky bei. Älter und zentraler war Kittsteiners Bezug auf Erwin Panofsky: In den Dumont-Ausgaben von Sinn und Deutung in der bildenden Kunst sowie den Studien zur Ikonologie15 fand er sein begriffliches Verständnis. Er richtete sein Augenmerk dabei auf die eher theoretisch interessanten Passagen der Einleitungen und Schlussteile. Das Feingliedrige, Detaillierte und Mäandernde ikonologischer Arbeit, darauf lassen die Anstreichungen und Anmerkungen in den Bänden schließen, war nicht seine Sache. Aber war die Ikonologie nicht zumindest der Form nach, eben dem Wie einer historischen Methode, genau dies: eine radikal 12 UA/EUV, NL Kittsteiner, Wohnung, Beistellkammer, NLK 6-22 »Iconographic Turn«. 13 Universitätsbibliothek der Europa-Universität Viadrina (UB/EUV), Sondersammlung Bibliothek Kittsteiner: Charlotte Schoell-Glass, Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik, Frankfurt a. Main 1998; Ron Chernow, Die Warburgs. Odyssee einer Familie, Berlin 1994; Siegfried Kracauer, Erwin Panofsky. Briefwechsel 1941-1966. Mit einem Anhang: Siegfried Kracauer »under the spell of the living Warburg tradition«, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Volker Breidecker, Berlin 1996. 14 UB/EUV, Sondersammlung Bibliothek Kittsteiner: Gertrud Bing, Aby M. Warburg. Vortrag von Frau Gertrud Bing anläßlich der feierlichen Aufstellung von Aby M. Warburgs Büste in der Hamburger Kunsthalle am 31. Oktober 1958, mit einer vorausgehenden Ansprache von Senator Dr. Hans H. Biermann-Ratjen, Hamburg 1958. 15 UB/EUV, Sondersammlung Bibliothek Kittsteiner: Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978; ders., Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980.

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induktive Methode, die aus dem Detail argumentierte und sich zum Theoretischen erst nach dem langsamen Abschreiten und Abtasten der Überlieferung aufschwang? Kittsteiner orientierte sich an der grundlegenden Darstellung des dreistufigen Interpretationsmodells Panofskys, das dieser in Anlehnung an Karl Mannheims »Weltanschauungsinterpretation« entwickelt hatte. Von der vorikonographischen Beschreibung schreite der Kunsthistoriker, so Panofsky, zur ikonographischen Analyse und sodann zur ikonologischen Interpretation. »Zweimal ›graphisch‹ und einmal ›logisch‹«, brachte Kittsteiner dies auf eine Formel und ließ kaum Zweifel daran, dass Letzterem sein Augenmerk galt: »Die ›ikonologische Interpretation‹ schließlich ist am anspruchsvollsten; sie führt auf eine Deutung des ›symbolischen Gehalts‹ des Bildes im Sinne von Ernst Cassirer hinaus«. 16 Das war sprachlich stark an Panofsky angelehnt, auch wenn Kittsteiner sich kleine begriffliche Verschiebungen erlaubte, die die von Warburg geprägte Begrifflichkeit der Passage bei Panofsky neukantianisch verwandelte. Tatsächlich bezog sich auch der Ikonologe explizit auf Cassirer, um die missverständliche Rede von der »eigentlichen Bedeutung« zu präzisieren. »So ist«, liest man bei Panofsky, »unsere synthetische Intuition durch eine Einsicht in die Art und Weise zu kontrollieren, wie unter wechselnden historischen Bedingungen die allgemeinen und wesentlichen Tendenzen des menschlichen Geistes durch bestimmte Themen und Vorstellungen ausgedrückt wurden. Dies meint etwas, was man eine Geschichte kultureller Symptome – oder ›Symbol‹ im Sinn Ernst Cassirers – ganz allgemein nennen könnte«.17 »Kulturelle Symptome« sind freilich etwas Anderes als »symbolischer Gehalt«. Panofsky ließ mit dem »Symptom« eine Selbstbeschreibung Warburgs anklingen, an die Georges Didi-Huberman und Cornelia Zumbusch zu Recht als wesentliches Moment seines Denkens erinnert haben.18 Dem Künstler wie dem Historiker hatte Warburg nicht allein zugeschrieben, ein besonderes Sensorium für die Ladungen, Spannungen und Schwingungen der Symbole zu besitzen, sondern das Symptom zum Sprechen bringen zu können, Diagnostiker zu sein. Denn die Geschichte, und genau dies war ja mit der »Pathosformel« gemeint, stellte sich Warburg als Anhäufung eines menschlichen »Leidschatzes« dar, von dem noch die Gegenwart zehre und ihn

16 Kittsteiner, Iconic turn, S. 157. 17 Panofsky, Studien zur Ikonologie, S. 40 (Kursivierungen im Original). 18 Georges Didi-Huberman, L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002; Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004.

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vermehre. Die permanente Krise konnte symbolisch nicht stillgestellt werden, sie entäußerte sich immer wieder. Allerdings verstand Panofsky dies selbst nicht mehr als Geschäft seiner Kunstgeschichte. Seine Studien zur Renaissancekunst mündeten häufig in neuplatonischen Deutungen, die den eigentlichen Sinn der Kunstwerke erhellen sollten. Als »Manie« haben spätere Kritiker diesen von Ernst Cassirer inspirierten Zug im Denken Erwin Panofskys, Edgar Winds und auch Ernst Gombrichs wahrgenommen, als Besänftigung einer Methode, die um ihre ursprüngliche Vitalität gebracht worden sei.19 Kunstwerke erschienen nun als ungebrochene Abbildungen philosophischer und theologischer Konzepte, und von der energetischen Potenz, die Warburg den Bildern zutraute, war nicht mehr die Rede. Was die Bildgeschichte später als Abweg ihrer eigenen Tradition betrachtete, schien Kittsteiner gerade reizvoll zu sein. Denn der Historiker entdeckte in der Behauptung einer »eigentlichen Bedeutung« eine Entsprechung zu einer Theorie der Geschichtsbilder, die ohnehin quer zur Bildgeschichte stand. Womöglich aber hatte der taktische Leser Kittsteiner allein aus Sympathie Panofsky den Vorzug vor anderen Autoren gegeben. Vielleicht hätte er ebenso gut jene Stelle aus Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen verwenden können, die er sich in den Vorarbeiten zum Iconic turn-Artikel markierte: »Wie alle Sehgeschichte (Vorstellungsgeschichte) über die bloße Kunst hinausführen muß, so ist es selbstverständlich, daß auch solche nationalen Verschiedenheiten des ›Auges‹ mehr sind als nur eine Angelegenheit des Geschmacks: bedingend und bedingt enthalten sie die Grundlagen des ganzen Weltbildes eines Volkes«. 20 Kittsteiners persönliche »Manie« jedenfalls lautete nicht »Neuplatonismus«, sondern »Allegorie«. Und hier findet sich auch sein eigentümlicher Weg zu den Bildern. Irgendwann an der Jahrzehntwende von den 1970er zu den 1980er Jahren, nach Abschluss seiner Promotionsschrift, muss er auf das Thema der »Allegorie« gestoßen sein. Seit dieser Zeit entwarf er Thesenpapiere, Hauptseminare, Vorträge, Artikel, die das Thema »Allegorie und Geschichte« betrafen. In immer neuen Varianten und Permutationen verschob er Titel und Schwerpunkte, verstärkte einzelne Züge, nahm neue Lektüren auf und verdrängte alte. Das bildliche Zent-

19 Horst Bredekamp, Götterdämmerung des Neuplatonismus, in: Andreas Beyer (Hg.), Die Lesbarkeit der Kunst. Zur Geistes-Gegenwart der Ikonologie, Berlin 1992, S. 3948; vgl. Willibald Sauerländer, »Barbari ad portas«. Panofsky in den fünfziger Jahren, in: Bruno Reudenbach (Hg.), Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions. Hamburg 1992, Berlin 1994, S. 123-138. 20 UA/EUV, NL Kittsteiner, Wohnung, Beistellkammer, NLK 6-22 »Iconographic Turn«/Kopie aus: Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe.

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rum, das er umkreiste, blieb stets das gleiche: Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk (Abb. 4). Abbildung 4: Kittsteiners bildliches Zentrum. Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk, 1830.

Quelle: Eugène Delacroix & Paul Delaroche. Geschichte als Sensation, Ausstellungs-Kat., Leipzig 2015.

Einen ersten Versuch unternahm Kittsteiner mit einem Hauptseminar Allegorie und Geschichte im Wintersemester 1981/82.21 Die Dissertation lag erst seit Kurzem zurück und man sieht, wie sich der Historiker aus der Geschichtsphilosophie herausarbeiten musste, um schließlich in sie zurückzukehren. Von Marx’ Problem der Bewusstwerdung aus versuchte er das Thema anzugehen, er diskutierte »Bewusstsein aus Organisation«, die Unterscheidung von Alltagskampf und »Kampf für das Endziel«, er bestimmte die Allegorie als »Geist, der von außen in die Arbeiterklasse hereingetragen werden muß«22 ebenso wie Typen geschichtsphilosophischen Denkens im 19. Jahrhundert. Erst in den letzten Sitzungen steuerte der junge Dozent auf das bildliche Thema seiner Überlegungen

21 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 360 »Allegorie und Geschichte«/»HS Kittsteiner, Allegorie und Geschichte WS 1981/82 28105«. 22 Ebd.

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zu: »Revolutionäre Ikonographie Typus Delacroix«. Der Aufbau des Seminarplans wirkt zunächst befremdlich, wenn man den Zielpunkt vor Augen hat. Aber das allegorische Bild trat in Kittsteiners Deutung nicht als bewegliche Form auf, sondern als äußerste Verdichtung von Weltanschauung, Geschichts- und Zeitbegriff sowie als angstabwehrende Personalisierung, die er – noch – allein mit Freud zu fassen suchte. Gleichwohl, wer glaubt, dass die Theoriesättigung des Seminars erst aus der Distanz von über drei Jahrzehnten verstörend wirkt, sieht sich getäuscht. Am Ende des Semesters notierte er resümierend: »gescheitert; schlechte Zeit, zu wenig Teilnehmer, vielleicht Arbeitsaufwand nicht richtig eingeschätzt; vielleicht auch am Thema«. Aber das war kein Aufgeben, denn die nächste Zeile lautet: »mich zumindest interessiert es; mit gewisser Sturheit noch einmal angekündigt«.23 Tatsächlich fand kurz darauf das folgende Hauptseminar unter dem Titel Allegorie und Geschichte II. Zur Bilderwelt der II. Internationale statt.24 Die Themen und Lektüren waren zum Teil aus dem ersten Seminar übernommen, aber die Struktur war deutlich verschlankt und systematisiert, sie nahm Form an. Vier Sitzungen waren der Geschichtsphilosophie vorbehalten (Engels, Marx, Kant und Benjamin), drei der Bildgeschichte der Arbeiterbewegung und drei der Fortschrittsallegorie (Delacroix, Rad und Schiene, Erlöser und Erlöste, der »Riese Proletariat«). Über zwanzig Jahre hat Kittsteiner diesen Themenkomplex immer wieder umkreist. Mal wandte er sich stärker den Begriffen von Emblem, Allegorie und Hieroglyphe zu, mal diskutierte er das Verhältnis der Frage zu Benjamins Trauerspiel-Buch, mal gab er dem Ganzen eine Tönung, die an seinen Lehrer Koselleck erinnerte, wenn er dessen »Sattelzeit« bild- und allegoriegeschichtlich zwischen der niederländischen Neubebilderung von Cesare Ripas Iconologia Mitte des 18. Jahrhunderts und den entstehenden Nationalallegorien neu aufzäumte. Was aber war das Faszinosum, das ihn kommandierte, wieder und wieder seine Fragmente zu überarbeiten? Äußerst verdichtet ließen sich an der bildlichen Allegorie der »Geschichte selbst« alle Themen von Kittsteiners Werk wie in einem Prisma bündeln und zerstreuen. In einer Vortragsfassung von Über die allegorische Struktur von Geschichte und Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert formulierte der Historiker: »Das eigentlich Neue an der Allegoriebildung des 19. Jahrhunderts ist die personifizierte Darstellung der ›Geschichte selbst‹. Diese Darstellung wird erst möglich mit einer Strukturveränderung der 23 Ebd. 24 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 360 »Allegorie und Geschichte«/»HS Kittsteiner, Allegorie und Geschichte II. Zur Bilderwelt der II. Internationale«.

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Geschichte: ein blindes Zentrum, das von menschlichem Handeln nicht unmittelbar besetzt werden kann, und als dessen Kern, wie Marx gegen Hegel festhält, sich nicht ein ›Weltgeist‹, sondern der ›Weltmarkt‹ (3,45) herauskristallisiert – dieses blinde Zentrum wird in moralischer Absicht teleologisch überlagert. Als vermeintlich gewußter Endzweck bildet es [nun] seinerseits ›Geschichtszeichen‹ aus, die vom unmittelbaren Geschehen hergenommen sind, die aber nun moralisch erhöht, ›anders gelesen‹ werden. Insofern spielt hier die traditionelle Unterscheidung zwischen Schriftallegorie und Bildallegorie keine große Rolle. Allegorese geht es um die (zumeist apologetische) Anpassung eines vorgegebenen Textes an eine neue Bedeutung; die Bildallegorie vergegenständlicht einen unsinnlichen Begriff. Dieser Begriff ist aber nicht mehr aus allgemeinen Zuständen und Eigenschaften der menschlichen und natürlichen Welt genommen: ›Religion, Liebe, Gerechtigkeit, Zwietracht, Ruhm, Krieg, Frieden, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Tod, Fama‹ (Hegel Ästhetik, I, 368), sondern die Allegorisierung der Geschichte setzt schon ihre geschichtsphilosophische Lesart voraus, ihre Bebilderung ist theoretisch angeleitet«.25 Aus der Warte der Bildgeschichte ergibt sich nun freilich ein Problem: So schön sich die »Allegorisierung der Geschichte« mit Kittsteiners Lesart der Geschichtsphilosophie fügt, setzen sich die Geschichtsbilder in seiner Deutung aus der Bildgeschichte ab. Indem die »Be-bilderung« geschichtsphilosophische Lesarten voraussetzt und »theoretisch angeleitet« ist, hat sich der Historiker ein Gefängnis aus Philosophemen gebaut, das jeden visuellen Sinnüberschuss, jede Störung, jede Verkörperung im Bild stranguliert. Letztlich erschöpft sich die Bildtheorie des 19. Jahrhunderts im Sinne Kittsteiners in einer Passage aus Marx’ Kommentar zur Hegelschen Rechtsphilosophie, die der Kulturhistoriker stets zur Hand hatte: »Da es eigentlich nur um eine Allegorie, nur darum zu tun ist, irgendeiner empirischen Existenz die Bedeutung der verwirklichten Idee beizulegen, so versteht es sich, daß diese Gefäße ihre Bestimmung erfüllt haben, sobald sie zu einer bestimmten Inkorporation eines Lebensmoments der Idee geworden sind«. Unterschied Kittsteiner in einer seiner frühesten Fassungen von Form und Funktion der sozialistischen Allegorie zwischen 1890 und 1933 im Anschluss an Werner Hofmann26 und Maurice Agulhon27 noch in einer ikono25 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 221b »Emblematik«/»Über die allegorische Struktur von Geschichte und Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert«, S. 11. 26 Werner Hofmann, Sur la »Liberté« de Delacroix, in: Gazette des Beaux-Arts (6), 1975, S. 61-70. 27 Maurice Agulhon, Marianne au Combat. L’imagerie et la Symbolique Républicaines de 1789 à 1880, Paris 1979.

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graphisch angeleiteten Passage zwischen konservativen und revolutionären Varianten von Freiheits- und Fortschrittspersonifikationen (»statisch, reif [Ceres], bedeckter Busen, gebundenes Haar, keine phrygische Mütze – gegen: bewegt [immer marschierend] flatterndes Haar, freier Busen, jugendlich, bonnet phrygien« liest man dort28), verknappte und destillierte er seine bildgeschichtlichen Bezüge schließlich so stark, dass nur noch Typen übrig blieben: Historische, technische und naturwissenschaftliche Fortschrittsallegorien, die dann in angstbewältigenden Figuren wie der »Germania«, der »Marianne« oder auch dem »Riesen Proletariat« zusammenschossen, »allegorische Kämpfe um die Sinnstiftung der Geschichte« austrugen29 und schließlich durch die Freund- und Feindbilder Arbeiter, Soldat, Kapitalist und Jude der »heroischen Moderne« abgelöst wurden. Zwar sah Kittsteiner durchaus, dass es etwa »unzählige Abkömmling[e] und Varianten« von Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk gab,30 aber er zielte auf das »innere Schema« und ein Grundmodell, das »noch im Sinne der klassischen Geschichtsphilosophie gedacht war«. Ganz anders war etwa William Heckscher, der Schüler Panofskys, in seinem Bildzettelkasten verfahren.31 Er hatte Delacroix’ Freiheit gleich zweimal abgelegt, einmal unter dem Schlagwort »breast«, das Darstellungen der Maria lactans bis zu pornographischen Bildern enthielt, einmal unter »revolution«, wo sich Delacroix’ Gemälde Darstellungen der vielbrüstigen Diana von Ephesos (Abb. 5) gegenübersah, die während der Revolution als »Monument der Natur« im Straßburger Münster aufgestellt worden war, ebenso wie Pressefotografien aus dem Pariser Mai 1968, die fahnenschwenkende junge Frauen zeigten (Abb. 6).32 Dahinter versteckte sich wohl nicht allein die Betonung der Wiederkehr bekannter ikonographischer Formen in der Pressefotografie, sondern auch ein an

28 UA/EUV, NL Kittsteiner, Wohnung, Großes Wandregal, 80 »1. Mai«/»Form und Funktion der allegorischen Darstellungen in den Festzeitungen der deutschen Arbeiterbewegung, 1890-1933«/»2. Allegorie und Geschichte im 19. Jahrhundert«. 29 Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie, S. 155. 30 UA/EUV, NL Kittsteiner, Wohnung, Beistellkammer, NLK 6-22 »Iconographic Turn«/»Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes«. 31 Charlotte Schoell-Glass, Elizabeth Sears, Verzetteln als Methode. Der humanistische Ikonologe William S. Heckscher (1904-1999), Berlin 2008; Jost Philipp Klenner, Schlagschatten, Betonbrücken und Fingerkreise. William Heckschers Bilderkasten, in: Zettelkästen. Maschinen der Phantasie (Ausstellungskatalog), Marbach am Neckar 2013, S. 40-48 u. S. 369. 32 Vgl. Jörg Probst, Form und Kartoffel. Aus dem Zettelkasten von William S. Heckscher, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (II/2), 2008, S. 62-79.

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Warburg orientierter Versuch, körperliche Symbolisierungen des Aufstands zu erfassen. Abbildung 5: Die vielbrüstige Diana von Ephesos. Bildkarte aus William Heckschers Zettelkasten. Abbildung 6: Moderne Revolutionsallegorie. Pressefotografie aus William Heckschers Zettelkasten.

Quelle: © Heckscher-Archiv im Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg.

Das bildgeschichtliche Glaubensbekenntnis, dass jedes Bild als Reaktion auf Vorbilder zu verstehen sei, musste Kittsteiner hingegen auf Abstand bringen. Er historisierte es konsequent. Seine Lektüren von Panofsky und Saxl zu Chronos, Wahrheits- und Zeitmotivik gehörten nurmehr in die Vorgeschichte der evolutiven Geschichtsbilder. Kittsteiners Interesse lag zunächst im Auseinandertreten von alter und neuer Zeit, das er als Bildmotiv auf einem Silvesterblatt der Arbeiterbewegung ausgemacht hatte: »›Chronos‹ [führt] die ›Freiheit‹ durch ein niedriges Dornengestrüpp. [...] Chronos [...] tritt die Dornen nieder, die den Schritt der ›Freiheit‹ noch hemmen. Chronos ist der eigentliche Fortschrittsmann, er – nicht die Freiheit – tut den großen Schritt des Fortschritts. Die Freiheit ist in der Tradition der ›Mariannen‹ abgebildet mit phrygischer Mütze, antikisierender

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Bekleidung und entblößter Brust. Ihr Blick ist auf das Stundenglas geheftet, ebenso auch der Blick des Chronos. Beide Figuren treffen sich in der Betrachtung der Zeit«.33 Kittsteiner, der Erwin Panofskys Band Studien zur Ikonologie eingehend durchgearbeitet hatte, verfolgte und rekonstruierte nun zwar aus dem Kapitel zu Vater Chronos34 und Fritz Saxls Beitrag Veritas Filia Temporis35 die bildgeschichtlichen Wandlungen und »Pseudomorphosen« als Traditionslinie, die in das Silvesterblatt eingegangen waren, aber er schickte gleich zu Beginn vorweg: »Zu den ›Pseudomorphosen‹, die etwa Panofsky an der Allegorie des Chronos in der Übernahme der Antike durch die Renaissance dargestellt hat, kommt eine neue Rezeptionsschicht hinzu. Formal betrifft sie das ›Bildgedächtnis des Historismus‹ [...], inhaltlich aber den Geschichtsbegriff des 19. Jahrhunderts und das geschichtsphilosophische Denken der Arbeiterbewegung. Mit dieser inhaltlichen Verschiebung verändert sich aber auch der theoretische Status der Allegorie«.36 Darin ist angelegt, von Form und Geschichte der Motivik weitgehend absehen zu können, da nur noch die Funktion im Hinblick auf die Geschichte eine Rolle spielt. Die Struktur der Geschichte ermöglicht die Allegorie und überformt sie zugleich mit Sinngebungsfiguren. Es ist das alte Thema Kittsteiners, die Verwandlung von »Zwang zu Sinn« und »Geschehen in Tat«. 37 Aus dieser Perspektive verliert die Bildgeschichte ihre Funktion, da die Beharrungskräfte ikonographischer Formeln, Anverwandlungen und Inversionen, Tausch und Zirkulation zugunsten der geschichtlichen Kräfte und der von ihr ausgelösten psychischen Reaktionen zurücktreten. Kittsteiner glaubte, nicht mehr in die Welt der Emblematik, der Symbolik, der Form- und Typengeschichte abtauchen 33 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 221a »Emblematik«/»Allegorie und Geschichte. Untersuchungen zur Kunst und zum Geschichtsbild der II. Internationale (1890-1914). Eine Problemskizze«, S. 2 f. 34 UB/EUV, Sondersammlung Bibliothek Kittsteiner: Erwin Panofsky, Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980, Kapitel »Vater Chronos«, S. 109-152. 35 Fritz Saxl, Veritas Filia Temporis, in: Raymond Klibansky, H. J. Paton (Hg.), Philosophy and History. Essays Presented to Ernst Cassirer, Oxford 1936, S. 197-222. 36 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 221a »Emblematik«/»Allegorie und Geschichte. Untersuchungen zur Kunst und zum Geschichtsbild der II. Internationale (1890-1914). Eine Problemskizze«, S. 3 f. 37 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 360 »Allegorie und Geschichte«/»HS Kittsteiner, Allegorie und Geschichte WS 1981/82 28105«; vgl.: Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner: Zwang wird Sinn. Kittsteiners Benjaminlektüren im Kontext, in: Christine Blättler, Christian Voller (Hg.), Walter Benjamin. Politisches Denken, Baden-Baden 2017, S. 233-258.

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zu müssen. Für sein Thema der Geschichtsallegorien und der Freund-/ Feindbilder genügte es, selbst emblematische Bilder für die Stellung der Moderne zu Geschichte und Zeit ausfindig zu machen. Waren sie einmal ausgemacht, trat die Bildgeschichte hinter den Geschichtsbildern und Geschichtszeichen zurück. Man kann diese Historisierung bildgeschichtlicher Fragmente auch an einer weiteren Aneignung und Abschneidung von Ideen Warburgs im Werk Kittsteiners verfolgen. Der Begriff der »Pathosformel« hatte es ihm zweifellos angetan. Mehrfach verwies er auf ihn, zuletzt, wenn ich richtig sehe, in seinem Beitrag zum Iconic turn, wo er ihn recht lose für diejenigen Bilder verwandte, die sich »in unserem Kopf so festsetzen, dass sie zu einem Teil unserer eigenen Bildwelt geworden sind«.38 Eigenartig ungeklärt bleibt dabei jedoch die Verbindung dieses Verständnisses mit der Passage aus Fritz Saxls Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst, die Kittsteiner in der begleitenden Anmerkung zitierte. Während Kittsteiner mit der Pathosformel »zu ›Geschichtszeichen‹ geronnene ›innere Bilder‹« meinte, ist Warburgs und Saxls Konzeption grundlegender. Sie sprachen von »Superlativen der Gebärdensprache«, bildlichen Verkörperungen seelischer Erregung, die anstachelnde Energien zugleich aktivieren wie neutralisieren, erinnern und entäußern.39 Entscheidend erscheint mir hingegen der Kontext, in dem Kittsteiner auf den Begriff stieß. Er gehört in den Bereich seiner Arbeiten zu Angst, Furcht und Re-Personalisierung des Feindes.40 Eine Stelle aus Konrad Hofmanns Angst und Methode nach Warburg aus den Akten des WarburgSymposions41 erweckte Kittsteiners sofortiges Interesse: »Was der Religionsforscher Usener als Altphilologe an die Rolle des Götternamens knüpft, Angstbewältigung, das verknüpft Warburg mit dem Bild«, lautet es dort.42 Kittsteiner kommentierte sogleich am Seitenende: »soz. Pathosformel: Angstbewältigung

38 Kittsteiner, Iconic turn, S. 161. 39 Vgl. Martin Warnke, Vier Stichworte: Ikonologie – Pathosformel – Polarität und Ausgleich – Schlagbilder und Bilderfahrzeuge, in: Werner Hofmann, Georg Syamken, Martin Warnke (Hg.), Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt 1980, S. 53-83. 40 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes, in: Sabine Eickenrodt, Stephan Porombka, Susanne Scharnowski (Hg.), Übersetzen Übertragen Überreden, Würzburg 1999, S. 145-162. 41 Konrad Hoffmann, Angst und Methode nach Warburg. Erinnerung als Veränderung, in: Horst Bredekamp, Michael Diers, Charlotte Schoell-Glass (Hg.), Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions, Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 261-267. 42 Ebd., S.264 f.

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vor der Geschichte«.43 So, wie er die ikonographischen Arbeiten Panofskys und Saxls in die Vorgeschichte der Moderne verbannte, so verschob er Warburgs psychohistorisch und anthropologisch grundierten Begriff der Pathosformel in den Ausgang der »evolutiven« in die »heroische Moderne«. Denn die Angst, von der Kittsteiner sprach, war nicht die in »Superlativen der Gebärdensprache« gebannte Urangst Warburgs, sondern die Angst, die durch die nicht-verfügbare Geschichte ausgelöst wurde. In einer paradoxen Wendung freilich bescherte ausgerechnet die Abgrenzung von der Bildgeschichte Kittsteiner immer sensiblere Augen für die verbliebenen Bildzeugnisse. Vertraute er zunächst noch den Beschreibungen Heinrich Heines oder Autoren wie Werner Hofmann, entdeckte er später immer neue Deutungsmöglichkeiten. Sah er zu Beginn in Delacroix’ Gemälde nur die Geschichte selbst zwischen »Zügen des Pariser Pöbels« und einer durchscheinenden »Heiligkeit der Zwecke« changieren,44 nahm er nun einzelne Figuren und ihre Bewaffnung (»Arbeiter [mit Säbel] Bürger [mit Gewehr] stürmender Junge [mit Pistolen] zweiter Junge mit Messer; Verwundeter – ›die Freiheit‹. Vor der Barrikade: Zwei Soldaten [ein Schuh geraubt], völlig ausgeplünderter Toter« 45) oder ihre psychische Dynamik in den Blick (»Faszination des Schreckens, Angst vor der Menge = dargestellt im Schreck des Knaben mit Messer der – als potentieller Plünderer ›Ratte‹ – vor seiner eigenen Tat zurückschreckt [die schon als geschehen dargestellt]«46). Kittsteiner versuchte auch das Bewegungsmoment der Darstellung zu präzisieren (»Wand als Deckung gegen Barrikade, schon nicht mehr Verteidigung, sondern Sturm über die Barrikade weg« 47) oder die Perspektive zu klären (»ein weiteres kompositorisches Moment verdankt Delacroix dem skeptischen Blick. Er steht – obwohl er sich selbst porträtiert hat – sozusagen auf der falschen Seite der Barrikade. Der historische Prozeß, ange-

43 UA/EUV, NL Kittsteiner, Wohnung, Beistellkammer, NLK 6-22 »Iconographic Turn«. 44 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 221a »Emblematik«/»Allegorie und Geschichte. Untersuchungen zur Kunst und zum Geschichtsbild der II. Internationale (1890-1914). Eine Problemskizze«, S. 6-9. 45 UA/EUV, NL Kittsteiner, Hängeregistratur, UK 221b »Emblematik«/»Notizen zu ›Delacroix, Die Freiheit führt das Volk‹ ›La liberté guidant le peuple‹«. 46 Ebd. 47 Ebd.

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führt von der ›Freiheit‹, wälzt sich auf ihn zu«48). Die Schule des Sehens, die die Bildgeschichte zu sein sich zuschreibt, hatte er also erfolgreich durchlaufen. Erst für die Veröffentlichung seines Artikels Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts – knapp zehn Jahre nach den ersten Skizzen aus den unzähligen Varianten hervorgegangen49 – erlaubte sich Kittsteiner noch einmal einen bildgeschichtlichen Bezug, um die motivische Rekonstruktion von der geschichtsphilosophischen »Anleitung« zu trennen. »Die ›Freiheit‹ bei Delacroix zeigt darüber hinaus einen Zug aus dem ikonographischen Arsenal der ›Historia‹ in der Tradition des Cesare Ripa«, lautet es dort, »Die Flügel sind ihr abgefallen – aber sie ist beflügelt von der Trikolore. Statt einer Schreibfeder trägt sie die Waffe; sie berichtet nicht über Geschichte, sie macht sie. Aber ein Detail ist geblieben: der feste Stand, den ihr linker Fuß sowohl auf der Ölskizze als im ausgeführten Tableau findet, erinnert an jenen quadratischen Stein, auf dem auch die ›Historia‹ festen Halt findet: es ist der Stein der nicht korrumpierten Wahrheit. Entscheidend ist die neue Bewegtheit – die Wahrheit ist im Prozeß. Diese Allegorie schwebt nicht über dem Geschehen, sie steigt nicht aus dem Reich der Ideen herab. Sie ist vergeschichtlicht«.50 Noch einmal also Delacroix’ Freiheit, diesmal aber als Verwandlung der Historia aus Cesare Ripas Iconologia. Die kleine Handzeichnung Kittsteiners, die »Historia« zeigt (Abb. 7), hatte er einer niederländischen Ripa-Ausgabe von 1644 entnommen (Abb. 8).51 Er hatte allerdings nicht allein die Darstellung zeichnerisch kopiert, sondern sich auch die niederländische Bildbeschreibung notiert. Schließlich war der Band Wörterbuch, Grammatik und Bilderbuch in einem. In der Passage seines Artikels über die geschichtsphilosophische Allegorie vollzog Kittsteiner nun den Tausch und Verlust der Attribute anhand seiner Zeichnung und der Bildbeschreibung Ripas:

48 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 221a »Emblematik«/»Allegorie und Geschichte. Untersuchungen zur Kunst und zum Geschichtsbild der II. Internationale (1890-1914). Eine Problemskizze«, S. 8. 49 Heinz Dieter Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts, in: Willem van Reijen (Hg.), Allegorie und Melancholie, Frankfurt a.M. 1992, S. 147-171. 50 Ebd., S. 150. 51 Iconologia of uytbeeldingen des Verstands: van Cesare Ripa van Perugien, Ridder van SS. Mauritius en Lazzaro, Amsterdam 1644.

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Abbildung 7: »Historia« als Vorbild. Handzeichnung aus Kittsteiners Hängeregistratur. Abbildung 8: Fester Stand auf der Wahrheit. »Historia« in einer niederländischen Ripa-Ausgabe, 1644.

Quellen: © Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, NL Kittsteiner.; Iconologia of uytbeeldingen des Verstands: van Cesare Ripa van Perugien, Ridder van SS. Mauritius en Lazzaro, Amsterdam 1644, Public Domain.

»Een Vrouwe met vleugels, in’t wit gekleet, die te rugge siende een boeck in de rechter hand hout, daerse schijnt in te schrijven, stellende haer slincker voet op eenen vierkanten steen, en ter syden haer sal een Saturnus staen, op wiens schouderen ’t boeck leyt, daer zy in schrijft«. 52 Verblüfft stellt man fest, dass Kittsteiner eine besondere Beobachtung, die er in die eigene Zeichnung eintrug, nicht in seine Arbeit übernahm. Der Historia Ripas hatte er nachträglich Sehstrahlen eingetragen (Abb. 9), die ihre Blickrichtung im Gegensatz zu Delacroix’ Freiheit betonen.

52 Ebd.

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Abbildung 9: Sehstrahlen der »Historia«. Handzeichnung Kittsteiners, Detail.

Quelle: © Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, NL Kittsteiner.

Zwar schreitet auch Historia unermüdlich vorwärts, doch ist ihr Blick nach hinten, auf die jüngste Vergangenheit gerichtet. Anders die Freiheit: Als »Geschichte selbst« schreitet und schaut sie der Zukunft entgegen (Abb.10). »Denn Schreiten ist, wie Mauthner betont, immer Fortschreiten«, hatte sich Kittsteiner einmal aus Reinhart Kosellecks Fortschritt-Artikel aus den Geschichtlichen Grundbegriffen notiert.53 »Der Fort-Schritt ist hier wörtlich und bildlich genommen«, trug er nun zu Delacroix nach.54 Einen kurzen Augenblick lang mag man Heinz Dieter Kittsteiner tatsächlich als Ikonologen sehen, der sich im Bildvergleich den langen Wegen und den Details zuwendet, bevor man begreift, dass zwischen Ripa und Delacroix zweieinhalb Jahrhunderte liegen. Für den Historiker Kittsteiner vollzog sich der Wechsel nicht bildgeschichtlich, sondern als Strukturveränderung der Geschichte selbst.

53 UA/EUV, NL Kittsteiner, Universität, Hängeregistratur, UK 221a »Emblematik«/»Allegorie und Geschichte. Untersuchungen zur Kunst und zum Geschichtsbild der II. Internationale (1890-1914). Eine Problemskizze«, S. 9. 54 Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie, S. 149.

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Abbildung 10: Der Fort-Schritt. Delacroix-Abbildungen in Kittsteiners »Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts«.

Quelle: Heinz Dieter Kittsteiner: Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts, in: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie, Frankfurt a. M. 1992.

Von den Zeichen des Bösen zum Geschichtszeichen Historisch-semiotische Überlegungen im Anschluss an Kittsteiners Signaturen einer Historiographie der Moderne Wolfert von Rahden Ein geflickter Strumpf besser als ein zerrissener – nicht so das Selbstbewußtsein… G. W. F. Hegel1

DIE SICHTBARE HAND DES HISTORIKERS Jacob Taubes, der Doktorvater von Heinz Dieter Kittsteiner, berichtete Anfang der achtziger Jahre in einem Colloquium im Hermeneutischen Institut an der FU Berlin von folgender Begebenheit: Als der Doktorand Kittsteiner seine Einleitung zur geplanten Dissertation ihm [Taubes] vorgelegt hatte und später in einer Besprechung um eine Beurteilung dieser »Einleitung« bat, habe Taubes ihm beschieden: »Wieso Einleitung? Das ist die Dissertation!« (Laut Taubes hatte Kittsteiner über 200 Manuskriptseiten als sogenannte »Einleitung« geschrieben.)2 1

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Aphorismen aus Hegels Wastebook, in: ders., Werke, hg. v. Eva Moldenhauer & Karl Markus Michel, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1986, S. 539-567, hier: S. 557.

2

Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980 (umgearbeitete und erweiterte Fassung der Dissertation an der FU Berlin 1978: Karl Marx und der Ausgang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie). Diese anekdotische Begebenheit spielt auf die Tatsache an, mit welcher Gründlichkeit und Akribie Kittsteiner üblicherweise zu Werke ging. Das heißt vor allem auch, dass er den historischen

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PFLICHT UND KÜR Eigentlich war Kittsteiner kein großer Freund der Semiotik (jedenfalls äußerte er sich in diesem Sinne des Öfteren mir gegenüber) – ähnlich wie Karl Marx eigentlich kein großer Freund der Ökonomie war. 3 Aber Marx hielt es für notwendig, die wirtschaftlichen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft, wie er sie sah, zu analysieren, bevor man philosophische oder ideengeschichtliche Phänomene richtig verstünde und vor allem fundiert politische Konsequenzen zu ziehen in der Lage sei – zunächst wäre es eben unabdingbar, die »Basis« einer jeden Gesellschaft, deren Produktionsweise und Produktivkräfte, also deren Produktionsverhältnisse zu erkennen, bevor man sich angemessen, das heißt »wissenschaftlich«, dann dem »Überbau« widmen könnte. Ohne die Analogie überstrapazieren zu wollen, könnte man sagen, dass Kittsteiner zu einem bestimmten Zeitpunkt wohl eher widerwillig die Notwendigkeit sah, sich mit zeichentheoretischen Fragen zu beschäftigen, auch wenn sie freilich für ihn nicht

Quellen qualitativ und quantitativ den gebührenden Platz einzuräumen pflegte. Anders gesagt: Auch wenn Kittsteiners besonderes Forschungsinteresse Fragen der Geschichtsphilosophie und Ideengeschichte galt – so war er zum Beispiel auch ein Mitglied der Gründungsredaktion der Zeitschrift für Ideengeschichte –, betonte er doch nachdrücklich die Relevanz der ›empirischen‹ Belege und richtete sein Augenmerk gleichermaßen auf die historischen und philologischen Quellen. Jacob Taubes hingegen, ein brillanter ›Sprechdenker‹, bevorzugte Entwürfe in großen Linien (vor allem am religionsphilosophischen Leitfaden), und er schätzte die Rhetorik der pointierten Zuspitzung seiner Thesen. Weniger Wert jedoch legte er auf die Kärrnerarbeit an den bibliographischen und archivarischen »Fußnotenbelegen«. Beide Autoren einte aber – unter anderem – das gemeinsame Interesse an geschichtsphilosophischen Problemkonstellationen. 3

Vgl. Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels (v. 2. April 1851): »Ich bin so weit, daß ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin«; anschließend wolle er sich »auf eine andere Wissenschaft werfen« (Karl Marx und Friedrich Engels, Werke [MEW], Berlin 1956 ff., 43 Bde., Bd. 27 [1963]: Briefe Januar 1842 bis Dezember 1851, S. 228 f.). Bekanntlich erwies sich diese Einschätzung als trügerisch, mehr noch: als kapitaler Irrtum, denn die ökonomischen Studien hielten Marx weitere 32 Jahre bis an sein Lebensende gefangen – gleichwohl blieb Das Kapital unvollendet. Hier zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren – keiner von beiden konnte das geplante Hauptwerk zum Abschluss bringen: weder Marx seine Kritik der politischen Ökonomie noch Kittsteiner seine auf sechs Bände geplante Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne.

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jene bedeutende Rolle spielten, die Marx seinerzeit der Ökonomie für die Analyse einer Gesellschaftsformation eingeräumt hatte. Vergleichbar wäre jedoch mutmaßlich bei beiden die Unlust, eine als notwendig angenommene wissenschaftliche Pflichtaufgabe auf sich nehmen zu müssen, bevor man zur wissenschaftlichen Kür übergehen kann, sich also jenem Gebiet zu widmen, dem die eigene Neigung gilt. Oder um es – sanft überzeichnet – im Bilde eines bekannten Märchens zu sagen: Man war gezwungen, sich durch den nicht sonderlich mundenden Wall aus Hirsebrei zu kämpfen, bevor man ins Schlaraffenland gelangte, in dem dann zur Belohnung angeblich »Milch und Honig« flössen und einem »die gebratenen Täubchen in den Mund« flögen. Im Folgenden möchte ich an zwei Beispielen Kittsteiners mehr oder minder deutliche Anlehnungen an eine historiographische Semiotik rekonstruieren und weiterdenken: zunächst am Beispiel des »Geschichtszeichens« und dann in der Interpretation der »bösen Zeichen«, einer »Signatur des Bösen«, die an Kittsteiners Überlegungen zur »Abschaffung des Teufels« im Laufe der Aufklärung anknüpft und die sodann eine semantische Besetzung der »Zeichen des Bösen« im christologischen Diskurs zu »apokalyptischen Geschichtszeichen«, zu »eschatologischen Endzeichen« skizziert. 4 Kittsteiners Erkenntnisinteresse für die Semiotik wurde geweckt, nachdem ihm eine Textpassage bei Kant im Streit der Fakultäten aufgefallen war, in der von der Französischen Revolution als »Geschichtszeichen« die Rede ist. 5 Nach der genealogischen Entzifferung des Gewissens und der Deutung der Symptomatik des personifizierten Bösen führte Kittsteiners »semiotischer« Weg vom globalen Geschichtszeichen zu den interpungierenden Mikrozeichen, den Satzzeichen von »SANS, SOUCI.«, die er als verschlüsselte Kryptozeichen deutete und sowohl als ideengeschichtliche wie als individualpsychologische Symbole dechiffrierte.6 Die »Stufen der Moderne« schließlich versuchen die Geschichtszei4

H. D. Kittsteiner, Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, in: ders. (Hg.), Geschichtszeichen, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 81-117; ders, Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert. Ein kulturhistorisches Ereignis und seine Folgen, in: Alexander Schuller und Wolfert von Rahden (Hrsg), Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen, Berlin 1993 (Reprint 2018), S. 55-92.

5

Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: Kants Werke, hg. v. d. Preussischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Textausgabe), Berlin 1972 (1917), Bd. VII, S. 89.

6

H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M., Leipzig 1991 (Habilitationsschrift); ders., Das Komma von SANS, SOUCI. Ein Forschungsbericht mit Fußnoten, Heidelberg 2001. Vgl. eine Äußerung aus dem Nachlass des Autors: »Wenn ich überlege, was ich in den letzten Jahrzehnten auf den Gebieten der

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chen in einer diachronen Stufenfolge zu ordnen und die Diskontinuitäten an vier unterschiedlichen Phasen der »modernen« geschichtlichen Entwicklung festzumachen. Diesen letzten unvollendeten Entwurf, der eigentlich zum opus magnum des Autors werden sollte, werde ich hier allerdings nur am Rande streifen. 7

TELEOLOGIE ODER KAUSALITÄT? Die Signaturen einer Historiographie der Moderne sollen hier in doppeltem Sinne verstanden werden: zum einen in diachroner, zum andern in synchroner Perspektive – um es strukturalistisch-semiotisch zu sagen. Der synchrone Blickwinkel bezieht sich auf das jeweils zugrundegelegte semiotische System. Die diachrone Perspektive wirft die Frage auf nach dem Wandel der Zeichen(systeme), deren Veränderung in Form, Bedeutung und Verwendung. Und der erweiterte historiographische Blick gilt der gesellschaftlichen Entwicklung, deren Dynamik und deren »Triebkräften«. Für den Historiker stellt sich dabei die Frage, wie er sein Material, seine Quellen strukturieren soll. Die einfachste Lösung stellt eine Chronologie dar, die sich an den überlieferten tatsächlichen oder

Geschichte und der Philosophie eigentlich getrieben habe, dann waren es […] zwei Gegenstandsbereiche: das ganz Kleine und das ganz Große. Ich habe mich befasst mit dem innersten Kern des Ich [dem Gewissen], und den Philosophien über den Verlauf der Geschichte im Ganzen. Vielleicht ist es an der Zeit, beides zusammenzubringen« (»Das Gewissen und die Geschichte. Vom 17. bis 21. Jahrhundert«, Manuskript, Nachlass Kittsteiner, Universitätsarchiv der Europa-Universität Viadrina, Sign.: 129; zitiert nach: Jannis Wagner, Gewissen und Geschichte. Zur thematischen Beharrlichkeit im Werk Heinz Dieter Kittsteiners, in: Sinn/Bild der Geschichte? Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner [Universitätsschriften, Bd. 35], hg. v. Agnieszka Brockmann und Jannis Wagner, Frankfurt (Oder) 2017, S. 47). Man könnte die Spannweite der Perspektive dieses Notats noch erweitern, wenn man das »Komma«-Buch hinzunimmt: Dann hat Kittsteiner neben der MakroGeschichte, verdichtet in den Geschichtszeichen, und der Meso-Geschichte, verdichtet in den Signaturen des Gewissens, überdies eine noch kleinere Geschichte im Blick gehabt: eine semiotische Mikro-Geschichte, symbolisch verdichtet in den Satzzeichen von »SANS, SOUCI.«. 7

H. D. Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, in: Johannes Rohbeck und Herta NaglDocekal (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 91-117; ders., Die Stabilisierungsmoderne: Deutschland und Europa 1618-1715, Einleitung v. Jürgen Kaube, München 2010.

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vermeintlichen Lebens- und/oder Regierungsdaten von historischen oder als historisch angenommenen Personen bzw. an Herrschaftshäusern orientiert, oder einfach schematisch nach Jahrhunderten einteilt, allenfalls variiert durch quantitative Verkürzungen oder Erweiterungen, wie »das lange 18. Jahrhundert«. Die traditionelle vormoderne biblische Weltgeschichtsschreibung orientierte sich an der Genealogie, der Generationenfolge der Stammväter in der Heiligen Schrift (und Theologen pflegten aus diesen Angaben mitunter das Alter der Welt zu errechnen).8 Im späten Rom wurde dann die Zeitrechnung in Jahrhunderten, in »saecula«, eingeführt.9 Im frühen Christentum wurde fortan einerseits das vermeintliche Datum von Christi Geburt als neuer Fixpunkt der Zeitenrechnung eingeführt, andererseits auch die Chronologie der Päpste als zeitliches Ordnungsschema verwendet. Beliebt und praktiziert war die personalisierte Geschichte in Gestalten: Die Abfolge von Regenten und Herrscherhäusern bildete hier die Grundlage einer genealogischen Deskription. Für die temporale Struktur der Geschichte als »res gestae« (also der Handlungsabläufe) wie auch als »historia« (also der Geschichten von der Geschichte, das heißt, der Narrative als Beschreibung der »res gestae«) wurden seit der Antike zumeist kreislaufförmige Modelle für den Geschichtsablauf unterstellt. Die Abfolge von Herrschaftsformen wurde nach den Mustern gedacht, wie sie von Aristoteles, Platon, Cicero und Polybios entworfen worden waren. Seit Durchsetzung des Christentums amalgamisierten sich diese Modelle auch mit eschatologischen Erwartungen. Die zyklische und später dann teleologisch-eschatologisch grundierte Zeitauffassung wandelte sich erst mit einer ideengeschichtlichen und geschichtsphilosophischen Signatur in der Aufklärung, die den Gedanken des »Fortschritts« radikalisierte und positiv besetzte. Verzeitlichung und Beschleunigung sind nach Reinhart Koselleck jene Phänomene, welche die Semantik der Kollektivsingulare wie die Gesellschaft, der Fortschritt, die Geschichte, die Revolution kennzeichnen10 und die Topographie des Räumlichen verzeitlichen (und diesem semantischen Wan-

8

Vgl. etwa Johann Albrecht Bengel, laut dessen Chronologie im Geiste einer aparten Mischung »aus Vagheit und Übergenauigkeit« (Philippe Ariès) die Erde am »Sonntag, dem 10. Oktober 3943 v. Chr.« erschaffen worden sei (J. A. Bengel, Ordo temporum a principio per periodos oeconomiae divinae historicas atque propheticas ad finem usque ita deductus ut tota series et quarumvis partium analogia sempiternae virtutis ac sapientiae cultoribus ex scriptura V. et N. T. tanquam uno revera documento proponatur [1741], Stuttgart 1770).

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Vgl. Alexander Demandt, Zeit: Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015.

10 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979.

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del der Temporalisierung vom Wunschraum zur Wunschzeit unterliegt auch der Utopie-Begriff)11. Die so verstandene Fortschrittsidee orientierte sich an der »perfectibilité«, also der »Vervollkommnung des Menschengeschlechts«, wie sie vor allem von Vertretern der Encyclopédie, prägnant von Turgot und Condorcet, propagiert wurde und in der Französischen Revolution ihren politischen Höhepunkt erreichte. Die dieser Geschichtsphilosophie inhärente Teleologie zeigt sich zum einen auf der subjektiven Seite (»Erziehung des Menschengeschlechts« etwa bei Herder und Lessing), zum andern auf der objektiven: Wo früher »göttliche Vorsehung« angenommen wurde, trat sie jetzt gewissermaßen säkularisiert als »unsichtbare Hand« (Adam Smith), »Naturabsicht« (Kant) oder bloß als »Natur« (Herder) auf.12 Dieser Modus schien eine gewisse Kontinuität im Blick auf die »historia« zu garantieren. Sie hatte aber keine befriedigende Antwort auf die Frage, wie bestimmte Brüche, also umwälzende Veränderungen gedeutet werden sollten. Die Komplexität der neuartigen Erfahrungen im 18. Jahrhundert warf jedoch auch neue Fragen auf: Wie integriere ich Diskontinuitäten der Entwicklung wie die Französische Revolution in eine Geschichtsschreibung? Sind weitere »Brüche« zu erwarten? Hat die Geschichte gar ein offenes Ende? Gibt es nicht nur Signaturen einer Oberflächenstruktur, sondern auch einer Tiefenstruktur geschichtlicher Prozesse? So hatte die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit viele Zeitgenossen am Ende des 18. Jahrhunderts in ihrem Zeitbewusstsein stark verunsichert, da sie in den »dunklen Abgrund der Zeit« (Buffon) zu blicken glaubten. Nicht nur die Angst vor dem »Unverfügbaren der Geschichte«, sondern auch jene vor dem Unverfügbaren der Naturgeschichte artikulierte sich, als durch die Anfänge geologischer Forschung das »undenkliche« Alter der Erde und die unvorstellbaren zeitlichen Dimensionen der Erdgeschichte erahnt wurden, die bei manch einem Zeitgenossen einen horror temporis auslösten.13 11 Zum Wandel des Utopie-Begriffs vgl. Alfred Doren, Wunschräume und Wunschzeiten, in: F[ritz]. Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg 1924-1925, Leipzig, Berlin 1927, S. 158-205 (Wiederabdruck in: Arnhelm Neusüss [Hg.], Utopie, Neuwied 1972, S. 123-177). Zur Genealogie des Revolutionsbegriffs vgl. W. v. Rahden, Revolution und Evolution, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte (E-Journal), hg. v. Ernst Müller, Heft 1 (2012), S.1-20 (https://www.zfl-berlin.org/tl_files/zfl/ downloads/publikationen/forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_1_2012_1_Rah). 12 Vgl. H. D. Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand (Anm. 2). 13 Aufs allerheftigste hatte bereits 1755 das katastrophale Erdbeben von Lissabon die Zeitgenossen erschüttert und intensiv beschäftigt sowie das Theodizee-Problem wieder ins Licht der Aufklärungsdebatte gerückt. Den neuen temporalen Erfahrungsraum

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Immanuel Kant sah die Französische Revolution als »Geschichtszeichen« und legte damit die Fährte zu einer Geschichtsdeutung, die sich einer Semiotik zum vertieften Verständnis der Historiographie bedienen könnte. Wenn Kant vom »Geschichtszeichen« am Beispiel der Französischen Revolution spricht, so differenziert er den Signifikanten in entsprechende Signifikate nach verschiedenen temporalen Bedeutungsebenen: signum rememorativum, demonstrativum, prognostikon. Er entfaltet hier die Semantik des Zeichens nach den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: als Erinnerungszeichen, als hinweisendes Zeichen und als in die Zukunft weisendes Zeichen. Für die Interpretation historischer Diskontinuitäten stellt sich für den Historiker grundsätzlich das Problem des »guten Einschnitts« (Louis Althusser). Nach welchen Kriterien bestimme ich eine historische Epoche, eine Periode, ein Zeitalter und wie grenze ich sie mit triftigen Gründen voneinander ab?14 erschloss die geowissenschaftliche Stratigraphie, welche die traditionelle Zeitvorstellung über das Alter der Erde im wahrsten Sinne des Wortes untergrub, da sie die unvorstellbare Dauer einer geologischen Tiefenzeit erahnen ließ. Diesen Schauder vor den »notes from the earth’s underground« verdeutlichte 1805 John Playfair, als er seine Eindrücke schilderte, die er auf seinen Exkursionen an die schottischbritannische Felsküste gewann: »An epocha still more remote presented itself, when even the most ancient of these rocks, instead of standing upright in vertical beds, lay in horizontal planes at the bottom of the sea, and was not yet disturbed by that immeasurable force which has burst asunder the solid pavement of the globe. Revolutions still more remote appeared in the distance of this extraordinary perspective. The mind seemed to grow giddy by looking so far into the abyss of time [...]« (John Playfair, Biographical Account of the late Dr. James Hutton, F. R. S. Edin[burgh]., in: Royal Society of Edinburgh. Transactions, vol. 5 [1805], S. 39-99, hier: S. 73). 14 Jacques Le Goff (Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, übers. v. Klaus Jöken, Darmstadt 2016; Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches?, Paris 2014) kritisiert zum Beispiel die herkömmlichen Epocheneinteilungen, bezweifelt insbesondere den von Historikern konstruierten Bruch zwischen Mittelalter und Renaissance. Zur Frage der Bestimmung der aktuellen Epoche vgl. die Diskussion um die Ausrufung des »Anthropozäns« als eines neues Zeitalters unter einem geologischen Blickwinkel. In historisch-ökonomischer Kittsteiner’scher Perspektive erscheint die Bezeichnung »Globalisierungsmoderne« als gegenwärtige Epochenstufe allerdings angemessener. Zur prinzipiellen Problematisierung des Anthropozäns als Epoche und – sofern man die Einführung dieses neuen Epochenabschnitts für plausibel hält – der Frage einer notwendigen noch fehlenden Binnenstrukturierung im Blick auf eine zeitliche Differenzierung vgl. Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz, L’Evénement Anthropocène: la Terre, l’histoire et nous, Paris 2013.

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Ältere Entwürfe versuchten geschichtliche Einschnitte noch expressis verbis unter dem eschatologischen Modell zu denken, wie etwa im 12. Jahrhundert Joachim von Fiore, dessen drei Zeitalter sich an der biblischen Heilsgeschichte orientieren und der in Anlehnung an die Trinitätslogik die Epochen unterteilt nach Altem Testament, Neuem Testament und Heiligem Geist. Und später (1744) legte zum Beispiel Giambattista Vico eine Typologie vor, die das Kreislaufmodell der Entwicklung von Gesellschaften wieder aufnahm, das narrativ ebenfalls drei verschiedene Zeitläufte des Aufstiegs und Falls einer Gesellschaft als allgemeines Prinzip unterstellt und dabei diese drei »Zeitalter« gleichsam semiotisch nach unterschiedlichen Tropen charakterisiert. 15 Am folgenreichsten war wohl Marx’ Versuch der Periodisierung von Geschichte, indem er die gesellschaftliche Tiefenstruktur in der jeweiligen Ökonomie einer »Gesellschaftsformation«16 ortete. Der Ausgangspunkt seiner Analyse war die aktuelle Gesellschaftsformation, deren ökonomische Struktur er zunächst synchron analysierte, um dem System der kapitalistischen Produktionsweise und ihren Produktionsverhältnissen auf die Spur zu kommen. In einem zweiten

15 Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach einer Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet v. Erich Auerbach, Berlin, New York 2000. Die drei Entwicklungsstufen (»göttliches«, »heroisches« und »menschliches Zeitalter«) grenzt Vico dabei semiotisch voneinander ab: Der gesellschaftliche Wandel zeige sich repräsentativ in der Veränderung bewusstseinsbildender und -bestimmender Sprachfiguren. Die vier rhetorischen Topoi Metapher, Metonymie, Synekdoché und Ironie (auch in dieser historischen Abfolge) interpretiert Vico als jeweils charakteristische Distinktionsmerkmale für die drei Zeitalter einer jeden Gesellschaft. Zur Vico-Rezeption vgl. Hayden White, der an Vicos Projekt anknüpft: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, übers. v. Brigitte Brinkmann-Siepmann & Thomas Siepmann, Stuttgart 1986 (Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978); zur Kritik dieser Position vgl. H. D. Kittsteiner, Dichtet Clio wirklich?, in: Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen: Wissenschaft und Kunst, hg. v. der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Heft 9 (Frühjahr 2002), S. 41-45. 16 Der Formationsbegriff, wie er auch von Marx für eine »Gesellschaftsformation« verwendet wird, entstammt ursprünglich den Anfängen der Geologie (Georg Christian Füchsel, Abraham Gottlob Werner). Zur historischen Semantik der Wechselwirkungen zwischen früher Geologie und Gesellschaftsentwürfen der Aufklärung vgl. genauer W. v. Rahden, Revolution und Evolution (Anm. 11).

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Schritt erfolgte dann diachron, also historisch, die Abgrenzung zu nichtkapitalistischen bzw. vor-kapitalistischen Produktionsweisen.17 Den meisten Konzepten von Universalgeschichten bis ins 18. Jahrhundert hinein war mehr oder minder gemeinsam, dass sie teleologisch grundiert waren, selbst wenn sie prima facie dem Betrachter als Entwurf zyklischer Zeitläufe erscheinen mochten. Dieses teils offene, teils verdeckte teleologische Denken hat Kittsteiner bereits in seiner Dissertation herausgearbeitet: »Naturabsicht« oder »invisible hand« als Leitfäden für eine Geschichtsinterpretation erweisen sich als final oder intentional zweckgerichtete Metaphern, die im Zeitalter der Aufklärung auf der Folie einer Fortschrittsidee entworfen sind, der eine explizite oder latente Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Auf die eschatologische Schwundstufe dieser Entwürfe hat wiederholt neben anderen wie Karl Löwith auch Jacob Taubes hingewiesen:18 Die Frage nach der Frage, auf die die Geschichtsphilosophie die Antwort ist, spannt einen theologischen Erwartungshorizont auf. Nach der Enttäuschung der Naherwartung – wann kehrt Christus wieder? – wird dieser Aufschub der verspäteten Rückkehr des Heilands zum christologischen Problem. Wird bei Johannes in der »Offenbarung« die Naherwartung bekräftigt (»Die Zeit ist nah«), so gibt es beim Evangelisten Lukas bereits Hinweise auf eine Dämpfung dieser Hoffnung und stattdessen die Einstimmung auf eine verzögerte Parusie. Wenn die Parusieverzögerung, also die Verspätung der Wiederkehr Christi, als Beginn der Geschichtsphilosophie identifiziert wird, dann deutet man sie am eschatologischen Leitfaden, an ihrem theologischen Ursprung und Ende. Sie steht dann gegen Geschichtsphilosopheme, die diese Kontinuität des theologischen Rahmens in Frage stellen und stattdessen mit dem »Bruch« ab der »Neuzeit« die Diskontinuität betonen, indem sie mit der Rede von der »Selbstbehauptung« des Menschen und der »Legitimität« der Neuzeit (Hans Blumenberg) den

17 Einen Hinweis für die Begründung dieser Strategie kann eine Marx’sche Analogie aus den Grundrissen geben: »Ein Schlüssel zur Anatomie des Affen ist in der Anatomie des Menschen« (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [1857/58], in: MEW [Anm. 3], Bd. 13, S. 636). Zu dieser Methode der rekursiven Strategie bzw. des Rekurrenzprinzips vgl. auch W. v. Rahden, Revolution und Evolution (Anm. 11), S. 19 f., sowie ders., Epistémologie und Wissenschaftskritik, in: ders. und Christoph Hubig (Hg.), Konsequenzen kritischer Wissenschaftstheorie, Berlin, New York 1978 (Reprint 2010), S. 162-186, hier insbes.: S. 174 f. 18 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949), Stuttgart 1953; Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947.

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theologischen Rahmen als zerbrochen sehen.19 Man kann noch Hegel und Marx in der theologisch-teleologischen Logik interpretieren oder aber – wie Kittsteiner es tendenziell sieht – den Bruch als Entfremdungserfahrung der Moderne betonen. Folgt man Kittsteiners Argumentation, dann ersetzt Marx mit seiner These des Weltmarktes Hegels Idee des Weltgeistes:20 Die Teleologie des Weltgeistes – der im Lauf der Geschichte zu sich selbst kommt – wird durch die Logik der Kausalität des Weltmarktes abgelöst. Der Unterschied liegt in der Interpretation des geschichtlichen Prozesses: Bei der teleologischen bzw. finalen Variante wird gleichsam vom Ende her »gezogen« (ex causa finali),21 bei der kausalen hingegen vom Anfang an »gestoßen« (ex causis efficientibus). Prima facie erscheint im kausalen Fall die Entwicklung offener und interventionszugänglicher als bei einer finalistischen Konzeption von Geschichte, die ihre latente Nähe zur eschatologischen Geschichtsauffassung der Theologie deutlicher markiert. Offener deshalb, insofern man nicht von einem einfachen mechanischen Kausaldeterminismus ausgeht, sondern von einem komplexeren Mechanismus, der allenfalls in statistischen Wahrscheinlichkeiten für große Gruppen von Individuen formuliert werden kann, wie in den Sozialwissenschaften, der Evolutionstheorie oder der Quantenphysik, und in dem auch der nicht vorhersehbare Zufall eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Interventionszugänglicher deshalb, weil im kausalen Modell der Mensch als ein subjektiver Faktor, als ein Co-Agent der Geschichte ebenfalls »mitstoßen«, also zumindest als ein bewusster Mitgestalter der Zukunft gesehen werden kann. Im finalistischen Drehbuch hingegen wird wie in einer der theologischen Prädestinationslehren dem Menschen eine festgelegte Rolle zugewiesen, die er aus eigenen Kräften nicht zu ändern vermag. Aus der Sicht des Individuums bzw. Gruppen von Individuen (etwa Völkern, Nationen, Klassen oder anderen kollektiven »Groß-Subjekten«) und deren Handlungsmöglichkeiten bietet das Kausalitätstheorem immerhin noch Raum für eine Idee der Selbstbestimmung, der relativen Autonomie, sei es auch geschrumpft zur performativen Schwundstufe.

19 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966. 20 Vgl. H. D. Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München 2007. 21 Eine Verbindung von biologisch-evolutionärer und heilsgeschichtlicher Teleologie erkennt man bei Teilhard de Chardin. Er hat in seinem teleologischen Finalitätstheorem Darwins Evolutionstheorie und christliche Eschatologie miteinander zu amalgamieren versucht: Die Entwicklungslogik findet hier ihren Höhe- und Endpunkt im »Punkt Omega«, dem homo sapiens; vgl. Pierre Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, übers. v. Othon Marbach, München 1959 (Le phénomène humain, Paris 1955).

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Das historische Finalitätstheorem hingegen wird regiert durch die Idee der Fremdbestimmung, der Heteronomie: Dem Individuum und auch Kollektivsubjekten werden von vornherein keine intentionalen Einwirkungsmöglichkeiten auf den Lauf des historischen Prozesses eingeräumt, es sei denn, man interpretiert die menschlichen Aktivitäten als List der Vernunft, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzt, während die Individuen sich irrtümlich oder verblendet für die Agenten ihres Geschicks halten, obwohl sie im Grunde bloß wie Marionetten am Draht agieren. Epistemisch verficht Kittsteiner zwar mit seiner Marx-Interpretation die Auffassung, dass die Funktionsweise des Marktes durch das Kausalitätstheorem zu erklären sei. Da er jedoch Wertgesetz und Marktmechanismus kausaldeterministisch – oder als komplex überdeterminiert? – interpretiert, glaubt er nicht an deren Beherrschbarkeit. In der praktischen Konsequenz deutet er die Ökonomie des Kapitalismus quasi als unabänderliches »Naturgesetz« – eine Position, die Marx als ein quidproquo kritisiert, das historisch »gemachte« gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse als Naturgegebenheit fehlinterpretiere. So gerät Kittsteiner contra intentionem – wohl auch in Abwehr voluntaristischer Philosopheme, die allzu forsch die Beherrschbarkeit von ökonomischen Prozessen in toto behaupten – in die Nähe des von ihm in diesem Kontext als Interpretationsmuster explizit verworfenen Finalitätstheorems, das ebenfalls die Ohnmacht der Agenten angesichts des historischökonomischen Geschehens betont.22 In diesem Sinne könnte man Kittsteiner als »halbierten Marxisten« bezeichnen: In der Analyse des Kapitalismus teilt er die Grundauffassung von Marx, in der Einschätzung der »subjektiven« Seite, der praktischen politischen Handlungsmöglichkeiten folgt er jedoch dem Autor vom Kapital nicht mehr, sondern betont die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem Lauf des Kapitalismus, der in der globalen Herrschaft des Weltmarktes kulminiert.23 22 Vgl. H. D. Kittsteiner, Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004. Gleichsam das Gegenprogramm zu Kittsteiners Unverfügbarkeitsthese formulierte eine Konferenz, die vom 27. bis 29. März 2017 in Münster stattfand und die den Titel trug: »Die Gestaltbarkeit von Geschichte«. Vgl. Kurt Bayertz und Matthias Hoesch (Hg.), Die Gestaltbarkeit der Geschichte, Hamburg 2019. 23 Diese höchst pessimistische Position hat dazu geführt, dass Kittsteiners Auffassung auch als »Marxismus-Fatalismus« bezeichnet wurde (Moritz Neuffer und Christian Voller, Institut für Marxismus-Fatalismus. Heinz Dieter Kittsteiners Geschichtsphilosophie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte: Marx, hg. v. Sonja Asal und Warren Breckman, Heft XI/3 [Herbst 2017], S. 21-32); eine verblüffende Nähe in dieser resignativen Haltung ergibt sich hier im Übrigen zum späten Adorno, der ebenfalls für

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UNVERFÜGBARKEIT VON GESCHICHTE? ZUM VERHÄLTNIS VON ANTHROPOLOGIE UND GESCHICHTE Die These der »Unverfügbarkeit des historischen Prozesses« wendet sich unter anderem gegen eine geschichtsphilosophische und anthropologische Zuversicht, wie sie etwa den mainstream der Aufklärung beherrschte.24 Diderot und die meisten Encyclopédisten hatten die »perfectibilité« für den Geschichtsprozess unterstellt und die Menschheitsgeschichte als stetige Fortschrittsgeschichte gesehen. In der deutschsprachigen Spätaufklärung hatten etwa Lessing, Kant, Schiller und Herder25 diesen Gedanken aufgenommen und den aktiven menschlichen Anteil an der »Erziehung des Menschengeschlechts« betont, freilich in der Regel flankiert durch die Annahme einer teleologischen Grundkomponente, die etwa als »Naturabsicht« (Kant, Herder) interpretiert wurde. Gleichwohl überwog

das »entfremdete und verdinglichte Bewusstsein« keine Möglichkeit mehr sah, dem »Verblendungszusammenhang« des »herrschenden Systems« zu entkommen; allenfalls eine »ästhetische Identität« böte eine – ungewisse? – Chance, das »Nichtidentische« gegenüber dem »Identitätszwang« als eine kritische Einspruchsinstanz zu retten: »Ästhetische Identität soll dem Nichtidentischen beistehen, das der Identitätszwang in der Realität unterdrückt« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M 1973, Bd. 7, S. 14). 24 Zu verschiedenen Aspekten von Kittsteiners Konzept des »Unverfügbaren der Geschichte« vgl. Falko Schmieder, Die Nichthintergehbarkeit der Geschichtsphilosophie, in: Gedenkschrift für H. D. Kittsteiner (1942-2008), für die Kulturwissenschaftliche Fakultät hg. v. Gangolf Hübinger (Reihe Europa-Universität Viadrina, Bd. 30), Frankfurt (Oder) 2009, S. 29-41, sowie Reinhard Blänkner, Geschichte und Geschehen. Zur Historizität der »Geschichte« als Wissensform, in: Friedrich Wilhelm Graf, Edith Hanke und Barbara Picht (Hg.), Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven, Tübingen 2015, S. 38-55. Zur Konstellation von Anthropologie und Geschichte vgl. vor allem Odo Marquard (Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973), der beide im reziproken Verhältnis zueinander sieht. 25 Johann Gottfried von Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Theile (1784-1791), in: ders., Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877-1913, Bd. 13 u.14; zu Herders Evolutionsbegriff vgl. auch: W. v. Rahden, »Ich bin ein Thier gewesen«. Herder’s Concept of Evolution in the Context of His Time, in: Daniel Droixhe & Chantal Grell (éds.), La linguistique entre mythe et histoire. Actes des journées d’étude organisées les 4 et 5 juin 1991 à la Sorbonne en l’honneur de Hans Aarsleff, Münster 1993, S. 187-210.

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die Ansicht bei den Wortführern der Aufklärung, dass im Grundsatz die Verfügbarkeit von Geschichte möglich und die Vervollkommnung des Menschengeschlechts durch Erziehung zum Besseren nötig sei. Zwar gab es Gegenströmungen, die aber in der Minorität blieben: Rousseau zum Beispiel erachtete die Menschheitsgeschichte als Verfallsgeschichte und teilte keineswegs den Fortschrittsoptimismus vieler seiner Zeitgenossen. Moses Mendelssohn wiederum sah weder Fortschritt noch Verfall, sondern betonte in seiner Kontroverse mit Lessing26 für die Gattungsgeschichte des Menschen vielmehr die anthropologische Kontinuität und Konstanz im historischen Geschehen und Wesen des Menschen. Man könnte diese Haltung deuten im Sinne einer »ewigen Wiederkehr des Gleichen«, um es mit Nietzsche zu sagen, der mit diesem unzeitgemäßen Topos, der sich gegen den verbreiteten Fortschrittsoptimismus wendete, viele Zunftund Zeitgenossen provozierte.27 Diese Position erteilte tendenziell der Idee des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts und der Verfügbarkeit von Geschichte ebenfalls eine Absage. Allenfalls für das einzelne Individuum – vor allem durch »Bildung« und »Erziehung« – und eventuell für bestimmte überschaubare Gesellschaftsbereiche wurde die Möglichkeit einer positiven Entwicklung – etwa durch »Erfindungen« – eingeräumt und auch als wünschenswert erachtet. Und auch die Logik des Kreislaufs der Geschichte in gesellschaftlichen Zyklen (»teoria dei corsi e ricorsi«), wie sie bereits zuvor Vico entwarf, konterkarierte den gerade aufkeimenden Fortschrittsoptimismus. Und ähnliche kulturzyklische universalgeschichtliche Konzepte finden sich später bekanntlich ebenso bei Arnold J. Toynbee und Oswald Spengler. Fatalistische Geschichtsauffassungen, die semantisch mit dem Schicksalsbegriff operierten 28, vertraten die radikalste Gegenposition zur fortschrittsoptimistischen Idee einer rationalen politischen Gestaltung der Gesellschaft im Sinne einer möglichen »Verfügbarkeit« von

26 Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), in: ders., Schriften über Religion und Aufklärung, hrsg. u. eingeleitet v. Martina Thom, Darmstadt, Berlin 1989, S. 395-458, hier: S. 413 f.; [Gotthold Ephraim Lessing], Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), in: ders., Werke in drei Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand, München 1995, Bd. 2, S. 1110-1132. 27 Bei Nietzsche kontrastiert das Denkbild vom »Übermenschen« allerdings die Idee der »ewigen Wiederkehr des Gleichen«. Vgl. dazu W. v. Rahden, »Einen tanzenden Stern gebären«. Nietzsches ewige Niederkunft des Neuen, in: Wolfgang Sohst (Hg.), Die Figur des Neuen, Berlin 2008, S. 271-304. 28 Zu historischen Fallbeispielen vgl. Franziska Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen 2015.

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Geschichte, sei es unter evolutionär-reformatorischer, sei es unter revolutionärer Perspektive. Die Desillusionierungen durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – zwei Weltkriege, Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Holocaust – sowie das Scheitern des »real existierenden Sozialismus« haben schließlich die universale Fortschritts- und Verfügbarkeitsidee weitestgehend desavouiert.29 Sowohl der Fortschrittsoptimismus des »real existierenden Sozialismus« im Osten wie auch der des »real existierenden Kapitalismus« im Westen sind entweder zusammengebrochen (Osten) oder geraten als bloßer Konsumismus, der vor allem im Laufe der Globalisierung immer häufiger von tiefgreifenden Krisen erschüttert wird, unter wachsenden Legitimationsdruck (Westen). So ist eine Sinn- und Orientierungslücke entstanden, in die zunehmend totalitäre und überwunden geglaubte Ideologeme als vermeintliche Sinnstifter stoßen, wie aggressive Nationalismen, rassistisch grundierte Ethnologismen sowie religiös verankerte mehr oder minder militante Fundamentalismen: Regression ersetzt weltweit Progression.30 Schienen die 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts mit einem vorsichtig wiedergewonnenen Vertrauen in Wissenschaft und Technik noch eine zaghafte Trendwende einzuleiten und generierten gar eine Disziplin namens Futurologie, die positiv die Strukturen möglicher Zukünfte erforschen wollte, so geht es heute eher nur noch um Schadensbegrenzung – man sucht die Gratwanderung zwischen den Chancen und Möglichkeiten politischer Gestaltung einerseits und den Gefahren unbeabsichtigter negativer Folgen gesellschaftlichen Handelns andrerseits mit Konzepten wie der gesellschaftlichen Risikoforschung und Technikfolgenabschätzung zu begegnen, um die komplexen Wechselwirkungen von intendierten politischen, ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Interventionen sowie deren nicht-intendierten oder nicht zu beherrschenden Auswirkungen zu prognostizieren bzw. abwägen zu können. Man könnte diese Position als Idee der »negativen Verfügbarkeit« oder – positiv gewendet – als »ermäßigte Verfügbarkeit« bezeichnen. Man bemüht sich um die Kontrolle auf kleinerer Stufe und mittlerer Reichweite, um zumindest die gröbsten unbeabsichtigten Konsequenzen und mögliche schädliche Langzeitwirkungen einzuhegen. Diese Risikoabschätzungen erfolgen nicht nur von staatli29 Zum Problem der geschichtlichen Kontingenz vgl. Frank Becker, Benjamin Scheller und Ute Schneider (Hg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt a.M. 2016. 30 Die strukturellen Homologien dieser totalitären Ideologeme hat Julia Ebner detaillierter untersucht: Wut. Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen, Darmstadt 2018.

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cher und wissenschaftlicher Seite – von Ministerialbürokratien, Polizei, BND, Rentenkassen bis zu den diversen Wissenschaftsakademien als Politikberatungsinstitutionen –, sondern auch von nicht-staatlicher Seite wie privaten Think Tanks, Versicherungen, NGOs und unterschiedlichsten gesellschaftlichen Expertengruppen. In der Science-Fiction-Literatur hingegen dominieren dystopische Motive, eine positive »utopische Intention« (Ernst Bloch) ist weitgehend verschwunden.31 Allenfalls die »third culture« (John Brockman) des Silicon Valley hat sich den globalen Fortschrittsoptimismus bewahrt, der durch den wirtschaftlichen Aufstieg der »Big Five«, der digitalen global players Microsoft, Google, Facebook, Amazon und Apple verstärkt wird. Und geteilt wird diese ökonomisch motivierte Fortschrittszuversicht in den Weltmarkt noch von ganz anderer Seite: von chinesischen Megakonzernen wie Huawei und Alibaba, die – staatlich flankiert – damit auch eine politische Globalstrategie verfolgen. Auch wenn die unbeabsichtigten und nicht vorhersehbaren geschichtlichen und gesellschaftlichen Folgen sozialen und politischen Handelns im Allgemeinen auf der Hand liegen, bliebe doch zu fragen und zu analysieren, welche objektiven und subjektiven Bedingungen und Möglichkeitsspielräume für eine erfolgreiche und effektive Handlung im Konkreten jeweils vorliegen. Kittsteiners Einspruch zielt gegen jene geschichtsphilosophisch ummantelte »Hybris«, der Mensch »mache« seine »eigene Geschichte« (wenn auch nicht unter »selbstgewählten« Umständen, wie Marx wohlweislich einschränkte)32, könne sie also auf bestimmte Ziele hin über längere Zeit aktiv kontrollieren. Gegen Kittsteiners Unverfügbarkeitsthese wäre zu erwägen, ob zumindest Prognosen kürzerer oder mittlerer Reichweite für klar definierte Ziele nicht a limine als aussichtslos unter Hybrisverdacht gestellt werden sollten. Jedenfalls können bei gründlicher Planung, entsprechender Informations- und Datenbasis, mit wissenschaftlich ausgewiesener Beratung und möglichst unter Partizipation der Zivilgesellschaft klar definierte Projekte durchaus erfolgreich sein, wobei die Projekt-Realisierung durch kontrollierende Begleitung ›externer‹ Instanzen überprüfbar bleiben sollte. So gelingen durchaus grosso modo auch Effekte, die den Anspruch einer generellen Geltung einer Unverfügbarkeitsthese im Kittsteiner’schen Sinne zumin31 Zu den Dystopien der Science-Fiction-Literatur und Fragen einer ästhetischen Prognostik vgl. Angela Spahr, Was wäre, wenn …? Literatur als ästhetische Prognostik, in: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen: Wissenschaft trifft Kunst (Anm. 15), Heft 23 (Frühjahr 2010), S. 70-73. 32 Vgl. Karl Marx’ Notat: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in: ders. und Friedrich Engels, Werke [MEW] [Anm. 3], Bd. 8, S. 115).

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dest einschränken – so ist es, um nur ein Beispiel zu nennen, für einen Staat politisch möglich und machbar, entgegen der Logik des Marktmechanismus auch profitable Kohle- und Kernkraftwerke abzuschalten und damit andere energiepolitisch-ökologische Zielvorstellungen zu implementieren. Freilich gibt es vor allem bei gesellschaftlich bedeutsamen Innovationen keine Garantie dafür, dass es tatsächlich so kommt, wie man es geplant oder sich vorgestellt hat (»Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt«). Man vergegenwärtige sich zum Beispiel die Einführung des Internets, die auf vielen gesellschaftlichen Ebenen einen vorher kaum geahnten Wandel eingeleitet hat. Unter zeithistorischer Perspektive bezieht Kittsteiner die Unverfügbarkeitsthese vor allem aufs Wert- und Markt-»Gesetz«. Handlungstheoretisch gesehen, liegen der Unverfügbarkeitsthese in Bezug aufs Marktgeschehen zwei Varianten argumentativer Strukturmuster zugrunde: Die erste Variante bezieht sich auf die epistemisch-prognostische Prämisse intentionalen Handelns, also auf ein bestimmtes zu erreichendes Ziel und auf die sich daraus ergebenden Handlungskonsequenzen: Da die Agenten nichts oder zu wenig über die Folgen ihres Handelns wissen bzw. wissen können, ist intentionales Handeln – so die These – in diesem Kontext zum Scheitern verurteilt. Die zweite Variante bezieht sich auf die instrumentelle Prämisse über Möglichkeiten und Mittel des intentionalen Handelns: Da die Agenten nicht bzw. nicht ausreichend über die Mittel verfügen, um ihr Handlungsziel zu erreichen, ist intentionales Handeln – so die These – in diesem Kontext prinzipiell zum Scheitern verurteilt, denn die Marktmechanismen seien dem Zugriff der Agenten grundsätzlich entzogen. Die allgemeine Gültigkeit dieser beiden Varianten einer ›harten‹ Unverfügbarkeitsthese darf indes füglich bezweifelt werden, da die Validität einer derartigen These sich am historischen Beispiel über einen längeren Zeitraum erst noch zu erweisen hätte. Die Unverfügbarkeitsthese, konsequent ausbuchstabiert, würde von vornherein selbst eine ›schwache‹ Theorie der politischen Handlungsmacht von Subjekten und deren kalkulierbarer gesellschaftlicher Wirkungen wenn nicht zur Gänze ausschließen, so doch grundsätzlich in Frage stellen, denn die Unverfügbarkeitsthese betont im Prinzip des Menschen strukturelle Ohnmacht vor historischen Prozessverläufen. Und so bliebe als skeptische Frage an den Skeptizismus des Unverfügbarkeitstheoretikers: Wer bereits jeglichen politischen Interventionsversuch in das Marktgeschehen als tendenziell zum Scheitern verurteilt sieht – schüttet der nicht das praxispolitische Kind mit dem marktfatalistischen Bade aus?

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Die vermeintliche historische Selbstermächtigung des Menschen hat sich nach Kittsteiner hinter dem Rücken der Beteiligten als Selbsttäuschung entlarvt. Hatte Marx mit seinem emphatischen Praxisbegriff noch gefordert, dass es nicht darauf ankomme, die Welt nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern, so konterte Odo Marquard, dass es vielmehr darauf ankomme, die Welt zu »verschonen«. Ob Marx- oder Marquard-Maxime, ob unterstellte planbare revolutionäre Umgestaltung oder angemahnte skeptische Enthaltsamkeit – Kittsteiner verblüfft durch eine These, die man nennen könnte: mit Marx gegen Marx über Marx hinaus – mit dem politökonomischen Kapital-Theoretiker gegen den revolutionsemphatischen Optimisten vom Kommunistischen Manifest auch über ihn hinaus zu einer historiographischen Arrondierung mit Blick auf Komponenten der Subjektkonstitution wie der Entstehung des Gewissens.

HISTORIOGRAPHIE ALS SIGNIFIKATIONSPROZESS: ZEIT-ZEICHEN – DER STETE SEMANTISCHE WANDEL DER ZEICHEN Offensichtlich gibt es keinen epistemisch privilegierten Zugang zu einer »geschichtlichen Wahrheit«. Der Historiograph findet eine Fülle von »Quellen« geschichtlicher Zeichen vor: zeitgeschichtliche Zeugnisse von großen und kleinen Ereignissen; politische, alltägliche und literarische Überlieferungen in verschiedensten Medien; Ideen, Bilder, architektonische und institutionelle Zeugnisse verschiedenster Kulturen – aber sie alle bedürfen der Deutung. Insofern stimmt Hölderlins Diktum aus seiner späten Hymne »Mnemosyne« – »Ein Zeichen sind wir, deutungslos« – nur halb. Denn der Mensch ist dazu gezwungen und er ist auch dazu fähig, Zeichen zu setzen, zu deuten und zu interpretieren, er ist ein zeichendeutendes Wesen, ein homo signans. Aber diese Deutungen erfolgen stets perspektivisch und innerhalb »relevanter Sinnbezirke« (Alfred Schütz), also Kontexten, innerhalb deren die Relevanz bzw. Bedeutsamkeit der jeweiligen Zeichensätze bestimmt wird. Und die Deutung selbst ist ebenfalls eine historische, denn es gibt keine überhistorische Zeichendeutung aller Zeiten und aller Länder. Daraus folgt, dass die Vergangenheit, also »die Geschichte«, stets aufs Neue von der aktuellen Warte aus rekonstruiert oder interpretiert wird: »Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten« (Nietzsche).33

33 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe

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Beispiele aus der Gegenwart können das am Typus des »visuellen Geschichtszeichens« veranschaulichen.

VISUELLE GESCHICHTSZEICHEN Geschichtszeichen können sich ikonisch in einem Bilde verfestigen und sich zum Symbol verdichten; Bilder gewinnen in einer heute visuell dominierten Medienöffentlichkeit zunehmend an Bedeutung.34 Sie bestimmen in wachsendem Ausmaße die öffentliche Meinung und damit auch die politische Entscheidungsebene und können dann zu einem Geschichtszeichen werden – für die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft. Beispiele aus der jüngeren Zeit deutscher und europäischer Geschichte sind etwa die Bilder von der Kernschmelze des Atomkraftwerks in Fukushima, die eine Kehrtwende der deutschen Energiepolitik gleichsam über Nacht eingeleitet haben. Oder die TV-Bilder der Flüchtlingsströme nach Europa: ikonische Verdichtungen, welche die Massen von Flüchtlingen an der ungarischen Grenze und auf den Bahnhöfen zeigen; das Foto des Kühlwagens mit den toten Geflüchteten, abgestellt auf der Standspur der Autobahn; schließlich das Bild des ertrunkenen Kindes nach missglückter Flucht übers Mittelmeer. Der »coup d’oeil« – um es mit einem Begriff Horst Bredekamps zu sagen35 – führte schlagartig zu einer Umorientierung in der deutschen Flüchtlingspolitik.

in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980, Bd. I, S. 293 f. 34 Die Kunst- bzw. Bild-Wissenschaft hat mit der Ausrufung des »iconic turn« dem bereits vor längerer Zeit Rechnung zu tragen versucht, auch wenn die anschwellende Anzahl neuer »turns« (nach dem »linguistic« der »temporal«, »historical«, »spatial«, »performative«, »material«, »cultural«, »design«, »digital« or whatever »turn«) jenen Akt der Bildwissenschaftler post festum als modische Attitüde zu entwerten droht. Zur Konjunktur anschwellender »turns« diverser Provenienz in den von Kurzzeitparadigmen geplagten Kulturwissenschaften und der immer kürzeren Haltbarkeitsdauer der »turns« vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. Zur aktuellen Bedeutsamkeit visueller Zeichen vgl. insbes. das Kapitel »Krieg der Bilder. Die Rolle der Medien in asymmetrischen Kriegen«, in: Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 229-253. 35 Zum Topos des »coup d’oeil« vgl. Horst Bredekamp, Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenenblick und die Tradition des Coup d’Oeil, in: Joachim

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Geschichtsbildzeichen werden kontextualisiert, indem sie in ein Narrativ eingebunden werden; sie können zu einer historischen Meistererzählung ausgebaut oder in eine bereits bestehende integriert werden. Das Bild vom Kniefall Brandts in Warschau wirkte als visuelles Symbol des Narrativs der »Neuen OstPolitik«, die zu einer historischen Meistererzählung avancierte, da sie sich gegen konkurrierende Narrative als Richtlinie in der Realpolitik durchsetzte (etwa wider die Position: »Deutschland dreigeteilt? Niemals!« als nationalkonservatives Gegen-Narrativ). Das Fukushima-Katastrophenbild stärkte das politische Narrativ der Energiewende und beschleunigte deren Durchsetzung, und das Bild vom toten Flüchtlingskind markierte den Beginn der neuen Flüchtlingspolitik und das sie flankierende Narrativ – zumindest in der Anfangsphase nach der dramatischen Zuspitzung der Flüchtlingskrise, als aus offizieller deutscher Sicht die Hoffnung auf eine zeitnahe europäische Lösung des Problems noch realistisch erschien. Die Wirklichkeit der Bilder besteht hier vor allem in den massiven Wirkungen, die sie ausüben sowohl auf das öffentliche Bewusstsein wie auf das politische Handeln. Diese Ikonen werden zum Symbol gesellschaftspolitischer Umbrüche und co-konstituieren gesellschaftliche Wirklichkeit. So können diese Bilder zum Geschichtszeichen erhoben werden, zumal dann, wenn sie einen Bruch markieren, der einen Einschnitt denotiert nicht nur im öffentlichen Bewusstsein, sondern auch im politischen Handeln, in welche Richtung auch immer. Sie wirken unter dieser Perspektive als Geschichtszeichen im dreifachen Kant’schen Sinn: als signum rememorativum, demonstrativum und prognostikon.

EINE VERSCHIEBUNG DER KAMPFZONE: DAS UNVERFÜGBARE VERFÜGBAR MACHEN Der semiotische Blick auf historische Prozesse umfasst auch jene Zeichen, die ich unter einer »Signatur des Bösen« subsumiert habe und die in eschatologischchristologischer Perspektive selbst zu globalen Geschichtszeichen erhoben werden können. Kittsteiner analysiert das Phänomen des Bösen am Wandel eines Paradigmas der Personalisierung des Bösen in der Figur des Satans – mit Blick auf jene Transformation, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzieht. 36 Der Kampf gegen das Böse – wie er über Jahrhunderte von den institutionalisierten

Bromand und Guido Kreis (Hg.), Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 455-468. 36 Vgl. H. D. Kittsteiner, Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert (Anm. 4).

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Kirchen und mit besonderem Ingrimm von der Inquisition geführt wurde – erscheint im Sinne Kittsteiners als Kompensationsstrategie und Angstbewältigungsmechanismus vor dem Unkontrollierbaren von Natur und Geschichte. Man suchte einen Verantwortlichen für all jene kleinen und großen Katastrophen, denen man ohnmächtig gegenüber steht, und findet als Sündenbock den Teufelspaktierer. Der psychologische – oder anthropologische? – Zwang, überall nach dem verantwortlichen Täter zu suchen, führt zur Personalisierung des Bösen. Die »Tücke des Objekts« wird als Tücke eines getarnten Subjekts entlarvt. Aus Angst vor der Anonymität eines übermächtigen Schicksals, das sich dem menschlichen Zugriff entzieht, erfolgt diese Kampfansage. Das Ohnmachtsgefühl schafft sich eine eigene neue Projektionsfläche, um eine wiedergewonnene Handlungsmacht und Verfügungsgewalt zu suggerieren. Der Selbstbetrug der Selbstermächtigung geschieht unter dem Banner einer neuen Feindmarkierung. Und dieser Feind trägt einen Namen: Es ist der Teufel samt seinen Paktierern und Helfershelfern, den »Unholden«.37 Die erdrückende Angst und unerträgliche Ohnmacht des Menschen vor der Zumutung, einem historischen Prozess ausgeliefert zu sein, wird umgemünzt in eine Strategie der vermeintlichen Kontrolle unter der handlungsleitenden Maxime: Der Kampf gegen das Böse kann erfolgreich geführt werden.38 Der Gegner muss nur erkannt und benannt werden.39 Die verschiedenen Theodizee-Konstrukte hatten Gott als letzten Verantwortlichen entlastet und stattdessen seinen Gegenspieler und »Widersacher« als Verursacher des Übels namhaft gemacht: den personalisierten Bösen, der unter Bezeichnungen wie »Satan«, »Teufel«, »Luzifer«, »Mephisto«, »Diabolus« oder »Anti-Christ« in Erscheinung trat, aber auch mit umschreibenden Tabu-Wörtern 37 Im lateinisch geschriebenen Handbuch für Hexenjäger, dem Malleus maleficarum von 1486 (»Hexenhammer«) – verfasst von den Dominikanern und Inquisitoren Henricus Institoris (Heinrich Kramer) und (vermutlich auch) Jakob Sprenger und zuerst 1906 (!) ins Deutsche übersetzt –, findet sich im lateinischen Original als einziges deutsches Wort (als Äquivalent zu »Hexe«) der Ausdruck »Unholde«, wenn von den Hexen und Teufelspaktierern die Rede ist. 38 Zu gesellschaftlichen Angstbewältigungsstrategien vgl. vor allem Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, Ithaca, NY 1991 (Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, übers. v. Martin Suhr, Hamburg 1992), sowie ders., Liquid Modernity, Cambridge, UK 2000 (Flüchtige Moderne, übers. v. Reinhard Kreissl, Frankfurt a.M. 2003). 39 Vgl. hierzu H. D. Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die RePersonalisierung des Feindes, in: Sabine Eickenrodt, Stefan Porombka und Susanne Scharnowski (Hg.), Übersetzen, Übertragen, Überreden, Würzburg 1999, S. 145-162.

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belegt wurde, wie etwa »Leibhaftiger« oder »Gottseibeiuns«. Des Satans konnte man zwar persönlich nicht habhaft werden, wohl aber seiner irdischen Diener, der »Teufelspaktierer« oder »Unholde«. Man könnte diese Verlagerung der Kampfzone, so man diese Argumentation als schlüssig erachtet, im Sinne Kittsteiners auch als »Strategie der projektiven Verschiebung« bezeichnen. Es vollzieht sich hier eine Transformation von der diffusen Angst (vor der Unverfügbarkeit von nicht kontrollierbaren Prozessen) in eine konkrete Furcht, die den Verursacher nunmehr als Feind benennen zu können glaubt: den Teufelspaktierer in Gestalt von sehr irdischen Zeitgenossen, die man nicht nur abstrakt verantwortlich machen, sondern auch – jedenfalls im Prinzip – konkret belangen kann. Feind erkannt, Gefahr gebannt! Unter dieser Perspektive könnte die lang andauernde und auch die Konfessionsgrenzen überschreitende Phase der Hexenverfolgung als eine verschobene Antwort auf das Unverfügbarkeitsproblem gesehen werden.40 Diese Strategie der Personalisierung41, die »überall nach dem Täter sucht« (Nietzsche), feiert gegenwärtig – nicht zuletzt befeuert durch die neuen Medien – fröhliche Urständ in den vor allem im Internet zirkulierenden Verschwörungsnarrativen. Die Komplexitätsreduktion einer Gesamtheit von komplizierten, unübersichtlichen und bedrohlich anmutenden Phänomenen besteht zumeist in der Rückführung auf eine oder doch wenige Ursachen und Personen, die man benennen und bekämpfen kann – sei es eine Regierungs- und Medien-Clique, »das internationale Judentum«, das Finanzkapital, die Allianz verschiedener Geheimdienste, »die Hintermänner des Bevölkerungsaustausches mittels Flüchtlingsinvasion«, hier vorzugsweise auch Milliardäre, wie seit der Flüchtlingskrise George Soros und seit der Covid-19-Pandemie Bill Gates. Angebliche Teufelspaktierer, Ketzer, Freimaurer und andere Geheimbünde, Agenten einer fremden Macht, Volks-, Klassen- und Religionsfeinde, Ungläubige, diverse Politikerkasten und Eliten, Medienkartelle, »Lügenpresse« und andere vermeintliche Verschwörer bevölkern diese simplifizierenden und polarisierenden Narrative. Oder es sind »Dunkelmänner« anderer Provenienz, die in jener Tradition der »satanischen Verschwörer« stehen, die ehedem mit fundamentalistischer Militanz von der Inquisition verfolgt wurden unter Führung des Dominikanerordens, den »Domini canes«, also den »Hunden des Herrn«. Die Vereinfachung erfolgt stets 40 Vgl. hierzu W. v. Rahden, Orte des Bösen. Aufstieg und Fall des dämonologischen Dispositivs, in: Die andere Kraft (Anm. 4), S. 26-54. 41 Der ebenso scharfsinnige wie pointensichere Aphoristiker Anton Kuh hat diese fatale Neigung zur Personalisierung in den Aphorismus gefasst: »Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich« (Werke in sieben Bänden, hg. v. Walter Schübler, Göttingen 2016, Bd. 5, S. 269).

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nach demselben Schema: Die Ursache allen Übels liegt in der Verschwörung von Drahtziehern aus Politik, Wirtschaft und Militär oder im Dienste einer »fremden Macht« gegen das »eigene Volk«, die »eigene Nation« oder gegen die »wahre Religion«. Diese Entlastungsstrategie strukturiert das politische und soziale Wahrnehmungsfeld nach dem Schmitt’schen Freund-Feind-Schema und verschärft die Polarisierung nicht selten durch Verteufelung des Gegners, der dadurch zum antagonistischen Feind mutiert und aus der Gemeinschaft ausgegrenzt wird. Die Strategien sind vertraut und kehren wieder – es sind die Zutaten eines autoritären Populismus: Er zeichnet sich aus durch eine unangemessene Vereinfachung, eine simplifizierende Reduktion komplexer Zusammenhänge; durch Identifikation mittels Emotionalisierung unter weitestgehender Ausschaltung abwägender Vernunftargumente; durch Ignoranz gegenüber den Folgelasten; durch Schwarzmalerei oder gar Beschwörung quasi-apokalyptischer Zustände im Sinne eines Katastrophismus sowie Schüren und Bestärken von Ängsten; durch Polarisierung mit Hilfe von aggressiven Feindbildern, durch Aufgreifen von Ressentiments und eindeutige Schuldzuweisungen mittels Personalisierung bis hin zur Dämonisierung des Gegners. Diese Taktiken und Strategien sollen nur allzu häufig dazu dienen, von sozialen und machtbedrohenden Problemen abzulenken, und sie sollen stattdessen die Binnenstärkung einer homogenen Identität der eigenen Gruppe bzw. Klientel durch Abgrenzung gegen einen erklärten und benannten »Feind« erreichen. Die Stereotypen haben sich zäh durchgehalten – im »fernen Spiegel« (Barbara Tuchman) zeigen sich bereits Bruchstellen auch der Gegenwart: Waren es ehedem die »satanischen Verschwörer«, die einen »finsteren Plan« verfolgten, so sind es jetzt in den meisten populären kruden und abstrusen Verschwörungsideologien »die da oben«, die entweder »Superverschwörer« sind oder wahlweise »Marionetten, von dunklen Mächten geleitet«. Die vermuteten Verschwörerkartelle wechseln historisch, kehren aber nicht selten auch periodisch wieder, wenn auch zumeist unter verändertem Etikett. In der Logik dieser Verschwörungsideologeme – wie sie besonders im Internet kursieren – bleibt das offene oder geheime Ziel der »Verschwörer« immer das gleiche: Sie wollen Religion, Nation oder Volk »zersetzen«, um Macht zu erringen oder zu zementieren und »das Volk zu betrügen und auszubeuten«.

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EIN IDEENGESCHICHTLICHER EINSCHNITT – SIGNATUREN DES BÖSEN: EXTERNALISIERUNG VS. INTERNALISIERUNG Die Bedeutung (Semantik) und Verwendung (Pragmatik) der Zeichen unterliegen selbst dem Wandel der Zeit, und sie können sich dabei (demonstrativ) auf die Gegenwart oder (rekursiv) auf die Vergangenheit beziehen oder auch (prospektiv) auf die Zukunft verweisen. Ein und dasselbe Zeichen kann freilich zugleich auch alle drei Zeitebenen denotieren, und das macht es in der Regel auch. So verwies die Russische Revolution für viele Zeitgenossen nicht nur reflexiv auf sich selbst, sondern ebenso auf die Revolutionen der Vergangenheit wie auch auf erhoffte oder befürchtete in der Zukunft. Die Deutung der Zeichen erfolgt dabei selten einheitlich und homogen, sondern Macht und Überzeugungskraft der jeweiligen Interpretationsinstanzen bestimmen in der Regel jene semantische Auslegung, die dann die »herrschende Meinung« darstellt, die Marx als »Meinung der Herrschenden« pointiert hat. Aber überwiegend fallen auch Geschichtszeichen mehrdeutig aus, bisweilen gar konträr, je nach politischer, sozialer und ökonomischer Interessenlage der Zeichendeuter. Solch konkurrierende Deutungen erfahren nicht nur spektakuläre Ereignisse wie Revolutionen (Wie bedeutsam sind sie überhaupt? Wie sind sie sozial, politisch, ökonomisch und ethisch zu bewerten? Stellen sie einen Fortschritt oder Rückschritt dar?)42, weil dem stark normativ aufgeladenen Revolutionsbegriff selbst nicht nur eine emphatische und emotionale Grundierung eignet, sondern auch jene schillernde Ambivalenz von Verfügbarkeit vs. Unverfügbarkeit: Seit der Aufklärung von vielen als das Paradigma für die Selbstermächtigung des

42 Um eine semantische Disambiguierung des Revolutionsbegriffs bemühte sich Clayton Christensen (Ökonom in Harvard); er prägte den Begriff »Disruption« bzw. »disruptiv«, um eine revolutionäre Veränderung zu kennzeichnen, die – vor allem im ökonomisch-technischen Bereich – eine schlagartige Umwälzung verursacht, deren Folgen nicht abzusehen sind (wie etwa die Einführung des Internets). Er wollte offensichtlich den Terminus »Revolution« vermeiden, um sich nicht jene semantische Erblast des polarisierenden und ebenso normativ wie emotional aufgeladenen Revolutionsbegriffs aufzubürden, der eine vom Forscher intendierte distanzierte Deskription eines technisch-innovativen Umbruchs überschreibt und damit das angestrebte semantisch neutrale Bedeutungsfeld verlässt. Vgl. Clayton M. Christensen and Joseph L. Bower, Disruptive Technologies. Catching the Wave, in: Harvard Business Review, vol. 69, January-February 1995, S. 19-45. Zum Wandel des Revolutionsbegriffs vgl. auch W. v. Rahden, Revolution und Evolution (Anm. 11).

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Menschen gesehen, als Beleg dafür, dass Fortschritt zum Besseren möglich sei und auch in der Verfügungsgewalt des Menschen liege, trat jedoch nach den großen historischen Revolutionen auch Ernüchterung ein: Die Französische, Russische oder auch die Chinesische Revolution – um von der sogenannten »kambodschanischen« gar nicht erst zu reden – gaben zu triftigen Zweifeln darüber Anlass, dass die Folgen der gesellschaftlichen Umwälzung beherrschund verfügbar seien. »Die Revolution frisst ihre Kinder«, lautete ein Schlagwort, um die Unkontrollierbarkeit jener revolutionären Umwälzungen zu brandmarken. Aber auch der Prozess der Interpretation der »Zeichen des Bösen« belegt prägnant den Sachverhalt einer semantischen Mehrdeutigkeit in der Genealogie des Bösen, auch wenn sich die prinzipiell ethisch und moralisch negative Grundbedeutung nicht ändert, anders als bei der oszillierenden Bewertung des Revolutionsbegriffs. Zunächst hatten binnentheologische Instanzen die Interpretationshoheit über die »signa mali«, die »Dämonoglyphen«, 43 welche die Verursacher des Bösen identifizieren sowie Ketzer, Hexen und Teufelspaktierer mittels »hochnotpeinlicher Befragung« entlarven und damit die Frage beantworten sollten: Ubi malum? Wo versteckt sich das Böse? Dann verlagert sich im Laufe des 18. Jahrhunderts und der »Sattelzeit« (Koselleck) der Streit um diese Zeichen. Wissenschaftliche Instanzen beginnen die Deutungshoheit der Kirche in Frage zu stellen: Sie destruieren die interpretationsleitenden Begriffe »Teufel, Satan, Hexe, Teufelspaktierer« und verschieben damit die Semiotik des Bösen. Neben der philosophischen Ethik der Aufklärung, die sich bereits von der Vormundschaft theologischer Instanzen befreit hatte, widmen nunmehr vor allem unterschiedliche neu aufstrebende Wissenschaftsdisziplinen avant la lettre ihre Aufmerksamkeit dem Diskurs und Dispositiv des Bösen. Psychologie, Völkerkunde, Kriminalanthropologie, Medizin, Biologie, Neurowissenschaften, Soziologie und Rechtswissenschaft nehmen sich des Problems an und entwerfen eige43 Die lateinisch-griechischen Bezeichnungen, die hier und im Folgenden (im Kapitel »Zeichen des Bösen«) zur Ausdifferenzierung einer Semiotik des Bösen dienen, entsprechen nicht den historisch tatsächlich verwendeten Termini, sondern sind als Neologismen Vorschläge von mir. Sie entstammen also nicht expressis verbis einem Spezialdiskurs des Bösen von Theologen und fragseligen, wiewohl harthörigen Inquisitionsexperten, bringen diesen aber ex post auf den Begriff: Sie explizieren begriffsschärfer jene Sachverhalte oder Imaginationen, die in Mittelalter und Früher Neuzeit von herrschender theologischer Seite als vielgestaltiger Ausdruck und Symptomatik des Bösen gedeutet wurden, vor allem höchst folgenreich im Handbuch für Hexenjäger, dem Hexenhammer, der durch die erste Medienrevolution, die Erfindung des Buchdrucks, weite Verbreitung erfuhr (bis ins 17. Jahrhundert 29 Auflagen; vgl. Anm. 37). Hierzu näher W. v. Rahden, Orte des Bösen (Anm. 40), hier insbes.: S. 26-42.

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ne Zeichendeutungsmuster. Ein altes Problem wird in neue Semiotiken eingepasst, die sich nunmehr an posttheologischen Paradigmen orientieren. Gesprochen wird in der Regel nicht mehr vom Bösen, wohl aber von psychischen oder körperlichen Pathologien, von kriminellem Verhalten, von sozialer Devianz, von Modellen der Aggression, von Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen oder von Symptomen von Angstneurosen. Eine doppelte ideengeschichtliche Signatur zeigt sich in der Verortung des Bösen im »langen 18. Jahrhundert«. Der entscheidende Einschnitt erfolgt durch die »Abschaffung des Teufels«, wie es Kittsteiner genannt hat.44 Die traditionelle Semantik des Bösen wird gewissermaßen neu formatiert und erfährt in der Folge entscheidende Umbesetzungen für die Moderne. Zwei Bewegungsfiguren werden in diesem Prozess der Umbesetzung erkennbar: Erstens wird zunächst die Semantik des Bösen vom Teufel bzw. vom Satan als einem äußeren Bezugspunkt abgekoppelt. Die Transformation nach innen verlegt den ethischen Konflikt zwischen Gut und Böse ins Individuum selbst hinein, indem das Gewissen als neuer Ort des Widerstreits namhaft gemacht wird. Diese Veränderung erfolgt zum größten Teil innerhalb des theologischen und philosophischen Diskurses. Es kreuzen sich hier aufklärerische und pietistische Argumentationsmuster, ebenso wie es – metaphorologisch betrachtet – die Überlagerung von zwei sehr unterschiedlichen Licht-Metaphern verdeutlicht: Auf der einen Seite steht das »Licht der Aufklärung«, des Enlightenment und des Siècle des Lumières als Beleuchtung von außen und auf der anderen Seite erscheint das Licht als eine Erhellung von innen, als pietistische »innere Erleuchtung«. Und in der Aufklärungsdiskussion versucht Kant mit seinem Freiheitspostulat, dass sich ein jeder für das Gute oder Böse entscheiden könne, dem »radical Bösen« den übermächtigen Schrecken zu nehmen. 45 Dieser Prozess der Internalisierung, den Kittsteiner detailliert als Herausbildung des Gewissens als verinnerlichter moralischer Instanz beschreibt, könnte als eine Komponente der »inneren« Stabilisierung der Kittsteiner’schen »Stabilisierungsmoderne« gesehen werden. Allerdings bleibt für den kritischen Chronisten dieser drei Stufen der Moderne anzumerken, dass historisch gesehen der Schwerpunkt der Herausbildung des modernen Gewissens in die Zeit nach der Stabilisierungsmoderne fällt, also nach 1715.46 Es wäre also eine Ungleichzeitigkeit – genauer: ein time-lag – zwischen äußerer und innerer Stabilisierung zu konstatieren, da der

44 H. D. Kittsteiner, Die Abschaffung des Teufels im 18. Jahrhundert (Anm. 4). 45 Vgl. hierzu: Christoph Schulte, radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München 1988. 46 Vgl. H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (Anm. 6).

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Internalisierungsprozess eher in die Phase der »evolutiven Moderne« fiele, ja bis in die Anfänge der Kittsteiner’schen »heroischen Moderne« hineinreicht. 47 Zweitens erfolgt eine semantische Umbesetzung durch »wissenschaftliche« Signaturen, die den Bruch mit der Theologie markieren und dieser die Interpretationshoheit über das Thema streitig machen: Anthropologisch-biologisch wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Teufelspaktierer als Inbegriff des Bösen durch den »geborenen Verbrecher« ersetzt. Die hier angelegte anthropologischindividualisierende Tendenz der Fest-Stellung des bösen Menschen sieht das Böse also als Konstante, als Charakter- oder Erbeigenschaft eines Individuums und bewertet dadurch den ganzen Menschen und nicht seine einzelne Tat. Als verallgemeinernde Verlagerung auf ganze »Völker« und »Rassen« führt diese Strategie im Laufe des 19. Jahrhunderts auch zu ideologisch aufgeladenen pseudo-wissenschaftlichen rassistisch-völkischen Theorien mit ihren zur Genüge bekannten unheilvollen Auswirkungen. Nicht nur einzelne Individuen, sondern ethnische Großgruppen wurden insgesamt als biologisch und ethisch »minderwertig« ausgegrenzt. 48 Eine andere Diskurslinie führte hingegen zu einer »Entübelung der Übel« (Odo Marquard) bzw. »Entbösung des Bösen« (Edeltraut Luise Marquard) 49 durch deskriptiv-funktionale Thesen vor allem in Biologie, Psychologie und Psychoanalyse: Der »Hang zum Bösen« wird hier etwa mit einem angeborenen Aggressionstrieb, einer frühkindlichen Fehlentwicklung, einer misslungenen Verarbeitung des »Ödipus-Komplexes«, einem individuellen »Gen-Defekt« oder einer individuellen Disposition erklärt oder, wie in einigen soziologischen Theorien, als bloßer Effekt von Sozialisationsumständen, von Familie und Milieu, von sozialem Status und ökonomischer Lage, von Erziehung und Umwelteinflüssen oder als »Dressur zum Bösen«50 durch die jeweiligen äußeren Bedingungen interpretiert. Mit anderen Worten: Wir sehen hier eine zweifache – sehr 47 Kittsteiner unterscheidet zwischen »Stabilisierungsmoderne« (1618-1715), »evolutiver Moderne« (1770-1880), »heroischer Moderne« (1880-1945/1989) sowie der gegenwärtigen »Globalisierungsmoderne«; vgl. H. D. Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 25-58 (vgl. auch Anm. 7). 48 Hierzu etwa Markus Messling, Gebeugter Geist. Rassismus und Erkenntnis in der modernen europäischen Philologie, Göttingen 2016. 49 Odo Marquard, Malum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 1971-2007, Bd. 5 (1980), S. 652-656, hier: S. 655. 50 So die pointierte Formulierung von Arno Plack, Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral, München 1967.

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unterschiedliche – Transformation in der Signatur des Bösen durch wissenschaftliche, quasi- oder auch pseudo-wissenschaftliche Konzepte.

ZEICHEN DES BÖSEN So wie man auf der Makro-Ebene die Geschichtszeichen als Historioglyphen und auf der Mikro-Ebene das »Komma von SANS, SOUCI.« als »Kryptoglyphe« (also als Geheimzeichen) bezeichnen könnte, so vermag der Semiotiker auch die »Zeichen des Bösen« zu beschreiben, wie sie in unterschiedlichen historischen Phasen als solche gedeutet wurden, mögen sie uns heute auch noch so abwegig erscheinen. Im Zeitabschnitt, bevor die Aufklärung sich durchzusetzen begann, dominierte die Theologie diese Zeicheninterpretationen des Bösen: Die Kirchenväter, die theologischen Schriftgelehrten und die Inquisitoren, bisweilen in Allianz mit Astrologen, besaßen die Deutungshoheit über die »Dämonoglyphen«. Diese »signa mali« traten als »signa ad rem«, also Zeichen einer Sache oder eines Sachverhalts auf: Blitz- und Hagelschlag, saure Milch, Missernten, Pestepidemien, ein Komet, ein zweiköpfiges Kalb, aber auch plötzliche Krankheit oder etwa auftretende Impotenz bei »Opfern des Bösen«; diese »Schäden« wurden dann in Verbindung gebracht mit einer Person, die als vermeintlicher Verursacher oder angebliche Verursacherin namhaft gemacht wurde: Im Pakt mit dem Teufel, so die Annahme, hatte der »Unhold« den »Schadenzauber« angewendet. Oder ein spektakulär am Himmel auftauchender Komet begründete den Verdacht, dass wohl auf der Erde Hexerei im Spiele war, wenn eine Missernte das Land plagte. Die »signa ad personam« hingegen – so die Annahme – verwiesen direkt auf den Teufelspaktierer, häufiger jedoch auf eine Teufelspaktiererin, die durch »untrügliche« Zeichen wie etwa den »Hexenbuckel« oder durch Muttermale (»Teufelsmale«) identifiziert wurden. Neben diesen Körpermalen oder »Somaglyphen« gab es die mentalen Merkmale oder »Psychoglyphen«, wie zum Beispiel angebliche Besessenheit (»innere Stimmen des Teufels«), die dann der Exorzist »auszutreiben« hatte. Naturzeichen vermochten indes als Wunderzeichen durchaus Positives zu verkünden: Ein Komet etwa konnte zwar einerseits als »Unstern«51 der Vorbote von Unheil sein, so wie bereits im antiken Rom die

51 Diese Bedeutung ist noch enthalten im seit dem 18. Jahrhundert umgangssprachlich und mundartlich verbreiteten Schlamassel, entstanden wohl aus jiddisch »Schlemasl, Schlimasl«: eigentlich »was nicht Glück ist«, das heißt aus einer Verneinungspartikel und jiddisch »masol, mazal« (»[Glücks-] Stern, Gestirn«); oder das Bestimmungswort

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»Prodigien« als »düstere« Vorzeichen gesehen wurden, vermochte aber anderseits auch als göttliches Zeichen, als Prophezeihung auf frohe, ja heilige Ereignisse hinzuweisen, wie der Stern von Bethlehem im Neuen Testament als Wunderzeichen auf die frohe Botschaft der Geburt Jesu hinweisen sollte. 52 Diese Deutungsstrategie zeichnet sich in der Regel durch ein strukturelles quidproquo aus, das ein post hoc als ein propter hoc fehlinterpretiert: Ein zufälliges temporales Nacheinander von Ereignissen bzw. deren kontingente Koinzidenz oder deren zeitliche Nähe zueinander wird als ein von überirdischen Mächten oder von dämonischen Kräften intendierter Akt gedeutet, also in einer vermeintlichen Ursache-Wirkung-Beziehung intentional- und kausallogisch miteinander verknüpft, sodass als Ursache für ein Naturereignis sowohl ein »Um-zuMotiv« wie auch ein »Weil-Motiv« (Alfred Schütz) unterstellt wird. Mit der Abschaffung des Teufels transformierte sich auch die Semiotik des Bösen. Zunächst Lavater und andere, wie Gall53 und sein Mitarbeiter Spurzheim, suchten die Merkmale empirisch mit Hilfe der sich etablierenden Kulturen des Humanwissens zu lokalisieren, um den Charakter des Menschen »wissenschaftlich« und nicht theologisch (durch den Sündenfall und die Erbsünde) zu erklären. In Lavaters Physiognomik erfolgte die Bestimmung aufgrund der Schädelform, ähnlich wie in der Kraniologie und Phrenologie des zu Lebzeiten ungemein populären Franz Joseph Gall. Der Kriminalanthropologe Heinroth hingegen suchte etwas später in seiner »Criminal-Psychologie« den »geborenen Verbrecher« durch dessen Mimik und Gestik zu entlarven und nannte sein Verfahren bereits explizit »semiotisch«.54 In der anschließend sich entwickelnden Völkererklärt sich aus nhd. »schlimm«, sodass das Kompositum die Bedeutung »schlimmer, schlechter Stern, Unglücksstern«, also »Unglück, Missgeschick« annimmt. Vgl. den entsprechenden Eintrag im DWDS, dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache. 52 Zur Veranschaulichung vgl. die Bilder im Augsburger Wunderzeichenbuch, das vermutlich Mitte des 16. Jahrhunderts entstand. 53 Franz Joseph Gall: 1758–1828. Naturforscher und Anthropologe. Ausgewählte Texte, eingeleitet, übers. und kommentiert v. Erna Lesky, Bern, Stuttgart, Wien 1979. Sein sechsbändiges Hauptwerk Sur les fonctions du cerveau erschien 1822 bis 1825 in Paris. 54 Zur klassischen Organologie Galls vgl. Joachim Gessinger und W. v. Rahden, Theorien vom Ursprung der Sprache, in: dies. (Hg.), Theorien vom Ursprung der Sprache, Berlin, New York 1989, Bd. I, S. 1-41, hier: S. 28-39; zur Semiotik des Bösen vgl. Johann Christian August Heinroth, Grundzüge der Criminal-Psychologie, oder: Die Theorie des Bösen in ihrer Anwendung auf die Criminal-Rechtspflege, Berlin 1833; zur kriminalanthropologischen Position Heinroths vgl. auch W. v. Rahden, Orte des Bösen (Anm. 40), S. 44 f.

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kunde herrschte häufig eine Tendenz vor, diese Verfahren nicht nur aufs Individuum, sondern auf ganze Gruppen und Völker anzuwenden und mündete schließlich in die berüchtigte Rassenkunde ab Mitte des 19. Jahrhunderts, bis dann der Nationalsozialismus diese Strategie so verallgemeinerte, dass die Zeichen des Bösen vor allem den sogenannten »Untermenschen« zugeschrieben wurden. Was epistemologisch eher folgenlos als naturalistischer oder moralistischer Fehlschluss oder theoretisch-philosophisch als Kategorienfehler erscheint, zeigt erst in seinen realen Auswirkungen seinen mörderischen Effekt: Die politisch-ideologische Umsetzung einer pseudo-wissenschaftlichen These konstituiert historisch eine Wirklichkeit, einen »fait social« (Émile Durkheim), ein »Dispositiv« (Michel Foucault), das Rassen-, Klassen- und Volksfeinde nunmehr ebenso antagonistisch ausgrenzt wie vordem die theologische Feindbestimmung ihre Hexen, Ketzer und Häretiker. Festzuhalten bleibt: Wir können einen doppelten und unterschiedlichen Signifikationsprozess nach dem epistemologischen Einschnitt in der Uminterpretation des Bösen beobachten. Die »Abschaffung des Teufels« generiert zunächst innerhalb der Theologie, dann durch die aufstrebenden neuen Wissenschaften avant la lettre wie Anthropologie und Psychologie zwei gegenstrebige Entwicklungen in der Transformation des Bösen: Zum einen gibt es eine Internalisierungsbewegung sowohl innerhalb des ethischen Diskurses (Entstehung des Gewissens) wie auch innerhalb des Wissenschaftsdiskurses (Primat der genetischen Ausstattung, der angeborenen Veranlagung gegenüber der Umwelt, wie Milieu, Erziehung etc.). Zum andern gibt es eine Externalisierungsbewegung durch Wissenschaften wie Soziologie (Milieutheorie) und Sozialpsychologie (Behaviorismus), aber auch durch einige marxistische Grundannahmen (»der Mensch als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse«). Diese Externalisierungsbewegung verortet die Verursachung des Bösen, das nun nicht mehr so genannt wird, abermals in äußeren Verhältnissen: Nicht mehr der personalisierte Satan, wohl aber gesellschaftliche Bedingungen werden, wie bereits von Rousseau und Marx, für die »bösen« Verwerfungen namhaft gemacht. Der Entmächtigung des Teufels folgte im Jahrhundert darauf auch das proklamierte Ableben seines Widerparts: Nietzsche verkündet den »Tod Gottes«, und im »real existierenden Sozialismus« ungefähr eine Generation später wird dieser Tod auch als verordneter Atheismus im politischen System verankert. Allerdings zeigen heute die »real existierenden« monotheistischen Religionen, dass Totgesagte nur allzu oft länger leben als gedacht oder dass sie in Gestalt fundamentalistischer Radikalisierungen gar als mehr oder minder militante Wiedergänger zurückkehren können.

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»Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben«, heißt es in Goethes Faust; »den Bösen sind sie los, das Böse ist geblieben«, konterte Hegel.55 So sehen wir erstaunt die stete Renaissance einer Idee des Bösen, die zahlreiche Denker – die sich in der Tradition der Aufklärung sehen – offenbar zu vorschnell für erledigt hielten.

ZEICHEN DES BÖSEN ALS GESCHICHTSZEICHEN Geschichtszeichen wie die Französische Revolution, wenn man sie denn als ein solches bezeichnen will, erweisen sich im Prinzip zunächst einmal als semantisch offen und bedeutungsmäßig neutral, zumindest nicht von vornherein in der Bewertung positiv oder negativ determiniert, obwohl als letzte Interpretationsinstanz freilich die jeweilige Sprachgemeinschaft in ihrer Mehrheit in einer historischen Situation und in the long run empirisch über den üblichen Gebrauch und damit auch über die Bedeutung, die herrschende positive oder negative semantische Aufladung eines speziellen Begriffs befindet. Anders bei den sogenannten »Zeichen des Bösen«: Hier liegt quasi per definitionem eine negative semantische Besetzung vor (es sei denn, man wäre praktizierender Satanist oder Sympathisant von »Schwarzen Messen«). Zeichen des Bösen können dabei selbst die Rolle eines Geschichtszeichens einnehmen, etwa wenn periodisch wiederkehrend bibeltreue christliche Sekten den nahenden Weltuntergang prophezeien (und sich vorsorglich vorzugsweise auf den Berg Ararat zurückzuziehen pflegen, wo angeblich bereits Noah Rettung erfahren hatte), weil sich die »Endzeichen« unübersehbar mehren würden (zum Beispiel verheerende Kriege, Epidemien, Naturkatastrophen), wie sie in der »Offenbarung« des Johannes beschrieben und vorhergesagt werden:56 Diese

55 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Hexenküche, V 2509; G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Vorrede zur zweiten Ausgabe (1827), in: ders., Werke (Anm. 1), Bd. 8, Frankfurt a.M. 1979, S.15. 56 Die apokalyptische Zeichendeutung erfolgt in biblisch-christlicher Tradition und orientiert sich vor allem an der Offenbarung des Evangelisten Johannes (Kapitel 6), in der die vier apokalyptischen Reiter als Boten des Jüngsten Gerichts den Weltuntergang allegorisch veranschaulichen. Aber auch in anderen Bibel-Textpassagen wie in Matthäus (24) werden eine Reihe von Endzeichen erwähnt: »Denn es wird sich empören ein Volk wider das andere und ein Königreich gegen das andere, und werden sein Pestilenz und teure Zeit und Erdbeben hin und wieder […] es werden sich viele falsche Propheten erheben […] da wird sein Heulen und Zähneklappern.« Zur Deutung

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wiesen untrüglich auf die vermeintlich bevorstehende »Apokalypse« hin und sollten das »Armageddon« und den »Tag des Zorns und der Rache«, den »dies irae« ankündigen. Eine derartige Semiotik bewegt sich innerhalb der universalen und globalen Logik einer eschatologischen Geschichtsauffassung im Kontext des christologischen Diskurses: Das Ende der Geschichte, das »post-histoire«, tritt dann ein, wenn Christus wiederkehrt, um »Weltgericht«, also das »Jüngste Gericht« zu halten.57 Ein katastrophisches und apokalyptisches Geschichtszeichen verweist als vermeintliches signum prognostikon auf diesen Endzustand, das befürchtete oder erhoffte (nahe?) Weltende. Diese Position zur Geschichte wird nicht nur von esoterischen christlichen Sekten vertreten, die man allenfalls belächeln könnte, sondern ist weit verbreitet unter Evangelikalen in den USA, die Einfluss nehmen auf die amerikanische Politik und die vom heilsgeschichtlichen Motiv der endzeitlichen Entscheidungsschlacht geleitet werden. Man denke an Ronald Reagans Aussage aus dem Jahre 1983, man sei in die Entscheidungsschlacht im Kampf gegen das Böse, in die Phase des »Armageddon« eingetreten, wobei zunächst noch der Sowjetkommunismus als das »Reich des Bösen« gesehen wurde, bevor er – nach seinem Zusammenbruch – von den islamistischen »rogue states«, den arabischen »Schurkenstaaten«, in dieser Rolle abgelöst wurde, als George W. Bush jun. zum Kampf gegen die »Achse des Bösen« aufrief. Die US-Republikaner – von Evangelikalen ideologisch dominiert – orientieren sich in ihrer Politik mehr oder

der apokalyptischen Tradition vgl. detaillierter Johannes Fried, Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs, München 2016. Der weit verbreitete Glaube an göttliche Geschichtszeichen, dem nicht nur Herrscher, Heerführer und Priester anhingen, zieht sich als ein prophetischer Leitfaden von der Antike bis in die Neuzeit. Man denke etwa an den 30jährigen Krieg, in dem Wallenstein vor Beginn einer jeden Schlacht seinen Astrologen Seni zu konsultieren bestrebt war, um zu erfahren, ob die Konstellation der Gestirne ihm gewogen seien. Zur Deutungsperspektive dieses Krieges aus zeitgenössischer astronomisch-astrologischer Sicht mit dem »Winterkometen« von 1618 als Interpretationsfokus vgl. Andreas Bähr, Der grausame Komet: Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Hamburg 2017. Vgl. auch Georg Schmidt, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 2018. 57 Diese Interpretationslinie universalgeschichtlicher Topoi von Hegel über Marx zu den Evangelisten und den sich auf sie berufenden Evangelikalen zeigt auch der Titel eines der späten Werke von Kittsteiner: Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht (Anm. 20).

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minder stark an biblischen Narrativen,58 ähnlich wie islamische Theokratien (etwa Saudi-Arabien oder der Iran) ihre Politik an den Narrativen des Koran ausrichten (und Chomeini wie Saddam Hussein führten vor einigen Dekaden nicht nur den Kampf gegeneinander, sondern verkündeten beide vor allem den Kampf gegen den »Satan aller Satane« USA, so wie ihn noch heute militante islamistische Gruppierungen propagieren).59 Unter anderem hat diese Konfrontation Samuel Huntington in seiner These vom »Kampf der Kulturen« 60 zu einer Theorie des antagonistischen Entscheidungskampfes zugespitzt (auch wenn er neuerdings offenbar nicht mehr vorrangig den Islam, sondern die »Hispanics« als Hauptgefahr für die traditionelle US-Kultur einschätzt). Die Positionen von Reagan und Bush muten indes politisch geradezu harmlos an, vergleicht man sie mit jener von Stephen Bannon, dem ehemaligen Chefideologen in Donald Trumps Regierungsmannschaft, Anhänger der nationalistischen und rassistischen »AltRights« (»Alternativen Rechten«) und Verfechter einer Geschichtstheorie in Kreisläufen (»turnings«), wobei die letzte Phase (»fourth turning«) als diejenige angesehen wird, in der sich Amerika derzeit befinde: eine Krisenphase, in der die alte Ordnung mit geschichtlicher Notwendigkeit einstürze und eine neue errichtet werde.61 Unter dem Blickwinkel der ökonomischen Dominanz von weltweit operierenden Konzernen, von global agierenden Medien, des Internets und von sozia58 So wie einst die Physikotheologen das »Buch der Natur« anhand der »Heiligen Schrift« auslegten, so lesen heute die Evangelikalen das »Buch der Geschichte« ebenfalls am Interpretationsleitfaden des »absoluten Buchs«. 59 Allerdings lehrt die Erfahrung auch, dass religiöse Ideologien nur allzu oft machttaktisch zur Legitimation oder Verschleierung von höchst weltlichen persönlichen, politischen, militärischen und ökonomischen Interessen instrumentalisiert werden und dabei weltanschauliche Allianzen etwa mit nationalistischen und/oder rassistischen Ideologemen eingehen können. Vgl. hierzu Michael Mann, The Sources of Social Power, 2 vols., Cambridge, UK 1986, 1993 (Geschichte der Macht, 3 Bde.: 4 Teilbde., Frankfurt a.M. 1991, 1998, 2001). 60 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 (Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, übers. v. Holger Fließbach, München, Wien 1996). 61 Vordenker dieser amerikanischen Geschichtstheorie in Zyklen sind William Strauss und Neil Howe, Generations: The History of America’s Future. 1584 to 2069, New York 1991. Zum semantischen Wandel des Begriffs »Alternative« vgl. W. v. Rahden, Alternative. Zur politischen Karriere eines Begriffs, in: Falko Schmieder und Georg Toepfer (Hg.), Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2018, S. 23-31.

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len Netzwerken, die den Weltmarkt frei flottierender Zeichen beherrschen und als Beschleuniger der globalen Durchsetzung des Marktes fungieren, erscheint Kittsteiners Idee einer gegenwärtigen vierten Stufe nicht nur aus ökonomischer, sondern auch aus medientheoretisch-semiotischer Sicht nur allzu plausibel: der Eintritt in die »Globalisierungsmoderne«, welche die »heroische Moderne« abgelöst hat.62 Auch der »Markt der Zeichen« hat sich als Folge des World Wide Web weitestgehend globalisiert und sich dem ökonomischen Weltmarkt angeglichen: Zeichen, Waren, Menschen (wenn auch mit Einschränkungen) und Kapitalströme flottieren tendenziell ungehindert um den Globus. Und auch die Zuschreibung und Proklamation apokalyptischer Zeichen sind durch Verbreitung über die neuen Medien universell geworden.

EINE UNVERZICHTBARE EPISODE Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern. André Malraux (zugeschrieben)

Eine Semiotik bzw. Semiologie historischer Phänomene kann – das muss nachdrücklich hervorgehoben werden – lediglich einen formalen Orientierungsrahmen bieten, um geschichtliche Daten einzuordnen, zu klassifizieren und zu kontextualisieren. Weder kann eine historische Semiotik in diesem Sinne die Kärrnerarbeit an der Erschließung der historischen Quellen noch die interpretatorische Deutungsarbeit an den Quellen ersetzen, sie jedoch flankierend unterstützen und die Daten zeichentypologisch erfassen und ordnen. Um es nochmals zu betonen: Kittsteiner hat keinem »semiotic turn« in der Geschichtswissenschaft das Wort geredet, wohl aber die Relevanz der symbolischen Formen im Rekurs auf Ernst Cassirer63 betont, mit dessen differenzierter Zeichentheorie64 er seine eigene Geschichtsschreibung erweitern und die Einheit

62 Vgl. H. D. Kittsteiner, Die Stufen der Moderne (Anm. 7 u. 47). 63 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Berlin 1923-1929. 64 Unter »Zeichentheorie« (Semiotik, Semiologie) subsumiere ich ebenso die neukantianische Theorie symbolischer Formen von Ernst Cassirer wie die »French Connection« in der Tradition der (strukturalistischen) Semiologie von Ferdinand de Saussure oder auch die »Anglo-Saxon-Connection« in der Tradition der (pragmatistischen) Semiotik von Charles Sanders Peirce und Charles William Morris.

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von Gegenstand und Methode der Stufengeschichte absichern wollte. 65 Dabei hat Kittsteiner stets das Vetorecht der historischen Quelle unterstrichen. Er war der Auffassung, dass dieses Einspruchsrecht letzter Instanz gerade auch jener Strategie entgegenwirken könne und müsse, welche die jeweiligen historischen Ereignisse im Namen einer Ideologie oder hermetischen Theorie lediglich als Illustrationen für Fußnoten vereinnahmt und zur bloßen Legitimation eines vorab gesetzten geschlossenen System-Konzeptes depotenziert. Der Historiograph hat es jedoch mit Quellen unterschiedlichster Provenienz, Güte und variierendem texttypologischem Status zu tun, die indes allesamt als Zeichen gesehen werden können. Eine lectio semiotica historischer Dokumente bzw. Quellen bedarf allerdings der differenzierenden Bestimmung und der angemessenen Interpretation. Semiotische Theorieansätze können hierfür einen formalen frame66 bieten, innerhalb dessen eine Deutung historischer Phänomene einen systematisierbaren Ort für das jeweilige empirische Dokument fände. Mit seinem Konzept der »Stufen der Moderne« wirft Kittsteiner nicht nur retrospektiv einen Blick zurück, sondern sucht, wie ich meine, Entwicklungsstufen freizulegen, die den Denk-Raum weiten für ein historiographisches »Vorwärtserinnern«.67

65 Vgl. H. D. Kittsteiner, Wir werden gelebt (Anm. 47), e. g. S. 9. Cassirers Symboltheorie zeichnet sich unter anderem auch dadurch aus, dass sie sich nicht nur für sprachliche, sondern ebenfalls für visuelle Zeichen als anschlussfähig erweist, wie zum Beispiel Ernst Panofsky überzeugend gezeigt hat: Perspektive als symbolische Form, in: F. Saxl (Hg.), Vorträge der Bibliothek Warburg 1924-1925 (Anm. 11), S. 258-330. 66 Ich übernehme den Terminus »frame« im Anschluss an Erving Goffman, RahmenAnalyse, Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, übers. v. Hermann Vetter, Frankfurt a.M. 1974 (Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York 1974), und verwende frame und framing nicht in der – populär gewordenen – medientheoretisch zugespitzten und neurolinguistisch und kognitionspsychologisch verkürzten Version von George Lakoff und Elisabeth Wehling, Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2008. Zur Übertragung des Terminus für eine linguistische Analyse der Sprache der Politik vgl. auch Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016. 67 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung (1843), hg. v. Hans Rochol, Hamburg 2000 (Philosophische Bibliothek, Bd. 515). Ich gehe in diesem Fall das Wagnis ein, eine existenzphilosophische Denkfigur Kierkegaards für eine historiographische Perspektive zu öffnen.

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Seinen allerletzten Text, geschrieben 2008, nannte Kittsteiner »Unverzichtbare Episode«.68 Er beschrieb hier autobiographisch Ereignisse während des Umbruchs im zweigeteilten Berlin im Kontext der 68er-Studentenbewegung. Sein Essay endet mit dem Fall der Mauer 1989: Kittsteiner überquerte die Grenze gemeinsam mit der euphorisierten Menschenmenge am Brandenburger Tor. Was für ein coup d’oeil! Dies war ein Ereignis, das gleichsam den Schlusspunkt unter die »heroische Moderne« setzte, gewissermaßen ein letzter »heroischer geschichtsträchtiger Akt«, an dem überdies der Autor selbst als ein Akteur mitwirkte (um es leicht ironisch zu sagen). Dieses Geschichtszeichen erlebte er auch als beteiligter Zeitzeuge, nicht nur post festum als professioneller Zeithistoriker.69 Hier zumindest wurde jenes Diktum widerlegt, der Zeitzeuge sei der größte Feind des Historikers70 – die vermeintliche Feindschaft zwischen dem Zeitzeugen und dem Historiker hob Kittsteiner auf durch eine freundschaftliche Allianz zwischen beiden.

68 H. D. Kittsteiner, Unverzichtbare Episode. Berlin 1967, in: Zeitschrift für Ideengeschichte: Die Insel West-Berlin, Heft II/4 (Winter 2008), hg. v. W. v. Rahden und Stephan Schlak, S. 31-44. 69 Zwischen den beiden – im Prinzip freilich eurozentrierten – Geschichtszeichen von Paris und Berlin liegen genau 200 Jahre: 1789 nahm Kittsteiner als Historiker wahr, 1989 erlebte er auch als Mitbeobachter. 70 Zu diesem geflügelten Wort vgl. etwa Wolfgang Kraushaar, Der Zeitzeuge als Feind des Historikers? Neuerscheinungen zur 68er-Bewegung, in: Mittelweg 36, Heft VIII/6 (1999), S. 49-72.

Die unsichtbare Hand sichtbar machen Heinz Dieter Kittsteiners Programm einer »Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte« Rüdiger Zill

WAS HEISST »BEGRIFFSGESCHICHTE ALS KULTURGESCHICHTE«? Heinz Dieter Kittsteiners großes Thema war Geschichtsphilosophie und die Kritik an ihr. Diese Thematik steht dann auch meist im Mittelpunkt der bislang ohnehin noch spärlichen Auseinandersetzungen mit seinen Arbeiten. 1 Dabei kann man leicht die Komplexität seines vielschichtigen und in sich stark vernetzten Werks übersehen. Zu den bislang wenig beachteten, dennoch zentralen und außerordentlichen Aspekten gehört seine Konzeption der Begriffsgeschichte. 2 In der Einleitung seiner Habilitationsschrift führt Kittsteiner sie exemplarisch ein, 3 indem er sie von der herkömmlichen Herangehensweise am Beispiel des zentralen Gegenstands seines Buchs abgrenzt: 1

Vgl. Sinn/Bild der Geschichte. Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner, Universitätsschriften 35, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), hg. v. Agnieszka Brockmann, Jannis Wagner, Frankfurt (Oder) o. J. (2017), s.a. Gedenkschrift für H.D. Kittsteiner (1942–2008), hrsg. für die Kulturwissenschaftliche Fakultät von Gangolf Hübinger, Frankfurt (Oder) 2009.

2

Immerhin hat sie in dem zentralen Überblickswerk zur Begriffsgeschichte, das unlängst erschienen ist, einen durchaus ausführlicheren Platz gefunden. Vgl. Ernst Müller, Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 740–746.

3

Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. 1991, S. 13–18.

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»Eine traditionelle Begriffsgeschichte des Gewissens kann zeigen, wie in den letzten Jahrtausenden und Jahrhunderten über das Gewissen gedacht wurde; sie erforscht synchron den Wortgebrauch zu einem bestimmten Zeitpunkt und spürt diachron einem möglichen Begriffswandel nach. Den Wandel der Wortbedeutungen erklärt sie aus den Rezeptionsbedingungen der Tradition, die ja in sich nichts Einheitliches ist, sondern die einen vielfältig verschlungenen Kanon bildet, aus dem diese oder jene Schwerpunkte abrufbar sind.«4

Obwohl diese Charakterisierung sich noch auf die überkommene Methode bezieht, enthält sie ein Element, das – scheinbar selbstverständlich – in Wirklichkeit noch keineswegs Bestandteil des allgemeinen Bewusstseins ist. Was mit dem kleinen Wort »ja« als fraglos unterstellt und damit fast ein bisschen verharmlost wird, ist die Tatsache, dass Begriffsgeschichte nicht linear verläuft, sondern aus mehreren konkurrierenden Strängen besteht und zuweilen gerade auch im Gegeneinander verschiedener Positionen ihre Dynamik erhält. Das ist – wie sich im Weiteren noch zeigen wird – durchaus nicht der allgemeine Stand der Theorie. Aber Kittsteiner geht selbst darüber hinaus: »Eine Begriffsgeschichte als Mentalitäts- und Kulturgeschichte will mehr und anderes: sie will zeigen, wie dieser Bedeutungswandel des Begriffs zusammenhängt mit den Versuchen, dieser zu schwachen Anlage im Menschen ›Gehör‹ zu verschaffen.« 5 Die einzelnen Begriffe seien immer Bestandteil eines Diskurses, und dieser Diskurs sei zeitgebunden. Man müsse also die umfassenden Weltbilder rekonstruieren, in denen die Begriffe eingebunden waren. Das allein unterscheidet sich natürlich noch nicht von einer herkömmlichen Begriffsgeschichte. Wichtig ist, dass die Diskurssprachen »kein starrer Käfig« sind, »sie verändern sich, und die Frage ist, warum. Moraltheologische und moralphilosophische Diskurse beziehen den Realitätsgehalt ihrer Begriffe aus einem vorgegebenen ›Erfahrungsraum‹, zugleich sind sie aber auch intentional und bilden einen ›Erwartungshorizont‹ aus.«6 Nicht allein die Wandlungen des Begriffs interessieren also, sondern das, wofür diese Wandlungen einstehen, das heißt die realen Erfahrungen von Individuen und auch die darauf reagierenden Versuche, den Gegenstand der Diskurse, also etwa das Gewissen, zu verändern. Kittsteiner entlehnt hierfür mit »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« zwei zentrale Begriffe von Reinhart Koselleck.7 4

Ebd., S. 15.

5

Ebd.

6

Ebd., S. 16.

7

Vgl. Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349–375.

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Damit kommt aber neben der traditionellen Begriffsgeschichte ein anderer Gegner in den Blick: der strukturalistische Ansatz des frühen Michel Foucault, von dem sich Kittsteiner allerdings nur en passant in einer Fußnote absetzt.8 Haargenau dieselbe Art der Kritik findet sich schon in der Dissertation, auch dort nur in einer Fußnote, allerdings etwas ausführlicher: »Im Gegensatz zu einer ›Archäologie des Wissens‹ betrachten wir unsere Untersuchung als eine ›interpretative Disziplin‹. Wir nehmen den zu analysierenden Diskurs als ›Zeichen für etwas anderes‹, weil wir davon ausgehen, daß er sich im Augenblick seines Entstehens seiner Bedingungen nicht bewußt sein konnte. Er wird erst transparent im Verlauf des historischen Prozesses, vor dem Hintergrund eines anderen, kritischen Diskurses. Er wird darum nicht auf jenen zweiten Diskurs reduziert, sondern hebt sich erst vor ihm in seiner Spezifik ab.«9

Der Diskurs reagiert also auf die Erfahrungen der Individuen, die ihnen aber oft so alltäglich sind, dass sie ihre Spezifik gar nicht erkennen; sie sind ihnen gewissermaßen in ihr geistiges Fleisch und Blut übergegangen. Dennoch wird »auf der Grundlage eines realistischen Erfahrungsraums […] ein plausibler Erwartungshorizont entwickelt […]; ein empirisch begründbarer Sündenpessimismus führt 8

Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 415, Anm. 3.

9

Heinz-Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980, S. 226, Anm. 1. Die Zitate im Zitat beziehen sich auf Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1973, S. 198 f. In den Haupttext rückt Kittsteiners Auseinandersetzung mit Foucault erst 1998 ein, vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Die Listen der Vernunft. Über die Unhintergehbarkeit geschichtsphilosophischen Denkens, in: ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M. 1998, S. 27–31, dort fokussiert auf den Begriff der Archäologie. Die Stoßrichtung der Kritik bleibt auch in dieser Passage dieselbe: »In diesem ikonoklastischen Eifer zerstört Foucault zugleich auch die geschichtsphilosophisch-allegorische Struktur der Geschichte; sie wird nicht einmal als Möglichkeit noch wahrgenommen. Wenn es ihn nicht mehr interessiert, danach zu suchen, ›wo der Autor und das Werk ihre Identität austauschen‹, berechtigt ihn das nicht, zugleich auszublenden, ›was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen,hat gedacht, gewollt, anvisiert, verspürt, gewünscht werden können‹. Denn darin besteht ihre condition humaine in der Geschichte, sie wissen nicht wirklich, was aus ihren Intentionen wird. Wenn ich an dieser Spannung zwischen Intention und Resultat nicht mehr interessiert bin – wozu schreibe ich dann Geschichte?« (hier: S. 29, mit Zitaten aus Foucault, Archäologie des Wissens, S. 199).

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dann beispielsweise zu einer Theologie des Zornes und der Gnade, die Straf- und Lohnorte im Jenseits verheißt.«10 Zu einem bestimmten Zeitpunkt aber kommt eine besondere Dynamik in den Diskurs; er verliert seine selbstverständliche Gültigkeit: »… ohne Zutun und ohne Erlaubnis des noch vorherrschenden Diskurses geraten seine Prämissen ins Wanken« und zwar nicht unbedingt weil er widersprüchlich in sich selbst wird, denn »die Neuerungen können aus ganz anderen Bereichen des Denkens kommen, etwa aus der mechanischen Philosophie oder aus Veränderungen der Kosmologie.« Der alte Diskurs verliert seine Glaubwürdigkeit, die mit ihm verbundenen Strafpraktiken ihren Schrecken: »Die vormaligen Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte verblassen; die Diskurse des Gewissens passen sich diesem kulturellen Wandel an.«11 Allerdings – und das belegt, dass die Verbindung von Erfahrungsraum und Diskurswelt nicht eindimensional ist – kann auch das Gegenteil geschehen: Die Diskurse ändern sich, weil »die Menschen so bleiben, wie sie sind«.12 Bezieht man diese Wandlungen noch einmal auf Kittsteiners Bemerkung zu den zwei aufeinander verweisenden Diskursen, wird klar, was damit gemeint ist, dass der eine nicht auf den anderen reduziert, sondern vor dem Hintergrund des anderen, des kritischen, transparent werde. Eine Mentalität wird ihren Trägern erst vor der Folie einer alternativen Möglichkeit bewusst. Die Kritik eines nachfolgenden Diskurses versetzt das Selbstverständliche in Distanz zu den sich immer schon so Verstehenden und lässt sie nun durch den Kontrast sich überhaupt erst einmal als solche selbst verstehen, das heißt: Ein Selbstverständnis wird erst sichtbar, wenn es sich zu zersetzen beginnt.

10 Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 16. 11 Ebd. 12 Ebd.

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KITTSTEINERS DISSERTATION UND IHR METHODISCHER ANSPRUCH Das ist, kurzgefasst, Kittsteiners Programm einer Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte, die in der Habilitation dann exemplarisch vorgeführt wird. Entwickelt wurde die Konzeption aber bereits – das deutete sich schon an – in der Dissertation. Dort nimmt sie zunächst die Gestalt einer Auseinandersetzung mit Positionen vor allem der Metapherntheorie an.13 Kittsteiner verspricht in der Einleitung eine Diskussion des Verhältnisses von Begriffen und Metaphern in der Marx’schen Geschichtsphilosophie. Inhaltlich geht es also um ein zur Entstehungszeit der Dissertation heiß umkämpftes Thema. Die Art, wie er das Thema diskutiert, führt aber zu methodologischen Ansätzen, die über den konkreten Fall hinausreichen. Um seine Sache zu verdeutlichen, setzt er sie von einem Gegner ab; dieser Gegner ist Louis Althusser, der in der Tradition des frühen Gaston Bachelard fordert, alle Metaphorik sei in klare Begrifflichkeit aufzulösen. 14 Dagegen führt Kittsteiner Blumenbergs Begriff der absoluten Metapher ins Feld, wonach das cartesische Ideal einer Sprache, die clare et distincte alle Gegenstände direkt, also terminologisch zu erfassen wüsste, nicht verallgemeinert werden kann. 15 Viele Gegenstände der Erkenntnis, vor allem auch solche, die sich der praktischen Verfügbarkeit des Menschen entziehen, bleiben auf absolute Metaphern im Sinne von Hans Blumenberg angewiesen – so zum Beispiel und vor allem historische Prozesse.16 Das bedeutet jedoch keineswegs, dass man solche Prozesse nicht doch

13 Heinz-Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 11–33, insbes. S. 21– 24. 14 Ebd., S. 21 f. mit Verweis auf Louis Althusser, Für Marx, Frankfurt a.M. 1968, S. 31 ff. 15 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142, jetzt auch als ders., dass., Frankfurt a.M. 1998. 16 So heißt es bei Blumenberg zunächst unspezifisch: Absolute Metaphern »geben einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie überschreitbare Ganze der Realität« (1960, S. 20). Blumenberg selbst nennt Geschichte hier noch nicht als Kandidaten für absolute Metaphern. Sein näher ausgeführtes Beispiel ist »Wahrheit«. Kittsteiner ergänzt aber »Geschichte«, denn Metaphern repräsentieren nicht nur das von Blumenberg explizit genannte »Ganze der Realität«, »sondern ebensosehr die nicht bewußt erzeugbare Totalität der Geschichte« (Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 224, Anm. 55). In einem späteren Text wird auch für Blumenberg »Geschichte« neben »Welt«, »Leben« und »Bewußtsein« ein bevorzugtes Beispiel für absolute Metapho-

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wissenschaftlich erklären könnte. Marx habe das getan, er musste dabei aber im Feld absoluter Metaphorik bleiben. Er habe zum Beispiel, wenn er Hegel kritisiert und behauptet, man müsse den großen Vorgänger nur vom Kopf auf die Füße stellen, lediglich eine absolute Metaphorik durch eine andere ersetzt.17 Die Pointe dieses Vorgehens ist aber, dass Kittsteiner in seiner Einleitung in einer anderen grundsätzlichen Frage durchaus mit Althusser übereinstimmt. Denn wenn der Hauptautor von Lire le capital behauptet, dass jeder Philosoph seine Theorie nur durch Abgrenzung von einer anderen Philosophie entwickeln könne, das heißt auf dem Umweg über einen anderen Theoretiker, stimmt Kittsteiner ihm durchaus zu. Die Frage ist nur: Welcher Umweg führt zum richtigen Ziel? Marxʼ eigener Umweg hieß bekanntlich Hegel, Althusser zieht dagegen den Umweg über Spinoza vor. Denn auf diese Weise könne es gelingen, Marx von seinen verhängnisvollen Hegelianismen zu reinigen. »Ein Umweg also, aber über einen Umweg.«18 Kittsteiner meint hingegen, dass es gute Gründe dafür gebe, dass dieser Weg versperrt sei und man daher bei Marxens eigenem Umweg bleiben, ihn nur genauer nachschreiten müsse. Der Begriff des Umwegs, den Althusser und Kittsteiner hier scheinbar unschuldig bemühen, ist aber selbst eine Metapher – und zwar eine für die Methode. Das gilt schon für den Begriff, von dem sie abstammt, dem des Wegs, der seinerseits zu einer klassischen Umschreibung für die Methode geworden ist, eine schon so gebräuchliche sogar, dass man sie fast als tote Metapher bezeichnen könnte. Liest man Descartesʼ Discours de la méthode noch einmal mit dafür geschärften Sinnen – um nur ein prominentes Beispiel zu erwähnen –, wird einem die Omnipräsenz dieses Bilds auffallen.19 Was Descartes privilegiert, ist allerdings der direkte Weg, der zum Bild wissenschaftlicher Gradlinigkeit wird. Schon im Begriff »Methode«, zusammengesetzt aus meta (nach) und hodos (Weg) steckt ja ursprünglich die Weg-Metapher20 (wie übrigens auch im »Diskurs«, der ein Hin-und-her-Laufen, einen Streifzug, meint). Der Umweg ist also

rik, vgl. Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 116. 17 Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 24. 18 Louis Althusser, Elemente der Selbstkritik, Berlin 1975, S.73, zitiert nach Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 24. 19 Vgl. Rüdiger Zill, Auch eine Kritik der reinen Rationalität. Hans Blumenbergs AntiMethodologie, in: Michael Heidgen, Matthias Koch, Christian Köhler (Hg.), Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, Paderborn 2015, S. 53–74. 20 Vgl. Hans Blumenberg: Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode, in: Studium Generale V (1952), S. 133–142.

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eine Weiterentwicklung dessen, was zunächst ohnehin in der Metapher angelegt ist, ein Abweg vielleicht, aber doch auf alle Fälle ein Weg.21 Schon Blumenbergs absolute Metapher, von Kittsteiner adoptiert, ist eine Umwegsfigur. Denn sie zeigt das, wovon man keine Vorstellung hat, von dem man sich kein Bild machen kann, das man nicht einmal schematisch darstellen kann, über den Umweg einer Analogie, und zwar mit Kants Symbolbegriff, den die absolute Metapher beerbt, als Relation von Relationen.22 Im Unterschied zu solch einem identifikatorischen Umweg – man erkennt sich im Anderen –, geht Althusser aber einen dissoziativen Umweg. Er erkennt sich, indem er etwas am Anderen wahrnimmt, vor dem er sich abhebt. Blumenbergs absolute Metapher ist der analogisierende Umweg, die des Metaphernkritikers Althusser ein kritischer. Es ist das im Grunde strukturalistische Credo, dass sich jede Philosophie nur in Differenz zu anderen Philosophien selbst erfassen kann. In beiden Fällen, dem analogisierenden wie dem kritischen, ist der Umweg identitätsbildend; keiner der beiden ist aber eine naive Identifizierung. Die Dualität von Selbst und Anderem bleibt erhalten: bei Blumenberg als positiver Bezug, bei Althusser als negativer. In späteren Texten erhebt Blumenberg den Umweg übrigens zur philosophischen Methode schlechthin.23 Damit geht er einen Schritt weiter, weil der Um21 Diese Methode des Umwegs, die Kittsteiner hier an Althusser beschreibt, geht er selbst übrigens in extenso. Natürlich macht jeder solche Umwege mehr oder weniger. Kittsteiner macht aber einen ausgesprochen reichhaltigen Gebrauch von solchen Umwegen: über Herder, über Backhaus, über Althusser – über ein ganzes Bildungswissen. Dass wir einigen Debatten, die so noch einmal geführt werden, heute entwachsen sind, dass andere hingegen von Kittsteiner erst speziell ans Licht gebracht worden sind, das macht es uns heute nicht leichter, seine Texte zu lesen. 22 »Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken, der vorgreifend als aufschlußreich vermutet wird, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare.« (Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 116) Der Kantbezug der absoluten Metapher wird explizit in Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 10, vgl. a. Rüdiger Zill, Der Vertrakt des Zeichners. Wittgensteins Denken im Kontext der Metapherntheorie, in: Ulrich Arnswald, Jens Kertscher, Matthias Kroß (Hg.), Wittgenstein und die Metapher, Berlin 2004, S. 137–164, hier: S. 148–153. 23 Vgl. Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1980) 2, S. 57–61, hier: S. 58, auch unter https://www.deutsche akademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dankrede; ders., Realität und Realismus, hg. v. Nicola Zambon, Berlin 2020, S. 105–136.

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weg nun nicht nur ein einzelner Zug der Identitätsbildung wird, sondern explizit das, was auch in der absoluten Metaphorik schon angesprochen ist: ein multiples Weltverhältnis. Blumenberg ist darin aber keineswegs allein. Schon früh heißt es verallgemeinernd bei einem ganz anderen Autor, nämlich Günther Anders, dass Kultur recht eigentlich aus Umwegen bestehe, allerdings schlage diese Zielverzögerung, »dem herrschenden Ideal der Zeit: dem des Praktischen, ins Gesicht«.24 Kittsteiner benutzt beide Arten des Umwegs, denn im Grunde ist Althusser für ihn die Differenz, durch die er sich selbst erfasst, und Blumenberg die Vorgabe, deren Variation er übernimmt. Dabei bleibt er aber in dieser Variation der hermeneutischen Annäherung an seinen Gegenstand treu. Denn er kritisiert an Althusser, wenn nicht die umwegige Methode an sich, so doch die konkrete Art des Umwegs. Der Umweg über Spinoza, wie ihn Althusser bemüht, ist deshalb der falsche, weil das 17. Jahrhundert noch einen anderen Subjekt-Begriff hatte, als der von Althusser kritisierte Hegel. Mehr noch: Nicht allein der Begriff ist ein anderer, sondern auch die Erfahrung. Oder: Der Begriff ändert sich deshalb, weil die psychische Struktur der konkreten historischen Subjekte eine andere geworden ist. Hier deutet sich zum ersten Mal an, dass Begriffsgeschichte nicht reine Geistesgeschichte sein kann, sondern durch diese hindurch auf die Lebenswelten, also die Kulturgeschichte durchgreifen muss. Marx einen Umweg über Spinoza statt über Hegel gehen zu lassen, führt in sumpfiges Terrain: Auf ihm verfehlt man den Gegenstand. Um aber die Fruchtlosigkeit von Althussers Vorschlag zu zeigen, muss man die spezielle SubjektErfahrung, die hinter Spinozas Theorie steht, rekonstruieren. Dazu geht Kittsteiner nun einen weiteren Umweg, den über Nietzsche, der in einer Nebenbemerkung behauptet hat, Spinozas Subjekte verfügen noch nicht über ein modernes Gewissen.25 Kittsteiner flankiert dieses philosophische Bonmot mit einem Verweis auf die psychohistorischen Thesen des Kultursoziologen Norbert Elias. 26

24 Günther Anders, Kultur und Umweg. [Tagebuchaufzeichnungen]. In: Merkur 67 (August 1953), S. 864-872, wieder in: ders., Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens, München 1986, S. 114–117, hier: S. 116. 25 »Was Nietzsche bei Spinoza dargestellt findet, sind die Affekte von Menschen, die nicht von der Zensur eines Über-Ich reprimiert werden, denen es aber auch an einer ausgeprägten Ich-Identität mangelt.« Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 28, mit Bezug auf Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral, in: Werke in drei Bänden (1966), hg. v. K. Schlechta, München 19778, Bd. 2, S. 822–24; jetzt: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 5, München, 1988, S. 320 f. 26 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, besonders den Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Kittsteiner zitiert nach der im Exil erschienenen Basler Erst-

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Kittsteiner kann sein Programm, etwas zur Entwicklung des Subjekt- bzw. Gewissensbegriff zu sagen, hier in der Dissertation nur erst mit Unterstützung zweier affirmativ zu Hilfe gerufener anderer Theoretiker formulieren. Damit zeigt sich, dass der Umweg über Spinoza sein Ziel verfehlt, denn er folgt einem irreführenden Wegweiser. Zwar steht in beiden Fällen »Subjekt« auf dem Schild, doch ist jeweils etwas ganz anderes gemeint: Spinozas Subjekt entfaltet sich vor einem ganz anderen Erfahrungsraum als das von Hegel und damit auch das Marxʼsche. »Was aber bei Spinoza ›fehlt‹, und was Marx auch nicht von ihm lernen oder in der Kritik an Hegel wieder zurückerobern konnte, ist die Grundproblematik des geschichtsphilosophischen Denkens selbst: der Bezug von Mensch und Welt unter einer erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchbrechenden Erfahrung 1. eines sich selbst kontrollieren könnenden (bzw. sollenden) Subjekts und 2. einer sich in Bewegung setzenden ›Geschichte‹«27 Kittsteiner will nun das geschichtsphilosophische Denken in »seiner eigenen Bedeutung« erkennen, d.h. »in seiner theoretischen und historischen Genese«.28 Diese Doppelung von »theoretisch« und »historisch« ist hier zentral, aber sie meint nicht quasi tautologisch die historische Genese der Theorie rein immanent, etwa die Entwicklung der Theorie als historisch langsam und folgerichtig ablaufende, die theoretische Genese als historische:29 »in seiner theoretischen und ausgabe von 1939, vgl. jetzt ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3.2, Frankfurt a.M. 1997, S. 323–465. 27 Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 30 f. 28 Ebd., S. 31. 29 So wie man sich in den 70er Jahren lange darüber gestritten hat, ob die Marx’sche Wertformanalyse nun nur eine logische Rekonstruktion oder auch eine historische Abfolge sei, vgl. Wolfgang Fritz Haug, Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«, Köln 1974, Projekt Klassenanalyse; Vorlesungen zur Einführung ins Kapital. Über ›die arbeitende Klasse und ihre Freunde‹, in: Beiträge zum wissenschaftlichen Sozialismus, Nr. 1/1976, S. 2–29; Klaus Holzkamp: Die historische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durch J. Bischoff, in: Das Argument, Nr. 84, Februar 1974, S. 1–75. Für Kittsteiner besonders wichtig waren die Arbeiten von Hans-Georg Backhaus, Zur Dialektik der Wertform, Frankfurt a.M. 1969; ders., Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 1, hg. v. H.-G. Backhaus u. a., Frankfurt a.M. 1974; ders., Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie 2, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 3, hg. v. H.-G. Backhaus u. a., Frankfurt a.M. 1975; außerdem der Band: Aspekte der Marxschen Theorie 2: Zur Wertformanalyse. Beiträge von Dirk von Holt u. a., Frankfurt a.M. 1974. Kittsteiner hat zu dieser Debatte selbst auch einen

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historischen Genese« meint Theorieentwicklung, den Reigen der Ideen- oder Geistesgeschichte, Begriffs- und Metapherngeschichte, unterschieden von der Realgeschichte, aber in enger Verbindung mit ihr, etwa die Entstehung gesellschaftlicher und ökonomischer Verhältnisse, nicht zuletzt mentalitätsgeschichtlicher Konstellationen. Oder in den Worten Kittsteiners: »Geschichtsphilosophie gilt uns nicht als Störung auf dem Weg zum Nachweis der ›Wissenschaftlichkeit‹ des Marxschen Denkens, sondern es muß aus dem Umkreis seiner historisch-gesellschaftlichen Bedingungen begriffen werden.«30

Was hier gefordert wird, ist letztlich eine materialistische Geistesgeschichtsschreibung31 und damit die Anwendung der Marxʼschen Grundgedanken auf sein Denken selbst. Die beiden zuvor getrennten Teile dieses Denkens, der wissenschaftliche und der geschichtsphilosophische, müssen wieder zusammengeführt werden, und zwar so, dass die wissenschaftlich entwickelte Methode einer materialistischen Ideengeschichte, wenn auch in deutlich modernisierter Form, zur Deutung der geschichtsphilosophischen Elemente jener scheinbar ideologischen Versatzstücke benutzt wird. »Erst damit wäre die Vorstellung eines ›epistemologischen Bruchs‹ über das Maß einer begrenzten theoretischen Tatsache hinaus ausgeweitet auf einen Prozeß, der soziale, politische und theoretische Dimensionen umfaßt.«32 Und als hätte man es geahnt, heißt es dann auch: »Als ausholender Umweg zu Marx kann auch dieser Versuch betrachtet werden.«33

Beitrag geschrieben: »›Logisch‹ und ›historisch‹. Über Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft. (Engels’ Rezension ›Zur Kritik der politischen Ökonomie‹ von 1859)«, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 13. Jg. (1977), S. 1–47. 30 Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 31. 31 In der Dissertation hat Kittsteiner von sich durchaus als historischem Materialisten gesprochen, vgl. ebd. S. 226, Anm.1. Lucian Hölscher hat Kittsteiner einmal als »undogmatische[n] Edelmarxist[en] aus Berlin« bezeichnet, vgl. Lucian Hölscher, Abschied von Reinhart Koselleck (2006), in: Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, hg. v. Hans Joas und Peter Vogt, Berlin 2011, S. 84–93, hier: S. 86. 32 Ebd., S. 31. 33 Ebd.

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KITTSTEINER IM KONTEXT DER DEBATTE UM DIE GESCHICHTSPHILOSOPHIE Fragt man nun doch nach der inhaltlichen Debatte, in der Kittsteiner seine Problematik verortet, wird sehr schnell deutlich, dass es – ungeachtet seiner Diskussion von Wertformanalyse und Strukturalismus – noch einen ganz anderen, thematisch sehr viel näher liegenden Kontext gibt, einen sehr deutschen zumal: die Debatte um die Geschichtsphilosophie, wie sie spätestens mit Karl Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen begonnen hat. Kittsteiner führt diese Auseinandersetzung etwas versteckt erst zu Beginn seines zweiten Kapitels, sie ist dennoch zentral. Löwiths enorm einflussreiche Studie erschien zunächst 1949 im Exil unter dem Titel Meaning in History. Der Titel der 1953 veröffentlichten deutschen Fassung trifft die Sache jedoch ungleich pointierter. Denn, wie schon der Untertitel sagt, geht es um die »theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie«.34 Löwith verfolgt die geschichtsphilosophischen Argumentationsfiguren von Marx aus in der Geistesgeschichte zurück und gelangt über Hegel, Proudhon, Comte, Condorcet und Turgot zu Voltaire und Vico, um von dort aus den Weg zu Bossuet, Joachim von Fiore, Augustinus und Orosius zu finden, der dann in der biblischen Auslegung der Geschichte endet. Dies ist nun übrigens ein Weg, der an Geradlinigkeit seinesgleichen sucht. Die Grundidee ist sehr einfach: Von der Bibel bis zu Marx lässt sich ein durchgängiges Motiv finden: das des Heilsgeschehens, das zunächst noch unhistorisch war, um dann aber in der Neuzeit mit dem an sich unteleologischen antiken Begriff einer stetig verlaufenden Geschichte verbunden zu werden. Der Kern der Idee bleibt sich in allen neuzeitlichen Stadien dann aber gleich: Geschichte ist letztlich säkularisiertes Heilsgeschehen. Dass das, was hier betrieben wird, eine sehr einfache Form von Ideengeschichte ist, muss nicht extra betont werden, zumal die Geschichte, die derart erzählt wird, eigentlich eine unhistorische ist. Denn die Sache selbst, ihr Wesen, verändert sich geschichtlich kaum, nimmt nur unterschiedliche Einkleidungen an. Natürlich gibt es Differenzen zwischen dem antiken, dem biblischen und dem neuzeitlichen Weltbild, aber innerhalb der Großformationen verschwinden die Unterschiede als unwesentlich. Und dahinter steht ein unhistorischer Mensch. Fragt man nach der Funktion dieses Erklärungsmusters für Löwith, so ist die Antwort letztlich eine ideologiekritische. Denn für Löwith ist offensichtlich, dass diese Interpretation der Geschichte nicht mit der Empirie von Historikern über-

34 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart u. a. 1953.

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einstimmt, dass der »gesunde Menschenverstand«35 sehr schnell zeigt, dass es in der Geschichte keinen Sinn gibt. Das Festhalten an solch einem Sinn ist also ein »Verblendungszusammenhang«. Solch einer eschatologischen Auffassung von Geschichte hält Löwith schließlich als positive Alternative Jacob Burckhardt entgegen. An diese Ideenkonstellation schließen nun in den folgenden Jahrzehnten einige Autoren sehr affirmativ an. Wenige versuchen sie zu kritisieren. Dennoch führt diese Diskussion zu einer bald sehr intensiven Auseinandersetzung um die Säkularisierung. Die durch Löwith 1949 ausgelöste Kritik an der Geschichtsphilosophie war in den siebziger Jahren im deutschen Sprachraum übrigens so omnipräsent, dass Jacob Taubes, Kittsteiners Doktorvater36, 1973 schreiben konnte: »Geschichtsphilosophie ist im Kurse gefallen, und es sieht so aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose der Ideologie.«37 Bis dahin hatte immerhin ein Teil der Linken im Anschluss an Benjamin noch messianische Hoffnungen gehegt, u.a. Taubes selbst. Aber in diesem Aufsatz, einer Replik auf Koselleck in Band V von Poetik und Hermeneutik, endet Taubes selbst bei einer negativen Schwundstufe der Geschichtsphilosophie, einer Apokalyptik mit Verweis auf Günther Anders.38 Eher als späte Wortmeldung erscheint dazu im selben Jahr Odo Marquards Buch Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie39, in dem er seinerseits jede Form von teleologischer Geschichtskonstruktion kritisiert und ihr als Alternative die angeblich ebenfalls im 18. Jahrhundert entstandene Anthropologie gegenüberstellt. Marquard entwirft im Grunde eine genauso einfache Ideengeschichte; er motiviert den Sündenfall aber anders. Für ihn ist die Entstehung der Geschichtsphilosophie als Reaktion auf das Theodizeeproblem erklärbar. Wenn wir aus der Perspektive der Aufklärung nicht mehr im Leibnizʼschen Sinne in der besten aller Welten leben, wie kann dann der allmächtige und allgütige Gott entlastet, das heißt von dem Vorwurf freigesprochen werden, er habe entweder aus Unvermögen oder mit schlechten Hintergedanken eine unvollkommene Welt geschaffen? Marquards These ist, dass dies geschah, indem man die Verantwor35 Ebd., S. 181. 36 Taubesʼ einzige Monographie ist die Druckfassung seiner Dissertation: Abendländische Eschatologie (Bern 1947), auch sie ein Beitrag zur Geschichtsphilosophie. Interessanterweise erwähnt Kittsteiner weder dieses Buch noch irgendeinen anderen Text von Jacob Taubes in seiner Dissertation. 37 Jacob Taubes, Geschichtsphilosophie und Historik. Bemerkungen zu Kosellecks Programm einer neuen Historik, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik & Hermeneutik V), S. 490–499, hier: S. 490. 38 Ebd., S. 498 f. 39 Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973.

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tung dem Menschen zugeschoben habe. Damit verfehlt er aber die Pointe der Geschichtsphilosophie. Kittsteiner fasst das so zusammen: »Geschichtsphilosophie ist keine theoretische Veranstaltung zur Entlastung Gottes, sondern mit seiner ›Verzeitlichung‹ verändert sich das Theodizeeproblem selbst. Geschichtsphilosophie liefert eine Entlastung Gottes und des Menschen zugleich. Die noch nicht beste aller Welten kann besser werden, aber weder unmittelbar durch Gott noch unmittelbar durch den Menschen, sondern durch ein listiges Zusammenspiel von beiden im historischen Prozeß.« 40 Einer der wenigen anderen Autoren, die den rationalen Kern der Geschichtsphilosophie herauszuarbeiten versuchen, ist auch hier Hans Blumenberg. Er verteidigt die Geschichtsphilosophie, zwar auch nicht als gültiges Erklärungsmuster für das historische Geschehen – davon ist er selbst weit entfernt –, aber als Gedankenfigur im Kampf des Menschen gegen den Absolutismus der Wirklichkeit im Allgemeinen und den Absolutismus des übermächtigen Willkürgottes im Speziellen. Sie bezeichnet also nicht wie für Löwith oder Marquard einen Verblendungszusammenhang, sondern ein legitimes Mittel existentieller Notwehr. Doch bleibt auch bei Blumenberg die Analyse bei aller Liebe fürs Detail eine rein ideengeschichtliche, selbst wenn es bei ihm Ansätze gibt, die darüber hinausweisen. Denn der Anspruch der Metaphorologie – gerade wenn man sie noch einmal mit den geschichtsphilosophischen Überlegungen verbindet – ist es ja, in verborgene Sinnschichten einer Epoche vorzudringen. Sie soll an die »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen« herankommen, an die – wie es in dem suggestiven Schlusssatz der Einleitung von Blumenbergs Paradigmen einer Metaphorologie heißt – »Substruktur des Denkens […], an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen, aber sie will auch faßbar machen, mit welchem ›Mut‹ sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft.«41 Damit kann er mehr in den Blick nehmen, als sich in der Engführung der Löwith‘schen Geschichtsbetrachtung findet. Vor allem widerspricht Blumenberg ganz deutlich Löwiths Vorstellung von einer Ideenkonstanz: Die Umbesetzung der Figuren verschiebt nicht nur ihre ideelle Einkleidung, sie verändert sie auch in ihrer Bedeutung. Diese Figuren sind zudem kein Wahn, sondern werden zu einem Mittel der Emanzipation des Menschen, allerdings als Menschen im Allgemeinen. Geschichtsphilosophie ist damit nicht mehr das Andere der Anthropologie wie bei Marquard, sondern eine ihrer Hilfswissenschaften. Hier stößt auch Blumenberg an seine Grenzen. Denn de facto beschränkt sich seine Begriffs- und Metapherngeschichte darauf, die diachrone Entwicklung 40 Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 158. 41 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), S. 11; (1998), S. 13.

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durch synchrone Einbindung in die philosophischen, also theoretischen Kontexte zu verdeutlichen. Kittsteiner kommentiert das lapidar: »Allerdings ist Blumenberg entfernt davon, nach gesamtgesellschaftlichen Bezügen dieser theoretischen Disposition zu fragen.«42 Betrachten wir noch einen anderen einflussreichen Strang der Kritik an der Geschichtsphilosophie. Er leitet sich von Carl Schmitt her43 und hat seine bekannteste Variante in Reinhart Kosellecks Kritik und Krise gefunden,44 eben jenes Historikers, zu dem Kittsteiner dann in den achtziger Jahren auch als Assistent nach Bielefeld ging. Kritik und Krise ist sicher ein problematisches Buch. Der im Grunde antidemokratische und aufklärungsfeindliche Grundzug der schnell konstruierten Dissertation wird heute häufig ignoriert, auch wenn sie schon zur Entstehungszeit kritisiert worden ist.45 Der in der Tat große Vorzug der Studie, der auch Kosellecks weiteres Denken für Kittsteiner so interessant macht, ist aber, dass sie die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen aus dem rein geistesgeschichtlichen Kontext herausnimmt und ihre Gegenstände auf ihre politische Funktion hin betrachtet, auch wenn sie im Konkreten doch auf eine leidlich gewaltsame These hinausläuft. Die Bürger des 18. Jahrhunderts hätten danach vergessen, dass der absolutistische Staat des 17. Jahrhunderts zu ihrem Schutz geschaffen worden sei, nämlich als Institution, die die moralisch-religiösen Partikularansprüche der einzelnen Gruppen in den privaten Innenraum abdrängte und damit den daraus potentiell und manchmal auch real entstehenden Bürgerkrieg einhegte. Im 18. 42 Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S. 159. 43 Auch Carl Schmitt war ein Autor, von dessen Texten Kittsteiner sich inspirieren und die er durchaus auch in seinen Seminaren lesen ließ, nicht zuletzt weil Schmitt ein Autor war, der in Taubesʼ Institut für Hermeneutik an der Freien Universität Berlin ein, wenn auch »gegenstrebig« verehrter Autor war, vgl. Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt – gegenstrebige Fügung, Berlin 1987; Jacob Taubes – Carl Schmitt, Briefwechsel mit Materialien, hg. v. Herbert Kopp-Oberstebrink und Martin Treml, München 2012; zum atmosphärischen Hintergrund vgl. ansatzweise Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015 und Gerhard Poppenberg, Herbst der Theorie. Erinnerungen an die alte Gelehrtenrepublik Deutschland, Berlin 2018, vor allem Kap. II und den Anfang von Kap. III. 44 Aber auch jemanden wie Hanno Kesting kann man dazu zählen. Kesting, der zunächst Löwiths Meaning in History ins Deutsche übersetzt hat, schrieb dann selbst eine Dissertation, aus der sein Buch Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg hervorging, vgl. Hanno Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, Heidelberg 1959. 45 Vgl. Jürgen Habermas, Zur Kritik der Geschichtsphilosophie (R. Koselleck, H. Kesting) (1960), in: ders., Kultur und Kritik, Frankfurt a.M. 1973, S. 355–364.

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Jahrhundert traten diese moralischen Ansprüche wieder hervor und stürzten den Staat in die Krise, die im Chaos und in der Gewalt der Französischen Revolution endete. Das Moralische war politisch, verdeckte aber dieses Politische als Politisches. Diese für Koselleck ohnehin problematische Situation wird noch verhängnisvoller durch die hinzutretende Geschichtsphilosophie, die suggerierte, dass die moralischen Forderungen sich historisch von selbst durchsetzen werden, die bürgerliche Kritik also nicht nur moralisch richtig, ihr Sieg vielmehr auch historisch unvermeidlich ist. Koselleck selbst sagt es in aller Deutlichkeit: »Die Krise wird so sehr verschärft, wie sie geschichtsphilosophisch verdunkelt wird: sie wird nie politisch erfaßt, sondern bleibt verborgen in geschichtsphilosophischen Zukunftsbildern, vor denen das Tagesgeschehen verblaßt: um so ungehemmter konnte dieses auf eine unerwartete Entscheidung zusteuern.« 46 Es geht Koselleck also nicht um konkrete Inhalte der von ihm untersuchten Geschichtsphilosophien, sondern um ihre politische Funktion. Natürlich ist auch Kosellecks Argument letztlich – wie bei Löwith – ein ideologiekritisches, aber nicht eines, das einen allgemein-menschlichen Verblendungszusammenhang als Erklärung heranzieht, sondern eine konkrete politisch-soziale Situation, ein Argument, das die Kritik also in gewissem Sinn historisiert. Sieht man einmal ab von der inhaltlichen Validität von Kosellecks Diagnose, und auch von eben der konkreten politischen Funktion, die Kritik und Krise seinerseits erfüllt haben mag,47 so zeigt sich hier doch ein ideengeschichtlich anschlussfähiges Erklärungsmuster. Der Schritt von Löwith und Marquard, selbst Blumenberg, zu Koselleck ist also genau der aus der mehr oder weniger reinen Ideengeschichte hinaus in ihren historisch-gesellschaftlichen Kontext, den Kittsteiner für die Analyse der Marxöschen Geschichtsphilosophie fordert. Dieser Schritt führt aber nicht zu der in den 1970er Jahren beliebten vulgärmaterialistischen Basis-Überbau-Analyse, sondern zu einer Funktionsgeschichte.48 Die Frage, die sich Koselleck hier stellt, ist: Welche Funktion haben die 46 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (19591), Frankfurt a.M. 19762, S. 5 f. 47 Hier wäre ein Ausflug in die Situation des Kalten Krieges nötig, der aber zu weit ab führen würde. Eine sozial- und kulturgeschichtliche Rekonstruktion der Debatte um die Geschichtsphilosophie ihrerseits wäre interessant, ist aber – so weit ich sehe – bisher noch ein Desiderat. 48 Wobei es nicht allein die Funktionsgeschichte ist, die hier entscheidend ist, sondern ihre Verbindung mit dem politisch-sozialen bzw. kulturgeschichtlichen Erfahrungsraum. Denn funktionsgeschichtlich kann auch schon ein rein geistesgeschichtlicher Ansatz, wie etwa der von Blumenberg, sein, vgl. Rüdiger Zill, Der springende Punkt der Interpolation. Hans Blumenbergs Konzeption der Epochenschwelle im Kontext

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Begriffe in ihrer Zeit und wie bedingt das ihre Bedeutung? Das Erklärungsmuster bleibt aber – und darin unterscheidet es sich nun nicht von den anderen hier diskutierten Autoren – ein im Grunde ideologiekritisches.49 Darüber macht Kittsteiner nun einen entscheidenden Schritt hinaus. Für ihn gilt: In den geschichtsphilosophischen Entwürfen artikuliert sich – auch wenn hier Ideologisches mit im Spiel gewesen sein mochte – nicht zuletzt eine historische Erfahrung, die die konkreten Subjekte gemacht, um nicht zu sagen: erlitten haben. Dazu zerlegt er den geschichtsphilosophischen Grundgedanken in zwei Komponenten: die Unterstellung, dass Geschichte zwar von Menschen gemacht wird, aber unter Umständen, die sie nicht in ihrer Gewalt haben und die sie daher als einen hinter ihren Rücken ablaufender Prozess erfahren, einerseits und die Vorstellung, dass dieser Prozess ein Telos habe, ein Ziel, in dem sich der Sinn der Geschichte erfüllen würde, andererseits.50 Wird der Telos-Gedanke sehr schnell von den historischen Erfahrungen widerlegt (und hier können wir ergänzen: immer wieder, nicht nur für die Generation von Marx, sondern erneut auch für die Generation von Kittsteiner), so bleibt doch die Erfahrung des sich hinter dem Rücken der konkreten Menschen vollziehenden Prozesses erhalten. Der erste, der das verstanden hat, war für Kittsteiner Marx. In dessen eigener Entwicklung, in der Abfolge der Marx’schen Entmystifizierungsschritte – vom seiner Begriffs- und Metapherngeschichte, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 2017 (6/1), S. 20–30, unter http://www.zfl-berlin.org/tl_files/zfl/downloads/ publikationen/forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_6_2017_1_Zill.pdf 49 Nebenbei bemerkt war Kittsteiner nicht nur Leser Kosellecks, sondern Koselleck auch ein interessierter Leser Kittsteiners. In dem Exemplar von Naturabsicht und Unsichtbare Hand, das Kittsteiner ihm gewidmet hat (jetzt im Nachlass Kosellecks im Deutschen Literaturarchiv Marbach), finden sich intensive, wenn auch selektive Lesespuren. So zeigt sich eine dichte Folge von Anstreichungen auf den S. 11–52, 90 –105, 136–140 und 160–166. Dazu passt auch ein kleiner Privatindex, den Koselleck sich angelegt hat und der folgende Einträge umfasst: vorderer Vorsatz: »These von Marquard, 35; Anm. Koselleck, 38, 261/161«, hinten, letzte Seite: »G[eschichte] apriori, 161; G[eschichte (?)], 12; historisch / rational, 15; Althusser: Zeitschichten, 102; Althusser: Kritik, 103; Interesse, 163« innerer Einbanddeckel, hinten: »Kritik, 12; Krise, 15; Revolution der Denkart, 16; Löwith Differenz Plan + Effekt, 42; Foucault, 226; Blumenberg, 162; Zeit + Industr.Rev., 97« Abgesehen von den Stellen, an denen Kittsteiner direkt auf ihn Bezug nimmt, sind es also vor allem auch methodologische Passagen. 50 Diese beiden Elemente sind im Grunde schon für Löwith zentral, vgl. Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 11.

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Jung-Hegelianer über einen Feuerbach-Anhänger zum Kritiker der Politischen Ökonomie – kann man eigentlich den Prozess der Kritik an der Geschichtsphilosophie seinerseits schon vorgebildet sehen. Das ist ja das Thema des ersten Kapitels von Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Marx hat vor allem eine wichtige Erfahrung analysiert: die der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die die Menschen historisch zum ersten Mal mit einer gesellschaftlichen Fremdbestimmung konfrontierten, vor allem auch die Genese des Weltmarkts, der als eine die Einzelnen bestimmende Macht erfahren und mit Begriffen wie »Schicksal«, »Naturabsicht« oder »unsichtbare Hand« mystifiziert wurde. Kittsteiner verweist aber auf eine zweite wichtige Veränderung, die sich zwischen 1750 und 1850 vollzog; eine Veränderung, die Marx noch nicht im Blick hatte und wohl auch nicht im Blick haben konnte. Es geht dabei um die Herausbildung eines historisch erstmalig immens stabilen Über-Ichs: die Entstehung des modernen Gewissens, und damit überhaupt um die Herausbildung neuzeitlicher Individualität bzw. eines modernen Subjektbegriffs – und insofern ist die Individualität nicht an die Renaissance, die Reformation oder an eine moderne Rationalität gebunden, sondern an das 18. Jahrhundert und die Herausbildung einer veränderten Sittlichkeit. Und genau das wird dann das Thema in Kittsteiners Habilitation. Hier geht es nun wirklich um eine »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen«, um Substrukturen nicht nur des Denkens. Hier zeigt sich zum ersten Mal so etwas wie die Ehe von Mentalitäts- und Begriffsgeschichte – oder vielleicht nur erst die Verlobung, denn diese Verbindung bleibt in der Diskussion noch weitgehend Programm. Dessen Validität wird behauptet, indem als Zeugen andere Theoretiker herbeizitiert werden, etwa Friedrich Nietzsche und Norbert Elias. Kittsteiner bleibt aber nicht bei solchen Autoritäten stehen, sondern versucht das Programm in den folgenden Jahren mit Inhalt zu füllen. Dabei ist es auch eine Konsequenz, dass er sich vom promovierten Philosophen zum habilitierten Historiker weiterentwickelt, ohne jedoch seine älteren Kompetenzen aufzugeben. Wo er sich zunächst nur auf Autoritäten verlassen konnte, wollte er mit dem Disziplinenwechsel selbst die Details recherchieren und seine Konzeptionen historisch unterbauen. Dennoch war diese Entwicklung nicht einfach eine Konversion, denn in all seinen späteren Arbeiten blieben die unterschiedlichen Ebenen – die philosophischen wie die historischen, aber auch zum Beispiel die psychologischen, bild- und symboltheoretischen, später sogar die neurobiologischen51 – immer präsent. 51 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die RePersonalisierung des Feindes (1999), in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 103–128.

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Die Detailuntersuchungen, die Kittsteiner für seine Habilitationsschrift durchführt, sind gerade keine – wie manch anderer es in der Zeit versucht hat – vulgärmaterialistischen Ableitungen des Bewusstseins aus dem Sein. Kittsteiner analysiert vielmehr ein vielgestaltiges und multidimensionales Beziehungsgeflecht, zunächst aus verschiedenen Diskursarten (Geschichts-, Moral- und Rechtsphilosophie), aber auch aus wirtschafts- und sozialhistorischen und eben mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen und ihren Interdependenzen. Insofern ist er personifizierte Interdisziplinarität gewesen.

HABILITATION: GESCHICHTE DES GEWISSENS Das also ist das Programm des zweiten großen Buchs von Kittsteiner, seiner Habilitation. In ihr schreibt er die Geschichte der Genese, die unser modernes Gewissen im 18. Jahrhundert erfahren hat, und damit auch der Veränderung des neuzeitlichen Subjekts. In diesem Prozess bildet sich der neue Umgang der Individuen mit ihrer Triebstruktur heraus. Die Institution des Gewissens liegt im Schnittpunkt einer historischen Anthropologie und einer politisch umkämpften Ethik, denn das Gewissen fällt in zwei Bereiche auseinander: einen Normbereich – Wer setzt die Regeln, denen es zu gehorchen hat, und welche? – und einen emotionalen Bereich: Wie kommt es, dass diese Regeln als verpflichtende akzeptiert werden? Diesen beiden Fragen geht Kittsteiner in mehreren »diachronen Diskursanalysen« für den Zeitraum zwischen Reformation und Aufklärung, zwischen Luther und Kant, nach. Nun sind sowohl die Normen als auch die Strafinstanzen, die diese moralischen Vorgaben in den Psychen der Menschen verankern sollen, soweit sie sich zu Begriffen kristallisieren, keine frei flottierenden. Der Begriff »ist immer von einer gebildeten Schicht verwaltet und gehandhabt worden« 52, er zeugt von den Bemühungen dieser normsetzenden Schicht, sowohl die Regeln als auch die damit verbundenen Sanktionsmechanismen in der Bevölkerung zu verankern. Theologen und Philosophen sehen sich bei dem Bemühen, Normen zu institutionalisieren, also mit einem doppelten Problem konfrontiert: Sie drohen immer und immer wieder zu scheitern, weil sich der Gegenstand ihrer Bestrebungen verändert und doch auch wieder von ärgerniserregender Unwandelbarkeit ist. Denn einerseits verschiebt sich der Begriff des Gewissens, den Prediger und Landaufklärer den Bauern beibringen wollen: Was gerade noch galt, ist heute schon von gestern. Andererseits erweisen sich die meisten ländlichen Seelen

52 Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 15.

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ohnehin als relativ resistent gegen die unpraktischen Ratschläge der Berufsmoralisten. Aus der pastoralen Propaganda wählt man aus, was den eigenen Interessen nutzt und frommt – wenn man so will: bauernschlau. Kittsteiners Untersuchung gliedert sich in drei große Blöcke. Zunächst untersucht er die Diskurse, mit denen der jeweilige Gewissensbegriff von den normsetzenden Schichten in die allgemeine Bevölkerung getragen werden soll. Dann geht es um die Entwicklung dieser Gewissensbegriffe in den theoretischen Debatten dieser normsetzenden Schichten selbst. Und schließlich widmet er sich den gesellschaftlichen Instanzen, die die Verschiebung der Gewissensdiskurse ermöglichen. Zunächst zu den volkserzieherischen Bemühungen und vor allem zu den konkreten Strafinstanzen, durch die sich der Gewissensbegriff verändern soll. Hier macht Kittsteiner auf ein heute nur noch wenig bekanntes Genre aufmerksam: die Wetterpredigten. Gewitter und Gewissen stehen nicht nur lexikalisch eng beieinander. ln einer ersten Phase, im 16. und frühen 17. Jahrhundert, fungieren Gewitter und Hölle als religiöse Strafinstanzen, die das Volk dazu bewegen sollten, sich selbst überhaupt erst einmal als Verursacher ihrer Sünden anzuerkennen. Blitz und Donner werden zu Zeichen. Das pastorale Bemühen richtet sich darauf, dem Bauern klar zu machen, dass Gott sie als Strafe für fortgesetztes Sündigen schickt. Die Bauern aber fürchten den himmlischen Krach zunächst viel weniger, als dass sie wütend werden über den materiellen Schaden, den dieser auf ihren Höfen anrichtete und als deren Ursache sie den Teufel und seine Hexen betrachten. Nur langsam lassen sie sich davon überzeugen, dass Bußübungen im Gewitter, Reue ob ihres sündigen Lebenswandels, Gott, den angeblich eigentlichen Verursacher des Donnerwetters, besänftigen könnten. Was auf diese Weise im reumütigen Sünder entsteht, ist aber nur ein rückwärtsgewandtes Gewissen, ein punktuell aufbrechendes Sündenbewusstsein, kein Langzeitgewissen, das die falsche Tat im Vorfeld verhindern kann. ln der zweiten Phase, dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, setzt sich die Mechanisierung des Weltbildes mehr und mehr durch – und dadurch verändert sich auch die Gottesvorstellung. Gott ist nicht mehr der unmittelbare Akteur, der in jedem Unwetter selbst zur Sache kommt, sondern nur noch der weise Schöpfer, der die Welt nach stetigen Gesetzen eingerichtet hat. Die Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin schlägt ihm dann vollends seine elektrische Rute aus der Hand. Für die Aufklärer dieser dritten Phase – am Ende des 18. Jahrhunderts – hat sich auch unter dem Einfluss dieser naturwissenschaftlichen Veränderungen der Stellenwert des schlechten Gewissens im Gewitter geradezu umgekehrt. Wer nun seine Taten bereut, projiziert nur seine Verfehlungen auf einen zornigen Gott. Das findet der Landaufklärer nicht

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mehr lobenswert, sondern im Gegenteil verwerflich; hätte das Gewissen doch gut und rein sein müssen. Hier hat sich das Weltbild fundamental geändert. War zuvor »Gnade« die Leitvorstellung, eine Gnade, die dem reuigen Menschen, der in einer unvollkommenen Welt notwendig sündigen musste, zukam, wurde nun »Tugend« zum zentralen Begriff des Gewissensdiskurses; ein gutes Gewissen hatte vorausschauend und selbstbewusst alle Sünden zu meiden. Begriffsgeschichtlich hat sich also die Kontextualisierung des zentralen Konzepts geändert und damit auch seine Bedeutung verschoben. Mit dem Wandel des Gewissensbegriffs verändert sich auch das Gottesbild: Aus dem Gott der Kraft und des unmittelbaren Eingriffs ist der weise Schöpfer der ewigen Naturgesetze geworden, aus dem Gott der Gnade und des Zorns ist der »liebe Gott« geworden. Einen ähnlichen Wertverfall wie das Gewitter widerfährt auch der zweiten Strafinstanz: der Hölle.53 Im zweiten Block zeigt Kittsteiner gewissermaßen das Laboratorium der normsetzenden Schichten: die theologischen und philosophischen Gewissensdiskurse. ln diesem Abschnitt kommt die eigentliche Begriffs- und Theoriegeschichte zu Wort. Am Gewissensbegriff des moraltheologischen Diskurses zeigt sich der Wandel dieser normativen Instanz von einem äußerlich überwachten Regelwerk, das Gewitter und Hölle als »negative Verstärkungsinstanzen« braucht, zu einer inneren Kraft, die ohne äußerliche Hilfsmittel dem Verhalten der Individuen moralische Beständigkeit verleiht. Und hier treffen auch unterschiedliche Interessengruppen aufeinander: Theologen und Aufklärer. An zwei Punkten der Entwicklung wird der moraltheologische vom moralphilosophischen Diskurs kritisiert. ln der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird der Gewissensbegriff entwertet, weil man ihn verantwortlich macht für politische Krisensituationen; im 18. Jahrhundert wird er schließlich wieder aufgewertet, jetzt aber ohne die alten Strafinstanzen. Sie werden nicht mehr benötigt, weil auch hier wieder von der Verinnerlichung des Gewissens ausgegangen wird. Aus einer Schamkultur ist eine Schuldkultur geworden. Den philosophischen Diskurs stört am theologischen seine Erfolglosigkeit bei der »inneren Mission«, der Bekehrung der ungebildeten Schichten. Er ist gleichzeitig die Avantgarde, die den jeweils neuen Gewissensbegriff entwickelt, den dann zeitversetzt vor allem die theologischen Helfer buchstäblich unter das Volk bringen sollen. So zeigt sich in den verschiedenen diachronen Diskursdurchgängen eine gemeinsame große Tendenz von der Gnade zur Tugend, von der steten Verinnerlichung der Handlungskontrollen. Dennoch bleibt Kittsteiner nicht bei diesen ineinander verflochtenen Strängen einer auf den ersten Blick quasi53 Dazu ausführlicher ebd., S. 101–150.

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teleologischen Entwicklung stehen. Die normsetzenden Schichten sind nicht die dämonisch omnipotenten Manipulateure, als die man sie bei manch anderen Autoren geschildert findet. Im dritten Teil der Untersuchung widmet sich Kittsteiner den Widersprüchen, in die sich die eifrigen Prediger stets wieder verfangen, die zähen Widerstände, an denen sie kläglich versagen. Der Hauptgrund ihres Scheiterns scheint ihm der Widerspruch der »Sozialdisziplinierung«, also der realen juristischen Strafpraxis, zur »inneren Mission«, zu den Forderungen und Bemühungen nach individueller Verinnerlichung des Gewissens. ln den ländlichen Verhältnissen der feudalistischen Gesellschaft mit ihren sich komplex überschneidenden und unübersichtlichen Rechtsverhältnissen wäre ein funktionierendes Gewissen ein schweres Handicap im Überlebenskampf der Bauern. Diesen Widerspruch sehen die Aufklärer im Grunde selbst schon. Sie propagieren daher nicht nur ein festeres Gewissen, sondern auch die dazu passende neue Gesellschaft. Die Ablösung harter körperlicher Strafen durch eine subtilere Formung des Gewissens, die im Großen nicht gelingen konnte, findet im kleineren Bereich der familiären Erziehung eine erfolgreichere Parallele. Zumindest in den normsetzenden Schichten setzt sich die Drohung mit dem Liebesverlust an die Stelle direkter körperlicher Züchtigung. Das Bild des irdischen Vaters gleicht haargenau seinem himmlischen Pendant. Aus dem cholerischen Gott des Zorns und der Gnade ist ein beständiger »lieber Gott« geworden, der mit milder Strenge auf seine Geschöpfe herabsieht. Nicht anders ergeht es dem père de famille. Kittsteiners Fazit: »Gleichsam hinter dem Rücken der gelehrten Diskussion um die Verstärkung des Gewissens und um die ›Triebfeder‹ der Sittlichkeit wächst den Aufklärern eine Institution zu, die besser als alle bisherigen Bemühungen geeignet scheint, ein Gewissen wirklich zu erzeugen.«54 Die Funktionsweise dieser neuen Institution »bürgerliche Familie«, den Zusammenhang der Milderung der Erziehung mit einer gelungenen Gewissensbildung wird abschließend mit einem kurzen Rückgriff auf die psychoanalytische Über-Ich-Theorie beleuchtet. Natürlich kann man die von Kittsteiner diagnostizierten Konstellationen hinterfragen und auch in Zweifel ziehen: Stehen die Veränderungen im moraltheologischen Diskurs beispielsweise wirklich im Zusammenhang mit der philosophischen Kritik an ihm, einer Kritik, die streckenweise durch ganz andere Interessen motiviert ist? Kritisiert die Philosophie die Theologie wegen ihrer Erfolglosigkeit in der inneren Mission, oder war sie auf ihre Weise durchaus erfolgreich und wurde nur deshalb kritisiert, weil die moralische Avantgarde schon neue Standards entwickelt hatte? Beides kann man Kittsteiners Argumentation selbst entnehmen. Ist es purer Zufall, dass naturwissenschaftliche Forschung und 54 Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 385.

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bürgerliche Familienbildung in der Konstitution des neuen Tugendgewissens so schön Hand in Hand arbeiten? Inhaltliche Nachfragen beeinträchtigen aber nicht die methodische Innovationskraft von Kittsteiners Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte: Begriffe werden geprägt durch die Interessen derjenigen, die sie benutzen, aber auch von deren Horizont und nicht zuletzt vom historischen Spielraum der Möglichkeiten: Allein die Entstehung der bürgerlichen Familie und ihres geschützten Raums der Innerlichkeit erschafft einen Resonanzboden, auf dem die Begriffe ganz anders zu klingen und in ganz anderen Konstellationen miteinander zu tanzen beginnen. Da die Erfahrung des 18. Jahrhunderts mit seiner Geschichte den erhofften Fortschritt nicht hinreichend in Aussicht stellt, nimmt man Zuflucht zu einer teleologischen Konstruktion in moralphilosophischer Absicht: Was sein soll, wird sein müssen. Hierin findet auch das Gewissen seinen Platz, das nun nicht länger auf Gott, sondern auf eine zu verwirklichende ideale Gesellschaft, damit letztlich auf die Geschichte vereidigt wird. »Mit dieser teleologischen Lösung des Verhältnisses von Moral und Geschichte hat die Aufklärung einen ungedeckten Wechsel auf die künftige Entwicklung der Menschheit gezogen, denn zugleich war deutlich, daß die Moralität nicht auch die Bewegungskraft dieser neuen Gesellschaft sein konnte.«55 Die Geschichte des Gewissens mündet also (zumindest zwischenzeitlich) in ein selbst auf die Geschichte verpflichtetes Gewissen – ein Unternehmen, das mehr als einmal mit katastrophalen Folgen gescheitert ist.56 Die Bemühungen um eine »Geschichte des Gewissens« gehören für Kittsteiner daher nicht in den bunten Zweig kulturgeschichtlicher Folklore, sondern stehen im Zusammenhang eines mit langem Atem betriebenen Projekts, die Funktionsmechanismen dieses Scheiterns aufzuspüren. Kittsteiner plädiert dafür, »mißlungene Experimente nicht zwanghaft zu wiederholen«, das Gewissen nicht erneut an irgendeinen Endzweck der Geschichte binden zu wollen. Zaghaft schlägt er stattdessen – hoffnungsasketisch – die »Liebe zur Welt« als Kandidaten zur Gewissensorientiertung vor.57

55 Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 406. 56 In einigen kleineren Arbeiten der Zeit wird der Bezug der Gewissensproblematik auf die der Geschichtsphilosophie noch einmal deutlicher. Sie sind zusammengefasst in Heinz Dieter Kittsteiner, Gewissen und Geschichte. Studien zur Entstehung des moralischen Bewußtseins, Heidelberg 1990. 57 Ebd., S. 410 f., Kittsteiners Buch steht damit in gewisser Hinsicht im Kontext eines Unternehmens, das einmal unter dem Titel einer »Phänomenologie der Enttäuschungen« gebracht worden ist, vgl. Peter Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen – Ideologiekritik nachtotalitär, Frankfurt a.M. 1991.

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EPILOG: AM ENDE DER UMWEGE Blicken wir nun aber noch einmal zurück auf das hier zentrale Konzept einer Begriffsgeschichte als Kulturgeschichte. Kittsteiner verdammt nicht einfach abstrakt die Entwicklung, die die Geschichtsphilosophie genommen hat, wie das Löwith oder Marquard getan haben, er kritisiert sie auch nicht als verhängnisvolle Ideologie wie der frühe Koselleck, sondern rekonstruiert die dahinter stehende Erfahrung und versucht das Denken damit zu erklären, zu zeigen, worauf es antwortet, um eventuell auch andere Antworten zu finden. Seine Leistung ist, dass er zeigen konnte, dass die zentralen Begriffe, die hierfür eine Rolle spielten: »Geschichte«, »Fortschritt«, »Subjekt«, »Gewissen« in dieser Entwicklung eine substantielle Verwandlung erfahren haben, und zwar gerade weil man sie vor dem Hintergrund einer anderen Lebenswelt, eines sich verändernden Erfahrungsraums und eines sich verschiebenden Erwartungshorizonts lesen muss. Nach seiner materialreichen Rekonstruktion der Geschichte des modernen Gewissens muss sich Kittsteiner nicht mehr auf die Untersuchungen oder gar Intuitionen anderer Theoretiker verlassen. Er ist zwar zunächst den Umweg über diese Autoren gegangen, nur aber um in der Kritik an ihnen für seine Methode zu lernen oder sich von ihren Vorgaben zu weiteren Nachforschungen inspirieren zu lassen. Am Ende aber kann er sich durch diese Umwege selbst Umwege ersparen: Er braucht sie nicht mehr. Allerdings kommt nun auch die Metapher des Umwegs insgesamt an ihre Grenze. Denn wenn der Umweg auch ein langer und verschlungener sein mag, so beschränkt er sich doch auf die Linie. Kittsteiners Rekonstruktionen von Diskurswelten sind aber jeweils mehr als das. Sie sind eher Landkarten, die gezeichnet werden konnten, nachdem er das Land kreuz und quer erwandert hat. Es sind zweidimensionale Strukturen, wie Gewebe. Nicht zufällig ist dieses Textile, von dem schließlich auch der Begriff »Text« abstammt, dann die Metapher, die seine Untersuchung zum Gewissen beherrscht. 58 Aber selbst diese rhetorische Figur mag unzureichend sein, denn Kittsteiner legt genau genommen mehrere dieser Diskurswelten übereinander und setzt sie zueinander in Beziehung; so werden seine Rekonstruktionen dreidimensional. Diese Schichten sind aber nicht hierarchisiert wie Bau und Überbau, sondern sind die Ebenen einer Erfahrungswelt, deren Elemente sich gegenseitig bedingen und halten. Plädiert man insgesamt für eine »kulturhistorische Reformulierung

58 Kittsteiner, Die Geschichte des Gewissens, S. 26.

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der Metaphorologie«,59 so sind Kittsteiners Arbeiten, auch wenn sie nur einen der möglichen Aspekte der Kulturgeschichte im Blick haben, sicher mit die wichtigsten Anknüpfungspunkte, die man hierfür nach wie vor finden kann.

59 Rüdiger Zill, Substrukturen des Denkens. Grenzen und Perspektiven einer Metapherngeschichte nach Hans Blumenberg, in: Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, S. 209–258, hier: S. 252 ff., siehe auch ders.: Metaphern als Migranten. Zur Kulturgeschichte rhetorischer Formen, in: Matthias Kroß, Rüdiger Zill (Hg.), Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit, Berlin 2011, S. 105–140.

Die Stufen der Moderne – Entwurf einer deutschen Gewissensgeschichte Jannis Wagner »[...] die Erzählungen der Geschichtsphilosophie sagen uns, wer die Menschen glaubten zu sein, und wie sie es mit ihrer Geschichte aufnehmen wollten.«

Das 2010 postum erschienene Buch Heinz Dieter Kittsteiners Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715 ist in der ohnehin noch recht schmalen Rezeption hauptsächlich als das wahrgenommen worden, was es nur zufällig – vielmehr durch Unglück – geworden ist: eine Einzelstudie über das 17. Jahrhundert. Dieses Buch nun aber nur im Vergleich zur Spezialliteratur zu lesen und einzuordnen, bedeutet eine Isolierung dieses Textes aus dem Gesamtzusammenhang, für den er verfasst wurde, und damit eine Verkürzung um die Intentionen des Verfassers, die sich nur im Gesamtprojekt der Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne nachvollziehen lassen. Winfried Schulze leitete seine Rezension der Stabilisierungsmoderne zu Recht mit der Klarstellung ein: »Ein Buch wie das vorliegende zu rezensieren, fällt nicht leicht. Zum einen, weil sein Verfasser wenige Tage nach der Niederschrift seines Vorworts gänzlich unerwartet verstorben ist, zum anderen, weil dieser Band nur der erste einer auf insgesamt sechs Teilbände angelegten deutschen Geschichte in der Moderne ist und insofern alle Möglichkeiten fehlen, das der Planung zugrunde liegende Gesamtkonzept in seiner Tragfähigkeit hinreichend zu prüfen.«1

1

Winfried Schulze, Rezension zu: Kittsteiner, Heinz Dieter: Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 1618-1715. München 2010, in: H-Soz-Kult, 17.05.2011. www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15487.

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Das Vorhaben, eine Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne zu schreiben, bzw. der Ursprung der hier bearbeiteten Ideen und Fragenkomplexe, reicht in Kittsteiners Biographie und Werk weit zurück und speist sich aus zahlreichen von Kittsteiner verfolgten Themengebieten. Nicht zuletzt, weil hier fast alles zusammenlief, an dem Kittsteiner über Jahrzehnte gearbeitet hatte, war das Großprojekt auf die projektierten sechs Halbbände angewachsen, von denen sich je zwei jeder der drei Stufen widmen sollten. Das Stufen-Projekt als Synthese jahrzehntelang verfolgter Fragen ist ein Aspekt, der hier betont werden soll, ein weiterer, dass es sich ganz wesentlich um eine Geschichte des Gewissens, der Gewissensentwicklung in Deutschland handelte; denn nur unter dieser Maßgabe lässt sich die Konstruktion dieses Werkkomplexes nachvollziehen.

SEDIMENTE, SCHICHTEN, STUFEN – GENESE DER STUFEN DER MODERNE Im Vorwort von Die Stabilisierungsmoderne schrieb Kittsteiner: »Das Vorhaben, sich an einer Deutschen Geschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu versuchen, ist allmählich entstanden; zu solch einer Unternehmung kann man sich nicht von heute auf morgen entschließen. Am Anfang stand die angenehme Aufgabe, an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) seit 1993 über Semester hinweg eine Einführungsvorlesung über ›Vergleichende europäische Geschichte der Neuzeit‹ zu halten. Daraus wurde allmählich eine ›Deutsche Geschichte in den Stufen der Moderne‹.«2

Tatsächlich kann man im Nachlass Kittsteiners, ähnlich einem Darwins Evolutionstheorie illustrierenden Entwicklungsbild, die langsame Transformation der Vorlesungsskripte nachvollziehen, die Herausbildung von mindestens zwei Buchprojekten, die schließlich Rudimente geblieben sind, bis allmählich die Stufen der Moderne Gestalt gewannen und die Arbeit an Buch- statt Vorlesungsmanuskripten fortgesetzt wurde. Doch wie überzeugend Kittsteiners Aussage diesbezüglich klingt und wie sehr sie auch biographisch zu passen scheint – Abschluss und Veröffentlichung der Habilitationsschrift 1988 und 1990, Antritt der Professur und Entwicklung

2

Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stabilisierungsmoderne. Deutschland und Europa 16181715, München 2010, S. 23.

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eines neuen Forschungsprojektes am neuen Ort 3 und aus den Anforderungen der neuen Aufgabe heraus – so sehr ist sie bei genauerer Betrachtung verkürzt. Kennzeichnend für Kittsteiners Arbeit ist die lebenslange Auseinandersetzung mit einigen Grundfragen, wesentlich gestützt auf eine Anzahl von zentralen Referenzautoren und Theoriebeständen, die in immer neuen Konstellationen bearbeitet wurden.4 Bei Betrachtung von Kittsteiners Publikationen, sei es im Hinblick auf die Liste seiner Monographien oder die Themen seiner gesammelten und verstreuten Aufsätze, scheint zunächst aufzufallen, wie disparat die Interessengebiete dieses Forscherlebens waren. Bei genauerer Einarbeitung, insbesondere in die häufig sein Forschungsprogramm deutlich skizzierenden Aufsätze, wird allerdings erkennbar, dass Kittsteiners Themenspektrum systematisch zu erfassen ist: Alles steht miteinander in Verbindung, baut aufeinander auf, folgt einer Abfolge sich bedingender Fragen. Es ist die lange Dauer der Beschäftigung, die – insbesondere in einer ›Projekt‹-getriebenen Wissenschaftslandschaft – Kittsteiners Forschungsstil auffällig machen. Und so reichen auch die Grundgedanken des Programms der Stufen der Moderne deutlich weiter zurück, als Kittsteiner es an dieser Stelle darstellte. 1982 erschien in The Comparative Civilizations Review No. 9, herausgegeben am Dickinson College, Carlisle, in der Abteilung Notes and Diskussion eine Rezension von Heinz-Dieter [sic] Kittsteiner: THE SEDIMENTS OF MODERNITY. A Review of Benjamin Nelson's Der Ursprung der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1977).5 Auf wenig mehr als zwei Seiten befasste sich Kittsteiner mit 3

Auch ein ›Forschungsschwerpunkt Moderne/Gegenmoderne‹ wurde an der Fakultät Kulturwissenschaften in den Gründungsjahren der Viadrina unter federführender Beteiligung Kittsteiners diskutiert, setzte sich aber schließlich nicht durch. Siehe Kittsteiners Beiträge für die »Arbeitsgruppe ›Moderne‹« von 1994: »Entwicklungsstufen der ›Moderne‹«, »Die beschleunigte Modernität. Über das Verhältnis von Geschichte und Moderne«, sowie: »Stufen der ›Modernität‹ im historischen Prozeß« im Nachlass Kittsteiner, Sig. 35.

4

Dazu: Jannis Wagner, Gewissen und Geschichte. Zur thematischen Beharrrlichkeit im Werk Heinz Dieter Kittsteiners, in: ders., Agnieszka Brockmann (Hg.), Sinn/Bild der Geschichte. Kolloquium zur Erinnerung an die Antrittsvorlesung von Heinz Dieter Kittsteiner, Universitätsschriften Nummer 35, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) 2017, S. 46-59.

5

Mitherausgeber der Zeitschrift war Edmund Leites von der City University of New York (im Editorial Advisory Board ist im Übrigen der Name Hayden White zu finden, mit dem Kistteiner sich später noch ausführlich beschäftigen würde), der Kittsteiner wohl diese Rezension vermittelt, bzw. den Publikationsort geöffnet hatte. Leites arbeitete an Studien, die 1986 auf englisch und 1988 als Puritanisches Gewissen und mo-

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Nelsons Buch – das ihm aber wesentlich als Folie zur Entwicklung eigener Überlegungen diente: Nelson beschäftige sich mit zwei Wendepunkten in der Geschichte des westlichen Europa im 12./13. und im 16./17. Jahrhundert. Anhand der ethischen und wissenschaftlichen Innovationssprünge in diesen Zeiträumen, versuchte er die Probleme der Gegenwart, »the ›breathless take off of our own century‹«, zu erklären. Das spezifische Element der »Moderne« – hierin ist Kittsteiner ganz auf Seiten Nelsons – ist Dynamisierung, die Erfahrung von Geschichte als eines Beschleunigungsprozesses. Mit diesem Konzept von Moderne stehe Nelson auf den Schultern von Riesen, schreibt Kittsteiner. Doch kritisiert er (wohl genüsslich) das Fehlen eines Namens: »While Freud is included too, only one of the great thinkers of the 19th century in the scope of sociology is not mentioned: Karl Marx.« Vielleicht bereitete es Kittsteiner, hierin Erfahrungen seiner Studienzeit folgend,6 Vergnügen, den US-Kollegen den immer noch weithin verrufenen Namen unter die Nasen zu reiben. Doch hatte diese Kritik einen sehr ernst gemeinten Inhalt: »With the work of Marx left out, an essential sediment of ›modernity‹ is neglected: the specific dynamics of historical progress.« Auf dieser von seiner Marxlektüre geprägten Überzeugung sollte Kittsteiner lebenslang bestehen: Es ist der Weltmarkt, der ›Geschichte macht‹. derne Sexualität in Deutschland veröffentlicht werden sollten und in denen er, ähnlich wie Kittsteiner, historiographisches und philosophisches Arbeiten miteinander verknüpfte. Über die parallele Arbeit an ihren jeweiligen Gewissensgeschichten hatte sich ein Kontakt zwischen dem etablierten New Yorker Professor und dem Westberliner Habilitanden entwickelt, der Kittsteiner, der zeitweise auf eine Anbindung hoffte, 1982 nach New York führte, allerdings nur zu Vorträgen: »Ich war zu zwei kleineren Vorträgen eingeladen und habe diese in meinem – eben in meinem – Englisch absolviert. Vielleicht habe ich einmal die Chance, als ›Visiting Professor‹ etwas länger dort zu sein.« Kittsteiner an Reinhart Koselleck, 15.11.1982; siehe auch den Brief Koselleck an Kittsteiner, 16.12.1982, beide im Nachlass Kosellecks im Deutschen Literaturarchiv, A:Koselleck, DLA Marbach. Einer der erwähnten Vorträge war wahrscheinlich Walter Benjamins Historism, eine englische Vortragsfassung des gleichnamigen Aufsatzes Kittsteiners in Norbert Bolz, Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts, München 1984, S. 163-197. Manuskript des englischen Vortrags im Nachlass Kittsteiner, Universitätsarchiv Viadrina, Frankfurt (Oder), Signatur: UK 365/b. 6

»Es gab ein unfehlbares Mittel, einen deutschen Professor zu erschrecken: Man mußte nur Marx zitieren.« Heinz Dieter Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, in: Daniel Becker, Anne Jordan u. a., (Hg.), ansichtssache. alternative festschrift. 18 semester studentisches leben an der europa-universität viadrina, Frankfurt (Oder) 2001, S. 53.

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Bemerkenswert ist, dass Kittsteiner die eigentümliche Formulierung von den »Sedimenten der Moderne« bzw. der »Modernität« hier auf die diese Moderne prägenden Elemente anwandte und nicht als einen Begriff zur Bezeichnung von Epochen. Allerdings sollten die späteren »Stufen der Moderne« jeweils nach einem sie kennzeichnenden Grundproblem – bzw. ›Zentralgebiet‹, wie Kittsteiner in Anlehnung an Carl Schmitt formulierte7 – definiert und benannt werden. Nach dieser Betonung der Bedeutung des Marx’schen Werkes zum Verständnis der Moderne verwies Kittsteiner auf neuere deutsche Theoriebestände, nämlich aus dem Bereich der Begriffsgeschichte. Insbesondere war es ihm um den Begriff der Sattelzeit zu tun: »In a current German discussion of history and the history of ideas, the conception of ›Sattelzeit‹ (1750-1850) is not unimportant.« Im Folgenden verwies Kittsteiner auf Kosellecks begriffsgeschichtliche Untersuchungen zum Begriff der »Geschichte«, also die Herausbildung eines Begriffs einer »Geschichte an sich« im deutschen Sprachraum in der Epoche der Aufklärung etwa ab 1780, und das damit verbundene Aufkommen der Vorstellung einer Beschleunigung der historischen Zeit, und »as a self-moving process«.8 Hierbei machte er auch auf die von Koselleck in diesem Zusammenhang geprägten Begriffe9 aufmerksam: »horizon of anticipation« und »space of experience«. Über Nelsons Buch ist hier eigentlich nicht viel zu erfahren. Nachdem er nochmals mit Max Weber und Karl Marx auf die Bedeutung des Kapitalismus 7

»Meine Damen und Herren, wer in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Berlin bei Jacob Taubes promoviert hat, der las nicht nur Walter Benjamin, sondern auch Carl Schmitt. Später, als ich mich bei Reinhart Koselleck in Bielefeld habilitierte, war wiederum Carl Schmitt eine intellektuelle Hintergrundfigur.« Heinz Dieter Kittsteiner, »Wiedergelesen: Carl Schmitt. Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen«, Vortragsmanuskript, Nachlass Kittsteiner, Sig. 129. Siehe z. B. auch: Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), »Geschichte durch Geschichte überwinden«. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien, Neue Folge 1), München 2006, S. 29-31; ders., »Stufen der ›Modernität‹ im historischen Prozeß«, Vortragsmanuskript, Nachlass Kittsteiners, Sig. 35.

8

Siehe: Reinhart Koselleck, Christian Meier, Odilo Engels, Horst Günther, ›Geschichte, Historie‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2: E-G, Stuttgart 1975, S. 593-717; Reinhart Koselleck, Über die Verfügbarkeit von Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989 [1979], S. 260-277.

9

Siehe: Reinhart Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 349-375.

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als das alles bestimmende Faktum der Entwicklung in der Moderne verwiesen hat (»In these economic movements we have to search for the ground for the experience of changing world.«), tritt stattdessen der Rezensent ganz unverhohlen mit seinen eigenen Gedanken hervor: »I think that the general rule under wich all particular ›progress‹ in ethics and sciences of these times [17. Jahrhundert, JW] can be subsumed is a ›Struggle for Stability in Early Modern Europe‹. Moral, political and scientific innovations had to stabilize the ups and downs of a cyclic historical movement.«

Das Buch von Theodore K. Rabb von 1975 zitierend, auf das er sich auch später berufen würde,10 führte er hier den Grundgedanken seiner späteren Stabilisierungsmoderne ein. Auch die Entwicklungen, die er später als evolutive oder Bewegungsmoderne bezeichnen würde, beschrieb er hier: »To sum up: there is evidence that it isn't possible to explain the ›modernity‹ of contemporary western capitalism (which continues to spread – the old Leitmotiv of Max Weber – all over the world) withount mentioning the general shift in the midst of the 18 th century. The early European innovations of ethics and science have changed their functions in this new social environment. To speak with Marx: the ›allgemeine Beleuchtung‹ (general Illumination) in the mode of production has changed. It is the very considerable difference between a ›progressive possesion of the world‹ and a ›world-possesive progress‹. The first notion is significant for the older form of ›modernity‹, the other is our ›modernity‹ today. In the first case, man tries to become the subject of his history; today history is the active subject of history – and man is submitted to a strange process, which is out of control. Its just the process of capitalist accumulation which Marx declared to be the ›selfmoving substance‹ of history.«

Hier ist bereits die Grundstruktur, sind die prägenden Bausteine der Stufen der Moderne enthalten: Ein von Marx geprägtes Geschichtsbild einer kapitalgetriebenen Dynamisierung des Geschehens, als bis heute und weiter in die Zukunft wirkendes Grundelement der ›Moderne‹; die Fokussierung auf Wendepunkte oder Zeiten einschneidenden Wandels, die von Kosellecks Sattelzeit-Begriff geprägt ist;11 die doppelte und verschaltete Untersuchung von ökonomischem

10 Siehe z. B.: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, in: ders. Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 25-57. 11 Siehe hierzu: Jannis Wagner, Geist und Gewissen. Die Mentalitätengeschichten Bernhard Groethuysens und Heinz Dieter Kittsteiners, in: Richard Faber, Claude Conter

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und ethisch-moralischem Wandel in diesen Zeiträumen, also die Betrachtung des Zusammenhangs von ökomomischem und politischem Geschehen mit einer Geschichte der Gewissensentwicklungen; die theoretischen Bezüge zu Theodore K. Rabb und Carl Schmitt.12 Es finden sich Aussagen, die Kittsteiner noch Jahrzehnte später sinngemäß genau so wiederholen sollte: »Naturally, Marx’s 19thcentury concept of how to stop this self-moving history are obsolete. His idea that the process itself will bring forth its own antidote is a derivation of Hegels ›philosophy of history‹ and ultimately a result of temporalizing Christian theodicy.« Und auch die aus diesen Problemstellungen für die Gegenwart sich stellende Frage – oder das Dilemma – ist hier bereits, und deutlicher als später meist, formuliert: »In 1939/40 Walter Benjamin writes in connection with his ›Über den Begriff der Geschichte‹: ›Marx says, the revolutions are the locomotive of universal history. But perhaps it isn't so. Maybe the revolutions are the attempt of mankind, traveling in this train, to reach the emergency break.‹ If Benjamin is right: where is the emergency brake and who can pull it?« Die Frage wird an dieser Stelle offen gelassen, aber Kittsteiner hat in weiteren Arbeiten oft betont, wie er zu diesem Problem stand und würde es weiterhin unermüdlich betonen: Eine »Stillstellung« der Geschichte schien ihm, mindestens seit dem eigenen Ausgang aus der Utopie nach 1968, ein Phantasma zu sein – eines, das die Gefahr von Ermächtigungsphantasien birgt.13 Diese Rezension markiert eine Wegstrecke Kittsteiners: Noch ging es hier nicht ausgesprochen um ein Buchprojekt und wurden die späteren Stufen noch nicht als Epochenbegriffe benannt. Auf die heroische Moderne, die Kittsteiner später als seinen eigenständigsten Anteil zur Konzeption der Stufen der Moderne bezeichnen würde, findet sich noch kein Verweis. Doch die ersten Stufen werden hier – als »Sedimente« – bereits skizziert und die Kernthemen beschrieben. Als Zentrum wird die Frage nach der Verfügbarkeit von Geschichte herausgearbeitet – ebenso wie Kittsteiners Standpunkt zum Zustand des von der Kapitalverwer(Hg.), Bernhard Groethuysen. Deutsch-französischer Intellektueller, Philosoph und Religionssoziologe, Würzburg 2021, S. 273-292. 12 Zu ähnlichen, auf das spätere Stufen-Projekt vorausweisenden Elementen in der Dissertation Kittsteiners siehe den Beitrag von Reinhard Blänkner in diesem Band. 13 »Das verlogenste historische Symbol ist das des Kettensprengers. […] Es ist an der Zeit, die historische Erfahrung theoretisch zu verarbeiten, daß Geschichte sich nicht aufsprengen lässt.« Heinz Dieter Kittsteiner, Adornos Blick auf die Geschichte, in: Walter Benjamin. Politisches Denken, hg. v. Christine Blättler u. Christian Voller, Baden-Baden 2016, S. 243-258, hier: S. 245. Siehe auch: Heinz Dieter Kittsteiner, Deutscher Idealismus, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, München 2001, S. 170-186, hier: S. 179-182.

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tung angetriebenen und immer weiter beschleunigten historischen Prozesses: out of control. Beachtenswert ist, dass die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Marx und Benjamin (mit dem sich Kittsteiner zu dieser Zeit gerade wieder intensiver beschäftigte14) bei der Konzeption der Stufen der Moderne in diesem Text noch sehr deutlich erkennbar ist. Sie würden in den späteren Texten immer weiter in den Hintergrund rücken und oft nur mehr in Denkfiguren, nicht aber namentlich präsent sein.15 In den späteren Texten Kittsteiners treten die Stufen der Moderne als festgefügtes Konzept auf, das auf verschiedene Fallbeispiele oder geschichtliche Stoffe angewendet wird. Es wird – meist konzentriert und knapp – eingeführt, aber dem Leser, der zum ersten Mal damit konfrontiert wird, mögen diese Einführungen lakonisch erscheinen. Das ist nicht zuletzt der Form vieler dieser Texte geschuldet: Sie gehen meist auf Vorträge zurück oder sind Sammelbandbeiträge – in beiden Formaten war eine ausgreifende Vorstellung des eigenen Forschungsprogramms nicht möglich. Nur an wenigen Stellen erhält man einen Einblick in die zugrundeliegenden Überlegungen, oder gar ihre Entwicklungsgeschichte. Doch es gab eine Entwicklung, auch semantisch. So waren die Stufen im englischen Text noch »sediments«. 1989 in Max Weber und die Schöne neue Welt, einer jener zu bestimmten Anlässen, hier einer Ringvorlesung, verfassten publizierten Beiträge, in denen er auf sein Forschungsprogramm hinwies, sprach Kittsteiner von »Schichten der Moderne«, aber auch davon, dass er »die Moderne nicht als einmaligen Akt« auffasse, »sondern als Sedimentierungsprozeß«.16 Ebenfalls Ende der 80er Jahre hielt Kittsteiner einen Vortrag, der 1992 als Die 14 Siehe: Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner, Zwang wird Sinn. Kittsteiners Benjaminlektüren im Kontext, in: Christine Blättler, Christian Voller (Hg.), Walter Benjamin. Politisches Denken, Baden-Baden 2016, S. 233-241. Andererseits fällt auf, dass der in den 90er Jahren theoretisch immer wichtiger werdende Ernst Cassirer hier noch gänzlich unerwähnt bleibt. Zu Kittsteiners Beschäftigung mit Cassirer siehe den Beitrag von Sascha Freyberg in diesem Band. 15 Siehe: Jannis Wagner, Mit Marx und Benjamin. Heinz Dieter Kittsteiner und die (Un-)Verfügbarkeit der Geschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte, 102. Bd. 2020/ Heft 1, S. 195-210. Es ist besonders Benjamin, der im späteren Werk Kittsteiners fast unsichtbar Werdende, über den hier die Frage formuliert wird, die den Bogen vom politischen Engagement des jungen Kittsteiner der 60er Jahre zu den Forschungsthemen seines Spätwerks schlägt. 16 Heinz Dieter Kittsteiner, Max Weber und die Schöne neue Welt, in: Helmuth Berking, Richard Faber (Hg.), Kultursoziologie – Symptom des Zeitgeistes, Würzburg 1989, S. 116-139, hier: S. 126 f. Ich danke Richard Faber für den Hinweis.

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geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts publiziert wurde und der sich thematisch in eine Reihe von Arbeiten einordnen lässt, in denen Kittsteiner sein Interesse an Geschichtsvorstellungen anhand von symbolischen Geschichts-Bildern verfolgte.17 Vor allem aber enthielt dieser Aufsatz eine frühe und detailliertere Präsentation von Kittsteiners Forschungsprogramm – das hier aber ebenfalls noch als Schichten der Moderne firmierte.18 Was hinter dem Wandel der Bezeichnungen an Überlegungen lagen, erhellt sich aus einer Passage in dem in diesem Band abgedruckten Text Stufen der Moderne. Die Entheroisierung der Moderne: »Ich hatte Ihnen eingangs ein Entwicklungsschema angedroht, und das werde ich nun – möglichst kurz – vorstellen. Ich experimentiere seit einiger Zeit damit, denn Periodisierungen sind einerseits unerläßlich, andererseits dürfen sie aber – darauf hat der Kulturhistoriker Johan Huizinga hingewiesen – gar nicht zu präzise sein, denn sonst werden sie an Stelle einer heuristischen Hilfe zu einer Zwangsjacke. Unter anderem deshalb, weil sich eine historische Entwicklung niemals [so] – sozusagen in Scheiben – schneiden lässt, daß etwas Älteres ganz aufhört und etwas Neueres völlig neu anfängt. Zwar verschwindet das Alte – die Vergangenheiten sind nicht mehr, sagt Johann Droysen in seiner Historik – aber in der historischen Erinnerung, im kulturellen Kanon, bleiben sie erhalten und wirken weiter. Insofern ähnelt das historische Gedächtnis jenem Bild, das Sigmund Freud für den Aufbau des Seelenlebens bemüht hat: nichts, was einmal gebildet wurde, kann untergehen, alles bleibt ›irgendwie erhalten‹ und kann unter geeigneten Umständen wieder zum Vorschein gebracht werden. […] Bei jedem Versuch an der Periodisierung sollte man sich also – gleichsam als Gegenbild – jenes Rom vorstellen, in dem alles gleichzeitig sichtbar ist, in dem das historische Nacheinander zu einem räumlichen Nebeneinander wird, obwohl doch derselbe Raum nicht zweierlei Ausfüllung verträgt.«

Noch in dem 2003 erstmals erschienenen programmatischen Aufsatz Die Stufen der Moderne ging Kittsteiner auf beide Begriffe und ihre spezifischen Eigenschaften ein: »Daß ich die Begriffe ›Schichten‹ und ›Stufen‹ nebeneinander benutze, kann als terminologische Unsicherheit ausgelegt werden. Denn Schichten liegen sozusagen neutral übereinander, wie die Gesteinsformationen der Erdzeitalter. Sie wären – gut historisch und frei 17 Siehe den Beitrag von Jost Philipp Klenner in diesem Band. 18 Heinz Dieter Kittsteiner, Die geschichtsphilosophische Allegorie des 19. Jahrhunderts, in: Willem van Reijen, Allegorie und Melancholie, Frankfurt a.M. 1992, S. 147171. Siehe hier den Abschnitt II. Die Allegorie in den Schichten der europäischen Moderne, S. 155 ff.

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nach Rankes Geschichtstheologie gleichwertig. Sage ich aber ›Stufen‹, so wird mir jenes teleologische Fortschrittsdenken unterstellt, von dem jeder Historiker weiß, daß es verboten zu sein hat.«19

Kittsteiners Konzept der Stufen der Moderne mit seinen drei die Moderne strukturierenden Zeiträumen oder Epochenstufen ist als bewusste posteriore Konstruktion des Historikers reflektiert. Die Periodisierung ist ein Werkzeug – nicht eine rückprojizierte Zurichtung der Vergangenheit. »Ich setze voraus, daß die Notwendigkeit von Epochengliederungen anerkannt wird, zugleich aber auch, daß es sich nur um heuristische Modelle handelt. Alle Phänomene einer Epoche nach einem Modell erklären zu wollen, wäre ebenso sinnlos wie pedantisch. Die Vielfalt des Historischen muß in jedem Fall gewahrt bleiben.«20

Mit Blick auf die den Perioden beigeordneten exakten Jahreszahlen wurde an anderer Stelle festgestellt: »Das wirkt so unhaltbar festgefügt und starr, dass das historische Material schon ohne fremdes Zutun […] zu ächzen scheint«. Statt eines Verdiktes wird aber daraus ein Schluss gezogen: »Man muss sich also genauer anschauen, wie Kittsteiner seine Zäsuren setzt.« 21

EPOCHENSCHWELLEN UND MENTALITÄTSWANDEL Eine genauere Betrachtung verdient auch, auf welche Diskussionen und Ideen Kittsteiner mit seinem Stufen-Konzept reagierte, bzw. wodurch er beeinflusst wurde. Zu betonen wäre dabei die zentrale Rolle, die hier der Auseinandersetzung mit »Epochenschwellen« zukommt, die, wie gezeigt, von Kittsteiner weniger als ereignisgeschichtliche harte Zäsuren, denn als mentalitätengeschichtliche Übergänge und allmähliche, ineinandergreifende Wandlungen aufgefasst wurden. »Das Interessante an solchen Überlegungen sind die Umschlags- und Wendepunkte. Wann bricht ein Weltbild zusammen, und aus welchen Erfahrungen

19 Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, S. 32 f. 20 Ebd., S. 32. 21 Christian Voller, Trauerarbeit in den Stufen der Moderne. Auch eine Charakteristik Heinz Dieter Kittsteiners als Historiker, in: Anne Gräfe, Johannes Menzel (Hg.), Un/Ordnungen denken. Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften. Festschrift für Reinhard Blänkner, Berlin 2017, S. 216- 234, hier: S. 225.

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und ihrer gedanklichen Verarbeitung stellt sich ein neues her?«22 Es ist kennzeichnend, dass Kittsteiner sich für seine Art der Mentalitätengeschichte nicht allein an den französischen Vorbildern orientierte, die in den 80er Jahren in Deutschland endlich – doch noch immer gegen Widerstände23 – größere Aufmerksamkeit fanden, sondern auch hier dem Anspruch der Wiederentdeckung von im nationalsozialistischen Deutschland verfemten Wissenschaftlern folgend, sich auf den exilierten Berliner Gelehrten Bernhard Groethuysen bezog. Wie dieser, oder auch Reinhart Koselleck (der sich ebenfalls in seiner Auseinandersetzung mit Epochenschwellen mit Groethuysens Arbeiten beschäftigt hatte), schrieb Kittsteiner nicht etwa Fortschritts- sondern Entwicklungsgeschichte.24 ›Moderne‹ ist hier kein zwangsläufig positiv besetzter Begriff. Kittsteiner arbeitete weder allein ereignis- oder sozialgeschichtlich, betrieb aber auch keine ›reine‹ Ideengeschichte im klassisch deutsche Sinne, sondern eine Mentalitätengeschichte25, in der äußere und innere Entwicklungen, materielle, kulturelle und psychische Aspekte miteinander verbunden sind und als sich gegenseitig bedingend angenommen werden. Es handelt sich um eine Historiographie der Mentalitäten, die eben nicht nur eine bestimmte Mentalität zu einem gegebenen Zeit-

22 Heinz Dieter Kittsteiner, Stufen der Moderne. Die Entheroisierung der Geschichte, in diesem Band. 23 Siehe: Georges Duby, Eine andere Geschichte, Stuttgart 1992 [Paris 1991], S. 130 und S. 134: »Nun zu Deutschland. [...] der stumme, verschlossene Aeropag der hohen Herren von der Universität, die vor sechs oder sieben Jahren meinen Vorträgen lauschten, geht mir nicht aus dem Sinn. Allerdings habe ich auch die Studenten nicht vergessen, die mich am Ausgang erwarteten, um mir zu versichern: ›So sind sie nun einmal – aber mit uns wird sich alles ändern.‹ In der Tat, alles ändert sich und zwar sehr schnell.« Siehe auch: Peter Schöttler, Die ›Annales‹-Historiker und die deutsche Geschichtswissenschaft, Tübingen 2015. 24 Siehe: Jannis Wagner, Geist und Gewissen. Die Mentalitätengeschichten Bernhard Groethuysens und Heinz Dieter Kittsteiners, S. 285 ff. 25 »Meine geplante Habilitationsschrift ›Ideen zu einer Kultur- und Sozialgeschichte des Gewissens im 17. und 18. Jahrhundert‹ ist an der Grenze zwischen Geschichte und Philosophie angesiedelt und läßt sich etwa dem zuordnen, was man gegenwärtig als ›Geschichte der Mentalitäten‹ bezeichnet.« Heinz-Dieter [sic] Kittsteiner, Ideen zu einer Kultur- und Sozialgeschichte des ›Gewissens‹ im 17. und 18. Jahrhundert, [Exposé, 1982], S. 1 f. Nachlass Heinz Dieter Kittsteiner im Archiv der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Sig.: 129.

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punkt beschreibt,26 sondern eben das Schwierigste in diesem Feld beabsichtigt: Den Wandel zu beschreiben, und die Gründe und Bedingungen dieses Wandels zu untersuchen.27 Der entscheidendste Bereich des mentalen Wandels ist der von Wertvorstellungen und dessen Untersuchung – also Geschichte des Gewissens. Dies war das Feld, das Kittsteiner mit seiner Habilitationsschrift als das seine markierte. Dass es sich auch bei den Stufen der Moderne ganz zentral um eine Geschichte der Gewissensentwicklung handelte, sprach er nur selten aus. So 1994 in einem Beitrag Das Gewissen der Europäer (hier wurden die Stufen also versuchsweise kontinental eingesetzt), in dem er dies explizit nicht thematisieren wollte – um dabei doch eine grobe Skizze für den Übergang zwischen der ersten und der zweiten seiner Stufen zu geben: »Wie bereits eingangs gesagt, kann ich hier von dem eigentlichen Formwandel des Gewissens in den Entwicklungsstufen der europäischen Moderne nicht näher handeln: wie es von einem fundamentalistisch-religiösen Gewissen im Läuterungsprozeß der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zu einem ›aufgeklärten‹ Gewissen geworden ist, wie die Kultur einer ›conscientia consequens‹, die noch Reue und Gnade nach einer Tat ins Zentrum stellt, abgelöst wird von einer Kultur der ›coscientia antecedens‹, die seit dem 18. Jahrhundert neue Formen der Selbstkontrolle vor einer Tat als die einzig noch mögliche, gesellschaftlich akzeptable Weise einer Gewissensäußerung auffaßt. Das alles betrifft den in sich sehr komplexen Übergang von einem religiös bestimmten zu einem moralphilosophisch geprägten Gewissen.«28

26 Als Beispiel einer solchen ›statischen‹ Mentalitätengeschichte sei hier auf Emmanuel Le Roy Laduries klassische Studie Montaillou, village occitan de 1294 à 1324 von 1975 verwiesen. 27 Als eines der schwierigsten methodologischen Probleme galt der wirkmächtigen ›zweiten Generation‹ der Annales die »Erfassung der Veränderungen der Mentalitäten. Wann löst sich eine Mentalität auf, wann taucht eine andere auf?« Jacques Le Goff, Eine mehrdeutige Geschichte, in: André Burguière, Peter Burke, Roger Chartier u. a., Mentalitäten-Geschichte, Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, hg. v. Ulrich Raulff, Berlin 1987, S. 18-32, hier: S. 29. Siehe dazu auch die Beiträge von Roger Chartier und Peter Burke im selben Band, insbesondere S. 134. 28 Heinz Dieter Kittsteiner, Das Gewissen der Europäer, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Band 3, 2/1994, (Themenheft:) Europa – Raumschiff oder Zeitenfloß, hg. v. Christoph Wulf, Dietmar Kamper u. Thomas Macho, S. 303-315, hier: S. 307 f.

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Dies tat er hingegen sehr ausführlich in seiner Entstehung des modernen Gewissens und sollte es nochmals, in abgewandelter Form, aber mit gleicher Stoßrichtung in seiner Stabilisierungsmoderne – also der ersten Stufe der Moderne – tun.

GESCHICHTSAUFFASSUNG UND GEWISSENSFORMATION Warum Kittsteiner seine Stufen und damit auch seine geschichtete Moderne im 17. Jahrhundert und eigentlich mit dem Dreißigjährigen Krieg beginnen ließ, erklärte er selbst in mehreren, nicht immer deckungsgleichen, aber sich ergänzenden Varianten. Wie so oft, erschienen einige Aussagen hierzu verstreut und damit beinahe versteckt – was Kittsteiner, der seine Beiträge als Skizzenbücher und späteren Steinbruch anlegte,29 wohl ganz gleichgültig war. Einer der interessantesten Hinweise erlaubt den Schluss, dass es nicht zuletzt die Retrospektive aus der deutschen Nationalgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts war, die diesen Einstieg bedingte. Ebenso wichtig wie die Realgeschichte war Kittsteiner hier das Bild, das man sich später von dieser Zeit machte. Auf diese Weise sind Stabilisierungsmoderne und heroische Moderne miteinander gekoppelt: »In dieser Sicht der Dinge wird zugleich auch ein deutsches Trauma sichtbar, das von Generationen deutscher Historiker im 19. und frühen 20. Jahrhundert gehegt und gepflegt wurde: die Opferrolle Deutschlands im 17. Jahrhundert, aufgefaßt als die Epoche der größten nationalen Erniedrigung. Von den Gewinnen der außereuropäischen Landnahme abgeschnitten, wurde es selbst zum Kriegsschauplatz der rivalisierenden westlichen Mächte.«30

Als Folge dieser in großen Teilen Mitteleuropas als Zusammenbruch jeder Ordnung erlebten Zeit, der Chaos-Erfahrung eines in jeder Hinsicht entgrenzten

29 »Ich habe meine eigenen Aufsätze ausgeplündert; das geschieht ihnen recht, denn sie waren nur Vorarbeiten für dieses Buch.« Heinz Dieter Kittsteiner, Die Heroische Moderne, Manuskript im Nachlass Kittsteiner, Sig. 129. 30 Kittsteiner, Das Gewissen der Europäer, S. 310. An dieser Stelle verwies Kittsteiner im Folgenden auf Carl Schmitts während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Schriften Land und Meer und Die letzte Globale Linie. Wieder fällt hier Schmitts Rolle als Wetzstein, aber auch Anreger für Kittsteiner ins Auge – wie auch die Problematiken und Konstellationen der heroischen Moderne als Zentrum und Ausgangspunkt für Kittsteiners Überlegungen. Ohne dessen politische Verortung aus den Augen zu verlieren oder gar unkommentiert zu lassen, ließ er sich auf eine Auseinandersetzung mit dessen Ideen ein, soweit sie ihm bedenkenswert erschienen.

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Krieges, beschreibt Kittsteiner das Motiv der Stabilisierung als Grundmotiv, oder »Zentralgebiet«31, der Diskussionen und des politischen Strebens der nachfolgenden Epoche, seiner ersten Stufe der Moderne.32 Das damit eng verknüpfte zweite zentrale Thema, 33 dem Kittsteiner nachging, waren die Versuche der Bewältigung der Angst vor einer unkontrollierbaren Geschichte.34 Dies schloss eben die Frage danach ein, wie die Bilder, die sich die Menschen von ihrer Geschichte machen, ihr (planvolles) Handeln und das so hervorgebrachte (unkontrollierbare) Geschehen bedingen. Kittsteiners Stufen der Moderne sind daher nach ›geschichtsphilosophischen‹ Leitgedanken strukturiert, bzw. danach, welche Geschichtsvorstellungen – in einem weitgefassten Sinne – in bestimmten historischen Konstellationen vorherrschend und handlungsleitend wurden. Auf diese Überzeugung von der Bedeutung von Geschichtsvorstellungen für die Akteure im Prozess selbst, und damit auch für die historische Forschung, gehen Kittsteiners wiederholte Aufforderungen zurück, diese im Blick zu behalten: »Denn die Erzählungen der Geschichtsphilosophie sagen uns, wer die Menschen glaubten zu sein, und wie sie es mit ihrer Geschichte aufnehmen wollten.«35 In diese Phase des Stabilisierungsstrebens fällt auch der Beginn einer zunehmenden Infragestellung der und schließliche Emanzipation von den religiösen Lehren durch eine bürgerliche Bildungsschicht, wie sie Kittsteiner schon in seiner Entstehung des modernen Gewissens in Deutschland diskursiv beschrie-

31 Siehe: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, S. 32. 32 Ebd., S. 34 ff. 33 »Wenn ich überlege, was ich in den letzten Jahrzehnten auf den Gebieten der Geschichte und der Philosophie eigentlich getrieben habe, dann waren es […] zwei Gegenstandsbereiche: Das ganz Kleine und das ganz Große. Ich habe mich befasst mit dem innersten Kern des Ich, und den Philosophien über den Verlauf der Geschichte im Ganzen. Vielleicht ist es an der Zeit, beides zusammenzubringen.« Heinz Dieter Kittsteiner, Das Gewissen und die Geschichte. Vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Vortragsmanuskript, Nachlass Kittsteiner, Sign.: 129. 34 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die RePersonalisierung des Feindes, in: ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006, S. 103-128. 35 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Rückkehr der Geschichte und die Zeit der Erzählung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 27. Bd. 2002, 2. Heft, S. 185-207, hier: S. 205.

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ben hatte, also die herkömmlich unter dem Begriff der Aufklärung beschriebenen Entwicklungen.36 Die Folgezeit betrachtete Kittsteiner als eine Übergangsphase zur nächsten Stufe,37 die sowohl durch einen sich herausbildenden Weltmarkt, wie durch ein sich wandelndes Verhältnis zur Geschichte gekennzeichnet ist. Erkennbar ist, dass Kittsteiner in sein Stufenmodell zugleich die Wertung dieses Zeitraums als Phase eines einschneidenden und unumkehrbaren Wandels übernahm, wie sie aus mentalitätengeschichtlichen Forschungen, Aufklärungsforschung oder auch Kosellecks Sattelzeit-Konzept geläufig ist. Es war für Kittsteiner vor allem die neue Geschichtsphilosophie, die ein sich wandelndes Verhältnis zur Geschichte markiert. Den Kern dieser neuen Geschichtsauffassung beschrieb er als eine grundlegend neue Einsicht – in die Plan- und Ziellosigkeit des Geschehens in einer ›entzauberten‹, also nicht mehr in der Ganzheitlichkeit des Glaubens aufgehobenen Welt. Diese Erkenntnis aber schien zu schmerzlich zu sein, um wirklich konsequent gewusst werden zu wollen. So hob sie sich in eigentümlicher Zirkelbewegung beinahe selbst wieder auf. »Die Geschichtstheologie geht der Geschichtsphilosophie voraus – sie folgt ihr aber auch nach. Die christliche Geschichtstheologie von Augustinus bis zu Bossuet spannte – bei allen Differenzen – den großen Rahmen des Heilsgeschehens. Die Geschichtsphilosophie seit Kant durchbricht diesen Rahmen, weil sie auf ein neues Problem reagiert: auf die Einsicht in die Nicht-Machbarkeit der Geschichte angesichts einer dynamischen Beschleunigung der historischen Zeit. Geschichtsphilosophie ist ihrer Struktur nach die Verarbeitung der Enttäuschung, daß die Menschen nicht Herr ihrer ›eigenen‹ Geschichte sind, obwohl doch ihr Machen-Können in bezug auf die Natur sich im Zeitalter der Aufklärung erheblich ausgedehnt hatte. Allerdings verfestigt sich Kants Konstruktion einer 36 Diese Vorgänge und besonders ihre gewissensgeschichtlichen Aspekte hatte in den 1920er Jahren Bernhard Groethuysen am französischen Beispiel untersucht, dessen ebenfalls auf den Wandel von Wertvorstellungen und Gewissensnormen fokussierende Arbeit über Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich Kittsteiner ausdrücklich als Orientierungspunkt für seine eigenen Forschungen benannte. Siehe: Heinz Dieter Kittsteiner, Ideen zu einer Kultur- und Sozialgeschichte des ›Gewissens‹ im 17. und 18. Jahrhundert, Exposé von 1982. Nachlass Kittsteiner, Sig.: 129. 37 »Ich unterscheide zwischen einer ›Stabilisierungsmoderne‹ zwischen etwa 1640-1720 mit einer Auslaufzeit im ›Ancien Régime‹, einer ›evolutiven Moderne‹ zwischen etwa 1770 und 1880 und einer ›heroischen Moderne‹ zwischen 1880 und 1945/89.« Kittsteiner, Das Gewissen und die Geschichte. Vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, unpaginiertes Manuskript, Nachlass Kittsteiner, Sig. 11.

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›Teleologie in praktischer Absicht‹ schon bei Hegel wieder zu einer gewußten Theodizee, die mit dem Anspruch auftritt, die Rolle des Bösen in der Welt begriffen zu haben. Mit der ›List der Vernunft‹ versucht sie das Negative in Dienst zu nehmen – und daran scheitert sie auch«38

Doch über die veränderte Geschichtsauffassung ist hier der Übergang von einer Stufe der Moderne zur anderen auch gewissensgeschichtlich markiert: »Allgemein gilt eine Veränderung der Letztinstanz für das Gewissen seit der Aufklärung: Aus der Rechtfertigung vor Gott ist eine Verantwortung vor der Geschichte geworden; das religiöse Gewissen, ausgerichtet auf das Jüngste Gericht, hat sich zu einem geschichtsphilosophischen Gewissen gewandelt.«39

Mit der Dynamisierung des Weltmarktes begann für Kittsteiner eine evolutive Moderne, die bis heute andauert. Zeitgleich beschrieb die klassische Geschichtsphilosophie die Erfahrung eines historischen Prozesses, der nicht planvoll zu lenken war, versuchte diese Erkenntnis aber optimistisch zu überspielen: »Man ließ dasjenige, über das man nicht selbst verfügte, von einem in praktischer Absicht konstruierten metaphysischen Subjekt namens ›Naturabsicht‹, ›Weltgeist‹ oder ›Kapital‹ abwickeln.«40 Neben dieser konventionellen Kritik an den klassischen geschichtsphilosophischen Entwürfen erkannte Kittsteiner ihnen allerdings eben jene in der Folge, und bei ihren Kritikern, vergessene grundlegende Einsicht zu41: »Offensichtlich hatte die Geschichtsphilosophie eine richtige Diagnose der historischen Verlaufsform und ihrer Zeitstruktur seit etwa 1780 gegeben; sie ist die erste Wissenschaftsform, die auf dieses Dilemma reagierte. Zugleich aber hatte sie sich an einer Thera-

38 Heinz Dieter Kittsteiner, ›Gedächtniskultur‹ und Geschichtsschreibung, in: Volkhard Knigge, Norbert Frei, Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 317 f. Wieder abgedruckt in: ders, Out of Control, hier S. 267. 39 Kittsteiner, Das Gewissen der Europäer, S. 314. 40 Heinz Dieter Kittsteiner, Das Gewissen und die Geschichte. Vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Manuskript im Nachlass Kittsteiner, Sig. 11. 41 Ganz in dieser Art argumentierte in jüngster Zeit auch Tamás Miklós in seinen Studien. Siehe: Tamás Miklós, Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens, München 2016.

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pie versucht, die nicht zu halten war. Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.«42

Auch Marx sah er in dieser Traditionslinie – mit ihren Erkenntnissen und Problemen. Doch Kittsteiner ging nur in Bezug auf den geschichtsphilosophischen Utopismus auf Distanz zu Marx: »Für Marx als den Schüler Hegels sollte aus dem Prozess selbst die Revolution entspringen: Der Übergang aus einer entfremdeten […] Geschichte in eine Assoziation von Produzenten, die dann ihre eigene historische Entfaltung unter Kontrolle gebracht haben würden.«43

Im Hinblick auf die Analyse des bewegenden Prinzips in der Geschichte, als Theoretiker des neuen Phänomens des Weltmarktes und der ihn antreibenden Prinzipien als movens der Geschichte, blieb er ganz bei ihm: »Das sich selbst bewegende ›Substanz-Subjekt‹ als Motor der beschleunigten Geschichte existiert real: Es ist die Verwertungsbewegung des Kapitals. […] Die Menschen werden von einer Geschichte der Durchkapitalisierung der Welt in die Zukunft gerissen, die außer den immanenten Bewegungsformen des Kapitals (Ware, Geld, Konsum, Profit) kein Ziel und keinen Sinn hat.«44

Mit dem Schwinden des Fortschrittsoptimismus im 19. Jahrhundert beschrieb Kittsteiner das Auftauchen einer neuen Haltung zum historischen Prozess, die zur Entwicklung einer heroischen Moderne innerhalb und zugleich gegen die evolutive Moderne führte. Die Auseinandersetzung mit der heroischen Moderne und der durch sie hervorgebrachten Gewissensformation war für Kittsteiner – wie für viele seiner Generation – ein ganz persönliches Thema. »Sie sehen schon, ich spreche von den Erfahrungen der Nachkriegsgeneration mit ihren Vätern.«45 Geboren 1942, Abitur und Studienbeginn zwischen Eichmann- und Auschwitzprozess, Student in der Bundesrepublik der 60er Jahre – auch für Kittsteiner kann als ein Grundmotiv seines wissenschaftlichen Fragens das ange42 Kittsteiner, Zur Einführung, in: Out of Control, S. 10. 43 Ebd., S. 15. 44 Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Troeltsch Studien, Neue Folge 1. ›Geschichte durch Geschichte überwinden‹. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006, S. 21-47, hier: S. 42. 45 Kittsteiner, Das Gewissen der Europäer, S. 312.

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nommen werden, was auch sein akademischer Lehrer, Reinhart Koselleck, der als Kriegsheimkehrer sein Studium aufnahm, als Motiv seiner Beschäftigung mit Geschichte benannte: »Ich wollte verstehen, wie es zum Nationalsozialismus in Deutschland gekommen ist.«46 Bezeichnenderweise rückte dieser Teil seiner Epochengliederung in den Vordergrund, als Kittsteiner sein Konzept in Form eines Essays in einem breiter rezipierten Medium, der Neuen Züricher Zeitung, vorstellte. Der Text war nicht etwa mit »Die Stufen der Moderne« überschrieben, sondern Die heroische Moderne.47

NIETZSCHE UND DIE HEROISCHE MODERNE Es stehen sich nun die Geschichtsbilder »der teleologischen Geschichtsphilosophie der evolutiven Moderne und der Kritik der heroischen Moderne an ihr« gegenüber.48 Diese ist von Kittsteiner selbst als der innerhalb seines Stufenkonzeptes am weitestgehend eigenständige Beitrag benannt worden.49 Sie stellt zugleich auch den Ausgangs- und Zielpunkt, den eigentlichen Kern von Kittsteiners Fragen und dessen biographischen Anstößen dar: Die Auseinandersetzung

46 Zitiert nach: Thomas Frahm, Der Erfinder. Zum 80. Geburtstag des Historikers Reinhart Koselleck, in: Der Tagesspiegel, Nr. 18099, Berlin 24.04.2003, S. 4. Ich danke Hans Jörgen Gerlach für den Hinweis. 47 Heinz Dieter Kittsteiner, Die heroische Moderne. Skizze einer Epochengliederung, in: Neue Zürcher Zeitung, 10.11.2001, S. 83. 48 Vgl. Kittsteiner, Zur Einführung, in: Out of Control, S. 16. 49 Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, S. 44 f. Den Begriff ›heroische Moderne‹ hatte er allerdings wohl Walter Benjamin entlehnt, der ihn mit einer etwas anderen Bedeutung im Zusammenhang mit Baudelaires Dandysmus verwendete: »Weil er keine Überzeugung zu eigen hatte, nahm er selbst immer neue Gestalten an. Flaneur, Apache, Dandy und Lumpensammler waren für ihn ebenso viele Rollen. Denn der moderne Heros ist nicht Held – er ist Heldendarsteller. Die heroische Moderne erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist. Das hat Baudelaire selbst, versteckt wie in einer remarque, am Rande seiner ›Sept vieillards‹ angedeutet.« Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, S. 600. »Die Signatur des Heroismus bei Baudelaire: im Herzen der Unwirklichkeit (des Scheins) zu leben.« ders., Zentralpark, ebd., S. 673. Diese Charakterisierung träfe wiederum auch auf die Ideologie der heroischen Moderne Kittsteiners zu.

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und theoretische Durchdringung dessen, was in Deutschland im 20. Jahrhundert geschehen war. Das war nicht zuletzt ein persönliches Bedürfnis. Daher muss besondere Aufmerksamkeit auf diese Stufe und ihre Datierung durch Kittsteiner gerichtet werden. Ihr Ende ist klassisch ereignisgeschichtlich und eindeutig gefasst: 1945 – mit einigen angehängten Überlegungen zu deutlich milder verlaufenden Nachwirkungen.50 Der Auftakt aber führt – zu Nietzsche.51 Dem sei vorangestellt: Kittsteiner vermied simplifizierende Deutungen zu Zusammenhängen von Nietzsches Philosophie und nationalistischer oder nationalsozialistischer Ideologie. Es ging ihm um etwas anderes: Das bei Nietzsche gut fassbare, sich allmählich ändernde Verhältnis zum Geschichtsprozess im 19. Jahrhundert. Noch Marx replizierte für Kittsteiner das Muster, mit dem schon die klassischen Geschichtsphilosophen ihre unerträgliche Erkenntnis von der Unverfügbarkeit der Geschichte überdeckt hatten – nämlich durch eine angenommene ›listige‹ Vernunft oder ein anderes ›höheres‹ Prinzip eine Selbstorganisation des Chaos vorzusehen.52 Erst Nietzsche vollzieht hier einen wirklichen Bruch. Er teilt die grundlegende Einsicht der klassischen Geschichtsphilosophie, wendet sich aber entschieden von deren optimistischen Konstruktionen eines sich selbst bedingenden positiven Geschichtsverlaufs auf ein bestimmtes telos hin ab: »Im ›Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹ vollzieht Nietzsche eine nicht minder bedeutende Wende: vormals mußte sich das Leben vor der Geschichte 50 Siehe z. B. den Text Kittsteiners Stufen der Moderne. Die Entheroisierung der Geschichte in diesem Band. 51 Kittsteiners Beschäftigung mit Nietzsche schlug sich – abgesehen von zahlreichen Bezügen im Zusammenhang mit dem Stufen der Moderne-Konzept – in drei ausführlichen Aufsätzen nieder, in denen dessen Bedeutung für Kittsteiners Großprojekt genauer ausgeleuchtet ist: Heinz Dieter Kittsteiner, Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte, in: Gary Smith, Hinderk M. Emrich (Hg.), Vom Nutzen des Vergessens. Akademie Verlag, Berlin 1996, S. 133-174 (auch in: Kittsteiner, Out of Control, S. 217-251); ders., Erinnern – Vergessen – Orientieren. Nietzsches Begriff des ›umhüllenden Wahns‹ als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), ›Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 48-75; ders., Der Fall Nietzsche. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, in: Gangolf Hübinger, Andrzej Przyłębski (Hg.), Europäische Umwertungen. Nietzsches Wirkung in Deutschland, Polen und Frankreich, Frankfurt a.M. 2007, S. 141-155. 52 »Es ist und bleibt Marx’ Leistung, den Hegelschen ›Weltgeist‹ als den Weltmarkt dechiffriert zu haben; dennoch konnte er sich der Versuchung nicht entziehen, in den Prozeß der Kapitalverwertung eine ›Dialektik‹ hineinzuinterpretieren.« Kittsteiner, Max Weber und die Schöne neue Welt, S. 129.

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rechtfertigen, jetzt ist umgekehrt die Geschichte angeklagt, das ›Leben‹ zu vernichten […].«53 Damit zeichnet sich für Kittsteiner in Nietzsches Texten eine im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich vollziehende Veränderung der Haltung zur Geschichte ab: Der Verlust des Optimismus, des Glaubens an einen wohlgelenkten Weltenlauf – im Extremfall jeder Hoffnung schlechthin. »Dieses Vertrauen auf eine die Geschicke lenkende Vernunft hinter dem Rücken der Akteure, auf eine mit-helfende Geschichte, ist der Generation Nietzsches und seiner Leser abhanden gekommen. Das nackte ›Schicksal‹ tritt ungebändigt wieder auf und fordert eine hohe Gestalt, die sich ihm entgegenstellt. Daher der Ruf nach Kraft. Nietzsche hat ihn früh angestimmt, wenn er ›kräftige Wahnbilder‹ fordert, die allein den Dunstkreis zu bilden vermöchten, in dem alles Lebendige nur existieren kann. Denn erst in einem von ›Mythen umstellten Horizont – so schon in der ›Geburt der Tragödie‹ – kann eine Kultur gedeihen.«54

Eine neue Ideologie des historischen Pessimismus entsteht, die in Opposition zum scheinbar übermächtigen, auch um die Jahrhundertwende noch dominierenden Fortschrittsoptimismus geht. Auf einen langfristig positiven Verlauf der Geschichte mögen ihre Anhänger nicht mehr hoffen, solche Annahmen scheinen zusehends unplausibel zu sein. Aus den ›eisigen Höhen‹ des tatsächlich einsamen Denkers rieseln diese Ideen allmählich herab, verbreiten sich, werden zur intellektuellen Mode.55 Parallel dazu greifen Katastrophenszenarien von Überbevölkerung, Unruhen und Revolution, Massenkriegen oder Kolonialrevolten um sich.56 So ist in Deutschland die Meinung, dass das ›Abendland‹ in Gefahr sei,

53 Ebd. 54 Heinz Dieter Kittsteiner, Nietzsche unter den Historikern, Manuskript im Nachlass Kittsteiner, Sig. 11. Vgl. den Artikel: ders., Die unentdeckte Vergangenheit. Nietzsche unter den Historikern, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.8.2000, S. 87. 55 Steven E. Ascheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart 2000, insbesondere die Kapitel: 2. Deutschland und der Kampf um Nietzsche 18901914 und 3. Der nicht sehr diskrete Nietzscheanismus der Avantgarde, S. 17 ff. und 51 ff. Eine weiter ausgreifende Untersuchung von kulturellen Verfallsszenarien im Übergang zwischen ausgehendem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert an den Beispielen Nordau, Spengler, Sedlmayr und Lukász bietet das Kapitel Eine unheilige Allianz in: Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik, Köln 1997, S. 238-314. 56 Joachim H. Knoll, Julius H. Schoeps, Von kommenden Zeiten. Geschichtsprophetien im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, Bonn 1984.

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weit verbreitet – noch ehe ein verkaufsstrategisch geschickt benanntes Buch (wenn auch nur scheinbar) seinen Untergang proklamierte. 57 »Das ist zum ersten Male bei Nietzsche deutlich formuliert, denn seine ›Zweite unzeitgemäße Betrachtung‹ handelt nur auf den ersten Blick von einer monumentalischen, antiquarischen und kritischen Geschichtsschreibung; dahinter eröffnet sich eine neue Einstellung zur Geschichte selbst. […] Es gibt in der Geschichte keinen Plan; einen Plan gibt es nur in den ›Absichten eines gewaltigen Menschen‹. Alles Übrige ist Wirrsal. ›Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird den Antrieb gar nicht verstehen, die Geschichte sinnvoll zu machen.‹ Dieser Satz macht die Abwendung von und zugleich eine neue Hinwendung zur Geschichte deutlich. Geschichte hilft nun nicht mehr mit, sich selbst sinnvoll zu gestalten; sie muß – gegen ihre Verlaufsform – mit Gewalt ›sinnvoll‹ gemacht werden. Nietzsche kündigt Hegels geschichtsphilosophischen Synergismus auf.«58

Damit widerspricht Kittsteiner der landläufigen Interpretation der ›Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung‹, bzw. ergänzt diese um seine, für seinen eigenen Ansatz entscheidende, Lesart. Mit Nietzsche betrat also, so Kittsteiner, ein radikal entgegengesetztes Geschichtsbild die Bühne, in dem ›die Geschichte‹ als dem Leben feindlicher Prozess angesehen wird. Das heroisch-moderne Denken in seiner Nachfolge suchte im Aufbäumen des Menschen gegen den als feindlich erkannten historischen Prozess Erlösung. Dieser sollte gewaltsam unter Kontrolle gebracht werden. »Gerade in Deutschland ist diese brisante Mischung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und einer Inkubationszeit in der Weimarer Republik zur Explosion gekommen. Was bei Nietzsche noch Spiel war, wird für diese Generation von Nietzsche-Lesern zum blutigen Ernst.«59 Um wieder zum Subjekt der Geschichte werden zu können, versuchten sich die Vertreter dieses Denkens ›in Form‹ zu bringen und nicht zuletzt neue Wertesysteme zu etablieren, um handlungsfähig zu werden. Hier entstand »jene deutsche Mentalität, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Geschichte gewaltsam ›machen‹ wollte.«60 Denn eine Möglichkeit vermeintlich ›Geschichte zu 57 Anton M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 144 ff. 58 Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, S. 45. 59 Heinz Dieter Kittsteiner, Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: Friedrich Wilhelm Graf, ›Geschichte durch Geschichte überwinden‹. Ernst Troeltsch in Berlin, München 2006, S. 21-47, hier: S. 42 f. 60 Heinz Dieter Kittsteiner, Die Form der Geschichte und das Leben der Menschen, in: ders., Out of Contol, S.n 150-164, hier: S. 153.

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machen‹, lag stets darin, den Grund aller Übel nicht »als Schikane des sogenannten Weltgeistes« sich vorzustellen, sondern sich ein Bild von einem greifbaren angeblichen ›Feind‹ zu machen, der als das absolute Böse definiert wird, und deshalb besten Gewissens vernichtet werden kann. »Ich habe an anderer Stelle versucht zu entwickeln, wie es zur Konstruktion derartiger Feindbilder kommt. Im Grunde handelt es sich um Personalisierungen von angstauslösenden Mächten oder Strukturen, denen man als solchen nichts anhaben kann. Ist man aber der Auffassung, daß hinter diesen Mächten eine verursachende Personengruppe steht, kann man sie in den Bereich des eigenen Handelns hineinziehen. Letztlich handelt es sich um die Schaffung einer mythischen Figur, übermächtig einerseits und doch verwundbar, die die angstauslösende Ohnmacht bannt, weil an ihr die eigene Handlungsfähigkeit – sozusagen in falscher kausaler Zurechnung – zurückgewonnen wird.«61

Bei dieser »mythischen Figur« handelt es sich also um eine fiktive Wiedergewinnung der eigenen Handlungsfähigkeit angesichts der eigentlichen Machtlosigkeit, die nicht begriffen werden will. Der durch die Erfahrung des Ausgeliefertseins in einem unverstandenen Prozess erzeugte Hass wird in ein Bild, ein Feind-Bild, gegossen, an dem man vermeintlich aktiv werden kann, um Autonomie zurückzugewinnen: »Mit dieser Konnotierung der Weltgeschichte hat die Angst ihr Objekt gefunden, an dem sie handeln kann. Die Projektion des ›Bild‹ des Feindes auf diesen Prozess besagt dabei, dass er als Ganzer schon (fast) in der Hand dieses Feindes sich befindet – wenn nicht in letzter Minute die rettende ›Freund‹-Gestalt gegen ihn auftritt. Solche Denkfiguren stehen am Ursprung aller Verschwörungstheorien, und in diesen Vorstellungswelten gelten die prägnanten Symbole des Feindes als die zentralen Orientierungshilfen. Sie besetzen sozusagen das leere Zentrum der Geschichte, deren unbewusstes Resultat als die von dieser Gruppe bewusst gelenkte Intention dargestellt wird.«62

Kittsteiner machte wiederholt darauf aufmerksam, dass solche Erzählungen die Freiräume erobern, die eine Geschichtswissenschaft hinterlässt, die sich von Geschichtsphilosophien und allen Deutungen der Geschichte ›als Ganzer‹ aus methodologischer Überheblichkeit abwendet – und im schlimmsten Fall zudem 61 Kittsteiner, ›Gedächtniskultur‹ und Geschichtsschreibung, S. 316 f. Siehe hierzu: ders., Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes. 62 Heinz Dieter Kittsteiner, ›Iconic turn‹ und ›innere Bilder‹ in der Kulturgeschichte, in: ders., Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, München 2004, S. 153-182, hier: S. 178.

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von den Realitäten des Weltmarktes nichts wissen will. »Man kritisiert die Geschichtsphilosophie nicht ungestraft.«63 Das Bedürfnis nach Orientierung, nach Verständnis dessen, was den Menschen in der von ihnen erfahrenen ›Geschichte‹ widerfährt, ist eine Gegebenheit – und andere Akteure haben wenig Skrupel, es mit ihren Deutungen zu bedienen. Diese Zusammenhänge waren aber wiederum Ansatzpunkt für die Forschungen, die Kittsteiner selbst betrieb: »[...] was wir aber sehr gut gebrauchen können ist eine kritische Analyse der Funktion von Bildern in unserem Kopf. […] Die Untersuchung der Funktion der ›Bilder‹ beim Zustandekommen historischen Wissens ist nur ein Aspekt einer vielfältigen neuen Kulturwissenschaft. Schematische Bilder schematisieren auch die Geschichte. Ein kritischer Umgang mit zu Geschichtszeichen geronnenen ›inneren Bildern‹ ist nur eine der Aufgaben einer geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte.«64

Diese Formen totaler Geschichtserzählungen, die, um ein absolutes Feindbild gesponnen, Geschichte als Existenzkampf beschreiben,65 haben in letzter Konsequenz gewissensgeschichtliche Folgen: Hier bildeten sich »überwölbende Normen«, wie Kittsteiner formulierte, die vom Individuum einforderten, in bestimmten Situationen, bzw. gegenüber bestimmten Gruppen von den tradierten (und im Umgang der Angehörigen der eigenen Gruppe weiter geltenden) Gewissensregeln abzuweichen – zugunsten eines ›höheren‹ Zwecks: »Wenn aber der Zweck die Mittel heiligt, kann auch der Rahmen des normalerweise kulturell Gebotenen überschritten werden.«66 Kittsteiner fasste diesen gewissensgeschichtlichen Vorgang bzw. die von ihm hervorgebrachte Gewissensformation im Rückgriff auf ein Konzept Paul Tillichs als transmoralisches Gewissen. War diese Transmoralität bei Nietzsche noch gedankliches Spiel, wurde es im 20. Jahrhundert zu exis-

63 Heinz Dieter Kittsteiner, Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte, in: ders., Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004, S. 33-48, hier: S. 46. 64 Heinz Dieter Kittsteiner, ›Iconic turn‹ und ›innere Bilder‹ in der Kulturgeschichte, S. 178. 65 So brachte Adolf Hitler, bereits bei seiner ersten Rede vor einem Massenpublikum am 03.02.2021, seine Geschichtserzählung auf den existenziellen Nenner: »Zukunft oder Untergang«. Siehe: Ian Kershaw, Hitler 1889-1936, London 1998, S. 157 f. 66 Kittsteiner, Das Gewissen der Europäer, S. 311.

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tenziellem Ernst – und führt ins finstere Herz der heroischen Moderne und zum Kern der Kittsteinerschen Fragen.67

UNHEIMLICHE GÄSTE Die post- oder unheroische – und weiterhin unplanbare – Moderne erkundete Kittsteiner in seinem letzten zu Lebzeiten erschienen Buch, einem ironischen und experimentierfreudig geschriebenen, im Kern aber durchaus ernst gemeinten Essay, der von Deutschland im gegenwärtigen Weltmarkt handelt. In diesem, das war für Kittsteiner klar, würde auch die Angst nicht schwinden. 68 Angstauslösende Geschichtsbilder sind nach der kurzen Phase eines haltlosen Optimismus nach Ende des Kalten Krieges wieder virulent geworden. Wenn schon die Mediengeschichte zwischen Flugblatt und Kabelfernsehen sich als Dynamisierung der Verbreitung angstauslösender Nachrichten und Bilder beschreiben ließe, so wird der Befund wohl dadurch nicht positiver, dass inzwischen fast jeder Mensch seine auf ihn persönlich abgestimmte Hölle in der Tasche mit sich herumträgt. Der »Realprozeß«, der Weltmarkt, hatte sich ohnehin unter den Dogmen der radikal marktliberalen Theologie stetig weiter entwickelt. Unter dem gesellschaftlichen Verwandlungsprogramm dieser Provenienz wurde aus den Industriegesellschaften des Ostens69 wie des Westens70 für breite Bevölkerungsschichten eine Ökonomie der Unsicherheit und der systematischen Demütigung. »Wenn es keinen sozialen Aufstieg gibt, ist keine Erzählung von Zukunft mehr plausibel.«71 Die beängstigende Erfahrung von Ohnmacht der eigenen Geschich-

67 Zum Konzept des transmoralischen Gewissens in der heroischen Moderne siehe Kittsteiners Aufsatz Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert in diesem Band. 68 Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München 2008. Zur Wiederkehr historischer Ängste siehe in vorliegendem Band den Schlussabsatz von Heinz Dieter Kittsteiner, Stufen der Moderne. Die Entheroisierung der Geschichte. 69 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014. 70 Paul Krugman, The Great Unraveling. Losing our Way in the New Century, New York 2003; Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019; Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016. 71 Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika, München 2018, S. 37.

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te gegenüber wurde so massenhaft gelebt.72 Die schwarzen Löcher in den Peripherien des Marktes bestanden sowieso weiter: Was dort geschieht, wussten wir nie und wollen wir nicht wissen. Inzwischen kann sich dieser Vorstellung wohl kaum jemand verschließen: Die Zeit der Sicherheit ist vorbei. Die scheinbar stabilen Verhältnisse der Welt der Blockkonfrontation (sei es auch eine Stabilität unter dem drohenden Atomtod gewesen) sind dahin. Die schwer zu ertragende – wie Kittsteiner mit Verweis auf Lukács schrieb – »Diskrepanz zwischen der Rationalität im Einzelnen und der Irrationalität des Gesamtprozesses« konnte nur zeitweise verdrängt werden.73 Alles ist in Bewegung und es gibt keine Gewissheit. Seit wann? Zäsuren sind nur Symbole, starke Bilder, stellvertretend für langfristig sich vollziehende Entwicklungen – mit Vorliebe verdichtet in einem (geschichts-)zeichenhaften Bild der Katastrophe.74 Sie mag also setzen wer will, und unter Maßgabe der ihn ängstigenden Ereignisse, Bilder und Vorstellungen: 2001, 2008, 2015, 2016, 2020 – groß ist die Wundertüte des Schreckens. Verunsicherung, reale und befürchtete Unsicherheit führt zu Aggression und weckt autoritäre Versuchungen.75 Die Bilder der Angst werden mit Gegen-Bildern gekontert und politisch ausgemünzt, um selbst wieder Schockwellen auszusenden: Versammlungen und ihre

72 Guy Standing, The Precariat. The New Dangorous Class, London 2011. Hierin besonders von Bedeutung sind die Aussagen über den Zusammenhang von ökonomischer Unsicherheit, Abwendung von demokratischen Überzeugungen und die Stärkung einer neuen radikalen Rechten: A politics of Inferno, S. 132-154, darin insbesondere: Thinning democracy and neo-fascism, S. 147 ff. 73 Kittsteiner, Max Weber und die Schöne neue Welt, S. 131. Vgl. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin 1923, S. 112 ff. 74 Siehe zur Katastrophe als überdeutlicher »Schwellenerfahrung« eines Übertritts in eine ›neue Zeit‹ den Abschnitt Katastrophen als Movens einer veränderten Zeitstruktur, in: Jörg Trempler, Katastrophen. Ihre Entstehung aus dem Bild, Berlin 2013, S. 137 ff. 75 Für die Vorgänge in Deutschland: Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I, Berlin 2018. Zum Zusammenhang von Neoliberalismus und Autoritarismus: Walden Bello, Counterrevolution. The Global Rise of the Far Right, Rugby 2019; ders., The Race to Replace a Dying Neoliberalism, in: Foreign Policy

in

neoliberalism/

Focus.

13.05.2020:

https://fpif.org/the-race-to-replace-a-dying-

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Führer, vermeintlich machtvolle Männer und Macher76, Rudelbildungen gegen eine bedrohliche Welt, Projektionen dehumanisierter aber doch menschlichverletzlicher ›Feinde‹, heroische Selbstbilder, Große Mauern gegen Tatarenstürme: Sedimentierungsprozesse der Angst. Die Geschichte soll gemacht, gewendet, umgelenkt, eingedämmt oder aufgehalten werden. Pseudo-Politik mit Scheinlösungen für fiktionale Probleme. Raketen steigen strahlend in den Nachthimmel und künden von Macht und Willen. Ferne Kriege werden als Fernsehkriege spektakulär gewonnen – von Drohnen gefilmte Detonationen in fernen Schluchten, Konzerte in Ruinenstädten – um dann ebenso stillschweigend wie ziellos weiter geführt zu werden: Siebenjährige, Dreißigjährige, Hundertjährige Kriege. Gefahren werden beschworen, die es so nicht gibt, und reale Probleme zu Lügen erklärt. Einschneidende Maßnahmen werden in endloser Wiederholung angekündigt, ohne je eingeleitet zu werden. Grellste Phantasien werden über die pseudopolitische Bühne getrieben, um nur ja die Aufmerksamkeit von offensichtlichen Zuständen abzuziehen. Der Nachrichtenstrom simuliert ständige action, doch meist geschieht – nichts. Totale Verschwörungsphantasien kanalisieren derweil den Hass auf einen Weltenlauf, der sich ganz offensichtlich jenseits menschlichen Wollens und unserer Zwecke und Ziele vollzieht. Hier wird der Mensch – und sei es auch nur als Feind des Menschen – wieder zum handelnden Subjekt erhoben. ›In falscher kausaler Zurechnung‹, versteht sich. Das ›magische Denken‹, dessen Wirksamkeit in der Moderne Kittsteiner in der Nachfolge Ernst Cassirers nachging, 77 rückt wieder einmal von den Rändern ins Herz der Gesellschaft vor. Das Absurde ist überall und wir leben das Chaos. Doch man kann es auch abgeklärter betrachten: »Wenn es um Orientierung in der Geschichte geht, so kommt man nicht umhin, auf die Möglichkeiten eines ent-teleologisierten, geschichtsphilosophischen Zugangs zur Geschichte hinzuweisen. Die so erneut in eine kritische Stellung gebrachte Geschichtsphilosophie relativiert die politisch-kulturelle Orientierung an Werthaltungen des neukantianischen Typus insofern, als sie unter der Prämisse der Nicht-Machbarkeit der Geschichte die bloß politischen Handlungsmaximen mit ihren nicht intendierten Folgen konfrontiert.«78

76 So kehrt mit der wachsenden Sehnsucht nach ›Führung‹ auch die Heldengestalt in Form von Heldendarstellern auf die politische Bühne zurück. Siehe: Ulrich Bröckling, Postheroische Helden – Ein Zeitbild, Berlin 2020. 77 Siehe: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Stufen der Moderne, S. 26-29. 78 Kittsteiner, ›Gedächtniskultur‹ und Geschichtsschreibung, S. 322 f. (In: ders., Out of Control, S. 272.)

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Es scheint, als habe Kittsteiners Forschungsprogramm erheblich an Dringlichkeit gewonnen. Die »geradezu tagespolitische Aktualität«79 seiner Texte zu den

Zusammenhängen von Angst und (empfundenem) Kontrollverlust und der Forschungen zur Gewissensformung als Geschichte von Normsetzungskämpfen, ist deutlich. Kittsteiner starb 2008, zu Beginn jener Wirtschaftskrise, die gemeinsam mit den endless wars, den regionalen Deindustrialisierungsschüben, marktliberalen ›Reformen‹ und den seither nachgefolgten ›Krisen‹ jeder couleur den relativen gesellschaftlichen Konsens in allen ›westlichen‹ Demokratien zerrüttete.80 ›Die Geschichte‹, im neoliberalen Überschwang der 90er Jahre zugunsten eines angeblich effizienten und sich selbst optimierenden ökonomischen ›Fortschritts‹ gnädig verabschiedet, ist zurück, und sie bringt rauen Wind mit sich. Die vermeintlichen Gewissheiten sind ruiniert, und die komplexen Beziehungen von Angst und ›Geschichte‹, der Einfluss von Ängsten auf die Menschen in ihrer Geschichte81 – und damit auf ›die Geschichte‹ selbst – sind sehr präsent geworden.82 Die lange, aber wohl nur scheinbar bestehende Meinungsdominanz inner79 Richard Faber, Claude Conter, Vorbemerkungen, in: dies. (Hg.), Bernhard Groethuysen. Deutsch-französischer Intellektueller, Philosoph und Religionssoziologe, Würzburg 2021, S. 7-17, hier: S. 16. 80 Paul Krugman, The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008, New York 2008; Philipp Ther, Das andere Ende der Geschichte. Über die große Transformation, Berlin 2019; Adam Tooze, Crashed. How a Decade of Financial Crisis Changed the World, London 2018. Als Materialsammlung in Bezug auf solche Vorgänge gesellschaftlicher Erosion, die ein drängendes neues Forschungsfeld darstellen, sei (für das britische Beispiel) die Serie von Reportagen empfohlen, die John Harris und John Domokos seit 2010 für die Zeitung The Guardian unter dem Titel Anywhere but Westminster fortsetzen. 81 Siehe: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die RePersonalisierung des Feindes, in: ders., Wir werden gelebt, S. 103-128. 82 In den letzten Jahren ist ein wachsendes Interesse an der Rolle von Vorstellungen von Geschichte und der Verwendung von Geschichtsbildern durch historische Akteure festzustellen. Siehe z. B. die chronopolitischen Studien von: Christopher Clark, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018. Für die Frage nach dem Zusammenhang von Neoliberalismus und Autoritarismus sind die Überlegungen von Timothy Snyder zur Bedeutung von Geschichtsauffassungen von Interesse. Wie Kittsteiner beschreibt Snyder das gesellschaftlich vorherrschende Geschichtsbild als bestimmend für das Handeln der in ihm befangenen Akteure. Er benennt zwei chronopolitische Typologien: Die ›Politik der Unausweichlichkeit‹ (politics of inevitability), die von einer positiven Fortschrittsgeschichte ausgehe, und die ›Politik der Ewigkeit‹ (politics of eternity),

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halb der ›liberalen Gesellschaften‹ ist aufgebrochen, alles scheint zur Disposition zu stehen: auch und vor allem die Wertesysteme. Das war man offensichtlich längere Zeit nicht mehr gewohnt. Es gilt wieder, was wir für unsere Gegenwart vergessen oder nie bedacht hatten: »Was sich dann durchsetzt ist letztlich das Resultat eines gesellschaftlichen Kampfes um Werte.«83 Man wird sich darauf einstellen müssen.

deren Narrativ von einem ewigen und existenziellen Antagonismus von absolut ›guten‹ und ›bösen‹ Akteuren erzähle (oft in Verbindung mit Vorstellungen von einem zyklischen Geschichtsverlauf). Ähnlich wie Kittsteiner beschreibt Snyder die ›erste Globalisierung‹ ab 1880 und um 1900 als eine Phase dominierenden Fortschrittsoptimismus, dessen Verfall Geschichtsbildern der Bedrohung (personalisiert in fiktiven ›Feinden‹) und faschistischen Politikstilen (als Versprechen der Abwendung der Gefahren) zum Durchbruch verhalf. Chronopolitisch in ähnlicher Situation sieht er die Phase des neoliberalen Fortschrittsglaubens um die Jahrtausendwende, dessen Plausibilitätsverlust – besonders ab 2008 – zu einem Aufstieg von Geschichtsbildern der Bedrohung und autoritärer Politik führt. Da diese aufgrund ihres fiktionalen Geschichtsbildes zum Umgang mit realen Problemen nicht fähig sei, müsse sie selbst Krisen und ›Spektakel‹ erzeugen, um inszenierte Gefahren adressieren zu können – bringe damit aber nicht intendierte Folgen hervor: »Die Politik der Ewigkeit verlangt und produziert Probleme, die unlösbar sind, weil sie fiktiv sind.« Timothy Snyder, Der Weg in die Unfreiheit, S. 59. 83 Kittsteiner, Max Weber und die Schöne neue Welt, S. 123.

Vorbemerkungen zu Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert Richard Faber

»Wenn von Gewissen und Geschichte die Rede ist, so böte sich das 20. Jahrhundert als Zeitraum für eine Erforschung an. Doch das Gewissen ist nicht allein ein Produkt der Gegenwart; seiner Entstehung liegen Entwicklungen zugrunde, die weiter in die Tradition unserer Kultur zurückführen.«1 Mit diesen zwei Sätzen beginnt der zweite Absatz des Vorworts von Heinz D. Kittsteiners 2 kulturhistorischem Hauptwerk Die Entstehung des modernen Gewissens, zuerst erschienen 1991 beim Insel Verlag: damals schon mit der Ortsangabe »Frankfurt am Main und Leipzig«, also verlegt unmittelbar nach der ›Wiedervereinigung‹. Zuvor, im letzten Satz des ersten Vorworts-Absatzes, heißt es, der Verfasser habe über das Gewissen geforscht und geschrieben aus dem »Bewusstsein« 1

Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. und Leipzig 1991, S. 11.

2

Es ist mehr als anekdotenverliebt oder gar nur peripher, sondern im hiesigen Kontext unumgänglich, kurz auf Kittsteiners Namensgebung und den von ihm erwünschten Umgang mit ihr einzugehen: »Heinz D. Kittsteiner« ist eine (wohl vom Verlag erzwungene) Kompromißbildung. Offiziell bzw. amtlich hieß »Kitt« Heinz Dieter Kittsteiner, was ihn jedoch seit früher Jugend außerordentlich verdroß: »Heinz Dieter« und nicht wenige ähnliche Doppelvornamen waren eine ›originäre‹ Nazi-Erfindung bzw. -Vorliebe. Kitt fühlte sich im tiefen Wissen darum durch »Heinz Dieter« zeitlebens stigmatisiert und zeichnete deshalb, wo es irgend ging, mit »H. D. Kittsteiner« und genannt werden wollte er (selbst von engsten FreundInnen) nur »Kittsteiner« oder »Kitt«, wie eben zwei mal geschehen. (In frühen Studentenjahren, im West-Berliner Studentenheim ›Studentendorf‹ soll auch »Kitti« vorgekommen sein, wie mir die, gleich Kittsteiner und mir, von Jacob Taubes promovierte Irmela Reimers-Tovote anvertraut hat.)

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heraus, »mit allem Denken und Handeln in einen historischen Prozess verstrickt zu sein, dessen Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Fortgang man nicht ohne Gewissensbedenken betrachten kann.«3 – ›Selbstverständlich‹, kommentiert jeder Historiker und nicht nur der der Zeitgeschichte denkt sich beim zuerst zitierten Satz: »Wenn von Gewissen und Geschichte die Rede ist, so böte sich das 20. Jahrhundert als Zeitraum für eine Erforschung an« sofort ein ›vor allem‹ dazu: Vor allem das kurze, jedoch ›extreme‹ 20. Jahrhundert »böte sich [...] als Zeitraum für eine Erforschung« der Gewissensproblematik »an«. Autor Kittsteiner lässt freilich erst auf den letzten 2-3 Seiten seines über vierhundertseitigen Buches die aktuelle (Wild-)Katze aus dem Sack, wenn er ›eingesteht‹, dass es sich bei seinen (früh-)neuzeitlichen Recherchen um einen Benjaminschen Tigersprung ins Vergangene handelt; getätigt vom 20. Jahrhundert aus, in dem – unter Berufung auf das Gewissen – »die größtmöglichen Übel geschehen« sind. Konfessorisch bis homiletisch, ja adhortativ fügt Kitt an: »Nur eine neue Aufklärung kann das Gewissen [...] aus einer angemaßten Verantwortung für das Ganze [...] herausführen.«4 Bereits wenige Sätze zuvor heißt es präzisierend: »Die (zu bekämpfenden, ja zu vernichtenden, R.F.) ›Anderen‹ waren zuerst die Feinde Gottes, die nach dem Wort compellite intrare vertilgt werden mussten; später wurden daraus die Klassenfeinde, die nicht mitwollten, oder die Rassenfeinde, die nicht mitdurften in das neue Reich der ewigen Ordnung.«5 Doch erst der hier im Folgenden wieder abgedruckte Aufsatz Kittsteiners aus dem Jahre 1996/97 6 lässt keinen Zweifel daran, dass der »Sitz im Leben« der neuzeitlichen Gewissensgeschichte von 1991 vor allem die jüngste deutsche Vergangenheit ist: das spezifisch »deutsche« Gewissen, schon von Paul Tillich 1945 identifiziert als transmoralisches. Kittsteiner beschreibt, analysiert und kritisiert es ausführlich in seinem IV. und V. Kapitel, welch letzteres mit dem so sprechenden wie offiziellen Slogan: »Mein Gewissen heißt Adolf Hitler« überschrieben ist. Hier findet sich auch, wenig überraschend, das berühmt-berüchtigte Himmler-Zitat: »Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen daliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten und dabei, von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist 3

Heinz D. Kittsteiner, a.a.O.

4

Ebd., S. 410.

5

Ebd.

6

Eine frühere Fassung erschien als: Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert. Der 20. Juli im Licht der Gewissensdiskussion der 50er Jahre, in: Loccumer Protokolle 12/1995, Loccum 1996, S. 22-40.

Vorbemerkungen zu Das deutsche Gewissen | 317

ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer (SS-)Geschichte.«

Kittsteiner bietet jedoch noch heute deutlich mehr als inzwischen Bekanntes. Davon abgesehen, dass er dieses besonders gut präsentiert, bietet er auch einen vorzüglichen Abriß der deutschen Vorgeschichte des NS-Gewissens. Einschlägige Stichworte sind: die »Entmoralisierung des Gewissens« aufgrund seiner Verstaatlichung bzw. »Nationalisierung« schon im frühen 19. Jahrhundert; die Militarisierung des Gewissens, die zugleich seine perverse Theologisierung bedeutete. Kitt spricht in diesem Zusammenhang vom »Gott der Koppelschlösser«, auf denen eben stand, noch im »Dritten Reich«: »Gott mit uns«, was Anlass zu drei weiteren Anmerkungen gibt: Auf Kitts Beitrag zum deutschen Gewissen im 20. Jahrhundert folgte im von mir 1997 beim Würzburger Verlag Königshausen & Neumann herausgegebenen Sammelband Politische Religion – religiöse Politik unmittelbar der Aufsatz des gleichfalls verstorbenen reformierten Theologen Dietrich Braun, eines Barthianers comme il faut: ›Gott mit uns‹. Zur Frage der Nation als Thema gegenwärtiger theologischer Ethik. Schon im letzten Absatz von Kitts Beitrag ist ausdrücklich die Rede davon, dass sich »heute« wieder »Stimmen in den Vordergrund« drängten, die »eine ›Selbstbewusste Nation‹« einforderten.7 Gerade auch unser Autor hatte noch/schon damals seinen Bertolt Brecht im Ohr: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« Schließlich und endlich ist es Kitt gewesen, der für das Cover des gemeinsamen Sammelbandes das Foto eines seiner berühmten Sammlung gehörenden Original-Koppelschlosses der königlich-preußischen Armee mit inzwischen bekanntem Spruch, Krone und Lorbeer-, noch nicht Eichenblättern zur Verfügung stellte. Allein schon dadurch wurden sein und Brauns Beitrag von vornherein herausgehoben. Freilich waren auch die Beiträge von Julia Zernack (†), Justus H. 7

Kitt bezog sich damit auf den von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband gleichen Namens, der bereits in seinen Erscheinungsjahren 1994/95 viele der noch heute aktiven rechtsradikalen Publizisten versammelte; darunter auch (zu Kitts Leidwesen) seinen zeitweiligen Freund (von den Berliner Blättern her) Rüdiger Safranski.

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Ulbricht, Esther Gajek und Yasmin Doosry, versammelt unter der Überschrift: »Germanismus und Parachristentum im Vor- und Umfeld des Nationalsozialismus«, voll einschlägig. Selbst auf »Deistische Moral versus theokratischer Absolutismus« von Siegfried Detemple (†) und »Christlicher Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika« von Frank Unger (†) kann verwiesen werden, natürlich auch auf »Religion und Krieg« von Jörg Rüpke (einem Schüler des Religionshistorikers Hubert Cancik, dem der Sammelband »zum 60. Geburtstag« gewidmet war8). Der Rüpkesche Schlussbeitrag rekurriert nicht zuletzt auf die römische Antike, Kittsteiner selbst, des potentiellen ›Tyrannenmörders‹ von Stauffenberg wegen, immerhin auf Thomas von Aquin sowie – ›natürlich‹ möchte man sagen – auf Martin Luther und die Seinen, schließlich die ›Heilige Schrift‹ höchst selbst; so wie er ausdrücklich auf sein sechs/sieben Jahre früher erschienenes und der (frühen) Neuzeit gewidmetes Gewissens-Buch verweist. Vor allem aber endet der Aufsatz von 1996/97 mit genau der ›Ermahnung‹, mit der sinngemäß schon Die Entstehung des modernen Gewissens geschlossen hat: »man« müsse sich »ablösen ... von den auf die Geschichte bezogenen Formen eines transmoralischen Gewissens«. (Was das Buch angeht, vgl. dort die allerletzten Seiten 409-412.) Kitt ›predigt‹ hier, im Buch ausdrücklich, auch gegen Hegelianismus und Marxismus, gleichsam seine Dissertation von 1980 fortschreibend 9. Darauf möchte ich hier nicht eingehen, also auch nicht auf den vielleicht nicht nur mir allzu kategorischen Imperativ zum Schluss des Gewissens-Buches: »... es kommt nicht darauf an, die Welt zu lieben, wie sie sein könnte, sondern die Welt zu lieben, wie sie ist.«10 Mir ist an dieser Stelle allein wichtig, dass Kitt wie nahezu alle deutschen Intellektuellen der Jahrgänge 1935 folgende, gerade auch die

8

Canciks Oeuvre ist so vielgestaltig wie umfangreich. Ich verweise hier nur auf: ders., ›Wir sind jetzt eins‹. Rhetorik und Mystik in einer Rede Hitlers (Nürnberg, 11.9.1936), in: ders., ANTIK. MODERN. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte. Hg. von Richard Faber, Barbara von Reibnitz und Jörg Rüpke, Stuttgart, Weimar 1998, S. 229-264.

9

Vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980.

10 Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 412. – Dass dieses Dictum Reformismus keineswegs ausschloss, belegt u. a. diese recht unbekannte Miszelle Kitts: ders., Gesamtzusammenfassung der Diskussionen in: Irmela ReimersTovote, Hartmut Reichardt (Hg.), Symposion: ›Zur Geschichte der Menschenrechtsdiskussion‹ (= Loccumer Protokolle 77/1989), S. 196 f.

Vorbemerkungen zu Das deutsche Gewissen | 319

Historiker unter ihnen – schon vor ›1968‹ – traumatisiert war von den Verbrechen des ›Dritten Reiches‹. Erneut kann man ›selbstverständlich‹ sagen, doch – so mein unauslöschlicher Eindruck aus jahrzehntelanger Freundschaft – Kitt war von ihnen ganz besonders betroffen. Die sich mir bis heute am tiefsten eingeprägte Erinnerung an ihn ist seine Erzählung von der Art, wie er während Vollversammlungen des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin, auf dem Boden sitzend, einen Band nach dem anderen der Nürnberger Prozess-Protokolle las und wie ihm dabei, von mal zu mal sich steigernd, Entsetzen, Empörung und ein ›Nie wieder!‹ habituell geworden seien. Er erzählte davon nicht laut, doch seine Stimme zitterte leicht und sein Körper bebte für den Zunächststehenden merklich. Kitt konnte recht ›cool‹ wirken und wollte es sicher auch. Sein Witz (in jedem Sinn des Wortes) war groß, er war insgesamt zum Kyniker geworden, doch nie zum Zyniker, wenn das manchem hie und da auch so erscheinen mochte. ›Neue Sachlichkeit‹ war seit spätestens Ende der 70er Jahre Kitts Parole, doch war das gerade auch Ausdruck eines als persönlich empfundenen Defizits, dem jetzt endlich abgeholfen werden sollte. Schon mein gymnasialer Deutschlehrer meinte: »Man spricht immer von dem, was man nicht hat.« Dr. Reiß fiel bei diesem Ceterum censeo, sonst immer ein gutes Hochdeutsch sprechend, stets in den vorderpfälzischen Dialekt. In ihm, der auch der meine und bis heute beherrschte ist, sagte ich einmal, während eines gemeinsamen Urlaubs zu Kitts jahrzehntelangen Lebensgefährtin, unter deren großem zustimmenden Gelächter und Kitts eigenem unübersehbaren Schmunzeln: »Dess Buwel sieht so brav aus, hotts awer fauschtdick hinner de Ohre.« So war es mit ihm, doch genau so stimmt, was ich heute formuliere wie folgt: Kittsteiner konnte ungeheuer emotionslos erscheinen und war doch von höchster (ihm nicht unpeinlicher) Sensibilität. Und, nicht weniger wichtig: So sehr er zum bekennenden Agnostiker geworden war, gerade auch Protestantismus-Kritiker, Moralist als solcher ist er geblieben, wenn nicht sogar verstärkt geworden – unabhängig davon, dass sich der von ihm vertretene moralische Anspruch inhaltlich geändert hatte und seine Begründung eine nicht mehr religiöse, gar lutherische war. Kitt konnte so gut über neuzeitliche Gewissensgeschichte, die stets auch Religionsgeschichte ist, schreiben, weil er – was Kenntnis und Empathie anging – religiös musikalisch geblieben war: weil an seiner Wiege, in seiner Kindheit und frühen Jugend noch religiös gesungen wurde. Wer’s nicht glaubt, Hortense von Heppe, Christine Holste und ich können es bezeugen: Kitt konnte bis an sein allzu frühes Lebensende nicht wenige Kirchenlieder auswendig und sang sie makellos. ›Gelernt ist gelernt‹, wie ich als ›gelern-

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ter Katholik‹ schließe – auch des gelernten Juden (und ordinierten Rabbiners) Jacob Taubes gedenkend, Kitts und meines gemeinsamen Doktorvaters. 11

11 Was ihn angeht, verweise ich u. a. auf Richard Faber, ›Das ist die Synagoge, in die ich nicht gehe.‹ Über politisch-religiöse Witze, in: R. Faber (Hg.), Politische Religion – religiöse Politik, S. 331-49 sowie auf Richard Faber, Eveline Goodman-Thau, Thomas Macho (Hrsg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001, schließlich auf: Heinz-Dieter Kittsteiner, Von der Gnade zur Tugend. Über eine Veränderung in der Darstellung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Norbert W. Bolz, Wolfgang Hübener (Hg.), Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes, Würzburg 1983, S. 135-148. – Allerletzte Anmerkung: Für Kitt waren die größten Gelehrten, die er persönlich kennengelernt hatte, in chronologischer Reihenfolge: Ernst Bloch, Jacob Taubes und Reinhard Koselleck.

Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert Heinz Dieter Kittsteiner

I. UNWILLKOMMENE MÄRTYRER Eine neue Literaturübersicht zum 20. Juli weist noch einmal darauf hin, daß den Frauen und Männern des Widerstandes sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der DDR »die rechte Anerkennung versagt blieb«. Das ist noch milde ausgedrückt. Ich will zunächst einmal das mentale Klima darstellen, in dem nach dem Krieg über den Widerstand gesprochen wurde. Als Werner und Heinrich von Trott auf den Stammsitz ihrer Familie zurückkehrten, richteten sie zum Gedenken an den Bruder Adam von Trott zu Solz ein weithin sichtbares Holzkreuz auf, mit einer Inschrift, »Hingerichtet mit den Freunden im Kampf gegen die Verderber unserer Heimat. Betet für sie, beherzigt ihr Beispiel«. Die Leute aus dem Dorf Imshausen beherzigten das Beispiel keineswegs. Für sie war Trott zu Solz ein Verräter und sie meinten, man solle doch die beiden anderen Brüder noch dazu hängen, die Querbalken des Kreuzes seien doch dafür geeignet. Mehr als 40 Jahre dauerte es, bis sich die evangelische Gemeinde des Ortes dazu bequemte, den Namen Adam von Trott mit auf die Gefallenengedenktafel in der Dorfkirche zu setzen.1 Einen guten Einblick in diese Grundhaltung der 50er Jahre bietet ‒ wider Willen – die Sondernummer der Zeitschrift »Das Parlament«, die dem 20. Juli 1952 gewidmet ist. Eigentlich berichtet sie von dem in Braunschweig verhandelten Remer-Prozeß; insofern betrachte ich den 20. Juli zunächst im Lichte dieses Ge1

Ulrich Heinemann, Arbeit am Mythos. Neuere Literatur zum bürgerlich-aristokratischen Widerstand gegen Hitler und zum 20. Juli 1944 (Teil 1), in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 111- 139, hier: S. 113. - Wolfgang M. Schwiedrzik, Träume der ersten Stunde. Die Gesellschaft Imshausen, Berlin 1991, S. 7.

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richtsverfahrens. Otto Ernst Remer war am 20. Juli 1944 Kommandant des Wachbataillons »Großdeutschland«, ihm fiel eine der entscheidenden Weichenstellungen in Berlin zu. Er war einbezogen in den Operationsplan »Walküre«, schöpfte aber Verdacht, telefonierte mit Goebbels, der ihn mit Adolf Hitler verband: »Es wurde mir sofort Gelegenheit gegeben, den Führer sofort persönlich zu sprechen. Der Führer sagte, daß er unverletzt sei, und fragte mich, ob ich ihn an seiner Stimme erkenne. Ich bejahte das. Der Führer wies auf den gemeinen verbrecherischen Anschlag hin und sagte mir, daß ich ihm direkt unterstünde, bis der Reichsführer Himmler einträfe, den er als Chef des Heimatheeres eingesetzt habe.«2

Diese persönliche Unterordnung unter den Führer hat in Remers Leben nie aufgehört; noch heute vertreibt er den Leuchter-Report. In den frühen 50er Jahren war er zweiter Vorsitzender der dann verbotenen SRP. Als Wahlredner der »Sozialistischen Reichspartei« hatte er am 3. Mai 1951 gesagt: »Diese Verschwörer sind z.T. in sehr starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Ausland bezahlt wurden. Sie können Gift darauf nehmen, diese Landesverräter werden sich eines Tages vor einem deutschen Gericht zu verantworten haben.« Daraufhin war er u.a. von Marion Gräfin York v. Wartenburg, Annedore Leber, Uwe Jessen und Alexander von Haase wegen Beleidigung angeklagt worden. Das Gericht stellte fest, daß Remer immer noch in den Anschauungen des Jahres 1944 lebte; was damals aber verständlicher Irrtum gewesen sei, sei heute »unbelehrbarer Trotz«. Er bekam 3 Monate Gefängnis »wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener«3 Es ist nun interessant zu sehen, daß im Umfeld des Remer-Prozesses mehrere Gutachten zum Gewissen erstellt worden sind, die Licht auf die Diskussionen der frühen 50er Jahre werfen. Bevor ich aber darauf eingehe, will ich anhand der Überschriften der Artikel im »Parlament« die Verteidigungsposition darstellen, in der sich die Verfechter des 20. Juli befanden: »Der Prozeß gegen Remer und die Dolchstoßlüge.« »Eine neue Schuldlegende im Entstehen«. Was vielleicht heute schon fast vergessen ist: In den frühen 50er Jahren versuchte die Rechte noch einmal, eine Dolchstoßlegende aufzubauen. Diesmal sollten es die Hoch- und Landesverräter gewesen sein, die dem schwerringenden Heer in den Rücken gefallen waren. Das wichtig- ste Gutachten zum Remer-Prozeß ist daher der Frontbericht von Prof. Dr. Percy E. Schramm. Der Mediävist P. E. Schramm war seit März 1943 als Kriegstagebuchführer im Wehrmachtsführungsstab beschäftigt gewesen; seine Aussage im Remer2

20. Juli 1944. Ein Drama des Gewissens und der Geschichte. Dokumente und Berichte, Freiburg 1963, S. 126.

3

Das Parlament. Sonderausgabe »20. Juli«, 1952, S. 30 u. S. 31.

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Prozeß wies nach, daß der Krieg am 20. Juli 1944 bereits verloren war – und zwar aus ganz natürlichen Gründen der materiellen Überlegenheit der Alliierten – so daß einem möglichen »Verrat« ohnehin keine Bedeutung mehr zugekommen sei. Daß diese Argumentation in allen Details ausgebreitet werden mußte, ist bezeichnend: »Katastrophenfront im Osten«, »Frontzusammenbruch keineswegs durch Verrat«, »Front im Westen – auf die Dauer unhaltbar«, »Gab es Wunderwaffen?«, »Das Märchen von der Atombombe«. Schramm kam schließlich zu dem Resultat, daß der Ausgang des Krieges weder durch Sabotage noch durch Verrat erklärt werden könne. Der Verteidiger von Otto Ernst Remer – ein Dr. Wehage – zeigte sich übrigens durch diesen Vortrag keineswegs beeindruckt, er argumentierte wie jemand, der die Mehrheit der Stimmung im Volke hinter sich weiß. Stauffenberg selbst habe doch 1944 gesagt, die Chancen seien »fifty-fifty«. Dr. Otto John (er war damals noch im Westen) präzisiert, Stauffenberg habe den Krieg für verloren gehalten, aber eine Chance von 50 : 50 gesehen, die Landung der Alliierten in der Normandie zu verhindern. Wehage wendet wieder ein, Churchill habe doch gesagt, er führe nicht Krieg gegen Hitler, sondern gegen das deutsche Volk. In einer solchen Situation sei es aber höchst zweifelhaft, ob ein Militärputsch im Sinne eines deutschen Gemeinwohls gewesen sei. 4 Eben das aber ist es, was die Gutachter für den 20. Juli immer wieder zu beweisen suchen: daß die Wendung gegen Hitler für und nicht gegen das deutsche Volk gedacht war. Vor diesem Hintergrund sind auch die Gutachten zum »Gewissen« zu lesen. Wenn vom Gewissen in den 50er Jahren die Rede ist, denkt man zuerst an die publizistische Offensive im Gefolge des 10. Jahrestages des 20. Juli im Jahre 1954, an die Massenverbreitung der Bildbände von Annedore Leber: »Das Gewissen steht auf« und »Das Gewissen entscheidet«.5 Sie suggerieren schon vom Titel her, daß es so etwas wie eine Unbedingtheit des Gewissens gibt. Doch im Rückblick evoziert der Buchtitel auch unbotmäßige Gedanken. Das Gewissen steht auf. Was hat es – um im Bilde zu bleiben – denn vorher getan? Hat es vielleicht bequem gesessen oder ein wenig geschlafen? Es gibt gar nicht so viele verbale Wendungen, denen ein Gewissen als Subjekt zugeordnet ist. Nach dem Grimmschen Wörterbuch kann das Gewissen drücken, schlagen, beißen, nagen, widersprechen. Es kann schlafen, es kann sich aber auch regen und es kann erwachen. Im Grunde ist das der alte theologische Wortschatz. Ein »aufstehendes« Gewissen ist nicht 4

Ebd., S. 18-20.

5

Annedore Leber in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher (Hg.), Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand, Berlin, Frankfurt a.M. 1956 (l. Aufl. 1954). - Annedore Leber u. a., Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstandes von 1933-1945 in Lebensbildern, Berlin, Frankfurt a.M. 1957.

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eigens verzeichnet; zum älteren Sprachbestand scheint es nicht zu gehören. Das ist verständlich, denn wenn das Gewissen zu stehen hatte, dann stand es vor dem Richterstuhl Gottes. Dort aber steht es nicht selbstbewußt, sondern demütig, gedemütigt wegen seiner Verfehlungen und Irrtümer ‒ gerettet nur durch die in Christus zugesagte Gnade. Seit wann von einem »aufstehenden« Gewissen die Rede ist, habe ich noch nicht herausgefunden, vielleicht hängt seine Karriere zusammen mit der Nationalisierung seiner Inhalte im 19. Jahrhundert. Das Gewissen also steht auf – könnte das zunächst einmal heißen, daß ein Gewissen sich aus seinen vorherigen Irrtümern herausarbeitet? Aber was heißt hier Irrtum, ist nicht auch das irrende Gewissen (die alte »conscientia erronea«) ein Gewissen? Mit solchen Fragestellungen komme ich dem eigentlichen Thema meines Vortrages näher. Gibt es verschiedene Typen von »Gewissen«, mußte sich ein moralisches Gewissen ganz allmählich wieder aus einem andersartigen – vielleicht »transmoralischen« Gewissen herausschälen? Eine lapidare Wendung aus einem der Beiträge in jener Sondernummer des »Parlaments« gibt davon eine Vorstellung. In einem Artikel »Aus der Sicht der Frontsoldaten« heißt es, im Hinblick auf die Mehrzahl der Offiziere: »Diejenigen, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten, am Putsch teilzunehmen, haben Verständnis für diejenigen, die ihr Gewissen zwang einzugreifen«.6 Hier ist großmütig in Aussicht gestellt, daß die Mehrheit (die bei ihrem »Gewissen« geblieben war) einmal denjenigen verzeihen wird, die ein abweichendes Gewissen gezeigt hatten. Die beiden Gewissens-Gutachten im Remer-Prozeß stammen von Prof. Dr. Rupert Angermair (aus katholischer Sicht) und von Prof. Dr. Iwand (evangelischprotestantisch). Angermair bejaht vorsichtig den Tyrannenmord unter Hinweis darauf, daß der »Fahneneid« nicht mehr bindend gewesen sei, weil Hitler ja selbst den Eid gebrochen habe, denn »ihr Eid ging wesentlich auf das Gemeinwohl des deutsches Volkes, auf das auch Hitler vereidigt war«. Der Protestant tut sich wesentlich schwerer. Da er an Röm. 13. nicht vorbeikommt, muß er Hitler als den »A-Nomos« kennzeichnen, als den »gesetzlosen Menschen«, als den Anti-Christen und als das »Tier aus dem Abgrund«. Remers Verteidiger, Dr. Wehage, macht sich denn auch weidlich über ihn lustig. Der Jurist will wissen, worin denn die Gesetzlosigkeit des III. Reiches bestanden habe. Iwand antwortet: »Es ist dahin gekommen vor allen Dingen durch die Ausschreitungen gegen die Juden und gegen die marxistischen Elemente, daß eine solche Rechtlosigkeit bei uns eintrat, daß dadurch das Chaos vor der Tür stand«. Aha, folgert Wehage, also hat jeder, der nicht gleich einen Revolver zur Hand nahm, nicht richtig gehandelt? Das will Iwand so nun auch wieder nicht verstanden wissen. Die Debatte wird uferlos, zumal Wehage sofort auch den unbedingten Widerstand in der »Ostzone« fordert. 6

Das Parlament, a.a.O., S. 23.

Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert | 325

Schließlich gibt es noch ein kurzes Gutachten des Rechtsphilosophen Prof. Dr. Eric Wolf mit dem Tenor: »Widerstandspflicht ‒ nicht Widerstandsrecht«. Er verweist noch einmal auf die zentrale Bedeutung des Fahneneides. Tatsächlich spielt der Fahneneid den wesentlichen Part bei der Frage, ob sich überhaupt ein Gewissen vom Führer abwenden durfte. Stellt man die Frage so, dann ist sie auch in die richtige historische Dimension gerückt. Die meisten Belege zeigen, daß nicht einfach ein autonomes Gewissen »aufstand«, sondern daß sich ein widerstrebendes Gewissen allmählich gegen ein in die NS-Doktrin eingebundenes Gewissen hat Gehör verschaffen müssen.7

II. DIE ANALYSE EINER EIDESFORMEL Ebenfalls aus dem Jahre 1952 stammt die Untersuchung des Soldateneides von Prof. Dr. Elert. Sie steht nicht im direkten Zusammenhang mit dem RemerProzeß, sondern kommt wohl aus dem Umfeld der Diskussion um die Wiederbewaffnung. Werner Elert (um das hinzuzufügen) war 1934 einer der führenden Köpfe des »Ansbacher Ratschlags«, einer Position zwischen den »Deutschen Christen« und dem »Barmener Bekenntnis«. Die scheinbar geringfügige theologische Differenz zu den Barmenern bestand in der Auffassung, daß Gott zu uns in »Gesetz und Evangelium« redet. In der politischen Konsequenz aber hieß das, daß sich die Christen in die gesetzten »natürlichen Ordnungen« hinein gestellt sahen, denen sie unterwarfen seien, in »Familie, Volk, Rasse (d. h. Blutszusammenhang)«. Die Machtergreifung Hitlers konnte folgendermaßen begrüßt werden: wir »danken ... als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not unseren Führer als ›frommen und getreuen Oberherrn‹ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ›gut Regiment‹, ein Regiment mit ›Zucht und Ehre‹ bereiten will«. Daß – wie Klaus Scholder dokumentiert – Paul Althaus in letzter Minute die ursprüngliche Wendung »bereitet hat« in »bereiten will« änderte, macht die Sache auch nicht viel besser.8 Ich erwähne die kirchenpolitische Stellung W. Elerts in den ersten Jahren des III. Reiches nicht in der Absicht späteren wohlfeilen Moralisierens; ich will nur andeuten, daß er die Differenzen, die er 1952 an den Analysen des Fahneneides erkennt, in den frühen Jahren wahrscheinlich selbst nicht gesehen hätte.

7

Ebd., S. 25 -28.

8

Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom, Berlin 1985, S. 210.

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Bis zum Jahre 1919 war in Deutschland die religiöse Eidesformel für den Soldateneid vorgeschrieben. Sie hatte für Katholiken und Protestanten verschiedene Bekräftigungsformeln am Schluß. Das schlichte »So wahr mir Gott helfe« galt ursprünglich nur für Personen jüdischen Glaubens; seit 1867 wurde diese Formel generell übernommen. Der Eid wurde »zu Gott dem Allwissenden und Allmächtigen« geschworen. Nach dem Ende der Monarchie und des Gottes der Koppelschlösser fiel der religiöse Bezug im Eid der Reichswehr weg. Es hieß jetzt nur noch: »Ich schwöre Treue der Reichsverfassung und gelobe, daß ich als tapferer Soldat das Deutsche Reich und seine gesetzmäßigen Einrichtungen jederzeit schützen, dem Reichspräsidenten und meinem Vorgesetzten Gehorsam leisten will.« 9 Beim Fahneneid im III. Reich kehrte die religiöse Formel in veränderter Form wieder zurück. Zu seiner Vorgeschichte sei nur kurz erwähnt, daß der Eid in dieser Form Hitler angedient wurde, weil das Heer in der Auseinandersetzung mit der SA sich als der alleinige Waffenträger der Nation empfehlen wollte. In einem Interview zu dieser Frage: »Wer hatte eigentlich angeordnet, daß von 1934 an jeder Soldat seinem Führer Adolf Hitler die Treue schwören mußte? War das ein Wunsch Hitlers?« antwortete Manfred Messerschmidt: »Nein. Das war ausschließlich eine Idee der Armee. Das kam von Blomberg und Reichenau. Man wollte ein für allemal beweisen, wie loyal man Hitler ergeben war.« 10 Dieser Eid lautete nun: »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich den Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler, dem obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.« Am 19. August 1934 wurde Hitler als Staatsoberhaupt bestätigt; am 20. August wurde der Eid im Gesetzblatt verkündet. Bei seiner Formulierung will der Adjutant Reichenaus gezögert und gesagt haben: »Ja, Gott, heiliger Eid und Nationalsozialismus – das verträgt sich doch nicht.« Reichenau aber habe gesagt: »Ein Eid ohne Gott ist kein Eid« – und dann den Eid in der bekannten Form diktiert. Pater Max Pribilla S.J. – der das alles in seinem Gutachten zum Widerstandsrecht erwähnt – macht sich Gedanken darüber, warum jemand wie Hitler auf religiöse Formen ebenfalls Werte habe legen können: »Der Eid soll den Menschen bis in die Tiefe seines Gewissens ergreifen und ihn auch dort binden, wo er

9

Werner Elert, Zur Frage des Soldateneides, in: Deutsches Pfarrerblatt. Bundesblatt der deutschen evangelischen Pfarrervereine, Nr. 13/52. Jg., Essen 1952, S. 385-387, S. 418-420, S. 453-455, hier: S. 385.

10 Manfred Messerschmidt, Hitlers ehrenhafte Komplizen, in: Die Zeit Nr. 5. 29. Jan. 1993, S. 40.

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nicht mehr durch Menschen kontrolliert werden kann oder irgendeine menschliche Strafe zu fürchten hat.«11 Zurück zu Werner Elert. Er macht auf den Unterschied von »zu Gott« und »bei Gott« aufmerksam und verweist darauf, daß der Begriff der »Heiligkeit« in der Sprache der NS-Propaganda auch für »rein säkulare Gegenstände in Anspruch genommen« wurde. Das ist völlig richtig; man darf nur nicht übersehen, daß »Deutsche Christen« und andere diese Sprache begeistert mitgetragen haben. Eine Kostprobe aus einer Schrift von Hans Schomerus aus dem Jahre 1939 kann das belegen: »Der Soldat verschwört sich bei Gott, der Fahne und dem Herren oder Führer [...]. Dies Erwachen ist die eigentliche Probe des Mannes. Nicht das ›Natürliche‹, sondern das ›Heilige‹ macht den Mann zum Mann [...]. Der Fahneneid ist göttliche Berufung in das Mannestum«.12 Elert macht nun Folgendes: In der Analyse des Eides findet er einen »reinen Gehorsamseid«, vor allem in der Gelobung des unbedingten Gehorsams, die in dieser Weise in älteren Militäreiden nicht vorkomme, und der zwar den Eidgeber, nicht aber den Führer binde. Insofern geht die Formel über den wechselseitig verpflichtenden Treueid hinaus; Elert schließt sich nicht den Deutungen an (die im Remer-Prozeß häufig waren), daß ja Hitler seinerseits dem Deutschen Volk die Treue gebrochen habe, also auf Treue auch keinen Anspruch mehr erheben konnte. Elert findet eine andere Differenz. Er konfrontiert die Eidesformel mit den »Pflichten des Deutschen Soldaten«, erlassen am 25. Februar 1934. Darin heißt es: »Die Wehrmacht ist der Waffenträger des Deutschen Volkes. Sie schützt das Deutsche Reich und Vaterland, das im Nationalsozialismus geeinte Volk in seinem Lebensraum« – nur ist vom »Führer« in allen Artikeln nicht die Rede. Die Ziffer 7 verpflichtet den Soldaten sogar auf die »Gottesfurcht«. Daraus leitet Elert nun her, daß Gottesfurcht das eigene Gewissen nicht auslösche wie im »unbedingten Gehorsam«, sondern sogar stärke. Damit hat er den Widerspruch entdeckt, um zu unterscheiden zwischen »eidgerechten« aber »pflichtwidrigen« Befehlen. Was damit gemeint ist wird deutlich, wenn er sogleich dazusetzt, daß »zur Ausführung solcher Befehle hauptsächlich Partei- und Polizeiorgane« herangezogen wurden – eine Schutzbehauptung aus den 50er Jahren, die von der neueren Forschung gründlich widerlegt ist. Elert zeigt dann ganz plausibel, daß in den 11 Pater Max Pribilla S.J., Der Eid nach der Lehre der katholischen Moraltheologie, in: Europäische Publikation e.V. (Hg.), Vollmacht des Gewissens, Bd. 1, Frankfurt a.M., Berlin 1960, s. 163. 12 Elert, a.a.O., S. 386; Hans Schomerus, Ethos des Ernstfalles, Berlin 1939, S. 25 ff. – Zu Schomerus vgl. W. Niemöller, Kampf und Zeugnis der bekennenden Kirche, Bielefeld 1948, S. 422.

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Jahren der militärischen Erfolge die Differenz zwischen Eid und Pflicht kaum wahrgenommen wurde, daß aber zum Ende hin deutlich geworden sei, daß Hitlers Strategie das deutsche Volk eben nicht mehr schützte. »Der unbedingte Gehorsam gegen Hitler, den der Eid verlangte und Schutz von Reich und Volk, den die ›Pflichten‹ verlangten, traten aus dem Stadium der Idealkonkurrenz in das Stadium des konkreten Widerspruchs. Eid oder Pflicht war jetzt die Frage.«13 Ich habe bei der Analyse Elerts länger verweilt, weil sie die typische Eigenschaft vieler Gutachten der Nachkriegszeit zeigt. Es wird auf einen formalen Widerspruch aufmerksam gemacht, der ein »Aufstehen« des Gewissens prinzipiell rechtfertigen soll. Es wird auch darauf verwiesen, daß sich dieser Widerspruch erst in der Krisensituation des Krieges mit Leben erfüllte. Ob dann aber der formale Rückgriff auf die »Soldatenpflichten« im Gegensatz zur Eidesformel so wichtig war, darf doch bezweifelt werden. Denn die Rolle der wirklichen Erfahrungen bleibt ausgespart, was denn eigentlich bei diesem Kampf zweier Gewissen miteinander den Ausschlag hat geben können. Um darauf aufmerksam zu machen, gebe ich zunächst einige Belege zum Wortgebrauch »Gewissen/Gewissenlos« vonseiten beider Kontrahenten des 20. Juli.

III. GEWISSENHAFT/GEWISSENLOS Der Operationsplan der militärischen Opposition in der Bendlerstraße ging in der Losung »Walküre« von der Fiktion aus, nach dem Tode Hitlers habe ein 14 Parteiputsch stattgefunden, der nun niederzuschlagen sei. Das ist notwendig zum Verständnis des ersten Satzes des Fernschreibens vom 20.7.: »Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer hat es unter Ausnutzung der Lage versucht, der schwerringenden Front in den Rücken zu fallen und die Macht zu eigennützigen Zwecken an sich zu reißen«. Auch alle anderen Aufrufe bezeichnen Hitler als gewissenlos. »Hitler hat ganze Armeen gewissenlos wider den Rat seiner Sachverständigen, seiner Ruhmsucht, seinem Machtdünkel, seiner gotteslästerlichen Wahnidee geopfert, berufenes und begnadetes Werkzeug der ›Vorsehung‹ zu sein«. In der vorbereiteten Rundfunkansprache von Goerdeler ist die Gegenüberstellung von gewissenlos und gewissenhaft

13 Elert, a.a.O., S.418 f. - Von den vielen neueren Publikationen über das Verhalten der Wehrmacht sei nur genannt: Ernst Klee, Willi Dreßen (Hg.), »Gott mit uns«. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939 - 1945, Frankfurt a.M. 1989. 14 Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992, S. 33 6 ff.

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durchgängig: »Wir haben handeln müssen aus der Verpflichtung des Gewissens heraus«. An die Soldaten ergeht »in der Ruhe des Gewissens« das Versprechen, daß kein deutsches Mannesblut mehr unnötig geopfert werden solle.15 Auf der Gegenseite nimmt Hitler in seiner Rundfunkrede vom 21.7.1944 diesen Wortgebrauch auf und kehrt ihn um:·»Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherisch dummer Offiziere hat einen Komplott geschmiedet ...«. Dann folgt des Satz, in dem er das Scheitern des Attentats als Bestätigung der Vorsehung auffaßt, sein Lebensziel weiter zu verfolgen. Und dann: »Denn ich darf es vor der ganzen Nation feierlich gestehen, daß ich seit dem Tage, an dem ich in die Wilhelmstraße einzog, nur einen einzigen Gedanken hatte, nach bestem Wissen und Gewissen meine Pflicht zu erfüllen«.16 Hier ist der Begriff des Gewissens an einen von einer »Vorsehung« gestellten historischen Auftrag in völkischer Perspektive gebunden. Was das für Hitler selbst bedeutete, kann uns jetzt nicht beschäftigen; viel wichtiger sind die Überschneidungen mit allgemeineren, wertkonservativen Grundhaltungen, die seinen Erfolg überhaupt erst erklären. Völlig zurecht erinnert in einer Gedenkrede von 1954 Alexander von Stauffenberg daran, daß ja auch die späteren Verschwörer zum großen Teil zu denjenigen zählten, die sich 1933 »aus bestem Wissen und Gewissen heraus die nationalen Impulse und Pläne der neuen Führung zu eigen gemacht haben.« 17 (Alle Hervorhebungen von mir). Erst wenn man dieses Amalgam von genuin nationalsozialistischen und wertkonservativen Gemeinsamkeiten näher betrachtet, gewinnt man eine Vorstellung davon, aus welchen Normbindungen sich ein moralisches Gewissen erst allmählich wieder herausarbeiten mußte.

15 20. Juli 1944. Ein Drama des Gewissens und der Geschichte. Dokumente und Berichte, Herder-Bücherei 1963, S. 114, S. 137 f., S. 143 und S. 145. 16 Ebd., S. 164 u. 162. 17 Alexander Graf von Stauffenberg, Die deutsche Widerstandsbewegung und ihre geistige Bedeutung für die Gegenwart, in: Bekenntnis und Verpflichtung. Reden und Aufsätze zur zehnjährigen Wiederkehr des 20. Juli 1944, Stuttgart 1955, S. 161.

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IV. DAS TRANSMORALISCHE UND DAS MORALISCHE GEWISSEN Ich kann hier keine allgemeine Geschichte des »Gewissens« im 19. und 20. Jahrhundert geben. Nur soviel: es gibt – begriffsgeschichtlich betrachtet – schon eine spezifisch-deutsche Entwicklung einer Vorstellung vom Gewissen, die mit ihrer eigenartigen (von Kant her begründeten) Überhöhung als eines a priorischen »Faktums der Vernunft« einsetzt. Vergleicht man das etwa mit der angelsächsischen Linie, dann zeigt sich, daß dort das Gewissen viel unbefangener als ein gesellschaftliches Produkt betrachtet wird, als etwas, das aus der wechselseitigen Kontrolle der Menschen in Gesellschaft entsteht.18 In der deutschen philosophischen Entwicklung gilt das Gewissen hingegen als sittliches Heiligtum, etwa bei Fichte, andererseits ist es so ohnmächtig, daß es auf die Gestaltung der Welt nur bedingt einen Einfluß zu haben scheint. An diesem Widerspruch arbeitet sich die deutsche Philosophie ab; bereits Hegel unterstellt das Gewissen vorsichtshalber der »substantiellen Sittlichkeit« des Bürgers im Staate.19 Daraus ergibt sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigenartige idealistische Mischung: zum einen ein Festhalten am unbedingten Pflichtbegriff, zum anderen die Einbettung dieser Pflicht in die Sittlichkeit des Staates, so daß es nun Staatspflichten sind, die für das Gewissen maßgebend werden. Das ist keine Entmoralisierung des Gewissens, wohl aber eine Nationalisierung seiner Inhalte. Schwieriger wird es im frühen 20. Jahrhundert, vor allem nach dem verlorenen 1. Weltkrieg. Es gibt eine Verarbeitungsform der Niederlage, Sie kennen das aus den Schriften Ernst Jüngers, die gar nicht dem verfehlten Kriegsziel nachtrauert, sondern die den Kampf selbst als das »innere Erlebnis« feiert, als ein Tun um seiner selbst Willen, aus dem nun ein neuer Menschentyp hervorgegangen sein soll. Dieser neue Mensch handelt – um einen zum Schlagwort gewordenen Satz Nietzsches aufzugreifen – jenseits von Gut und Böse. Es entsteht eine mentale Grundhaltung, die man so umschreiben könnte: Um geschichtsmächtig zu handeln, muß man das Opfer des moralischen Gewissens bringen; die Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes in ihrem Selbstbehauptungskampf erfor-

18 Vgl. dazu: Heinz Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. 1991, S. 229 ff. u. S. 274 ff. 19 Hegel mißtraute dem Gewissen zutiefst. Es war für ihn »als formelle Subjektivität schlechthin« immer auf dem Sprung »ins Böse umzuschlagen«: G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, § 139, S. 124. - Erst im Staat nimmt dann der Bürger am wahrhaft Allgemeinen teil. Ebd., § 261, S. 215 ff.

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dert es so.20 Jetzt wird für das Gewissen nicht mehr nur ein enger Pflichtbegriff entworfen, das Gewissen soll auch befähigt sein, willentlich »Schuld« auf sich zu nehmen, denn in der Unentrinnbarkeit des Schuldigwerdens erfährt es sein historisches Geschick. Eigentlich müßte ich nun Heideggers Analyse des Gewissens in Sein und Zeit vorführen. – Dazu reicht die Zeit nicht – ich kann nur einige Bemerkungen dazu unter dem Aspekt von Paul Tillichs Begriff des »transmoralischen Gewissens« (1945) wagen. Tillich verspürt die Notwendigkeit, die Idee eines transmoralischen Gewissens zu entwickeln; allerdings situiert er sie nicht in der geschichtlichen Ohnmacht des moralischen Gewissens, sondern er findet den Urtypus der Transmoralität bei Luther, in der Rechtfertigung durch die Gnade. Diesem Gewissen oberhalb der Moralität stellt er eines unterhalb der Moral entgegen, damit kommt er zu Heidegger und über Heidegger nun doch in die zeitgenössische Problematik hinein. Er sagt: »Nur Selbsttäuschung kann ein gutes moralisches Gewissen verleihen, da es unmöglich ist, nicht zu handeln, und da jede Tat Schuld in sich schließt. Wir müssen handeln, und die Haltung, in der wir handeln können, ist Entschlossenheit. Entschlossenheit transzendiert das moralische Gewissen, seine Argumente und Verbote. Das gute, transmoralische Gewissen besteht in der Annahme des schlechten moralischen Gewissens, das unvermeidlich ist, wo immer Entscheidungen getroffen und Taten getan werden.« 21

Es geht jetzt gar nicht darum, ob Tillichs Interpretation von Heidegger angemessen ist. Was ich verdeutlichen wollte, war nur folgendes: Es gibt in den 20er/30er Jahren eine Tendenz, das moralische Gewissen (das Gewissen des Völkerbundes, das oft bespöttelte »Weltgewissen«) abzuwerten zugunsten eines transmoralischen Gewissens, das in der »Entschlossenheit« als das »angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein« definiert ist.22 Dahinter steht das Trauma des 1. Weltkrieges: sich vor der Geschichte ohnmächtig gezeigt zu haben. Alles darf geschehen, nur das nicht noch einmal. Aus dem Ressentiment einer geschla20 »Und wenn bei Denkern, die, am Naturrecht als Vernunftrecht irre geworden, doch wenigstens einen Gefühlsmaßstab von objektiver Gültigkeit retten wollten, die spontane Gewissensreaktion in die Bresche sprang, geht nun die Relativierung aller Werte ‒ entsprechend der Perspektive und den Erfordernissen des jeweiligen Zustandes ‒ so weit, daß ›ein neues Leben‹ auch ein ›neues Gewissen‹ braucht.« Alfred v. Martin, Der heroische Nihilismus und seine Überwindung. Ernst Jüngers Weg durch die Krise, Krefeld 1948, S. 38. 21 Paul Tillich, Das transmoralische Gewissen, in: Gesammelte Werke Bd. III: Das religiöse Fundament des moralischen Handelns, Stuttgart 1965, S. 69. 22 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1953 (7. Aufl.), § 60, S. 296 f.

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genen Nation entwickeln sich Machtphantasien. Das »Dasein« soll sein »Geschick wählen können«. Es wird nicht etwa passiv von Schicksalsschlägen getroffen. Wozu das Dasein »je faktisch« sich entschließe, das vermöge die existentiale Analyse nicht zu erörtern. Einen kleinen Hinweis auf kommende Dinge gibt Heidegger aber doch, wenn er im gleichen Paragraphen das »schicksalhafte Geschick des Daseins« in das »Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes« setzt.23 Um der Selbstbehauptung willen müssen moralische Opfer gebracht werden; das ist ein weitverbreiteter Konsens der Deutschen nach dem 1. Weltkrieg. Daß solche künftigen Taten auf sie zukommen, ist unausweichlich vom Geschick verhängt (man könnte einfacher auch von Revanchismus sprechen). Der ungeheuerliche Satz – auch bei Tillich – liegt in der Aussage: »Das gute, transmoralische Gewissen besteht in der Annahme des schlechten moralischen Gewissens, das unvermeidlich ist, wo immer Entscheidungen getroffen und Taten getan werden.« Das transmoralische Gewissen begnadigt im voraus schon das moralische.

V. »MEIN GEWISSEN HEISST ADOLF HITLER« »Mein Gewissen heißt Adolf Hitler«. Vielleicht kennen Sie diesen Satz. Er ist von Hermann Rauschning in seinem Buch »Gespräche mit Hitler« Hermann Göring in den Mund gelegt worden: »Ich habe kein Gewissen. Mein Gewissen heißt Adolf Hitler.« Nun ist der Quellenwert dieser Schrift bekanntermaßen 24 gering; vielleicht ist der Satz auch nur gut erfunden. Das aber ist er mit Sicherheit, denn er trifft die Bestrebungen, die Person des Führers als oberste Instanz im Gewissen zu verankern. Z. B. bei Hans Franks Neuformulierung eines kategorischen Imperativs im III. Reich: »Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde«. Der Führer ist hier nicht nur als allwissende »Syneidesis« in das Gewissen aufgenommen, er nimmt diesen Platz ein mit dem Anspruch unmittelbar geschichtsmächtig handeln zu können, den vom Geschick über die Deutschen verhängten »Schicksals-

23 »Das Dasein kann nur deshalb von Schicksalsschlägen getroffen werden, weil es im Grunde seines Seins in dem gekennzeichneten Sinne Schicksal ist. [...] Auch der Unentschlossene wird von ihnen und noch mehr als der, der gewählt hat, umgetrieben und kann gleichwohl kein Schicksal haben.« Ebd., S. 384. 24 Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich, Wien, New York 1950, S. 77; Martin Broszat, Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, S. 263 ff.

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kampf« zu leiten, das widrige Geschick in einem Kampf auf Leben und Tod zu bezwingen.25 Der »Führer« setzt sich faktisch an die Stelle des blinden »Fatums« der Geschichte. Diese Denkfigur ist nicht allein nationalsozialistisch; sie erfreute sich großer Beliebtheit auch außerhalb des Parteilagers. Denn sie antwortete auf Sehnsüchte nach »Reich« und »Führung«, die viel tiefere Wurzeln in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert haben. Wie widerstandslos sich solches Denken in der Wehrmacht ausbreitete, hat M. Messerschmidt in einer Reihe von Arbeiten untersucht. Er kommt – kurz gefaßt – zu folgendem Ergebnis: Mit dem Fahneneid von 1934 haben sich Offiziere und Mannschaften dem Führer »verschrieben«. Gebunden an diesen Eid stehen sie im Schicksalskampf des deutschen Volkes. Z. B. notiert der Generalstabschef Halder vor Beginn des » Unternehmens Barbarossa« völlig überzeugt und kritiklos aus einem Vortrag Hitlers: »Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum. Wir müssen vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. Die Führer müssen von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden«. Der letzte Satz ist wichtig. »Bedenken« sind die klassischen Gewissensbedenken, hier ausgedrückt im Ehrenkodex einer Armee. Sie müssen geopfert werden. Aber dieses Opfer läßt den Täter nun selbst als Opfer erscheinen, der unter Zurückstellung seines Gewissens die schwierige welthistorische Mission erfüllen muß. Auf diese Weise – so Messerschmidt – sei eine »ideologische Moralität« entstanden, bei der der Zweck die Mittel heiligt.26 Ebenso hat Hermann Lübbe betont, daß der Nationalsozialismus in der Tat versucht habe, die Notwendigkeit des Völkermordes im Gewissen zu verankern; es ging um die »Selbstverschaffung eines guten Gewissens durch Orientierung an ideologisch ausgewiesenen höheren Zwecken«. Exemplarisch dafür ist die bekannte Rede Himmlers vom 4. Oktober 1943 vor Kommandeuren von Einsatzkommandos: »Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen daliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten und dabei, von Ausnahmen mensch-

25 Hans Frank, Die Technik des Staates, 1942, S. 15. Zit. n. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 174 u. 81. 26 Martin Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 400 u. 422.

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licher Schwächen, anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.«27

Hannah Ahrendt hat diese Passage kommentiert mit der Bemerkung, daß gerade Himmler »für die Lösung von Gewissensfragen« großes Talent besaß. Ein eventuell widerstrebendes Gewissen wird abgefangen mit dem Hinweis auf die düstere Erhabenheit dieser Aufgabe, einem Jahrtausendwerk, an dem man entsprechend schwer zu tragen habe.28 Um nun zu untersuchen, wie ein moralisches Gewissen unter dieser Überlagerung durch ein ideologisches Gewissen wieder zum Vorschein kommt, müßte man wahrscheinlich eine Typologie von Möglichkeiten entwickeln. Um wenigstens einige Situationen anzudeuten: 1. Sicherlich gibt es einen »Aufstand des Gewissens« aus der unmittelbaren Erfahrung heraus, also von dem Punkt her, an dem das ideologische Gewissen mit einem allgemeineren, älteren Gewissenstypus kollidiert, der ja auch in der Erziehung noch angelegt sein konnte. Sein Inhalt ist in der »Goldenen Regel« niedergelegt, deren volkstümliche Variante allgemein bekannt ist: »Was du nicht willst das man dir tu, das füg auch keinem andern zu«. Etwas vornehmer ausgedrückt steht dieser Satz in der Bergpredigt, Matth. 7 v 12. Ich zitiere dazu zwei Sätze von W. Manoschek: »Serbien ist judenfrei«: a) »Die Erschießung war um 18.30 Uhr beendet. Besondere Vorkommnisse waren nicht zu verzeichnen. Die Einheiten rückten befriedigt in ihre Quartierte ab.« b) »Anfangs waren meine Soldaten nicht beeindruckt. Am 2. Tage machte sich schon bemerkbar, daß der eine oder andere nicht die Nerven besitzt, auf längere Zeit Erschießungen durchzuführen. Mein persönlicher Eindruck ist, daß man während der Erschießung keine seelischen Hemmungen bekommt. Diese stellen sich jedoch ein, wenn man nach Tagen abends in Ruhe darüber nachdenkt.«29 2. Ein zweiter Bereich ist die Gegenüberstellung verschiedener Weltanschauungsgewissen. Das wäre ein Widerstand aus einem typologisch ähnlichen, inhaltlich-politisch aber konträren Gewissen heraus; beide sind an einem

27 Hermann Lübbe, Rationalität und Irrationalität des Völkermordes. Ernst Nolte zum70. Geburtstag, in: Hanno Loewy (Hg.), Holocaust. Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 8 7. 28 Arendt, a.a.O., S. 139 f. 29 Walter Manoschek, »Serbien ist judenfrei«. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993, S. 89 u. 101.

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letzten Ziel der Geschichte orientiert und neigen daher zu transmoralischen Aktionen ‒ nur liegen die Zielsetzungen im Konflikt. 3. Nationalsozialistisches Gewissen vs. religiös gebundenes Gewissen. Auf die Bandbreite von Anpassung und Widerstand bei starken wertkonservativen Überschneidungen kann ich hier nicht eingehen; das ist längst ein eigenes Forschungsfeld. Nur eine Besonderheit möchte ich bemerken: der Begriff des Gewissens gehört hier zu dem von Amt und Beruf vorgegebenen Wortschatz, so daß die Neigung von einem Gewissen zu sprechen, hier einfach größer ist als in anderen Bevölkerungsschichten. 4. Der Typus der Verantwortungsethik. Er kann sich mit weltanschaulich oder religiös gebundenen Gewissen überschneiden, geht aber primär Kraft seines Amtes von einer Verantwortung für das Ganze von Volk und Nation aus. Die Auffassung trifft praktisch auf den ganzen militärischen Widerstand zu; die Differenzen lagen in der Auseinandersetzung, auf welcher Seite man »verantwortlich« handelt. Wie hoch dieser Typus auch nach dem Krieg noch eingeschätzt wurde, geht aus einem Gutachten des evangelischen Theologen Walter Künneth hervor, der im Jahre 1960 allen Ernstes dem »homo privatus« ein verantwortliches Gewissen absprach und der gültigen Widerstand nur durch Amtsträger in verantwortlichen Positionen ausgeführt wissen wollte: durch Generäle, Staatsmänner, führende Politiker.30

VI. KASUISTIK UND LEGITIMATION Bei aller Differenzierung wird man aber in allen diesen Fällen sagen können, daß es letztlich um die Re-Moralisierung des Gewissens in einem gesellschaftlichen Umfeld geht, das noch von einem vorherrschenden »ideologischen Gewissen« geprägt war. Ich will versuchen, diesen Schritt anhand des Stauffenberg-Buches von Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder wenigstens anzudeuten. Das wesentliche Kapitel für unseren Zusammenhang lautet: »Stauffenberg erkennt die Natur Hitlers und des Krieges«. Beschrieben wird ein Gesinnungswandel zwischen Januar/April 1942. In der Zeit zuvor ist Stauffenberg kein ideologisch gebundener NS-Anhänger gewesen; er war als Schüler von Stefan George jedoch auf das Kommen eines »geheimen Deutschland« vorbereitet. Das

30 Walter Künneth, Die evangelisch-lutherische Theologie und das Widerstandsrecht, in: Vollmacht des Gewissens, a. a. O., S. 169 f.

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war nicht identisch mit dem »Dritten Reich«, sondern es hatte vielmehr etwas zu tun mit dem Buch Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der II. von 1927. Immerhin, am 30. Januar 1933 zieht Stauffenberg an der Spitze einer Menschenmenge in Uniform durch Bamberg; bis 1937/38 sind die Brüder Claus und Berthold dem Regime positiv gesonnen; Claus steht sogar Modell für ein SADenkmal. Ob Claus sich von den Novemberpogromen 1938 distanziert hat, ist nicht ganz sicher nachzuweisen; mit einer »gewaltlosen« Lösung der Judenfrage wäre man wohl auch im Kreis um Stauffenberg einverstanden gewesen. Im Jahre 1942 resultiert die allmähliche Entschlossenheit, Hitler zu beseitigen • aus Erfahrungen der Behandlung der russischen Bevölkerung, kombiniert mit dem militärischen Argument, die Sowjets könnten nur mit Hilfe der Russen besiegt werden, • aus einer scharfen Kritik der Judenerschießungen, • aus einem Wissen davon, daß es ein Lager namens »Auschwitz« gebe, »in dem man Juden in Öfen verbrenne«.31 Diese gesinnungsethische Linie verbindet sich nach Stalingrad mit dem starken Hervortreten einer Verantwortungsethik; der Generalstäbler kann nicht sehenden Auges Tausende von Soldaten in sinnlosen Stellungen opfern. Dazu kommt in einem weiteren Rahmen die Verantwortung für Deutschland. Wenn ich recht gelesen habe, taucht das Wort Gewissen in diesem ganzen Kapitel überhaupt nicht auf. Eigentlich ist es aber gar nicht verwunderlich, sondern es zeigt nur den zurückhaltenden Umgang mit diesem Begriff. Man »weiß« ja erheblich mehr, als die durchschnittliche Bevölkerung, daher stehen dann auch nicht so sehr die spontanen Aufbrüche des Gewissens im Vordergrund. Vielmehr wird der Begriff des Gewissens im Zusammenhang mit der Planung des Attentats als Legitimation eingesetzt. Auch für Stauffenberg bedarf der Bruch des Fahneneides einer Rechtfertigung. Er findet Beruhigung seines Gewissens in der katholischen Theologie. Hoffmann schreibt dazu: »Er berief sich auf Thomas v. Aquin, der den Tyrannenmord unter Bedingungen für erlaubt und verdienstvoll erklärt habe. Er sprach auch vom Heiligen Reich, dessen Rest in Gefahr sei, unterzugehen.« Im übrigen folgte Stauffenberg der verbreiteten Auffassung, daß Hitler seinerzeit seinen Eid »durch Verletzung göttlichen und menschlichen Rechts unzählige Male gebrochen habe.«32 Wahrscheinlich könnte man die Entscheidungsfindung nach Maßgabe der alten Kasuistik darstellen, nach der Formel »Inter duo mala eligendum est quod minimum.« Es ist eine typische Gewissensoperation bei 31 Hoffmann, a. a. O., S. 249. 32 Ebd., S. 251 u. 345.

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kollidierenden Verpflichtungen. In diese Kasuistik können auch realpolitische Erörterungen mit eingehen, so etwa, wenn Stauffenberg und seine Freunde unmittelbar vor dem Attentat noch die strategische Weichenstellung einer Westlösung/Ostlösung diskutiert haben. Ist die Entscheidung für das Attentat und damit für den Eidbruch einmal gefallen, dann tritt die Rechtfertigung des Handeln deutlicher in den Vordergrund, und da es in der abendländischen Tradition keine andere Möglichkeit gibt, positives Recht zu brechen als unter Berufung auf das Gewissen, kommt dem Gewissen dann zwangsläufig eine zentrale Rolle zu. Das Gewissen transzendiert das positive Recht, das Gewissen – sofern es sich auf »Gott« beruft – kann auch Geschichtsziele transzendieren und also das »ideologische Gewissen« durchschlagen. Meine Damen und Herren, das Thema meines Vortrages lautete: Das deutsche Gewissen im 20. Jahrhundert. Der 20. Juli im Lichte der Gewissensdiskussion der 50er Jahre. Ich habe mit dem Dunstkreis des Remer-Prozesses begonnen und dann Ausführungen zum Begriff des Gewissens selbst gemacht. Ich komme nun zum Ausgangspunkt zurück. Was ist in den 50er Jahren mit dem »Gewissen« der Frauen und Männer des 20. Juli geschehen? Sie wurden von offizieller Seite enthistorisiert und zugleich als »Bekenntnis und Verpflichtung« in Anspruch genommen ‒ so der Titel der Sammlung der Gedenkreden von 1954. Sie waren, wie der Historiker Hans Rothfels das ausdrückte, ein Aktivposten, der nach drei Richtungen zugleich wirkte. 1.) Gegen die Westmächte. Mit Genugtuung wird in vielen Reden zur Kenntnis genommen, daß Churchill nun, seit 1947, ausdrücklich das Gewissen der Widerstandskämpfer gewürdigt habe. 2.) Die Einbettung in den Kalten Krieg erlaubt auch eine Frontstellung gegen den Osten; häufig wird ein Bezug zum 17. Juni 1953 hergestellt.33 3.) Schließlich müssen sie – das ist wesentlich mühsamer – gegen die alten Nazis vom Odium des »Verrates« befreit werden. Mit einem Wort: man stilisierte die Widerstandskämpfer (natürlich nicht die Kommunisten unter ihnen) zu Inkunabeln der BRD, wobei zunächst gar nicht so sehr ins Gewicht fiel, daß die politischen Auffassungen der meisten von ihnen durchaus nicht westlich-demokratisch gewesen waren. Sie galten als religiös geleitete oder als naturrechtliche Vorläufer der neuen Ordnung, weil ihr Gewissen in einer Konfliktsituation »aufgestanden« war. Da Gut und Böse hier eindeutig verteilt wurden, war es auch zunehmend schwierig, sich in die eigentliche Konfliktsituation des Gewissens hineinzuversetzen, nämlich

33 Hans Rothfels, Zum politischen Vermächtnis des deutschen Widerstandes; Josef Rommerskirchen, Aufstand des Gewissens, in: Bekenntnis und Verpflichtung, a.a.O., S. 67 u. S. 118 f.

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noch einmal jenen »Schicksalsrausch« (G. Benn)34 zu rekonstruieren, in dem ein nationalsozialistisches Gewissen ein moralisches Gewissen übertönt hatte. In dieser Situation aber waren viele gewesen; es bestand offenbar kein Bedarf, sich die eigene Verstrickung vor Augen zu führen. Durch diese eindeutige Nachkriegsverteilung von Gut und Böse, in der das Gewissen nur auf der einen Seite stand, die andere aber anscheinend gar keins gehabt hatte (wie monströs es auch immer gewesen sein mag), ist eine Situation eingetreten, die die beiden Mitscherlichs 1967 als die »Unfähigkeit zu trauern« beschrieben haben. Das Buch ist oft zitiert, aber wohl nur schlecht gelesen worden, denn die Unfähigkeit zu trauern bezieht sich nicht primär auf die Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern zunächst einmal auf die Verdrängung der »Liebe zu Hitler«. Sie werden sich erinnern, daß die Mitscherlichs ihre Thesen aus Freuds »Massenpsychologie und Ich-Analyse« bezogen hatten; eine der Folgen der Identifizierung mit den idealisierten Führer ist es, daß das Gewissen seine kritische Funktion verliert: »Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zugunsten des Objektes geschieht; in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher«. An dieser Stelle gehen auch die Mitscherlichs davon aus, daß sich im NS-System zwei Gewissenstypen überlagert hatten: »Der Führer verlangt nun geradezu, daß das alte Gewissen der neuen, faszinierenden Aufgabe geopfert wird.«35 In der ahistorischen Trennung von Gut und Böse wurde in den 50er Jahre das alte Gewissen wieder hergestellt, seine Verfehlungen auf dem Weg in die transmoralischen Aufgaben wurden externalisiert. Denn mit dem Bereuen war es in der Tätergeneration nicht weit her. Das so plötzlich aus der Wirklichkeit verschwundene III. Reich lebte in modifizierter Form weiter, modifiziert durch einen psychischen Mechanismus, den Nietzsche gültig beschrieben hat. »›Das habe ich getan‹ sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und

34 Den Begriff »Schicksalsrausch« setzt Gottfried Benn gegen Klaus Mann ein, der ihn aus dem Exil wegen seiner Haltung zum Nationalsozialismus angreift. Benn nimmt 1933 den Begriff für sich selbst in Anspruch, entlehnt ihn aber von Thomas Mann, der ihn 1930 benutzt hatte, um sein Verhältnis zum Ersten Weltkrieg zu kennzeichnen. Die Arbeit »Doppelleben« wiederum stammt von 1949 im Rückblick auf sein eigenes Sich-Hineinstellen in den deutschen »Schicksalsrausch«. Gottfried Benn, Doppelleben, in: Gesammelte Werke, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. IV, Stuttgart 1986, S. 80 und S. 84. 35 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in Gesammelte Werke, Bd. XIII, Alexander und Margarethe Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München, Zürich 1991, S. 72.

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bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«36 Das war, parallel zur Wiedergutmachung, die einfachste Lösung der Vergangenheitsbewältigung. Aber auch an der »Unfähigkeit zu trauern« wurde in den 60er und 70er Jahren nicht rational weitergearbeitet; das Schlagwort wurde zum Freibrief für eine Betroffenheitskultur, die zum zweiten Male den Weg zum geringsten Widerstand ging. Man versuchte sich an einer Identifikation mit den Opfern, ohne lange zu überlegen, ob das überhaupt möglich ist. Heute ist das Verhältnis zum Dritten Reich durch eine wachsende zeitliche Distanz bestimmt. Nun soll die Erinnerung an den »Holocaust« einer neuen Generation weitergegeben werden. Offenbar bedarf es dafür gigantischer Denkmäler, denn zugleich drängen Stimmen in den Vordergrund, die wieder eine »Selbstbewußte Nation« einfordern. Zwischen diesen beiden Polen einer ritualisierten und kommerzialisierten Betroffenheitskultur und eines neuen Nationalismus, die sich wechselseitig hochschaukeln, droht die Vernunft auf der Strecke zu bleiben. Sie sollte aber ihre Stimme erheben, denn »Trauerarbeit« kann nur geleistet werden, wenn man genau weiß, wovon man sich ablösen muß: von den auf die Geschichte bezogenen Formen eines transmoralischen Gewissens.

36 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, hg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Kritische Studienausgabe Bd. 5, Berlin 1988, Nr. 68, S. 86.

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Blänkner, Reinhard, Dr. phil., Prof. em. u. Senior Scholar der Fakultät für Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Veröffentlichungen u. a.: »Absolutismus«. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland 1830 – 1870, Frankfurt a. M. 20112; (Hg., gem. mit Bernhard Jussen), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, Göttingen 1998; (Hg.), Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2009; (Hg.), Heinrich von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800, Würzburg 2013. Dunkhase, Jan Eike, geb. 1973, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld. Studium in Heidelberg und Jerusalem, Promotion an der FU Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Ideen- und Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert. Zuletzt erschienen: Reinhart Koselleck/Carl Schmitt, Der Briefwechsel 1953-1983, Berlin 2019 (als Herausgeber); Provinz der Moderne. Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv, Stuttgart 2021. Faber, Richard, Honorarprofessor für Soziologie an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Religionssoziologie, Geschichte der politischen Ideen. Monographien über: »Politische Theologie« und »Politische Idyllik«, die sogenannte »Konservative Revolution« und den »Abendland«-Mythos; über Benjamins Fontane, Goethe, Thomas Mann, Novalis, Jorge Semprun, Susan Sontag und die Grimms. Freyberg, Sascha, studierte Kulturwissenschaften und Philosophie in Hagen und Berlin. Er ist Mitglied der ERC-Forschergruppe Early Modern Cosmology

342 | Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie?

an der Ca’ Foscari Universität in Venedig und Gastforscher am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Klenner, Jost Philipp, lebt und arbeitet als Historiker in Berlin. Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Ideengeschichte. Publikationen u. a.: Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, hg. mit Jörg Probst, Frankfurt a. M. 2009; Von großen Tieren und Papieren. Nachrichten aus dem Deutschen Literaturgestüt, hg. mit Ulrich Raulff, Marbach am Neckar 2018. Landwehr, Achim, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Forschungsthemen: Kulturgeschichte, europäische Geschichte des 17. Jahrhunderts, Geschichtstheorie. Wichtige Publikationen: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Wallstein Verlag 2020; Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, S. Fischer 2016; Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, S. Fischer 2014. Neuffer, Moritz, studierte Geschichte und Germanistik an den Universitäten Hamburg, Paris VII und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin und Stipendiat am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, wo er aktuell im Programmbereich Theoriegeschichte forscht. 2020 wurde er mit einer Arbeit über die Geschichte der Zeitschrift alternative promoviert. von Rahden, Wolfert, Wissenschaftshistoriker und Autor. Zuletzt Chefredakteur der Gegenworte (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), zuvor Linguist und Sozialwissenschaftler an der FU Berlin, wiss. Referent und stellvertretender Direktor des Einstein Forum (Potsdam), Mitarbeiter an der NietzscheManuskript-Edition. Gründungsredakteur der Zeitschrift für Ideengeschichte. Mitherausgeber u. a. von: Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen (1993/2018); Nietzsche, KGW, Abt. IX, Bd. 1-3 (2001), sowie zahlreicher ZIGThemenhefte. Schmieder, Falko, habilitierter Kulturwissenschaftler, arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Forschungsgebiete u.a.: Begriffsgeschichte, Theorie der Moderne, Zeittheorien, Anthropozän. Zuletzt erschienen: Begriffsgeschichte zur Einführung, Hamburg 2020; Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016 (beide gemeinsam mit Ernst Müller).

Autoren | 343

Voller, Christian, studierte Kulturwissenschaften und Kulturgeschichte in Frankfurt (Oder), Berlin und Bochum. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für die Kultur und Ästhetik digitaler Medien (ICAM) der Leuphana-Universität Lüneburg, wo er 2020 mit einer Arbeit über die Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie promoviert wurde. Er interessiert sich für Krisen, Triebschicksale und die zweite Natur. Wagner, Jannis, studierte Europäische Kulturgeschichte und Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und Córdoba. Forschungen zu Mentalitäten- und Gewissensgeschichte, Erfahrungen des Absurden in der Geschichte und Versuchen, davon zu erzählen. Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. Zuletzt erschien: Felix Hartlaub in Berlin (1934-1945), Berlin 2018.

Geschichtswissenschaft Sebastian Haumann, Martin Knoll, Detlev Mares (eds.)

Concepts of Urban-Environmental History 2020, 294 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4375-6 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4375-0

Gertrude Cepl-Kaufmann

1919 – Zeit der Utopien Zur Topographie eines deutschen Jahrhundertjahres 2018, 382 S., Hardcover, 39 SW-Abbildungen, 35 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4654-2 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4654-6

Günter Leypoldt, Manfred Berg (eds.)

Authority and Trust in US Culture and Society Interdisciplinary Approaches and Perspectives February 2021, 282 p., pb., col. ill. 37,00 € (DE), 978-3-8376-5189-8 E-Book: PDF: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5189-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Geschichtswissenschaft Manuel Franz

»Fight for Americanism« – Preparedness-Bewegung und zivile Mobilisierung in den USA 1914-1920 Februar 2021, 322 S., kart., 1 SW-Abbildung 59,00 € (DE), 978-3-8376-5521-6 E-Book: PDF: 58,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5521-0

Sebastian Haumann

Kalkstein als »kritischer« Rohstoff Eine Stoffgeschichte der Industrialisierung, 1840–1930 Januar 2021, 362 S., kart., 4 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5240-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5240-0

Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)

WerkstattGeschichte 2020/2, Heft 82: Differenzen einschreiben 2020, 178 S., kart., 26 SW-Abbildungen 21,99 € (DE), 978-3-8376-5299-4

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