Zukunft der Geschichte: Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik 9783050060460, 9783050060736

Die Behauptung eines angeblichen Endes der Geschichte hat sich nicht nur als voreilig erwiesen, sondern angesichts der K

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German Pages 202 [204] Year 2012

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Zukunft der Geschichte: Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik
 9783050060460, 9783050060736

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Johannes Rohbeck Zukunft der Geschichte

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

Sonderband

31

Johannes Rohbeck

Zukunft der Geschichte Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Stephan Butz, Berlin Einbandgestaltung: hauser lacour Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-006073-6 E-Book: ISBN 978-3-05-006046-0 Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Einleitung ..................................................................................................................

7

Zukunft als Geschichte ....................................................................................... Ethik der Zukunft ................................................................................................ Transformationen................................................................................................. Praktische Geschichtsphilosophie .......................................................................

10 12 15 20

Erster Teil: Geschichte und Zukunft ..........................................................................

23

1. Utopie und Geschichte ....................................................................................

25

Zur Aktualität utopischen Denkens............................................................... Utopien von Bacon bis Marx ........................................................................ Antizipation und Möglichkeit bei Bloch.......................................................

26 29 35

2. Erzählte Zukunft..............................................................................................

37

Wiederholung und Zyklus............................................................................. Katastrophe und Endzeit ............................................................................... Rettung in der Gefahr.................................................................................... Muster des Erzählens ....................................................................................

39 40 43 46

3. Zukunft in praktischer Perspektive..................................................................

50

Verlust von Zukunft und Geschichte............................................................. Endlose Gegenwart ....................................................................................... Vorzeitige Zukunft ........................................................................................ Die Gegenwart als Zeit der Handlung .......................................................... Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft..................................................

51 53 54 56 60

Zweiter Teil: Ethik und Geschichte ...........................................................................

63

4. Ethiken der Zukunft.........................................................................................

65

Zum Begriff der Zukunftsethik ..................................................................... Zeitstrukturen in ethischen Diskursen ......................................................... Maßstäbe intergenerationeller Verantwortung .............................................. Verantwortung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit .............................................

66 68 71 74

6

Inhalt 5. Verantwortung im historischen Kontext .........................................................

77

Fristen gegenwärtiger Verantwortung........................................................... Bedingte Offenheit der Zukunft.................................................................... Folgen aus der Vergangenheit .......................................................................

78 88 92

6. Weltgeschichtliche Gerechtigkeit ...................................................................

99

Kontinuität als ethisches Gebot .................................................................... Reale Möglichkeit und Kontingenz ............................................................. Historische Kohärenz.................................................................................... Synchronisierung des Ungleichzeitigen........................................................ Recht auf Entwicklung?................................................................................

101 104 107 110 114

Dritter Teil: Generation und Erbschaft....................................................................... 119 7. Generation und Gerechtigkeit......................................................................... 121 Der formale Generationenbegriff in der Zukunftsethik ................................ Generationenforschung ................................................................................ Entwurf eines materialen Konzepts der Generation .................................... Objektive „Lagen“ ........................................................................................ Zukünftige Subjekte......................................................................................

122 124 126 127 128

8. Geschichte und Generation............................................................................. 130 „Generation“ in der Geschichtsphilosophie.................................................. Begrenzte Lebenszeit .................................................................................... Generationenwechsel ................................................................................... Historische Verantwortung............................................................................

132 136 137 139

9. Intergenerationelles Erbe................................................................................ 144 Dialog, Vertrag, Fürsorge.............................................................................. Erbe und Testament ...................................................................................... Kulturelles Kapital ........................................................................................ Gabe und Anerkennung................................................................................. Versuch einer Synthese ................................................................................

145 147 151 153 161

Resümee: Deutungsmuster des Historischen ............................................................. 167 Geschichtsmodelle............................................................................................... Geschichtszeichen ............................................................................................... Geschichtstheoreme ............................................................................................ Geschichtspolitik ................................................................................................

168 175 177 180

Literaturverzeichnis ................................................................................................... 185

Einleitung

Es gab einmal gute Gründe dafür, die ‚klassische‘ Geschichtsphilosophie aus dem Kanon philosophischer Grundorientierungen zu verabschieden. Im 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Ideologien hatten sich universale Weltentwürfe verdächtig gemacht. Die Idee des Fortschritts war vollends diskreditiert, bedeutete sie doch vergebliche Opfer für bessere Zeiten, die niemals eingetreten sind, so dass man die utopischen Energien für verbraucht hielt. Auch der Begriff historischer Kontinuität ist nach all den Schrecken so suspekt geworden, dass der Bruch mit unheilvollen Traditionen geboten war. Ebenso war das Konzept der Universalgeschichte, das mit den Erfahrungen von Kolonialisierung, Eurozentrismus und Weltherrschaft verbunden wurde, so in Misskredit geraten, dass an die Stelle der Geschichte die Vielzahl von Geschichten unterschiedlicher Kulturen trat. Hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg das Gefühl verbreitet, dass die moderne Zivilisation nichts wirklich Neues mehr hervorbringe und sich in technischen Innovationen erschöpfe, verstärkte sich dieser Eindruck nach dem Ende des Kalten Krieges, das dem Kapitalismus den ideologischen Gegner nahm und ihn in eine ereignisarme Endlosigkeit zu entlassen schien. Diese durchaus unterschiedlichen und vielfältigen Denkmotive, mit denen sich die Kritische Theorie und das Posthistoire verbinden, stimmten zumindest darin überein, dass die Geschichtsphilosophie als historische Formation, die sich während der Epoche der Aufklärung herausgebildet hatte und mindestens bis Hegel und Marx wirksam war, aber auch danach noch Anhänger fand, ihr intellektuelles Existenzrecht eingebüßt hatte. Hinzu kam schließlich die Wende zur Sprachphilosophie, zur Erzähltheorie und zu Diskursen der Erinnerung, die das Interesse von den historischen Inhalten zu den Formen ihrer Darstellung lenkten und damit überhaupt keine materiale Philosophie der Geschichte mehr zuließen. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich das Bild insofern gewandelt, als sofort erkennbar wurde, dass die Geschichte keineswegs am „Ende“ ist, sondern weitergeht, so dass bereits von einer Wiederkehr der Geschichte die Rede ist. Die grauenvollen Ereignisse vom 11. September sowie die Kriege im Irak und in Afghanistan führen dramatisch vor Augen, dass die Menschen der Geschichte nicht zu entkommen vermögen. Diese Erkenntnis beschränkt sich nicht auf das formale Argument, dass nach dem angeblichen Ende der Geschichte nun einmal nichts anderes als die Geschichte folgen könne, oder auf die triviale Feststellung, dass in Zukunft immer wieder etwas passieren werde.

8

Einleitung

Mit der Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Geschichte ist vielmehr gemeint, dass die ideologisch motivierten Kämpfe zwischen den Kulturen sowie die weltanschaulichen Auseinandersetzungen innerhalb von Gesellschaften fortgesetzt werden. Hinzu kommt eine völlig neue Erfahrung, die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert eine immer größere Bedeutung erlangt. Hatte das alte Posthistoire noch behauptet, die technische Zivilisation bringe keinen eigenen historischen „Sinn“ mehr hervor, weil die existenziellen Probleme der „Daseinsvorsorge“ gelöst seien, würde sich hingegen die große Mehrheit der gegenwärtig lebenden Menschen einen derartigen Zustand sehnlich herbeiwünschen. In der heutigen Gegenwart ist überdeutlich geworden, dass genau diese Vorsorge für die zur Zeit existierenden und zukünftig möglichen Menschen gerade nicht gewährleistet ist. Im Gegenteil hat sich das Bewusstsein einer umfassenden Krise verbreitet, die sich u.a. auf die Gebiete der Finanzen, der Ökologie, der natürlichen Ressourcen und des Bevölkerungswachstums erstreckt. Insbesondere die zeitliche Reichweite und physische Tiefenwirkung der modernen Technologien hat die Sensibilität gegenüber den unwägbaren Risiken erhöht. Außerdem ist der triumphal verkündete Siegeszug der westlichen Kultur, insbesondere die erwartete Endgültigkeit des Kapitalismus, in Zweifel zu ziehen. Wie auch immer man diese Tendenzen einschätzen mag, so ist die Annahme plausibel, dass die Geschichte offen bleibt, weil die Zukunft nicht nur ungewiss ist, sondern in der Gegenwart neuartige Aufgaben stellt. Vor dem Hintergrund dieser Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass die Erfahrungen mit Vergangenem sowie die Befürchtungen und Hoffnungen im Hinblick auf die Zukunft ein verändertes Bewusstsein von Geschichte nach sich ziehen, das sich vermehrt der Zukunft zuwendet. Denn die erwähnten Ereignisse und Tendenzen werden ja nicht nur als historische wahrgenommen, sondern auch im Kontext eines bestimmten Geschichtsbewusstseins interpretiert. Wenn es zur Bewältigung der genannten Zukunftsaufgaben vieler neuer Sinnentwürfe bedarf und wenn diese Entwürfe in den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeordnet werden, so kann man von einem historischen Sinn sprechen, der sich nicht allein auf die Vergangenheit bezieht, sondern unter den gewandelten Bedingungen vorrangig in die Zukunft richtet. In der Tat werde ich zeigen, dass die vorhandenen Diskurse über die Zukunft implizit und explizit mit bestimmten Deutungsmustern des Historischen operieren. Angesichts dieses Befundes frage ich, ob die darunter subsumierten Geschichtsmodelle und Theoreme eine orientierende Funktion erfüllen, die sich lohnt, in systematischer Absicht auszuarbeiten. Die These dieses Buches besteht nun darin, dass unser heutiges Geschichtsbewusstsein, das sich zunehmend der Zukunft zuwendet, einer philosophischen Reflexion zugänglich ist. Damit stellt sich die Frage nach einer neuartigen Geschichtsphilosophie, die sich weniger auf die Vergangenheit bezieht, sondern in erster Linie auf die Probleme der Gegenwart und Zukunft zielt. Sofern dabei die moralische Verantwortung für zukünftige Generationen angesprochen wird, verbindet sich die Geschichtsphilosophie mit der Zukunftsethik. Mit diesem Programm suche ich ausdrücklich den Anschluss an die Geschichtsphilosophie seit der Epoche der europäischen Aufklärung. Der wichtigste Grund lautet,

Einleitung

9

dass dieser Typus historischen Denkens von Anfang an auf Zukunft hin angelegt war. Während sich – grob gesagt – der Historismus der Vergangenheit verschrieben hatte und das so genannte Posthistoire auf die Gegenwart fixiert blieb, dienten die geschichtsphilosophischen Darstellungen der historischen Entwicklung vor allem dazu, entsprechende Zukunftserwartungen zu begründen. Darin steckte eine ethische Perspektive, weil die erhofften Verbesserungen nicht nur vorausgesagt, sondern mehr oder weniger explizit als wünschenswerte Tendenzen deklariert wurden, womit sich wiederum der moralische und politische Appell verknüpfte, für die positiven Erwartungen praktisch tätig zu werden. Bei Immanuel Kant wurde dieses normative Motiv ausformuliert, der die Hoffnung auf eine bessere Welt, ohne für deren Eintreten empirische Belege angeben zu können, zur regulativen Idee und die Schaffung einer weltbürgerlichen Gesellschaft zur politischen Aufgabe erklärte. Heute plädiere ich dafür, sowohl gegen die historistisch anmutende Vergangenheitskultur als auch gegen den postmodernen Präsentismus die Zukunftsperspektive wieder aufzuwerten und eine Re-Politisierung der Zukunft zu wagen. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, indem ich diejenigen Denkmotive der Geschichtsphilosophie zu rehabilitieren versuche, die in der anfangs erwähnten Kritik obsolet geworden zu sein schienen. Gegenüber dem Partikularismus der gegenwärtigen Historiographie gibt es neue und gute Gründe, im Zuge der Tendenz zur Globalisierung die frühere Idee der Universalgeschichte zu aktualisieren – freilich nicht als Historie eines Gattungssubjekts, sondern als diachronen Handlungszusammenhang zwischen verschiedenen Völkern, Gruppen und Kulturen. Daher halte ich es für überlegenswert, die Position historischer Diskontinuität nicht zu verabsolutieren, sondern praktische Formen der Kontinuität zu etablieren. Zwar ist es unausweichlich, mit verhängnisvollen Traditionen zu brechen, aber für die Zukunft sind etwa in der Politik kontinuierliche Kooperationen notwendig, wenn damit drohende Gefahren langfristig abgewendet werden können. In diesem Sinne definiere ich Geschichte als Generationen übergreifenden Interaktionszusammenhang. Schließlich halte ich es für möglich, die Idee des Fortschritts zu rehabilitieren. Sie ist so zu modifizieren, dass der Grundgedanke der Vorsorge für zukünftige Generationen bewahrt wird, ohne etwa das Glück der gegenwärtig lebenden Menschen aufs Spiel zu setzen. Heutzutage wäre es schon ein Fortschritt, wenn für die Zukünftigen keine Verschlechterungen befürchtet werden müssen, so wie mit Kant eine Verbesserung anzustreben ist, damit wenigstens ein Niedergang vermieden werden kann. Darüber hinaus ist es kaum zu rechtfertigen, weniger entwickelten Ländern bestimmte Fortschritte zu verweigern, die in den Industrieländern schon seit Jahrhunderten erfolgt sind. „Fortschritt“ im Sinne einer Verbesserung der Lebensverhältnisse kann sogar auch für alle Länder dann als legitim gelten, wenn die realen historischen Möglichkeiten unter Beachtung ökologischer Verträglichkeit und globaler Gerechtigkeit eine solche Steigerung zulassen.

Einleitung

10

Zukunft als Geschichte Zunächst stellt sich das Problem, in welchem Maße die Zukunft einen Projektionsraum darstellt, den man als Geschichte begreifen kann. Wenn Geschichte als die Summe vergangener und damit bereits geschehener Ereignisse definiert wird, die nach ihrem Abschluss erforscht und erzählt werden, ist eine Geschichtsphilosophie der Zukunft nicht möglich.1 Folgt man dieser Auffassung, dass nur Vergangenes erzählt werden kann, wäre die Erzähltheorie ebenfalls eine ausschließlich rückwärts gewandte Disziplin. Tatsächlich werfen ihr Autoren wie Paul Ricœur vor,2 auf die Retrospektive fixiert zu sein und diese Schwäche mit dem Historismus zu teilen. Doch müssen sich Erzählungen nicht auf vergangene Begebenheiten beschränken, sondern können sich gleichermaßen auf zukünftige Prozesse und Ereignisse erstrecken, wie im ersten und zweiten Kapitel gezeigt wird. Wenn sich derartige Narrationen auf wissenschaftliche Prognosen stützen, unterscheiden sie sich von Fiktionen dadurch, dass sie je nach Wahrscheinlichkeitsgrad des Vorhergesagten einen bestimmten Gehalt von etwas real Möglichen besitzen. Zwar bildet die Gesamtheit des Vergangenen die ‚reale‘ Geschichte, aber das Zukünftige ist deshalb nicht einfach ‚irreal‘, sondern deren Darstellung repräsentiert auf der Grundlage der Prognostik eine mögliche Realität. In dieser Bedeutung kann man von der Zukunft als einer real möglichen Geschichte sprechen, die sich durchaus erzählen lässt. Der entscheidende Unterschied zwischen Erzählungen über die Vergangenheit und Zukunft besteht darin, dass sich die Zukunftsdiskurse auf Handlungen beziehen, die zwar in einem historischen Kontext stehen, aber allein in der Gegenwart möglich sind. Um diese Perspektive zu unterstreichen, verweise ich auf den Referenten der Erzählung, auf das menschliche Handeln, durch das Zukunft überhaupt erst entworfen wird. In dieser Absicht schlage ich eine Verschiebung des Akzents von der Erzähl- zur Handlungstheorie vor, ohne dabei den Kontext von Handlung und Erzählung aus den Augen zu verlieren. Dazu knüpfe ich an die Vermittlung von Handlungssinn und Deutungssinn in Anlehnung an die dreifache Mimesis von Ricœur an.3 So erweist sich die Zeit als historische „Zeit der Handlung“, d.h. als diejenige Zeit, die durch die Handlung strukturiert wird. Indem Handlungen einen Konnex von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herstellen, erzeugen sie bestimmte Zeitstrukturen, die mittels Reflexion ihren spezifisch geschichtlichen Charakter erhalten. Das gilt entsprechend für die Zukunft: Im Zuge der prognostizierbaren Fernwirkungen unseres Handelns erhält die Zukunft eine zeitlich-räumliche Struktur, die das Erzählen ermöglicht, so wie auch die Erzählung den neu eröffneten historischen Raum präfigurieren kann. Denn jede Handlung verbindet das Vergangene mit dem Zukünftigen und bedeutet damit Projektion in die Zukunft, so wie aus praktischer Perspektive die Zukunft 1 2 3

So Schnädelbach 2003, 336; kritisch dazu Rohbeck 2010, 195 f. Ricœur 2004, 139 f. Ricœur 1988, Bd. I, 87 ff. – Vgl. Rohbeck 2010, 186 ff.; ausführlicher dazu ders. 2012, 63 ff. – Siehe den Abschnitt „Geschichtspolitik“ im Resümee.

Zukunft als Geschichte

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die privilegierte Zeit ist.4 Durch Antizipation eröffnet sich der Zeithorizont der Zukunft; vergangene Erfahrungen werden gedeutet, auf gegenwärtige Handlungsstrukturen bezogen und im Hinblick auf zukünftige Folgen bewertet. In dieser Allgemeinheit gilt das für Handlungen von Individuen, die je eigene Zwecke antizipieren, wie auch für Kulturen und Nationen, unabhängig davon, ob die Zwecksetzungen realisiert werden. Damit stellt sich die weiterführende Frage, wie die so bestimmte Zukunft nicht nur als zukünftige Zeit, sondern im emphatischen Sinn als Geschichte verstanden und auf geschichtsphilosophische Weise reflektiert werden kann. Weil die Bestimmung formaler Zeitstrukturen hier nicht ausreicht, kommt es darauf an, die Zukunft als historische Zeit zu erfassen, um verantwortliches Handeln in einen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Wenn es zutrifft, dass die Menschen unter bestimmten Bedingungen ihre Geschichte ‚machen‘, sind es in erster Linie langfristig wirksame Handlungen, die historische Zeiten konstituieren. Gleichzeitig werden derartige Handlungen auf historiographische und geschichtsphilosophische Weise gedeutet, indem man sie in größere historische Prozesse einordnet und daraus Schlüsse über regionale oder globale Verläufe von Geschichten oder auch der Geschichte im Ganzen zieht. Dazu bedarf es wiederum einer bestimmten Geschichtsphilosophie. Hier erinnere ich an den Umstand, dass sich der moderne Begriff der Zukunft im Kontext des geschichtsphilosophischen Denkens im 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Er setzt das neuzeitlich-historische Bewusstsein voraus, demzufolge die Geschichte als ein kontinuierlicher Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorgestellt wird. Indem der Begriff der Geschichte von der Metapher der Lebensalter abgekoppelt wird, erscheint sie nicht mehr als Zyklus, sondern wesentlich als ein irreversibler und offener Prozess, in dem sich kein Ereignis und keine Situation wiederholt, sondern zu jeder Zeit etwas Neues geschieht. Die Geschichte wird aus der christlichen Eschatologie herausgelöst und damit „entfristet“. Unter dieser Voraussetzung ist nicht nur der Kollektivsingular Geschichte entstanden, sondern eben auch der singuläre Zukunftsbegriff. Im 20. Jahrhundert zeigt sich die historische Dimension dieses Begriffs auch in mannigfaltigen Umkehrungen, wenn etwa das vermeintliche Ende der Zukunft und damit der Geschichte behauptet oder wieder auf das zyklische Geschichtsbild zurückgegriffen wird. Vom Historismus des 19. Jahrhunderts ist zu lernen, dass die Zukunft wie auch die Vergangenheit nicht unmittelbar erschlossen werden können, weder theoretisch noch praktisch. Es ist nicht möglich, sich direkt in die Gegenwart zukünftiger Generationen zu versetzen, um sich diese Zeit als zukünftige Gegenwart vorzustellen. Demgegenüber ist es notwendig, den eigenen Standpunkt und die eigene Beziehung zur Zukunft zu reflektieren, um ein reXexives Verhältnis zur Zukunft zu gewinnen. Dann zeigt sich, wie im dritten Kapitel ausgeführt wird, dass die Zukunft nur vom Standpunkt der Gegenwart zugänglich ist, mithin nur als gegenwärtige Zukunft. Auf diese Weise lässt sich nicht nur das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit, sondern auch zur Zukunft als hermeneutischer Zirkel beschreiben. Wir projizieren unsere Erfahrungen der Gegenwart in die Vergangenheit und Zukunft, so wie die Vorstellungen über die Zukunft unsere Orientierung in der 4

Bubner, 1984, 30 f.; Rüsen 1983, Bd. 1, 48 f.; Picht 1992, 4; Ricœur 1998, 9 f., 25, 56; ders. 2004, 557, 594; Lehmann-Brauns 2006, 187 f.

Einleitung

12

Gegenwart beeinflussen. Auch Reinhart Kosellecks Begriffspaar Erfahrungsraum und Erwartungshorizont hat diesen hermeneutischen Hintergrund.5 Diese Kategorien bedeuten, dass sowohl die bereits gemachten Erfahrungen mit der Vergangenheit die Erwartung an die Zukunft prägen als auch dass die Zukunftserwartungen die Interpretation der vergangenen Geschichte beeinflussen. Aus diesen Gründen versuche ich, ein übergreifendes Konzept von Geschichte zu entwerfen, das nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern ausdrücklich auch Zukunft umfasst. Aus diesem historischen Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgt die Aufgabe, systematisch zu entwickeln, wie sich Menschen in einer jeweiligen Gegenwart ihres geschichtlichen Kontextes bewusst werden können. Denn die Frage, in welcher Situation sich die gegenwärtig Lebenden langfristig befinden, lässt sich nur auf historische Weise beantworten. Die Interpretation, ob diese Situation als Fortschritt, als Krise oder Verfall gedeutet werden kann, hängt vom historischen Vergleich mit vergangenen Phasen der Geschichte und von der daraus resultierenden Antizipation zukünftiger Zustände ab. Je bedrohlicher Krisen erscheinen, desto wichtiger ist diese historische Reflexion. So entziehen sich langfristige Prozesse wie zum Beispiel Klimawandel, Artensterben oder Umweltbelastung der lebensweltlichen Erfahrung. Es bleibt nur übrig, die Auswirkungen gegenwärtigen Handelns diskursiv und narrativ zu vermitteln, wie ich an zahlreichen Diskursen über die Zukunft belegen werde.

Ethik der Zukunft Die Problematik eines historischen Verständnisses von Zukunft berührt in besonderer Weise eine Ethik, die sich programmatisch der Zukunft verschreibt, setzt diese doch einen Begriff voraus, der sich dem modernen Geschichtsdenken verdankt. Denn im historiographischen Rückblick zeigt sich wiederum, dass die Geschichtsphilosophie ursprünglich nicht nur auf Zukunft ausgerichtet war, sondern bereits eine frühe Form von Zukunftsethik repräsentierte, weil dort die Frage nach dem Beitrag der gegenwärtig lebenden Menschen für das Wohlergehen zukünftiger Generationen zuerst gestellt worden ist. Insbesondere die Fortschrittsidee drückte die Erwartung vieler Aufklärer aus, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen kontinuierlich verbesserten, wozu es wiederum einer vorsorgenden Praxis bedürfe. In diesem Sinn kann man sowohl von einer ethischen Geschichtsphilosophie als auch von einer Historisierung der Ethik sprechen. Es ist also meine Absicht, zur Analyse der historischen Dimension der Zukunftsethik die Disziplin der Geschichtsphilosophie zurate zu ziehen.6 Eine solche Annäherung von 5 6

Koselleck 1979, 349 ff.; vgl. Rüsen 1994, 6 f. Damit setze ich meine Überlegungen des letzten Kapitels meines Buches Aufklärung und Geschichte fort (Rohbeck 2010, 217 ff.). – Wichtige Anregungen verdanke ich der Kooperation im Rahmen des Forschungsprojekts „Una nueva filosofía de la historia“ am Consejo Superior de Investigaciones CientíYcas (CSIC) in Madrid unter der Leitung von Concha Roldán. Tom Handrick danke ich für die sachkundige Kritik und redaktionelle Hilfe.

Ethik der Zukunft

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Zukunftsethik und Geschichtsphilosophie ist heute keineswegs selbstverständlich, denn üblicherweise treten diese Diskurse separat auf. Um diese Trennung zu überwinden, ziele ich auf eine neuartige Synthese der bisher unverbunden nebeneinander existierenden Disziplinen. Dazu stelle ich mir zwei Aufgaben. Die erste Aufgabe sehe ich darin, die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen zu untersuchen, die in der Ethik der Zukunft fundamental sind. In diesem Zusammenhang werde ich zeigen, dass deren Vertreter implizit und unausgesprochen mit historischen BegriffenundGeschichtsmodellenoperieren.WeilichdarüberhinausderÜberzeugungbin, dass die Zukunftsethik ohne diese Grundannahmen gar nicht möglich wäre, will ich nachweisen, dass die darin verwendeten Prinzipien einer geschichtsphilosophischen Klärung bedürfen, um überhaupt plausibel zu sein. Daher halte ich die Geschichtsphilosophie für unverzichtbar, um diejenigen ethischen Argumente zu rekonstruieren, mit deren Hilfe Zukunftsprobleme zu lösen versucht werden. Derartige Implikationen sollen in einer entsprechenden Diskursanalyse zum Vorschein gebracht werden. Zu den Initiatoren der Zukunftsethik gehört bekanntlich Hans Jonas, der mit seinem 1979 erschienenen Buch Das Prinzip Verantwortung eine „neue Ethik“ forderte, die sich nicht nur auf die Gegenwart, sondern vor allem auf die fernere Zukunft beziehen sollte.7 Dahinter stand die Erfahrung sich intensivierender Fernwirkungen technischen Handelns und die Befürchtung, dass die modernen Technologien irreversible Schäden anrichten. Auf diese Weise erhielt die Zeit eine völlig neue und besondere Bedeutung. Das demonstriert auch der Begriff der Langzeitverantwortung, der insofern eine temporale Struktur annimmt, als sich Fragen nach einer bisher nicht gekannten Reichweite von Verantwortung stellen. Diese Begriffe sind Indizien dafür, dass Zeitstrukturen eine wichtige Rolle spielen, welche auf die historische Dimension der Zukunftsethik verweisen. Wenn ferner Dieter Birnbacher die Verantwortung für zukünftige Generationen thematisiert,8 kommt der Begriff der Generation hinzu mit dem Postulat, dass die gegenwärtig Lebenden für später lebende Menschen Verpflichtungen zu übernehmen haben. Spricht man hier von intergenerationeller Gerechtigkeit, ist die Gerechtigkeit zwischen aufeinander folgenden Generationen gemeint.9 Wenn dabei Schäden berücksichtigt werden, die in der Vergangenheit verursacht wurden, und wenn dafür in der Gegenwart Kompensation verlangt wird, ist ausdrücklich von historischer Gerechtigkeit die Rede.10 Fragt man nach den entsprechenden Maßstäben, kann Gerechtigkeit bedeuten, dass es zukünftigen Generationen entweder „besser“ oder „gleich“ gehen sollte, vielleicht aber auch „schlechter“ gehen dürfte. Derartige Urteile enthalten nicht nur Erwartungen an die Zukunft, sondern offensichtlich auch bestimmte Geschichtsmodelle wie Fortschritt, Stagnation oder Niedergang. 7 Jonas 1979, 9. 8 Birnbacher 1988, 23 f. 9 Tremmel 2003, 34; mit weiteren Variationen Tremmel 2005, 93 ff.; Ekardt 2005, 25 ff.; Heubach

2008, 13 ff.

10 Meyer 2005, 39 f.

14

Einleitung

Folgt man Koselleck, sind Ausdrücke wie „alte und neue Welt“ oder „erste, zweite und dritte Welt“, „Entwicklungsländer“ beziehungsweise mehr oder weniger entwickelte Länder oder so genannte Schwellenländer Begriffe des Historischen.11 Auch das Konzept der Nachhaltigkeit enthält temporale Indikatoren, die auf historische Prozesse und nicht zuletzt auf geschichtsphilosophische Probleme hinweisen. Im Programm der „nachhaltigen“ wie auch der „nachholenden Entwicklung“ stellen sich Fragen nach dem Entwicklungsbegriff und nach dem „Recht auf Entwicklung“ der benachteiligten Länder. Dahinter verbergen sich das Theorem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die entsprechende Forderung nach Synchronisation. Von Geschichte wird ebenfalls indirekt gesprochen, wenn man dafür plädiert, die Zukunft offen zu halten, damit zukünftige Generationen sich ihre Lebensverhältnisse frei wählen können. Doch gibt es auch Fälle, in denen die Zukunftsethik in Opposition zur Geschichtsphilosophie gesetzt wird. Paradigmatisch dafür ist wiederum Jonas, der sein Prinzip Verantwortung bekanntlich als Gegenentwurf zum Prinzip Hoffnung von Ernst Bloch konzipiert hat. Weniger bekannt ist jedoch, dass er sich nicht nur von dessen Utopie, sondern vor allem von der darin steckenden Geschichtsphilosophie abgrenzt. An die Stelle einer utopischen Zukunftsperspektive soll nach Jonas die Besinnung auf eine im Grunde geschichtslose Gegenwart treten. Bereits in den Anfängen der neuen Disziplin versteht sich die Ethik der Zukunft also als Abkehr von der modernen Philosophie der Geschichte. In der neueren Forschung dient der Bezug auf Geschichte manchmal sogar dazu, die Relevanz der Fernverantwortung in Frage zu stellen. So setze ich mich im vierten Kapitel mit einer Reihe grundsätzlicher Einwände auseinander, die mehr oder weniger erkenntlich mit Geschichtstheoremen operieren. Die Reflexion auf die „Gegenwart der Langzeitverantwortung“ soll beispielsweise einen Präsentismus begründen, der den Vorzug gegenwärtiger Interessen rechtfertigt. Einige Prinzipien der Zukunftsethik, die noch ausführlich zu diskutieren sind, schließen die Berücksichtigung der Vergangenheit kategorisch aus und negieren damit jede Art historischer Verantwortung. Der Verweis auf die Kontingenz in der Geschichte führt zu Zweifeln darüber, ob die für die Zukunft typischen Unsicherheiten es überhaupt erlauben, eine entsprechende Verantwortung für zukünftig lebende Menschen zu legitimieren. Der Begriff der Generation wird für die Zukunftsethik abgelehnt mit der Begründung, dass letztlich nur Individuen verantwortlich seien. Schließlich enthält der in der Zukunftsethik verbreitete Universalismus das Problem, dass die Zukunft als ein ethisch „neutraler“ und damit abstrakter Zeitraum erscheint, der eine nur chronologische Staffelung gestattet. Da die Begriffe Zukunft und Generation nur formal mit Hilfe von Zeitabständen definiert werden, mangelt es an entsprechenden inhaltlichen und damit spezifisch historischen Bestimmungen. Ich werde versuchen, die genannten Einwände zu entkräften, indem ich sie mit Hilfe der Geschichtsphilosophie in eine tragfähige Grundlage für die Zukunftsethik transformiere. Die zweite Aufgabe besteht daher in einem systematischen Entwurf, um die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen nicht nur zu explizieren, sondern so weiter zu 11 Koselleck 1979, 300 ff.

Transformationen

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entwickeln, dass sie zur Lösung von Problemen der Langzeitverantwortung beizutragen imstande sind. Damit erhebe ich den Anspruch, dass die geschichtsphilosophische Reflexion innerhalb der Zukunftsethik zu neuen Erkenntnissen zu führen vermag. Diese Transformationen von geschichtsphilosophischen Voraussetzungen in systematische Begründungen möchte ich im Folgenden exemplarisch erläutern.

Transformationen Versteht man Geschichte als einen kontingenten Prozess, stellt die Philosophie der Geschichte einen Versuch der Kontingenzbewältigung dar.12 In unserem Fall einer kontingenten Zukunft kommt es nun darauf an, die Kontingenztheorie nicht etwa als Einwand gegen die Theorie der Langzeitverantwortung gelten zu lassen, sondern ihr in praktischer Absicht eine legitimierende Rolle zuzuweisen. Im fünften und sechsten Kapitel werde ich zeigen, wie auf solche Weise mit dem Bewusstsein historischer Kontingenz umgegangen werden kann.13 Im Anschluss an Blochs Begriff der realen Möglichkeit ist Kontingenz als ein Handlungsspielraum zu verstehen, der als Chance für verändernden Eingriff und alternatives Handeln genutzt werden kann. Ohne eine solche Vorstellung praktischer Freiheit ist das Konzept der Verantwortung überhaupt nicht zu rechtfertigen. Will man die zukünftige Geschichte gerade nicht dem Zufall überlassen, dann ist es geboten, an dessen Stelle die freie und bewusste Option für verantwortliches Handeln zu setzen. In den Sozialwissenschaften, die lange Zeit die Zwänge sozialer Systeme in den Vordergrund gestellt haben, ist die Neigung erkennbar, die Rolle handelnder Subjekte wieder zu entdecken und aufzuwerten. Auch in der Geschichtswissenschaft macht sich das gestiegene Interesse für vergangene Optionen bemerkbar, wie in methodologischen Reflexionen über kontrafaktische Erklärungen zum Ausdruck kommt. Daraus ziehe ich die Konsequenz, am utopischen Denken festzuhalten, dessen Einmündung in die Geschichtsphilosophie ich im ersten Kapitel skizziere. Außerdem möchte ich Blochs geschichtsphilosophische Konzeption fortschreiben, die ich mit neueren Theorien historischer Kontingenz und Kohärenz verbinde. Die Einsicht in die Kontingenz der Geschichte bedeutet im Hinblick auf die Zukunft, dass nicht nur die Tendenzen von Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Ökologie schwer vorhersehbar sind, sondern wesentlich auch, dass mit einem kulturellen Wandel zu rechnen ist, der das Wertesystem von Gesellschaften erfasst. Wenn dabei an eine offene Zukunft zu denken ist, drückt sich darin das moderne Geschichtsbewusstsein aus. Für die Ethik der Zukunft folgt aus dem antizipierten Wertewandel, dass ein Wechsel von 12 Lübbe 1977, 25; Koselleck 1979, 158; Bubner 1984, 34; Marquard 2003, 159; Kittsteiner 1998,

162 ff.; ders. 2004, 34.

13 Da ich in diesem Abschnitt lediglich Schlaglichter auf die folgenden Ausführungen werfe, erspare

ich mir vorerst Nachweise auf die entsprechende Literatur, die in den späteren Anmerkungen detailliert dokumentiert werden wird.

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Einleitung

Bedürfnissen, Interessen und moralischer Normen erwartet werden muss. Doch diese Erkenntnis darf nicht als Vorwand dienen, als ob wir für diese zukünftigen Interessen heute nichts tun könnten. Vielmehr resultiert daraus das ethische Gebot, den Spielraum zukünftiger Optionen zu erhalten oder gar zu erweitern. Gerade weil wir die Wünsche zukünftiger Generationen nicht kennen können, sind wir verpflichtet, die Bedingungen für möglichst große Wahlfreiheit zu gewährleisten. Um für derartige Bedingungen Vorsorge zu treffen, ist es hingegen erforderlich, die Kontingenz der Zukunft und damit die Offenheit der Geschichte zu einem Teil wieder zu begrenzen. Demnach darf in Zukunft nicht ‚alles‘ möglich sein, wenn damit bestimmte Gefahren verbunden sind. Das liefe auf einen radikalen Liberalismus hinaus, demzufolge jede langfristige Verantwortung müßig wäre. Demnach würden sich die Prinzipien Offenheit der Geschichte und Verantwortung für zukünftige Generationen sogar widersprechen. Das gilt für eine lebenswerte Umwelt, für die Erhaltung natürlicher Ressourcen, für eine intakte Infrastruktur und für ausreichende Staatsfinanzen. Offenheit und Geschlossenheit der Geschichte sind in ein neues Verhältnis zu setzen. Daher schlage ich das modifizierte Geschichtsbild einer bedingten Offenheit vor. Mit diesem Konzept ist das praktische Postulat einer Kontinuität in der Geschichte verbunden, das der verabsolutierten Kontingenz Einhalt gebietet. Zwar wird alternatives Handeln verlangt, das die gescheiterten Wege einer bedingungslosen Industrialisierung verlässt, aber gerade dieses Ziel einer ökonomischen und ökologischen Wende bedarf verbindlicher Vereinbarungen, die national und global über einen längeren Zeitraum Gültigkeit besitzen. Verpflichten sich beispielsweise Regierungen dazu, bestimmte Klimaziele einzuhalten, hat dies nur Bestand, wenn es dafür langfristige Garantien gibt. Aus diesem Grund setzt Langzeitverantwortung historische Kontinuitäten voraus, so wie nur kontinuierlich fortgesetzte Praxen eine solche Verantwortung ermöglichen. Charakterisiert man die Geschichte als einen Generationen übergreifenden Handlungszusammenhang, ist die Verantwortung für zukünftige Generationen als intergenerationelle Kooperation zu verstehen, mit deren Hilfe historische Kontinuitäten geschaffen werden. Eine derart diachrone Kooperation setzt auch die Tradierung elementarer Werte wie etwa das Interesse an Autonomie voraus, wie ja dieser Wunsch erst im Zuge der historischen Epoche der Aufklärung entstanden und bis in unsere heutige Gegenwart tradiert worden ist. Ein erhellendes Beispiel für eine solche Kontinuität ist die viel diskutierte Frage, ob zukünftig lebende Menschen ein Recht auf Selbstbestimmung oder überhaupt Rechte „haben“. Auch in diesem Fall dient die Antwort, sie hätten keine Rechte, weil sie noch nicht existierten, der Leugnung der Verpflichtung, derartige Rechte schon heute durch entsprechende Vorsorge zu respektieren. Doch die gut gemeinte Antwort, dass wir den Zukünftigen heute bestimmte Rechte „zuschreiben“, bleibt unbefriedigend, wenn nicht zugleich die historische Kontinuität einer entsprechenden sozialen und kulturellen Praxis antizipiert wird. Das gilt erst recht für eine bloß anthropologische Begründung angeblich elementarer Bedürfnisse und Werte ohne die Antizipation eines langfristigen Kooperationszusammenhangs. Mit meiner Konzeption historischer Fristen versuche ich zu zeigen, wie derartige Kontinuitäten durch verantwortliches Handeln aufgebaut werden können. Insbesondere

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lange Fristen verstehe ich als diachrone Brücken zwischen den Generationen, mit deren Hilfe historische Räume konstruiert werden. Damit biete ich eine Lösung für ein grundlegendes Problem des ethischen Universalismus an, welches darin besteht, dass die durchaus berechtigte Anerkennung genereller Rechte zu der praktisch kaum einholbaren Konsequenz führt, die Verantwortung in der Gegenwart beziehe sich gleichermaßen auf die Bedürfnisse und Interessen aller Menschen aller zukünftigen Zeiten und Räume. Ebenfalls abstrakt bleibt die Einschränkung dieser Verantwortung auf eine „mittlere“ zeitliche Distanz oder auf die Zeitgrenze der drei gleichzeitig miteinander lebenden Generationen. Die Alternative zwischen einer zeitlich grenzenlosen Verantwortung und eine pauschalen Begrenzung auf die nähere Zukunft vermag nicht zu überzeugen. Um hingegen die Reichweiten der Verantwortung zu differenzieren, entwickle ich einen Fristenbegriff, der sich an bestimmten Handlungsfeldern orientiert. Fristen definiere ich als Zeiträume, innerhalb deren agiert werden muss, um bestimmte Wirkungen zu erzielen, für welche die gegenwärtig handelnden Menschen verantwortlich sind. Doch ergeben sich dabei nicht nur unterschiedliche Zeiten, sondern auch verschiedene Räume, so dass mit Hilfe von Fristen eine historische Landkarte der Zukunft entworfen werden kann. Schließlich sind die Fristen nicht nur deskriptiv, sondern normativ konnotiert. Da es sich hier also nicht nur um chronologische Abstände, sondern um inhaltlich bestimmte Fristen handelt, kann ich mich an die phänomenologisch orientierte Geschichtstheorie anlehnen und zwischen „kurzer“, „mittlerer“ und „langer Dauer“ unterscheiden, die sich durch je eigene Tempi und Rhythmen auszeichnen. Beispielsweise sind Fristen auf dem Feld der Ökonomie verhältnismäßig kurz, im Gebiet von Bevölkerungswachstum, Umwelt und Ressourcen eher von mittlerer Länge, im Falle der Endlagerung radioaktiver Abfälle extrem lang. Eine solche Modifikation kann teils zur Entlastung führen, teils aber auch die moralischen Ansprüche erhöhen. Schließlich ist es ein inhaltlicher Begriff der Generation, den ich meinen Überlegungen zu Grunde lege. Er wird in der Ethik der Zukunft meistens verworfen mit dem Argument, letztlich könne man nur Individuen bestimmte Verantwortungen für andere Individuen zuschreiben. Ferner verbiete sich ein materialer Begriff der Generation, weil auf dem Feld zukünftiger Zeiten keine empirische Beschreibung sozialer Gruppen möglich ist. Wie schon bei der Bestimmung der ethisch relevanten Zeiten begnügen sich die Verteidiger der Langzeitverantwortung beim Generationenbegriff mit bloß formal-zeitlichen Definitionen. Demgegenüber halte ich es für möglich und zur Begründung der Zukunftsethik für unverzichtbar, einen materialen Begriff der Generation zu konzipieren. Auch in diesem Fall wird sich im achten Kapitel zeigen, dass „Generation“ im modernen Verständnis aus der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts stammt. Dieser Begriff hatte eine naturgeschichtliche Komponente, weil die „Kette“ der Generationen in der zeitgenössischen Naturgeschichte unter dem Thema Vererbung ein zentrales Thema war. Doch er betraf auch die Kulturgeschichte, weil die Generationenfolge als Weitergabe eines kulturellen Erbes verstanden wurde. Der Generationenbegriff wurde also nicht nur chronologisch und naturalistisch bestimmt, sondern war geschichtsphilosophisch hoch aufgeladen. Ausdrücklich war damit kein metaphysisches Handlungssubjekt gemeint, wie ja mit den

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Worten „Menschheit“ oder „menschliche Gattung“ ebenfalls nichts anderes als die Folge und Kooperation von Generationen gemeint war. In diesem Sinn werde ich den Begriff der Generation im Hinblick auf die Zukunft rekonstruieren und aufwerten. Während andere Disziplinen dazu über ausgearbeitete Theorien verfügen, fehlt in der Philosophie – nicht nur in der Zukunftsethik – bisher ein inhaltlich tragfähiges Generationenkonzept. Um einen in die Zukunft projizierten materialen Generationenbegriff zu entwickeln, knüpfe ich im siebten Kapitel an die Theorie der Generation von Karl Mannheim an. Insbesondere der Begriff der „Generationslagerung“ bietet den Vorzug, dass er sich zunächst auf die Beschreibung der ‚objektiven‘ Seite von Lebensverhältnissen konzentriert. Damit lassen sich prognostizierbare Bedingungen von antizipierten Populationen beschreiben, ohne dass es einer Charakterisierung subjektiver Befindlichkeiten von noch nicht existierenden sozialen Gruppen bedürfte. Synchron können ökonomische, ökologische oder kulturelle „Lagen“ zukünftig lebender Menschen geographisch differenziert werden; diachron sind historisch aufeinander folgende Situationen miteinander vergleichbar. Inhaltlich werde ich den Generationenbegriff weiter anreichern, indem ich ihn mit dem Konzept des Erbes verbinde. Fragt man nämlich nach der ‚realen‘ Beziehung zwischen den aufeinander folgenden Generationen, lässt sich „Generation“ als durch Erbschaft vermittelte Folge natürlicher und kultureller Bevölkerungsgruppen definieren. Die Generation ist dann eine soziale Gruppe, die ein Erbe von einer vorausgegangenen Gruppe erhält und an die nächste Generation weitergibt. Auf diese Weise sind Generation und Erbe miteinander verschränkt. Besonders wichtig für die Begründung von Langzeitverantwortung ist der so bestimmte Begriff der Generation, weil sich mit seiner Hilfe bestimmte Probleme lösen lassen. Wie bereits im Kontext des Themas Kontingenz angedeutet, führt das andere Extrem des Individualismus, der in der Zukunftsethik ebenso verbreitet ist wie der Universalismus, zu Paradoxien, die eine Ablehnung der Verantwortung für die Wirkungen schädigender Handlungen begründen soll. Geht man ausschließlich von Individuen aus, stellt sich das Problem, dass eine „Schädigung“ zukünftig lebender Menschen aus noch näher zu erläuternden Gründen prinzipiell in Frage gestellt werden kann. Um dieser fatalen Konsequenz auszuweichen, hat Lukas Meyer in einer aufwendigen Konstruktion vorgeschlagen, auf Vergleiche zwischen aufeinander folgenden Zuständen kategorisch zu verzichten. Doch einen solchen Verzicht halte ich für nicht minder problematisch und biete stattdessen eine andere Lösung des genannten Problems an. Sie besteht in der Konzeption von Generationen, die hinreichend viele Menschen umfassen, um die Kontingenz individueller Schädigung zu unterlaufen, und die zugleich so konkretisiert werden kann, dass räumlich und zeitlich zwischen geschädigten und nicht geschädigten sozialen Gruppen unterschieden werden kann. Eine solche Differenzierung erlaubt den historischen Vergleich zwischen früheren und heutigen oder auch gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen. Daraus folgt wiederum, dass die positiven und negativen Auswirkungen der modernen Zivilisation nach historischen Epochen und Regionen spezifiziert werden können, um konkrete Schuldzuweisungen und Kompensationsansprüche zu ermöglichen. Ohne eine Theorie der Generation bleibt die geschichtliche Dimension der Zukunftsethik ausgeblendet.

Transformationen

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Unverzichtbar ist ein materialer Generationenbegriff auch für die Lösung eines Problems, das ich im sechsten Kapitel weltgeschichtliche Gerechtigkeit nenne. Unter Weltgeschichte, deren Idee ebenfalls aus der Geschichtsphilosophie stammt, verstehe ich wiederum kein metaphysisches Konstrukt, sondern den historischen Prozess der Globalisierung als eines synchronen und diachronen Interaktionszusammenhangs. Die weltgeschichtliche Perspektive kommt im bereits erwähnten Programm der „nachhaltigen“ oder gar „nachholenden Entwicklung“ ins Spiel, die offensichtlich geschichtsphilosophische Implikationen enthält. Dazu gehört das Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das auf unterschiedliche Tempi und Weisen des Prozesses der Zivilisierung zurückzuführen ist. Sofern die daraus resultierende Ungerechtigkeit beseitigt werden soll, stellt sich die Aufgabe der Synchronisation, die ein Konzept historischer Kohärenz erfordert. Doch dahinter steht die Frage, ob bestimmten Völkern oder Nationen, die in der bisherigen Geschichte der Industrialisierung und Kolonialisierung benachteiligt worden sind und nun am globalen Reichtum teilnehmen wollen, ein solches Recht auf Entwicklung zugebilligt werden soll – freilich im Sinne einer alternativen Modernisierung, mit der frühere Irrtümer nicht wiederholt werden. Auf diese Art kann man auch von regional differenzierten und sachlich alternativen Fortschritten sprechen. Wenn ich den Generationenbegriff im neunten Kapitel mit Hilfe des Modells der Erbschaft konkretisiere, verfolge ich damit die Absicht, die zukünftig lebenden Menschen nicht nur als ‚Betroffene‘, sondern als mögliche Akteure vorzustellen. Bereits das Prinzip der Wahlfreiheit, dessen Geltung auch für zukünftige Individuen beansprucht wird, enthält den Aspekt, diese Menschen als mögliche Subjekte schon heute anzuerkennen und dafür die entsprechenden Bedingungen zu schaffen. Der Generationenbegriff von Mannheim gestattet es, über die objektive Lage hinaus subjektive Momente in die Zukunft zu projizieren, indem etwa die Reaktionen zukünftig lebender Menschen auf die ihnen hinterlassenen Lebensbedingungen prognostiziert werden können. Dazu gehören sowohl das Verantwortlichmachen für das Überlieferte als auch der mögliche praktische Umgang mit den überkommenen Gütern und Schäden. Weil das Erbe als ein selbständiges Drittes zwischen die Generationen tritt, das man wie ein Mittel auf unterschiedliche Weise verwenden kann, erscheinen die erbenden Generationen nicht nur als passive Empfänger, sondern als aktiv Auswählende, Anwendende und Umgestaltende des kollektiv Geerbten. Auf der Seite der Erben wird damit eine indirekte Reziprozität mit zukünftigen Generationen vorstellbar. Auf der Seite der Erblasser könnte diese Aussicht dazu motivieren, ein möglichst gutes Erbe zu hinterlassen. Versteht man das Erbe außerdem noch im Sinne von kulturellem Kapital und Gabe, lassen sich verborgende Machtstrukturen kritisieren und Formen von Generosität konzipieren, die sich der Tauschrationalität und totalen Ökonomisierung entziehen. Die darin steckenden kritischen Potenziale werfen noch einmal ein neues Licht auf das Prinzip der historischen Gerechtigkeit. Betrachtet man schließlich das Individuum in einem solchen historischen Zusammenhang, lässt sich daraus ein spezifisches Motiv ableiten. Üblicherweise wird die Reflexion eines Individuums auf seine Rolle in der Generationenfolge anthropologisch begründet. Demnach gehört es zum Begriff einer Person, die eigene Existenz zu „transzendieren“. Da dieses Fortleben physisch nicht nur unmöglich, sondern auch nicht erwünscht

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ist, bleibt nur die Möglichkeit, in dem an zukünftige Generationen Vererbten und somit in der Erinnerung Zukünftiger symbolisch weiter zu leben. Stellt man diese Argumentation jedoch in einen geschichtsphilosophischen Kontext, zeigt sich, dass Menschen nicht allein auf die Würde ihrer individuellen Person bedacht sind, sondern dass sie darüber hinaus dazu in der Lage sind, sich als geschichtliche Wesen mit Zukunftsperspektive zu begreifen. Meiner Auffassung nach ist es möglich und Erfolg versprechend, an ein historisches Bewusstsein zu appellieren, in dem sich Personen im Kontext der Generationenfolge verstehen und dadurch eine spezifisch historische Identität herausbilden.

Praktische Geschichtsphilosophie Im Rahmen einer geschichtsphilosophischen Begründung der Zukunftsethik ist schließlich zu fragen, welche Art Geschichtsphilosophie dabei gemeint ist. Anders gefragt: Wie ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? Um diese Frage zu beantworten, unterscheidet man üblicherweise zwischen einer formalen und materialen Variante. Während letztere in der akademischen Philosophie als diskreditiert gilt, wird nur noch der formalen Geschichtsphilosophie Legitimität zugesprochen. Damit soll sich die Philosophie der Geschichte auf eine Theorie historischer Forschung und Darstellung mit den Themen Erinnerung, Erklärung und Erzählung beschränken. Doch stellt sich das Problem, dass die so reduzierte Geschichtsphilosophie von der Theorie der Geschichte in den Geschichtswissenschaften kaum zu unterscheiden ist. Denn auch dort gibt es bekanntlich eine elaborierte Methodologie.14 Um hingegen die Philosophie der Geschichte von der geschichtswissenschaftlichen Historik abzugrenzen, werde ich versuchen, die materiale Seite mit Hilfe einer rettenden Kritik zu rehabilitieren und damit die strikte Trennung zwischen materialer und formaler Geschichtsphilosophie aufzuheben. Wie es möglich ist, die inhaltliche Analyse methodologisch zu reflektieren, so dürfte es legitim sein, die formale Analyse mit inhaltlichen Themen zu verknüpfen. Mit dieser Synthese strebe ich eine methodisch reXektierte materiale Geschichtsphilosophie an. Die erste Aufgabe, die so definiert wurde, die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen der vorhandenen Diskurse über die Zukunft zu analysieren, entspricht der formalen Geschichtsphilosophie. Insbesondere im zweiten Kapitel werde ich fachspezifische Methoden zur Untersuchung von Diskursen über die Zukunft anwenden. Ähnlich wie die Darstellungen über vergangene Ereignisse operieren auch die Prognosen mit bestimmten Zeitstrukturen. Sofern diese Zeiten soziale und kulturelle Prozesse beinhalten, an die sich wiederum bestimmte kulturell geprägte Erwartungen an die Zukunft knüpfen, geht es hier um die Analyse historischer Zeiten. Dabei kommen neben der Hermeneutik auch phänomenologische Verfahren zum Zuge. Da prognostizierte Prozesse häufig erzählt werden, bietet sich die Anwendung narratologischer Theorien an, die im Kontext historiographischer Forschungen entwickelt wurden. Mit diesen Verfahren strebe ich ein möglichst breites Methodenspektrum an. 14 Exemplarisch seien genannt: Koselleck 1979; Kocka 1989; Rüsen 1983-89; Lorenz 1997.

Praktische Geschichtsphilosophie

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Die zweite Aufgabe, die darin besteht, über die Diskursanalyse hinaus auf systematische Weise zur Lösung von Problemen der Zukunftsethik beizutragen, bezieht sich auf die Inhalte der Geschichte und damit auf die materiale Geschichtsphilosophie. Denn es ist zu bezweifeln, ob die Reduktion auf Erkenntnisverfahren und Darstellungsformen für eine Philosophie der Geschichte wirklich so zwingend ist, wie der gegenwärtige Konsens nahelegt. Aus meiner Sicht ist es keineswegs plausibel, dass ein geschärftes Methodenverständnis die philosophische Reflexion über historische Sachverhalte kategorisch ausschließen soll. Mit dieser Position widerspreche ich der Behauptung, dass die materiale Geschichtsphilosophie eine bloß „historische Formation“ sei, die sich heute erübrigt habe.15 Mein historiographischer Einwand lautet, dass es während der Epoche der Aufklärung sehr vielfältige Formen geschichtsphilosophischer Reflexion gab, bei denen die verpönte Teleologie eher die Ausnahme bildete. Unabhängig davon lässt sich diese Denkfigur selbst so rekonstruieren, dass die darin verborgenen und durchaus aktualisierbaren Funktionen sichtbar werden. Ausdrücke wie „Vorsehung“, „Plan“ usw. fungierten dort nur noch als hypothetische Konstruktionen mit heuristischer Funktion. Das trifft nicht zuletzt auf Kants „Naturabsicht“ und auf Hegels „List der Vernunft“ zu.16 Es ist also meine systematische Absicht zu zeigen, dass eine materiale Geschichtsphilosophie auch jenseits von Teleologie im Sinne eines offenen Prozesses konzipiert werden kann. Auf diese Weise vertrete ich eine philosophische Forschung, in der sich Historik und Systematik miteinander verbinden. Damit stellt sich die Frage nach den Inhalten der zu rehabilitierenden Geschichtsphilosophie. Wenn Geschichte – nach Giambattista Vico – von den Menschen teilweise „gemacht“ wird, sind es die Handlungen von Individuen innerhalb sozialer Gruppen und Institutionen, aus denen historische Prozesse resultieren.17 Indem ich mich dabei auf die Handlungen in der Gegenwart konzentriere, folgt daraus die erwähnte Zukunftsperspektive. Meine Antwort zielt also auf eine handlungs- und zukunftsorientierte Geschichtsphilosophie. Diese Konzeption hat wiederum zur Folge, dass moralische Maßstäbe ins Spiel kommen, nach denen Handlungen und ihre Wirkungen beurteilt werden. Im Hinblick auf die Zukunft ist die Verantwortung für zukünftige Generationen das zentrale Thema. Die Hinwendung zu derartigen Inhalten hat den zusätzlichen Effekt, dass neben der Deskription auch die Normativität ins Spiel kommt. Während der Geschichtsphilosophie 15 Marquard 1973, 241 ff.; Baumgartner 1996, 151 ff.; mit Berufung auf Baumgartner siehe die jüngs-

te Kritik, in der die bekannten Vorurteile zu einem Zerrbild „materialer Geschichtsphilosophie“ zusammenstellt werden, Zwenger 2008, 55 ff. 16 Rohbeck 2000, 25 ff.; ders. 2010, 54 ff., 103 ff. 17 Die verschiedenen Aspekte des Handlungsbegriffs werden den folgenden Themenschwerpunkten zugeordnet: zur Dauer einer Handlung siehe den Abschnitt „Die Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft“ im dritten Kapitel, zu den Wirkungen menschlichen Handelns die Abschnitte „Fristen gegenwärtiger Verantwortung“ und „Folgen aus der Vergangenheit“ im fünften Kapitel, zu den Aspekten „Kontinuität“, „Kontingenz“ und „Kohärenz“ die jeweiligen Abschnitte im sechsten Kapitel, zur Geschichte als Generationen übergreifenden Handlungszusammenhang oder intergenationellen Kooperation das achte und neunte Kapitel.

Einleitung

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lange Zeit vorgeworfen wurde, die normative Dimension zu vernachlässigen oder gar zu negieren, wird heute durchaus anerkannt, dass geschichtsphilosophisches Denken mit ethischen Positionen vereinbar ist.18 Doch stellt sich die weiter führende Frage, in welcher Disziplin die entsprechenden Normen begründet werden können. Ist es allein die Ethik, die Wertmaßstäbe wie zum Beispiel die Menschenrechte legitimiert, die dann in der Geschichtsphilosophie lediglich temporalisiert werden? Oder lassen sich genuin geschichtsphilosophisch gerechtfertigte Normen formulieren? Wie im Resümee zusammengefasst wird, zähle ich dazu die Vorsorge für zukünftige Generationen, die Weitergabe eines guten Erbes, die historische Schuld und die entsprechende Verpflichtung zur Wiedergutmachung, die historische Gerechtigkeit und die Intuition, dass es den Zukünftigen irgendwie besser gehen soll. Auf diese Weise begibt sich die Geschichtsphilosophie in die Nähe der Ethik und stellt sich in den Kontext der praktischen Philosophie. Für die Ethik der Zukunft folgt aus diesem Programm, dass sie sich gegenüber geschichtsphilosophischen Überlegungen öffnet und bestimmte Einsichten in die Struktur und Funktion historischen Bewusstseins in ihre eigene Grundlegung einbezieht. Für die Philosophie der Geschichte hat dies zur Konsequenz, dass sie sich mit der Zukunftsperspektive an der Lösung aktueller Probleme beteiligt und mit der praktischen Philosophie verbündet. Wenn ich sie „praktische Geschichtsphilosophie“ nenne, lehne ich mich an die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie an. Während die reine Methodologie theoretische Geschichtsphilosophie heißen könnte, besteht mein Projekt in einer praktischen Geschichtsphilosophie der Zukunft.

18 Lossurdo 1998; Grün 1999; Cruz 2005, 114 ff.; Roldán 2006, 543 f.; Rohbeck 2010, 217 ff.,

226 ff.

Erster Teil Geschichte und Zukunft

Um die Zukunft als Geschichte zu betrachten, unterscheide ich zwischen drei Varianten. Die erste besteht darin, dass die Geschichte der Diskurse über die Zukunft betrachtet wird. In diesem Sinn ist „Geschichte der Zukunft“ ein in der Literatur verbreiteter Titel, womit die vergangene Zukunft gemeint ist.1 Wenn dabei die Erwartung der Menschen in der Vergangenheit an ihre jeweilige Zukunft das Thema ist, wird die historische Entwicklung von Vorstellungen, Erzählungen und gedanklichen Konstruktionen über die Zukunft untersucht: hier zunächst die Utopien von der Renaissance bis zur Aufklärung und Marx; daran anknüpfend die „konkrete Utopie“ in der Philosophie Blochs. Da es sich häufig um philosophisch inspirierte Romane oder Erzählungen wie auch um explizit ausgewiesene Philosophien handelt, können diese Diskurse auf geschichtsphilosophische Weise reflektiert werden, sofern sie nicht selbst schon zur Geschichte der Geschichtsphilosophie gehören. Im Kern geht es um die Frage nach der Aktualität utopischen Denkens sowie um das Verhältnis von Utopie und Geschichtsphilosophie, um im Anschluss an Bloch Kategorien zu entwickeln, die für die weitere systematische Bearbeitung einer Ethik der Zukunft erforderlich sind. Eine derartige Geschichte der Zukunft lässt sich natürlich bis in die heutige Gegenwart fortschreiben, so dass ich in einer zweiten Variante die gegenwärtige Zukunft thematisiere. In diesem Fall handelt es sich weniger um positive als zunehmend negative Utopien, die dann wieder in eine „rettende“ Perspektive münden. Auch sie kann man geschichtsphilosophisch untersuchen, indem man diejenigen Methoden, die sich bei der Analyse von Darstellungen vergangener Ereignisse bewährt haben, auf die heutigen Diskurse über die Zukunft überträgt. Dabei geht es nicht nur um formale Zeitstrukturen, sondern vor allem um eine Theorie historischer Zeiten. Was Koselleck auf dem Gebiet der Vergangenheit geleistet hat,2 möchte ich für die Zeiten der Zukunft durchführen. Und sofern zukünftige Ereignisse erzählt werden können, sind Zukunftsdiskurse wesentlich als Erzählungen zu betrachten, die bestimmte narrative Strukturen enthalten. Mit der Anwendung der Narratologie auf Texte, die von der Zukunft handeln, eröffnet sich ein neues Forschungsfeld, in dem zum Teil literaturwissenschaftliche Verfahren benutzt werden können. Darüber hinaus kann die Geschichtsphilosophie, die hier noch in 1 2

Noack 1996; Minois 1998; Hölscher 1999; vgl. Koselleck 1976, 17 ff. Koselleck 1976, 130 ff.

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Geschichte und Zukunft

einem formalen Sinn verstanden wird, sichtbar machen, dass in derartigen Erzählungen bestimmte Geschichtsmodelle wie Fortschritt oder Zyklus wirksam, ja sogar für das Erzählen von Zukunft konstitutiv sind. Außerdem möchte ich nachweisen, dass die narrativ strukturierten Bilder der Geschichte nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine normative und damit praktische Aufgabe erfüllen. Von diesen beiden ersten Varianten unterscheide ich eine dritte Variante, in der die Zukunft als Geschichte im inhaltlichen Sinn gemeint ist. Wie eingangs bemerkt, bezieht sich das moderne Geschichtsbewusstsein nicht allein auf die Vergangenheit, ebenso richtet es sich im Lebensvollzug der Gegenwart wesentlich auf die Zukunft, die als ein Zeitraum menschlichen Handelns vorgestellt und gedeutet wird. Der Sinn von Geschichte erschließt sich über die aus den Erfahrungen mit der Vergangenheit resultierenden Erwartungen an die Zukunft. Dieser Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehört zu den elementaren Einsichten der im 18. Jahrhundert entstandenen Geschichtsphilosophie, der sich nicht nur der Kollektivsingular Geschichte,3 sondern eben auch der Begriff der Zukunft im Singular verdankt. Er setzt das moderne historische Bewusstsein voraus, demzufolge die Geschichte als ein übergreifender und homogener Zusammenhang vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Ereignisse vorgestellt wird. Die Zukunft als Geschichte zu betrachten, ist das Verdienst von Martin Heidegger, der die Zukunft des sich zum Handeln entschließenden Menschen, insbesondere in der „Sorge“, zur ‚eigentlichen‘ Geschichte erklärt hat.4 Als derartige Zukunftsentwürfe soll auch der Historiker die in der Vergangenheit vollzogenen Handlungen interpretieren. Mit Heidegger fordert Ricœur, sich in die Lage früherer Menschen hineinzuversetzen, um deren Absichten und Plänen gerecht zu werden.5 Auch Kosellecks Leitthema „Vergangene Zukunft“ bedeutet, dass Handlungen der Vergangenheit als Entwürfe von Zukunft interpretiert werden.6 Dass „Zukunft“ ein Begriff der Moderne ist, bestätigt sich negativ im so genannten Posthistoire, in dem das „Ende der Geschichte“ und damit das „Ende der Zukunft“ behauptet wird. Während also im ersten und zweiten Kapitel exemplarische Diskurse über die Zukunft erzähltheoretisch analysiert werden, widmet sich das dritte Kapitel der materialen Geschichtsphilosophie, indem das Phänomen der Zukunft als antizipierter Handlungszusammenhang vom Standpunkt der gegenwärtigen Praxis erörtert wird. In diesem Kontext wird sich die weit verbreitete Tendenz zeigen, dass in den Zeitdiagnosen die Trennung zwischen Gegenwart und Zukunft verwischt: Einerseits heißt es im Geiste des Posthistoire und ihm verwandten Präsentismus, die Gegenwart sei ohne Ende und Aussicht auf Zukunft, andererseits lautet das utopistische Motto des Futurismus, die Zukunft habe bereits begonnen. Beide Positionen laufen auf eine Indifferenz der beiden 3 4 5 6

Koselleck 1975b, 593 ff.; siehe die Darstellung zu Condorcet im Abschnitt „Utopien von Bacon bis Marx“ des ersten Kapitels. Heidegger 1967, 372, 376, 379, 386; vgl. Picht 1992, 141 ff., 159, 257. Ricœur 2004, 344 f., 354, 592. Koselleck 1979, 349 ff.; vgl. Rüsen 1994, 6 f.

Utopie und Geschichte

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Zeitmodi hinaus. Indem ich mich von diesen Extremen abgrenze, entwickle ich mein eigenes systematisches Konzept. Ich plädiere für eine Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft, um die Gegenwart als Zeit der Handlung im Hinblick auf die Zukunft festzuhalten. Der Grund hierfür ist praktischer Art, weil nur vom Standpunkt der Gegenwart überhaupt Zukunft vorgestellt werden kann und zukunftsorientiertes Handeln möglich ist. Bei dieser Begründung beschränke ich mich nicht auf zeitontologische oder zeitpragmatische Überlegungen, die in der Forschungsliteratur bereits ausgearbeitet vorliegen; vielmehr stütze ich mich auf die Philosophie der Geschichte, besonders auf den Historismus, indem ich einige seiner fundamentalen Reflexionen über den hermeneutischen Zugang zur Vergangenheit auf die Antizipation von Zukunft übertrage. Bei diesen Transformationen soll sich zeigen, dass die zukünftige Zeit nur als gegenwärtige Zukunft vorgestellt und entsprechend modelliert werden kann, wie umgekehrt die Gegenwart ihre spezifisch historische Bedeutung nicht allein aus der Erinnerung an die Vergangenheit, sondern eben auch aus der Antizipation der Zukunft gewinnt. Um einen solchen Begriff der Gegenwart in praktischer Perspektive zu entwerfen, schließe ich mich der Phänomenologie von Edmund Husserl an, der zufolge die Gegenwart zwar nicht als endlose Zeit, wohl aber als eine ausgedehnte Zeit zu konzipieren ist. Die Reflexion auf deren Dauer ist deshalb wichtig, weil nur so die Gegenwart als ein Handlungsraum begriffen werden kann, innerhalb dessen Entscheidungen und Aktionen eben bestimmte Zeiträume einnehmen. Und weil die Sorge um die Zukunft auf verschiedenen Handlungsfeldern aktiv wird, resultieren daraus wiederum unterschiedliche Arten der Dauer, wobei ich mit der phänomenologisch orientierten Geschichtstheorie der „longue durée“ operiere. Wie man heute von Zukünften spricht, so könnte man in diesem Fall zwischen Gegenwarten im Plural unterscheiden. Doch gibt es auch gute Gründe dafür, am Singular von Gegenwart und Zukunft in einem übergreifenden Sinn festzuhalten. Schließlich stellt sich die Frage nach den Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft, die ich mit Hilfe des Begriffs der Frist markieren werde, den ich von Günther Anders entlehne. Diese systematischen Überlegungen werden dann die theoretische Grundlage für die spezifisch ethischen Untersuchungen im fünften Kapitel bilden.

1. Utopie und Geschichte Will man das Thema Zukunft auf geschichtsphilosophische Weise behandeln, liegt der Rückgriff auf die literarische Gattung der Utopie nahe. Denn in der verzeitlichten Form handelt es sich um den ‚klassischen‘ Typus von Vorstellungen über das gute Leben in der zukünftigen Geschichte. Derartige Utopien haben daher nicht nur eine temporale Dimension, sondern sind im strikten Sinne historisch: Sie sind Erzählungen über die Genese zukünftiger gesellschaftlicher Zustände, die zwar als ideale, aber zugleich realisierbare Lebensverhältnisse beschrieben werden. Während sich die mehr oder weniger explizite Geschichtskonstruktion den faktischen Umständen kollektiven Handelns widmet, trägt die als wünschenswert charakterisierte Zukunftsvision einen wesentlich nor-

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mativen Charakter. Auf diese Weise erfüllen Utopien eine appellative Funktion, indem sie in der jeweiligen Gegenwart zu einem Handeln auffordern, das die antizipierte Situation herbeiführen soll. Da ich mit Utopien seit der Neuzeit beginne, haben wir es mit der formalen Zeitstruktur einer Zukunft der Vergangenheit oder vergangen Zukunft zu tun.7 Freilich kann es nicht Aufgabe dieses Kapitels sein, auch nur einen Abriss der utopischen Literatur zu liefern. Das ist hier weder möglich noch angesichts der umfangreichen Forschung nötig.8 Meine Absicht besteht vielmehr darin, den Zusammenhang zwischen Utopie und Geschichtsphilosophie zu betonen, der keineswegs selbstverständlich ist und sogar bestritten wird. Dieser Aspekt betrifft die Geschichte des utopischen Denkens wie auch die Verbindung von Utopie und Zukunftsethik. In systematisierendem Bezug auf Bloch soll die utopische Perspektive bedeuten, dass die Spielräume des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Handelns in einer kontingenten Geschichte reflektiert werden.

Zur Aktualität utopischen Denkens Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus hat die Utopie einen schweren Stand, wird doch dieses Ende häufig als Scheitern einer Utopie und damit des Utopischen überhaupt gedeutet.9 Auf der ‚rechten‘ Seite fordert Joachim Fest, nach dem Ende des kommunistischen Herrschaftssystems utopische Entwürfe zu verabschieden. Weil angeblich keine liberale Utopie existiert und jede Utopie in Totalitarismus ausarte, habe sich die politische Utopie diskreditiert. Wer hingegen Modernität und Humanität wolle, müsse auf utopische Heilsgewissheiten verzichten.10 In diesem Sinn plädiert Werner Becker dafür, die Utopie durch einen Prozess der Demokratisierung zu ersetzen.11 Auf der ‚linken‘ Seite lässt Hans Magnus Enzensberger nur noch einen literarischen „Nachruf“ auf die Utopie gelten. Nachdem die Massen am 9. November die Grenze überschritten haben, sei ein Alltag angebrochen, der ohne Propheten auskomme.12 Laut Hans Vorländer war nicht einmal diese Wende utopistisch vorherzusagen; daher herrsche heute ein Zustand der Utopielosigkeit, der jedoch die handlungsorientierte Antizipation nicht ausschließe.13 Schon wenige Jahre vorher sprach Jürgen Habermas von der Erschöpfung 7 So der Artikel „Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit“ des gleichnamigen Sammelbandes von

Koselleck 1979, 17 ff.; siehe auch Hölscher 1999, 49 ff.; Minois 1998.

8 Manuel, Manuel 1979; Voßkamp 1982; Saage 1991, 1995, 1997, 1999; Gil 1997; Minois 1998;

Richert 2001; Waschkuhn 2003; Sitter-Liver 2007.

9 Saage 1991, IX; ders. 1995, 1; ders. 1999, 171 ff.; ders. 2007, 4 f.; Nolte 1992, 9; Fest 1992, 15;

Fetscher 1992, 58; Lenk 1992, 102; Richert 2001, 15 f.

10 Fest 1991, 18, 24; ders. 1992, 15 ff.; vgl. schon Spaemann 1977; vgl. Nolte 1992, 12 f.; Lenk 1992,

102.

11 Becker 1995, 307 ff.; dabei zitiert er die These „Aufsaugen des Utopischen durch Arrivierung“ von

Mannheim 1965.

12 Enzensberger 1992, 74. 13 Vorländer 1997, 260; ähnlich Schnädelbach 1995, 305 f.

Utopie und Geschichte

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utopischer Energien.14 Wenn es früher den Anschein hatte, je weiter ‚rechts‘ man sich verorte, desto negativer, und je weiter ‚links‘, desto positiver erscheine das Bild der Utopie, so trifft diese politische Ordnung spätestens seit 1989 nicht mehr zu. Wer trotzdem am utopischen Denken festhalten will, sieht sich gezwungen, ein alternatives Konzept zu entwickeln.15 Nach Richard Saage folgt aus dem Verschwinden des Ostblocks kein Ende der Utopie, weil der „reale Sozialismus“ des 20. Jahrhunderts zur Sozialtechnologie und Parteidespotie verkommen war. Vielmehr habe sich die Utopie von technokratischen und autoritären Systemen abzulösen und in eine demokratische, aufgeklärte und kritisch-reflektierte Variante zu transformieren.16 Je intensiver also das Ende utopischer Visionen beschworen wird, desto stärker macht sich die Dringlichkeit einer Rehabilitierung bemerkbar. So fordert John Rawls eine „realistische Utopie“ mit einer liberalen und demokratischen Verfassung in möglichst vielen Ländern. Otfried Höffe entwirft die Utopie einer Weltrepublik im Zeitalter der Globalisierung. Ebenso glaubt Anthony Giddens an einen „utopischen Realismus“.17 Im 21. Jahrhundert kommt noch die Variante der „Ökotopia“ hinzu, die der ökologischen Krise gerecht werden soll.18 Angesichts der drohenden Katastrophen kann allein schon die Erhaltung der natürlichen Umwelt als Utopie gelten.19 Letztere Position ist mit Jonas prominent geworden, bei dem sich studieren lässt, wie die Zukunftsethik einmal als Utopiekritik begonnen hat. In kritischer Abgrenzung von Marx und Bloch macht er das utopische Denken für die Misere der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation und damit für die gegenwärtige Bedrohung der menschlichen Gattung verantwortlich.20 Er tritt für ein „Ende der Utopie“ ein, um an die Stelle des Glaubens an eine bessere Zukunft das dringlichere und bescheidenere Ziel des Überlebens der Menschheit zu setzen.21 Vom heutigen Standpunkt ist diese Haltung durchaus mit 14 Habermas 1985, 141 ff. 15 Schmied-Kowarzik 1995, 340; vgl. Saage 1992, 156; Irrlitz 1995, 324; gegen die „liberale Utopie“

wendet sich Žižek 2009, 31 ff.

16 Saage 1999, 171 ff.; ders. 2007, 7; Picht 1969, 265 ff; Picht 1992, 9, f. 21 ff.; Strasser 1992, 169;

Flusser 1993, 461.

17 Rawls 2002, 13 ff.; Höffe 1999; Giddens 2009. 18 In diesem Sinne interpretiert Saage den Bericht des Club of Rome als eine Utopie, 1992, 159 ff.; vgl.

Callenbach 1983; Bahro 1990, 121 ff.; Höffe 1993, 189 f.; Bermbach 1992, 150; Strasser 1992, 175; Saage 1995, 1; ders. 1999, 176; Schmied-Kowarzik 1995, 348; Lay 1996, 254 f.; Sitter-Liver 2007, XVI.; Opaschewski 2008, 18, 652, 667; Leggewie, Welzer 2009, 216; Deyer 2010, 181, 213 ff.; Friedman 2010, 259 f. 19 Saage 1992, 156; Lenk 1992, 106 ff.; Strasser 1992, 176; Schnädelbach 1995, 305 f. – Allerdings gibt es auch Stimmen, welche nur noch eine „atopische Verantwortung“ gelten lassen: Heidbrink 2007, 113 f. 20 Jonas 1979, 43 ff., 200 ff., 227 ff., 287 ff., 374 ff., 386 f.; ähnlich Birnbacher 1988, 171; Strasser 1992, 172 f.; vgl. Höffe 1993, 86; Saage 1997, 28 ff.; Richert 2001, 280 ff.; Löwy 2003, 290 ff. 21 Jonas 1979, 289; siehe auch das Gespräch mit Reinhard Löw, in dem Jonas die „Utopie als Maßstab“ durchaus anerkennt, zit. bei Strasser 1992, 174. – Den versteckten Präsentismus bei Jonas entdeckt auch Hartog 2003, 211.

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Geschichte und Zukunft

utopischem Denken vereinbar, zumal Jonas selbst diese Absicht entgegen seiner eigenen Programmatik als „Utopie heute“ bezeichnet.22 Gefordert ist also nicht die Verabschiedung der Utopie überhaupt, sondern die Suche nach einer anderen Art von Utopie, die vor allem auch Bewahrung der natürlichen Lebensbedingungen bedeutet. Doch die Kritik von Jonas setzt tiefer an, weil sie auf einen „Utopismus“ zielt, der mit der Philosophie der Geschichte seit der Neuzeit bis zum Marxismus gleichgesetzt wird. Hier zeigt sich, dass sich die Ethik der Zukunft in erster Linie als Absage an die Geschichtsphilosophie verstanden hat.23 Indem sich diese Disziplin, so Jonas, auf eine „teleologisch“ angelegte und unvermeidbare „Endperspektive“ in der Zukunft fixiere, degradiere sie die Vergangenheit und Gegenwart zur bloßen „Vorgeschichte“. Diesen Denktypus hält er für die „gefährlichste Versuchung der heutigen Menschheit“, weil er in die Katastrophe führen könne. Als Gegenentwurf dient das historistische Verständnis Leopold von Rankes, demzufolge jede historische Epoche ihren eigenen Wert in sich trage.24 Daraus resultierte die ethische Aufgabe, „geschichtliche Gelegenheiten“ zu ergreifen, um die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Auf ähnliche Weise argumentieren jüngere Vertreter des utopischen Denkens. Zwar wendet sich Saage gegen die Utopiekritik von Jonas,25 aber in der Ablehnung der Geschichtsphilosophie stimmt er ihm grundsätzlich zu. Mit und zugleich gegen ihn plädiert er für eine Utopie, deren Geltungsanspruch „nicht mehr geschichtskonstitutiv, sondern regulativ“ sein soll.26 Auch Iring Fetscher versucht, Utopie und Geschichtsphilosophie gegeneinander auszuspielen. Während er die Utopie als „Hoffnungsbild einer bessern Zukunft“ für durchaus legitim hält, weist er jede geschichtsphilosophische Konnotation zurück, indem er sie mit der Vorstellung einer historischen „Mission“ und mit dem Glauben an einen gesetzmäßigen und notwendigen Prozess identifiziert.27 Ähnlich kategorisch ist die Behauptung, in geschichtlich orientierten Utopien werde die Planbarkeit von Zukunft und Geschichte und damit die Beherrschung der Menschenwelt auf Kosten der Freiheit festgeschrieben. Mit diesem Pauschalurteil wird letztlich jede philosophische Reflexion auf das Geschichtliche im Utopischen verurteilt. In all diesen Kommentaren werden Ethik und Geschichte wie unversöhnliche Gegensätze behandelt: Während das Geschichtsdenken angeblich von der Faktizität und vom Automatismus des historischen Prozesses ausgehe, komme es hingegen darauf an, die normativen Prinzipien zu entwerfen, nach denen die Gesellschaft verändert werden kann. Das Utopische habe sich daher nicht nur von der Geschichtsphilosophie fern zu 22 Saage macht darauf aufmerksam, dass Bloch gerade auf dem Gebiet der Ökologie vielschichtiger

23 24 25 26 27

war, als es Jonas wahrhaben wollte; an die Stelle der Naturausbeutung setzte er eine Technik, die im Einklang mit der Natur stehen sollte; 1997, 29; vgl. Löwy 2003, 297 f. – Zur Verteidigung der Utopiekritik von Jonas vgl. Gronke 1994, 407 ff. Jonas 1979, 9, 43 ff., 227 ff., 287 ff., 376 ff.; Geschichte als „Vorgeschichte“ 386. Ebd., 387, 392 f.; Ranke 1971, 59; zum Folgenden Jonas 1979, 204. Saage 1997, 28 ff.; ders. 1999, 181. Saage 1999, 179; siehe schon Habermas 1985, 9 ff.; ders. 1994, 16 f.; ähnlich Schnädelbach 1974, 41 f.; Seel 2001, 747 f.; vgl. Rohbeck 2000, 66 f. Fetscher 1992, 58 f.; vgl. Lenk 1992, 110 f.; Enzensberger 1992, 69; Strasser 1992, 175.

Utopie und Geschichte

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halten, sondern von der Historisierung schlechthin. Daraus folge wiederum, dass die Verzeitlichung der Utopie rückgängig gemacht werden soll. An die Stelle der Zeitutopie, die mit der Geschichtsphilosophie der Aufklärung entstanden ist, müsse wieder die ursprüngliche Raumutopie der frühen Neuzeit treten.28 Doch während sich diese Art Utopie früher häufig in entlegenen Regionen abgespielt habe, sei in der heutigen Gegenwart die Utopie des globalen Raums gefragt. Demgegenüber möchte ich versuchen, nicht nur die Zeitlichkeit der Utopie wiederzugewinnen, sondern darüber hinaus das utopische Denken im Kontext der Geschichtsphilosophie zu rehabilitieren. Dabei ist nachzuweisen, dass die geschichtsphilosophische Reflexion die normative Dimension keineswegs ausschließt. Es soll gezeigt werden, dass Zukunftsethik, Utopie und Geschichtsphilosophie miteinander vereinbar sind und dass die geschichtsphilosophisch reflektierte Utopie bei der Lösung von Problemen der Verantwortung für zukünftige Generationen hilfreich sein kann. Das gilt zunächst für die Anfänge des utopischen Denkens, das in der Geschichtsphilosophie bis Marx aufgeht, und schließlich für die geschichtsphilosophisch orientierte Utopie von Bloch.

Utopien von Bacon bis Marx Die jüngste Rückwendung von der Zeit- zur Raumutopie hat Konsequenzen für die Interpretation der Geschichte dieser Gattung. Mit Berufung auf Koselleck hatte Saage eine „Verzeitlichung“ der Utopie seit dem 18. Jahrhundert diagnostiziert.29 Demnach wurden utopische Zustände ursprünglich zeitgleich an ferne Orte verlegt, wie etwa in NeuAtlantis von Francis Bacon, während Louis Sébastien Mercier Das Jahr zweitausendvierhundertvierzig zeitlich versetzt am selben Ort Paris beschrieb. Für Saage ist die Utopie mit Mercier auf einen „Irrweg“ geraten, seiner Auffassung nach hat mit dem Wandel von der spatialen Synchronie zur Diachronie das utopische Denken seine Unschuld verloren. Im Folgenden werde ich derartige Interpretationen in Frage stellen und eine Gegenthese formulieren. Dabei kritisiere ich nicht nur die aktuelle Abkehr von der verzeitlichten Utopie, sondern ziehe die generelle Behauptung eines Übergangs von der Raum- zur Zeitutopie in Zweifel. Dafür spricht, dass der an einen fernen Ort verlegte utopische Zustand nicht zuletzt im eigenen Land für die Zukunft erwartet wird, so wie die Utopie zukünftiger Zeiten auch eine räumliche Zuordnung voraussetzt. Versteht man Utopie als einen „guten Zustand“ (eu-topos), den es im Zuge der Zeit erst noch zu realisieren gilt, sind Verzeitlichung und Historisierung sogar die entscheidenden Merkmale. 28 Saage 1997, 22, 35 f.; dagegen betont Schmied-Kowarzik den geschichtlichen Auftrag der Utopie:

1995, 350.

29 Saage 1991, 77 ff.; ders. 1997, 22, 35 f.; Münkler 1992, 212 f.; Gil 1997, 19 ff.; Richert 2001, 38 f.;

bei Koselleck selbst deutet sich bereits eine differenziertere Sicht an: 2003, 78 ff., 131 ff. – Gegen diese These spricht auch der etymologische Befund, dass der Begriff Utopie nicht allein von griechisch „u-topia“ (Nirgendwo) stammt, sondern ebenso von „eu-topia“, was „guter Ort“ bedeutet; Soeffner 1974, 8 f.

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Geschichte und Zukunft

Am Beispiel von Bacon möchte ich demonstrieren, dass dessen utopische Darstellung in eine ‚große‘ historische Erzählung eingebettet ist. Ich werde nachweisen, dass der dort beschriebene Zustand in einem konstitutiven Zusammenhang mit der Geschichte, in diesem Fall sogar mit der Universalgeschichte steht. Dieser historiographische Befund hat auch Folgen für die aktuelle Bedeutung utopischen Denkens. Denn wenn gezeigt werden kann, dass Utopien von Anfang an in einem historischen Kontext standen, lässt sich das Bild einer reinen Raumutopie nicht mehr aufrechterhalten. Damit verliert der Vorschlag an Plausibilität, in der Gegenwart die geschichtsphilosophisch aufgeladenen Zeitutopien hinter uns zu lassen und stattdessen zur Tradition der angeblich weniger belasteten Raumutopien zurückzukehren. Francis Bacon Das Fragment Neu-Atlantis ist insofern eine „räumliche“ Utopie, als der Zustand einer idealen Gemeinschaft fern von Europa auf eine Insel verlegt wird. Unter diesem Aspekt liegt Atlantis an „keinem“ beziehungsweise an einem unbekannten Ort (u-topos).30 Doch darf hier nicht übersehen werden, dass diese Raumutopie eine komplexe Zeitstruktur enthält. Denn in seiner Rahmenerzählung fingiert Bacon, dass an einem entfernten Ort zur gleichen Zeit wie in Europa ein Zustand herrscht, der einem anderen kulturellen Niveau als der europäischen Zivilisation entspricht. Damit operiert er mit einer Konstruktion, die in der Geschichtsphilosophie Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen heißt. Im Grunde finden sich in diesem Text drei Narrative. In der ersten Erzählung wird von der Schiffsreise und Ankunft auf der Insel berichtet, wo die Gestrandeten gastfreundlich empfangen werden.31 Zweitens wird eine Erzählung der Inselbewohner wiedergegeben, in der sie die Entstehungsgeschichte ihres damals gegenwärtigen Zustandes darstellen.32 Darin behaupten sie, dass vor dreitausend Jahren das damalige Groß-Atlantis in das System eines weltweiten und blühenden Handels eingebunden war und dass nach einer Naturkatastrophe vor tausend Jahren eine neue Gemeinschaft gegründet wurde, die sich nach außen abschirmte und auf mittlerer zivilisatorischer Stufe stagnierte. Daran schließt sich eine dritte Erzählung an, in welcher der Zustand der Gegenwart ausführlich beschrieben wird.33 Zwar platziert Bacon seine Utopie in einen unwirklichen Raum, blendet damit aber die zeitliche und historische Dimension keineswegs aus. Bei genauerer Betrachtung korrespondieren mit diesen Erzählungen unterschiedliche historische Zeitstrukturen. Die erste beschleunigte Zeit ist die der wissenschaftlichen und technischen Fortschritte,34 die für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden können. Die zweite statische Zeit ist die der Gesellschaft, die auf der Insel seit ihrer Gründung keinen 30 Siehe auch Thomas Morus: Utopia; Campanella: Sonnenstaat; siehe Heinisch 1991; vgl. Saage 31 32 33 34

1991, 15 ff.; Münkler 1992, 212; Gil 1997, 34 ff., 38 ff.; Richert 2001, 38 f. Bacon 1960, 5-13; vgl. Soeffner 1974, 115 ff. Ebd., 24-30. Ebd., 30-63. Diese werden in das „Haus Salomons“ projiziert; ebd., 49; vgl. Bacons Novum Organon wie auch The Advancement of Learning und De Augmentis Scientiarum.

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sozialen Wandel erfahren hat und daher politisch und moralisch konservativ ist, auch wenn dank Zivilisierung soziale Verbesserungen erkennbar sind. Während Wissenschaft und Technik stetig fortschreiten, soll die Entwicklung der Gesellschaft stagnieren.35 Die dritte kontingente Zeit ist die der universellen Natur- und Menschheitsgeschichte, in welche die ‚kleine‘ Erzählung über das Inselleben eingefügt wird, wobei sich deren utopischer Zustand einer vorausgegangenen Katastrophe verdankt. Diese drei historischen Zeiten stehen in der Utopie nebeneinander, woraus ein zwar widersprüchlicher, aber stabiler Zustand resultiert. Doch ist der Wunsch erkennbar, die Ungleichzeitigkeiten langfristig zu synchronisieren, um in einer zukünftigen Geschichte die Erfahrungen von „Neu-Atlantis“ auf die eigene Insel England zu übertragen. Mit diesem gegenläufigen Prozess würde der durch eine Katastrophe verursachte Sonderweg wieder in die globale Geschichte einmünden. Louis Sébastien Mercier Das Jahr zweitausendvierhundertvierzig von Louis Sébastien Mercier ist ein utopischer Roman,36 in dem das Leben im titelgebenden Jahr 2440 geschildert wird. Während Bacons Utopie an einem entfernten Ort spielt, lässt Mercier den Raum Paris identisch bleiben und verlegt das Geschehen in eine andere künftige Zeit. Obwohl sich damit der Akzent zur temporalen Seite verschiebt, halte ich es für ein umgekehrtes Missverständnis, in diesem Fall von einer reinen „Zeitutopie“ zu sprechen.37 Sinnvoller ist es hingegen, von einem Strukturwandel des Verhältnisses von Raum und Zeit zu sprechen. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Stadien der Menschheitsgeschichte setzte in Bacons Utopie einen fernen Raum voraus. In Merciers Utopie ist der identische Raum die Voraussetzung für die Ungleichzeitigkeit der miteinander verglichenen historischen Stadien. Diese Konstruktion unterstellt wiederum, dass sich die Lebensverhältnisse in der Geschichte ändern und dass für die Zukunft auch ein entsprechender Wandel erwartet wird. Mercier überbrückt die Zeitdifferenz zwischen Gegenwart und Zukunft durch einen Traum, von dem in einer Rahmenerzählung berichtet wird. Der Ich-Erzähler träumt, er sei als Greis fast siebenhundert Jahre später aufgewacht und habe einen Pariser Tag des Jahres 2440 erlebt. Da die neue Zeit völlig unvermittelt auftaucht, fehlt eine Geschichtserzählung, die vom gegenwärtigen zum zukünftigen Zustand überleitet.38 Den beiden zeitlichen Polen entspricht ein inhaltlicher Gegensatz zwischen zwei verschiedenen gesellschaftlichen Stadien. Dem vorrevolutionären Paris von 1770, das schonungslos kritisiert wird,39 steht ein in die Zukunft projiziertes Idealbild gegenüber, das 35 36 37 38

Ebd., 29 f.; vgl. Gil 1997, 51 f.; Waschkuhn 2003, 32; Saage 1991, 23 f., 55 f.; Höffe 1993, 68 ff. Mercier 1982, 316 ff. Saage 1991, 85 ff.; Münkler 1992, 213; Lenk 1992, 101 ff.; Gil 1997, 61 ff.; Riechert 2001, 38 f. Erst an späteren Stellen folgen Andeutungen auf eine friedliche Revolution, die von einem einzigen „Philosophen“ bewirkt worden sei; Mercier 1982, 67, 162 f. 39 Die Kritik richtet sich gegen Kriegstreiberei, soziale Ungerechtigkeit, ungesundes Stadtleben usw.; ebd., 17-21.

Geschichte und Zukunft

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sich an der Sozialphilosophie von Rousseau orientiert.40 Im Gegensatz zu Bacon glaubt Mercier, dass die bessere Moral nur durch Einschränkung der technischen Zivilisation zu erkaufen ist. Daher wird der wissenschaftlich-technische Fortschritt während des Zeitensprungs ein Stück zurückgeschraubt. Die neue Gesellschaft befindet sich auf einem mittleren Entwicklungsniveau, das die soziale Gleichheit unter den Menschen, ihren ausgleichenden Gemeinsinn sowie ihre gesunde Lebensweise garantieren soll. Damit ist jedoch kein Zustand der „Vollkommenheit“ im Sinne des Fortschrittsgedankens gemeint;41 beabsichtigt ist vielmehr der Neuanfang auf einer zivilisatorisch niedrigeren, moralisch zugleich höheren Stufe. Obwohl Mercier mit seinem Entwurf Rousseau folgt, formuliert er seine Utopie jenseits der Geschichtsphilosophie, indem er gleichsam in die Zukunft springt, unter der er letztlich ein Zurück in die Vergangenheit versteht. Was hier gemeinhin als „Verzeitlichung“ interpretiert wird, ist in Wahrheit ein Übergehen historischer Zeit und damit ein Ausbruch aus der Geschichte. Eine Verbindung von Utopie und Geschichtsphilosophie findet sich indessen erst gegen Ende des Jahrhunderts. Condorcet Generell steht außer Zweifel, dass die Geschichtsphilosophie der Aufklärung eine in die Zukunft gerichtete Theorie darstellt. Doch explizit wird dieser Zusammenhang bei Condorcet. Seinen Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes kann man als utopisch bezeichnen, vor allem das letzte Kapitel über die „Zehnte Epoche“, das „den künftigen Fortschritten des menschlichen Geistes“ gewidmet ist.42 Im Unterschied zu Bacon verlegt er seine Utopie nicht an einen anderen Ort, sondern lässt sie wie bei Mercier im eigenen Land zeitlich folgen. Doch anders als dieser schließt Condorcet die Beschreibung der Zukunft unmittelbar an die Darstellung von Gegenwart und Vergangenheit an. Die Utopie wird raum-zeitlich historisiert, weil sie nun im Kontext einer Geschichtsphilosophie steht. Weil Condorcet außerdem davon überzeugt ist, dass sich „Fortschritte“ nicht nur in Wissenschaft und Ökonomie, sondern zudem auf den Feldern Politik, Moral und Gerechtigkeit erzielen lassen, konstruiert er zwischen dem bisher Erreichten und für die Zukunft zu Erwartenden eine geschichtliche Kontinuität, die er an allen Orten auf dem Globus für möglich hält, auch wenn er Ungleichzeitigkeiten zugesteht. Wegen seiner historischen Darstellung und vor allem seiner „optimistischen“ Zukunftserwartung gilt Condorcet als prononcierter Vertreter des Fortschrittsglaubens. Näher betrachtet zeigt sich jedoch, dass er in seinen Analysen sehr viel vorsichtiger und kritischer vorgeht, als die plakativen Äußerungen vermuten lassen. Nachdem Rousseau und Mercier die sozialen Kehrseiten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts offenbarten, stellt sich auch Condorcet dieser moralphilosophischen Herausforderung. In den ersten Epochen untersucht er, „warum der geistige Fortschritt nicht immer mit dem ge40 Ebd., 21–215. 41 Ebd. 15 ff. 42 Condorcet 1976, 193 ff.; vgl. Rohbeck 2010, 93 ff.; siehe auch den Abschnitt „Der Verlust von

Zukunft und Geschichte“ im dritten Kapitel.

Utopie und Geschichte

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sellschaftlichen, dem zu Glück und Tugend, zusammenging“.43 Eine der Ursachen sieht er im erwirtschafteten Überfluss, der eine Klasse von Kriegern heranwachsen lässt und so zu Eroberung, Despotismus und Aberglaube führe. Am Ende der neunten Epoche gelangt Condorcet zu dem Resümee, zwar habe der „menschliche Geist“ Fortschritte gemacht, aber für das „Glück“ der Menschen sei beinahe nichts erreicht.44 Im Grunde handelt es sich um zwei Seiten der Geschichte: um eine Erfolgsgeschichte menschlicher Vernunft und um eine Geschichte missglückter Mitmenschlichkeit. Dieser Zwiespalt setzt sich im zehnten Kapitel fort, in dem Condorcet seine Erwartungen an die Zukunft beschreibt.45 Einerseits formuliert er darin lediglich „Hoffnungen auf Fortschritte“, die den künftigen Generationen vorbehalten seien; andererseits benennt er reale Anhaltspunkte dafür, dass dasjenige, „was uns heute als unbegründete Hoffung scheinen mag, nach und nach möglich, ja selbst leicht werden muß“.46 Die materiale Basis für eine derart begründete Hoffnung erkennt er vor allem in den wissenschaftlichen und technischen Hilfsmitteln, die eine Vermehrung des Wissens und Reichtums ermöglichen. Die methodische Vorraussetzung dafür hat Condorcet, der selbst Mathematiker war, mit seiner Theorie der „Wahrscheinlichkeit“ entwickelt.47 Zwar trennt er noch nicht zwischen beschreibender Vorhersage und wertender Hoffnung, aber da sich seine Ankündigungen auf Berechnungen stützen, gehört er zu den Begründern der rationalen Prognostik. Weil er dabei „keine höhere Gewissheit“ anerkennt,48 bietet er zur Teleologie eine Alternative. Sie besteht in einer „sozialen Mathematik“, die es erlaubt, mathematische Kalküle auf die „politischen Wissenschaften“ anzuwenden und zum Beispiel Geburts- und Sterberaten vorherzusagen. Mit Hilfe von Prognosen beabsichtigt er, die realen Möglichkeiten für verändernde Eingriffe zu erkunden. Mit diesem Programm legt Condorcet die normativen Maßstäbe seiner Geschichtsphilosophie offen. Nach außen setzt er sich für die Abschaffung der Sklaverei und für die Verminderung von Kriegen ein.49 Im Innern fordert er, dass sich der gesellschaftliche Reichtum auf alle Bevölkerungsschichten gerechter verteilen möge, damit sich die Ungleichheit verringert und die Volksbildung weiter ausbreitet. Dazu konzipiert er ein eigenes Erziehungsprogramm,50 wodurch die Prognose in die politische Theorie einfließt. Hier bestätigt sich die eingangs formulierte These, dass die Geschichtsphilosophie der Aufklärung eine frühe Form der Zukunftsethik darstellt. Karl Marx Ausdrücklich an die Historiographie der französischen und englischen Aufklärung knüpft Karl Marx an und rückt damit die Zukunftsperspektive nicht nur im faktischen, 43 44 45 46 47 48 49 50

Condorcet 1976, 50. Ebd., 189. Ebd., 193-222. Ebd., 36. Condorcet 1968, Bd. 1, 539-573. Condorcet 1976, 216, 193. Condorcet 1968, Bd. 7, 61-140. Ebd., 167-448.

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Geschichte und Zukunft

sondern auch im ethischen und politischen Sinn ins Zentrum. Im Anschluss an die Stadientheorien der Geschichtsphilosophie rekonstruiert er die Stufenfolge bestimmter Gesellschaftsformationen. Daraus leitet er die Erwartung ab, dass auch das gegenwärtige System vorübergeht und von einer neuen Form der Gesellschaft abgelöst wird. Ähnlich wie Bacon setzt Marx für das Eintreten seiner Utopie wesentlich eine Krise voraus – freilich keine Naturkatastrophe, sondern den Zusammenbruch eines ökonomischen Systems. Im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie formuliert Marx diese Erwartung: „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprocesses […], aber die im Schooß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus“.51 Im Kommunistischen Manifest wird diese Aussage rhetorisch gesteigert: „Die Bourgeoisie hat […] die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen“.52 Doch wie bei einer Grabrede versäumt es Marx nicht, die historischen Verdienste des Todgeweihten zu preisen. Die „revolutionäre Rolle“ der Bourgeoisie bestehe darin, die moderne Industrie und den Weltmarkt geschaffen zu haben.53 Wenn er in seinem Hauptwerk Das Kapital die „transitorische Nothwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise“ behauptet,54 betrachtet er den Kapitalismus als Gesellschaft des Übergangs in eine bessere Zukunft. Hier stellt sich die Frage, nach welcher ‚Logik‘ Marx die Übergänge von einer Gesellschaftsformation zur anderen zu erklären versucht. Im erwähnten Vorwort von 1859 fasst Marx die Dynamik der historischen Formationen prägnant zusammen: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen“.55 Die wichtigen operationalen Kategorien sind „entsprechen“ und „Widerspruch“. Das Verb „entsprechen“ deutet zunächst auf eine Analogie hin, die noch keine kausale Erklärung enthält, weil das Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auch umkehrbar ist. Erst die später verwendeten Verben „bedingen“ und „bestimmen“ weisen auf eine eindeutige Abhängigkeit hin. Stattdessen bietet Marx funktionale Erklärungen an. Als ‚funktional‘ gelten Erklärungen, die Faktoren angeben, die in einem gesellschaftlichen System eine bestimmte Aufgabe erfüllen und dafür sorgen, dass das System funktioniert. Sie erklären hingegen nicht, warum es diese Faktoren gibt. In diesem Fall sind es bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, welche die Entwicklung von Technologien begünstigen, stabilisieren oder hemmen. Sieht man einmal von aller Rhetorik einer angeblich historischen Notwendigkeit ab, lässt sich die geschichtsphilosophische Kernthese über das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auch schwächer interpretieren. Die erwähnten Kategorien „entsprechen“ und „widersprechen“ können ebenfalls so gedeutet werden: Es wird ledig51 52 53 54 55

Marx 2008, 112. Ebd., 89; vgl. 96. Ebd., 87. Zit. nach Rohbeck 2006, 91. Ebd., 111; zum Folgenden Iorio 2003, 143 ff.; vgl. Rohbeck 2006, 90 f.

Utopie und Geschichte

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lich behauptet, dass neue technische Mittel erweiterte Gebrauchsmöglichkeiten und damit die Voraussetzungen für einen besseren gesellschaftlichen Umgang mit der Technik schaffen. Sie repräsentieren reale Möglichkeiten, an denen sich eine Gesellschaft orientieren kann. Im Sinne einer solchen Verbesserung spricht Marx auch von bestimmten Fortschritten,56 ohne jedoch den Fortschrittsbegriff zu verabsolutieren oder teleologisch zu überhöhen. Umgekehrt handelt es sich in der historischen Entwicklung ausschließlich um Möglichkeiten und vor allem um jeweils mehrere Alternativen, deren Realisierung durch die Technik keineswegs determiniert ist. Die Chance liegt in der Krise, in der das kapitalistische System aufbricht und Kontingenzen freisetzt, die als Felder für politisches Handeln genutzt werden können. Wie in vielen heutigen Zukunftserzählungen, die im nächsten Kapitel zur Sprache kommen werden, gründet auch Marx seine Hoffnungen auf eine „Rettung“ aus der Krise, indem er im alten System die materiellen und kulturellen Voraussetzungen für das Neue sieht.

Antizipation und Möglichkeit bei Bloch Mit Das Prinzip Hoffnung beruft sich Ernst Bloch nicht zuletzt auf Marx, zu dessen Geschichtsphilosophie er ein ambivalentes Verhältnis hat. Zum einen spricht er vom „Kältestrom des Marxismus“, womit er die objektiven Bedingungen menschlichen Handelns meint.57 Er sieht darin die Gefahr, dass die Geschichte wie ein automatischer Prozess erscheint. Sofern dabei das Ende des Kapitalismus wie eine beschlossene Sache vorgestellt wird, entsteht nach Bloch ein „falscher Optimismus“.58 Zum andern spricht er vom „Wärmestrom des Marxismus“, worunter er die subjektive und freie Entscheidung der Menschen versteht, die darauf zielt, sich gegen den Kapitalismus aufzulehnen.59 In dieser Tendenz zur Emanzipation sieht er den Grund für einen „fundierten Optimismus“. Demnach kommt die Geschichte nicht als „Geschick“ über die Menschen, vielmehr greifen die Menschen in sie aktiv-parteiisch und verändernd ein. An die Stelle der bloßen Betrachtung soll die tätige und bewusste Beeinflussung von Zukunft treten, die dadurch einen politischen Charakter annimmt. Es ist nun Blochs Absicht, den „subjektiven Faktor“ mit den objektiven Faktoren der ökonomisch-materiellen Tendenz zu vermitteln.60 Analog zum Wärme- und Kältestrom entwirft er ein zweiseitiges Konzept mit einer „Vorderseite“ oder einem ersten Korrelat, worunter er die subjektive Antizipation versteht, und mit einer „Rückseite“ oder einem zweiten Korrelat, womit die objektiven Bedingungen für die Realisierung antizipierter 56 Marx 2008, 84, 96; hierzu Mäder 2010, 9 f., 302 f. 57 Bloch 1985, Bd. 1, 240; vgl. Richert 2001, 159 ff. 58 Bloch 1985, Bd. 1, 228 f. – Einen ähnlichen Vorwurf erhebt Bloch gegen den Positivismus, bei dem

die Zukunft als vollendete „Tatsache“ erscheint, ebd.

59 Bloch 1985, Bd. 1, 241. 60 Ebd., 229 f., 237.

Geschichte und Zukunft

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Bedürfnisse, Wünsche und Träume benannt sind.61 Auf diese Weise passt Bloch das Gewünschte oder das Noch-Nicht-Bewusste, ja selbst das Utopische der historischen Entwicklung an. Die entscheidende Frage lautet, ob die Wirklichkeit überhaupt diejenigen Spielräume bereithält, die eine Veränderung des Bestehenden zulassen. Um dieses Problem zu lösen, entwickelt Bloch eine eigene Geschichtsphilosophie. Dazu betrachtet er die Geschichte als einen offenen Prozess, den er zwar für partial bedingt, aber nicht für völlig determiniert hält. So stehe die Gegenwart zwischen einer unerledigten Vergangenheit und einer zu bewältigenden Zukunft. Im „Noch-NichtAbgeschlossensein“ oder unabgeschlossenen „Werdenkönnen“ sieht Bloch den Horizont für etwas Neues in der Geschichte.62 Diese Grenze vom Wirklichen zum Möglichen bezeichnet er als „Front“, die als Sphäre der tätigen Veränderung den vorderstenAbschnitt der Geschichte bildet.63 Damit erklärt er die „reale Möglichkeit“ zum praktischen Gebot. Die Originalität dieser Konzeption besteht darin, dass die Kategorie der Möglichkeit weiter entwickelt wird, indem sie aus dem ursprünglich theoretischen Kontext herausgelöst und auf die Lebenspraxis in der Geschichte übertragen wird. Zunächst übernimmt Bloch von Hegel die Unterscheidung zwischen formaler und realer Möglichkeit.64 Wie Hegel definiert er das formal Mögliche als das bloß „Denkmögliche“, als „formales Kannsein“, mithin als „schlechte Offenheit“ in der Geschichte. Beim real Möglichen unterscheidet Bloch zwischen einem „sachlich-objektiv Möglichen“ und einem „sachhaft-objektgemäß Möglichen“. Unter dem ersten Möglichen versteht er die theoretische Ebene der „Sachlichkeit der Erkenntnis“.65 Möglich ist hier, was in einem problematischen Urteil im Sinne einer modalen Bestimmung formuliert wird. Unter dem zweiten Möglichen fasst Bloch hingegen die „Sachhaftigkeit des Gegenstandes“, d.h. den Realgehalt des Möglichen.66 In der weiteren Argumentation zeigt sich indessen eine bemerkenswerte Verschiebung dieser Kategorien in Richtung Realitätssinn. Hatte Bloch zuvor die subjektive Antizipation den objektiven Bedingungen gegenübergestellt, so verlagert er jetzt diese beiden Korrelate in den Bereich des Real-Möglichen, indem er innerhalb der Sachwelt zwischen der „inneren“ und der „äußeren“ Bedingung unterscheidet.67 Zur inneren Bedingung gehört jetzt nicht mehr nur der subjektive Wunsch nach praktischer Veränderung, sondern die „aktive“ Möglichkeit der handelnden Subjekte oder das Vermögen der Menschen, anders handeln zu können. Zur äußeren Bedingung rechnet Bloch die Möglichkeit im passiven Sinn, d.h. die objektiven Faktoren der Möglichkeit oder das partiell Bedingende, das im Gegenstand fundiert ist, wie auch die äußeren Ursachen, die das Mögliche wirklich 61 Ebd., 21 ff., 71 ff., 224 ff.; vgl. Saage 1997, 14. 62 Bloch 1985, Bd. 1, 225, 230; im Unterschied zum kapitalistischen „Pseudo-Novum“ mit den immer

gleichen modischen Überraschungen, die eine „unechte Zukunft“ verheißen, ebd. 232.

63 Ebd., 225, 285. 64 Ebd., 258 ff. – Die früheren historischen Wurzeln liegen in der christlichen Eschatologie, namentlich

bei Scotus; Honnefelder 1990, 44 f.; Handrick 2010, 106 ff.

65 Ebd., 259 ff. 66 Ebd., 264 ff. 67 Ebd., 267 f.

Erzählte Zukunft

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werden lassen. Diese Analyse kulminiert in der Kategorie „das objektiv-real Mögliche“, in der das Innere und Äußere vereint werden.68 Die Utopie ist insofern „konkret“, als sie in die Geschichte integriert wird. Denn das Reale des Möglichen steht für die historischen Bedingungen, an welche die utopischen Antizipationen anknüpfen können. Und sofern das Utopische an die bisherige Entwicklung angebunden wird, bildet es ein Moment historischer Kontinuität. Im Folgenden sehe ich meine Aufgabe darin, Blochs Grundidee fortzuschreiben. Das Prinzip der realen Möglichkeit werde ich im fünften Kapitel mit meiner Konzeption der Frist weiter verfolgen und im sechsten Kapitel in moderne Theorien der Kontingenz und Kohärenz übersetzen. Utopisches klingt in einigen Ethiken der Zukunft an, wenn nicht nur die Verhinderung einer Schlechterstellung gefordert wird, sondern eine Vorbereitung des „real Möglichen“, das unter bestimmten Bedingungen eben auch eine Besserstellung bedeuten kann. „Verantwortung für zukünftige Generation“ würde in einem solchen Fall die Verpflichtung bedeuten, eine solche Verbesserung anzustreben. Auf diese Weise beabsichtige ich eine rettende Kritik utopischen Denkens. Doch im folgenden Kapitel analysiere ich erst einmal utopische Erzählungen der heutigen Gegenwart, die meist negativ-apokalyptische Züge tragen. Aber wie einige Utopien (von Bacon und Marx) Katastrophen und Krisen voraussetzten, so nehmen die gegenwärtigen Katastrophengeschichten häufig eine positiv-rettende Wendung. Zum Abschluss dieses Teils werde ich im dritten Kapitel einen systematisch-utopischen Begriff der Zukunft entwerfen, der dazu beitragen soll, die Verantwortung für zukünftige Generationen geschichtsphilosophisch zu begründen. Dabei werde ich mich auf die anfangs referierte aktuelle Utopiedebatte beziehen, indem ich die dort geforderten Inhalte wie ökologische Wende und globale Gerechtigkeit weiter behandle, aber zugleich an der Verbindung von Utopie und Geschichte festhalte.

2. Erzählte Zukunft War in den Utopien von Bacon bis Marx von der vergangenen Zukunft die Rede, geht es jetzt um die Zukunft der Gegenwart oder gegenwärtige Zukunft. Denn Thema sind nun die heutigen Zukunftsdiskurse, die man zu einem großen Teil als Erzählungen deuten kann. Einige Autoren sind sich dessen bewusst und sprechen von einer „Weltgeschichte der Zukunft“, die sich „erzählen“ lässt; die Rede ist von „Zukunftserzählungen“ wie zum Beispiel von der „Ökologie als Erzählung“.69 Selbst seriöse Prognosen bestehen längst nicht mehr aus bloßen Statistiken. Nachdem die erste Welle der Futurologie als gescheitert betrachtet werden kann, liegen in der Regel „Szenarien“ vor, die nicht allein Expertenwissen präsentieren, sondern „Zukunftsbilder“, die im demokratischen Dialog zwischen Wissenschaft und Öffent68 Ebd., 271 ff. 69 Picht 1992, 7; Schönherr-Mann 1993, 167 ff.; Attali 2008, 9, 11, 150; Welzer 2008, 268 ff., insb.

271; Dyer 2010, 213 ff.; Friedman 2009, 15.

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lichkeit entworfen werden und daher auch anschaulich sein müssen.70 Derartige Tableaus enthalten daher meistens narrative Elemente, indem sie Geschichten darüber erzählen, wie es zur aktuellen Situation gekommen ist und welche zukünftigen Zustände wahrscheinlich eintreten werden. Nach eigenem Selbstverständnis ist die Grenze zwischen Prognose und Narration inzwischen so fließend, dass sich eine willkürliche Aufteilung erübrigt. Die Tatsache, dass es sich dabei auf spezifische Weise um historische Darstellungen beziehungsweise im emphatischen Sinn um Geschichtserzählungen handelt, zeigt sich in den Fabeln, die zu einem großen Teil aus der Historiographie und Geschichtsphilosophie stammen.71 Das leuchtet insofern ein, als Zukunft nicht anders dargestellt werden kann als nach dem Vorbild von Berichten über die vergangene Geschichte. In unserem Zusammenhang interessieren sowohl formale Merkmale aus der literaturwissenschaftlichen Narratologie als auch inhaltliche Deutungsmuster des Historischen. Bei der Analyse der Zukunftserzählungen gehe ich von folgender Beobachtung aus: In den neueren Diskursen über die Zukunft tauchen nicht selten vormoderne Geschichtsbilder auf. Bezeichnend ist ein Rückgriff auf Modelle, die aus der Zeit vor der Entstehung der Geschichtsphilosophie während der Aufklärung stammen wie Zyklus, Apokalypse und Eschatologie. Während die Apokalypse auf das „Ende der Welt“ zielt, verheißt die Eschatologie einen „Neuanfang“. Zur Bewältigung der Krise der Moderne sollen also alte historische Orientierungen dienen. Den Grund sehe ich darin, dass der Glaube an den Fortschritt verloren gegangen ist und dass stattdessen ein Niedergang der Zivilisation, wenn nicht sogar eine Katastrophe erwartet wird. An die Stelle der klassischen Utopie, die ja in Verbindung mit der Geschichtsphilosophie auch progressistische Züge annahm, tritt erst einmal die „negative Utopie“ oder Dystopie,72 die jedoch häufig von Hoffnungen auf eine „Rettung“ aus der Krise abgelöst wird und damit wieder in eine „positive“ Utopie umschlägt. Das Ziel meiner Untersuchung besteht zunächst darin zu zeigen, dass die Zukunft insofern als Geschichte betrachtet wird, als sie im Medium historischer Erzählungen darstellbar ist. Dadurch soll deutlich werden, dass die dabei verwendeten Modelle wie etwa der Zyklus nicht nur Metaphern sind, sondern eine narrative Struktur enthalten, mit der auch bestimmte historische Inhalte vermittelt werden. Schließlich beabsichtige ich, die pragmatische Funktion derartiger Geschichtserzählungen über die Zukunft zu analysieren. Wie ‚klassische‘ Utopien sind diese Erzählungen deskriptiv und normativ zugleich; sie liefern bestimmte Prognosen und appellieren zugleich an das Lesepublikum, die zu befürchtenden Krisen zu überwinden. 70 Von einer „Beschreibung der Zukunft“, die sich von Prognosen unterscheidet, spricht bereits Luh-

mann 1993, 469 ff. – Grunwald 2008, 334 ff.; vgl. Hubig 1995, 80 ff. – „Worst-Case-Szenarien“ finden sich auch in der seriösen Zukunftsforschung; vgl. Gesang 2011, 39 ff., insbes. 46. – Ein neueres Kompendium der wissenschaftlichen Prognostik, das ich hier nicht referieren werde, obwohl es die meisten der auch in diesem Buch genannten Tendenzen enthält, findet sich bei Steinmüller, Kreibich, Zöpel 2000. 71 Wagar 1989, 295 ff. 72 Zeißler 2008.

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Ohne Zweifel sind die Grenzen derartiger Diskurse nicht zu übersehen, so dass es legitim ist, die Darstellungsweisen zu kritisieren, zumal es sich häufig um populärwissenschaftliche Werke handelt.73 Doch zugleich möchte ich den Eindruck vermeiden, die dort erzählte Sache habe keinerlei Realitätsgehalt im Sinne einer „realen Möglichkeit“, sondern eine bloß „literarische“ Bedeutung.74 Im Gegenteil ist es meine Absicht, die positive Funktion derartiger Zukunftsbilder zu betonen. Angesichts der jüngsten Katastrophen verbieten sich vorschnelle Abwertungen. Wegen der nicht unmittelbar sichtbaren Prozesse mit Langzeitwirkungen wie etwa beim Klimawandel haben diese Erzählungen die wichtige Aufgabe, das nötige historische Bewusstsein zu erzeugen und dadurch zum praktischen Engagement zu motivieren.

Wiederholung und Zyklus Zu den Merkmalen des vormodernen Geschichtsbewusstseins gehört die Vorstellung, dass sich die Geschichte wiederholt. Behauptet wird die Analogie zwischen den Phasen der Kulturgeschichte und den Lebensaltern einzelner Individuen mit Geburt, Jugend, Alter und Tod. Hatte sich die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts vom organischen Modell verabschiedet zugunsten des Bildes vom linear aufsteigenden Pfeil des Fortschritts,75 so kommt das zyklische Schema im 20. Jahrhunderts wieder vermehrt zum Zuge. In seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes hat Oswald Spengler die Kreislauftheorie der Geschichte rehabilitiert,76 indem er die These vertrat, dass Kulturen immer wieder neu entstehen, eine Blütezeit erleben und nach ihrer Vollendung untergehen. In jüngster Zeit häufen sich Konzepte im Anschluss an Spengler.77 Bildet man die Kreisläufe in der Geschichte auf der Zeitachse ab, ergibt sich eine Wellenlinie; einige Autoren sprechen daher von historischen „Wellen“ oder von „Zukunftswellen“.78 Wird dabei die eigene Kultur nach dem Schema „Auf- und Abstieg“ gedeutet, liegt es nahe, an vergleichbare Phasen in der bisherigen Geschichte zu erinnern. Ein geradezu klassisches Beispiel ist der „Untergang des römischen Reiches“ mit Bezug auf die 73 Es liegt in der Natur der Sache, dass die Grenze zwischen wissenschaftlicher Prognose und fiktiver

Erzählung fließend ist; in diesem Kapitel gestatte ich mir, sie zurückzustellen.

74 Damit spiele ich auf die Realismusdebatte in der Narratologie an, auf die ich hier nicht eingehe;

75 76 77

78

exemplarisch die schwankende Position von White 1991, 66f.; 1986, 101ff.; dazu Ricœur 1988, Bd. 1, 87 ff.; vgl. Rohbeck 2012, 63 ff. – Zum Realitätsgehalt von Diskursen über die Zukunft verweise ich auf den Anfang dieses ersten Teils. Ausführlicher dazu im Abschnitt „Generation in der Geschichtsphilosophie“ des achten Kapitels. Spengler 1923, 53 ff. Explizit auf Spengler berufen sich u.a. Gimpel 1995, 172 f.; Lay 1996, 13 ff.; von Werder 2009, 39; Leggewie, Welzer 2009, 11 f.; Demuth 2010, 105. – Dabei bleibt der Unterschied unbeachtet, dass Spengler den „Untergang der Kultur“ gerade auf der Basis einer fortschreitenden und letztlich erfolgreichen „Zivilisation“ behauptet und damit eigentlich zu den Vorläufern des hier später noch zur Sprache kommenden Posthistoire gehört. Toffler 1980, 20, 140 ff.; Attali 2008, 8.

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Vereinigten Staaten von Amerika,79 deren Verfall von den einen befürchtet, von den anderen als Ende der amerikanischen Vorherrschaft begrüßt wird. Dazu gehört der Topos, dass die Zivilisation um den Erball von Osten nach Westen wandert: vom vorderen Orient nach Europa, von Europa nach Amerika und möglicherweise von Amerika nach Asien.80 Manche Autoren ziehen eine Parallele vom angefangenen 21. Jahrhundert zum Ende des Mittelalters im ausgehenden 13. Jahrhundert.81 Andere vergleichen die gegenwärtige Zäsur mit der beginnenden Neuzeit als einer „Zeit des Übergangs“ und schließen daraus, dass auch „wir“ in einer „Zeit des Dazwischen“ leben.82 Ebenso prominent ist der Vergleich der aktuellen Situation mit der Epoche der Aufklärung,83 indem behauptet wird, dass sich die europäische Kultur heute in einer ähnlich widrigen Lage befinde, die den Einsatz der kollektiven Vernunft herausfordere. In diesen Spielarten epochalen Bewusstseins stellt sich die Geschichte in Form natürlicher Kreisläufe dar. Wie man die Geschichtsphilosophie als „Denaturalisierung“ interpretieren kann,84 ist in den gegenwärtigen Zukunftserzählungen eine Re-Naturalisierung der Geschichte zu beobachten. Wenn damit behauptet wird, die Krise der modernen Zivilisation ereile uns wie eine Naturkatastrophe, erhält der historische Prozess etwas scheinbar Unvermeidbares und Schicksalhaftes. Doch gleichzeitig lautet die Botschaft, dass in vergangenen Krisen zwar einzelne Kulturen untergingen, nicht aber die Zivilisation im Ganzen: „Aber noch gibt es in diesem Spiel keinen Grund zur Verzweiflung“, versichert beispielsweise Gwynne Dyer, „Menschen und Nationen haben in der Vergangenheit immer wieder Wege gefunden […], um die ultimative Katastrophe zu verhindern. […] Wie groß sind die Chancen, dass wir so etwas noch einmal schaffen?“85 Aus dem Glauben an einen angeblich kreisförmigen Verlauf der Geschichte versucht man das Vertrauen zu schöpfen, die aktuellen Krisen auf ähnliche Weise meistern zu können, wie es schon früher lebenden Völkern gelungen ist. Hier offenbart sich die doppelte Funktion des zyklischen Modells: Angst vor der Krise schüren und zugleich Hoffnung auf Überwindung wecken.

Katastrophe und Endzeit Freilich ist in den meisten Zukunftsdiskursen nicht nur von der Dekadenz der westlichen Zivilisation die Rede, sondern sehr viel dramatischer von der Vernichtung der gesamten Menschheit. Mit der Behauptung eines totalen Untergangs wird zugleich ein „Ende“ der Geschichte im Ganzen beschworen. Im Kontext einer solchen Katastrophe verwendet man nicht selten den Begriff Apokalypse. Während der Begriff der Katastrophe aus der 79 Flechtheim 1972, 159; Gimpel 1995, 165; Attali 2008, 9, 14, 170; Welzer 2008, 62 ff.; Friedman 80 81 82 83 84 85

2009, 14 ff. Attali 2008, 101. Gimpel 1995, 17, 29, 173; Decouflé 1975, 86. Lay 1996, 15, 77 ff. Noack 1996, 138 f.; Welzer 2008, 278; Friedman 2009, 42; vgl. Rohbeck 2000, 13. Koselleck 1979, 130 ff.; Schlobach 1980, 136 ff.; kritisch dazu Rohbeck 2010, 126 ff. Dyer 2010, 98 (Hervorhebung von mir).

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Neuzeit stammt und ein säkulares Ereignis bezeichnet, handelt es sich bei der Apokalypse um einen Typus, der auf das Alte und Neue Testament zurückgeht. Seit 1980 häufen sich kriegsatomare, kulturpessimistische, ökonomische und ökologische Entwürfe des drohenden Weltendes.86 Geschichtsphilosophisch fällt an diesen Szenarien auf, dass wiederum auf ein vormodernes Deutungsmuster zurückgegriffen wird. Aufklärung und Moderne haben die Weltgeschichte „entfristet“.87 Insbesondere Condorcet hat den traditionellen Begriff der „Vollkommenheit“ in den Neologismus „Vervollkommnung“ umgewandelt und damit den „Fortschritt“ in den endlosen Prozess des „Fortschreitens“ überführt.88 Auf diese Weise wurde die Heilsgeschichte in die profane Geschichte mit offenem Ausgang umgedeutet. Doch in vielen heutigen Diskursen über die Zukunft schlägt diese Entfristung in eine neuerliche Befristung um.89 An die Stelle einer endlosen Geschichte tritt wieder eine finale Historie. Mit dem neuen Abschluss der Geschichte verändert sich auch das Zeitverhältnis zwischen Individuum und Menschheit. Im modernen Geschichtsbewusstsein wurde die Weltzeit der menschlichen Gattung von der Lebenszeit eines einzelnen Menschen abgekoppelt.90 Der Mensch war sich darüber im Klaren, dass die Welt so wenig mit dem eigenen Leben endet, wie sie mit ihm begonnen hat. Doch in den neuen apokalyptischen Erzählungen rücken das „Ende“ der Welt und des Individuums erneut zusammen. Nun wird die menschliche Gattung wie ein Individuum betrachtet, dessen gemeinsamer „Tod“ bevorsteht. Lebenszeit und Weltzeit werden miteinander identifiziert. In Endzeit und Zeitende prophezeit Günther Anders ein Finale, in dem sich die ganze Menschheit durch einen Atomkrieg selbst vernichtet.91 Wie das Leben eines einzelnen Menschen durch den Tod befristet ist, so ist nun der menschlichen Gattung insgesamt eine „Frist“ gesetzt. Angesichts dieser globalen Bedrohung versetzt sich Anders fiktiv in die Zeit nach der Katastrophe, in der keine Geschichte mehr sein wird: Es wird einmal eine Geschichte gewesen sein, über die nur noch in einer vorgezogenen Grabrede berichtet werden kann. In diesem „Nach“ sieht Peter Sloterdijk die tiefere Bedeutung der Rede von der Postmoderne.92 Da jedoch die Katastrophe auf sich warten lasse, entstehe eine Zwischenzeit, die Sloterdijk wie schon Anders als Frist bezeichnet.93 Weil diese kein präziser Termin zu sein scheine, richteten sich die Menschen darin so ein, als wären sie 86 Blumenberg 1986, 71 ff.; Demandt 1994, 274 f.; Müller-Funk 2002, 249 ff.; Lalla 2006, 193 ff.;

hierzu ausführlich die populäre Darstellung bei von Werder 2009, insbes. 37 ff.

87 Blumenberg 1986, 180 ff.; Marquard 2003, 220 ff. – Unberücksichtigt bleibt hier die Frage, ob die

88 89 90 91 92 93

moderne Geschichtsphilosophie eine Säkularisierung der christlichen Heilsgeschichte darstellt; vgl. hierzu Löwith 1953, 11 ff., 129 ff., 168 ff.; Blumenberg 1974, 60; Jaeschke 1976, 13 ff.; Sommer 2006, 230 f.; Rohbeck 2010, 120 ff. Condorcet 1976, 31; vgl. Koselleck 1975a, 379; Rohbeck 1987, 32. Sloterdijk 1989, 171 ff.; Demandt 1993, 46; Harré, Brockmeier, Mühläuser 1999, 8 ff. Blumenberg 1986, 72 f.; Müller-Funk 2002, 257; siehe den Abschnitt „Generationenwechsel“ im achten Kapitel. Anders 1986, 171; vgl. Liessmann 2003, 53 ff. Sloterdijk 1989, 271 ff. Ebd., 276.

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sicher. Auf diese Weise bilde die Frist den Spielraum für Illusionen und Hoffnungen, die Teil der Katastrophe seien. In zahlreichen anderen Zukunftsdiskursen verbindet sich die Befürchtung einer Katastrophe explizit mit dem „Ende der Geschichte“. So betrachtet Emil M. Cioran die „Geschichte der Menschheit als Geschichte des Verfalls“, die in der „Abschaffung der Zukunft“ ende.94 Wie die Weltreiche der Geschichte im „Zerfall“ endeten, so stehe der gesamten Menschheit nun der „kollektive Gattungsselbstmord“ bevor, die auf eine „zyklische Zerstörung der Welt“ hinauslaufe. Ein ähnliches Bild findet sich in L’an 2000 – une anti-histoire de la Yn du monde von André-Clément Decouflés, der mit dem Titel auf Mercier anspielt. Doch an die Stelle einer Utopie setzt er die „Katastrophe“, die das „Ende der Welt“ und damit die „Explosion der Geschichte“ bedeute, deren Beschreibung nur eine „Gegen-Geschichte“ sein könne.95 In Anlehnung an Marx sieht Jacques Attali das „Ende“ der bisherigen Geschichte im Zusammenbruch des Kapitalismus.96 Paul R. Ehrlich und Gordon Rattray Taylor machen die wachsende Bevölkerung für den „Untergang der Menschheit“ verantwortlich.97 In Unsere letzte Stunde verurteilt Martin Rees die moderne Naturwissenschaft als eine Bedrohung für die Menschheit, da bereits der Irrtum einer einzelnen Person zur „technischen Apokalypse“ führen könne.98 Demgegenüber verbindet Jean Gimpel Das Ende der Zukunft mit dem „technologischen Niedergang des Westens“, den er mit einem „Ende der Geschichte“ gleichsetzt.99 Andere Autoren wie Claus Leggewie und Harald Welzer prognostizieren zwar keinen „Weltuntergang“, wohl aber Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, weil die ökologische Krise zu „Klimakriegen“ führe.100 Besonders drastisch diagnostiziert Alvin Toffler einen Zukunftsschock, durch den die Menschheit in eine Katastrophe von kosmischen Ausmaßen gerate.101 Diese Erzählungen über das vermeintliche „Ende“ von Zukunft und Geschichte haben nicht nur eine narrative, sondern auch eine pragmatische Funktion. Indem die Prognostiker der Endzeit das Lesepublikum zum Handeln aufrütteln, wollen sie Perspektiven für eine verändernde Praxis aufzeigen. Wie die klassischen Utopien enthalten ihre Texte einen moralischen und didaktischen Grundton. Immer wieder wird an das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen appelliert. Die Strategie scheint paradox zu sein: Gerade damit der Leser aus der vermuteten Lethargie aufwacht und sich zum praktischen Eingreifen entschließt, wird der Untergang als höchst wahrscheinlich geschildert. Der Grund für die Paradoxie liegt in dem verbreiteten Gauben, dass in der sich entwickelnden Krise zugleich der Keim für deren Bewältigung liege. 94 Cioran 1972, 130; vgl. ders. 2003, 35 ff. 95 Decouflé 1975, 13, 109, 132, 161. – Vergleichbare Szenarien finden sich bei Minois 1998, 711;

Attali 2008, 8 ff. Attali 2008, 8 ff.; vgl. Kurz 1994, 272. Ehrlich 1973, 13; Taylor 1977, 223 ff. Rees 2005, 11, 124 ; vgl. Böhler 2009, 47. Gimpel 1995, 11; vgl. McKibben 1990, 35. Leggewie, Welzer 2009, 9, 13 f., 22, 101; vgl. Welzer 2008, 13, 126 ff.; Lienkamp 2009, 144 f.; Dyer 2010, 9 ff.; siehe schon Drewermann 1981, 9; Bahro 1990, 121 ff. 101 Toffler 1970, 749; vgl. die Rede vom „Globalisierungsschock“ bei Beck 1997, 33 ff. 96 97 98 99 100

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Rettung in der Gefahr Die Vorlage für die Idee, dass die Rettung aus der Katastrophe in dieser selbst enthalten sei, stammt indessen aus der griechischen Mythologie. Erinnert sei an den Mythos des Achill: Die Lanze, welche die Wunde schlug, wird zum Mittel der Heilung.102 Friedrich Hölderlin brachte dieses Deutungsmuster auf den Begriff: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“103 Dieses Modell ist ebenfalls im Kommunistischen Manifest von Marx wirksam: Der Kapitalist schaufelt sich das eigene Grab und schafft dadurch die Voraussetzungen für eine neue Gesellschaft.104 Mit dieser Denkfigur geht die moderne Apokalypse in Eschatologie über, die einen utopischen Neuanfang mit einer besseren Zukunft verheißt.105 In seiner Logik der Rettung fordert Rudolf Bahro eine „biophile Kultur“, die entweder durch eine ökologische Volksbewegung oder durch eine „Rettungsregierung“ erreicht werden soll.106 Nachdem Toffler in Der Zukunftsschock noch die Katastrophe vorausgesagt hatte, beschreibt er zehn Jahre später in Die Zukunftschance den Ausweg aus ihr: „Die Menschheitsgeschichte ist nicht zu Ende, sie hat gerade erst begonnen.“107 Auch Dyer sieht die Chance einer „Rettung der Zivilisation“, wobei er in seinem Kapitel „Ende der Kindheit“ die Menschheit wie ein Individuum betrachtet, das nach der „mittleren Reife“ nun die „Abschlussprüfung“ zu bestehen habe, in der nichts Geringeres als die Bewahrung der natürlichen Umwelt verlangt werde.108 Auf ironische Weise zitiert Thomas L. Friedman „205 Wege, die Erde zu retten“; gleichwohl beschwört er in Was zu tun ist die „Chance“ für einen „Wendepunkt in der Geschichte“ in Form einer „grünen Revolution“ und damit für den „Aufbruch in eine neues Zeitalter“.109 Typisch für diese Narrative ist der folgende Dreischritt: Zuerst verschlimmert sich die Lage, dann spitzt sich die Krise zu und es kommt zur Wendung, schließlich beginnt die Rettung aus der Not. Die Weltgeschichte wird wie ein Drama vorgeführt, in dem auf die Katastrophe die Katharsis folgt. Mit Hayden White könnte man die Darstellung über die mögliche Rettung aus der Gefahr wie eine Tragödie lesen. Schließlich mündet die Darstellung in eine epische Romanze, in welcher der Held das Böse bekämpft und die Welt rettet.110 Diese Dramaturgie soll nun an drei Beispielen demonstriert werden. In Kampf um die Zukunft entwirft Ossip K. Flechtheim drei „Szenarien“.111 Im ersten Szenario beschreibt er einen möglichen Untergang, entweder als „totale Auslöschung 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111

Starobinski 1992, 186 ff. Schmidt 1990, 203; vgl. Möller-Funk 2002, 235 ; Marquard 2003, 139. Marx 2008, 96; vgl. Rohbeck 2006, 89. Blumenberg 1986, 71 ff.; Müller-Funk 2002, 249 ff.; Lalla 2006, 193 ff. Bahro 1990, 121 ff., 205, 358; vgl. Basler 1973, 59 ff.; von der „Heilkraft des Schmerzes“ spricht Schönherr-Mann 1993, 170. Toffler 1980, 20 f., 352 f.; vgl. Dyer 2010, 15, 98, 182. Dyer 2010, 316 ff., insbes. 331. Friedman 2010, 16 ff., 41 ff., 63, 267 f., 353; vgl. Lay 1996, 254 f., 273 f. White 1991, 7 ff. Flechtheim 1986, 159 ff.

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des Menschengeschlechts“ oder als „Überleben in der Katastrophe“ mit der Folge eines Rückfalls in die Steinzeit oder Barbarei. Im zweiten Szenario prognostiziert er einen schleichenden „Verfall“, der in der Zentralisierung der politischen Macht und in der Tendenz zu Technokratie und Bürokratie besteht. Das dritte Szenario enthält den „Aufstieg“, für den er Anzeichen in der Realität der Gegenwart sieht. Der Rüstungswettlauf, die soziale Ausbeutung und die Umweltzerstörung stoßen auf wachsenden Widerspruch. Teile der jüngeren Generation, Frauen und Wissenschaftler organisieren sich. Es entstehen neue Lebensformen und Leitbilder: An die Stelle der Großtechnik, die Umwelt zerstört, tritt die kleinere und mittlere Technik. Nachdem Jacques Attali in Die Welt von morgen den Untergang der modernen Welt prophezeit hat, weist er den Weg aus der Katastrophe, indem er die zukünftige Weltgeschichte in drei „Wellen“ vorstellt.112 Die erste „Zukunftswelle“ nennt er das „Hyperimperium“, in dem sich der Markt universalisiert und in alle Lebensbereiche der Menschen ausweitet. In der zweiten Welle folgt der „Hyperkonflikt“, in dem Kämpfe zwischen Staaten, religiösen Gruppierungen, Terroreinheiten und Piraten stattfinden sowie Kriege um knappe Ressourcen wie Erdöl und Wasser geführt werden. In der dritten Zukunftswelle um das Jahr 2060 entsteht die „Hyperdemokratie“ mit dem Ziel einer „demokratischen Weltregierung“, welche die höchste Organisationsform der Menschheit bildet. Die Rettung aus der Gefahr sieht Attali letztlich in der Entwicklung des Marktes und der Handelsfreiheit, die seiner Auffassung nach zur Entwicklung politischer Freiheit beiträgt. Nicht zuletzt der philosophische ‚Klassiker‘ Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas lässt sich als eine solche Erzählung interpretieren.113 Zuerst berichtet Jonas, wie in der Vergangenheit die Technik- und Fortschrittsgläubigkeit zur größten Bedrohung für die gesamte „Menschheit“ geworden sei. Wie in der zitierten Literatur wird diese Geschichte vom „Ende“ der befürchteten Katastrophe her erzählt in der Absicht zu erklären, was innerhalb dieser „Frist“ zu tun sei. Schließlich findet sich auch der Topos „Rettung in der Gefahr“, wenn Jonas seine „Heuristik der Furcht“ als Ausweg aus der Krise propagiert. Im selben Atemzug fordert er den Leser dazu auf, durch Verzicht die notwendigen Einbußen beim Wohlstand in Kauf zu nehmen. Während Jonas, Flechtheim und Bahro letztlich eine Wende des kulturellen Bewusstseins fordern, sehen andere Autoren wie Attali, Toffler, Dyer und Friedman die Chance einer Rettung eher in den objektiven Bedingungen der bisher katastrophalen Entwicklung. Sie suchen nach Faktoren in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die eine alternative Entwicklung anzeigen, mithin nach ‚realen‘ Tendenzen für eine „Selbstrettung“ der vorhandenen Systeme. Derartige „realen Möglichkeiten“ im Blochschen Sinn lassen sich wie folgt zusammenfassen. Die erste Hoffnung konzentriert sich auf rein technologische Entwicklungen. Es werden Techno-Visionen entworfen im Sinne von Großtechniken oder Geo-Engineering. Dazu gehören die Verbesserung der Effizienz alternativer Energien wie Windkraft und 112 Attali 2008, 8 f., 150 ff., 188 ff., 225 ff. 113 Jonas 1979, 22 ff.; zum Folgenden 230, 245.

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Solarzellen sowie die Lagerung von Kohlendioxid. Demnach verfügt die Technik über die Wunderwaffe gegen ihre eigene Zerstörung.114 Es gehört zu den Allgemeinplätzen dieser Diskurse, dass die unübersehbaren Kehrseiten moderner Technologien allein mit technischen Mitteln behoben werden könnten. Zugespitzt formuliert, seien die Defizite gegenwärtiger Technik nur mit „mehr Technik“ zu bewältigen.115 Um im Bild zu bleiben, dieselbe Lanze, welche die Natur zerstörte, soll zur Heilung der natürlichen Umwelt beitragen. Die zweite Hoffnung setzt auf die Selbstaufklärung des Kapitalismus. Demnach korrigiere die Marktwirtschaft ihr früheres Wirtschaftshandeln, indem Umweltschäden, die bis dato externalisiert wurden, nun in die Kosten von Produkten und Dienstleistungen eingerechnet werden. Auf diese Weise entwickle sich ein „grüner Markt“ oder ein „Green New Deal“, für den zum Beispiel der Emissionshandel steht. Auch die politische Ökonomie der Nachhaltigkeit versteht sich als „Selbstrettung“ des kapitalistischen Systems.116 Doch im Falle der „Bankenrettung“ seit den jüngsten Finanzkrisen erhält der Begriff der Rettung auch eine pejorative Konnotation. Die dritte Hoffnung vertraut auf einen Wandel der politischen Systeme. Entweder sind damit einzelne Staaten gemeint, deren Regierungen das Ruder herumreißen. Oder man erwartet basisdemokratische Bewegungen, welche Transparenz und Partizipation fordern und dadurch die staatlichen Institutionen zu einer Kurskorrektur zwingen. Schließlich hängt die Rolle der Nationalstaaten von der weiteren Globalisierung ab, wobei die Frage nach einer zukünftigen „Weltregierung“, transnationalen Weltordnung oder nach internationalen Verträgen bei Bewahrung nationaler Autonomien offen gelassen wird. Wahrscheinlicher ist die Hegemonie mächtiger Staaten, gegen die dann die übrigen Länder ihre Ansprüche geltend machen, bis sich nach unvermeidbaren Zugeständnissen eine gerechtere Weltordnung durchsetzt. Henning Hahn bezeichnet diesen Prozess als „List der Geschichte“, womit er die erhoffte „Rettung“ zu einem explizit geschichtsphilosophischen Thema erklärt.117 An diesen Stellen wechselt die Furcht des Niedergangs in die Hoffnung auf eine rettende Wende. Allerdings ist die Denkfigur „Rettung in der Gefahr“ nicht unproblematisch, weil sie eine verborgene Teleologie enthält. Man könnte sie so deuten, dass die Geschichte als eine Totalität erscheint, die sich in einem dreifachen und am Ende versöhnlichen Gegensatz bewegt. Einerseits führt die wissenschaftlich-technische und ökonomische Entwicklung zu Fortschritten, die in Vergangenheit und Gegenwart ihre Vorteile hatten. Andererseits schlagen diese Verbesserungen in ihr Gegenteil um, indem sie vor allem für 114 Warnecke 1999, 9 ff., 148 ff.; Leggewie, Welzer 2009, 123 ff.; Dyer 2010, 267 ff. 115 Böhler, Gronke 2003, 307; ebenso Mittelstraß 1993, 27. 116 Zimmerli 1999, 136 f.; Leggewie, Welzer 2009, 105; Dyer 2010, 316 ff.; Friedman 2010, 61 ff. –

Kritisch dazu: Kurz 1994, 272; Eblinghaus, Stickler 1998, 11 ff., 38 ff.; Sennett 1999, 37; Attali 2008, 8 ff.; Böhler 2009, 105; Žižek 2009, 31 ff. 117 Hahn 2009, 190 ff.; vgl. Toffler 1970, 433 ff.; Laclau, Mouffe 2006, 189 ff.; Attali 2008, 255 ff.; Leggewie, Welzer 2009, 71, 99, 136, 231 ff.; Lienkamp 2009, 300 f., 361 ff. – Bereits in Ulrich Becks Risikogesellschaft findet sich die Denkfigur, dass in den Ursprüngen moderner Gesellschaften die Potenziale zur Selbstreflexion angelegt seien, 1986, 14 ff.; vgl. Rohbeck 2010, 117 ff.

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die Zukunft negative Nebenwirkungen hervorbringen, welche die Menschheit im Ganzen bedrohen. Schließlich soll sich diese immanente Tendenz zur Selbstzerstörung der modernen Zivilisation in ihr Gegenteil einer Rettung aus eigener Kraft verkehren. Dieses Modell der sich selbst erzeugenden und zugleich auflösenden Widersprüche kann zu dem Glauben verleiten, dass sich die Dinge gleichsam automatisch zum Guten wenden. Sieht man jedoch von der spekulativen Überhöhung ab, ist es auch möglich, derartige Erzählungen für legitim zu halten, weil sie sich zu einem großen Teil auf seriöse Prognosen berufen und mit ihren moralischen Appellen zur Sinnstiftung beitragen. Zweifellos handelt es sich hier um zeitgenössische Utopien, die – wie schon bei Bacon – aus Dystopien abgeleitet werden. Im vorausgegangenen Kapitel wurden überzeugende Argumente dafür referiert, dass das utopische Denken auch heute noch eine orientierende Funktion haben kann. Die Utopie ist zu verstehen als Idee der nicht verwirklichten Möglichkeiten, die nachträglich aus genuin ethischen Gründen zu aktualisieren sind. Insofern enthalten auch die Utopien der Gegenwart eine implizite Zukunftsethik.

Muster des Erzählens Nachdem ich die inhaltlichen Plots der Zukunftsdiskurse charakterisiert habe, ist nun zu analysieren, auf welche Weise diese Geschichten über die Zukunft erzählt werden. Zuerst widme ich mich dem temporalen Aspekt, um sodann die Frage nach dem Subjekt der Erzählung und des Erzählten zu stellen. Schließlich untersuche ich die allgemeine Funktion dieser Art Erzählungen. Mit der Zeit der Erzählung ist hier nicht etwa die bekannte Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit gemeint, sondern mit Gérard Genette die zeitliche Position des Erzählers im Verhältnis zu den erzählten Ereignissen, also der „Moment“, in dem er sich befindet, wenn er seine Geschichte erzählt.118 Dieser Zeitpunkt ist bei den Diskursen über die Zukunft von besonderem Interesse. Denn üblicherweise wird nach den Ereignissen erzählt (spätere Narration), insbesondere Historiker beziehen sich auf Geschehnisse in der Vergangenheit. Demgegenüber ließ sich zeigen, dass auch vor der eintretenden Zukunft die dort zu erwarteten Prozesse und möglichen Ereignisse erzählt werden können und dass auch auf solche Texte die wesentlichen Merkmale einer Erzählung und sogar eines historischen Diskurses zutreffen (frühere Narration oder prädikative Erzählung). Was in den Literaturwissenschaften selbstverständlich ist, darf in gleicher Weise für die Historiographie der Zukunft gelten. In der prädiktiven Narration zeigt sich indessen eine komplexe Zeitstruktur, die ich mit Koselleck als zukünftige Vergangenheit bezeichne.119 Damit möchte ich verdeutlichen, dass auch in der strukturierten Zukunft retrospektive Betrachtungsweisen entstehen, die der klassischen Historiographie durchaus ähneln. Wie Historiker ihre Darstellung nicht selten „teleologisch“ organisieren, indem sie das Vergangene vom Standpunkt ih118 Genette 1994, 17 ff.; vgl. Müller-Funk 2002, 59; zum Gebrauch der Zeiten siehe Weinrich 2001. 119 Koselleck 2003, 249.

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rer jeweiligen Gegenwart aus darstellen und beurteilen,120 so tritt dieselbe teleologische Struktur ebenfalls in Zukunftserzählungen auf. Die antizipierte Katastrophe fungiert wie ein Fluchtpunkt, von dem aus die Geschichte erzählt wird. Schon bei Günter Anders war zu beobachten, wie der Diskurs über die Zukunft vom „Ende“ einer befürchteten Gefahr aus geführt wird. Die grammatische Form, die diesem Blickwinkel entspricht, ist die des zweiten Futurs: Was wird geschehen sein, wenn die Katastrophe eingetreten sein wird? Bis wann müssen wir gehandelt haben, damit dieses Ereignis vermieden werden kann? In welcher Situation werden wir uns befinden, wenn bestimmte Handlungen unterlassen worden sind? Diese Zeitstruktur wird in der Ethik der Zukunft noch eine systematische Rolle spielen.121 Mit dieser Perspektive entwirft Dyer eine ganze Reihe von „Szenarien“ wie zum Beispiel „USA, 2029“ oder „China, 2042“, in denen er zukünftige Zustände im Präteritum erzählt: „Zu Beginn des Jahres 2015 war der ‚Kältere Krieg‘ dann schon handfeste Realität.“122 Aus einer noch späteren Sicht stellt er Ereignisse der nahen Zukunft im Plusquamperfekt dar: „Noch im Jahr 2020 war Mexiko die zwölftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt gewesen.“ Oder er verschiebt die jüngste Vergangenheit in eine länger zurück liegende Vergangenheit: „Vor ungefähr 30 Jahren – im Jahr 2000 – gab es nur einen harmlosen Maschendrahtzaun“ zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Abgesehen von Effekthascherei leitet hier offenbar die Absicht, die Katastrophen der Zukunft als (fiktive) Realität darzustellen und dadurch dem Leser besonders nahe zu bringen. Sogar die Fiktion einer „Rettung“ der Zivilisation wird aus der Warte einer zukünftigen Vergangenheit erzählt: „Alles stand auf Messers Schneide, doch der Vertrag von Djakarta aus dem Jahre 2026 brachte die Wende.“ Die Struktur einer „Erinnerung an die Zukunft“ findet ihre rhetorische Zuspitzung in der Totenrede: Bereits in der Gegenwart gedenken wir der künftigen Vergangenheit, in der das vorkommt, was, von heute aus gesehen, noch Zukunft sein mag.123 Mit Blick auf die ökologische Katastrophe übernimmt Sloterdijk die Geste des Nachrufs als vorweg gehaltenen Nekrolog auf die Menschheit.124 Im Fall des absoluten Endes ist die Erzählung nicht einmal real möglich, da es keinen Menschen mehr geben wird, der diese Geschichte überhaupt noch erzählen könnte. Weil die narrative Situation irreal ist, bleibt nur die ironische Form der vorweggenommenen Erzählung. Beim Erzähler unterscheidet man in der Literaturwissenschaft zwischen einem IchErzähler und einem beobachtenden Erzähler, der die erzählten Ereignisse von außen betrachtet. In den zitierten Diskursen wird der Standpunkt des Beobachters eingenommen, sogar die extreme Position eines „allwissenden“ Erzählers,125 der sein „Wissen“ über die 120 Danto 1974, 232 ff., insbes. 269; vgl. Lehmann-Brauns 2006, 185; Zwenger 2008, 153 ff.; vgl. den 121 122 123 124 125

Begriff der „antizipierten Retrospektion“ bei Alfred Schütz 1972, Bd. 2, 261. Siehe den Abschnitt „Historische Verantwortung“ im achten Kapitel. Dyer 2010, 65 f.; 121, 116, 226. Anders 1986, 171; vgl. Müller-Funk 2002, 235; vgl. Rohbeck 2006, 89. Sloterdijk 1989, 271 ff. Derrida 1985, 64; Genette 1994, 134 f.; Müller-Funk 2002, 261.

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Zukunft mitteilt. Im Hinblick auf die befürchteten Katastrophen steigert sich noch die Allwissendheit, weil sich der Erzähler in die Situation nach dem Ende der Welt versetzt. „Eine Krise apokalyptischen Ausmaßes wird mit ziemlicher Sicherheit das Gesicht des 21. Jahrhunderts prägen.“126 Damit wird der hybride Anspruch erhoben, die ‚letzten‘ Geheimnisse der Welt aufzudecken, die sich erst an deren „Ende“ enthüllen. Das Pathos absoluter Wahrheit ist kaum zu überbieten. Aber diese externe Fokussierung bedeutet nicht, dass ein solcher Erzähler kein Akteur sein darf. Im Gegenteil, die Verbindung von Beobachtung und Betroffenheit ist typisch für die hier behandelten Texte. Das leuchtet insofern ein, als die Geschichte der Menschheit und die Krise der Weltgesellschaft erzählt wird, denen der betrachtende Erzähler notgedrungen angehört. Dieser globale Standpunkt wird sogar bewusst gemacht und gezielt vermittelt. Denn die genannten Autoren verwenden häufig „wir“ oder „uns“, womit sie einerseits signalisieren, dass sie sich dem dargestellten Prozess unterworfen fühlen, und andererseits die Leser in das kollektive Geschehen einbeziehen. So beschreibt Flechtheim das kollektive Schicksal: „Heute spricht Vieles dafür, dass wir mit unserer Zukunft nicht fertig werden.“127 Wenig später warnt Jonas, „die bisherige Steigerung des Wachstums können wir uns nicht mehr leisten.“128 Oder Attali appelliert an die Leser: „Unsere heutigen Entscheidungen bzw. unsere gegenwärtigen Handlungen bestimmen die zukünftige Gestalt unserer Welt mit, d.h. wie und unter welchen Bedingungen wir leben werden.“ 129 Auch Friedman will den Lesern zeigen, „Wo wir stehen“ und „Wie wir vorankommen“.130 Durch dieses rhetorische Mittel soll offenbar ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt werden. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Beschwörung eines kollektiven Geschichtssubjekts, das in Wirklichkeit nicht existiert oder zumindest der Konkretion bedarf, Illusionen weckt und Machtverhältnisse verdeckt. Gegenüber einem bloß abstrakten „Wir“ möchten Leggewie und Welzer dazu beitragen, dass sich ein konkretes „Wir-Gefühl“ oder eine „Wir-Identität“ herausbildet, die sich in dezentralen Projekten manifestiert.131 Mit dieser Selbstpositionierung des Erzählers ist bereits die allgemeine Funktion der Zukunftsdiskurse angesprochen. Die psychisch-ästhetische Absicht besteht darin, die Verzweiflung in eine Erwartungsenergie und einen moralischen Impuls umzupolen. Schon Dennis Meadows verband seinen Bericht über Die Grenzen des Wachstums mit der Absicht, das Lesepublikum zur Umkehr zu motivieren.132 Gegen Ende seines Buches forderte er eine Änderung der Wert- und Zielvorstellungen, gar eine neue Weltethik, welche die ethische Verpflichtung für die kommenden Generationen einbezieht. Ebenso plädiert Paul Noack dafür, endlich „Lehren aus der Geschichte zu ziehen“ und „wenigstens ein 126 127 128 129 130 131 132

Dyer 2010, 9. Flechtheim 1972, 16. Jonas 1979, 289. Attali 2008, 8; Hervorhebungen in den folgenden Zitaten von mir. Friedman 2010, 267; vgl. Dyer 2010, 15, 86; Toffler 1980, 13. Welzer 2008, 47 f.; Leggewie, Welzer 2009, 71, 99, 136, 231 ff.; ähnlich Böhler 2009, 64 f. Meadows 1972, 97 ff.; vgl. Saage 1992, 159 ff.

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bißchen beschwert von historischer Erfahrung“ zu handeln statt „immer wieder von neuem“ anzufangen. 133 Die temporale Dimension spielt dabei insofern eine Rolle, als enormer Zeitdruck oder Fristenstress aufgebaut wird. Im Jahr 1972 mahnte der Club of Rome, dass die wichtigsten Probleme der Menschheit innerhalb eines Jahrzehnts gelöst werden müssten.134 Wichtige Fristen seien bereits verstrichen, viel Zeit sei vergeudet worden, so dass es eigentlich schon zu spät sei; doch trotz der Verspätung bestehe noch eine Chance zur Rettung.135 In diesem Zusammenhang mahnt Otfried Höffe eine „Kultur der Rechtzeitigkeit“ an, derzufolge man nicht „zu spät“ kommen dürfe.136 Jene pragmatischen und moralischen Aspekte, insbesondere in der zeitlichen und historischen Form der Fristen, werden im systematischen Kontext der Zukunftsethik noch ausführlich zur Sprache kommen. An dieser Stelle ist eine Präzisierung erforderlich, die darin besteht, zwischen einem apokalyptischen und einem posthistorischen „Ende der Geschichte“ zu unterscheiden. Zwar behaupten die soeben zitierten Apokalyptiker vielfältige „Enden“, aber diese Arten eines „Endes der Geschichte“ dürfen nicht mit dem so genannten Posthistoire verwechselt werden. Während in Letzterem gerade die Erwartung einer endlosen Fortdauer der modernen Gesellschaft einen angeblichen Sinnverlust begründen soll, konstatieren die neuen Endzeittheoretiker nicht etwa die symbolische Krise einer im Grunde stabilen Zivilisation, sondern befürchten die ‚wirkliche‘ Katastrophe, d.h. den physischen und damit materiellen Untergang der auf dem Globus lebenden Menschen. Im Grunde gilt ihnen die moderne Zivilisation als ein bewahrenswertes Gut, dessen drohenden Verlust sie beklagen und abwenden wollen. Diese Unterscheidung ist für die nun folgende Argumentation von entscheidender Bedeutung. Einerseits lässt sich an die Erzählungen über zu erwartende Katastrophen und herbeigesehnte Krisenbewältigungen anknüpfen, weil diese Erzählungen utopische Momente und entsprechende Geschichtsmodelle bergen, an denen ich für die geschichtsphilosophische Begründung der Zukunftsethik festhalten möchte. Andererseits werde ich mich vom Posthistoire abgrenzen, indem ich diese Position als Kontrastfolie verwende, um einen handlungsorientierten Begriff von Zukunft zu entwickeln. Da es sich hier um eine explizite Philosophie der Geschichte handelt, bietet sie den theoretischen Kontext für den systematischen Entwurf des von mir intendierten ethischen und zugleich geschichtsphilosophischen Zukunftsbegriffs. 133 Noack 1996, 138; vgl. Welzer 2008, 17, 250 ff., 273 ff., 257; Leggewie, Welzer 2009, 9 ff., 174 ff.;

Opascheschwski 2008, 18; ebenso Flechtheim 1986, 155; Toffler 1980, 13; Bahro 1990, 205; Attali 2008, 8. 134 Meadows 1972, 101; vgl. Žižek 2009, 227 ff.; Friedman 2010. 135 Dyer 2010, 13, 228 ff., 319 f.; Friedman 2010, 225; Leggewie, Welzer 2009, 10, 14, 35. – Nach Luhmann kann die Behauptung einer „knappen Zeit“ sogar dazu dienen, neue Wertpräferenzen durchzusetzen: Luhmann 2007, 143 ff.; vgl. Weinrich 2004, 174 f., dort auch zu den sprachlichen Aspekten dieses Themas, 166 ff. 136 Höffe 1993, 279, 281; Wallerstein 1995, 165 ff.

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3. Zukunft in praktischer Perspektive Indem ich nun von der Erzähltheorie zur Theorie historischer Zeiten überleite, beginne ich mit den im engeren Sinn philosophischen Untersuchungen gegenwärtiger Zukunftsdiskurse. Insofern ich mich dabei auf die wichtigen Inhalte konzentriere, bewege ich mich von der formalen zur materialen Geschichtsphilosophie. Ziel ist ein geschichtsphilosophisch reflektierter Begriff von Zukunft, der ausdrücklich utopische Momente aufnimmt. Für die Utopie bedeutet dies, dass sie auf geschichtsphilosophische Reflexionen nicht zu verzichten braucht, ja sogar auf diese angewiesen ist, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben. Für die Geschichtsphilosophie folgt daraus, dass sie sich utopischen Motiven öffnen kann, die schon anhand der aktuellen Utopiedebatte thematisiert wurden. Um einen solchen Zukunftsbegriff zu gewinnen, grenze ich mich von zwei Extremen ab. Auf der einen Seite kritisiere ich den so genannten Präsentismus, dessen Präferenz der Gegenwart darauf hinausläuft, die Zukunft als Projektionsraum antizipierter Handlungen zu verdrängen. Dabei hat das vielfach behauptete „Ende der Zukunft“ große Ähnlichkeit mit dem aus dem Posthistoire bekannten „Ende der Geschichte“. Dieser Befund ist nicht verwunderlich, bedeutet doch die Rede über das „Ende“ der Geschichte zugleich, dass keine Zukunft mehr zu erwarten ist. Wenn die Zukunft am „Ende“ ist, kann es umgekehrt auch keine Geschichte mehr geben. Hier sehe ich meine Aufgabe darin, die beiden getrennt verlaufenden Diskurse miteinander zu verbinden und dabei vergleichbare Topoi aufzuweisen. Auf der anderen Seite distanziere ich mich von einem Futurismus, mit dem ich Positionen bezeichne, die zwar auf Zukunft ausgerichtet sind, aber auf naive oder gar apologetische Weise. Eine Variante besteht in einem virtuellen Sprung in die zukünftige Zeit, ohne auf historische Kontinuität zu achten und eine Verbindung zur heutigen Gegenwart herzustellen. Dies ist vergleichbar mit der utopistischen Erzählung von Mercier, die ich als geschichtslos charakterisiert habe. Eine andere Variante findet sich in der Behauptung, die Zukunft habe bereits begonnen und sei im heutigen Leben schon gegenwärtig. Damit verbindet sich eine Kritik an der modernen Zivilisation, deren Beschleunigung zum Orientierungsverlust führe. In beiden Positionen wird die Trennung zwischen Gegenwart und Zukunft verwischt: Entweder wird festgestellt, die Gegenwart erstrecke sich endlos, so dass gar keine Zukunft mehr in Sicht ist; oder es wird behauptet, die Zukunft sei bereits so nah gerückt, dass die Gegenwart immer mehr verschwindet. Sowohl die endlos erstreckte Gegenwart als auch die vorzeitig begonnene Zukunft stellen jedoch nur zwei Seiten derselben Medaille dar; sie bedeuten eine inhaltliche Nivellierung von Gegenwart und Zukunft, in der nur noch ein einziger homogener Zeitraum existieren würde. An dieser Stelle setzt mein systematischer Entwurf ein, der eine vermittelnde Alternative anbietet. Anstelle der Indifferenz insistiere ich auf der Unterscheidung zwischen Gegenwart und Zukunft. Im Gegensatz zum Präsentismus stelle ich mich auf den Standpunkt der Gegenwart, um gerade die Zukunftsperspektive zu retten. Zugleich distanziere ich mich vom Futurismus, um die Gegenwart als zukunftsorientierten Handlungsraum von der Zukunft abzuheben.

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Der Grund für diese Grenzziehung ist praktischer Art. Es geht um die Gegenwart als Zeitraum der Handlung, gerade weil uns die Zukunft nicht gleichgültig ist und wir mit Blick auf die Zukunft handeln. Denn von Zukunft kann im emphatischen Sinn nur dann gesprochen werden, wenn Chancen für veränderndes und damit sinnvolles Handeln aufgezeigt werden. Die so bestimmte Gegenwart betrachte ich mit Berufung auf die Phänomenologie als einen ausgedehnten Zeitraum, der von bestimmten Handlungsfeldern strukturiert wird. Daraus resultieren die Dauer der Gegenwart und deren Grenze zur Zukunft, die mit Hilfe von Fristen strukturiert werden sollen. Auf diese Weise strebe ich einen reflektierten Begriff von Gegenwart und Zukunft an, der zur praktischen Orientierung taugt. Dabei beschränke ich mich nicht auf zeit- und handlungstheoretische Aspekte. Vielmehr versuche ich in Anlehnung an Kosellecks Kategorienpaar Erfahrungsraum und Erwartungshorizont eine geschichtsphilosophische Analyse, indem ich das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft auf hermeneutische Weise als historische Beziehung und damit die Gegenwart als historische Gegenwart interpretiere. Wie die referierten Zukunftsdiskurse demonstrieren, hängt die Zukunftsprognose wesentlich von der jeweiligen Gegenwartsdiagnose ab, so wie die Antizipation von Zukunft das Selbstbewusstsein der Gegenwart prägt. Der historische Charakter eines derartigen Geschichtsbewusstseins wird dadurch unterstrichen, dass dabei bestimmte Geschichtsmodelle wie Fortschritt, Stagnation oder Niedergang leitend sind. Diese Überlegungen werden in die darauf folgenden Erörterungen einer Ethik der Zukunft einfließen.

Verlust von Zukunft und Geschichte Die Skepsis darüber, ob die Zukunft eine Perspektive zu bieten hat, ist zunächst begriffsgeschichtlicher Art. Es wird bezweifelt, ob mit Blick auf die zukünftige Zeit überhaupt noch von der Zukunft gesprochen werden darf.137 Denn der verloren geglaubte Zukunftsbegriff entspricht dem neuzeitlich-modernen historischen Bewusstsein, durch das nicht nur der Kollektivsingular Geschichte entstanden ist,138 sondern ebenso die Vorstellung einer homogenen Zukunft. Doch mit der Krise der Moderne steht auch der singuläre Begriff von Zukunft in Frage. An die Stelle des Glaubens an die Einheit der Menschheit ist die Erfahrung der Desintegration und Differenz getreten mit entsprechend divergierenden Zeitvorstellungen, so dass in der heutigen Gegenwart eine „Zukunftszersplitterung“ diagnostiziert wird.139 Wenn es daher keine einheitliche Zukunft mehr gibt, ist nur noch eine Vielzahl von „Zukünften“ zu erwarten. Symptomatisch für diese unübersichtliche 137 Hölscher 1999, 225 f., zur Geschichte des Zukunftsbegriffs 9 ff. 138 Koselleck 1975b, 593 ff. 139 Noack 1996, 13; Hölscher 1999, 226; Grunwald 2008, 315 ff. – Diese Tendenz hat immerhin den

positiven Effekt, dass außereuropäische Kulturen, denen früher die Partizipation an der Zukunft pauschal abgesprochen wurde, nunmehr in den Prozess einer pluralen Modernisierung integriert werden; Randeira 1999, 90 f.

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Situation ist die sprachliche Schwierigkeit, die Pluralisierung der Zukunft grammatikalisch korrekt auszudrücken. Ein weiterer Einwand bezieht sich auf die Unwissenheit über die Zukunft, die mit Schwächen in der Prognostik zusammenhängt. Niemand kennt die zukünftigen Generationen, weder die Zahl ihrer Individuen noch deren Eigenarten, vor allem nicht ihre Wünsche.140 Einige wenige Theoretiker ziehen daraus die praktische Konsequenz, dass keine moralische Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen bestehe. In eigenartigem Kontrast dazu steht die Behauptung, die wissenschaftlichen Prognosen seien so sicher, dass die Zukunft völlig erforscht und daher ohne Neuigkeiten sei. Hatte es soeben geheißen, die Zukunft läge im Dunkeln, sind wir jetzt mit dem Gegenteil totaler Transparenz konfrontiert. Dahinter steckt eine Paradoxie: Einerseits glaubt man, das Wissen über die Zukunft nehme immer mehr zu; andererseits behauptet man, durch die Prognosen werde die Zukunft sozusagen vernichtet. Sollte die zukünftige Zeit tatsächlich vollständig erforschbar werden, scheint die Zukunft bereits bekannt zu sein; so entsteht der Eindruck, als ob sie nichts wirklich Neues, Unvorhersehbares oder gar Utopisches mehr bereithielte.141 Lucian Hölscher spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Kolonialisierung der Zukunft“.142 Ob nun völlige Ungewissheit oder Gewissheit verkündet wird, in jedem Fall führen die widersprüchlichen Pole zu einer Haltung, in der die Zukunft ihre theoretische und praktische Bedeutung verliert. Schließlich werden im Zweifel an der Zukunft Theorien des Posthistoire übernommen und radikalisiert. Denn diese Positionen finden sich nicht nur bei dessen bekannten Autoren wie bei Arnold Gehlen, Vilém Flusser, Jean Baudrillard oder Peter Sloterdijk,143 sondern ganz unerwartet auch bei den sich selbst so verstehenden Futurologen wie Paul Noack, Georges Minois, Jacques Attali oder Emil M. Cioran. Sie behaupten, mit Zukunft sei überhaupt nicht mehr zu rechnen. Das geradezu klassische Argument lautet, die großen Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts hätten sich erschöpft, ohne dass neue Entwürfe in Sicht wären. Konsens besteht über den Niedergang der „Ideologien“ wie Wirtschaftsliberalismus, Marxismus und Nationalismus. Da die Zukunft keinen „historischen Sinn“ mehr verheiße, hätten die traditionellen „Zukunftsmacher“ ihre Rolle eingebüßt.144 Obwohl in unserer Zeit mehr denn je über Zukunft geredet und geschrieben wer140 Zitiert bei Heubach 2008, 125 f.; vgl. Caspar 2001, 85 f.; siehe auch Birnbacher 2003, 81; Tremmel

2005, 15; Heidbrink 2007, 11 ff.

141 In dieser Weise unterscheidet Bloch zwischen einer „unechten“ und „echten“ Zukunft;1985, 232;

vgl. Noack 1996, 8; Hölscher 1999, 234 f.

142 Hölscher 1999, 227; im Gegensatz dazu spricht Hermann Lübbe von einem „Zukunftsgewiss-

heitsschwund“, 1990, 68; siehe auch Noack 1996, 11; ebenso Minois 1998, 759; Koselleck 2003, 203 ff.; Gumbrecht 2011, 51. – Diese Einschätzung hat noch eine medientheoretische Komponente: Wenn alle Zeiten zu jedem Zeitpunkt virtuell verfügbar sind, wird es unmöglich, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden. Im Anschluss an Jean Baudrillard siehe Großklaus 1994, 53; Hölscher 1999, 229. 143 Zur Unterscheidung zwischen einem klassischen und postmodernen Posthistoire siehe Breitenstein 2006, 34 ff. 144 Noack 1996, 72 ff; Minois 1998, 758; Decouflé 1975, 132.

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de, so klagt etwa Noack, sei es „im Grunde eine Zeit, die keine Zukunft mehr kennt“.145 Kurz, die Zukunft habe keine Zukunft. Hinter dieser Entpolitisierung der Zukunft steht das bereits bei Spengler angelegte und im Posthistoire explizierte Geschichtsbewusstsein, dass der technische und ökonomische Fortschritt zu kultureller Stagnation geführt habe und auch in Zukunft führen werde. Das so angekündete „Ende der Zukunft“ hat für die Zeitstruktur und für das historische Beswusstsein eine zwiespältige Konsequenz: Zwar wird formal der Standpunkt des Autors vor dem Geschehen eingenommen. Doch wenn inhaltlich keine Zukunft erwartet wird, hört die Gegenwart gar nicht mehr auf, sie gilt daher als endlos. Die Gegenposition lautet, dass sich die Zukunft durch das Tempo der modernen Zivilisation so schnell nähert, dass sich die Gegenwart zusehends verkürzt.

Endlose Gegenwart Für die Gegenwart bedeutet das angebliche „Ende“ von Zukunft und Geschichte, dass sie sich ins Endlose erstreckt. Wenn die Zivilisation der Gegenwart, so die Argumentation, nichts Utopisches mehr hervorbringt, gibt es keine ‚wahre‘ Zukunft mehr, sondern allein die Gegenwart. Weil jedoch die mechanische Zeit weiter läuft, dauert die Gegenwart chronologisch an, sie wird unaufhörlich und damit „endlose Gegenwart“, die sich immer mehr ausdehnt.146 Ich bezeichne diese Position als geschichtsphilosophischen Präsentismus,147 der sich vom ontologischen und ästhetischen Präsentismus darin unterscheidet, dass er sich speziell auf das historische Bewusstsein beruft.148 Demzufolge gibt es zwar weiterhin Zukunft, aber eben nur als Verlängerung der Gegenwart.149 Dieser Standpunkt ist sowohl aus theoretischen als auch aus praktischen Gründen unakzeptabel. Theoretisch ist er antiquiert, weil er aus einer historischen Phase stammt, als die westlichen Gesellschaften als gesättigt und technokratisch handhabbar erschienen. Außerdem verbirgt sich dahinter die Auffassung, dass die moderne Zivilisation keine eigenen Sinnpotenziale enthalte. Doch spätestens seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts wurde deutlich, dass die Geschichte weitergeht, weil in ihr nach wie vor Unerwartetes geschieht. Vor allem aber aus praktischer Perspektive ist die präsentistische Position fatal, weil sie die Hoffnung auf qualitative Veränderungen und damit das utopische Moment 145 Noack 1996, 7; vgl. Minois 1998, 760; Koch 2001, 805 ; Nassehi 2008, 333 f. – Gegen die Reden

146 147 148 149

vom „Ende der Zukunft“ wendet sich Maresch 1993, 9 ff. – Die ironische Konsequenz aus einer pluralisierten Zukunft wäre dann eine „Pluralisierung der Enden“, Welsch 1993, 23 ff. Nowotny 1989, 9; vgl. Gil 1997, 128, 133; kritisch zu einer solchen Enthistorisierung des Kapitalismus Žižek 2009, 19 f. Vgl. Sloterdijk 1990, 121; Konersmann 2006; Macho 2006; siehe auch Gil 1997, 128; Sturma 1997, 65 f.; Hartog 2003, 207 ff.; Gumbrecht 2011, 49 ff. Theunissen 1991, 185 f.; Bohrer 1994, 143 ff.; Bohrer 2001, 764 ff.; Nassehi 2008, 333. Konkret wird diese Haltung in der Trendforschung, der vorgeworfen wird, sie wolle nicht die Welt „von morgen“ kennen lernen, sondern die „vollendete Gegenwart“; Klages 1984, 145, 147; Horx 1999, 19; vgl. Opaschewski 2008, 701 f.

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aufgibt. Angesichts der gegenwärtigen Situation mit ihren drohenden Katastrophen, die zwar nicht zu den zitierten apokalyptischen Erzählungen, wohl aber zu begründeten Befürchtungen Anlass geben, kann eine solche Haltung zur Apologie des Bestehenden und damit zu einer Untätigkeit führen, die moralisch unverantwortlich ist.

Vorzeitige Zukunft Jenem Präsentismus steht nun ein Futurismus gegenüber, in dem behauptet wird, die Beschleunigung des sozialen Wandels lasse die Zukunft immer näher rücken. Da sie die Gegenwart gleichsam aufsaugt, schrumpft diese bis zu ihrer Auflösung. Während die Zukunft zuvor immer später eintrat, beginnt sie jetzt immer früher; sie kommt vorzeitig in der Gegenwart an und geht in ihr auf. Wurde die Gegenwart bisher entwertet, weil sie immer schneller veraltete, entsteht nun immer mehr Zukunft auf ihre Kosten. Die Zukunft reduziert die Gegenwart, in der sie immer schon präsent ist. Auch mit dieser entgegengesetzten Diagnose verbindet sich eine Zivilisationskritik. So interpretiert Hermann Lübbe die Beschleunigung der modernen Zivilisation, welche den „Aufenthalt in der Gegenwart“ verkürzt, als eine Überforderung des historischen Bewusstseins.150 Die temporale Nähe des Unbekannten schwäche das Sicherheitsgefühl, wodurch neue Ängste entstünden. Damit begründet Lübbe einen Orientierungsverlust, der nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft unsichtbar mache. Hatte Hölscher von einer „Kolonialisierung der Zukunft“ durch die wissenschaftlichen Prognosen gesprochen, behauptet Lübbe eine „Kolonialisierung der Gegenwart durch die Zukunft“.151 Folgt man dem Soziologen Hartmut Rosa, übersteigt die soziale Beschleunigung in der Spätmoderne einen kritischen Punkt, da sich die gespürten Veränderungen nicht mehr zwischen den Generationen abspielen, sondern bereits innerhalb der Lebensspanne einer Generation. Angesichts eines solchen Tempos lasse sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten.152 Die Beschleunigung als Kern der Modernisierung habe sich gegen das ursprüngliche Projekt der Moderne gekehrt. Auf diese Weise schlage die frühere Verzeitlichung der Gesellschaft in eine aktuelle „Entzeitlichung“ der Geschichte um. Bei Rosa werden zwar die zivilisatorischen Fortschritte anerkannt, aber wie schon beim Posthistorie in eine kulturelle Stagnation umgedeutet. In diesem Kontext spricht Toffler von einem „Zukunftsschock“, der darin bestehe, dass die Zukunft zu schnell Gegenwart geworden sei.153 Durch die beschleunigten Veränderungen stoßen sie unvermittelt auf die Zukunft und prallen mit ihr zusammen. Diese Konfrontation führe zu einer tief greifenden Desorientierung, die eintrete, wenn 150 Lübbe 1992, 1 ff.; vgl. ders. 1990, 82, 114.; Flusser 1997, 131 ff.; Marquard 2003, 234 ff.; Koselleck

2003, 150 ff.; Gumbrecht 2011, 51.

151 Lübbe 1992, 3. 152 Rosa 2005, 49 f., 384 f., 402 ff., 419, 452; kritisch dazu Nassehi 2008, 12 f. 153 Toffler 1970, 9 ff., 242; siehe bereits das vorausgegangene Kapitel.

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das gegenwärtige Wissen plötzlich entwertet wird. Der Druck der Anpassung und die Dauer-Erwartung des Neuen machten die Menschen krank, die sich immer häufiger gewandelten Situationen ausgesetzt fühlten, in denen sie ihre früheren Erfahrungen nicht mehr anwenden können. Allerdings diagnostiziert Toffler dabei eine Ungleichzeitigkeit, weil eine kleine Gruppe von Menschen von der Beschleunigung profitiere. Demnach befänden sich zwei bis drei Prozent der Weltbevölkerung weder in Vergangenheit noch Gegenwart, sondern bereits in der Zukunft. Diese Menschen führten bereits das Leben der Zukunft,154 indem sie in einem rascheren Rhythmus leben und ihre „Enklaven der Zukunft“ sogar attraktiv finden. Uneingeschränkt positiv konnotiert wird die Zukunft in Robert Jungks bekanntem Buch Die Zukunft hat schon begonnen.155 Ihm zufolge kann die Zukunft gar nicht schnell genug eintreten, weil sich daran die Erwartung einer vorzeitigen Utopie knüpft. Da die Zukunft eigentlich schon angefangen habe, wollten die Menschen die Gegenwart, die sie abwerten, so schnell wie möglich hinter sich lassen, um schon gegenwärtig in der Zukunft zu leben. Die Beschleunigung werde als nahe Zukunft erfahren und ausdrücklich erwünscht. Hinter diesem Motto verbirgt sich häufig die Idee des Fortschritts und damit die Hoffnung, dass die Zukunft besser werden könnte oder dass es sich lohne, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen. Aus dem Optimismus der Zukunft ist inzwischen ein banaler Werbespruch geworden, der für Innovation und ökonomische Effizienz stehen soll. Im Unterschied zur Konzeption der „endlosen Gegenwart“ hat sich die „vorzeitige Zukunft“ als ambivalent erwiesen. Während einige Autoren in der präsenten Zukunft die Gefahr eines Orientierungsverlustes sehen, begrüßen andere die beschleunigte Nähe des Zukünftigen als Dynamik der Moderne. Doch diesen beiden Versionen wie auch allen drei Positionen ist das Problem gemeinsam, dass Gegenwart und Zukunft ununterscheidbar werden. Zwar treffen einzelne Beobachtungen über die beschleunigte Moderne durchaus zu, sie werden aber unzulässig übertrieben, verabsolutiert oder trivialisiert. Theoretisch ist wiederum nicht einzusehen, dass partielle Desorientierungen zu einem Verlust des historischen Bewusstseins führen sollen; dagegen sprechen die in allen Zukunftserzählungen nachgewiesenen Geschichtsbilder. Auch vom praktischen Standpunkt ist es wenig plausibel, die Möglichkeit einer Orientierung in der Gegenwart prinzipiell zu verwerfen. Im Hinblick auf die Ethik stellt sich hingegen die Aufgabe, den Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft herauszuarbeiten – nicht im Sinne einer präsentistischen Bevorzugung der Gegenwart, sondern im Gegenteil zur Rettung der Zukunftsperspektive. Wenn die Indifferenz von Gegenwart und Zukunft zu einem Orientierungsverlust führt, folgt daraus, dass das Festhalten an einer von der Zukunft unterschiedenen Gegenwart unverzichtbar ist, um verantwortliches Handeln begründen zu können. 154 Toffler 1970, 35, 58, 62; daraus leitet Toffler „Überlebensstrategien“ ab und fordert eine „Erziehung

zur Zukunft“, 287 ff., insbes. 291.

155 Jungk 1952. – In diesem Geiste titelt Horst W. Opaschowski: „Die Zukunft wartet nicht. Die Zukunft

beginnt – jetzt! Auch die Zukunft des Jahres 2030 hat längst begonnen.“ Opaschewski 2008, 17, 729; siehe auch Klose 1993; vgl. Mittelstraß 1993, 32; kritisch dazu Marquard 2003, 237.

Geschichte und Zukunft

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Die Gegenwart als Zeit der Handlung Nachdem sich die Extreme „endlose Gegenwart“ und „vorzeitige Zukunft“ als theoretisch und pragmatisch fragwürdig erweisen haben, schlage ich nun eine systematische Lösung vor. Mein Ziel besteht darin, in praktischer Absicht die Gegenwart als einen Handlungsraum zu konzipieren, der sich grundsätzlich von der Zukunft abhebt. Wie mehrfach betont, geht es mir dabei nicht um eine Ontologie der Zeit, sondern ausdrücklich um eine Theorie historischer Zeiten unter besonderer Berücksichtigung der Zukunftsperspektive. Bekanntlich haben Vertreter des Historismus wie Droysen, Dilthey und Troeltsch Denkmotive der philosophischen Hermeneutik aufgegriffen und zu einer Theorie des historischen „Verstehens“ verarbeitet.156 Auf ähnliche Weise versuche ich, zu einem spezifisch historischen Verständnis der Gegenwart zu gelangen, indem ich den Bezug des Gegenwartsbewusstseins zur Zukunft in Analogie zum Verständnis der Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit erschließen werde. Mit Hilfe eines solchen Verfahrens lässt sich in heutigen Debatten genauer analysieren, welchen Anteil jeweils die gegenwärtigen Konflikte oder Zukunftsvisionen haben, wie sie sich wechselseitig beeinflussen und wie sie sich nicht selten miteinander vermengen. Es war Johann Gustav Droysen, der darauf aufmerksam machte, dass der Historiker nicht unmittelbar die Vergangenheit zum Gegenstand seiner Forschungen und Darstellungen hat, sondern nur indirekt durch Zeugnisse und Dokumente aus der Vergangenheit, die ihm in der Gegenwart vorliegen. In gleicher Weise steht die Darstellung auf dem Standpunkt der Gegenwart, aus deren Sicht der Vergangenheit ein Sinn zugeschrieben wird.157 Bei Wilhelm Dilthey kehrte sich die Perspektive insofern um, als das Verständnis der Vergangenheit eher zur Orientierung in der gegenwärtigen Lebenswelt beitragen sollte.158 Vor allem Ernst Troeltsch vollzog im Zuge der von ihm diagnostizierten „Krise“ des auf die Vergangenheit fixierten Historismus diese Wende zur Gegenwart, indem er der Geschichtsphilosophie eine „Mittelstellung“ zwischen empirischer Historiographie und philosophischer Ethik zuwies mit dem Ziel, Wertmaßstäbe zu gewinnen, die weder aus der Vergangenheit übernommen noch aus der Gegenwart in die Vergangenheit projiziert werden dürfen. Die angestrebte Vermittlung charakterisierte er als einen „Zirkel“, in dem sich die Bewertungen der Vergangenheit mit gegenwärtiger Orientierung verbinden.159 Wendet man die hermeneutische Methode auf die vorliegende Thematik an, dann zeigt sich einerseits, dass die gegenwärtige Krisenerfahrung die Sicht auf die Vergangenheit prägt. Wie die zitierten Gegenwartsdiagnosen belegen, werfen die heute erfahrenen Krisen ein neues Licht auf die vergangene Geschichte. Vor allem die ökologischen Probleme stellen die Erfolgsgeschichte der Modernisierung in Frage. Der historiographische Blick rich156 Droysen 1977, 423; Dilthey 1970, 267; Troeltsch 1977, 164 ff.; vgl. Schnädelbach 1974, 89 ff.;

Rüsen 1993, 226 ff.; Rohbeck 2004, 86 ff., 95 f.

157 Droysen 1977, 422; vgl. Danto 1974, Baumgartner 1973. 158 Dithey 1970, 93. 159 Troeltsch 1977, 164 ff.; ich schließe mich dieser Idee an, ohne der Zyklentheorie und Ge-

schichtsmetaphysik von Troeltsch zu folgen.

Zukunft in praktischer Perspektive

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tet sich zunehmend auf die Ursachen von Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung. Besondere Brisanz erhält dabei die noch zu erörternde Frage, in welchem Maße man aus gegenwärtiger Warte Menschen früherer Epochen ein absichtliches Verschulden und damit eine moralische Schuld an später eingetretenen Schäden zuschreiben kann. Dies ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie Bewertungen der Gegenwart in die Beurteilung früherer Ereignisse einfließen. Das gilt zum Beispiel auch für die Ideengeschichte der ökologischen Bewegung und für die Begriffsgeschichte des Nachhaltigkeitskonzeptes. Andererseits übt die Deutung des vergangenen Zivilisationsprozesses EinXuss auf das Bewusstsein der Gegenwart aus. In diesem Fall beanspruchen die referierten Geschichtserzählungen, die krisenhafte Situation der Gegenwart zu erklären, um praktisches Orientierungswissen für die Bewältigung der Krise bereitzustellen. Mit Bloch lässt sich zeigen, wie das nicht mehr ungeschehen zu machende Vergangene als etwas in die Gegenwart hineinragt, das den Möglichkeitsspielraum von Handlungen eröffnet und in diesem Sinne immer noch präsent ist. Das gilt auch für die Deutungen der aktuellen Situation, die von vergangenen Sinngebungen modifiziert werden. Im Kontext der Zukunftsethik wird sichtbar werden, wie sowohl Leistungen als auch Versäumnisse der Vergangenheit und ihre entsprechenden Interpretationen bei der Zuschreibung von Verantwortung in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft eine Rolle spielen. Insbesondere bei Umweltschäden, die eine lange Vorgeschichte haben, wird konkret darüber gestritten, welche Länder wie lange welche Schäden verursacht und in welchem Maße sie dafür Kompensation zu leisten haben. Überträgt man diese Verfahrensweise nun auf das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft, kann man auch im Hinblick auf zukünftige Zeiten von einem hermeneutischen Prozess sprechen. Wie die Auseinandersetzungen mit vergangenen Ereignissen im ständigen Wechsel zwischen gegenwärtigem Vorverständnis und wachsendem Verständnis für Vergangenes oszillieren, so gibt es einen vergleichbaren Zirkel im Fortgang der Deutung von Gegenwart und Zukunft,160 der wiederum nicht als leeres Rotieren, sondern als ein produktiver Verstehensprozess und als öffentlicher Dialog zu fassen ist. Folgt man dieser Erweiterung in die Zukunft, handelt es sich um zwei hermeneutische Zirkel, die sich analog zueinander verhalten und sich wechselseitig verschränken. Diese Analogie lässt sich mit Koselleck fortführen, der ja mit seinen Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, welche die hermeneutische Methode voraussetzen, ausdrücklich die Zukunftsperspektive ergänzt, indem er zeigt, dass sowohl die bereits gesammelten Erfahrungen mit der Vergangenheit die Erwartung an die Zukunft bestimmen, wie auch die Zukunftserwartungen die Interpretation der vergangenen Geschichte beeinflussen.161 Hier schlage ich jedoch eine Ergänzung zu Kosellecks Ansatz vor. Anstelle der 160 Von einem „Kreisgang“ zwischen Gegenwart und Zukunft spricht Grunwald, 2008, 316 ff. 161 Koselleck 1976, 349 ff., insbes. 356; ders. 2003, 249. – Koselleck behandelt zwar die wechselseitige

geistige Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft, thematisiert aber nicht eigens die Gegenwart. Natürlich gibt es keinen Zweifel darüber, dass er den Standpunkt der Gegenwart unterstellt, indem er ausdrücklich die „Präsenz“ beziehungsweise „Gegenwart“ in Vergangenheit und Zukunft wie auch die „gegenwärtige Gegenwart“ erwähnt. Auch der Begriff des Erfahrungsraums umfasst die

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Geschichte und Zukunft

beiden Pole Erfahrungsraum und Erwartungshorizont setze ich eine dreistellige Relation mit der zentralen und vermittelnden Position der Gegenwart. Eine solche Konstruktion erlaubt es, nicht nur das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit, sondern analog dazu auch zur Zukunft als hermeneutischen Zirkel zu konzipieren. Allerdings ist dabei ein wesentlicher Unterschied zu beachten. Während es im Rückbezug zur Vergangenheit primär um das Verstehen historischer Ereignisse geht, zielt die Antizipation zukünftiger Zustände auf das gegenwärtige Handeln. Betrachtet man nun einerseits die Wirkung der Gegenwart auf die Interpretation der Zukunft, ergeben sich folgende Analogien: Wie der Historiker es nicht unvermittelt mit vergangenen Ereignissen zu tun hat, so darf sich der Ethiker gleichfalls nicht direkt in die Zukunft zu versetzen, sondern sollte sich seines Standorts in der Gegenwart bewusst sein.162 Wie der Historiker die Vergangenheit aus den gegenwärtig vorhandenen Zeugnissen zu verstehen versucht, so muss der Ethiker sein Verhältnis zu den zukünftig lebenden Generationen erst noch zu deuten lernen, indem er etwa den zukünftig lebenden Menschen gleichwertige Interessen und Rechte zuschreibt. Wie Historiker über Deutungshoheiten streiten, so werden auch die Debatten über die Zukunft von den Konflikten in der Gegenwart bestimmt. Manchmal entsteht der Eindruck, es werde über den Umweg der Zukunftsdebatten im Grunde um gegenwärtige Interessen gestritten. Die Auseinandersetzungen über die gewünschte oder befürchtete Zukunft sind dann Spiegelbilder der gegenwärtigen Befindlichkeiten. Da mögen Kritiker spotten, dass man in Prognosen weniger über die Zukunft als über die Gegenwart erfahre. Um dieser präsentistischen Verengung zu begegnen, ist darauf zu achten, dass die Zukunft nicht etwa als verlängerte Gegenwart erscheint. Wie unter dem Stichwort „offene Geschichte“ noch zu erläutern sein wird, kommt es darauf an, trotz aller Kontinuität für die Zukunft einen kulturellen Wandel zu antizipieren, der auch andere und andersartige Bedürfnisse und Interessen der zukünftigen Generationen vorsieht. Ähnliches gilt andererseits für die Aussicht auf die Zukunft, aus deren Perspektive die Gegenwart eine besondere Bedeutung erlangt. Die erwähnten Katastrophenerzählungen wie auch die nüchterneren Zukunftsszenarien führen drastisch vor Augen, dass die Bilder von der Gegenwart wesentlich durch divergierende Erwartungen an die Zukunft geprägt werden. Häufig wird die Gegenwart als eine Zwischenzeit interpretiert, die so lange dauert, bis eine bestimmte Frist abgelaufen ist. Dabei zeigt sich ganz konkret, wie die gegenwärtige Situation angesichts von Prognosen beurteilt wird: als eine Zeit der Entwicklung, die zukünftig nur fortgesetzt zu werden brauche; als eine Zeit des Wohlstandes, der in Zukunft zu vermehren sei; als eine Zeit des Wandels oder Umbruchs, weil man für die Zukunft wesentlich Neues erwartet. Nicht selten wird die Gegenwart als eine Zeit des Verfalls verstanden, weil befürchtet wird, dass sich die Zivilisation selbst zerstört. So entsteht das Vergangenheit bis in die Gegenwart, d.h. bis in die so genannte Zeitgeschichte. Trotzdem bleibt der Verdacht bestehen, dass die in dieser Konzeption unthematisch gebliebene Gegenwart nur einen knapp bemessenen Umschlagplatz für Erfahrungen und Erwartungen bildet. 162 McTaggart 1993; Whitehead 1979; Picht 1992, 51; Seel 2001, 749; Bohrer 2001, 754, 766; Sturma 2006, 221 ff.; Grunwald 2008, 321 ff., 331; Rohbeck 2010, 195 ff, 226 ff.

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Bewusstsein einer historischen Zeit, in der die Gegenwart im Fluss von Veränderungen oder gar epochaler Umbrüche interpretiert wird. Diese Varianten demonstrieren, dass die Gegenwart ihren ‚Sinn‘ wesentlich von Projektionen in die Zukunft gewinnt. Aus diesem Grund spreche ich hier wiederum von einer spezifisch historischen Gegenwart. In diesen wechselseitigen Projektionen bildet die Unhintergehbarkeit der Gegenwart das Transzendental eines jeden Diskurses über die Zukunft und letztlich auch der Zukunftsethik. Ich bezeichne den Gegenwartsbezug als transzendental, um zu verdeutlichen, dass es sich hier um ein Prinzip handelt, das jenseits der Diskussionen um aktuelle Interessen Geltung beanspruchen kann. Es ist nicht zu verwechseln mit einer Parteinahme für gegenwärtige Interessen im Sinne einer „Zeitpräferenz“, die im vierten Kapitel kritisiert wird. Denn jede mögliche politische Option wird allein in der Gegenwart antizipiert, verhandelt und geplant. Ist die Perspektive der Gegenwart einmal anerkannt, eröffnet sich überhaupt erst das diskursive Feld, über eine Verantwortung für zukünftige Generationen zu streiten. Im Gegensatz zum oben kritisierten Präsentismus kann „Gegenwart“ auch bedeuten, dass die Interessen der später Lebenden jetzt schon beachtet werden. In diesem Sinn ist eine Verantwortung in der Gegenwart gefordert – mit Blick auf die Zukunft! Die praktische Absicht besteht also darin, an der Gegenwart als eigenständigem Handlungsraum festzuhalten. Zwar beschränken sich Personen nicht auf die Gegenwart, sondern weiten ihren Handlungsraum in die Zukunft aus und überschreiten damit die Gegenwart.163 Aber diese Horizonterweiterung kann man gleichermaßen als Ausdehnung der gelebten Gegenwart verstehen. Nur heute kann im Hinblick auf zukünftige Ereignisse gehandelt werden. Auch wenn die beabsichtigten Wirkungen in einer deutlich entfernten Zukunft liegen, ist das jeweils ethisch relevante Verhalten der Menschen in der Gegenwart angesiedelt. Vom Standpunkt der Gegenwart richtet sich der Blick in die Zukunft, aus deren Prognosen wiederum Entscheidungen für gegenwärtiges Handeln getroffen werden. Dabei ist die Gegenwart nicht nur die Zeit, in der gehandelt wird; vielmehr schafft sich die Praxis einen eigenen Handlungsraum, der dann als Gegenwart bezeichnet werden kann.164 Auf diese Weise wird die Gegenwart durch menschliches Handeln konstituiert. Nachdem die Notwendigkeit des gegenwärtigen Standpunkts begründet wurde, stellt sich nun die Aufgabe, den Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft herauszuarbeiten. Wenn die Indifferenz von Gegenwart und Zukunft zu einem Orientierungsverlust führt, folgt daraus, dass das Festhalten an einer von der Zukunft unterschiedenen Gegenwart unverzichtbar ist, um sich im Handeln und für das Handeln zu orientieren. Die Parteinahme für die Gegenwart mit Perspektive auf die Zukunft hat daher auch eine ethische Dimension. Denn die zukünftige Zeit wird als ein Zeitraum vorgestellt, der nach moralischen Maßstäben veränderbar ist. Letztlich bedeutet diese Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft, dass die Hoffnung auf eine bessere Zukunft noch nicht erloschen ist und damit die Vorstellung zukünftiger Zeit ein utopisches Moment enthält. 163 Sturma 1997, 70 ff. 164 Nassehi 2008, 11.

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Geschichte und Zukunft

Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft Um die Gegenwart als eigenständigen Handlungsraum zu begreifen, ist es erforderlich, sie als eine ausgedehnte Zeit zu verstehen. Die Gegenwart ist kein bloßer Augenblick in einem linearen und homogenen Kontinuum, sondern eine lebensweltlich erfahrbare Zeitspanne. Obwohl die Gegenwart nicht „endlos“ ist, erstreckt sie sich über eine bestimmte Dauer. Edmund Husserl erläutert dieses Phänomen am Beispiel einer Melodie, die nur erkennbar ist, wenn man deren Ausdehnung (Extension) wahrnimmt, d.h. wenn man die vorhergehenden Töne vergegenwärtigt (Retention) und gleichzeitig die folgenden Töne antizipiert (Protention).165 In diesem Sinn ist die Gegenwart als erfüllte Dauer vorzustellen. Vor allem Dilthey hat diese Reflexion über Zeitlichkeit explizit auf die Zeit der Geschichte übertragen. Er bezeichnet die kleinste Einheit historischer Erfahrung und Bedeutung als „Erlebnis“, das er in einen zeitlichen Zusammenhang stellt.166 Das Erlebnis ist eingebunden in einen „Lebensverlauf“, zu dem die Verhältnisse von Gleichzeitigkeit, Aufeinanderfolge, Zeitabstand und Veränderung gehören. Darin wird die Zeit als das rastlose Vorrücken der Gegenwart erfahren, in welchem das Gegenwärtige immerfort Vergangenheit wird und das Zukünftige Gegenwart. Obwohl die Gegenwart dabei mehr wie ein Moment als eine Dauer erscheint, darf man sie sich ebenfalls als ausgedehnte Zeit vorstellen. Doch betrifft der Umfang der Gegenwart nicht allein Wahrnehmung und Erleben, sondern wesentlich auch das Handeln der Menschen. Weil jede Handlung eine Weile ‚braucht‘, ist sie nur in einer erstreckten Zeit möglich, die zwischen ihrem Anfang und Ende verstreicht. Dazwischen liegt eine Folge von mehreren Akten mit den Elementen antizipierender Zwecksetzung, Durchführung und Resultat. Dabei werden Handlungen sowohl ausgeübt als auch gedeutet. Demnach hat ein Handelnder eine bestimmte Vorstellung darüber, woraus seine Handlung besteht und wie lange sie üblicherweise dauert. Folgt man dem Beispiel „Rosen pflanzen“ des Geschichtstheoretikers Arthur C. Danto, setzt sich diese Handlung aus den Akten Grube ausheben, Rosenstock einsetzen, mit Erde zudecken zusammen, wobei die ganze Aktionsreihe innerhalb einer bestimmten Zeitspanne ein „Projekt“ bildet.167 Wird ein solches Vorhaben sprachlich vermittelt, liegt eine Erzählung vor, die festlegt, wann eine Handlung beginnt und endet. In diesem Kontext lassen sich überdies die in der phänomenologisch orientierten Geschichtstheorie entwickelten Kategorien auf die Zukunft übertragen.168 Wie in der vergangenen Geschichte zwischen einer „kurzen“, „mittleren“ und „langen Dauer“ unter165 Husserl, Gesammelte Werke, Bd. 10, 3 ff.; vgl. Picht 1992, 154 ff.; Sturma 1997, 63 ff. ; Gaede,

Peres 1997, 23 ff.; Picht 1992, 255; Nassehi 2008, 62 ff.; Wellmer 2008, 448; siehe auch „Unsere breite Gegenwart“ bei Gumbrecht 2011, 52. 166 Dilthey 1977, 237 ff.; vgl. Hartog 2003, 216 f. 167 Danto 1974, 257 ff.; vgl. Ricœur 1988, Bd. 1, 87 ff 2008, 159 f. 168 Braudel 1992, 49 ff.; vgl. Wallerstein 1995, 195 ff.; Koselleck 2003, 287 ff.; dabei ist der Plural der historischen Zeiten mit der Narration besonders gut vereinbar: Müller-Funk 2002, 67.

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schieden wird, so können auch für die Zukunft unterschiedliche Zeiträume prognostiziert werden, die von unterschiedlichen Handlungsfeldern mit ihren je besonderen Gegenständen präjudiziert werden. „Kurze“ Zeiten von wenigen Jahren liegen meist bei ökonomischen und politischen Prognosen vor, insbesondere dann, wenn sie sich auf konjunkturelle Schwankungen und Finanzplanungen beziehen. Von „mittleren“ Zeiten kann gesprochen werden bei Vorhersagen über Bevölkerungswachstum, Ressourcen und Klimawandel. Bei der Endlagerung von Atommüll kommen extrem „lange“ Zeiten ins Spiel. Auf analoge Weise lässt sich eine „kurze“, „mittlere“ und „lange“ Gegenwart spezifizieren. Wird die Gegenwart als bestimmte Dauer verstanden, stellt sich die Frage nach der Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft. Formal betrachtet, verhalten sich Gegenwart und Zukunft komplementär zueinander: Je länger die Gegenwart dauert, desto später beginnt die Zukunft; je kürzer die Gegenwart ist, desto früher setzt die Zukunft ein. Wie gezeigt, bestehen die Extreme in einer sich endlos erstreckenden Gegenwart und in einer bereits in der Gegenwart begonnenen Zukunft. Doch das konkrete Verhältnis liegt dazwischen. Bloch sprach in diesem Zusammenhang von der prozessuralen „Front“,169 welche den Übergang von der Gegenwart in die Zukunft markiert. Doch wo verläuft diese Grenze in der Geschichte? Wann endet die Gegenwart und wann beginnt die Zukunft? Um die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft zu bestimmen, eignet sich der Begriff der Frist, den ich von Günter Anders übernehme und gleichzeitig modifiziere.170 Nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es nicht mehr die Frist, bis die Katastrophe eintritt oder verhindert werden kann, vielmehr zeigen sich mehrere Fristen, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich zuordnen lassen. Es ergeben sich zahlreiche Termine oder tödliche Markierungen (deadlines im wahrsten Sinne des Wortes), die nicht überschritten werden dürfen. Nach der „Entfristung“ der Geschichte gibt es nun neue spezifisch historische Befristungen. Sofern diese Fristen historische Zeiten bezeichnen, nenne ich sie historische Fristen. Im Unterschied zu Anders schließe ich mich den Vertretern einer „Rettung in der Gefahr“ an, um verantwortungsvolles Handeln wenigstens nicht auszuschließen. Unter dieser Voraussetzung ändert sich der Begriff der Frist grundsätzlich; jetzt bedeutet er die Frist einer Handlung, die erfolgen muss, um einen befürchteten Schaden abzuwehren oder einen gewünschten Zustand zu erhalten oder zu schaffen. Mit der Wende von der Endzeitstimmung zur rettenden Aktion wird die Frist radikal in die erstreckte Gegenwart vorverlegt. „Frist“ ist dann die Zeitspanne mit einem Anfang und einem Ende beziehungsweise Termin, bis zu dem auf einem bestimmten Aktionsfeld zu handeln ist. Sie umfasst einen Handlungsraum, innerhalb dessen Eingriffe noch möglich sind. Auf diese Weise wird die Dauer der jeweiligen Gegenwart durch die zugehörige Frist definiert. Letztere markiert damit die pragmatische Grenze zwischen dem Zeitraum der Handlung und der darauf folgenden Zukunft. Die Tatsache, dass der Beginn der Zukunft wie auch die Dauer der Gegenwart unterschiedlich ausfallen können, hat zur Konsequenz, dass sich Generalisierungen wie die 169 Bloch 1985, Bd. 1, 143, 225, 230, 285. 170 Anders 1986, 170, 203; Sloterdijk 1989, 271 ff.

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Geschichte und Zukunft

erstreckte Gegenwart oder die begonnene Zukunft relativieren. Daraus folgt wiederum, dass die Rede von Gegenwart und Zukunft zu differenzieren ist. Passt man nämlich die SchnittstellenzwischenGegenwartundZukunftdenkonkretenHandlungszusammenhängen an, ergibt sich eine Vielzahl von Grenzen zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Zeiten. Wenn oben gefordert wurde, dass von der Zukunft nur noch im Plural gesprochen werden dürfe, lässt sich nun auch die Gegenwart pluralisieren. Wie man mehrere Zukünfte vorstellt, so kann man mehrere einander korrespondierende Gegenwarten konzipieren. Gleichwohl halte ich am Singular Gegenwart fest, damit die diversen Fristen des Handelns in der Analyse nicht auseinanderdriften, sondern im Zusammenhang untersucht werden können. Um diesen Widerspruch terminologisch auszudrücken, unterscheide ich zwischen zwei Gegenwartsbegriffen. Die pragmatischen Gegenwarten werden von den vielen und verschiedenartigen Handlungsfeldern geprägt, die ihre je spezifische Dauer und ihren besonderen Rhythmus haben. Davon hebt sich die eine historische Gegenwart ab, welche in einem jeweils gegenwärtigen historischen Bewusstsein besteht, das auf die Kontinuität der verschiedenen Verläufe achtet und das Ganze im Blick behält. Diese Gegenwart im Singular stellt den gemeinsamen geschichtlichen Horizont dar, innerhalb dessen die mannigfachen und alternativen Möglichkeiten des Handelns gewählt und realisiert werden. Eine derartige Synthese ist nicht zuletzt ein praktisches Gebot, damit die vielfach beschworenen Krisen im Kontext betrachtet und in einer übergreifenden Kooperation bewältigt werden können. Eine solche Diskrepanz zwischen Plural und Singular gilt gleichermaßen für die Zukunft. Wenn das „Ende der Zukunft“ mit deren Zersplitterung begründet wurde, so bedarf es auch hier im Geiste der Geschichtsphilosophie wieder eines Begriffs der Zukunft im Singular, um die Kohärenz der Zukunftsentwürfe nicht aus den Augen zu verlieren. Gegenüber dem ethisch und politisch bedenklichen Zukunftsverlust plädiere ich für eine Re-Politisierung der Zukunft. Schließlich folgt aus diesen Verallgemeinerungen eine Rehabilitierung des Kollektivsingulars Geschichte. Ein solcher Allgemeinbergriff bedeutet einen übergreifenden Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der auf die beschriebene hermeneutische Weise bewusst gemacht werden kann. Sachlich setzt er die Idee der Kontinuität in der Geschichte voraus, die auf einem Konzept der intergenerationellen Kooperation beruht und im sechsten Kapitel erläutert wird. Von der bisherigen Analyse historischer Zeiten im wechselseitigen Verhältnis der Gegenwart zurVergangenheit und Zukunft ist nun eine Brücke zur folgenden Erörterung geschichtsphilosophischer Probleme der Langzeitverantwortung zu schlagen. Insbesondere wird im fünften Kapitel das Konzept der Frist weiter systematisiert und anhand exemplarischer Handlungsfelder konkretisiert.

Zweiter Teil Ethik und Geschichte

Der Titel dieses Teils bedarf einer kurzen Erläuterung. Nicht gemeint ist die Geschichte der Ethik, also die Geschichte ethischer Theorien etwa von Aristoteles, Kant, Mill usw. bis in die heutige Gegenwart. Ebenso wenig ist eine Untersuchung bestimmter Ethiken beabsichtigt, in denen die geschichtliche Veränderung von Werten und Normen oder das Verhältnis von zeitloser Geltung und historischer Bedingtheit reflektiert werden. Das Thema ist hingegen eine Ethik, welche den Zeithorizont nicht nur bis in die ferne Zukunft erweitert, sondern diesen erweiterten Zeitraum ausdrücklich als Geschichte versteht. Während in der bisherigen Untersuchung die Zukunft als historische Zeit ausgearbeitet wurde, sollen die darauf aufbauenden Überlegungen dazu beitragen, die Probleme einer Ethik der Zukunft auf spezifisch geschichtsphilosophische Weise zu lösen. Tatsächlich geht es im Folgenden um das Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik. Damit stellen sich zwei Aufgaben. In einem ersten Schritt (viertes Kapitel) gilt es, den Begriff der Zukunftsethik zu klären, der nicht so evident ist, wie er erscheint. Wenn sich nämlich jede ethische Reflexion prinzipiell auf ein Handeln bezieht, das auf Zukunft ausgerichtet ist, scheint der Vorwurf nicht unberechtigt zu sein, dass es keiner eigenen Zukunftsethik mehr bedürfe. Deren Existenzrecht lässt sich daher nur begründen, wenn zeitliche Grenzen angegeben werden, welche die Unterscheidung zwischen einer ‚nahen‘, ‚ferneren‘ und ‚fernen‘ Zukunft erlauben. Die Zukunftsethik kann dann so definiert werden, dass sie den üblichen Nahbereich überschreitet und sich spezifischen und neuartigen Problemen widmet, die sich aus jener Grenzüberschreitung ergeben. Bei der Thematisierung dieser Zeitverhältnisse sollen die geschichtsphilosophischen Ausführungen des ersten Teils herangezogen werden. Wird nun der Geltungsbereich der Ethik bis in die ferne Zukunft erweitert, stellt sich das Problem der Reichweite der Langzeitverantwortung. Der Universalismus in der Zukunftsethik legt es nahe, eine unbegrenzte Verantwortung für alle Menschen aller Zeiten und Räume zu postulieren. Doch wie berechtigt dieses universalistische Postulat auch sein mag, so fragwürdig ist die Schlussfolgerung, dass in der Zuschreibung von Verantwortung keine zeitlichen Präferenzen erlaubt sein dürfen. Da ich den Schluss vom ethischen Universalismus zu einem temporalen Neutralismus nicht für zwingend halte, versuche ich, die Langzeitverantwortung räumlich und zeitlich zu staffeln. Weil ich ferner die häufig vorgeschlagene ‚mittlere‘ Reichweite oder die Grenze der drei Generationen, die gleichzeitig zusammenleben, für unzureichend halte, beabsichtige ich, die Zeiträume

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Ethik und Geschichte

der Verantwortung konkret nach den verschiedenen Handlungsfeldern mit ihren je besonderen zeitlichen und geschichtlichen Strukturen zu differenzieren. Nach dieser Kritik stellt sich im zweiten Schritt (fünftes Kapitel) die Aufgabe, die Problematik der Reichweite von Verantwortungen systematisch auszuarbeiten. Im Anschluss an die Ergebnisse des dritten Kapitels, in dem das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft wie auch die Gegenwart als ausgedehnter Handlungsraum erörtert wurden, knüpfe ich speziell an den dort entwickelten Begriff der Frist an, indem ich jetzt die „Fristen gegenwärtiger Verantwortung“ bestimme. Während angesichts der Gefahr eines Atomkriegs noch das „Ende“ der Geschichte und angesichts des Klimawandels eine einzige Katastrophe befürchtet wurden, ist es heute sinnvoll, zwischen mehreren Fristen zu unterscheiden, die sich sowohl zeitlich als auch räumlich zuordnen lassen. Einen spezifisch historischen Charakter haben diese Fristen, weil sie Sinnentwürfe des Handelns darstellen, die innerhalb geschichtlicher Zeithorizonte interpretiert werden. Was zuvor noch ganz allgemein über die historische Bedeutung der Gegenwart in Bezug auf die Zukunft ausgeführt wurde, soll nun mit Hilfe einer Differenzierung von Fristen konkretisiert werden. Sofern es zutrifft, dass ein verantwortlicher Umgang mit Zeiträumen gar nicht anders als mit Hilfe von Fristen möglich ist, trägt deren geschichtliche Reflexion zur Handlungsorientierung bei. Den Fristen der Verantwortung, die dazu dienen, die Geschichte offen zu halten, entspricht das geschichtsphilosophische Prinzip der Offenheit der Zukunft. Unter der Voraussetzung, dass Autonomie generell wünschenswert ist, lässt sich daraus das moralische Gebot ableiten, dass den zukünftigen Generationen eine Veränderung ihrer Lebensweise nicht nur zugestanden, sondern durch gezielte Maßnahmen auch freigestellt werden soll. Die Ermöglichung des kulturellen Wandels ist als moralische Pflicht zu formulieren, die das Selbstbestimmungsrecht einer jeden Generation anerkennt. Das entspricht der heute anerkannten Forderung, den später lebenden Menschen prinzipiell Wahlfreiheit einzuräumen. Allerdings halte ich das Offenheits-Prinzip dann für problematisch, wenn es mit Beliebigkeit verwechselt wird. Will man zukünftige Schäden vermeiden, darf ja nicht alles möglich sein. Deshalb plädiere ich für eine Modifikation, die zugleich Einschränkungen und Ausschlüsse vorsieht. Die Offenheit ist entschieden zu begrenzen, um bestimmte Möglichkeitsbedingungen sicherzustellen. Aus diesen Gründen halte ich eine bedingte Offenheit für angemessen. Betrachtet man die Gegenwart verantwortlichen Handelns im historischen Gesamtzusammenhang, so gehört zur Zukunftsperspektive wesentlich die Reflexion auf die Vergangenheit. Daraus folgt konkret, bei Fragen der Gerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen ausdrücklich auch vergangene Ereignisse in Rechnung zustellen. Denn ohne den Rückbezug zur Vergangenheit kann es keinen Begriff von Zukunft geben. Das gilt nicht nur für die formale Definition, sondern vor allem für die inhaltliche Bestimmung von Zukunft, die ein historisches Bewusstsein unverzichtbar macht. Mit dieser Auffassung unterscheide ich mich von denjenigen Zukunftsethiken, in denen Prinzipien aufgestellt werden, welche vergangene Ereignisse unberücksichtigt lassen. Wenn ganz allgemein die Aussage zutrifft, dass Handlungen der Gegenwart in zukünftiger Perspektive von der Vergangenheit geprägt werden, dann stellt sich hier die konkrete

Ethiken der Zukunft

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Frage nach der Verursachung und Kompensation von Schäden wie auch nach der dabei zu rekonstruierenden historischen Schuld. In diesem Kontext bedeutet die korrektive oder kompensatorische Gerechtigkeit, wie noch zu erläutern sein wird, eine historische Gerechtigkeit, die sich auf schädigende Handlungen bezieht, die in der Vergangenheit begangen wurden und bis in die Gegenwart und möglicherweise in die Zukunft wirksam sind. Im sechsten Kapitel setze ich meinen Versuch einer systematischen Begründung der Zukunftsethik mit Hilfe der Geschichtsphilosophie fort. Während ich mich zuvor innerhalb der Zeitreihe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewege, betrachte ich diese historischen Zeiten gewissermaßen von außen. Dabei gehe ich von den impliziten Geschichtsmodellen zu bestimmten Theoremen des Geschichtlichen über. Dazu gehören das Prinzip historischer Kontinuität, die ich als intergenerationelle Kooperation deute, der Begriff der Kontingenz, mit der auch in zukünftigen Prozessen zu rechnen ist, und das Konzept historischer Kohärenz, bei der es um die diachrone Verträglichkeit divergierender Ziele in geschichtlichen Entwicklungen geht. Letztlich versuche ich, die bisher getrennten Diskurse über „historische Gerechtigkeit“, die sich auf Ereignisse der Vergangenheit bezieht, und „intergenerationelle Gerechtigkeit“, welche die Verantwortung für zukünftige Generationen betrifft, zu einem integrativen Begriff historischer Gerechtigkeit zusammenzuführen, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Sofern Probleme der globalen Gerechtigkeit und insbesondere deren historische Dimension eine Rolle spielen, spreche ich von weltgeschichtlicher Gerechtigkeit. Dabei geht es nicht nur um die Frage, in welchem Maße vergangene Versäumnisse zur Kompensation zugunsten zukünftig lebender Menschen berücksichtigt werden sollen, sondern noch grundsätzlicher um das Problem, ob weniger entwickelte Länder das Recht beanspruchen dürfen, eine Entwicklung „nachzuholen“, die von den Industrieländern schon längst vollzogen wurde. Damit stehen der umstrittene Begriff der „nachholenden Entwicklung“ und das modifizierte Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ zur Diskussion. Gesteht man den so genannten Entwicklungsländern oder Schwellenländern ein solches Recht auf Entwicklung zu, folgt daraus die Aufgabe, unterschiedliche Niveaus der Entwicklung auszugleichen, mithin die Aufgabe der Angleichung diverser Zivilisationsstufen. Setzt man hier die Kategorie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen voraus, resultiert daraus das Programm einer Synchronisation des Ungleichzeitigen. Diese Konzeptionen, die ganz offensichtlich bestimmte historische Bewusstseinsformen voraussetzen, werde ich auf geschichtsphilosophische Weise zu begründen versuchen. Sie verweisen auf den Begriff der Generation und das Modell der Erbschaft, das ich im dritten Teil entfalten werde.

4. Ethiken der Zukunft Seit ein paar Jahrzehnten haben Ethiken der Zukunft Konjunktur. In ihnen werden Fragen nach der moralischen Verantwortung für zeitlich nahestehende oder entfernte Generationen gestellt. Wie wir sahen, spielen dabei Zeitverhältnisse eine wichtige Rolle – nicht nur das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überhaupt, sondern auch speziell

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die ins Auge gefassten Zeiten, hinsichtlich derer Verantwortung übernommen werden soll. Doch in den aktuellen Debatten über das Problem der Langzeitverantwortung wird der Zusammenhang von Ethik und Zeit wenig berücksichtigt. Daher werde ich zunächst die mehr oder weniger impliziten temporalen Strukturen in diesen Diskursen analysieren, wobei ich die Ablehnung einer jeden „Zeitpräferenz“ und damit die Forderung nach ethischer „Zeitneutralität“ kritisiere. Die tiefer liegende Kritik besteht jedoch darin, dass sich die Zukunftsethiken auf die Analyse formaler Zeitstrukturen beschränken, indem sie lediglich ‚vorher‘ und ‚nachher‘ oder zwischen ‚nahen‘, ‚ferneren‘ und ‚fernen‘ Zeiten unterscheiden. Wie in den vorausgegangenen Kapiteln ausgeführt, sind diese Zeiten jedoch nicht allein formal bestimmt, sondern darüber hinaus wesentlich als historische Zeiten zu verstehen. Allein die Rede vom Kollektivsingular Zukunft setzt das moderne Geschichtsbewusstsein voraus. Ebenso wird das Bewusstsein der Gegenwart von den Erfahrungen mit der Vergangenheit und den Erwartungen an die Zukunft wechselseitig geprägt. Dahinter steht ein pragmatisches Verständnis von Geschichte, deren Zeiten inhaltlich nach unterschiedlichen Handlungsräumen zu unterscheiden sind. Mit meiner Konzeption historischer Fristen werde ich diesen Zusammenhang systematisch ausführen. Das historische Bewusstsein kommt ebenfalls bei der Erörterung der Maßstäbe moralischer Verantwortung zum Tragen. Wenn in den Ethiken der Zukunft gefragt wird, ob es den zukünftigen Generationen ‚besser‘ gehen soll, ob ‚gleiche‘ Lebensbedingungen anzustreben sind oder ob später lebenden Menschen möglicherweise auch ‚schlechtere‘ Voraussetzungen zugemutet werden dürfen, handelt es sich offensichtlich um historische Vergleiche, bei denen die Modelle Fortschritt, Stagnation und Niedergang ins Spiel gebracht werden. Dabei geht es nicht nur um chronologische, sondern explizit um historische Dimensionen, die auf die folgende geschichtsphilosophische Analyse verweisen.

Zum Begriff der Zukunftsethik Auf einer elementaren Ebene operieren die Theoretiker der Langzeitverantwortung mit der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wobei die Perspektive auf die Zukunft als das wesentlich Neue der gegenwärtigen Ethik angesehen wird.1 Gegen diese Alleinstellung kann eingewendet werden, jede Ethik sei immer schon auf zukünftiges Handeln ausgerichtet und besitze daher nicht nur eine synchrone, sondern auch eine diachrone Ebene. Die ethische Reflexion ist insofern auf Zukunft angelegt, als sie vor den jeweiligen Entscheidungen stattfindet und über deren Folgen im Vorhinein nachdenkt. Daraus lässt sich schließen, es sei überhaupt keine „neue“ Disziplin erforderlich.2 An dieser Argumentation ist erkennbar, dass die Konzeption 1 2

Jonas 1979, 27 f., 64; Birnbacher 1988, 15; Hubig 2000, 296 f.; Leist 2005, 453; Sturma 2006, 227; Grunwald 2008, 86. Birnbacher 1988, 15, 92-98; vgl. Lenk 1992, 7; Gethmann 1993, 4; Höffe 1993, 179 f.; Caspar 2001, 74; Hirsch Hadorn 2003, 272; Grunwald 2008, 315.

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einer Zukunftsethik nur dann sinnvoll ist, wenn der entsprechende Zeitraum näher definiert wird. Den Auftakt zu einer expliziten Ethik der Zukunft gibt bekanntlich Jonas mit Das Prinzip Verantwortung, indem er die „Zeitlichkeit“ der Ethik reflektiert. Seiner Auffassung nach war die Ethik bisher auf die „Gegenwart“ fixiert. Doch wegen der „Fernwirkungen“ moderner Technologien, die der moralischen Verantwortung eine größere „Reichweite in die Zukunft“ abverlangt, sieht er seine Aufgabe darin, den Zeitraum der Verantwortung radikal in die Zukunft zu verlängern, so dass er innerhalb des „Horizonts der Zukunft“ noch einmal zwischen „Nah- und Fernhorizont“ unterscheidet.3 Entsprechend versteht er unter einer „Zukunftsethik“, die er übrigens noch in Anführungszeichen setzt, eine Ethik der Verantwortung, die ausdrücklich in die „ferne Zukunft“ reicht und dort ihr primäres Betätigungsfeld hat. Auf ähnliche Weise unterscheidet Birnbacher zwischen der Verantwortung für Vergangenes (ex-post-Verantwortung), in der Rechenschaft über die Erfüllung oder Nichterfüllung von Handlungs- und Unterlassungspflichten in der Vergangenheit abgelegt wird, und der Verantwortung für Zukünftiges (ex-ante-Verantwortung), in der man sich für die Erfüllung bestimmter Pflichten allererst rechenschaftspflichtig macht.4 Bei der in die Zukunft gerichteten Verantwortung unterscheidet er noch einmal zwischen einer „ex-ante-Verantwortung“, die sich auf Ereignisse in naher Zukunft bezieht, einer „Zukunftsverantwortung“, die Ereignisse in entfernterer Zukunft betrifft und nur eine graduelle Steigerung ist, sowie einer „Langzeitverantwortung“, die auf Ereignisse in ferner Zukunft zielt. Im letzten Fall handelt es sich um eine qualitative Grenzüberschreitung, weil ein ‚realer‘ Kontakt zu den Adressaten verantwortlichen Handelns nicht möglich ist. So hat sich in der Ethik der Zukunft die Unterscheidung zwischen einer „nahen“, „ferneren“ und „fernen“ Zukunft eingebürgert.5 Während sich die traditionelle Ethik aus dieser Sicht auf die „nahe“ Zukunft beschränkte, geht die Zukunftsethik im engeren Sinn auf „fernere“ und „ferne“ Zeiträume ein. Auf diese Weise werden die „zeitliche Eingriffstiefe“ und damit die temporale Reichweite markiert. Die Ethik der „nahen“ Zukunft heißt demnach „Ethik der Präsenz“ oder „Präsenzethik“, die Ethik der „ferneren“ und „fernen“ Zukunft entsprechend „Fernethik“, die nun als die eigentlich „neue Ethik“ gilt.6 Bei diesen Definitionen zeigt sich, dass die Grenzen zur Zukunft nur pragmatisch bestimmt werden können, indem bestimmte Handlungsfelder anzugeben sind. Umso mehr gilt das für eine Ethik der „ferneren“ und „fernen“ Zukunft, deren Geltungsbereich von bestimmten Aktionstypen definiert wird. Wenn der Anlass für die zeitliche Erweiterung der Ethik in der Reichweite technischen Handelns liegt, so sind genau diese Handlungsräume 3

4 5 6

Jonas 1979, 9, 23, 25, 39, 64, 84, 198 f., 215, 220; auf die metaphysische Begründung für die Fortexistenz der Menschheit gehe ich in diesem Zusammenhang nicht ein. – Vgl. Böhler (Hg.) 1994; Gronke 1994, 407 ff; Wiese, Jacobson (Hg.) 2003; Seidel (Hg.) 2007; Schnell 2007, 225 ff.; Müller 2008; Böhler 2009, 11 ff., 102 f. Birnbacher 1988, 23 f. Jonas 1979, 215; Birnbacher 1988, 24 f., 156. Birnbacher 2003, 81; Heubach 2008, 13 f., 134 f.; besonders betont wird die temporale Dimension der intergenerationellen Gerechtigkeit von Veith 2006, 12, 153 ff.

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für die Staffelung der Zukunft maßgebend. Aus diesen Gründen reicht eine formale Einteilung zukünftiger Zeiten nicht aus. Anstelle dieses temporalen Formalismus werde ich versuchen, mit Hilfe von inhaltlich bestimmten Fristen eine Struktur historischer Zeiten zu entwickeln.

Zeitstrukturen in ethischen Diskursen Die radikale Erweiterung des Zeithorizonts führt noch zu einer anderen Thematik, die mit dem üblichen Universalismus in der Zukunftsethik zusammenhängt. Obwohl Jonas erkennt, dass jede Verantwortung „Zeit- und Raumhorizonte“ habe, postuliert er eine „totale Verantwortung“, die für die gesamte zukünftige „Menschheit“ gelten soll. Aus dieser Generalisierung zieht er die zeittheoretisch und geschichtsphilosophisch problematische Schlussfolgerung einer „fiktiven Gleichzeitigkeit mit den später Lebenden“. Auf diese Weise schlägt die „Zukunftsverantwortung“ in eine „Gleichzeitigkeitsethik“ um.7 Letztlich werden damit Zeit und Zeitlichkeit so universalisiert, dass sie unbestimmt bleiben. Eine verwandte Position lässt sich in der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls beobachten, der die Metapher „Schleier des Unwissens“ so modifiziert, dass sie das Unwissen über die zeitliche Abstammung der Beteiligten einschließt.8 Aus der Forderung, dass die Stellung in der Zeit kein vernünftiger Grund für eine stärkere oder schwächere Gewichtung von Interessen und Rechten sein könne, zieht er den Schluss, dass keine „Zeitpräferenz“ zugelassen werden dürfe.9 Dieser Kritik an der Privilegierung gegenwärtiger Interessen schließen sich die meisten Ethiker an, indem sie eine „Zeitpräferenz“ verwerfen, welche die praktische Präferenz der Gegenwart favorisiert.10 Aus der Feststellung, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, gleichgültig, in welcher Zeit sie leben, schließen sie auf eine Gleichwertigkeit der Verantwortung für alle Zeiten. So entsteht der Eindruck, als ob alle gegenwärtig lebenden Menschen die Verantwortung für alle Menschen zukünftiger Generationen übernehmen sollen. Diesem Prinzip entspricht eine „diachrone Grundnorm“, die besagt, dass die zeitliche Positionierung von Personen oder sozialen Gefügen keinen Vorrang bedeuten dürfe.11 Wie der Ethiker in der Gegenwart einen unparteilichen Standpunkt einzunehmen beansprucht, so werden im Verhältnis der Zeiten eine „Äquidistanz“ zu allen Betroffenen 7 Jonas 1979, 9, 89-91, 245. 8 Rawls 1979, 319 ff.; vgl. Laslett 1992, 24 ff.; Heubach 2008, 136 ff.; zur Vertragskonstruktion von

Rawls siehe den Abschnitt „Dialog, Vertrag, Fürsorge“ im neunten Kapitel.

9 Ebd., 327 ff.; vgl. Birnbacher 1988, 87 f.; Veith 2006, 127 f. 10 Birnbacher unterscheidet zwischen einer „reinen Zeitpräferenz“ und einer „Präferenz für Ge-

genwartspräferenzen“, 1988, 29, 35; vgl. Birnbacher 2001, 124; ders., 2008, 24.; kritisch zu Birnbacher Gethmann, Kamp 2001, 147; vgl. Caspar 2001, 73 ff.; Leist 2005, 465 f.; Sturma 2006, 221 ff. 11 Heubach 2008, 44; nach Heubach auch bestimmte Teile dieses Referats der Positionen; vgl. Veith 2006, 161.

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und damit eine „chronologische Unparteilichkeit“ gefordert. In diesem Sinn soll die neue Ethik „zeitneutral“ sein.12 Wer den Standpunkt der Gegenwart einnimmt, wird verdächtigt, die gegenwärtigen Interessen auf Kosten zukünftiger Ansprüche zu favorisieren. In der radikalen Variante tritt ein solcher Präsentismus im wirtschaftsliberalen Gewand auf. Er gipfelt in der Behauptung, der Markt regle alle Probleme von selbst; deshalb brauche man sich um die Zukunft keine eigene Sorge zu machen.13 Dieser Ansatz läuft auf eine Präferenz der Interessen gegenwärtiger Generationen hinaus.14 Die gemäßigte Position besteht darin, auf die Schwierigkeit aufmerksam zu machen, die eintritt, wenn im Zuge der Zukunftsethik die Gegenwart übergangen wird. Bilden hingegen die gegenwärtig lebenden Personen mit ihren kontrovers geführten Diskursen den Ausgang, können für überzogen gehaltene Zumutungen zurückgewiesen werden. Der Primat der Gegenwart bedeutet in diesem Fall, von der gegenwärtigen Lebenswelt ein möglichst realistisches Verhältnis zu den später lebenden Generationen aufzubauen.15 Die Kritik an jeder Art „Zeitpräferenz“ richtet sich indessen gegen die so genannte Diskontierung, mit deren Hilfe Ökonomen Güter abwerten, die erst später zur Verfügung stehen.16 Dagegen wehren sich die Ethiker mit dem Argument, dass sich zwar Geld und Waren diskontieren lassen, aber nicht elementare Lebensbedingungen wie Luft und Wasser, die in der Umweltethik die entscheidende Rolle spielen. Für gleichermaßen unmoralisch halten sie es, die Bedürfnisse und Interessen zukünftiger Menschen zu „diskontieren“, d.h. sie geringer zu bewerten als die Interessen der gegenwärtig Lebenden. Nach ethischer Auffassung verstößt die Diskontierung gegen den Grundsatz der Nachhaltigkeit, weil damit Erträge früher ausgebeutet, Kosten in die Zukunft verlagert und zukünftigen Generationen aufgebürdet würden. Außerdem widerspricht die Diskontierung dem ethischen Prinzip der Unparteilichkeit, die für alle lebenden und zukünftigen Generationen zu gelten habe. Doch lohnt es sich, die ökonomische Theorie der Diskontierung noch etwas genauer zu betrachten, um ihre zeittheoretischen und historischen Implikationen zu analysieren. Denn Ökonomen diskontieren nicht etwa Bedürfnisse, Interessen oder Rechte von Menschen, sondern den Wert von Geld, der sich wegen des positiven Zinses mit der Zeit verringert, und den Wert von produzierten Gütern, der infolge steigender Produktivität und wachsenden Reichtums sinkt.17 Die von den Ethikern behauptete Übertragung vom Geldwert auf die Wohlfahrt von Menschen findet also gar nicht statt, so dass die Einwände ins Leere gehen. 12 Grätzel 2004, 58 f.; Ekardt 2005, 59, 83; Veith 2006, 156; Heubach 2008, 131; Grunwald 2008,

330.

13 Beckerman 2004, 1 ff.; Beckerman 2006, 53 ff.; vgl. Heubach 2008, 107 ff. 14 Wenn es etwa heißt, „der Augenblick ist der temporale Ort der Erfüllung von Selbstinteresse“,

Sturma 2006, 221 ff.; vgl. Caspar 2001, 100.

15 Weikard 1999, 129 f.; Hartog 2003, 214; Meyer 2008, 11 ff.; Heubach 2008, 91 ff. 16 Parfit 1984, 480 ff.; Cowen, Parfit 1992, 144 ff.; vgl. Basler 1973, 64 f.; Birnbacher 2001, 117 ff.;

Gethmann, Kamp 2001, 147 f.; Cansier 2008, 58 ff.; Gesang 2011, 135 f.

17 Birnbacher 1988, 89 f.; Weikard 1999, 30 ff.; Birnbacher 2003, 97; Veith 2006, 90.

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Daher scheint es mir ergiebiger zu sein, die immanenten Probleme der Diskontierungstheorie offen zu legen. Eine problematische Voraussetzung besteht darin, dass implizit nicht nur von einer fortschreitenden Technik, sondern auch von einem ungebremsten Wirtschaftswachstum ausgegangen wird. Die Theorie unterstellt nämlich, dass Güter nicht nur effizienter und damit billiger hergestellt werden, sondern dass ein einzelnes Gut einen relativ geringeren Wert hat, weil insgesamt mehr Güter zur Verfügung stehen. Diese Annahme entfällt und verkehrt sich sogar ins Gegenteil, wenn sich das wirtschaftliche Wachstum verringert oder sich die ökonomische Situation sogar verschlechtert. Außerdem werden die natürlichen Ressourcen in Zukunft eher wertvoller sein, wenn sie sich durch ungehemmte Ausbeutung verknappen. Aus diesen Gründen hat die ethische Kritik an der ökonomischen Wachstumsideologie anzusetzen. Doch mit der beschworenen Zeitneutralität stellt sich das Problem, dass der Bezug zur Zukunft unterbestimmt bleibt. Zwar ist am ethischen Grundsatz festzuhalten, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, unabhängig davon, in welcher Zeit sie leben oder leben werden. Aber dieses Prinzip ist zu abstrakt und liefert daher keine praktische Orientierung für die Zuschreibung moralischer Verantwortung. Die Vermeidung eines ethischen Präsentismus rechtfertigt nicht die Abstraktion von Zeiträumen der Verantwortung. So unzureichend der Formalismus bei der temporalen Klassifikation der Ethik war, so wenig überzeugt nun der ethische Neutralismus bei der Bestimmung zeitlicher Reichweiten. Zur Lösung dieses Problems schlägt Carl Friedrich Gethmann eine Verbindlichkeitsabstufung vor, die eine temporale Differenzierung der Langzeitverantwortung erlaubt.18 Um einer „Entgrenzung der Verantwortung“ zu entgehen, weisen andere Autoren ebenfalls auf die „Grenzen“ der Verantwortung hin.19 Die größte Bedeutung hat dabei die Grenze nach drei Generationen, die gleichzeitig miteinander zusammen leben.20 Die Zeitspanne der „nahen“ Generationen von Eltern, Kindern und Kindeskindern beziehungsweise Großeltern und Enkeln entspricht den Standards einer anwendungsorientierten Ethik, weil sie in ihrer Selbstverständlichkeit zur alltäglichen Praxis gehört. Besonders für Phänomenologen und Kommunitaristen ist diese Grenze so existentiell, dass sie jede Langzeitverantwortung allein auf der Basis einer solchen Nahverantwortung für praktikabel halten.21 Wesentlich pragmatischer ist der Vorschlag, das Abgleiten in einen diffusen Zeitraum zu vermeiden und sich auf eine „mittlere“ Reichweite zu konzentrieren, um eine moralische Überforderung wie auch eine Resignation zu vermeiden.22 Diese Vorschläge halte ich jedoch für unzureichend. Sie laufen meiner Auffassung nach auf die falsche Alternative hinaus: entweder eine zeitlich „entgrenzte“ Verantwortung 18 19 20 21

Gethmann 1993, 15. Birnbacher 1988, 155 f., 219; Irrgang 2002, 221; Birnbacher 2003, 82. Jonas, 1979, 215; Birnbacher 1988, 24 f., 156; Caspar 2001, 82; Leist 2007, 3 ff. Gethmann 1993, 12; Leist 2005, 453 f. – Anton Leist (2007, 3 ff.) vertritt sogar die Auffassung, dass Gerechtigkeit im intergenerationellen Maßstab nur innerhalb der drei gleichzeitig lebenden Generationen möglich sei. 22 Ladenberger Diskurs „Langzeitverantwortung“ von Jürgen Mittelstraß und Carl Friedrich Gethmann (Internet); Welzer 2008, 268; Leggewie, Welzer 2009, 15.

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oder eine Begrenzung auf die nähere Zukunft. Weil derartige Festlegungen zu pauschal sind, kommt es darauf an, die Zeiträume der Verantwortung nach Handlungsfeldern zu spezifizieren. Wie ich im fünften Kapitel zeigen werde, sind auf einigen Gebieten kürzere Fristen angebracht, während auf anderen brisanten Feldern eine langfristige Verantwortung unverzichtbar ist.

Maßstäbe intergenerationeller Gerechtigkeit Um die Verantwortung für zukünftige Generationen zu konkretisieren, bedarf es moralischer Maßstäbe. Auch wenn man die erwähnte „Zeitpräferenz“ ablehnt und die von mir kritisierte Zeitneutralität befürwortet, stellt sich immer noch das Problem, wie die hypostasierte Unparteilichkeit näher zu bestimmen ist. Wie vor allem bei Rawls sichtbar wurde, verbirgt sich dahinter eine Theorie der Gerechtigkeit, die verlangt, dass die Menschen aller Zeiten und Räume ‚gleich‘ behandelt werden sollen. Daraus folgt wiederum, dass zukünftigen Generationen solche Lebensbedingungen garantiert werden sollen, die den Bedingungen unserer heutigen Gegenwart gleichwertig sind. Der Maßstab einer so bestimmten intergenerationellen Gerechtigkeit ist also das universelle Prinzip der Gleichheit. Doch bei näherer Betrachtung lassen sich in diesen Diskursen unterschiedliche Positionen beobachten. Eine Gleichstellung wird in folgender Definition gefordert: „Generationengerechtigkeit bedeutet konkret, dass die heute jungen und nachfolgenden Generationen gleichwertige Lebensgestaltungschancen besitzen sollen, wie die gegenwärtig gesellschaftlich und politisch verantwortliche Generation.“23 Wenn hingegen postuliert wird, dass „die Chancen zukünftiger Generationen auf Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse mindestens so groß sind wie die der heutigen Generation“, wird sogar eine „Besserstellung“ zugebilligt.24 Diese ist nach Birnbacher sogar anzustreben, um das Risiko einer versehentlichen Verschlechterung zu vermeiden.25 Aber es gibt überdies Positionen, die eine Verschlechterung der Lebensbedingungen dann für gerechtfertigt halten, wenn die natürlichen, technischen und organisatorischen Mittel erhalten bleiben, die es zukünftigen Generationen ermöglichen, ihr kulturelles Niveau aus eigener Anstrengung wieder zu verbessern.26 Resümiert man die zitierten Formulierungen, sind folgende Vergleichsmaßstäbe erkennbar: 1. „mindestens so groß“, also möglicherweise auch besser; 2. „gleichwertig“, nicht besser, aber auch nicht schlechter; 3. möglicherweise „besser“, vielleicht aber auch „schlechter“. Die Skala reicht also von eventuell besser, prinzipiell gleichwertig bis not23 Scherbel 2003, 178; vgl. Brenck 1992, 411; vgl. Temkin1992, 169 ff.; Epstein 1992, 84 ff.; Tremmel

2003, 36; ders. 2005, 93 ff.

24 Tremmel 2003, 34 ff.; mit weiteren Variationen Tremmel 2005, 93 ff.; Ekardt 2005, 25 ff.; Meyer

2005, 39 f.; Ott, Döring 2008, 101, 138 ff.

25 Birnbachrer, Schicha 2001, 24. 26 Fishkin 1992, 62 ff.; Sturma 2006, 230.

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falls schlechter. Aus ethischer Perspektive könnte man dies als ein Spektrum von einem ‚altruistischen‘ zu einem ‚egoistischen‘ Standpunkt interpretieren. Allerdings bleiben diese Haltungen recht abstrakt, weil weitere Kriterien der Beurteilung fehlen. In unserem Zusammenhang ist noch ein anderer Maßstab erkennbar, der aus der Geschichtsphilosophie stammt. Hinter dieser Skala verbergen sich nämlich bestimmte Erwartungen an die Zukunft, die wiederum von bestimmten Geschichtsmodellen geleitet werden.27 Wenn den zukünftigen Generationen zugebilligt wird, dass es ihnen möglicherweise „besser“ geht, wird die Idee des Fortschritts wirksam. Diejenige Position, nach der eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Gegenwart und Zukunft verlangt wird, entspricht die Verlaufsform der Stagnation. Wenn schließlich hingenommen wird, dass sich die Bedingungen des Lebens in Zukunft verschlechtern können, kommt ein Verfallsszenario ins Spiel. Die zitierten Ethiken der Zukunft enthalten also bestimmte Hoffnungen und Befürchtungen, die in den Modellen Fortschritt, Stagnation und Verfall zum Ausdruck kommen. Die tiefere Problematik liegt in der geschichtsphilosophischen Voraussetzung der Vergleichbarkeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Unabhängig von den Optionen „besser, gleich oder schlechter“ wird ein einheitlicher Maßstab der Bewertung unterstellt. In jedem Fall fühlen wir uns verpflichtet, den zukünftigen Menschen nicht nur „das Gleiche“, sondern überhaupt „Vergleichbares“ zu hinterlassen. Gegen diese Einstellung richtet sich die Kritik an einem Egalitarismus, der Gerechtigkeit relational, als die Gleichheit der einen mit den anderen, versteht.28 Der zentrale Vorwurf lautet, dass er das Prinzip der Gleichheit verabsolutiere und zum Selbstzweck erkläre. Dagegen lässt sich einwenden, Gleichheit ist keineswegs das Ziel, sondern nur das Nebenprodukt der elementaren Pflicht dafür zu sorgen, dass niemand unter Hunger oder Krankheit leiden muss. Diese Gerechtigkeitsforderung ist mit der Kritik am Egalitarismus durchaus vereinbar, so dass die soziale Angleichung auch auf nicht-egalitaristische Weise denkbar ist.29 Ein weiteres Problem intergenerationeller Gerechtigkeit besteht darin, dass der Vergleich zwischen den Lebensbedingungen von gegenwärtig existierenden Individuen und zukünftig möglichen Individuen deshalb nicht durchführbar ist, weil weder die Zahl noch die Eigenart später lebender Menschen bekannt ist. Weil die Identität zukünftiger Individuen noch nicht feststeht, scheint die Vorstellung widersinnig zu sein, dass jene Individuen durch die Wirkungen gegenwärtiger Handlungen geschädigt werden können. Dieses viel diskutierte Nicht-Identitäts-Paradox besteht genauer darin, dass von einer Schädigung zukünftig lebender Individuen nicht gesprochen werden könne, wenn 27 Beiläufig erwähnt werden Verlaufsformen der Geschichte beispielsweise von: Jonas 1979, 287 ff.;

Birnbacher 1988, 171; ders. 2003, 86 f., 92; Birnbacher, Schicha 2001, 19 f.; Eblinghaus, Stickler 1998, 142; Weikard 1999, 125; Tremmel 2006, 97. 28 Krebs 2000, 7 ff.; dies. 2001, 157 ff.; Ott, Döring 2008, 78 ff.; Gesang 2011, 48 f., 93 ff. 29 Diese Diskussion spielt auch im Diskurs über globale Gerechtigkeit eine Rolle. Dort gibt es egalitäre Positionen sowie Ansätze zur Herstellung relativer Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit; Hahn 2009, 34.

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die Existenz dieser Individuen maßgeblich von der schädigenden Handlung abhängt.30 Letztlich läuft diese absurde Argumentation darauf hinaus, dass zukünftig lebende Menschen überhaupt nicht geschädigt werden können, so dass jede Verantwortung für zukünftige Generationen überflüssig wäre. Natürlich ist dieser Einwand nicht unwidersprochen geblieben, allein schon, um die intuitive Einstellung zur Ethik der Zukunft zu retten.Aber die einschlägigen Lösungsversuche bestehen weniger darin, die Problemstellung zu kritisieren, als das ganze Problem zu umgehen. Der entsprechende Vorschlag von Lukas Meyer lautet daher, nicht zukünftige Individuen oder einzelne Personen vorzustellen, die von heute lebenden Individuen „affiziert“ werden könnten, sondern „identitätsunabhängig“ davon auszugehen, dass in Zukunft überhaupt Menschen existieren werden, für die dann doch noch Verantwortung übernommen werden kann. Der Lösungsvorschlag besteht in einer „Suffizienzkonzeption der Gerechtigkeit“,31 die im Unterschied zu egalitaristischen Ansätzen nicht vom synchronen und diachronen Vergleich der Lebensverhältnisse ausgeht, sondern einen absoluten „Schwellenwert“ festlegt, der in bestimmten Ländern nicht unterschritten werden darf. DochdieseKonzeptionlässtoffen,nachwelchenethischenMaßstäbendieLebensqualität der betroffenen Menschen veranschlagt wird. Soll sie höher, gleich oder niedriger als unter den gegenwärtigen Bedingungen sein? Auf diese Frage gibt die Theorie trotz ihres erheblichen Aufwands keine systematische Antwort. In der harmloseren Variante vermag diese Debatte zur Orientierung bei Fragen der Langzeitverantwortung kaum etwas beizutragen. Im ungünstigen Fall dient dieses Argument der Legitimation dafür, dass die Rechte zukünftiger Menschen missachtet werden dürfen.32 Folgt man dieser Argumentation, sind Vergleiche zwischen früheren, gegenwärtigen und zukünftigen Zuständen wenn nicht ausgeschlossen, so jedenfalls nicht systematisch angelegt. Ausdrücklich weist Meyer das „übliche hypothetisch-historische Verständnis von Schädigung“ zurück, nach dem eine Person durch eine Handlung dann geschädigt wird, wenn es ihr besser ginge, wäre die Handlung unterblieben. Der Titel Historische Gerechtigkeit klingt eigenartig, sollen damit doch historische Vergleiche gerade ausgeschlossen werden. Wiederum bewegen sich die Maßstäbe in unbestimmter Zeit und unbestimmtem Raum. Der Verweis auf einen nicht komparativen „Schwellenwert“ verlangt nach einer kulturellen und historischen Konkretisierung. Außer dem Suffizienzprinzip gibt es in der Ethik der Zukunft noch weitere Prinzipien, welche die Berücksichtigung der Vergangenheit eliminieren. Dazu zählt das „Gleiche-pro30 Wenn beispielsweise ein Land Atomkraftwerke baute, dadurch mehr Wohlstande entstünde und da-

raufhin mehr Menschen gezeugt würden, wären diese Menschen auch dann nicht geschädigt, wenn sie Opfer eines Reaktorunfalls würden, weil sie ja ohne diese Entscheidung gar nicht existiert hätten. Kavka 1981, 97 f.; Parfit 1981, 113 ff.; Hanser 1990, 47 ff.; Carter 2001, 430 ff.; ders. 2002, 87 ff.; Patridge 2002, 75 ff. 31 Meyer 2005, 3, 23 f., 36 ff.; ders. 2009a, 281 ff.; ders. 2009b, 82 ff.; vgl. Ekardt 2005, 190; Tremmel 2006, 6 f.; Heubach 2008, 116 ff, 125; zur Kritik am Nicht-Identitäts-Problem und am Schwellenwertprinzip Gesang 2011, 52 ff., 60 f., 136 ff. 32 Schwartz 1978, 11; siehe zu dieser Kritik den Abschnitt „Der formale Generationenbegriff in der Zukunftsethik“ im siebten Kapitel.

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Kopf-Prinzip“, das jedem gegenwärtigen und zukünftigen Menschen das Recht zugesteht, dieselbe Menge CO2 zu emittieren. Es stellt weder die gegenwärtige Ungleichheit noch die Schäden aus der Vergangenheit in Rechnung.33 Im Diskurs über globale Gerechtigkeit ist es das Prinzip der „Hilfsverantwortung“, das allein an die Fähigkeit von Individuen und Staaten appelliert, anderen Menschen zu helfen. Die bloße Tatsache, dass eine Person in Not geraten ist, überträgt die Verantwortung, sie zu retten, auf eine Person, die dazu in der Lage ist. Für Peter Singer ist das Vermögen, ein moralisches Übel wie die Armut zu lindern, völlig hinreichend, um eine Verantwortung auf jeden einzelnen Bürger wohlhabender Gesellschaften zu übertragen.34 Dagegen macht Thomas W. Pogge deutlich, dass wohlhabende Industriestaaten in einer „Folgeverantwortung“ für globale Armut stehen, weil sie gegen ihre negative Pflicht, nicht zu schädigen, verstoßen haben.35 Darunter versteht man diejenige Verantwortung, die eine Person oder ein Kollektiv für die Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere hat. Dieses Konzept hat zur Konsequenz, dass primär der Verursacher eines Schadens zur Verantwortung gezogen wird. Nicht zuletzt in der Umweltpolitik ist das Prinzip der „Verursachung“ inzwischen anerkannt, womit gemeint ist, dass die in der Vergangenheit „verursachten“ Schäden in der Gegenwart kompensiert werden müssen.36 Für das Verursacherprinzip spricht, dass die positive Pflicht zu helfen allgemein schwächer formuliert wird als die negative Pflicht nicht zu schädigen. Außerdem gilt es zu verhindern, dass die Verursacher von Schäden auf ungerechtfertigte Weise entlastet werden. Aus diesem Grund ist der Rückbezug auf die Vergangenheit für die Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit unumgänglich, wie im fünften Kapitel ausgeführt wird. Das geht wiederum nicht ohne diachrone Vergleiche, bei denen die anfängliche Frage nach einer Gleichstellung, Verschlechterung oder Verbesserung der Lebensverhältnisse zukünftiger Generationen zugelassen ist.

Verantwortung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit Im Rahmen einer Ethik der Zukunft gibt es drei Diskurse: den der Verantwortung, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit. Jeder von ihnen stellt im Hinblick auf die Zukunft jeweils eigene Probleme mit je spezifischen Vorstellungen über Zeit und Geschichte. Der Diskurs der Verantwortung, der an die Pflichtenethik von Kant anknüpft, operiert bekanntlich mit einer dreistelligen Relation: Eine Person ist verantwortlich für etwas gegenüber einer oder mehreren Personen.37 Erst dieser Begriff, der im Gegensatz 33 34 35 36

Gesang 2011, 67 f. Singer 2008, 278 ff.; nach Hahn 2009, 37 ff. Pogge 2007, 25 ff.; vgl. Hahn 2009, 44 ff.; Nida-Rümelin 2011, 18 ff. Zu diesem Begriff der Verantwortung siehe Lenk, Maring 1993, 222 ff.; Lenk 1993, 112 ff.; Böhler 2009, 62. – Seit 1978 ist das Verursacherprinzip im EG-Vertrag eingeführt; es steht bereits im Protokoll von Montreal wie auch im Kyoto-Protokoll von 1997 und wurde im Vertrag von Lissabon 2007 bekräftigt; Neumayer 2000, 185 ff.; Lienkamp 2009, 325 ff.; Böhler 2009, 109; Meyer 2009b, 81 f. 37 Lenk 1993; dass dies mit Gründen geschehen soll, betont Nida-Rümelin 2011, 11 f., 23 ff.

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zum Pflichtbegriff konkrete Zuschreibungen beinhaltet, gestattet es, Verantwortungen für Handlungsfolgen in bestimmten Zeiten und Räumen festzulegen. Eine Person ist demnach verantwortlich für Ereignisse an bestimmten Orten und in bestimmten Zeiten. Daher war es nur konsequent, dass Jonas die Frage nach den Zeiträumen stellte, für die heute lebende Menschen Verantwortung tragen sollen. Daraus werde ich wiederum die Konsequenz ziehen, nicht allein zwischen naher, fernerer und ferner Zukunft zu unterscheiden, sondern die Zukunftsverantwortung nach bestimmten Fristen zu differenzieren. Wenn der Diskurs der Gerechtigkeit die diachrone Beziehung zwischen den Generationen thematisiert, spricht man von intergenerationeller Gerechtigkeit.38 Darin spielt die Verteilungsgerechtigkeit die entscheidende Rolle, in diesem Fall die gerechte Verteilung von Gütern zwischen zeitlich aufeinander folgenden Generation. Sofern dabei die in der Vergangenheit geschaffenen Güter sowie die verübten Schäden berücksichtigt werden, kommt die ausgleichende beziehungsweise korrektive oder kompensatorische Gerechtigkeit zum Zuge. Mit ihr verbinden sich komparative Standards im Gegensatz zu absoluten Standards, die Vergleiche ausschließen und hier nicht in Frage kommen. Sofern hier von historischer Gerechtigkeit die Rede ist,39 unterscheide ich zwischen drei Arten: Erstens spricht man von historischer Gerechtigkeit im engeren Sinn, wenn die Kompensation gegenüber Opfern früheren Unrechts eingeklagt wird. Zweitens kann man die intergenerationelle Gerechtigkeit in einer schwachen Bedeutung als ‚historisch‘ bezeichnen, wenn sie sich auf das Verhältnis zwischen der gegenwärtig lebenden Generation und den zukünftig möglichen Generationen bezieht. Drittens verstärkt sich das Verständnis von historischer Gerechtigkeit, wenn im Zusammenhang der Verantwortung für zukünftige Generationen explizit die Vergangenheit einbezogen wird, so dass aus vergangenen Versäumnissen der Industrieländer und einer schon lange währenden ungerechten Behandlung der so genannten Entwicklungsländer konkrete Forderungen der Kompensation erhoben werden. In diesem Kontext werde ich im sechsten Kapitel die historische Gerechtigkeit im übergreifenden Sinn ins Zentrum stellen, indem ich danach frage, ob die Entwicklungs- und Schwellenländer das Recht haben, eine Entwicklung „nachzuholen“, welche von den Industrienationen seit langem betrieben worden ist. Mein Ziel besteht darin, bestimmte Resultate aus den Forschungen über historische Gerechtigkeit auf das Themenfeld der Langzeitverantwortung zu übertragen. Indem ich diese Varianten miteinanderverbinde, versuche ich einen erweiterten und integrativen Begriff weltgeschichtlicher Gerechtigkeit zu gewinnen. Er wird im neunten Kapitel durch die Modelle der Erbschaft und der Gabe ergänzt werden. Ebenso enthält das Konzept der Nachhaltigkeit eine intergenerationelle und damit historische Bestimmung, verspricht es doch Konstanz und Wachstum in der Geschichte. „Nachhaltige Entwicklung“ signalisiert den Wunsch und die Hoffnung, dass in schlechter gestellten Ländern der Wohlstand steigt und damit ein gerechter Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen geschaffen werde. Im Gegensatz zum Begriff des Wachstums, der eine bloß quantitative Steigerung vorsieht, setzt man auf das Konzept 38 Brumlik 1997; Grieswelle 2002; Tremmel 2003; Ekardt (Hg.) 2006; Veith 2006; Heubach 2008. 39 Meyer 2005; vgl. Wittwer 2009, 76 ff.

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einer Entwicklung, die einen qualitativen Fortschritt einschließlich der Entfaltung von Potenzialen und Änderung von Strukturen bedeuten soll.40 Als normative Ziele werden genannt: dauerhafte Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, Sicherung unbegrenzten Überlebens der menschlichen Spezis, Garantie der Fortdauer der Biosphäre, Erhaltung des Kapitalstocks an natürlichen Ressourcen und Lebensqualität zukünftiger Generationen. Neben der Ökologie gerät zunehmend die „soziale Nachhaltigkeit“ in den Blick.41 Im Nachhaltigkeits-Diskurs lassen sich grob folgende Positionen unterscheiden: „Schwache Nachhaltigkeit“ bedeutet, dass wirtschaftliches Wachstum per se zu besserem UmweltschutzführtunddaherEinschränkungenabzulehnensind.42 „StarkeNachhaltigkeit“ besagt, dass Einschränkungen des Konsums zugunsten einer langfristigen Tragbarkeit unseres Lebens und Wirtschaftens nicht zu vermeiden sind, so dass Ressourcen, die nicht ersetzt werden können, geschützt werden sollen.43 „Strikte Nachhaltigkeit“ heißt, dass sich der Konsumstil ändern und die Wirtschaft umgesteuert werden muss; demnach dürfen nicht erneuerbare Ressourcen überhaupt nicht mehr genutzt werden.44 Die letzte Variante kommt der ursprünglichen Bedeutung von Nachhaltigkeit am nächsten, deren Idee bekanntlich aus der Forstwirtschaft stammt. Sie meint die zyklische Regeneration von Rohstoffen und damit einen Kreislauf der Natur. Wird diese Art Nachhaltigkeit zum globalen Modell erklärt, so entspricht dies einem zyklischen Geschichtsbild. Im Programm einer „nachhaltigen Entwicklung“ kommt eher die Idee eines gemäßigten Fortschritts zum Tragen. Die Verträglichkeit beider Modelle wird uns im Folgenden noch näher beschäftigen. Die hier genannten drei Diskurse stehen in unterschiedlichen Beziehungen zueinander. Einerseits grenzen sie sich voneinander ab, wenn zum Beispiel die Gerechtigkeitstheorie vom Verantwortungsbegriff abgekoppelt wird.45 Hinzu kommt eine Kritik am Konzept der Nachhaltigkeit, dem vorgeworfen wird, theoretisch so schwach und diffus zu sein, dass Interessengegensätze verschleiert werden.46 Im günstigen Fall gilt „Nachhaltigkeit“ 40 Basler 1973, 39 ff.; Paehlke 1989, 113; Bartelmus 1994; Born 1997; Enge 2000, 9 ff., 65 f.; Irrgang

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2002, 7 ff., 223 ff.; Grieswelle 2002; Rogall 2002; Tremmel 2003, 55 ff.; Ekardt 2005, 29; Ekardt 2006, 83 ff.; Veith 2006, 167 ff.; Grunwald, Kopfmüller 2006, 49 ff.; Opaschewski 2008, 182 ff.; Ott, Döring 2008, 41 ff.; Hauff 2009; Böhler 2009, 16 f.; Lienkamp 2009, 343 ff. Heins 1998; Kopfmüller, Brandl, Jörissen 2001, 68 ff.; zur Konzeption des „sozialen Kapitals“ siehe den Abschnitt „Kulturelles Kapital“ im neunten Kapitel. – Heintel und Krainer plädieren zusätzlich für „kulturelle Nachhaltigkeit“, 2010, 435 ff. Diese Position entspricht dem Bundlandt-Bericht: Weltkommission 1988, 57; vgl. Irrgang 2002, 16, 224 f.; Friedman 2010, 228, 340 ff.; kritisch dazu Eblinghaus, Stickler 1998, 101 ff.; Hauff, Kleine 2009, 24. Meadows 1972; Ekardt 2005, 29; Ekardt 2006, 83 ff.; Flechtheim 1972 und 1986; Ott, Döring 2008, 18 f. Für eine ökologische Utopie plädieren: Paehlke 1989, 283; Saage 1992, 159 ff.; ders. 1995, 1; ders. 1999, 176 (siehe den Abschnitt „Zur Aktualität utopischen Denkens“ im ersten Kapitel); kritisch zur ökologischen Utopie: Sieferle 2004, 40 f.; Heidbrink 2007, 113 f. Hadorn 2003, 272 ff., insbes. 286 ff.; Heubach 2008, 167 ff., insbes. 177. Eblinghaus, Stickler 1998, 11 ff., 38 ff.; Weikard 1999, 51 ff.; Birnbacher, Schicha 2001, 17 ff.; Ott, Döring 2001, 19; Tremmel 2005, 19; Friessner 2007, 321 ff.; Böhler 2009, 15 f.; Lienkamp 2009, 350 f.; Heintel, Krainer 2010, 435.

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als heuristischer Begriff oder regulative Idee,47 in der schlimmeren Variante als unkritisch und affirmativ.48 Es werden zwar, so der Einwand, anerkennenswerte Ziele vorgegeben wie die Beseitigung von Armut und die Erhaltung der natürlichen Umwelt, aber keine Fragen nach Macht und Herrschaft gestellt. Außerdem wird die Universalisierbarkeit des Prinzips der Nachhaltigkeit zum globalen Modell in Zweifel gezogen. ParalleldazufindensichVersuche,welchediegenanntenKonzeptionenmiteinanderverknüpfen. So gibt es Kombinationen der Theorien über Gerechtigkeit und Verantwortung49 wie auch jener über intergenerationelle Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.50 In meiner weiteren Untersuchung werde ich versuchen, alle drei theoretischen Ansätze zur Geltung zu bringen. Da ich generell eine Synthese von Zukunftsethik und Geschichtsphilosophie anstrebe, werde ich mein Augenmerk auf die jeweilige historische Dimension richten. Im Fall der Nachhaltigkeitskonzeption wird der Gesichtspunkt der Entwicklung im Mittelpunkt stehen. Bei der Gerechtigkeitstheorie geht es mir letztlich um die Idee weltgeschichtlicher Gerechtigkeit. Im Kontext meiner Konzeption historischer Fristen werde ich die verschiedenen Zeiträume der Verantwortung für zukünftige Generationen unter deskriptiven und normativen Aspekten analysieren.

5. Verantwortung im historischen Kontext Nachdem ich die temporalen Strukturen und historischen Maßstäbe der Zukunftsethiken kritisch beleuchtet habe, gelange ich nun zur systematischen Begründung. Die Basis dafür bildet ein geschichtsphilosophisches Konzept von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das ich im dritten Kapitel entwickelt habe. Darin zeigte sich, dass ein reflektierter Begriff von Zukunft nicht ohne Bezug zur Gegenwart denkbar ist. Während in den kritisierten Positionen entweder eine „endlose“ Gegenwart oder eine bereits begonnene Zukunft behauptet werden, kommt es mir darauf an, zwischen Gegenwart und Zukunft so zu unterschieden, dass dazwischen eine pragmatische Grenze erkennbar ist. Unter dieser Voraussetzung lässt sich die Gegenwart als eine Zeit der Handlung bestimmen, was weder präsentistisch noch futuristisch missverstanden werden sollte. Vielmehr wird damit die praktische Zukunftsperspektive überhaupt erst eröffnet. Hierzu wird die Gegenwart nicht nur formal, sondern als eine spezifisch historische Zeit bestimmt, die im Kontext von Vergangenheit und Zukunft auf hermeneutische Art gedeutet werden kann. Ferner ist daran zu erinnern, dass die Gegenwart, in der gehandelt wird, als ausgedehnter Zeitraum zu verstehen ist, ohne den gar kein Handeln möglich wäre. Demnach erstreckt sich die Gegenwart so lange, bis eine Handlung oder eine Handlungskette abge47 48 49 50

Homann 1996, 39; Irrgang 2002, 9; Siemer 2006, 143. Eblinghaus, Stickler 1998, 38 ff. Birnbacher 1988, 12, 83, 121 f.; Böhler, Gronke 2003, 305 ff.; Heubach 2008, 165 ff. Schicha 1992; Diefenbacher 2001; Tremmel 2003, 71; Ekardt 2005, 25; dazu Heubach 2008, 177; Veith 2006, 167 ff.; Ott, Döring 2008, 45 ff., 157 ff.; vgl. Höffe 1993, 172 ff.

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schlossen ist. Weil mehrere Handlungen möglich sind, die unterschiedlich kurz oder lang dauern, ergeben sich je nach Tätigkeitsfeldern unterschiedliche Gegenwarten des Handelns. Zugleich gibt es, wie ausgeführt, gute Gründe dafür, den Singular einer speziYsch historischen Gegenwart zu rehabilitieren, der für den gemeinsamen geschichtlichen Horizont steht und es erlaubt, die verschiedenen Diagnosen, Optionen und Aktionen im Zusammenhang zu sehen und praktisch zu koordinieren. Um die pragmatischen Gegenwarten zu beschreiben, entwickle ich zunächst eine Konzeption der Fristen. Sie beziehen sich auf Handlungen, die innerhalb bestimmter Zeiträume erfolgen müssen, um erwartete Zustände möglichst positiv zu beeinflussen. Auf diese Weise markieren sie ausgedehnte Gegenwarten, die sich von den jeweiligen Zukünften abgrenzen. Doch mit Hilfe von Fristen werden Situationen nicht nur gedeutet, sondern überdies als moralische Aufgabe verstanden. Ich nenne sie daher Fristen der Verantwortung. Um nicht „zu spät“, sondern „rechtzeitig“ zu handeln, sind vielfältige Fristen zu setzen, die man nicht verstreichen lassen darf. Im Kontext des narrativen Topos „Rettung in der Gefahr“ zeigte sich, dass ein verantwortlicher Umgang mit der Zeit gar nicht anders als mit Hilfe von Fristen darstellbar ist, wie die Wahrnehmung von Verantwortung für bestimmte Handlungen nicht ohne Fristen möglich ist.

Fristen gegenwärtiger Verantwortung Wie wir im vierten Kapitel sahen, stellt sich in der Ethik der Zukunft die Frage nach der zeitlichen Reichweite moralischer Verantwortung. Folgt man dem ethischen Universalismus, lautet die bereits kritisierte Antwort, dass die gegenwärtig lebenden Menschen gegenüber allen zukünftigen Menschen aller zukünftiger Zeiten und Räume verpflichtet seien. Wie sehr der egoistische Präsentismus zu verwerfen und das Prinzip universeller Menschenrechte anzuerkennen ist, so wenig überzeugt die Konsequenz, eine absolute Zeitneutralität zu fordern. Denn aus der wohl begründeten Überzeugung, dass allen zukünftig lebenden Menschen die gleichen Rechte zugeschrieben werden sollen, lassen sich zwar universelle Pflichten ableiten, aber daraus folgt keineswegs, dass wir für alle diese Menschen die gleiche Verantwortung tragen. Demgegenüber besteht meine Konzeption darin, die Reichweiten verantwortlichen Handelns zeitlich und räumlich zu staffeln. So kann die Verantwortung in einigen Fällen durchaus begrenzt werden, um die vielfach gewünschte Entlastung zu gewähren. Zugleich sind die Zeiträume entschieden zu erweitern, sofern die Reichweite des technischen Handelns und die darin lauernden Gefahren ein entsprechendes Verhalten erzwingen. Dieser Vorschlag kommt zwar denjenigen entgegen, die eine moralische Überforderung der Menschen befürchten, weist aber die pauschale Begrenzung moralischer Verantwortung zurück. Für eine derartige Differenzierung eignet sich der von mir eingeführte Begriff der Frist, der nicht nach formalen Zeitenabständen oder Generationenzahlen definiert ist, sondern sich an inhaltlich unterscheidbaren und konkretisierbaren Tätigkeitsfeldern orientiert. Fristen sind Handlungsräume, innerhalb derer bestimmte Wirkungen zu erzielen

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sind, für welche die gegenwärtig handelnden Menschen verantwortlich sind. Daraus ergeben sich Handlungsfristen, Wirkfristen und Verantwortungsfristen. Fristen der Handlung sind solche Fristen, in denen agiert werden muss, um für die Zukunft wünschenswerte Zustände zu erhalten oder herzustellen oder um Schäden abzuwenden. Indem diese Fristen den Zeitraum einer Handlung begrenzen, markieren sie die Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft und bestimmen so die jeweils ausgedehnte Gegenwart. Wenn beispielsweise gesagt wird, man müsse gegen die ökologische Krise ‚heute‘ oder ‚jetzt‘ etwas tun, versteht es sich von selbst, dass damit kein Zeitpunkt gemeint ist, nicht einmal Tage, Wochen oder Monate, sondern sogar einige Jahre. Wichtig ist an dieser Feststellung, dass einerseits gefordert wird, jeweils ‚schnell‘ zu handeln, andererseits aber den entsprechenden Maßnahmen die nötige Zeit eingeräumt wird. Aus den Handlungsfristen resultieren bestimmte Fristen der Wirkung. Hier sind verschieden weit entfernte Zeiten der jeweils beabsichtigten Wirkung festzulegen, also genau zu differenzieren, auf welche Zeiträume die Effekte der Handlungen zielen, die wiederum mit der zeitlichen Reichweite insbesondere des technischen Handelns zusammenhängen. Bei dieser Definition bin ich mir darüber im Klaren, dass die Rede von Handlungen und ihren Wirkungen bei komplexen Prozessen problematisch ist. Obwohl in der Umweltethik das Prinzip der Verursachung Geltung beansprucht, ist der Begriff der Ursache beziehungsweise das Modell der Kausalität unzureichend. Gleichwohl ist es theoretisch sinnvoll und praktisch geboten, von menschlichen Handlungen mit ihren Folgen auszugehen, damit überhaupt das Prinzip der Verantwortung aufrechterhalten werden kann.51 Auf das Verhältnis zwischen Handlungen und ihren Folgen beziehen sich die Fristen der Verantwortung. Wie erwähnt, besteht Verantwortung darin, dass für bereits erfolgte oder noch bevorstehende Handlungen und deren Konsequenzen Rechenschaft abgelegt werden soll. Dieser Begriff erlaubt es, Verantwortungen für Handlungsfolgen in bestimmten Zeiten und Räumen festzulegen. Die entsprechenden Fristen betreffen die prognostizierten Folgen gegenwärtigen Handelns, sofern die entsprechende Handlungsweise fortgesetzt und nicht verändert wird. Weil Menschen diese befürchteten oder erhofften Wirkungen verursachen, werden sie dafür verantwortlich gemacht. Daraus ergibt sich ein sachlicher, räumlicher und zeitlicher Horizont: Eine Person oder eine Institution ist verantwortlich für Ereignisse auf bestimmten Gebieten und für bestimmte Zeiten, insofern sie im Wirkungsbereich ihrer Handlungen liegen. Unter dieser Voraussetzung ist es möglich, die Zukunftsverantwortung nach Fristen zu variieren. Freilich sind die Zeiten von Handlungs-, Wirk- und Verantwortungsfristen nur selten identisch. In dem Maße, wie die Handlungen Fernwirkungen erzeugen, entfernen sich Handlungs-undWirkfristenvoneinander.NurbeiganzelementarenProzessenfallenAktion und Resultat zusammen, wie zum Beispiel bei handwerklichen Herstellungsprozessen, obwohl in solchen Fällen zwischen Herstellung und Nutzung viel Zeit verstreichen kann. 51 Einen heuristischen Wert hat die Auffassung von Verursachung, die „Ursachen als Quellen der

Verzweigungen von Geschehnisabläufen“ zu verstehen erlaubt; Krüger 1994, 149, 161; spezifisch geschichtstheoretisch dazu Demandt 1994, 275 f. – Im Abschnitt „Reale Möglichkeit und Kontingenz“ des sechsten Kapitels werde ich diese Problematik ausführlich behandeln.

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Doch bei technologischen und sozialen Prozessen lässt die erwünschte Wirkung in der Regel auf sich warten. Bei jedem Konjunkturprogramm vergeht mindestens ein Jahr, bis sich der Erfolg oder Misserfolg einstellt. Auch bei finanzpolitischen Eingriffen ist erst nach Monaten abzuschätzen, ob sich die Intervention gelohnt hat. Insbesondere bei ökologischen Maßnahmen liegen die Zeit der Handlung und die Zeit der Wirkung weit auseinander. So werden etwa in der Klimapolitik rettende Maßnahmen in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten gefordert, damit in etwa fünfzig Jahren bestimmte Werte erreicht werden können. Die vielzitierten „Laufzeiten“ sind Fristen, bis zu denen die Zeitspanne eines juristisch erlaubten Gebrauchs abgelaufen ist. In der Atompolitik klaffen Inbetriebnahmen und Effekte zeitlich extrem weit auseinander. Ferner ist zu berücksichtigen, dass derartige Fristen mit Machtverhältnissen verbunden sind.52 Schon bei alltäglichen und verrechtlichten Fristen ist es ein Fristgeber, der Fristen „setzt“, „gewährt“ oder „einräumt“. Das gilt ebenso im Fall internationaler Verträge, wenn zum Beispiel die europäischen Finanzkrisen innerhalb bestimmter Kreditfristen überwunden werden sollen, die in den betroffenen Ländern zunehmend politischen Widerstand hervorrufen. Wenn auf globaler Ebene Klimaziele ausgehandelt werden, scheitern die Verhandlungen oftmals an der fehlenden Durchsetzung der vorgeschlagenen Fristen. Vor allem wenn es darum geht, bei diesen Fristen zusätzlich die in der Vergangenheit verursachten Schäden einzubeziehen und dafür Kompensation zu fordern, scheinen die Machtbarrieren unüberwindbar zu sein. Hier zeigt sich, wie sich Macht in Fristen ausdrückt und wie die Mächtigen mit Hilfe von Fristen operieren. Ein solcher Fristenbegriff ist deskriptiv und normativ zugleich. Zunächst verweisen Fristen auf bestimmte Sachlagen, die durch eine bestimmte Konstellation relevanter Faktoren gekennzeichnet sind. Ihre temporalen Dimensionen hängen von den Reichweiten menschlichen Handelns und von der Vorhersage entsprechender Folgen ab. Im Zuge der technischen und ökonomischen Fernwirkungen erhält die Zukunft eine Struktur, die sich an den Inhalten der sachlichen Gebiete orientiert. Je nach Problemfeldern ergeben sich unterschiedliche zeitliche und räumliche Fristen. Sodann verbinden sich mit Fristen bestimmte Ziele, die durch Handlungen innerhalb bestimmter Zeiträume erreicht werden sollen. Denn Fristen beziehen sich auf erwartete, befürchtete und erhoffte Zustände, für die bestimmte Menschen oder Institutionen verantwortlich sind. Sie enthalten eine Agenda, die auflistet, was zu welcher Zeit zu tun ist. Die so definierten Fristen sind daher moralisch aufgeladen und ethisch konnotiert. Auf diese Weise verschmelzen im Begriff der Frist Faktizität und Normativität. Wenn die faktischen Zustände beachtet werden, kommen die realen Bedingungen des Handelns zur Geltung. Sofern dabei das Wünschbare antizipiert wird, tritt das unter diesen Bedingungen Mögliche zutage. So deklarieren Fristen das Gewünschte als machbar unter den gegebenen Voraussetzungen, zu denen wesentlich die zur Verfügung stehenden Zeiten gehören. Die Fristen geben an, bis zu welchen Zeitpunkten diejenigen Bedingungen geschaffen werden sollen, welche die Möglichkeitsräume zukünftigen Handelns bewahren 52 Weinrich 2004, 174 f.; Luhmann 2007, 143 ff. – Siehe die Ausführungen zum „kulturellen Kapital“

im neunten Kapitel.

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oder gar erweitern. So beziehen sich Fristen auf reale Möglichkeiten, von denen im ersten Kapitel die Rede war und die unter dem Begriff der Kontingenz noch einmal zur Sprache kommen werden. An bestimmte Fristen gebunden ist auch das kollektive Erbe, das im neunten Kapitel thematisiert wird. Wenn dabei im Sinne Blochs utopische Momente mit eingehen, können Fristen konkrete Utopien enthalten. Paradigmatisch für die Verschmelzung von Faktischem und Normativem sind die Erzählungen über die Zukunft, in denen ja die Fristen eine maßgebende Funktion erfüllen. Hierbei handelt es sich um Beschreibungen, die Zustände zugleich darstellen, bewerten und herbeifordern. Im historischen Kontext verweisen sie auf erwartete, befürchtete und erhoffte Zustände, wobei die erwähnten Deutungsmuster eine fundamentale Rolle spielen. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, dass die dabei verwendeten Modelle nicht bloß langfristige Ziele zum Ausdruck bringen wie etwa den Wunsch nach weiteren wie auch immer definierten „Fortschritten“, sondern dass sie in den Erzählungen eine normative Kraft entwickeln und die jeweiligen Handlungsziele beeinflussen. Ein Leitbild wie etwa „nachhaltige Entwicklung“ entfaltet ethische Potenziale, die auf die einzelnen Entscheidungen wie in der Umweltpolitik zurückwirken. Da also diese Fristen in historisch gedeutete Gegenwarten eingelassen sind, verstehe ich sie hier ausdrücklich als historische Fristen. Wie im dritten Kapitel angekündigt, lassen sich bei dieser Untersuchung die temporalen Kategorien der phänomenologisch ausgerichteten Geschichtstheorie anwenden. Ähnlich wie bei der Betrachtung der vergangenen Geschichte können die Fristen mit Hilfe der Unterscheidung in „kurze“, „mittlere“ und „lange Dauer“ eingestuft werden. Im Hinblick auf die Zukunft ist zu beachten, dass sich die jeweilige „Dauer“ sowohl auf Handlungen oder Handlungsketten bezieht, die in der Regel auf einen „kurzen“ Zeitraum der Gegenwart begrenzt sind, als auch auf die Wirkungen dieser Handlungen und die entsprechenden Reichweiten der Verantwortung, die im Vergleich dazu als relativ langfristig gelten können. Beachtet man dabei zusätzlich die geographischen und kulturellen Unterschiede, ergeben sich noch einmal unterschiedliche Fristen an verschiedenen Orten. Denn Fristen sind nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich bestimmt.53 Daher ist genauer zu bestimmen, für welche Generationen an welchen Orten und in welchen Zeiten welche Lebensbedingungen geschaffen werden sollen. Denn es ist ja gar nicht zu bestreiten, dass die prognostizierten ökologischen oder finanziellen Krisen ganz unterschiedliche Auswirkungen auf bestimmte Völker und soziale Schichten haben werden. Das ergibt eine historische Landkarte der Zukunft, auf der in bestimmten Gebieten erwünschte, krisenhafte oder bedrohliche Zustände eingezeichnet sind. Auf diese Weise repräsentiert sie zeitlich gestaffelte und räumlich differenzierte Fristen. Im Folgenden wird sich zeigen, dass ohne räumliche Differenzierungen ‚kurze‘, ‚mittlere‘ und ‚lange‘ Fristen gar nicht festgelegt werden könnten. 53 Abzuweisen ist die These einer „ökologischen Globalisierung“, von der „die Menschheit“ gleicher-

maßen betroffen werde; Zimmerli 1999, 133; siehe auch Beck 1986, 48 f.; von einem kritikwürdigen „Katastrophen-Egalitarismus“ spricht Lienkamp 2009, 340.

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Lange Fristen werden in erster Linie durch technologische und ökologische Probleme induziert. Wie wir sahen, waren sie der Auslöser für die „neue Zukunftsethik“ seit Jonas, weil sie den Rahmen traditioneller Ethiken sprengen. Da ich das Thema Langzeitverantwortung in den Kontext historischer Fristen setze, möchte ich von einer Langfristverantwortung oder langfristigen Verantwortungen sprechen. Dabei bezieht sich die Langfristigkeit weniger auf die vorsorgenden Handlungen, die sich in wenigen Dekaden vollziehen, als auf die Folgen dieser Handlungen, die wegen ihrer technisch bedingten Reichweite extrem lange Wirkfristen haben. In diesem Fall sind wir für Wirkungen auch dann verantwortlich, wenn sie in ferner Zukunft liegen. Obwohl wir uns die betroffenen Menschen kaum vorstellen und für sie nur indirekt vorsorgen können, sind wir zu dieser Garantie verpflichtet. Extrem lange Fristen entstehen bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle; für beinahe unermessliche Zeiträume sind sie von der Biosphäre fernzuhalten.54 In dieser extrem langen Dauer ist die dreihundertste oder gar tausendste Generation relativ real und konkret. Dietrich Böhler führt die historische Dimension eindrucksvoll vor Augen: „Unsere Gattungsgeschichte des homo sapiens umfasst etwa 130.000 Jahre. Durch die Errichtung eines einzigen Atomkraftwerks haben wir die künftige Menschheit mit einer Verantwortungsstrecke fast doppelt so großen Ausmaßes belastet, d.h. 243.600 Jahre.“55 Trotz der enormen zeitlichen Entfernung steht es außer Zweifel, dass die Menschen der Gegenwart für derartige Fernwirkungen verantwortlich sind. Diese Verantwortung gründet sich nicht allein auf eine universalistische Ethik, die allen Menschen aller zukünftigen Zeiten das Interesse an Gesundheit und damit ein entsprechendes Recht zuschreibt, das uns Heutigen zu vorsorgenden Handlungen verpflichtet. Vielmehr ist sie hier aufgrund der tatsächlichen Fernwirkung und der langfristigen Gefahr durch die Atomtechnik unumgänglich. Wenn dieses Risiko durch gegenwärtiges Handeln beseitigt oder gemindert werden kann, besteht eine konkrete Verpflichtung, die ganz entschieden über die erwähnte Drei-Generationen-Grenze oder „mittlere Reichweite“ hinausreicht. Auf diesen Handlungsfeldern wäre eine pauschale Begrenzung der Verantwortung sogar höchst fahrlässig. Der besondere historische Charakter dieser Verantwortung resultiert aus dem Umstand, dass die „lange Dauer“ zwischen den gegenwärtig und in ferner Zukunft lebenden Generationen keine leere Zeit ist, sondern als geschichtlicher Zeitraum verstanden werden muss. In diesem Sinn lassen sich insbesondere lange Fristen als diachrone Brücken zwischen den Generation verstehen. Mit ihrer Hilfe werden historische Räume konstruiert, die von der zeitlichen und historischen Struktur der Handlungs- und Wirkketten bestimmt werden. Dazu gehört die Organisation einer kontinuierlichen Kooperation, die sich über 54 Kornwachs 2000, 106. – So hat Plutonium 239 eine Halbwertzeit von 24.390 Jahren, bei Uran 235

beträgt diese sogar 700 Millionen Jahre und bei dem etwa für Nuklearwaffen angereicherten Uran 238 4,5 Milliarden Jahre. 55 Böhler 2009, 44, vgl. 47 ff. – An dieser Stelle besteht die Gefahr, sich Illusionen zu machen; dann wird das Handeln von der irrigen Vorstellung geleitet, es gehe um reversible Prozesse; Leggewie, Welzer, 11.

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viele Generationen erstreckt.56 Im Fall der Entsorgung radioaktiver Abfälle bedarf es einer enorm weit reichenden Kommunikation, damit die heute in die Wege geleitete Vorsorge in ferner Zukunft überhaupt zum Erfolg gelangen kann. Aus diesen Gründen verstehe ich gerade die langfristige Verantwortung als spezifisch historische Verantwortung. Die Zeiten der „kurzen Dauer“ beziehen sich in der Geschichtsschreibung auf Ereignisse, meist im Bereich politischer Entscheidungen und Maßnahmen. Das gilt gleichermaßen für die kurzen Fristen in der Zukunft. Sofern sie soziale Systeme betreffen, geht es meist um Finanzkrisen, angesichts derer verhältnismäßig schnell gehandelt werden muss: innerhalb weniger Monate, Wochen, Tage oder gar Stunden. In solchen Fällen sind die Handelnden für die eigene und die nächste davon betroffene Generation verantwortlich – d.h. ausdrücklich nicht mehr für die später lebenden Menschen. Die abstrakte Verpflichtung über diese Zeitgrenze hinaus hat hierbei keine praktische Relevanz. Gegen die Beschränkung auf kurze Fristen richtet sich die Kritik an den Neoliberalen, denen vorgeworfen wird, dass ihr Horizont selten über die vierteljährliche Bilanzkonferenz hinausreiche. In diesem Zusammenhang wird die angebliche Dringlichkeit bei einer Finanzkrise in Zweifel gezogen. Während „alle Probleme“ dieser Welt wie Hunger, Wassermangel oder Ökologie „warten können“, weil bei ihnen immer noch genug Zeit bleibe, um notwendige Entscheidungen zu vertagen, habe die „Rettung der Banken“ absolute Priorität, so dass unvorstellbare Geldsummen in größter Eile verausgabt werden.57 Dagegen steht die Forderung, diese Art Kurzfristigkeit in langfristigere Strategien zu überführen. Konkret bedeutet dies, dass die kurzen Fristen in den Zusammenhang der mittleren und langen Fristen gestellt werden sollten. Allerdings stehen bereits derart kurze Fristen in einem größeren historischen Kontext, der sich aus bestimmten Interpretationen ergibt. Am Beispiel der gegenwärtigen Finanzkrise, in der es um Länder wie Griechenland und Spanien geht, lässt sich diese Deutung beobachten. Die hektischen Aktionen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das langfristige Ziel in der Erhaltung der europäischen Währung besteht, womit sich wiederum die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg und die Zukunft Europas verbinden. Im Hintergrund stehen die zitierten Erzählungen, in denen der „Niedergang“ Europas vorhergesagt wird. Das entspricht wiederum einem Geschichtsmodell, welches den Kreislauf von Völkern und Kulturen bei gleichzeitigem Fortschreiten der Weltgeschichte repräsentiert. Dieses Modell enthält eine nicht ganz unzutreffende Beschreibung der faktischen globalen Prozesse und zugleich den Wunsch, Europa möge von diesem Schicksal verschont bleiben. Es ist diese weltgeschichtliche Deutung, die das langfristige Ziel mit prägt, was wiederum auf die kurzfristigen finanzpolitischen Entscheidungen einen nachweisbaren Einfluss ausübt. Auch Naturkatastrophen, durch die Menschen in plötzliche Not geraten und daher schnelle Hilfe benötigen, erfordern kurze Fristen. Doch dabei handelt es sich nicht bloß um kurzfristige Ereignisse, oftmals stehen sie in einem geschichtlichen Rahmen, der in einigen Fällen mit dem mittelfristigen und langfristigen Prozess der Erderwärmung zu56 Zum Thema historische Kontinuität durch Kooperation siehe den entsprechenden Abschnitt im

sechsten Kapitel, zur Generationenfolge im achten Kapitel.

57 Leggewie, Welzer 2009, 16; Žižek 2009, 11.

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sammenhängen kann. Sofern dieser Klimawandel von den Menschen verursacht wird, ist er keine reine Naturkatastrophe, sondern ebenso ein kulturelles Phänomen. Er schließt deshalb einen kulturellen Wandel ein, weil er sich kultureller Auswirkungen verdankt, selbst soziale und kulturelle Wirkungen hat und nur durch kulturellen Wandels zu bewältigen ist.58 Ohne Zweifel hat dieser Wandel eine historische Dimension, weil er sich sowohl auf die Geschichte der Industrialisierung und Kolonialisierung als auch auf die Perspektive einer zukünftigen Entwicklung der technischen Zivilisation bezieht. Wie schon die Finanzkrisen demonstrieren, verweisen die Naturkatastrophen ebenfalls auf mittlere und längere Zeiträume. Für die mittleren Fristen gilt auf ähnliche Weise, dass sie sich nach unterschiedlichen Handlungsfeldern bestimmen, deren Zeithorizonte von den natürlichen und sozialen Systemen abhängen, denen je spezifische historische Zeiten inhärent sind. Um mittelfristige Zeiträume handelt es sich beispielsweise auf dem Gebiet der natürlichen Ressourcen. Weil die Ölkrisen der Jahre 1973/74 und 1979/80 eine letzte große Entdeckungs- und Erschließungswelle ausgelöst hatten, wird das weltweite Ölförderungsmaximum (etwa 35 Jahre später) ungefähr heute oder in naher Zukunft erreicht sein. Bei gleich bleibendem Verbrauch werden fossile Energien (vor allem Öl) im Jahr 2050 aufgebraucht oder deren Einsatz zumindest unrentabel sein.59 Mittelfristig sind auch die Zeiträume, die noch zur Verfügung stehen, um die negativen Auswirkungen des Klimawandels zu vermeiden, dessen Folgen bis zu mehreren hundert Jahren reichen. Bei den Maßnahmen zur Abwendung dieser rechnet man in Dekaden, indem man etwa einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen um 0,2 Grad Celsius pro zehn Jahre voraussagt.60 Die unterschiedlichen Szenarien, die für diverse Emissionsmengen errechnet werden, ergeben eine Untergrenze von 1,1 Grad Temperatursteigerung und einen oberen Wert von 6,4 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts. Für diesen Zeitraum wird der Anstieg der Meeresspiegel auf 18 bis 59 Zentimeter geschätzt, ebenso lange dauert die Gletscherschmelze in Grönland und der Antarktis. Hinzu kommt ein „time lag“ von mindestens einem halben Jahrhundert, weil Klimafolgen auch dann eintreten würden, wenn Verkehr und Industrie nicht so weiterliefen wie bisher.61 Diese Differenz verdoppelt sich noch einmal, weil die Wirkungen in manchen Fällen gestaffelt sind. Wenn beispielsweise in fünf Jahren das Weltklima um ein Grad steigt, sind die negativen Wirkungen erst in fünfzig bis hundert Jahren spürbar. Gelingt es umgekehrt, diese Temperatur in fünf Jahren konstant zu halten oder gar zu senken, ist erst in hundert Jahren mit dem erwünschten Effekt zu rechnen. Sollte es hingegen nicht gelingen, eine Erderwärmung über zwei Grad zu verhindern, werden so genannte Kipppunkte überschritten,62 was eine Eigendynamik freisetzt, welche automatisch zu einer Steigerung um sechs und mehr Grad führt. 58 59 60 61 62

Welzer 2008, 17; Leggewie, Welzer 2009, 10; vgl. Mittelstraß 1993, 22. Leggewie, Welzer 2009, 12. Welzer 2008, 57; Leggewie, Welzer 2009, 27; Gesang 2011, 15 ff. Leggewie, Welzer 2009, 56. Gesang 2011, 40.

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Diese Prognosen unterscheiden sich noch einmal nach Regionen. In Nordeuropa, wo der Lebensstandard hoch ist, werden die negativen Folgen des Klimawandels relativ gering sein; der Norden könnte davon in Zukunft sogar profitieren.63 Demgegenüber werden die Schäden in den weniger entwickelten Ländern des Südens wesentlich größer sein. Außerdem sind diese Länder, sofern sie sich an der Armutsgrenze befinden, schlechter in der Lage, die Schäden zu kompensieren. Die Landwirtschaft wird unter ausbleibenden Regenfällen und absinkendem Grundwasser leiden, so dass bis 2020 die landwirtschaftlichen Erträge um die Hälfte sinken werden. In diesen Bereichen sind Handlungen in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten unumgänglich. Die Verantwortungs- und Wirkfristen reichen jedoch darüber hinaus, da wir genau für diejenigen Generationen verantwortlich sind, die davon unmittelbar betroffen sein werden. Auf diesem Aktionsfeld ist die moralische Verantwortung also deutlich über die Drei-Generationen-Grenze zu erweitern. Betrachtet man die Fristen nicht nur als formale Zeitabschnitte, sondern als Sinnentwürfe innerhalb eines historischen Kontinuums, weisen gerade diese mittleren Fristen eine besondere Geschichtlichkeit auf, die in unterschiedlichen Modellen zur Geltung kommt. Die Fristen auf ökologischem Gebiet orientieren sich an natürlichen Prozessen, die häufig als Zyklen gedeutet werden. Wenn die Entnahme und Abgabe von Stoffen ein bestimmtes Tempo übersteigt, wird die Regenerationsfähigkeit der Natur überfordert. Dabei spielen Dauer und Zeitpunkt von Eingriffen eine entscheidende Rolle. Es besteht die Gefahr, dass Zeiten „ohne Pause“ zu weit ausgedehnt werden.64 Das dagegen steuernde Ziel, das in den entsprechenden Handlungsfristen enthalten ist, besteht in der Respektierung beziehungsweise Reaktivierung natürlicher Kreisläufe wie die Erholung von Ökosystemen.65 Dieser Verlaufsform steht das Bild der modernen Zivilisation gegenüber, die als lineare Entwicklung verstanden wird. Doch die Idee, dass die moderne Zivilisation den Zyklus der Natur zum Vorbild nehmen soll, ist mit dem modernen Geschichtsbewusstsein nicht vereinbar, weil der Umgang mit Naturvorgängen nicht zum Vorbild für die Geschichte im Ganzen taugt. Wenn daher im Gegensatz zur „strikten Nachhaltigkeit“ an der modernen Zivilisation festgehalten werden soll, ist eine Geschichtsauffassung zu entwerfen, die zyklische Prozesse in den irreversiblen Fortgang der Weltgeschichte integriert. Diese Problematik wird besonders virulent, wenn die Fristen nicht nur in die Zukunft weisen, sondern sich zudem auf die Vergangenheit beziehen. Beispielsweise ist zu beobachten, dass bestimmte Klimaziele eine sowohl prospektive als auch retrospektive Seite enthalten, indem sie sich an einem früheren Stadium der Industrialisierung orientieren. Damit verbindet sich die Forderung nach Reversionen, wenn etwa auf ökologischen Gebieten vergangene Zustände wieder hergestellt werden sollen. Dieses Phänomen verweist auf das Prinzip der Reversibilität, das somit eine besondere historische Dimension 63 Welzer 2008, 18 ff.; Gesang 2011, 38 f. 64 Enge 2000, 31, 53, 70; vgl. Kümmerer 1993, 85 ff.; Held 1993, 11 ff. 65 Häufig kommt es dabei zu zeitlichen Verzögerungen, durch welche die Fristen verschoben werden,

wenn Kläranlagen etwa Abfälle produzieren, die zu Altlasten für nachfolgende Generationen werden; Enge 2000, 40.

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enthält. Dabei verbinden sich die Modelle des Zyklus und der linearen Entwicklung, die zu einem alternativen Verständnis von Geschichte führen. Das Konzept des Greenhouse Development Rights von 2004 sah vor, dass die globale Emission 2013 ihren Scheitelpunkt erreicht, um dann jährlich um sechs Prozent zu sinken, bis die Emission 2050 sogar achtzig Prozent unter dem Niveau von 1990 liegen könnte.66 Im Jahre 2010 hat Deutschland als einziges Land der Europäischen Union die Absicht bekundet, seine CO2-Emissionen bis 2020 um vierzig Prozent im Vergleich zu 1990 zu reduzieren. Der Klimagipfel in Cancún hat den Druck auf die EU erhöht, das Gemeinschaftsziel von minus zwanzig auf mindestens dreißig Prozent anzuheben. Klimaforscher verlangen hingegen, dass der globale Ausstoß von Treibhausgasen bis Mitte des 21. Jahrhunderts auf mindestens die Hälfte des Niveaus von 1990 sinken soll. Das Jahr 1990 taucht deshalb wiederholt auf, weil die meisten traditionellen Industriestaaten ihre Emissionen seitdem nicht nennenswert erhöht haben.67 AndereBeispiele,dievielleichtrealistischersindundteilweiseschonErfolgevorweisen, sind die Säuberung verschmutzten Wassers und die Reinigung der Luft, die Rückbildung von sich ausdehnenden Wüstengebieten, die Kompensation von Bodenerosion, die Aufforstung von geholzten Wäldern und die Wiedergewinnung von Fischbeständen in den Weltmeeren. Wie erwähnt, sind die letzten beiden Fälle paradigmatisch für das Prinzip der Nachhaltigkeit, das sich am Kreislaufmodell orientiert. Ziel ist die Restabilisierung von Natursystemen wie beim Klima oder die Regenerierung von Ökosystemen wie bei Rohstoffen innerhalb bestimmter Zeiträume. In unserer Terminologie handelt es sich hier um Schonfristen. Ähnlich verhält es sich bei der enormen Verschuldung der Staaten.68 Die Norm zur Sanierung wird so definiert, dass ein früherer Zustand wieder hergestellt werden soll. Zum Beispiel wird angestrebt, dass Deutschland in fünf Jahren den Schuldenstand des Jahres 2000 erreicht. Sogar ganzen Kontinenten wird eine Rückkehr zu einem früheren Stadium empfohlen, das als besser eingeschätzt wird.69 In solchen Fällen werden Zeitspannen umschrieben, die sich ausdrücklich von der Zukunft über die Gegenwart bis in die Vergangenheit erstrecken. Im Sinne der phänomenologischen Theorie einer ausgedehnten Gegenwart kann man von einer bestimmten Dauer sprechen, die sich über einen sowohl zukünftigen als auch vergangenen Zeitraum erstreckt (Extension). In der Beschreibung wird an vergangene Lebensverhältnisse erinnert (Retention), die wieder hergestellt werden sollen, und auf zukünftige Zeiten verwiesen, an denen diese ursprünglichen Niveaus zu erreichen sind (Protention). Ein solcher „Zeithof“ ist „erfüllt“ mit der Beschreibung und Beurteilung bestimmter Zustände wie auch mit moralischen und politischen Appellen. An diesen Exempeln ist erkennbar, wie die Zukunftsperspektive auf die Vergangenheit verweist und wie die Gegenwart gleichsam als Klammer zwischen Vergangenheit und 66 67 68 69

Kreibich 1996, 77 ff.; Enge 2000, 68; Ott, Döring 2008, 336; Dyer 2010, 325. Leggewie, Welzer 2009, 68 f., 167; Becker 2003, 243 ff. Friedman 2009, 22.

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Zukunft fungiert. Legt man hier die hermeneutische Grundstruktur einer historischen Gegenwart zugrunde, handelt es sich sowohl um vorausschauende als auch um rückblickende Interpretationen, die den jeweiligen Zuständen eine geschichtliche Bedeutung zuschreiben. Erst aus der für die Zukunft befürchteten Klimakatastrophe erlangt das Jahr 1990 seinen besonderen Stellenwert, so wie die Vorgeschichte als Ursache der zukünftigen Misere interpretiert wird. Auf diese Weise werden die Fristen in einem übergreifenden geschichtlichen Zusammenhang bestimmt und damit implizit zu historischen Fristen erklärt. Allerdings sind solche Fristen, die Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit einschließen, nicht in allen Fällen möglich. Bei nicht erneuerbaren natürlichen Ressourcen wie Erdgas, Rohöl und Kohle ist eine Reversion, die einen früheren Zustand wieder herstellt, praktisch ausgeschlossen. Es gibt auch gute Gründe dafür, dass ein völliger Verzicht auf den Gebrauch natürlicher Rohstoffe gar nicht wünschenswert ist. Analog zu den genannten Reversionen lässt sich höchstens das Ziel setzen, innerhalb einer Frist den Verbrauch bestimmter Energien auf eine frühere Stufe zu senken. Unwiederbringlich sind auch die bisher verloren gegangenen Pflanzen- und Tierarten. Das gilt ähnlich für geschmolzene Eisberge und für den erhöhten Wasserstand der Weltmeere. Ebenso kann das Risiko der radioaktiven Abfälle nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Die Entscheidung für die Atomenergie erlaubt keine Reversion, da die Strahlungsfolgen über Jahrtausende unumkehrbar sind. Denn es gibt kaum Möglichkeiten, die Radioaktivität zu vermindern oder die Wirkung zeitlich zu verzögern. Im Grunde steht mein Konzept der Reversibilität für das ethische Prinzip der Wiedergutmachung von Schäden.70 Ein entstandener Schaden soll behoben werden, indem man in der Zukunft eine Lage erreicht, die jener der Vergangenheit entspricht, in der dieser Schaden noch nicht existiert hat. Bereits die Ethik der Verantwortung seit Jonas verdankt sich der Absicht, auch in Zukunft nur solche Schäden zu riskieren, die nicht irreversibel sind und folglich wieder revidiert werden können.71 Das Ziel dieser Verantwortungsethik besteht also darin, die Ethik der Wiedergutmachung zu erhalten oder gar zu rehabilitieren. Das Prinzip Verantwortung bedeutet dann, für die Zukunft die Möglichkeitsbedingungen für solche Reversionen zu garantieren. Dieses reflexive Prinzip hat für das moderne Geschichtsbewusstsein neuartige Konsequenzen. Denn die Reversibilität verlangt nicht nur, heute bestimmte Techniken rückgängig zu machen, sondern eine Technologie zu produzieren, die eine Selbstkorrektur zukünftig gestattet. Bezieht man dieses Prinzip auf die Geschichte im Ganzen, folgt daraus das Bild der Offenheit, in der Korrekturen undAlternativen jederzeit möglich sein sollen. Doch dieses Modell bedarf wichtiger Ergänzungen, so dass mit den dafür zu gewährleistenden Bedingungen zugleich bestimmte Risiken ausgeschlossen werden. Der Zusammenhang der verschiedenen Fristen mit ihren divergierenden Zielen wird unter dem Titel historische Kohärenz näher untersucht. Der Aspekt der realen Möglichkeit kommt im Abschnitt über historische Kontingenz zur Sprache. Zunächst sollen jedoch aus dem Konzept der 70 Birnbacher 1988, 70 ff., 208 ff; Sturma 2006, 230. 71 Jonas 1979, 26 f.

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Fristen noch Schlussfolgerungen für ein sich wandelndes Geschichtbewusstsein gezogen werden: zum einen mit Perspektive auf die Zukunft, die nun nicht mehr uneingeschränkt als ‚offen‘ deklariert werden darf; zum anderen im Rückblick auf die Vergangenheit, die angesichts befristeter Zukünfte unter dem Geschichtspunkt Verursachung und Schuld neu bewertet werden muss.

Bedingte Offenheit der Zukunft Der Begriff der Frist bedeutet nicht etwa das häufig beschworene „Ende der Geschichte“. Anstatt eine Befristung der Geschichte im Ganzen anzustreben, dienen die Fristen im Gegenteil dazu, den historischen Horizont offen zu halten. Denn die Handlungen, die innerhalb von Fristen vollzogen werden sollen, haben die Aufgabe, die gefürchteten Katastrophen abzuwenden und damit den zukünftigen Aktionsraum zu erhalten oder zu erweitern. Da Fristen das Vorhandensein realer Möglichkeiten implizieren, werden innerhalb ihrer Zeitspannen auch die Bedingungen für bestimmte Handlungsmöglichkeiten geschaffen. Doch diese Möglichkeiten sind nur realisierbar, wenn gleichzeitig schädliche Bedingungen verhindert und damit unerwünschte historische Prozesse vermieden werden. Nur auf diese ambivalente Weise von Öffnung und Schließung ist das Prinzip der Offenheit der Geschichte heute noch vertretbar. Auf der einen Seite verbietet es das Prinzip der Offenheit, die gegenwärtige Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation in die Zukunft zu projizieren und dabei allenfalls prognostische Schwierigkeiten zuzugestehen. Während der so genannten Trendforschung vorgeworfen wird, lediglich aktuelle Tendenzen zu beschreiben, nimmt die Zukunftsforschung für sich in Anspruch, den zu erwartenden kulturellen Wandel ernst zu nehmen. Die historische Erfahrung, dass es in modernen Gesellschaften einen steten und beschleunigten Wandel und damit historische Diskontinuität gegeben hat, und die daraus resultierende Erwartung, dass dieser Wandel auch in Zukunft eintreten wird, legt das praktische Verhalten nahe, für die Bedingungen eines derartigen Wandels zu sorgen. Unter den genannten Voraussetzungen folgt daraus das moralische Gebot, den zukünftigen Generationen eine Veränderung ihrer Lebensweise nicht nur zuzugestehen, sondern auch durch gezielte Maßnahmen zu fördern. Die Ermöglichung des kulturellen Wandels wird zur moralischen Pflicht, die auf der Zuschreibung des Rechts auf freie Wahl und Selbstbestimmung einer jeden Generation beruht. In diesem Kontext stellt die Offenheit der Geschichte eine ethische Kategorie dar. Für die entsprechende Urteilsfindung ist der Umstand entscheidend, dass sich nicht nur die Lebensumstände, sondern vor allem auch die Wertmaßstäbe der Zukünftigen wahrscheinlich verändern werden. Das bedeutet, die Einzigartigkeit der Gegenwart als besonderer historischer Zeit und damit die Andersartigkeit der Zukunft anzuerkennen. In diesem Fall ist zwar zu bedenken, dass sich die Zukunft allein vom Standpunkt der Gegenwart auf hermeneutische Weise erschließt, aber zugleich ist der bereits kritisierte Präsentismus zu vermeiden, der die gegenwärtig geltenden Normen und Werte ungefiltert in die Zukunft projiziert. Vielmehr ist ein historisches Bewusstsein darüber angemessen,

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dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kulturell voneinander unterscheiden. Dies macht die spezifische Historizität der langfristigen Verantwortung aus. Was in der modernen Geschichtswissenschaft oder in der historischen Soziologie zum Standard gehört, erweist sich jedoch in der Ethik der Zukunft als nicht so selbstverständlich und findet dort erst in jüngster Zeit Eingang. Traditionelle Zukunftsethiken schreiben im Grunde den bisherigen Geschichtsprozess fort, indem sie unterstellen, dass zukünftige Generationen zwar neue und heute schwer vorhersehbare Technologien entwickeln, aber letztlich gleich bleibende Bedürfnisse und Interessen haben werden, so dass sich jederzeit eine Nutzensumme von Gütern und Glücksansprüchen berechnen lasse. In diesem Licht mag auch der Utilitarismus fürsorglich erscheinen, weil er das Glück der in Zukunft lebenden Menschen heute schon definiert. Dagegen können Zweifel angemeldet werden mit dem Argument, dass die Idee des guten Lebens einen genuin zeitlichen Sinn hat und von historischen Brüchen eingeholt wird.72 Dieser Überzeugung schließen sich inzwischen die meisten Utilitaristen an, indem sie die prognostische Unsicherheit der Technikfolgeabschätzung nun zusätzlich durch die Ungewissheit über die in Zukunft veränderten Zielvorstellungen ergänzen. Demnach ist zu erwarten, dass sich auch die Kultur als „Wertegemeinschaft“ fortentwickeln wird, die in späteren Zeiten jeweils neue Optionen ermöglicht.73 Es lässt sich heute nicht vorhersagen, welche Präferenzausbildung die Zukünftigen haben werden. Daraus folgt für die Zukunftsethik, dass nicht primär für bestimmte Güter zu sorgen ist, weil man ja nicht wissen kann, ob diese von den Generationen der Zukunft geschätzt werden. Es ist eher notwendig, die Bedingungen der Möglichkeit für die Wahl zwischen verschiedenartigen Gütern zu ermöglichen.74 Daher sind nicht vorrangig bestimmte Interessen später lebender Menschen zu berücksichtigen, sondern Optionen, welche denkbaren Interessen zukünftiger Generationen eine reelle Chance auf Verwirklichung erlauben. Es geht auch nicht in erster Linie um die Vermeidung zukünftiger Schäden an bestimmten Personen, sondern um die Vermeidung von Risiken durch gegenwärtiges Handeln oder Unterlassen, sofern diese Risiken als streng oder faktisch irreversibel gelten. Ebenso wenig sollen spezielle Rechte oder Pflichten zukünftiger Generationen geschützt und bewahrt werden, es geht hingegen um die „Erhaltung zumutbarer ökonomischer, sozialer und kultureller Bedingungen für die menschliche Lebensform“.75 Ziel ist es, den Möglichkeitshorizont offen zu halten, indem reale Möglichkeiten zur Verwirklichung je eigener Lebensentwürfe gewährleistet werden. 72 Kritisch zu Birnbacher siehe Vossenkuhl 2006, 49; vgl. Höffe 1993, 184; Weikard 1999, 10; Meyer

2009a, 307 ff.

73 Birnbacher, Schicha 2001,19 f., 24; Leist 2005, 470 f.; Sturma 2006, 230; Lienkamp 2009, 281. 74 Von einer „Pluralismus zweiter Ordnung“, der nicht nur toleriert, sondern auch postuliert wird,

spricht Zimmerli 1999, 134 f.; vgl. Kornwachs 2000, 60 ff.; Krebs 2001, 157; Sturma 2006, 230; Ott, Döring 2008, 62 ff.; Böhler 2009, 63. – Hubig nennt diejenigen Werte, welche Handlungen favorisieren, die ihrerseits neue Spektren von Handlungsmöglichkeiten bereitstellen, Optionswerte; damit sind auch solche Handlungen zu unterlassen, die Alternativen ausschließen und damit die Handlungsfreiheit einschränken; Hubig 1995, 139 75 Sturma 2006, 235; vgl. Thomson 1992, 237 ff.; Gesang 2011, 86.

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So sollten wir beispielsweise nicht nur bestimmte Verkehrssysteme hinterlassen, sondern darüber hinaus die Freiheit, bestimmte Systeme zu revidieren wie überhaupt den Wert Mobilität neu zu definieren. Auch generationenübergreifende Kooperationsprojekte wie etwa die Raumfahrt sollten so flexibel angelegt sein, dass nachfolgende Generationen die Möglichkeit erhalten, entsprechende Pläne zu verändern oder abzubrechen. Zur Offenheit gehört daher neben dem Prinzip der Wahlfreiheit zudem das im Kontext der Fristen erwähnte Prinzip der Reversibilität, d.h. die spätere Ermöglichung von Reversionen entstandener Schäden. Offenheit kann so zusätzlich zur Korrektur oder zu einem Abbruch bestimmter Entwicklungen auch das Rückgängigmachen von Fehlentwicklungen und die Rückkehr zu früheren Zuständen bedeuten. Hinter dieser Position steht die Kritik am alten Utilitarismus mit seiner Vorstellung wachsenden Wohlstands, ebenso die Kritik an der normativen Ökonomik, die bisher Wohlfahrtsökonomik war. Die neue Ökonomik thematisiert hingegen die Rechte und Freiheiten von Individuen.76 Den nachrückenden Generationen sollen dieser Auffassung zufolge mindestens die gleichen Chancen zur Befriedigung ihrer grundsätzlichen Bedürfnisse erhalten werden, wie sie der heutigen Generation zur Verfügung stehen. Intergenerationalle Gerechtigkeit herrscht demnach, wenn die Menschen eine Ausgangssituation mit gleichwertiger Ausstattung vorfinden. An die Stelle der Wohlfahrt setzen die Vertreter dieses Ansatzes den Wert der Vielfalt und die entsprechende Wahlfreiheit als Wertbasis, welche adäquate Verwirklichungschancen und Befähigungen der Handlungssubjekte einschließt.77 An die Stelle der Fürsorge soll folglich die Vorsorge für Chancengleichheit treten. Auf der anderen Seite gilt es, das Prinzip der Offenheit der Geschichte zu relativieren. Denn der Grundsatz der Wahlfreiheit darf nicht verabsolutiert werden. Jede freie Wahl findet nur innerhalb bestimmter Möglichkeiten statt, die von den historischen Bedingungen abhängen, unter denen überhaupt gewählt werden kann. Diese begrenzen den Horizont der Möglichkeiten, so wie zugleich bestimmte Konditionen erforderlich sind, um den Aktionsradius zu vergrößern. Daraus resultiert die Aufgabe, einen alternativen Typus von Offenheit historischer Prozesse zu formulieren. Das betrifft zum einen das Prinzip der Wahlfreiheit selbst und zum andern die praktische Umsetzung dieser Freiheit der Wahl. Wie plausibel die referierten Positionen auch sein mögen, weil sie die freie Entscheidung zwischen verschiedenen Bedürfnissen und Interessen sowie die Antizipation eines kulturellen Wandels postulieren, so abstrakt und unhistorisch ist dieses Prinzip selbst. 76 Weikard 1999, 85; Altner 1999, 134 ff.; Kopfmüller, Brandl, Jörissen u.a. 2001, 75; Gesang 2011,

48 ff.

77 Während der Ansatz der „Grundbedürfnisse“ vorwiegend auf materielle Aspekte abzielt, richtet sich

das Konzept der „Verwirklichungschancen“ oder „Befähigungen“, das in das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen aufgenommen wurde, auf die Summe der aktiven Möglichkeiten beziehungsweise Fähigkeiten, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ein selbst bestimmtes Leben zu führen. – Sen 1995, 30 ff.; ders. 2009, 231, 271; ähnlich Nussbaum 2001, 87 ff.; vgl. Weikard 1999, 163 ff.; Mehl 2001, 202 ff.; Tremmel 2003, 47; Heinrichs 2006, 177; Nuscheler 2006, 233; Ott, Döring 2008, 83 f.; Hahn 2009, 117 ff.; Meyer 2009a, 313.

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Wenn der Geschichtsprozess in Hinblick auf bestimmte Entwicklungen möglichst offen gehalten werden soll, so heißt das nicht, dass die Menschen aller Zeiten die gleichen „Wahlfreiheiten“ haben können. Die jeweils in der Gegenwart lebenden Menschen haben weder die gleichen Wahlmöglichkeiten wie diejenigen, die früher lebten, noch werden alle Mitglieder zukünftiger Generationen die gleiche Freiheit in ihren Entscheidungen haben. Denn jede Wahlmöglichkeit hängt von der kulturellen Entwicklung in der Geschichte ab. Der geschichtliche Wandel ist also auf das Prinzip der Wahlfreiheit selbst anzuwenden, das sich im Laufe der Geschichte geändert hat und auch in Zukunft einem Wandel unterworfen sein wird. Außerdem ist die Freiheit der Wahl nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Es könnte so missverstanden werden, dass die Zukunft so ‚offen‘ sei, dass keinerlei Festlegungen möglich oder erwünscht wären. Demgegenüber kann es unter bestimmten Umständen auch unvermeidlich sein, bestimmte Wahlmöglichkeiten einzuschränken. Dazu gehört beispielsweise die fiktive Wahl, dass die Menschen späterer Epochen auf Natur verzichteten und sich in klimatisierten Räumen wohl fühlten. Ebenso verfehlt ist dann der Einwand, dass man ja nicht ausschließen könne und solle, dass auch zukünftig lebende Individuen die unversehrte Natur schätzen würden. Vielmehr kommt es darauf an, dafür Sorge zu tragen, dass Naturschutz als Wert erhalten bleibt und damit eine derartige Wahl in Zukunft gar nicht erst getroffen wird.78 Aus dem Umstand, dass jede Wahlmöglichkeit von den Bedingungen abhängt, unter denen realistischerweise gewählt werden kann, folgt, dass entsprechende Bedingungen zu schaffen sind, die garantieren, dass möglichst viele Optionen gewählt werden können. Daraus resultiert wiederum, dass bestimmte andere Bedingungen ausgeschlossen werden müssen, die Gefahren bergen und die Realisierung bestimmter Bedürfnisse und Interessen vereiteln. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Spielraum der Optionen überhaupt bewahrt oder so verändert werden, dass auch Verbesserungen möglich werden. Gegenüber der Öffnung bedarf es zugleich der Ausschließung von Risiken. Hatte Francis Bacon auf dem Titelbild seines Novum Organum den Aufbruch auf das offene Meer des Atlantiks propagiert, so sind jetzt in praktischer Absicht begrenzende und leitende Bojen zu setzen für sichere Fahrwege. Auf der historischen Landkarte müssen Sperrzonen des Risikos eingerichtet werden. Es ist erforderlich, Dämme zu errichten und Irrwege zu blockieren. Die Geschichte im Ganzen kann und soll damit zwar nicht kanalisiert werden, wohl aber gibt es die Verpflichtung, gefährliche Kanäle zu sperren, indem bestimmte Entwicklungskorridore eingerichtet werden. „Offenheit“ heißt damit Einschluss günstiger und Ausschluss schädlicher Bedingungen. In diesem Sinn plädiere ich für eine bedingte Offenheit der Zukunft. Schließlich ist ein solcher Prozess, in dem vorteilhafte Bedingungen begünstigt und schädliche eliminiert werden, keineswegs beendet und damit selbst noch einmal offen. Auch die Schaffung realer Möglichkeiten ist einem ständigen Wandel unterworfen. Das zeigte sich in der Dynamik der Fristen, die fortwährend Korrekturen und Modifikationen 78 Diskutiert bei Ott, Döring 2008, 63; siehe dazu den Abschnitt „Erbe und Testament“ im neunten

Kapitel.

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benötigen. Die Gründe liegen in der prinzipiell offenen wissenschaftlichen Forschung, die ständig neue Ergebnisse produziert, in der teilweise unvorhersehbaren technischen Entwicklung und in den unwägbaren politischen Entscheidungsprozessen. Schlagendes Beispiel ist die Suche nach einer „Endlagerung“ von Atommüll, die in Wirklichkeit noch zu keinem „Ende“ gelangt ist und „offen“ zu halten ist. Nur so können Korrekturen immer noch ermöglicht oder neue Forschungen mit verbesserten Verfahren zu einer alternativen Entsorgung beziehungsweise Unschädlichmachung genutzt werden. In Parallele zur bedingten Offenheit bezeichne ich diese Art Offenheit als offene Bedingtheit. Offenheit und Geschlossenheit sind daher in eine neue Relation zu bringen, in dem die Offenheit der Geschichte als übergreifendes Prinzip zu konzipieren ist. Unter dem Titel historische „Kontinuität“ wird uns dieses Thema im sechsten Kapitel noch ausführlich beschäftigen.

Folgen aus der Vergangenheit Wenn es darauf ankommt, in der Gegenwart für Bedingungen zu sorgen, die eine offene Entwicklung überhaupt erst ermöglichen, dann ist weiter zu bedenken, dass diese Bedingungen wiederum selbst historisch bedingt sind, und zwar nicht nur durch den gegenwärtigen Zeitraum der Handlung, sondern auch durch die Vorgeschichte in der Vergangenheit. Am Beispiel bestimmter Fristen der Verantwortung zeigte sich, dass innerhalb gestaffelter Zeiträume Schäden zu beseitigen oder zu kompensieren waren, die nicht erst heute entstanden sind. Betrachtet man also die Gegenwart als eine historisch gewordene Situation, spielt die Vergangenheit eine wichtige Rolle. Denn es ist wahrscheinlich, dass die drohenden Krisen das Ergebnis früherer Irrtümer, Versäumnisse und Schädigungen sind. Im Fall des Klimawandels liegen die Ursachen für die sich gegenwärtig abzeichnenden Probleme mindestens ein halbes Jahrhundert zurück. Für die Zukunftsethik folgt daraus, nicht nur das Verhältnis zwischen gegenwärtig Lebenden und Zukünftigen zu erwägen, sondern auch schädigende Handlungen in der Vergangenheit mit einzubeziehen. Wie im vierten Kapitel dargelegt, sind die entsprechenden Grundsätze das „Prinzip der Verursachung“ und die „Folgeverantwortung“. Doch während die Diskurse über historische Gerechtigkeit das Unrecht, das in der Vergangenheit verübt wurde, sowie die Verpflichtung zur symbolischen Kompensation und praktischen Wiedergutmachung in der Gegenwart und nahen Zukunft thematisieren, fehlen in den Zukunftsethiken, wie gezeigt, weitgehend systematische Bezüge auf die vergangene Geschichte. Aus dem Verhältnis zur Vergangenheit werden häufig keine Kriterien gewonnen für die Verantwortung mit Blick auf die Zukunft. Das Attribut „intergenerationell“ beschränkt sich stillschweigend auf die Zukunft. Demgegenüber versuche ich, einige Resultate aus den Forschungen über historische Gerechtigkeit auf das Themenfeld der langfristigen Verantwortung zu übertragen. In denjenigen Gerechtigkeitstheorien, die sich auf die Vergangenheit konzentrieren, wird die Frage gestellt, was die gegenwärtig lebenden Menschen den toten Opfern vergan-

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genen öffentlichen Unrechts schulden.79 Um darauf eine Antwort zu finden, ist der moralische Status von Toten zu klären, die zu ihren Lebzeiten Unrecht erlitten haben. Zwar können Tote keine Träger von Interessen und Rechten sein, so dass wir ihnen gegenüber auch keine Pflichten haben können. Das schließt aber nicht aus, dass wir Pflichten haben können, die sich aus den Rechten von heute Toten ergeben, als sie noch lebten. Dahinter steht die Idee, dass Pflichten den Tod des Rechtsträgers überleben können. Während dieser nicht mehr existiert, können heute und zukünftig lebende Personen unter den korrelativen Pflichten stehen, besonders dann, wenn die Rechte zukunftsorientiert sind wie etwa bei Vermächtnissen und Stiftungen. Da wir weder direkte Kompensation noch Restitution an heute toten Menschen leisten können, bleibt nur die symbolische Kompensation in Form nachträglicher Anerkennung. Angesichts dieser Argumentation fällt die Parallele zur Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit auf, die sich auf zukünftig lebende Menschen bezieht. In beiden Fällen geht es um Personen, die entweder ‚nicht mehr‘ oder ‚noch nicht‘ existieren. Da nicht existierende Personen keine Rechte „haben“, lassen sich ihnen Rechte nur zuschreiben.80 Doch gibt es grundsätzliche Unterschiede. Während die Toten zu ihren Lebzeiten wirkliche Rechte hatten, aus denen sich die „überlebenden Pflichten“ ableiten und konkret bestimmen lassen, können die künftig möglichen Menschen noch gar keine Rechte gehabt haben. Und während bei den Toten das vergangene Unrecht nicht erst wegen seiner Auswirkungen auf die Lebensqualität gegenwärtiger und zukünftiger Menschen moralisch bedeutsam ist, sondern schon aufgrund der Tatsache, dass früher lebende Menschen Opfer von Ungerechtigkeiten waren, soll die Verpflichtung gegenüber den noch nicht Geborenen zu Handlungen führen, die sich auf ihr Leben möglichst positiv auswirken. Allerdings wird mit dieser Unterscheidung nicht ausgeschlossen, dass aus dem Wissen um vergangenes Unrecht auch praktische Konsequenzen für die Zukunft gezogen werden. Sie bestehen darin, dass die überlebenden Pflichten gegenüber den Toten zu Maßnahmen führen, die konkrete Auswirkungen auf die Lebensbedingungen gegenwärtiger und zukünftiger Menschen haben können. Dieser Übergang ist dann möglich, wenn man nicht nur Individuen in Betracht zieht, sondern soziale Gruppen, die über die Zeitspanne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fortexistieren. Sofern diese Gruppen in der Zeit aufeinander folgen, kann man sie als Generationen bezeichnen.81 Unter dieser Voraussetzung ist es möglich, das Eingeständnis früherer Versäumnisse in verantwortliches Handeln gegenüber zukünftigen Generationen umzumünzen. Darin besteht die Brücke von der historischen zur intergenerationellen Gerechtigkeit. Der Rückgriff auf die Vergangenheit erlaubt eine regionale, temporale und vor allem soziale Differenzierung der jeweils Agierenden und Betroffenen. Wenn man die Bevölkerung des Erdballs grob in die des Nordens und des Südens aufteilt, sind die Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen und entsprechenden Verantwortungen 79 Die Passage zu dieser Art historischer Gerechtigkeit folgt Meyer 2005, 75 ff.; siehe schon Feinberg

1980, 160 ff.; vgl. Wittwer 2009, 76 ff.

80 Ausführliche dazu im Abschnitt „Kontinuität als ethisches Gebot“ des folgenden Kapitels. 81 Siehe dazu den Abschnitt „Entwurf eines materialen Konzepts der Generation“ im siebten Kapitel.

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von entscheidender Bedeutung. Stark vereinfacht lässt sich beispielsweise im Hinblick auf den Klimawandel feststellen, dass der Norden, der im Allgemeinen reicher ist, in der Vergangenheit mehr Schadstoffe ausstieß und von den Schäden zugleich weniger berührt wird.82 Dieser Umstand beeinflusst nicht zuletzt die internationalen Verhandlungen über die Verteilung von Emissionsrechten. Weil die Industriestaaten des Nordens früher ungerechterweise hohe Emissionen hatten, sind sie heute zu kompensatorischen Leistungen verpflichtet. Daraus folgt die Verpflichtung, den Süden noch mehr zu bevorzugen, als dies bei der exklusiven Betrachtung der Gegenwart der Fall wäre, d.h. den so genannten Entwicklungsländern das Recht zu vergleichsweise höheren Emissionen zuzugestehen. Dagegen lässt sich einwenden, dass es völlig ausreicht, die gegenwärtige Situation zu Grunde zu legen. Geht man in den konkreten Berechnungen vom Verhältnis zwischen Emission und Wohlstand aus, erhält man einen „Verantwortungs-Fähigkeits-Index“, mit dem man zu folgender Lastenverteilung gelangt: Die USA müssen knapp ein Drittel der globalen Verantwortung tragen, Europa rund ein Viertel, wovon auf Deutschland 5,2 % fällt, während China auf 7,4 % kommt. Insgesamt sollen die Industrieländer rund drei Viertel und die Entwicklungsländer ein Viertel beitragen.83 Bereits dieser Verteilungsschlüssel ist hinsichtlich seiner politischen Durchsetzbarkeit wenig realistisch. Da scheint es illusorisch zu sein, zusätzlich noch die Vergangenheit ins Spiel zu bringen mit dem Ergebnis, dass dem Süden nahezu alle Emissionsrechte zugebilligt würden. Während das KyotoProtokoll (1997), in dem immerhin die globale Ungleichheit vermerkt ist, weitgehend konsensfähig war, fand das „Brazilian Proposal“ von 2005, in dem darüber hinaus die in der Vergangenheit verursachten Schäden einbezogen werden sollten, nur wenige Anhänger. Gleichwohl halte ich den Rückbezug auf die Vergangenheit für sinnvoll. Denn die heutige Situation ist als eine geschichtlich gewordene Gegenwart zu verstehen. Auch wenn sich die historische Dimension nicht vollständig verrechnen lässt, spielt das Bewusstsein über diese Gewordenheit bei der ethischen Begründung eine nicht zu unterschätzende Rolle. So könnte man argumentieren, dass die gegenwärtig lebenden Menschen, je nach Alter, schon länger in den Genuss eines Wohlstandes gelangen, der sich Umweltschäden und Ressourcenausbeutungen verdankt. Außerdem profitieren sie von technischen und sozialen Einrichtungen wie zum Beispiel von modernen Städten, die in Jahrhunderten gewachsen sind.84 Ferner erübrigt sich in den Berechnungen die Retrospektive nur dann, wenn die gegenwärtige Situation die historische Entwicklung tatsächlich abbildet. Doch diese Voraussetzung ist nicht immer gegeben. Es ist auch der Fall denkbar und gar nicht so unwahrscheinlich, dass die alten Industrieländer ihren gewohnten Lebensstandard nicht mehr halten können oder gar verarmen. Obwohl die zitierten Zukunftserzählungen über den baldigen „Niedergang“ der USA sicherlich übertreiben, ist ja seit einiger Zeit tatsäch82 Gardiner 2004, 555 ff.; Meyer 2009b, 96 ff.; Lienkamp 2009, 280 f. 83 Leggewie, Welzer 2009, 67, 104 f.; Meyer 2009b, 80 ff.; Gesang 2011, 58 f. 84 Dieses Argument operiert mit dem Nutznießerprinzip, das mit dem Verursachungsprinzip kombi-

nierbar ist; Meyer 2009b, 97; Leist 2011, 151f.; Gesang 2011, 64 f.

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lich eine Schwäche ehemals reicher Nationen gerade auch in Europa zu beobachten. Für die noch näher zu erläuternde Theorie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen folgt daraus, dass keine homogene und lineare Entwicklung vorausgesetzt werden darf. Vielmehr bedeutet Ungleichzeitigkeit eben auch, dass Länder mit gleichem Entwicklungsniveau sehr unterschiedliche Entstehungsgeschichten aufweisen. Auch ein gegenwärtig verhältnismäßig armes Land kann mit seinem früheren Wohlstand Jahrhunderte lang die Natur geschädigt haben. Im Gedankenexperiment stellt sich die Frage, ob solche Geschichten in der Gegenwart belanglos oder ernst zu nehmen sind. Schließlich ist nicht nur zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern zu unterscheiden, es sind überdies noch die so genannten Schwellenländer zu beachten. Sie sind nicht allein politisch brisant, sondern auch theoretisch interessant, weil sie in zunehmendem Maße an der Umweltzerstörung beteiligt sind. Zwar sind sie reich genug, um finanzielle Belastungen zu tragen. Aber sie haben für ihre Bitte um Nachsicht eine neuartige Begründung, die ich das historische Argument nenne. Sie argumentieren, dass sie die schädlichen Emissionen erst seit kurzer Zeit ausstoßen, während die Industrieländer dies schon seit zweihundert Jahren tun. Daraus folgern sie, dass sie heute dazu dieselbe Berechtigung haben, wie sie die Industrieländer in der Vergangenheit für sich in Anspruch genommen haben. Zugespitzt formuliert, dürften sie noch ebenso lange die Umwelt verschmutzen, bis eine derartige ‚historische Gerechtigkeit‘ hergestellt wäre. Obwohl beispielsweise China vielleicht schon in naher Zukunft ebenso technisch entwickelt sein wird, dabei viele Ressourcen verbraucht und die Umwelt im gleichen Umfang zerstört wie die westlichen Zivilisationen, kann sich dieses Land damit herausreden, das schädigende Verhalten sehr viel später begonnen zu haben. Die historische Gesamtbilanz fällt für China günstiger aus als der Vergleich zwischen gegenwärtigen Zuständen. Bekanntlich hat dieses Argument, das beim ersten Klimagipfel in Kyoto 1997 bereits eine Rolle spielte, die Verhandlungen in Kopenhagen 2009 zum Scheitern gebracht, als nämlich China diesen Vorwurf gegen die USA erhob, die sich davon nicht überzeugen ließ und China zum Sündenbock abstempelte.85 Während die Europäische Gemeinschaft eine Minderung des CO2-Ausstoßes von zwanzig Prozent bis 2020 festgesetzt hat, fordert China vierzig Prozent Reduktion für entwickelte Länder. Der entsprechende Vorschlag besteht darin, dass China eine Gegenleistung etwa in Form eines kostenlosen Technologietransfers erhält. Auch auf dem Klimagipfel in Cancún 2010 spielte das historische Argument eine Rolle, indem der Vertreter Afrikas in erster Linie eine „Kompensation“ von in der Vergangenheit akkumulierten Schäden in den Entwicklungsländern forderte. Tatsächlich wurde sowohl in Kopenhagen als auch in Cancún ein Hilfsfond für die Entwicklungsländer vereinbart – ausdrücklich mit der Funktion, die dort bereits entstandenen schädlichen Wirkungen der ökologischen Krise zu beheben oder abzumildern. In unserem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass überhaupt die Geschichte ins Spiel gebracht wird. Hat diese Bezugnahme auf die Vergangenheit eine bloß symbolische Bedeutung oder führt sie zu quantifizierbaren kompensatorischen Leistungen? Faktisch 85 Dyer 2010, 333 ff.; Konkreteres dazu im Abschnitt „Reale Möglichkeit und Kontingenz“ im sechs-

ten Kapitel.

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spielt sie jedenfalls in den Diskursen eine Rolle und führt zu Zahlungen, die zwar keine wirklichen Entschädigungen sind, immerhin aber als wohlmeinende Gesten verstanden werden können. Damit verbindet sich offenbar die Absicht, das Gefühl für die historische Verantwortung zu verstärken. Obwohl sich eine solche Argumentation nicht unmittelbar in angemessenen Zahlen niederschlägt, kann es die Wirkung ausüben, eine Haltung der Generosität zu erzeugen. Sie kann dann darin bestehen, für die armen Länder mehr zu tun, als man in einer gegebenen Situation gezwungen ist. Bezogen auf die langfristige Verantwortung bedeutet diese Art Großzügigkeit, auch im Hinblick auf ihre Zukunft für diese Länder mehr zu verausgaben. Diese Grundhaltung wird uns im neunten Kapitel dieses Buchs noch weiter beschäftigen, wenn die Modelle des Erbes und der Gabe zur Sprache kommen. Die Verantwortung für in der Vergangenheit verursachte Schäden erhöht sich ganz entscheidend, wenn man außerdem noch die historische Schuld in Rechnung stellt. Denn „Schuld“ hat nicht nur die Bedeutung von Verursachung, sondern schließt die Einsicht in das schuldhafte Handeln ein. Seit der Moderne ist Schuld nicht denkbar ohne Vorsatz und Absicht. Insofern ist zu unterscheiden zwischen einer Schuld der Tat und einer Schuld des Gewissens.86 Während das Verschulden als Schädigung auch ohne billigende Kenntnis möglicher Folgen möglich ist, setzt die moralische Schuld ein entsprechendes Bewusstsein voraus. Hier stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese Unterscheidung zwischen rein tätiger und intendierter Schuld auf dem Feld der intergenerationellen Gerechtigkeit hat. Legt man die erste Definition des Verschuldens im Sinne von Verursachung zu Grunde, scheint die Schuldfrage beantwortbar zu sein. In dieser Bedeutung fungiert in der Umweltpolitik das erwähnte Verursachungsprinzip. Man betrachtet es schon als eine moralische und politische Errungenschaft, wenn dieses Prinzip zur Geltung gebracht werden kann, folgt aus ihm doch, dass in der Vergangenheit verursachte Schäden in der Gegenwart kompensiert werden müssen. Beschränkt man sich auf diesen Grundsatz, spielen die Absichten der früheren Akteure und das kollektive Bewusstsein der Vergangenheit keine Rolle. Die moralische Verantwortung wird auch dann geltend gemacht, wenn kein Unrechtsbewusstsein vorliegt. Die Regel ist Wiedergutmachung von Verschuldung ohne Schuld. Schon auf dieser Ebene zeigt sich allerdings die empirische Schwierigkeit, dass aus Gründen extremer Kontingenz ökologische Schädigungen einzelnen Menschen und selbst bestimmten Generationen schwer nachzuweisen sind.87 Weil sich die globale Verantwortung räumlich und zeitlich ausdehnt, befinden wir uns in einer Grauzone konkreter Schuldzuweisungen. Damit hängt der Umstand zusammen, dass der Grad individueller Schuld, wie auch immer er bestimmt wird, in jedem Fall äußerst gering ist, während 86 Grätzel 2004, 11; vgl. Jonas 1979, 31; Heidbrink 2007, 52 ff.; Meyer 2005, 16; ders. 2009b, 80; 87

Heubach 2008, 67 f.; Böhler 2009, 62. Im Anschluss an Wilhelm Schapps In Geschichten verstrickt kann man hier von einer „Verstrickung“ in diffuser Schuld sprechen; so Grätzel 2004, 13 f., 145; vgl. Meyer 2009b, 90 ff.; Caney 2010, 203 ff.; Gesang 2011, 63.

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die kollektive Schädigung ungeheuer groß sein kann. Die kollektive Schuld kann sogar historische Ausmaße annehmen, wodurch sich die Diskrepanz noch zuspitzt. Wer täglich mit dem Auto zur Arbeit fährt, anstatt ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, wird diese Fahrten nur in geringem Maße als persönliche Schuld etwa am Klimawandel einschätzen, weil ja der eigene Anteil daran tatsächlich verschwindend klein ist. Wesentlich problematischer ist es indessen, die Schuld in der zweiten Definition, also im Sinne des moralischen Bewusstseins in der Vergangenheit nachzuweisen. In der Ökologie ist der Abstand zwischen Verschulden und Schuld besonders groß. Obwohl die Entstehungsgeschichte der Umweltzerstörung bis in Antike, Mittelalter und Neuzeit zurückreicht und obwohl die Schäden, wie zum Beispiel des Abholzens der Wälder, schon sehr viel früher spürbar waren, ist das entsprechende Schuldbewusstsein erst in jüngster Zeit entstanden.88 Bei vorsichtiger Schätzung existiert das ökologische Wissen nicht länger als fünfzig Jahre; erst seit drei Jahrzehnten lässt sich von einer ökologischen Bewegung sprechen. Vor vierzig Jahren begannen Wissenschaftler zu argwöhnen, dass Klimaschwankungen wahrscheinlich durch menschliches Handeln verursacht werden könnten. Erst vor gut dreißig Jahren melden sich warnende Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Erderwärmung bereits im Gange ist; und vor zwanzig Jahren war es erstmals möglich, den wissenschaftlichen Beweis zu erbringen, dass die Veränderungen tatsächlich auf die Aktivität von Menschen zurückzuführen sind. In Kyoto 1997 war noch nicht bekannt, dass der globale Temperaturanstieg so schnell voranschreiten würde, wie spätere Berechnungen voraussagten. Was wir heute als einen vom Menschen verursachten Klimawandel bezeichnen, konnte in früheren Jahrzehnten weder vorhergesehen noch beabsichtigt werden.89 Mit solchen Daten ließe sich eine Geschichte der Ahnungslosigkeit schreiben. Da die hier in Frage kommende historische Schuld häufig nur aus der gegenwärtigen Perspektive rekonstruiert werden kann, besteht die Gefahr, bestimmten Generationen heute ein Schuldbewusstsein zuschreiben zu wollen, das sie damals noch gar nicht zu entwickeln vermochten. Dieses Dilemma entspricht der im dritten Kapitel erläuterten hermeneutischen Geschichtsbetrachtung, die genau zu unterscheiden hat, welche Bedeutung einem historischen Ereignis von einem späteren Standpunkt aus zugeschrieben wird und welche Wahrnehmung die dabei direkt Beteiligten hatten. Wie erst in der Nachkriegszeit festgestellt werden konnte, dass mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers im Juli 1914 der Erste Weltkrieg begann, so lässt sich erst in der heutigen Gegenwart behaupten, dass um die Mitte der neunziger Jahre die aktuelle ökologische Krise ihren Anfang nahm. Diese Problematik wird auch in Zukunft zu einer ständigen rückwirkenden Beurteilung und Restrukturierung der Geschichte führen. 88 „Geschichtliches zur Entdeckung und Erforschung des Treibhauseffektes“ bei Lienkamp 2009,

60 ff. – Dazu gehört auch die Geschichte der angewandten Ethik, die einen Seismographen von Wissen und Nichtwissen darstellt; dazu Grunwald 2008, 55 ff., 319 ff., 339 ff. 89 Birnbacher 1988, 14 f. – Eine Ausnahme bildet die Atompolitik, deren Risiken und ungelöste Probleme von Anfang an bekannt waren und die daher wider besseren Wissens betrieben wurde, so dass in diesem Fall bewusste Schuld angenommen werden darf; Böhler 2009, 44.

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Die weitere Schwierigkeit besteht nicht nur darin, die vergangene Schuld nachzuweisen, sondern diese Schuld in den gegenwärtigen Zuweisungen von Verantwortung angemessen zu beurteilen. Hier stellt sich die Frage, ob das Wissen des Verschuldens, d.h. die Kenntnis der zu erwartenden schädlichen Wirkungen, vielleicht auch das bereits vorhandene moralische Schuldbewusstsein einer sozialen Gruppe, ein zusätzliches Kriterium bei der Forderung nach Kompensation bilden soll. Bekanntlich spielt im Strafrecht die Absicht des Täters eine entscheidende Rolle. Soll die kollektive Intention bei ökologischen Schäden oder bei Vergeudung natürlicher Ressourcen eine analoge Bedeutung haben? Zur Beurteilung könnten verfügbare Prognosen, öffentliche Diskurse, politische Entscheidungsprozesse und soziologische Umfragen zum Zuge kommen, um nachzuweisen, dass eine bestimmte Generation die Schäden sehr wohl kennen konnte und bewusst in Kauf genommen hat. Wenn man dieses Kriterium hinzunimmt, wäre der Unterschied wichtig, ob bestimmte Schäden ausschließlich vor dem Wissen über die negativen Wirkungen verursacht worden sind oder ob nach deren Kenntnis das schädliche Verhalten fortgesetzt wird. Denn es macht einen Unterschied, ob Atomkraftwerke vor dreißig Jahren oder heute nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima gebaut werden. Damit könnte die subjektiv bewusste Schuld zu einem neuen moralischen Maßstab für kompensatorische Ansprüche avancieren. Die Anrechnung von Schuld hat wiederum weitreichende Folgen für den Begriff der Verantwortung. Das Prinzip der Verursachung führt zu einem strikt konsequenzialistischen Verantwortungsbegriff, der allein die Handlungswirkungen in Rechnung stellt, auch wenn diese weder vorhergesehen noch beabsichtigt wurden. Dafür könnte man in unserem Fall auch die Formulierung ‚Effekte der Industrialisierung‘ einsetzen, für die ein industrialisiertes Land Kompensation zu leisten hat, wenn damit Benachteiligungen für andere Länder verbunden sind. Zur Begründung reicht es aus, darauf hinzuweisen, dass aus dem Industrialisierungsprozess Vorteile gezogen wurden, die bereits in der Vergangenheit zu Ungerechtigkeiten führten und die heute ausgeglichen werden sollen. Wird indessen von einer Schuld gesprochen, die das Wissen um die Konsequenzen sowie die entsprechendeAbsicht voraussetzt, lässt sich im strengen Sinne von Verantwortung sprechen, weil erst dann eine Verantwortbarkeit für Handlungen vorliegt, zu der wesentlich Intentionalität und Wahlfreiheit gehören. Es ist kein Zufall, dass dieses Problem der Zuschreibung von Verantwortung im historischen Kontext besonders umstritten ist, weil sich die Folgen bestimmter Handlungen häufig erst nach einer mehr oder weniger langen Zeit herausstellen. Dadurch entsteht die genannte Schwierigkeit, rückblickend festzustellen, ob eine solche Verantwortung früheren Akteuren zugeschrieben werden kann. Auf diese Weise wird die intergenerationelle Gerechtigkeit unweigerlich zu einem Problem der historischen Gerechtigkeit in einem Vergangenheit und Zukunft übergreifenden Sinn. Dahinter stehen die Erwartung und der Wunsch, eine weltgeschichtliche Entwicklung nachzuholen, und der Anspruch, dafür eine moralische Legitimation zu haben.

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6. Weltgeschichtliche Gerechtigkeit Mit diesem Titel lehne ich mich an den Begriff der „globalen Gerechtigkeit“ an, dessen Thematik ja auch in diesem Buch präsent ist. Angesichts der Globalisierung liegt es nahe, die Idee der Weltgeschichte zu rehabilitieren,90 ohne den angeblichen Universalismus und die Teleologie der ‚klassischen‘ Geschichtsphilosophie zu übernehmen. Ich spreche von weltgeschichtlicher Gerechtigkeit, wenn bei Problemen globaler Gerechtigkeit die historische Dimension von besonderer Bedeutung ist. Dabei kombiniere ich die vergangenheitsbezogene Theorie „historischer Gerechtigkeit“ und die zukunftsorientierte Konzeption „intergenerationeller Gerechtigkeit“ und verstehe somit historische Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinn,91 der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einbezieht. Wie erläutert, spielt hier die kompensatorische Gerechtigkeit eine maßgebende Rolle. In den bisherigen Erörterungen blieb die Frage nach der Rechtfertigung historischer Gerechtigkeit noch unbeantwortet. Zuletzt stellte sich das Problem, ob armen Ländern ein Recht auf Entwicklung eingeräumt werden soll. Obwohl das Konzept der „nachholenden Entwicklung“ diskreditiert zu sein scheint, hat sich die Aufgabe noch keineswegs erledigt, unterschiedliche Niveaus der Entwicklung auszugleichen. Doch fragt es sich, mit welchen Argumenten die globalhistorische Anpassung legitimiert werden kann. In den herrschenden Debatten stehen sich die erwähnten Prinzipien Egalität und Suffizienz mit ihren jeweiligen relativen und absoluten Standards gegenüber, welche historische Vergleiche ein- oder ausschließen. Darüber hinaus versuche ich dieses Problem zu lösen, indem ich die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen kläre und in Begründungen einer weltgeschichtlichen Gerechtigkeit transformiere. Zunächst liegen den Konzeptionen historischer Entwicklung bestimmte Modelle zu Grunde, die in den dargestellten Geschichtserzählungen wie auch in den diskutierten Maßstäben intergenerationeller Gerechtigkeit leitend sind. Wenn gefordert wird, dass weniger entwickelte Länder den Prozess der Modernisierung „nachholen“, wird ihnen die Berechtigung zugebilligt, auf bestimmten Feldern „Fortschritte“ zu machen. Sofern dies zur Folge hat, dass Industrieländer auf wirtschaftliches Wachstum verzichten müssen, bedeutet es für diese Länder Stagnation oder gar Rückgang. Aber falls es gelingen sollte, einen alternativen Fortschritt zu konzipieren, können vielleicht alle Beteiligten daran Anteil haben. Die in dieser Hoffnung enthaltene geschichtsphilosophische Grundidee lässt sich so formulieren, dass Verbesserungen dann geboten sind, wenn es die realen Möglichkeiten in einem sozial und ökologisch vertretbaren Maße erlauben. Nun hat die Idee des Fortschritts wie der historischen Entwicklung überhaupt ihrerseits bestimmte theoretische Voraussetzungen, die in diesem Kapitel behandelt werden sollen. Damit gehe ich von den Geschichtsmodellen zu bestimmten Theoremen der Geschichtsphilosophie über, auf die schon mehrfach hingewiesen wurde: Kontinuität, 90 Im Anschluss an Schulin (Hg. 1974), Osterhammel 2001 u.a.; Rohbeck 2000, 159 ff.; ders. 2010,

165 ff.

91 Siehe den Abschnitt „Verantwortung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit“ im vierten Kapitel, wo diese

Fragestellung einer dritten Bedeutung von historischer Gerechtigkeit zugeordnet wurde.

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Kontingenz, Kohärenz und Ungleichzeitigkeit. Indem ich sie hier thematisiere, können sie vor dem Hintergrund des bereits ausgeführten Materials auf inhaltliche Weise analysiert werden. Die Konzeption nachzuholender Fortschritte setzt die Beobachtung voraus, dass soziale Prozesse auseinanderdriften. Um dieses Phänomen theoretisch zu beschreiben und zu beurteilen, dient die Kategorie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die wir bereits in den Utopien von Bacon und Mercier wie auch in der Geschichtsphilosophie von Condorcet kennen gelernt haben. Sie besagt in der Philosophie der Geschichte, dass in verschiedenen Räumen gleichzeitig unterschiedliche Niveaus der zivilisatorischen Entwicklung anzutreffen sind. Geht man von diesem Theorem aus, folgt daraus das Programm einer Synchronisation des Ungleichzeitigen. Die durchaus problematischen Implikationen dieser Konstruktion erschließen sich im Zuge der Erörterung der genannten weiteren Geschichtstheoreme. Das Problem der Kohärenz stellte sich bereits im Kontext der Fristen, die nicht nur einzeln zu wahren, sondern auch untereinander zu koordinieren sind. Ebenso lässt sich das Prinzip der Wahlfreiheit nur rechtfertigen, wenn die Optionen so kohärent sind, dass in ihnen sowohl Möglichkeitsbedingungen als auch Interessenkonflikte berücksichtigt werden. Letztlich geht es um die Kohärenz von Zielen, die jeweils in Übereinstimmung zu bringen wie auch an die gegebenen Bedingungen anzupassen sind. Zentral ist hier die Beziehung zwischen synchroner und diachroner Gerechtigkeit. Mit Blick auf die intergenerationelle Gerechtigkeit werde ich das Konzept einer spezifisch historischen Kohärenz vorstellen. Es wird auch meinem Ansatz einer weltgeschichtlichen Gerechtigkeit zu Grunde liegen. Im Anschluss an Blochs Kategorie der realen Möglichkeit werde ich das Theorem historischer Kontingenz entwickeln. Es hängt mit dem Prinzip der Kohärenz zusammen, da die Suche nach kohärenten Urteilen und Entscheidungen als eine Form der Beherrschung kontingenter Prozesse verstanden werden kann. Wie die Geschichtsphilosophie insgesamt als ein mehr oder weniger gelungener Versuch der Kontingenzbewältigung gilt, so hat auch das Programm der intergenerationellen beziehungsweise historischen Gerechtigkeit das Ziel, die Ungerechtigkeiten infolge der Zufälle der Geburt zu kompensieren. Der zitierte Grundsatz, dass niemand durch den Zeitpunkt seiner Existenz benachteiligt werden darf, bedeutet in diesem Kontext den Wunsch nach Überwindung historischer Kontingenzen. Das trifft auch auf die hier ins Auge gefasste Theorie einer Gerechtigkeit zu, mit Hilfe derer die negativen Folgen kontingenter Entwicklungen in der Globalgeschichte abgemildert oder beseitigt werden sollen. Das Kontingenztheorem dient nicht selten dazu, die Verantwortung für zukünftige Generationen in Zweifel zu ziehen. Demgegenüber werde ich einen Vorschlag unterbreiten, wie mit der Kontingenz in der Geschichte verantwortungsvoll und kreativ umgegangen werden kann. Dies heißt zwar, Zufälle und Brüche in historischen Prozessen anzuerkennen, aber zugleich auch auf kontinuierliche Zusammenhänge zu achten, die ich als intergenerationelle Kooperation interpretiere. In unserem Kontext ist das nicht etwa aus metaphysischen, sondern aus ethischen Gründen geboten, weil nur unter der Voraussetzung der Idee historischer Kontinuität das Ziel intergenerationeller und weiterhin weltgeschichtlicher Gerechtigkeit begründbar ist.

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Kontinuität als ethisches Gebot Wie in der Einleitung erwähnt, gab es nachvollziehbare Motive dafür, das Prinzip historischer Kontinuität in Frage zu stellen und an dessen Stelle die Brüche in der Geschichte zu betonen. Dafür sprachen die Erfahrungen mit dem 20. Jahrhundert, die den Ruf nach einer Zäsur und einem Neuanfang plausibel machten. Kontinuität stand zudem für die herrschende Geschichtsschreibung, mit der die Unterdrückten und Opfer zu brechen hatten. Leitend war auch das theoretische Motiv, die Teleologie der Geschichte und das Dogma des Determinismus zu umgehen; heute könnte man die Skepsis gegenüber einer evolutionistischen Geschichtstheorie hinzufügen.92 Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Untersuchungen lassen sich hingegen Gründe dafür anführen, die Idee der Kontinuität in der Geschichte zu rehabilitieren. Bereits das Konzept historischer Fristen eignet sich dazu, Brücken zu den zukünftigen Generationen aufzubauen. Sollen dabei verhängnisvolle Entwicklungen ausgeschlossen werden, benötigen entsprechende Beschränkungen eine gewisse Stetigkeit verantwortlichen Handelns. Das gilt auch für die Grundsätze Verschulden und Schuld, deren Kompensation eine Anerkennung kontinuierlicher Prozesse erfordert. Konzentrierten sich frühere Erörterungen über die Kategorie historischer Kontinuität auf erkenntnistheoretische und narratologische Aspekte,93 betone ich jetzt die pragmatische und praktische Relevanz im Sinne einer langfristigen Verkettung von Handlungen. Die Idee der Kontinuität gehört daher nicht nur zur theoretischen historischen Vernunft, sondern auch zur praktischen Vernunft im geschichtlichen Kontext. Wie das Prinzip der Hoffnung auf Besserung bei Kant ist sie ein moralisches und politisches Gebot. Um diese Idee zu erschließen, knüpfe ich an das ambivalente Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität an, so wie ich es im Kontext der „bedingten Offenheit“ der Zukunft entwickelt habe. Der Grundsatz der Offenheit bedeutet zunächst historische Diskontinuität. Mit der Garantie von Wahlmöglichkeiten ist die Vorstellung verbunden, dass zukünftig Generationen andere Optionen wählen, als uns heute selbstverständlich sind. So können vertraute Wahrheiten wie der Glaube an einen fortschreitenden Wohlstand verabschiedet werden. Bezweifelt wird nicht nur, ob aus heutiger Sicht ökonomische Prosperität in Zukunft erreicht werden kann, sondern vor allem auch, ob dieses Ziel überhaupt wünschenswert ist. Diese Art Diskontinuität betrifft also nicht nur die Mittel der Realisierung, sondern die Wertbasis der Zukunftsverantwortung. Geschichtsphilosophisch formuliert, liegt die so zu ermöglichende Freiheit darin, den zivilisatorischen ‚Fortschritt‘ selbst zu bestimmen oder auch zu modifizieren, indem zur Disposition steht, ob sich eine Generation auf einem bescheideneren Niveau andere Vorteile der Umwelt und sozialen Gerechtigkeit verschaffen kann. Das schließt die Reflexion darüber ein, dass sogar das Geschichtsbewusstsein selbst einem historischen Wandel unterliegt und sich in Zukunft ändern kann. 92 Dazu Rohbeck 2010, 140 ff. 93 Siehe Baumgartners transzendentalphilosophischen Entwurf Kontinuität und Geschichte (1973);

daran anknüpfend Zwenger 2008.

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Doch mit dem Konzept einer bedingten Offenheit der Geschichte ist wieder Kontinuität gefordert. Dabei handelt es sich nicht mehr um die alte Fortsetzung des Wirtschaftswachstums, sondern um eine neue Kontinuität der ökologischen und sozialen Gerechtigkeit. Auf diesem Feld dürfen keine Lücken in den Handlungsketten der Langzeitverantwortung zugelassen werden. Dazu gehört auch, an bestimmten universalen Prinzipien, die bereits über längere historische Zeiträume Geltung haben, festzuhalten, selbst wenn sich dabei die Frage nach der Berechtigung einer Anwendung gegenwärtiger Maßstäbe auf die Zukunft stellt und die Unsicherheit über die historische Reichweite ethischer Standards bestehen bleibt. Genauer ist zu fragen, welche Wertbasis wir vom Standpunkt der heutigen Gegenwart mit guten Gründen zukünftig lebenden Menschen unterstellen dürfen. Denn nur unter der Voraussetzung eines Wertekonsenses ist es möglich, sich mit einiger Bestimmtheit vorzustellen, inwieweit uns zukünftig lebende Menschen für unsere heutigen Handlungen zur Verantwortung ziehen. Einer solchen Unterstellung bedarf es sogar beim Prinzip der Wahlfreiheit. Es verheißt zwar zunächst Diskontinuität, weil den zukünftigen Generationen freigestellt werden soll, für welche Alternativen sie sich entscheiden. Aber zugleich setzt es eine gewisse Homogenität der Geschichte voraus, die gewährleistet, dass die Autonomie des Menschen einen die historischen Zeiten übergreifenden Wert darstellt. Wie ja bekannt ist, dass dieser Grundsatz erst in der Neuzeit und Aufklärung spürbar anerkannt und auch danach immer wieder bedroht und verletzt wurde, so ist seine Wertschätzung in der Zukunft alles andere als selbstverständlich. Wenn daher die Befriedigung von „Grundbedürfnissen“ und die Gewährung von „Verwirklichungschancen“ zukünftig lebender Menschen gefordert werden, schwingt die Hoffnung mit, diesen Wert möglichst langfristig zu tradieren. Es geht nicht um eine abstrakte Zuschreibung, sondern um die Erwartung eines kontinuierlichen historischen Prozesses. Am Beispiel der Rechte von Menschen, die in Zukunft zu erwarten sind, lässt sich dieser Zusammenhang erläutern. Der Einwand, zukünftig lebende Menschen könnten keine Rechte „haben“, weil sie noch nicht existierten,94 ist deshalb unbegründet, weil man sich damit unmittelbar in die Zukunft versetzt, als ob diese schon Gegenwart wäre. Zwar ist es prinzipiell möglich, noch nicht existierenden Menschen Rechte zuzubilligen, aber dabei bedarf es stets einer zeitlichen Zuordnung.95 Damit stellt sich die Frage, mit Hilfe welcher Konstruktion die zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Zukunft überbrückt werden kann. Die allgemein anerkannte Antwort besteht darin, dass man Rechte ohnehin nicht „hat“, sondern dass gegenwärtig lebende Menschen den zukünftig erwarteten Menschen bestimmte Rechte nur „zuschreiben“ können.96 Während früher lebende 94 Baier 1980, 171 ff.; Plechter 1980, 167 ff.; Feinberg 1980, 170 f.; Warren 1980, 261 ff.; Thompson

1980, 203 ff.; De George 1980, 157 ff.; Birnbacher 1988, 98 ff.; Beckermann 2004, 4; Gesang 2011, 136. 95 Brumlik 1997, 21 f.; Unnerstall 1999, 25. 96 Tremmel 2004, 6; Meyer 2005, 29 f.; Heubach 2008, 111 ff. – Nur unter dieser Voraussetzung kann man sagen, es gebe „in der Gegenwart vorwirkende zukünftige Rechte zukünftiger Menschen“; Ekardt 2005, 91.

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Menschen tatsächlich Rechte hatten, aus denen sich heute bestimmte Pflichten ableiten lassen, verfügen mögliche Personen der Zukunft noch nicht über Rechte. Wenn wir mit ihnen heute Rechte verbinden, so geschieht dies deshalb, weil wir wollen, dass sie später welche haben.97 Doch halte ich selbst diese Lösung für nicht befriedigend. Denn aus meiner Sicht handelt es sich hier nicht nur um ein semantisches, sondern um ein geschichtsphilosophisches Thema. So stellt sich das weitergehende Problem, unter welchen Voraussetzungen eine solche Zuschreibung überhaupt möglich ist. Wenn der performative Akt eine zeitliche Zuordnung leisten soll, kommt auch in diesem Fall ein historisches Bewusstsein ins Spiel. Mit dem Zuschreibungs-Modell wird nicht nur die Bedeutung der Gegenwart unterstrichen, sondern ein geschichtliches Kontinuum zwischen den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen konstruiert. Wenn nämlich zukünftigen Menschen „gleiche Rechte“ zuerkannt werden, beziehen sich diese auf vergleichbare und damit letztlich ähnliche Interessen und Bedürfnisse, die von diesen Rechten geschützt werden sollen.98 Das setzt wiederum eine Gemeinsamkeit voraus, die nicht allein anthropologisch begründet werden kann, sondern die Annahme einer stetigen Zivilisation einschließt. Wenn nun zur Realisierung derartiger Rechte – wie dem Recht auf eine autonome Lebensführung – entsprechende Bedingungen verlangt werden, die nur dadurch Handlungsmöglichkeiten eröffnen, dass sie bestimmte Risiken vermeiden, bedarf es einer praktischen Kontinuität ethischer Verantwortung. Sie besteht in einer intergenerationellen Kooperation, die im Zusammenhang der langfristigen Verantwortung schon erwähnt wurde. Wie die Geschichtsphilosophen der Aufklärung die Geschichte als einen die Generationen übergreifenden Kooperationszusammenhang charakterisierten,99 so können wir heute in gleicher Weise historische Kontinuität als Aufgabe verstehen, für diachrone Kooperation zu sorgen. Dabei kann es sich um konkrete Projekte handeln, die von einer Generation begonnen und von weiteren Generationen fortgesetzt werden wie zum Beispiel ökonomische Aufbauprogramme, Verkehrsinfrastrukturprojekte oder Investitionen in lange Zeit anzuwendende Technologien etwa in der Raumfahrttechnik. In diesen Fällen verfolgen kollektive Akteure über mehrere Generationen hinweg gemeinsame Ziele, die den zeitlichen Wirkungsbereich einer Generation übersteigen. Da sich die Zielvorstellungen gleichwohl verändern können, sollten derartige Projekte zeitlich begrenzt bleiben.100 Doch beim Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle bleibt auch den sehr entfernt leben97 Da die zukünftigen Menschen ihre Rechte noch nicht selbst einfordern können, müssen dies „stell-

vertretend“ Menschen oder Institutionen in der Gegenwart tun; Feinberg 1980, 170; Birnbacher 1988, 98 ff. 98 Dieses Argument wird nicht von der Kritik am Egalitarimus berührt, der im vierten Kapitel diskutiert wurde. 99 Dieser Aspekt wird noch im Abschnitt „‚Generation‘ in der Geschichtsphilosophie“ des achten Kapitels zur Sprache kommen. 100 Birnbacher 1988, 157 ff.; Kornwachs 2000, 105 ff.; Mehl 2001, 193 ff.; Berndes 2001, 59, 103; siehe auch die Ausführungen zur „long-term-cooperation“ bei Tuomela 2000, 341 ff.

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den Generation gar nichts anderes übrig, als mit den gegenwärtig Lebenden zu kooperieren, so wie die Gegenwärtigen verpflichtet sind, diese über sehr viele Generationen notwendige Kooperation heute schon zu ermöglichen.101 Das verlangt eine gesicherte Weitergabe von Warnung, Wissen und Können. Andere Beispiele sind Mülldeponien und Weltraumschrott. In einem schwächeren Sinn kann von einer intergenerationellen Kooperation gesprochen werden, wenn die kollektiven Akteure Bedingungen erzeugen oder erhalten, unter denen generationenübergreifende Projekte möglich sind. Um Kontinuität auf dem Feld der Umweltpolitik zu garantieren, fordert etwa Antony Giddens rechtlich bindende Systeme, die aufeinander folgende Regierungen durch die Verfassung verpflichten, zum Beispiel das Programm der Emissionsreduktion fortzuführen.102 Das Theorem der Kontinuität bezieht sich jedoch nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf die Vergangenheit. Wie wir im vorausgegangenen Abschnitt „Folgen der Vergangenheit“ sahen, bedarf die Begründung von Verantwortung für zukünftige Generationen zusätzlich eines Rückbezuges auf vergangene Ereignisse, um kompensatorische Leistungen einzuklagen. Sowohl diese Forderung als auch deren Anerkennung unterstellt wiederum die Idee historischer Kontinuität, damit Ketten der Verantwortung von den Geschädigten zu den Kompensationspflichtigen gebildet werden können. Eine solche Idee dient in diesem Fall nicht nur der Beschreibung geschichtlicher Prozesse. Mit ihr verbindet sich vielmehr die moralische Verpflichtung, für Kontinuität in der Generationenfolge Sorge zu tragen. Im Grunde zielt eine derartige Bemühung um praktische Kontinuität auf die Bewältigung von Kontingenz in der Geschichte ab.

Reale Möglichkeit und Kontingenz In der Ethik der Zukunft spielt die Kontingenz eine zweischneidige Rolle. Die Einsicht, dass die Zukunft ungewiss und unbestimmt sei, insbesondere wegen der neuen Technologien, deren Entwicklung und Folgen noch gar nicht abschätzbar sind, dient manchmal als 101 Interessant ist der kulturelle Unterschied bei den Modellen intergenerationeller Kooperation.

Während in den USA ursprünglich „Monumente“ mit „universellen Zeichen“ entworfen wurden, dominieren in Europa „institutionelle“ Lösungen, die auf einer Tradierung des Wissens basieren; Berndes 2001, 103 f. 102 Giddens 2008, 8 f., 17; ders. 2009, 151. – So hat sich beispielsweise die britische Regierung gesetzlich dazu verpflichtet, die Treibhausgase zu reduzieren, bis zum Jahr 2020 um mindestens 26 Prozent und bis 2050 um mindestens 60 Prozent; Opaschewski 2008, 183. – Nach Leggewie und Welzer ist die sowohl globale als auch diachrone Kooperation politisch in drei Varianten möglich: Entweder geht eine Nation mit einer Lösung voran und zwingt andere mit mehr oder weniger sanfter Macht zu folgen (Hegemonie). Oder es handeln gleichberechtigte und wechselseitig voneinander abhängige Akteure eine Problemlösung gemeinsam aus (Multilateralismus). Oder die Akteure starten nationale Alleingänge und regionale Netzwerke, deren Ansätze durch Überzeugung und Synergie zur Gesamtlösung zusammenwachsen (Konvergenz); Welzer 2008, 250 ff.; Leggewie, Welzer 2009, 130, 156 ff., 170 ff.

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Vorwand gegen jede Form von Zukunftsethik.103 Die Zukunft sei so unsicher, lautet das Argument, dass sich jede Vorsorge erübrige. Dagegen wenden sich die Befürworter einer Verantwortung für zukünftige Generationen mit Berufung auf Prognosen, die unter anderem die wahrscheinliche Wirksamkeit gegenwärtiger Handlungen einschließen. Es handelt sich hier offenbar um Versuche, die Kontingenz im Hinblick auf die Zukunft zu verringern. Das gilt auch für die erwähnte Vorgabe, dass kein zukünftig lebender Mensch durch zufällige Umstände benachteiligt werden dürfe. Intergenerationelle Gerechtigkeit bedeutet dann vor allem, kontingente Differenzen in den Lebensverhältnissen der Menschen unterschiedlicher historischer Zeiten auszugleichen. Das Ziel diachroner Gerechtigkeitstheorien besteht daher im moralischen Umgang mit historischer Kontingenz. In diesem Sinn lässt sich die Einsicht in die Kontingenz historischer Prozesse produktiv wenden: Gerade aus der begrenzten Unbestimmtheit folgt eine ethische Begründung fürs Handeln. Wenn gesagt wurde, dass Fristen auf reale Möglichkeiten verweisen, so bedeutet dies hier, dass sie Handlungsräume festlegen, die wiederum die Bedingungen bereit stellen, um den Horizont weiteren Handelns zu erhalten oder zu vergrößern. Übersetzt man nun den Begriff der realen Möglichkeit in den der Kontingenz, so kann dieser dazu inspirieren, neue Chancen für praktische Freiheit und verändernden Eingriff wahrzunehmen.104 Denn Kontingenz beschreibt den Spielraum, innerhalb dessen alternative Entwicklungen möglich sind. Wenn man es in Zukunft gerade nicht dem Zufall überlassen will, wie es in der Geschichte weitergeht, dann ist an dessen Stelle die bewusst zu realisierende Handlungsmöglichkeit zu setzen. Nur unter der Voraussetzung freien Handelns ist Verantwortung denkbar. Wie wir sahen, stand im Zentrum von Blochs Prinzip Hoffnung die Kategorie der realen Möglichkeit, welche die Vermittlung zwischen objektiven Bedingungen und subjektivem Handeln darstellt. Diese Kategorie lässt sich in die Kontexte anderer Theorien übersetzen. In der Phänomenologie von Husserl ist auf vergleichbare Weise vom „Horizont“ die Rede, der das noch nicht Aktualisierte der uns umgebenden Objekte meint.105 Auch Luhmann, der sich auf Husserl beruft, bezeichnet mit dem Horizontbegriff die Redundanz intendierter Objekte und damit den Überschuss an Möglichkeiten.106 Ricœur demonstriert, wie der Begriff der Kontingenz in praktischer Absicht aufgewertet werden kann, indem er vorschlägt, den historischen Determinismus aufzubrechen und in die Geschichte wieder Kontingenz einzuführen, um damit die Möglichkeiten des praktischen Eingriffs für die Gegenwart und Zukunft zu erkunden.107 In den Sozialwissenschaften bis hin zur evolutionären Ökonomik richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf Kontingenzen, um dem Mythos einer linearen 103 Zitiert bei Tremmel 2003, 50; Heubach 2008, 125 f.; vgl. Caspar 2001, 85 f.; Grunwald 2008, 104 105 106 107

43 f. Demandt 1994, 275 f.; Schnädelbach 2003, 348 f.; Cruz 2005, 114 ff.; Roldán 2006, 543 f. Husserl 1985, 49, 62 f., 80 ff. Luhmann 1982, 93; vgl. Rohbeck 2000, 134 ff. Ricœur 2004, 464 f. – Ebenso weiß Adorno den „Zufall“ zu schätzen, indem er in ihm die Negation einer naturwüchsigen Totalität sieht; Adorno 1977, Bd. 6, 315.

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Optimierung entgegenzutreten. Der Grundtenor lautet, trotz angeblich unüberwindbarer Systemzwänge mit Kontingenzen vernünftig und verantwortungsvoll umzugehen. In diesen Tendenzen sehe ich ein Zeichen dafür, dass die Rolle handelnder Subjekte wieder entdeckt und aufgewertet wird.108 Selbstverständlich sind damit nicht nur Individuen gemeint, sondern vor allem auch kollektive Subjekte und Institutionen. Selbst in der Geschichtswissenschaft verstärkt sich das Interesse für ungenutzte vergangene Optionen, wie in methodologischen Reflexionen über kontrafaktische Erklärungen zum Ausdruck kommt. Um den Begriff der Kontingenz in praktischerAbsicht anzuwenden, ist es imAnschluss an die Geschichtstheorie hilfreich, zwischen Zufall und Kontingenz zu unterscheiden.109 Der Zufall ist ein Ereignisbegriff; er bezeichnet die Koinzidenz voneinander unabhängiger Handlungsketten, die zwar als einzelne Handlungen auf Motiven und Zielsetzungen basieren, aber in ihrem Zusammentreffen und in ihren Auswirkungen für die Akteure selbst als das Unbeabsichtigte, Unvorhergesehene oder Unerwartete erfahren werden. Der Begriff der Kontingenz bezieht sich hingegen auf Strukturen, d.h. auf politische Institutionen, soziale Systeme oder gesellschaftliche Dynamiken. Damit verweist er auf denjenigen Bereich, innerhalb dessen der Zufall möglich ist. Wie die Kontingenz die Bedingung der Möglichkeit des Zufalls ist, so macht der Zufall die Kontingenz überhaupt erst erfahrbar und faktisch bestimmbar. Die Klimakonferenzen von Kyoto 1997 bis Cancún 2010 sind dafür ein Beispiel. Indem derartige Konferenzen einerseits viele Akteure versammeln und andererseits wenige Handlungsspielräume enthalten, kommt bei ihnen die strukturelle Kontingenz zum Vorschein. Doch das Scheitern 2009 in Kopenhagen und der wesentlich geschickter durchgeführte und etwas erfolgreichere Gipfel in Cancún belegen wiederum, welche Rolle ereignishafte Zufälle spielen können. Bei der Anwendung der Kategorien Zufall und Kontingenz auf den historischen Raum der Zukunft sind nun einige Modifikationen sinnvoll. Denn es ist kaum möglich, Zufälle zu antizipieren. Während der Zufall für Zukunftsfragen faktisch ausfällt, vermag die Kategorie der Kontingenz gute Dienste zu leisten. Denn sie beschreibt die systemischen Bedingungen, unter denen alternatives Handeln möglich ist. Um dabei das individuelle Handeln nicht aus dem Auge zu verlieren, kann man mit Bloch an die Stelle des Zufallsbegriffs die Kategorie der Möglichkeit setzen, die dann im Unterschied zum Begriff der Kontingenz vor allem den subjektiven und normativen Aspekt betont. In Anlehnung an Luhmanns Theorie der doppelten Kontingenz möchte ich mit Blick auf die Zukunft von einer dreifachen Kontingenz sprechen. Die doppelte Kontingenz 108 Im Gegensatz dazu behauptet Heidbrink, die Paradoxie der Verantwortung bestehe darin, einen per-

sonalistischen Begriff auf systemische Prozesse zu übertragen: 2007, 11, 113; andere Autoren sprechen von einer veralteten „Akteurssemantik“, die den globalen Systemen nicht mehr gerecht werde; besonders radikal Aderhold, Heideloff 2001, 4 f.; vgl. schon Lübbe 1994, 289 ff. Demgegenüber sprechen Leggewie und Welzer von einem „Gelegenheitsfenster“ für sinnvolles Gegensteuern gegen unheilvolle Entwicklungen; Leggewie, Welzer 2009, 16. 109 In diesem Sinn lässt sich auch zwischen einer Ereigniskontingenz und einer Prozesskontingenz unterscheiden; Hoffmann 2005, 48 ff.; vgl. Rohbeck 2010, 214.

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ergibt sich aus der gleichzeitigen Interaktion miteinander Kommunizierender.110 Sie besteht in der Unbestimmtheit wechselseitiger Deutungen, wenn sich die eine Person nicht sicher sein kann, ob sie von der anderen Person korrekt verstanden wird. Diese Kontingenz betrifft die Gegenwart, innerhalb derer die Optionen ausgehandelt werden und die Entscheidungen für oder gegen eine vorsorgende Politik fallen. Die dritte Kontingenz kommt durch die zusätzliche Zeitdimension der Zukunft und damit durch die Bezugnahme auf später Betroffene hinzu. Diese Perspektive hat zur Folge, dass zusätzlich zu den Unwägbarkeiten in der Gegenwart noch die Kontingenz der in Zukunft Deutenden und Handelnden zu beachten ist. So bleibt es ungewiss, wie zukünftige Generationen die Hinterlassenschaften der Gegenwärtigen bewerten und handhaben werden. Neben dem Bedarf an Verständigung darüber, ob alle Beteiligten in den sachlichen und normativen Fragen hinsichtlich dessen, was zu tun ist, übereinstimmen, wie es schon aufgrund der doppelten Kontingenz erforderlich ist, gilt es zusätzlich noch in Erwägung zu ziehen, dass im Falle solcher Generationen, deren Lebenszeit sich nicht überschneidet, ein derartiges Einvernehmen noch unwahrscheinlicher wird und daher mit Blick auf historische Kontinuität durch gezielte Maßnahmen soweit wie möglich abzusichern ist. Nur so können die Chancen darauf erhöht werden, dass die Maßnahmen, die heute getroffen werden, um den Horizont realer Möglichkeiten für zukünftige Generationen zu bewahren beziehungsweise auszudehnen, auch als solche verstanden und bewertet werden, wodurch sie überhaupt erst als positive und damit realisierungswürdige Handlungsoptionen in den Blick jener zukünftiger Generationen rücken. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass wir erst dann wirklich langfristig Verantwortung übernehmen können, wenn wir mit einer solchen Interaktion rechnen dürfen. Derartige Aspekte werden uns noch mehrfach beschäftigen.111 Wenn die in Zukunft lebenden Menschen ausdrücklich als frei wählende und autonom handelnde Wesen vorgestellt werden, ist zugleich anzunehmen, dass sie mit uns Heutigen in eine zeitlich verschobene Kooperation eintreten. Und wenn diese Art intergenerationelle Kooperation als eine Beziehung der Erbschaft charakterisiert werden kann, wird ebenfalls antizipiert, dass zukünftige Individuen und vor allem soziale Gruppen mit den ihnen hinterlassenen Gütern auf sowohl kreative als auch kooperative Weise umgehen. Das gilt auch für die Wahl divergierender Ziele, die in ein langfristig kohärentes Verhältnis zu setzen sind.

Historische Kohärenz Während sich der Begriff der Kontingenz auf die Bedingungen des Handelns bezieht und damit die mehr deskriptive Seite betrifft, geht es beim Begriff der Kohärenz eher um die Ziele und damit um den normativen Aspekt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein110 Parsons 1951, S. 16; Luhmann 1984, 154f. – Die folgende Erweiterung verdanke ich einer Idee von

Tom Handrick.

111 Siehe dazu die Abschnitte „Zukünftige Subjekte“ im siebten Kapitel, „Historische Verantwortung“

im achten Kapitel und „Erbe und Testament“ im neunten Kapitel.

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zelne Absichten in der Regel nicht isoliert, sondern in einem Ensemble von teilweise divergierenden Zielen und Werten ins Auge gefasst werden.112 Auf der Grundlage eines reflexiven Verständnisses von Gegenwart und Zukunft kommt es nun darauf an, sich nicht auf synchrone Divergenzen zu beschränken, sondern ausdrücklich auch die diachrone Dimension mit einzubeziehen. In unserem Zusammenhang interessieren dabei weniger die Zielkonflikte zwischen den Interessen heutiger Menschen, als diejenigen zwischen den Bedürfnissen heutiger Menschen gegenüber denen zukünftiger Menschen. Wie im fünften Kapitel gezeigt, gehört dazu die Antizipation von Optionen, die wahrscheinlich in Zukunft gewählt werden und die ebenfalls in ein kohärentes Verhältnis sowohl innerhalb der zukünftigen als auch gegenüber der heutigen Gegenwart zu bringen sind. Die besondere Aufgabe besteht also darin, zu einer historischen Konzeption der Kohärenz zu gelangen. Zur Demonstration eignet sich das im vierten Kapitel vorgestellte Konzept der Nachhaltigkeit, dem vielfach vorgeworfen wird, dass es die Unvereinbarkeit vieler Ziele und damit die Interessengegensätze verschleiere, gerade weil es sich darum bemühe, die mannigfachen Zielvorstellungen in eine konsensfähige Ordnung zu bringen. Das zeigte sich in den Versuchen, kohärente Wertrelationen zwischen sozialer und ökologischer Gerechtigkeit wie auch zwischen synchroner und diachroner Gerechtigkeit herzustellen. Typisch für dieses Streben nach Kohärenz sind griffige Formeln wie „vier Regeln“, „drei Säulen“ oder das „magische Dreieck“ der Nachhaltigkeit.113 Neuerdings wird ein „integrierendes Nachhaltigkeits-Dreieck“ beschrieben, dass eine bessere Zusammenführung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen erlauben soll.114 Kritiker halten eine derartige „Versöhnung“ von Ökonomie und Ökologie für illusorisch und sprechen von einer Krise im Verhältnis von Naturschutz und sozialer Gerechtigkeit: Jeder Versuch, die ökologische Krise zu mildern, spitze die Gerechtigkeitskrise zu, so wie jeder Versuch, für wirtschaftlichen Ausgleich zu sorgen, die Natur zu beeinträchtigen drohe.115 Wer für die Armen mehr Agrarflächen, Energie und Häuser fordere, zerstöre die natürliche Umwelt. Wer hingegen weniger Energie, Ressourcen, Waldrodung und Intensivlandwirtschaft verlange, vernachlässige die Unterstützung der Armen. So rühre der rapide Anstieg umweltschädlicher Emissionen aus dem Rückgang der Armut in den Entwicklungsländern. Hier handelt es sich um ein Trugbild der Gleichrangigkeit oder des Gleichgewichts der Ziele, weil die Akzeptanz auf Kosten der praktischen 112 Nida-Rümelin 2011, 115 ff.; vgl. Mohr 1998, 145 ff.; Grunwald 2008, 60 ff.; Ott, Döring 2008,

68 f.; aus diskursethischer Sicht Böhler 2009, 65 ff.

113 Weltkommission 1988, 57; Ekhardt 2005, 29; Heintel, Krainer 2010, 436; kritisch dazu Ott, Döring

2008, 38 f.

114 Kleine 2005, 22; Lienkamp 2009, 23. 115 Beispielsweise auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de

Janeiro 1992 setzten die Industrieländer den Akzent auf den Umweltschutz und verbanden ihn mit Maßnahmen gegen das Bevölkerungswachstum. Die Entwicklungs- und Schwellenländer legten den thematischen Schwerpunkt hingegen auf die Fragen der Rohstoff- und Güterverteilung sowie der aufholenden Entwicklung und Entschuldung. – Wallerstein 1995, 127 ff.; Eblinghaus, Stickler 1998, 55; Heins 1998, 26; Welzer 2008, 13 f.; Dyer 2010, 15; Lienkamp 2009, 321 f.; Gesang 2011, 154 ff.

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Wirksamkeit geht. Dieses Dilemma zeigt sich nicht zuletzt in der Politik, wenn sich die Repräsentanten der jeweils aktuellen Regierungen der Erfüllung kurzfristiger Interessen verpflichtet fühlen, während sie den zukünftigen Generationen die Lasten aufbürden. Soziale Ungerechtigkeiten ergeben sich ebenfalls, wenn Umweltpolitik allein mit Hilfe des Preismechanismus gestaltet wird. Da ein Konsens nur schwer zu finden ist, scheinen nur noch „Inseln der Kohärenz“ möglich zu sein.116 Um hingegen am Ziel einer historischen Kohärenz festzuhalten, verweise ich auf eine eigenartige Verbindung von Kohärenz und Geschichte. Versteht man die ‚klassische‘ Geschichtsphilosophie als eine integrative Disziplin, dann erfüllt sie seit ihren Anfängen eine kohärenzbildende Funktion. Wie schon Condorcet zeigte, vermittelt sie zwischen wissenschaftlich-technischen Fortschritten und deren gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, zwischen wirtschaftlicher Prosperität und sozialer Gerechtigkeit, vor allem zwischen den Prozessen der damaligen Gegenwart und ihren Auswirkungen auf das Wohlergehen zukünftiger Generationen. Mag man den Vertretern dieses Denktypus‘ vorwerfen, die historische Entwicklung zu optimistisch beurteilt zu haben, bleibt doch die Absicht festzuhalten, die divergierenden und teilweise einander widerstrebenden Tendenzen zu einem kohärenten Ganzen verbunden zu haben, das als die Geschichte bezeichnet wurde. Aktuell geblieben ist die normative Dimension, die sich in der angestrebten Verbindung von synchroner und diachroner Gerechtigkeit äußert. Darüber hinaus ist in der Geschichtsphilosophie noch ein anderer Gesichtspunkt studierbar, der an die Idee einer „realistischen Utopie“ und damit nochmals an Blochs Kategorie der realen Möglichkeit erinnert. Denn das Prinzip der Kohärenz bezieht sich nicht nur auf die gewünschte Übereinstimmung der Ziele, sondern auch auf die Anpassung dieser Ziele an die jeweils gegebenen historischen Bedingungen. Demnach sind nur solche Ziele sinnvoll, deren Erreichung nach dem gegenwärtigen und zukünftig erwartbaren Stand der Zivilisation real möglich ist. Ziele sind dann kohärent, wenn sie in ihrem jeweiligen Kontext erstrebenswert und zugleich unter bestimmten Voraussetzungen realisierbar sind. Dabei sind zwei Aspekte zu beachten, die sich aus dem Handlungstyp der Zweckrationalität herleiten, bei dem zwischen Zweck und Mittel einer Handlung, d.h. zwischen deren instrumenteller und teleologischer Seite zu unterscheiden ist. Geht man von den Mitteln aus, stellt sich heraus, dass diese nicht nur von den Zwecken abhängen, sondern umgekehrt auch einen rückwirkenden Einfluss auf die Zwecksetzung ausüben können. Diese Rückkoppelung verweist auf das Verhältnis von Bedürfnisentwicklung und Technikgeschichte, von der ja die Zukunftsethik ausgeht.117 Daraus folgt, dass neue Techniken nicht nur helfen, vorausgesetzte Ziele zu realisieren, sondern mit ihnen zudem der Horizont möglicher Handlungen erweitert und damit zugleich eine ganze Reihe modifizierter und neuer Zwecksetzungen entwickelt werden. Für den Begriff der Kohärenz folgt aus dieser Umkehrung: Auch die Zwecke sollen den technischen Mitteln angemessen sein. Denn wenn ein neues Handlungsziel entsteht, 116 Grunwald 2008, 63 f.; vgl. Lienkamp 2009, 317. 117 Zu diesem Komplex ausführlicher Rohbeck 1993, 219 ff.; ders. 2000, 134 ff.

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weil es technisch und ökonomisch erreichbar geworden ist, entsteht die Erwartung, diese Möglichkeit zu realisieren. Dieses Phänomen einer Erweiterung von Erwartungshorizonten zeigt sich nicht zuletzt im globalen Vergleich. Wenn die Bevölkerung eines Landes den höheren Lebensstandard in einem anderen Land kennen lernt, kann sich daraus die Erwartung gleicher Verhältnisse herausbilden. Aus dem Vergleich eignen sich die Menschen nicht nur neue Maßstäbe für die Beurteilung ihrer Zivilisation an, sondern eben außerdem Kriterien der Realisierbarkeit lang gehegter Wünsche. Gleichzeitig ist der Fall vorstellbar, dass eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse in den Industrienationen aus ökologischen Gründen und zugunsten der armen Länder unabwendbar oder sogar gerechtfertigt ist.

Synchronisation des Ungleichzeitigen Das Phänomen fehlender historischer Kohärenz lässt sich auch mit Hilfe der geschichtsphilosophischen Kategorie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen deuten. Allerdings ist diese Kategorie nicht unproblematisch. Einerseits konterkariert sie die ‚klassische‘ Geschichtsphilosophie der Moderne, weil sie differente Zeitmodi von Vergangenheit und Zukunft enthält. Indem sie auf die Mehrdimensionalität und Pluralität der Geschichte verweist, gestattet sie es, die Koexistenz geschichtlich unterschiedlicher Phasen in derselben Gegenwart zu denken. Andererseits setzt der Begriff der Ungleichzeitigkeit die homogene Geschichtszeit voraus, indem er die differenten Prozesse in die übergreifende Vorstellung eines kontinuierlichen Zeitverlaufs integriert. Eine solche Konzeption von Geschichte erlaubt es erst, überhaupt von Ungleichzeitigkeit zu reden.118 Wenn ich daher diese Kategorie anwende, setzte ich die oben erläuterte Idee historischer Kontinuität in praktischer Absicht voraus. Hier ist wieder an Bloch zu erinnern, der die erfahrbare Ungleichzeitigkeit nicht nur als Rückständigkeit oder Verspätung interpretiert, sondern in Anspielung auf Walter Benjamin einen anderen Zugriff wagt: Er fragt nach den verhinderten geschichtlichen Möglichkeiten, wodurch das Ungeschehene im bereits Geschehenen zum Problem wird.119 Ungleichzeitigkeit ist für ihn das historisch Unabgegoltene, Unerledigte und damit Aufgegebene. Angesichts der gegenwärtigen Situation stellt sich die Aufgabe, die in der Gegenwart vorhandene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ethisch und politisch so handhabbar zu machen, dass die faktischen Ungleichzeitigkeiten ausgeglichen werden können. Ziel ist daher die Synchronisation divergierender Prozesse. Sie bezieht sich auf ökologische Ungleichzeitigkeiten zwischen Natur und Kultur sowie auf globale Ungleichzeitigkeiten der Modernisierung zwischen unterschiedlichen Völkern und Kulturen. Zum einen wird gefordert, die divergierenden Zeiten natürlicher und sozialer Systeme auszugleichen. Dahinter steht die erwähnte Beobachtung, dass die Zeit des linearen und 118 Ich folge hier der Zusammenfassung von Uhl 2003, 54 ff.; vgl. Luhmann 1990, 95 ff. 119 Bloch 1977, Bd. 4, 104 ff.; Benjamin 1974, Bd. I.2, 697 f.; vgl. Uhl 2003, 64 ff.

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beschleunigten Zivilisationsprozesses und die Zeit der Naturzyklen voneinander abweichen. Daraus ist die Konsequenz gezogen worden, den Prozess der Industrialisierung an die Rhythmen der Natur anzupassen. Es ist ein Gleichgewicht zu finden, das der Vielfalt der Zeiten Rechnung trägt, und damit eine Zeitverträglichkeit in der modernen Gesellschaft herzustellen. Im Regelkatalog der deutschen Enquete-Kommission von 1994 heißt es: „Das Zeitmaß anthropogener Einträge bzw. Eingriffe in die Umwelt muß im ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der für die Regenerationsvermögen der Umwelt relevanten natürlichen Prozesse stehen.“ 120 Damit verbindet sich die Erwartung, dass sich mit Hilfe eines solchen Zeit-Managements das Engagement für Nachhaltigkeit operationalisieren lässt. Es wird also der Anspruch erhoben, die natürliche und kulturelle Entwicklung zu synchronisieren. Auf diese Weise erweist sich der Umgang mit Fristen, welche divergierende Ziele in ein kohärentes zeitliches Verhältnis zu setzen versuchen, als ein politisches Programm, das als „Zeitpolitik“ bezeichnet werden kann. Das hätte zur Konsequenz, dass der Prozess der Zivilisation an die Regenerationszeiten der Natur angepasst werden sollte. Zum andern geht es um die Synchronisation auf ökonomischem Gebiet, wenn sich verschiedene Länder auf dem Globus in unterschiedlichen Stadien der Industrialisierung befinden. Entscheidend ist hier die erwähnte Tatsache, dass die reichen Industrieländer die Zerstörung der Umwelt und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen bereits zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt begonnen haben. Während einige so genannten Entwicklungsländer noch gar nicht an der Industrialisierung teilhaben, und Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien erst seit zwei Jahrzehnten auf dem Weg zur Industriegesellschaft sind, vollzieht sich dieser Prozess in Europa und den USA seit über zwei Jahrhunderten. Daher sind die Schwellenländer zu Recht empfindlich, verlangt man von ihnen doch, ein Chaos beseitigen zu helfen, das die alten Industrienationen angerichtet haben. Wären China, Brasilien und Indien die ersten Länder gewesen, die sich auf den Weg in die Industrialisierung gemacht hätten, dann wären ihre Emissionen hundert Jahre lang nicht als Problem wahrgenommen worden. Aus dieser historischen Ungleichzeitigkeit erwächst das genannte Interesse der Entwicklungs- und Schwellenländer daran, die unterschiedliche Dauer der Industrialisierungsprozesse bei der Verteilung der Lasten in Gegenwart und Zukunft in Rechnung zu stellen. Wenn außerdem gefordert wird, dass die ‚reichen‘ Länder höhere Leistungen zur Erhaltung der natürlichen Umwelt aufzubringen haben als die ‚armen‘ Länder, bedeutet dies im Kontext der intergenerationellen Gerechtigkeit, dass die in Reichtum lebenden Generationen möglicherweise eine wirtschaftliche Verschlechterung in Kauf nehmen sollen, um den von Armut betroffenen Generationen eine Verbesserung zu ermöglichen. Nimmt man ferner die spezifisch historische Komponente hinzu, heißt dies, dass den zukünftig lebenden Menschen in traditionellen Industrieländern eine Einschränkung zugemutet werden darf, um eine Verbesserung der Lebensbedingung in den Schwellenländern und vor allem in den so genannten Entwicklungsländern zu ermöglichen. Während also von den Industrieländern, wenn auch kein „Rückschritt“, so doch wenigstens eine 120 Zit. nach Enge 2000, 75, vgl. 113 f.; siehe auch Held 1993, 11 ff.; Kümmerer 1993, 85 ff.; Held

1995, 169 ff.; Kümmerer 1995, 87 ff.; Hofmeister 1999, 119 ff.

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„Stagnation“ ökonomischen Wachstums eingeklagt werden kann, haben die weniger entwickelten Länder einen Anspruch auf bestimmte „Fortschritte“, um ihre noch unbefriedigende Lage zu verbessern. Damit erhöhen sich die Maßstäbe, um diesen Nationen wesentlich mehr Unterstützung zu gewähren, als dies bisher der Fall war und als üblicherweise gefordert wird. Dieser Appell unterscheidet sich von den im vierten Kapitel zitierten Positionen, die besagten, dass es generell allen zukünftigen Generationen „besser“, „gleichwertig“ oder eventuell auch „schlechter“ gehen soll. Das Plädoyer für einen Ausgleich zwischen Ländern mit unterschiedlichen Entwicklungsniveaus wird auch nicht von der dort diskutierten Kritik am Egalitarismus berührt, weil Gleichheit hier nicht als intrinsischer Wert verstanden werden muss, sondern sich indirekt aus dem Wunsch nach menschenwürdigen Lebensbedingungen in den ‚armen‘ Ländern ergibt. Ebenso ist damit klar, dass diese Gleichheit nicht als absoluter Wert missverstanden werden darf, als ob es sinnvoll wäre, auf dem ganzen Globus dasselbe Zivilisationsniveau durchzusetzen. Abgesehen davon, dass dies einen absolutistischen Weltstaat voraussetzen würde, der nicht wünschenswert ist, gibt es auch Gründe der Gerechtigkeit, die eine totale Angleichung verbieten. Konsens besteht darüber, dass den ‚armen‘ Ländern ein „Vorrang“ einzuräumen ist, der besagt: Je ärmer ein Land ist, desto mehr Anspruch hat es auf ausgleichende Hilfe; und je reicher ein Land ist, desto mehr schwindet eine solche Berechtigung.121 Dadurch sind der Synchronisation bestimmte Grenzen gesetzt, die darin bestehen, dass sie sich auf den Ausgleich zwischen ‚reichen‘ und ‚armen‘ Ländern beschränkt. In diesem Sinn kann man auch von einer ausgleichenden Entwicklung sprechen. Unter diesen Voraussetzungen ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nicht nur festzustellen; vielmehr verlangt sie einen tätigen Umgang, wozu es konkreter Regelungen bedarf.122 Damit kehrt sich das Verhältnis von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit um. Es reicht nicht aus, gleichzeitig in der Gegenwart kulturelle Ungleichzeitigkeiten hinzunehmen; vielmehr ist es notwendig, Gleichzeitigkeit unter den Bedingungen der herrschenden Ungleichzeitigkeit praktisch herzustellen, indem sich die gewünschten Entwicklungen bei allen Völkern mehr oder weniger gleichzeitig vollziehen. Innerhalb der genannten Grenzen besteht die Aufgabe daher in der Synchronisation des Ungleichzeitigen. Um die geschichtliche und zugleich normative Dimension einer derartigen Ausgleichung zu erläutern, greife ich noch einmal auf das Konzept der Nachhaltigkeit zu121 Ich beziehe mich hier auf die Darstellung der Argumentation von Parfit bei Meyer, der diese so ge-

nannte Vorrangansicht so qualifiziert, dass er ein bestimmtes Lebensniveau angibt, oberhalb dessen kein Ausgleich mehr stattfinden darf; Meyer 2009a, 285 ff. und 2009b, 87 ff.; kritisch dazu Gesang 2011, 52 ff. 122 Dazu gibt es zur Zeit drei Verfahren: 1. Emissionshandel; 2. Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung, der es erlaubt, Maßnahmen zur CO2-Reduktion in einem Entwicklungsland durchzuführen und sich die dort eingesparten Emissionen aufs eigene Emissionsbudget anrechnen zu lassen; 3. Mechanismus der Lasteneinteilung, die besagt, dass eine Gruppe von Vertragsstaaten ihre Reduktionsziele gemeinsam erfüllen kann wie zum Beispiel die Europäische Union; Leggewie, Welzer 2009, 162; Gesang 2011, 166 ff.

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rück. Denn „Nachhaltigkeit“ ist insofern ein historischer Begriff, als er mit „nachholender Entwicklung“ verbunden wird.123 In diesem Sinn bedeutet der Ruf nach Synchronisation, dass die „Verspätungen“ in der Entwicklung einzelner Völker „nachgeholt“ werden sollen. Aus dieser durchaus problematischen Konstruktion ergeben sich ambivalente Stellungnahmen. Einerseits gibt es Positionen, die mit dem Entwicklungsbegriff auf Kontinuität setzen, d.h. auf eine Fortsetzung des Prozesses der Modernisierung mit Modifizierungen. Andererseits wird daran von den Vertretern der „Öko-Entwicklung“ scharfe Kritik geübt.124 Diese fordern einen alternativen Entwicklungspfad, der Umwelt- und Sozialverträglichkeit miteinander verbindet. Auch im Rahmen der Dependenztheorie wurde das Modernisierungstheorem zunächst kritisiert. Die Rückständigkeit der Dritten Welt könne demnach nicht als Ergebnis mangelnder Modernisierung angesehen werden, sondern sei die Folge einer Jahrhunderte dauernden Kolonialisierung und damit Unterordnung unter das kapitalistische Weltsystem. In jüngster Zeit ist zu beobachten, wie sich Modernisierungstheorien und Dependenztheorien einander annähern und wechselseitig integrieren. Dabei erweist sich die Modernisierungstheorie als langlebiger, als die Kritik erwarten ließ. Indem sich der Entwicklungsdiskurs mit dem Umweltdiskurs verschränkt, entsteht das Leitbild einer ökologischen Modernisierung.125 Damit stellt sich das Problem, ob die bisherige kapitalistische Entwicklung so fortgeführt werden kann wie bisher.126 Denn das Programm der „aufholenden Entwicklung“ setzt zunächst die Ideologie einer endlosen Akkumulation voraus. Doch weil sowohl das natürliche System als auch das der Weltwirtschaft sich nicht mehr unbegrenzt ausdehnen können, ist ein Maß erreicht, bei dem ein „Aufholen“ nur auf Kosten anderer Länder möglich ist. Sollten China, Indien und Brasilien anschließen, müssen andere Länder zwangsläufig absteigen. Dieses Ziel ist daher nur zu erreichen, wenn die Industrieländer in stärkerem Maße umlenken und ihr wirtschaftliches Wachstum drosseln, um den armen und Schwellenländern die von ihnen gewünschte Entwicklung zu erleichtern. Die so genannten Entwicklungsländer sind auf einen Zuwachs von Technik und Reichtum angewiesen, um den dort lebenden Menschen die erwähnten Grundgüter zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse sowie die Bedingungen für eine selbstbestimmte Lebensweise zur Verfügung stellen zu können. In diesen Ländern ist das Programm der Modernisierung noch keineswegs obsolet geworden. Dahinter stehen die Erwartung und der Wunsch, eine weltgeschichtliche Entwicklung „nachzuholen“, und der Anspruch, dafür eine moralische Legitimation zu haben. Denn die in Armut lebenden Menschen empfinden es als ungerecht, wenn ihnen eine Entwicklung vorenthalten wird, 123 Die geschichtliche Dimension des Nachhaltigkeitsbegriffs wird thematisiert von Heintel und

Krainer 2010, 438 f.

124 Eblinghaus, Stickler 1998, 20 ff.; Welzer 2008, 251 f.; Böhler 2009, 109. 125 So die Formel des Brundlandt-Berichts: „Stabile Entwicklung ist eine Entwicklung, die die

Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne aufs Spiel zu setzen, daß die künftigen Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Weltkommission 1988, 57. 126 Wallerstein 1995, 130 f.

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die von den reicheren Ländern seit Jahrhunderten vollzogen wurde.127 Diese Überlegung würde eine Rehabilitierung der „nachholenden Entwicklung“ bedeuten – freilich in modifizierter Form. Auf diese Weise bietet sich zum Programm des Nachholens eine Alternative an. Obwohl die Idee historischer Kontinuität eine wesentliche Voraussetzung für die praktische Absicht der Synchronisation darstellt, bedeutet sie keinen uniformen Prozess in dem Sinne, dass alle Länder die gleiche Entwicklung durchlaufen – einschließlich ihrer ökologischen und sozialen Kehrseiten. Das Theorem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kann Bloch zufolge auch so interpretiert werden, dass eine verspätete Entwicklung nicht etwa wiederholt wird, sondern dass die konstatierte Ungleichzeitigkeit als Chance begriffen wird, eine in der Vergangenheit versäumte Entwicklung in der Gegenwart einzuleiten. „Nachholen“ bedeutet dann kein zeitverschobenes „Wiederholen“ einer verfehlten und andernorts ‚realen‘ Evolution, sondern der Neubeginn einer andersartigen Entwicklung. Gerade für die benachteiligten Länder eröffnet sich hiermit die Chance, andere Wege der Modernisierung einzuschlagen. In der Vergangenheit begangene Fehler müssen nicht an anderen Orten in der Gegenwart imitiert werden. Denn das gleichzeitig weniger entwickelte Land hat die reale Möglichkeit, ausgehend von einem niedrigeren oder mittleren Niveau eine alternative Entwicklung zu versuchen. Dort ist ein Neuanfang in der Geschichte möglich, der den alten Zivilisationen vielleicht schon versperrt ist. Die reichen Industrieländer haben dann die Aufgabe, den Ländern mit Nachholbedarf die dafür benötigten Techniken zur Verfügung stellen, damit ökologische und soziale Schäden vermieden oder reduziert werden können.

Recht auf Entwicklung? SuchtmanschließlichnacheinerweitergehendenFundierungdes„RechtsaufEntwicklung“ von Völkern, die in der bisherigen Geschichte an den Rand gedrängt wurden, ist man auf die ‚klassische‘ Geschichtsphilosophie verwiesen. Während der Historismus eine derart weltgeschichtliche Perspektive und überhaupt die Vorstellung einer vergleichbaren Entwicklung verworfen hat, finden sich dazu in der geschichtsphilosophischen Tradition verwendbare Ansätze. Um das Postulat einer weltgeschichtlichen Gerechtigkeit zu rechtfertigen, beabsichtige ich eine Kombination dieser beiden Denktypen. Ich beginne mit einer Erläuterung der theoretischen Implikationen und versuche dann eine normative Begründung. Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung behandelte die „Menschheit“ wie ein Individuum, das Fortschritte macht und dabei seine Perfektibilität entfaltet. 127 Das gilt auch für die Staaten Osteuropas wie Polen und Rumänien, die jegliche Einschränkung

ihrer wirtschaftlichen Entwicklung nicht akzeptieren. Nachdem sie vor gut zwanzig Jahren den Sozialismus überwunden haben, möchten die Bewohner der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten jetzt die versprochenen Früchte ihrer meist friedlichen Revolution genießen.

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Universalgeschichte bedeutete in dieser Formation: Der Untergang diverser Länder dient dem Aufstieg der menschlichen Gattung.128 Während die einzelnen Völker nach dem Modell der Lebensalter aufstreben und vergehen, nimmt die gesamte Menschheit keinen Schaden, weil sie sich kontinuierlich weiterentwickelt. Und während die unterschiedlichen Kulturen kommen und verschwinden, wandert die „Fackel des Fortschritts“ von Osten nach Westen um den Erdball. Aus dieser globalen Perspektive scheint der Untergang regionaler Kulturen nicht einmal ‚ungerecht‘ zu sein. Immerhin lässt sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Tendenz beobachten, dass die Hoffnung auf weltgeschichtliche Angleichung gehegt wird, die durch synchronen Kulturtransfer und durch diachrone Tradierung der erreichten Errungenschaften möglich zu sein scheint. Wie bei Condorcet zu beobachten war, mündet diese Entwicklung der Idee nach in eine wohlhabende und gerechte Weltgesellschaft. Völlig anders stellte sich dieses Problem im Historismus dar: Mit Jonas erinnere ich an Leopold von Rankes Diktum, dass jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ sei.129 Es bedeutet: Jedes Volk und jede Epoche, und sei sie noch so ‚rückständig‘, sollte für unser Urteil gleich viel wert sein. Daraus folgt, dass man frühere Epochen, die aus heutiger Sicht weniger ‚fortgeschritten‘ zu sein scheinen, nicht abwerten dürfe, und dass jedes Volk und jede Kultur den gleichen Anspruch auf Glück habe. Auf ähnliche Weise hat bereits Johann Gottfried Herder argumentiert, dass jede historische Epoche ihren eigenen Wertmaßstab in sich trage: „jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt“.130 Nach dieser Lesart wäre es ungerecht, dass ein Volk durch die Teilhabe am „Fortschritt“ begünstigt würde, während ein anderes Volk davon ausgeschlossen bliebe. Das aktuelle Konzept der „nachholenden Entwicklung“ stellt sich wie eine Synthese dieser Typen historischen Denkens dar. Es vereinigt die klassische Geschichtsphilosophie mit ihrer Fortschrittsperspektive – aber ohne Gattungssubjekt, und den Historismus mit seinem nationalen Standpunkt – aber ohne radikale Zivilisationskritik. Was Ranke eher kontemplativ und rückwärtsgewandt behauptet hatte, erhält in der heutigen Gegenwart und mit Blick auf die Zukunft eine praktische Funktion. Demnach hat jedes Volk das Recht darauf, am Prozess der globalen Zivilisation teilzuhaben. Da es prinzipiell gleich wertvoll ist, soll es heute das gleiche Recht auf Entwicklung haben, wie es sich andere Völker früher genommen haben. Und sofern ihm dieses Recht früher verwehrt wurde, ist es heute dazu berechtigt, es nachträglich zu realisieren oder für früher erlittenes Unrecht Kompensation zu verlangen. Nachdem ich mit dieser Rekonstruktion die geschichtsphilosophischen Grundlagen des Plädoyers für weltgeschichtliche Gerechtigkeit expliziert habe, gelange ich nun zur normativen Fundierung des postulierten „Rechts auf Entwicklung“, indem ich frage: Beschränkt sich diese Begründung darauf, anerkannte Theorien der Gerechtigkeit, die 128 Näheres dazu in den Ausführungen zur Geschichtsphilosophie im achten Kapitel. 129 Ranke 1971, 59; zu Ranke auch Jonas 1979, 287; dahinter verbirgt sich die Denkfigur der Theo-

dizee.

130 Herder 1967, 44 f.

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sich in der Gegenwart bewährt haben, auf die nahe, fernere und ferne Zukunft ‚anzuwenden‘? Oder gibt es spezifische Normen aus der Geschichtsphilosophie, die hier zur Geltung kommen können? Wenn sich solche Normen aufzeigen lassen, kann der eingangs erhobene Anspruch eingelöst werden, eine geschichtsphilosophische und zugleich normative Rechtfertigung zu leisten. Die ‚klassische‘ Geschichtsphilosophie zeichnete sich ja dadurch aus, dass sie wesentlich in die Zukunft ausgerichtet und damit handlungsorientiert war. Ihre Aufgabe bestand nicht nur darin, vergangene Ereignisse und Prozesse philosophisch zu reflektieren, vielmehr hatte sie vor allem die Funktion, Orientierung für eine zukunftsweisende Praxis zu liefern. Sie stellte eine frühe Form der Zukunftsethik dar, weil ihre wesentlichen Theoreme eine sowohl deskriptive als auch normative Dimension besaßen. So beschränkte sich der Begriff des Fortschritts nicht auf die Beschreibung von Entwicklungen, sondern beinhaltete auch die positive Bewertung zivilisatorischer Errungenschaften. Damit verband sich die begründete Hoffnung auf zukünftige Fortschritte wie auch die moralische Aufforderung, an der Verbesserung der in Zukunft zu erwartenden Lebensumstände mitzuwirken. An dieser Stelle berührten sich Geschichtsphilosophie und Utopie. Wie problematisch die Fortschrittsidee heute auch erscheinen mag, da sie teilweise zu den referierten Fehlentwicklungen geführt hat, so ist doch das Anliegen aktuell geblieben, für das Wohl zukünftiger Generation Sorge zu tragen und, sofern es die kontingenten Bedingungen erlauben und die Ziele in ökologischer und sozialer Hinsicht kohärent sind, auch in Zukunft bessere Lebensverhältnisse anzustreben oder zumindest dafür Sorge zu tragen, dass keine Verschlechterungen eintreten. Hier handelt es sich um eine spezifisch geschichtsphilosophische Norm, die auch in der heutigen Gegenwart Geltung beanspruchen kann. Wenn man die Erwartung von Fortschritten auf bestimmte Sektoren begrenzt und raumzeitlich differenziert, lässt es sich vermeiden, den Begriff des Fortschritts zu verabsolutieren und teleologisch zu überhöhen. In einem solchen Wunsch nach Verbesserungen im globalen historischen Prozess sehe ich den Kern einer geschichtsphilosophischen Begründung weltgeschichtlicher Gerechtigkeit. Im Kontext dieser Argumentation stehen die in diesem Kapitel entfalteten Theoreme der Geschichtsphilosophie. Wie schon die Begriffe Verantwortung und Frist deskriptiv und normativ zugleich verwendet wurden, so dienen die hier verwendeten Begriffe sowohl der Beschreibung historischer Prozesse als auch der Formulierung von Normen für zukunftsorientiertes Handeln. Die Kontinuität wird als ethisches Gebot bezeichnet, weil sie zum einen die Pflicht zur Kompensation von Unrecht, das in der Vergangenheit verübt wurde, und zum andern die langfristige Verantwortung für zukünftige Generationen in einem langfristigen und kontinuierlichen Kooperationszusammenhang gebietet. Unter Kontingenz wird nicht allein ein unhintergehbares Faktum historischer Prozesse, sondern in praktischer Absicht die Chance verstanden, reale Möglichkeiten für verändernde Eingriffe zu nutzen. Auch das Prinzip Kohärenz hat die doppelte Bedeutung, dass einerseits die Möglichkeitsbedingungen beachtet werden müssen, um realisierbare Ziele festzusetzen, und dass andererseits die angestrebten Ziele untereinander abgestimmt sowie in ein ökologisch und sozial vertretbares Verhältnis gesetzt werden sollen. Sofern dabei Ungleichzeitigkeiten in der Geschichte verschiedener Völker festgestellt werden, verbin-

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det sich damit der Appell, die divergenten Entwicklungen auszugleichen und sich für Synchronisation einzusetzen. Dieser Argumentationszusammenhang, der im abschließenden Resümee noch vertieft werden wird, hat zur Konsequenz, dass weniger entwickelten Ländern bestimmte Fortschritte nicht vorenthalten werden dürfen, wobei nicht auszuschließen ist, dass die Industrieländer teilweise Reduktionen in Kauf nehmen müssen. Damit ist jedoch nicht etwa die Teilhabe an einem homogenen Fortschritt gemeint, der lediglich „nachgeholt“ werden soll, sondern der Versuch, alternative Entwicklungswege einzuschlagen. Letztlich geht es um die genannte Norm, in der Geschichte das real Mögliche auch zu verwirklichen, sofern es zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse im globalen Vergleich beiträgt. Es ist diese utopisch anmutende Norm, die der Legitimation einer spezifisch historischen Gerechtigkeit und damit eines „Rechts auf Entwicklung“ armer Länder, denen eine solche bisher verwehrt worden ist, zu Grunde gelegt werden kann. Nicht zuletzt ist zu fragen, wem diese Entwicklung zugutekommen und wer dafür verantwortlich sein soll. Wie im Zusammenhang mit den Konzepten intergenerationeller Gerechtigkeit und langfristiger Verantwortung deutlich geworden ist, sind Individuen als derartige Subjekte kategorisch auszuschließen. Mit Blick auf die Vergangenheit hat sich gezeigt, dass einzelne Menschen, die in der Gegenwart leben, für früher begangene Schäden nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Und mit Blick auf die Zukunft hat sich die Ungewissheit über die Zahl und Eigenart zukünftig lebender Menschen als problematisch erwiesen. Dieses Dilemma lässt sich nur lösen, wenn anstelle von Individuen soziale Gruppen wie Völker oder Nationen vorausgesetzt werden, die Generationen übergreifend miteinander kooperieren. Der Begriff der Generation und insbesondere der Generationenfolge bildet daher das Thema der folgenden beiden Kapitel. Zum Schluss wird die Theorie intergenerationeller Gerechtigkeit mit dem Modell der Erbschaft noch eine kritische Ergänzung erfahren.

Dritter Teil Generation und Erbschaft

Das Konzept der historischen Gerechtigkeit operiert mit dem Begriff der Generation. Bezeichnenderweise nennt man diejenige Gerechtigkeit, die sich auf das Wohlergehen zukünftiger Generationen bezieht, intergenerationelle Gerechtigkeit. Die entsprechende Verantwortung heißt „Verantwortung für zukünftige Generationen“, die von den Wirkungen gegenwärtigen Handelns betroffen sein werden. Auch die Verpflichtung zur Kompensation von Schäden aus der Vergangenheit bezieht sich auf bestimmte Generationen, die sich dafür zu verantworten haben. Schließlich lässt sich das im vorausgegangenen Kapitel entwickelte Konzept einer „weltgeschichtlichen Gerechtigkeit“ nur rechtfertigen, indem man kulturelle und soziale Gruppen voraussetzt, die als Generationen definiert werden können. Insgesamt bedarf die Wahrnehmung der Langzeitverantwortung einer die aufeinander folgenden Generationen übergreifenden oder intergenerationellen Kooperation. Dahinter steht der im vierten Kapitel referierte Argumentationszusammenhang, in dem sich zeigte, dass einerseits Individuen als Verursacher von Schäden an anderen Individuen zur Begründung von Gerechtigkeit innerhalb eines größeren geschichtlichen Zeitraumes nicht in Frage kommen. Andererseits ist die Vorstellung der „Menschheit“ als Subjekt der Geschichte obsolet geworden. Da bietet sich der Begriff der Generation an, mit dem zwar keine Handlungssubjekte im klassischen Sinn gemeint sind, wohl aber soziale Gruppen, die eine historische Identität herausbilden und daher Verantwortung tragen wie auch als Adressaten von Verantwortung gelten können. So markiert der Generationenbegriff ein mittleres und vermittelndes Feld, auf dem bisher vernachlässigte Verknüpfungen möglich werden: zwischen Individuum und Gattung, Synchronie und Diachronie, Vergangenheit und Zukunft beziehungsweise naher und ferner Zukunft. Nun stellt sich die Aufgabe, den Begriff der Generation nicht nur formal als chronologische Reihe von Generationen, sondern darüber hinaus auf inhaltliche Weise als Generationenfolge zu fassen. In diesem Sinn beabsichtige ich, das Problem der Verantwortung mit einem materialen Generationenbegriff zu verbinden, der es erlaubt, das Verhältnis zwischen den Generationen zu bestimmen und dadurch die Verantwortung für zukünftige Generationen zeitlich und räumlich zu spezifizieren. Denn ähnlich wie bei der Bestimmung zukünftiger Zeiten leidet der Generationenbegriff in den ethischen Theorien daran, sich auf formale Zeitstrukturen zu beschränken. Um diese Einseitigkeit zu vermeiden, führe ich die Theorie der Generation von Karl Mannheim in den Diskurs

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Generation und Erbschaft

über intergenerationelle Gerechtigkeit ein und versuche, sie mit Blick auf den hier behandelten Problembereich weiterzuschreiben. Stellt man nun die Frage nach den sozialen Beziehungen zwischen den Generationen, so dienen unterschiedliche Modelle dazu, das Verhältnis der gegenwärtigen zu den zukünftig lebenden Menschen vorstellbar zu machen. Als elementares Modell fungiert die familiäre Fürsorge, die zwar den Vorteil der lebensweltlichen Vertrautheit hat, aber die zeitliche Grenze der drei gleichzeitig lebenden Generationen nicht überschreitet. Verbreitet sind auch das Modell des Dialogs zwischen den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen und das Konstrukt des Generationenvertrags, die wiederum den Vorzug der Verallgemeinerbarkeit bis in die fernere Zukunft haben, allerdings fiktiv und abstrakt bleiben. Als Alternative schlage ich das Modell der Erbschaft oder des Erbes vor, das die Schranken der familiären Fürsorge überwindet und zugleich wesentlich konkreter ist als Dialog und Vertrag. Mein Ziel besteht darin, mit Hilfe des Erbebegriffs den Begriff der Generation inhaltlich weiter zu bestimmen. Die Folge der Generationen wird nicht als bloß chronologische Reihe mit einer mehr oder weniger komplexen Zeitstruktur beschrieben, sondern als gehaltvolle Verbindung zwischen den Generationen konzipiert. Um das Erbekonzept möglichst aussagekräftig zu machen, reichere ich es mit den Modellen kulturelles Kapital und Gabe an. Während es innerhalb der Ethik für eine Theorie des kollektiven Erbes nur wenige Ansätze gibt, liegen sowohl mit dem Kapitalbegriff als auch mit dem Gabekonzept elaborierte Theorien vor, die es lohnen, in das Konzept des Erbes integriert zu werden. Vielversprechend sind in beiden Fällen die kritischen Ansätze und normativen Potenziale, die einer totalen Ökonomisierung des Generationenverhältnisses entgegensteuern. Insbesondere das Modell der Gabe soll als Korrektiv an der Theorie der Gerechtigkeit dienen. Wie sich an diversen Stellen zeigte, lassen sich alle möglichen Kalküle aufstellen, die jedoch damit zu kämpfen haben, dass sie sich nur schwer realisieren lassen. Ein Beispiel war die Berücksichtigung von Benachteiligungen, die aus der vergangenen Geschichte resultieren wie Kolonialisierung, Raubbau von Ressourcen oder Umweltschäden. Die entsprechenden Forderungen scheitern daran, dass sie über das Maß von Ungerechtigkeiten hinausgehen, die schon in der Gegenwart zu beobachten sind und nach einem erweiterten Ausgleich verlangen. Auch die so genannte nachholende Entwicklung stellt Anforderungen, welche die Industrieländer nicht zu leistet bereit sind. In diesen Fällen stoßen die Gerechtigkeitskonzepte an Grenzen, die nach einer Transzendierung verlangen. Ein entsprechendes Prinzip ist die Generosität, die aus der Gabetheorie stammt. Mit Hilfe der genannten Modelle möchte ich zeigen, dass sich Generation und Erbe miteinander verschränken. Wenn das Konzept „Generation“ nicht nur synchron, sondern wie im Fall der Gerechtigkeit zwischen den Generationen wesentlich auch diachron verstanden wird, charakterisiert der Begriff des Erbes die Art und Weise des Verhältnisses zwischen den aufeinander folgenden Generationen. Die Generation ist dann eine soziale Gruppe, die ein Erbe von einer vorausgegangenen Gruppe erhält und an die nächste Generation weitergibt. Wie es keine Generation gibt, die nicht erbt und vererbt, so

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gibt es auch kein Erbe, das nicht von einer Generation an die nächste tradiert wird. Auf diese Weise konstituiert das Erbe einen kulturellen Prozess, indem es die folgenden Generationen zu Erben und die gegenwärtigen Generationen zu Erblassern macht, die damit eine besondere Verantwortung für das Vererbte übernehmen. In diesem systematischen Zusammenhang werde ich nachweisen, dass nicht zuletzt der Begriff der Generation im Kontext der Geschichtsphilosophie steht. Es soll gezeigt werden, dass dieser Begriff ohne die Voraussetzung des modernen historischen Bewusstseins gar nicht denkbar ist, demzufolge die Geschichte als kontinuierliche Folge von Generationen vorgestellt wird. Dazu gehört der Begriff des Erbes, der einerseits die Generationenfolge voraussetzt, andererseits diese Folge überhaupt erst kulturell charakterisiert. Weil das Modell der Erbschaft nicht allein den Prozess des Vererbens, sondern ebenso das Erben in Form einer Annahme und eines praktischen Umgangs mit dem Geerbten bedeutet, bildet es die Grundlage für eine intergenerationelle Kooperation. Dieser Zusammenhang von Geschichte, Generation und Erbe bildet den thematischen Schwerpunkt dieses Teils.

7. Generation und Gerechtigkeit Der Begriff der Generation hat Konjunktur. In den Medien und in der Populärliteratur werden ständig neue Generationen erfunden. Viele Konflikte etwa auf den Feldern der Verschuldungs-, Renten- und Umweltpolitik werden öffentlich unter dem Stichwort „Generation“ ausgetragen. Während sich der ‚klassische‘ Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt abgekühlt hat, steht nun der Ausgleich zwischen den Interessen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen im Brennpunkt. Zudem verfügen die meisten geistesund sozialwissenschaftlichen Disziplinen über ausgearbeitete Generationenkonzepte mit umfangreichen Anwendungsfeldern. Doch in der Philosophie fehlt bisher ein gehaltvoller Generationenbegriff, sieht man einmal von vereinzelten und älterenArbeiten ab,1 die in der gegenwärtigen Forschungsliteratur zum Generationenbegriff keine Beachtung finden. In der Ethik findet dieser Begriff zwar in den Diskussionen um die Generationengerechtigkeit Anwendung, aber lediglich in der formalen Bedeutung von Altersklassen oder Kohorten, während ein materiales Konzept ein Desiderat geblieben ist. Mein Ziel besteht darin, diese Lücke zu schließen und ein materiales und normativ anschlussfähiges Konzept der Generation für Philosophie und Ethik zu entwickeln. Dabei ist zu prüfen, in welchem Maße Ergebnisse und Methoden aus der Generationenforschung anderer Disziplinen verwendet werden können. Dazu übernehme ich von Mannheim den Begriff der „Generationslagerung“, der sowohl eine Fremd- als auch Selbstzuschreibung von Verantwortung erlaubt. Dieses Konzept hat den Vorteil, dass es sich auf die ‚objektive‘ Seite begrenzt und somit ermöglicht, prognostizierbare Lebensbedingungen von erwartbaren zukünftigen Populationen zu beschreiben. Synchron werden dadurch geographische und gesellschaftliche Differenzierungen möglich, diachron Vergleiche zwischen historisch aufeinander folgenden Situationen. 1

Insbesondere Riedel 1969.

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Darüber hinaus gestattet es der Begriff des „Generationszusammenhangs“, auch subjektive Momente des Generationenbegriffs auf die Zukunft zu übertragen, da die Reaktionen zukünftig lebender Menschen auf die ihnen hinterlassenen Verhältnisse antizipiert werden können. Dazu gehören sowohl die Bewertung des Tradierten wie auch die Wertschätzung oder Verurteilung der Tradierenden.

Der formale Generationenbegriff in der Zukunftsethik Vor allem in der Ethik der Zukunft, in der sich die Frage nach der „Verantwortung für zukünftige Generationen“ stellt, wird mit dem Generationenbegriff operiert. Sofern dieser Begriff überhaupt definiert wird, konzentriert man sich auf chronologische Bestimmungen im Sinne formaler Zeitstrukturen. So versteht man unter „Generation“ eine gleichzeitig lebende oder zeitlich aufeinander folgende Altersgruppe. Die Kohorte bezeichnet einen statistisch-demographischen Längsschnitt von Menschen mit einem gemeinsamen Start im Zeitablauf, so dass Jahrgänge methodisch zu Einheiten zusammengefügt werden. Während sich die Altersgruppe auf einen synchronen Querschnitt bezieht, bedeutet die Generation einen diachronen Längsschnitt, der es erlaubt, Gruppierungen von Jahrgängen zu erfassen.2 Beim Thema Gerechtigkeit spricht man von einer intragenerationellen Gerechtigkeit, die sich auf die Gerechtigkeit innerhalb einer Generation bezieht, und einer intergenerationellen Gerechtigkeit zwischen Menschen, die früher gelebt haben, heute leben und zukünftig leben werden. Generationengerechtigkeit im engen Sinn ist dann ausschließlich intergenerationelle Gerechtigkeit, d.h. die Gerechtigkeit zwischen den Generationen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Inzwischen hat sich der Sprachgebrauch eingebürgert, dass mit Generationengerechtigkeit immer die intergenerationelle oder intertemporale Relation gemeint ist.3 Nach Birnbacher versteht man unter einer Generation eine „Population gleichzeitig Lebender“ oder „die Gesamtheit aller in einer Periode Geborenen, wobei die Länge der Periode gleich dem durchschnittlichen Zeitraum ist, in dem aus Kindern Eltern und aus Eltern Großeltern werden“.4 Daraus folgt ein bestimmter „Generationenabstand, d.i. der mittlere zeitliche Abstand zwischen Kindern und ihren Eltern, als ein Zeitmaß“.5 In der Regel lebt dann jede Generation drei Perioden lang, so dass in jeder Periode Angehörige dreier Generationen zur selben Zeit existieren.6 Von zukünftigen Generationen ist die Rede, wenn der Anfangszeitpunkt des Intervalls in der Zukunft liegt, also alle Mitglieder der Generation in der Zukunft geboren werden. Alle Generationen, aus denen jetzt noch 2 3 4 5 6

Veith 2006, 26 f.; vgl. Kaufmann 1997, 19; Schäffer 2003, 68 f. Tremmel 2005, 87 ff.; Heubach 2008, 132; Lienkamp 2009, 279. Birnbacher 1988, 23; vgl. Sturma 2006, 225. Brumlik 1997, 83; Unnerstall 1999, 29; vgl. Heubach 2008, 30 f. Jonas 1979, 215; Birnbacher 1988, 24 f., 156; Lienkamp 2009, 279; infolge der längeren Lebenswerwartung spricht man sogar von fünf Generationen, die gleichzeitig leben, Opaschowski 2004, 19.

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ein Mitglied lebt, sind damit gegenwärtige Generationen, die sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft hineinreichen. Diskrete Generationen sind solche, die sich zeitlich nicht überschneiden.7 Mit Generationen sind folglich nicht starr voneinander getrennte Einheiten gemeint, sondern flexible Gruppen in überlappenden Zeitstrukturen. Wird nun die Verantwortung für zukünftige Menschen thematisiert, stellt sich nicht nur die Frage, welche Generationen relativ zur gegenwärtigen überhaupt als „zukünftige“ Generationen gelten können, sondern ebenfalls, für welche Generationen die heutigen Generationen Verantwortung übernehmen sollen: entweder für diejenigen Generationen, die mit der, welche verantwortlich ist, in keiner Periode gleichzeitig leben, oder für diejenigen Generationen, deren Lebenszeit mindestens eine Periode einschließt, die von der vorherigen Generation nicht mehr erlebt wird. In diesem Sinn kann man zwischen einer Verantwortung für Generationen in der nahen und fernen Zukunft unterscheiden. Wie auch immer die Präferenzen ausfallen, so ist in unserem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Klärung dieser Fragen meist mit einem rein numerischen Generationenbegriff versucht wird. Die „Generation“ fungiert lediglich als Rechengröße, sofern die ethisch relevanten Generationen gezählt und für jede Generation etwa dreißig Jahre veranschlagt werden. Da sich dieser chronologische Begriff am Lebensalter und an der biologischen Reproduktion der Menschen orientiert, bleibt er nicht nur formal, sondern letztlich naturalistisch begrenzt. Allerdings finden sich bei den Vertretern der Zukunftsethik auch ernst zu nehmende Gründe für die Beschränkung auf einen chronologischen Generationenbegriff und gegen die inhaltliche Konkretisierung. Der erste Grund ist ein Universalismus, der in der Ethik der Zukunft weit verbreitet ist. Unter der Voraussetzung des Prinzips, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, gilt dieses Prinzip ebenso für zukünftige Menschen ohne jede Zeitgrenze. Wenn also jeder Mensch zu jeder Zeit das gleiche Recht auf die Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse hat, scheint es sogar ethisch geboten zu sein, von konkreten Zeiten zu abstrahieren. Wie im vierten Kapitel gezeigt, steht jede Art „Zeitpräferenz“ unter dem Verdacht, damit partikulare Interessen vertreten zu wollen. Bezogen auf die zeitlich strukturierte Generationenfolge folgt daraus: „Generationengerechtigkeit ist erreicht, wenn niemand aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation benachteiligt wird.“8 Damit verbietet es sich, aus einer konkreten Bestimmung zukünftiger Generationen generelle Rechte abzuleiten. Der zweite Grund ist ein Individualismus, der ebenfalls einen Topos der Zukunftsethik ausmacht. Demnach gelten allein individuelle Personen als Subjekte und Adressaten von Verantwortung. Dieser Standpunkt führt zu einer Kritik, die dem Generationenbegriff eine soziale und ethische Bedeutung pauschal aberkennt. Der Einwand ist so lange berechtigt, wie sich hinter dem Generationenbegriff ein angebliches Handlungssubjekt in Analogie zu einem Individuum verbirgt. Nachdem in den Anfängen der Zukunftsethik 7

8

Unnerstall 1999, 33. – Tremmel schlägt vor, „zukünftige Generation“ zu ersetzen durch „nachrückende Generation“, und „heutige Generation“ durch „heute mittlere und ältere Generation“; Tremmel 2003, 35; vgl. Veith 2006, 154; Heubach 2008, 42. Heubach 2008, 44; vgl. Ott, Döring 2008, 99.

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die Verantwortung für die „künftige Menschheit“ postuliert wurde, spricht man heute wie selbstverständlich von „Generationen“. Dabei besteht zumindest die Gefahr, den Begriff der Generation als neues Pseudosubjekt im verkleinerten Maßstab misszuverstehen. Der dritte Grund für das Fehlen eines materialen Begriffs besteht darin, dass die Mitglieder zukünftiger Generationen, für die Verantwortung übernommen werden soll, noch gar nicht existieren. Zahl und Charakter der in Zukunft lebenden Menschen sind noch zu wenig bestimmt, so dass ein inhaltlicher Generationenbegriff unangemessen erscheint. Noch prinzipieller ist der Einwand, dass noch nicht existierende Menschen gegenwärtig weder als Handelnde noch als Erfahrungsträger oder Selbstbeschreibungssubjekte fungieren können. Dazu kommt noch eine Schwierigkeit, die aus der mehrfach erwähnten Debatte über das so genannte Nicht-Identitäts-Paradox resultiert. Die konkrete Zusammensetzung zukünftiger Generationen ändert sich, wenn in der Gegenwart anders gehandelt wird. Um diese Schwierigkeit zu umgehen, scheint die Voraussetzung zu genügen, dass in Zukunft ganz generell Menschen leben werden. Doch dieser verbreitete Lösungsvorschlag versperrt wiederum den Weg für ein inhaltliches Generationenkonzept, das zeitliche und räumliche Vergleiche zulässt.

Generationenforschung Das Fehlen eines materialen Begriffs der Generation in der Ethik und überhaupt in der Philosophie ist bedauerlich, weil in anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ein solcher Generationenbegriff teilweise elaboriert worden ist und erfolgreich angewendet wird. Der Forschungsstand lässt sich hier nur in äußerster Kürze skizzieren. An erster Stelle rangiert auf diesem Feld die Geschichtswissenschaft, in der eine ausgiebige Generationenforschung konstatiert werden kann.9 Unter „Generation“ wird hier ein Ordnungsbegriff verstanden, der verspricht, eine spezifische Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, indem die unterstellte dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisationsbedingungen als kollektive Erfahrung aufgefasst wird. Die Annahme, durch ähnlich gelagerte Sozialisations- und Prägungszusammenhänge entstünde eine gefühlte Verbundenheit zwischen Angehörigen verwandter Jahrgänge, beruht auf der modernen Vorstellung von Verzeitlichung. Dabei wird nicht nur untersucht, wie konkurrierende Gesellschafts- und Politikentwürfe von kollektiven Handlungsträgern gleichzeitig auftreten, sondern vor allem, wie Generationen einander ablösen und dabei ihr jeweiliges historisches Erbes weitergeben. Beim soziologischen Generationenbegriff steht hingegen der Aspekt der Gleichzeitigkeit im Vordergrund.10 Schon Mannheim hatte auf der Basis eines Werte- und Kulturwandels „Generationen“ als soziale Gruppen definiert, die einheitlich auf ein Ereignis reagieren und eine gemeinsame Grundstimmung sowie ein entsprechendes Ge9 Jureit 2006, 8 ff.; vgl. Weisbrod 2005, 3 ff. 10 Burckhart, Wolf 2002; siehe auch die im dritten Kapitel referierte Position von Rosa 2005.

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meinschaftsgefühl entwickeln.11 Darauf aufbauend hat sich eine differenzierte Forschung über die Generation als einen sozialen Erfahrungsraum entwickelt, der sich von der familiären Sozialisation bis zur gesellschaftlichen Institutionalisierung erstreckt.12 Dabei stellt sich das Problem des Verhältnisses zwischen kollektiven Erfahrungen und einem Systemwandel, der sich der unmittelbaren Erfahrung entzieht. So fungieren Generationen als Übergangsformationen zwischen dem Einzelnen und dem gesellschaftlichen Ganzen. Daran schließt sich ein kommunikationswissenschaftlicher Generationenbegriff an, in dem die kollektive Verständigung als Kommunikationsprozess beziehungsweise die Generationengeschichte als Kommunikationsgeschichte beschrieben wird.13 Insbesondere spielen hier so genannte Generationenobjekte wie Bilder eine Rolle. Sofern dabei politische Ansprüche und Institutionen ins Spiel kommen, handelt es sich um einen politologischen Generationenbegriff. Der Aspekt der Generationenfolge kommt neben der Geschichtswissenschaft vor allem in der Pädagogik zur Geltung, in der die Vermittlung von Bildung und Wissen als Verhältnis zwischen den Generationen gedeutet wird, so dass der Begriff „Generation“ bei einigen Autoren sogar zu einer erziehungswissenschaftlichen Schlüsselkategorie avanciert.14 Die Psychoanalyse verfügt über ein Generationenkonzept, in dem die psychischen Folgen von Verfolgung und Terror bei der nachfolgenden Generation untersucht werden. Die historischen Erbschaften werden zu Erblasten unbearbeiteter Konflikte und psychischer Schädigungen.15 Indem dabei auch Schuldgefühle durch Übertragungen historischer Schuld thematisiert werden, führt der psychoanalytische Generationenbegriff zu ethischen Fragestellungen. Schließlich gibt es wenige Versuche, Generationenkonzepte aus einzelnen Disziplinen in den Bereich der Ethik zu übertragen. So wird unterschieden zwischen einem familiären, soziologischen und pädagogischen Generationenbegriff, ohne allerdings diese Konzepte für ethische Zwecke zu modifizieren.16 Im Anschluss an die Soziologie kann man differenzieren zwischen einer Generationenbeziehung, die interpersonell oder familiär und damit mikrosoziologisch zu verstehen ist, und einem Generationenverhältnis, das mittelbare und damit makrostrukturelle Zusammenhänge bezeichnet.17 Wenn man die familiäre und die pädagogische Generationenbeziehung als verwandt betrachtet, läuft diese Einteilung auf die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Prinzip der Fürsorge innerhalb der drei gleichzeitig lebenden Generationen und der gesellschaftlichen Vorsorge für darauf folgende Generationen hinaus. Wie wichtig die Drei-Generationen-Grenze auch ist, so ist damit das Desiderat eines materialen Generationenbegriffs nicht behoben, der jenseits dieser Grenze Geltung beanspruchen kann. 11 12 13 14 15 16 17

Mannheim 1964, 509 ff. Liebau 1997; Lettke 2003; Lüscher 2005, 53 ff. Schäffer 2003; Knoch 2005, 295 ff. Herrmann 1993, 99 ff.; Müller 1999, 787 ff. Krejci 2005, 80 ff. Veith 2006, 29 ff., 38 ff., 47 ff.; vgl. Tremmel 2008, 153 ff. Mansel u.a. 1997, 7 ff.; Kaufmann 1997, 19, 24; Veith 2006, 27 f.

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Entwurf eines materialen Konzepts der Generation Um ein philosophisches Konzept der Generation zu entwerfen, stellt sich zunächst die Aufgabe, in den vorhandenen Ansätzen der Generationenforschung nach geeigneten Anknüpfungspunkten zu suchen. Es ist zu erkunden, welche Merkmale sich auf die Philosophie beziehungsweise Ethik übertragen lassen und inwieweit sie dabei modifiziert werden müssen. In unserem Zusammenhang ist mit und gegen Mannheim der historische Aspekt zu betonen. Die größten Schwierigkeiten bereiten zweifellos die zukünftigen Generationen, für welche die gegenwärtig lebenden Verantwortung übernehmen sollen. Da die in Zukunft zu erwartenden Menschen noch nicht existieren, kommen sie als aktuale Handlungssubjekte nicht in Frage. Weil zukünftige Generationen noch keine ‚sozialen Tatsachen‘ sind, taugt hier auch kein empirischer Begriff der Generation, wie er in den anderen Disziplinen mit Blick auf die Gegenwart ausdifferenziert wurde. Im Hinblick auf die Zukunft kann der philosophische Begriff der Generationen nicht anders als hypothetisch sein, und zwar in dem Sinne, dass er sich auf real mögliche Menschen bezieht. Gleichwohl ist zu fragen, ob es legitim ist, ihn inhaltlich zu konkretisieren. Bekanntlich unterscheidet Mannheim zwischen einer „Generationslagerung“, einem „Generationszusammenhang“undeiner„Generationseinheit“.18 VonbesonderemInteresse ist für uns der Begriff der Lagerung, der allerdings über Mannheim hinaus auszuarbeiten ist. Der systematische Grundgedanke besteht darin, dass von einer Generation auch dann gesprochen werden kann, wenn gar kein „Zusammenhang“ oder keine „Einheit“ vorliegt, d.h. wenn die betreffende Generation weder eine gemeinsame Erfahrung macht noch sich gemeinschaftlich verbunden fühlt. Dann besteht die Gemeinsamkeit in einer bestimmten „Lage“, die durch äußere Lebensumstände wie ökonomische, soziale, kulturelle und – aus heutiger Sicht zu ergänzen – ökologische Faktoren bestimmt werden kann. Zugleich enthält eine so definierte Lage die „Potenziale“ für die Herausbildung eines konkreten Generationszusammenhangs beziehungsweise einer adäquaten Einheit. Dieses Konzept hat den Vorzug, dass es sich sowohl von formalistischen als auch von subjektivistischen Konzeptionen abgrenzt. Der hier in der Zukunftsperspektive vorgeschlagene Generationenbegriff versteht sich zunächst als objektiv in dem Sinne, dass den zukünftig lebenden Menschen von heute aus bestimmte Lebensbedingungen zugeordnet werden, die von den gegenwärtig Lebenden verursacht, verschuldet oder zumindest beeinflusst werden. Eine solche „Lage“ bedeutet daher, dass spätere Generationen von den Handlungen der gegenwärtig Lebenden ‚betroffen‘ werden, indem sie in bestimmte Situationen hineingeboren werden und nicht zuletzt auch die negativen Auswirkungen schädigenden Verhaltens zu spüren bekommen. 18 Mannheim 1964, 524 ff.; zur historischen Dimension siehe den Abschnitt „Generationenwechsel“

im achten Kapitel. – Vgl. Matthes 1985, 363 ff., insbes. 59 f.; Kaufmann 1997, 24; Sparschuh 2000, 119 ff.; Schäffer, 2003, 54 ff.; Niethammer 2006, 209 ff.; Veith 2006, 159. – Auch Tremmel referiert die Theorie von Mannheim, allerdings ohne sie auf das Problem der Generationengerechtigkeit anzuwenden; Tremmel 2008, 154.

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Objektive „Lagen“ An dieser Stelle erhebe ich denAnspruch zu zeigen, dass ein materialer Generationenbegriff zur Lösung des erwähnten Nicht-Identitäts-Paradoxes beizutragen imstande ist. Denn die Einsicht in kontingente Zeitverhältnisse zwingt nicht dazu, auf das Referenzsubjekt „Menschheit“ auszuweichen. Es bleibt noch eine ‚mittlere‘ Lösung, die darin besteht, zwischen die Extreme „Individuum“ und „Menschheit“ die Generation zu stellen. Das hat den Vorteil, dass Generationen einerseits hinreichend viele Menschen umfassen, um die Kontingenz individueller Schädigungen zu unterlaufen, und andererseits so konkret sind, dass zwischen jeweils gleichzeitig lebenden Generationen räumlich und sozial differenziert werden kann. Wie es sehr wahrscheinlich ist, dass es generell zukünftige Menschen geben wird, so darf mit ebensolcher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass in Zukunft Menschen in Deutschland oder in Dresden leben werden. Auch wenn die personelle Zusammensetzung dieser Populationen kontingent ist, bleibt doch deren mögliche Existenz im Ganzen kontingenz-resistent. Geht man vom Begriff der Generation aus, kann diese auch inhaltlich bestimmt werden, da sich bereits in der Gegenwart die prognostizierte „Lage“ beschreiben lässt. Zwar besteht kein Zweifel daran, dass allein einzelne Personen urteilen, handeln und dafür letztlich verantwortlich sind, so wie auch in Zukunft von Personen erwartet wird, dass sie von gegenwärtigen Handlungen betroffen sein und darauf angemessen reagieren werden. Aber es ist zu bedenken, dass diese Personen unter gemeinsamen natürlichen und kulturellen Bedingungen und in sozialen Zusammenhängen agieren, die sie als Generationen gemeinsam haben. Demnach sind ohne Frage letztlich allein Individuen von den Wirkungen früherer Handlungen betroffen, doch unabhängig von der konkreten Zusammensetzung der jeweiligen Population in einer bestimmten Lage. Für die Ethik der Zukunft hat ein derart materiales Generationenkonzept weitreichende Konsequenzen. Hinsichtlich des synchronen Aspekts besteht der theoretische Gewinn darin, dass er eine räumliche Differenzierung erlaubt. Damit ist der geographische und gesellschaftliche Umfang von Generationen gemeint, der nicht nur die sozialen Unterschiede zwischen Regionen und Nationen, sondern auch die sozialen Ungleichheiten innerhalb räumlicher Gebiete umgreift. Auf diese Weise wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich die Verantwortung für zukünftige Generationen nicht auf alle gegenwärtig lebenden Menschen in gleicher Weise verteilt. Der diachrone Vergleich zwischen den unterschiedlichen Lebenslagen der aufeinander folgenden Generationen ermöglicht es, die fälligen Kompensationen sozial konkreter und historisch gerechter zu bestimmen. Dadurch lassen sich die Maßstäbe so spezifizieren, dass auch relative Verschlechterungen und Verbesserungen bestimmter Generationen berücksichtigt werden können. Ein derart materiales Generationenkonzept trägt dazu bei, das Thema in geschichtlich-kulturelle Kontexte einzubinden. Aus ethischer Perspektive lassen sich meine Ausführungen zu den „Fristen der Verantwortung“ mit der Struktur zukünftiger „Lagen“ verbinden. Denn die genannten Fristen beziehen sich ja auf nichts anderes als auf die jeweils anzustrebenden Situationen zukünftiger Generationen. Die moralische Verantwortung differenziert sich nach sachlich

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verschiedenen und entsprechend gestaffelten Fristen, die beachtet werden müssen, um die Faktoren bestimmter Lebensbedingungen der zukünftigen Generationen zu beeinflussen. Außerdem lässt sich das Konzept der objektiven Lage von Generationen mit dem Problem historischer Gerechtigkeit verbinden. Wenn es der Begriff der Lage erlaubt, die Verhältnisse zukünftiger Menschen nicht nur nach ihrer temporalen Stellung, sondern vor allem nach ihren unterschiedlichen Situationen zu beurteilen, können soziale und kulturelle Unterschiede wie auch für die Zukunft zu erwartende Ungleichzeitigkeiten prognostiziert und mit der Forderung zur Synchronisierung verknüpft werden. Auf diese Weise erhält der Generationenbegriff eine normative Dimension. In der Gegenwart werden Aufgaben formuliert, die von bestimmten Generationen erfüllt werden sollen. Auch dazu eignet sich Mannheims Begriff der Generationslagerung, da er keine Soziologie des Wissens, sondern des „Willens“ enthält,19 also ein Begriff der Praxis ist, der in eine ethische Kategorie umdeutbar ist. Insofern sich Generationslagerungen tatsächlichen Handlungen oder Unterlassungen vergangener Generationen verdanken, kann man Generationen die kollektive Verantwortung für die Folgen ihres Handelns zuschreiben. Hier von der Lage auszugehen, ist sinnvoll, weil für eine solche Verantwortung die Fremdzuschreibung zunächst ausreicht, ohne dass sich eine Generation verantwortlich fühlen oder ein Schuldbewusstsein entwickeln muss. An die Generationenlage schließt sich so eine Generationenverantwortung an. Sofern sich eine Generation darüber hinaus die Verantwortung selbst zuschreibt und eine moralische Aufgabe bewusst übernimmt, realisiert sie ihr spezifisch moralisches Potenzial und formiert sich als „Zusammenhang“ oder „Einheit“. Dabei lassen sich wesentliche Merkmale des subjektiven Generationenbegriffs auf den philosophisch-ethischen Kontext übertragen. Zunächst spielen gemeinsame Erfahrungen eine Rolle, die im Falle des Klimawandels vor allem wissenschaftlich und massenmedial vermittelt sind. Entscheidend ist die in der Generationenforschung zentrale Kategorie der Verarbeitung, die in der normativen Dimension bedeutet, dass die Mitglieder einer Gruppe aus ihren Erfahrungen bestimmte praktische Konsequenzen für ihr eigenes Handeln ziehen. Während generell für Generationen der Handlungsbezug fehlen kann, ist in diesem Fall die Konstituierung geschichtlich gewachsener Identitäten wesentlich.

Zukünftige Subjekte Nun scheint es evident zu sein, dass der subjektive Begriff der Generation, den Mannheim als „Generationszusammenhang“ und „Generationseinheit“ charakterisiert, auf die Zukunft nicht in gleicher Weise anwendbar ist. Weil die zukünftig lebenden Menschen noch nicht existieren, können sie trivialerweise keine Subjekte sein, die Handlungen vollziehen und Bewusstsein oder gar Selbstbewusstsein entwickeln. Aus diesem Grund wenden ja einige Theoretiker der Langzeitverantwortung ein, dass der Generationenbegriff für die Beschreibung zukünftiger Populationen untauglich sei. Gleichwohl halte ich es für ange19 Mannheim 1964, 528 ff.; vgl. Niethammer 2006, 209 ff.

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bracht, die in Zukunft in jedem Fall bestimmten Generationen angehörenden Individuen als mögliche Subjekte zu betrachten. Um diese Sichtweise zu rechtfertigen, ist erst einmal zu klären, um welche Art Subjekte es sich handeln könnte. Dabei sind Kategorien aus der Geschichtsphilosophie hilfreich. In einem schwachen Sinn kann man eine zukünftige Generation als ein Referenzsubjekt bezeichnen, von dem in einer historischen Darstellung erzählt wird.20 Folgt man hier der Narratologie, produziert die Erzählung die intendierte Einheitlichkeit, wodurch sich ein solches Subjekt allererst konstituiert. Wie im zweiten Kapitel ausgeführt, gibt es zahlreiche Erzählungen, in denen nicht nur der „Tod der Menschheit“ zum Alptraum wird, sondern vor allem die konkreten Lebensbedingungen, Leidensgeschichten und auch Handlungen zukünftiger Generationen beschrieben werden. Davon zeugen die zitierten Utopien, Apokalypsen und philosophischen Diskurse über die Zukunft. Darüber hinaus lässt sich der Begriff des Referenzsubjekts auf unseren Kontext der praktischen Philosophie übertragen, allerdings in einer modifizierten, d.h. nicht mehr nur narratologischen, sondern pragmatischen Bedeutung. Ein derart ‚reales‘ Referenzsubjekt bedeutet, dass sich technische und ökonomische Handlungen zwar auf den ganzen Globus auswirken, sich aber in sehr unterschiedlicher Weise auf bestimmte Generationen als Subjekte beziehen, die in bestimmten Lagen von diesen Handlungen tatsächlich affiziert sind oder in Zukunft affiziert werden können. In diesem Zusammenhang könnte man sich ein Affektionssubjekt beziehungsweise eine Generationsaffektion vorstellen. Diese Sichtweise entspricht einer Zukunftsethik, in der die zukünftig Lebenden auf bloß ‚Betroffene‘ reduziert werden. Demnach steht einem gegenwärtigen „moral agent“ ein zukünftiger „moral patient“ gegenüber, als ob allein in der Gegenwart gehandelt und in der Zukunft nur erlitten würde.21 Es erfolgt keine Reflexion darüber, wie die zukünftigen Generationen auf unsere Hinterlassenschaften reagieren könnten oder welche Handlungsmöglichkeiten ihnen eingeräumt werden. Die zukünftigen Generationen wären dann bloße „Opfer“ einer gegenwärtigen Praxis. Demgegenüber halte ich es für unverzichtbar, die zukünftig lebenden Menschen auch als mögliche Akteure vorzustellen, die mit der an sie überlieferten „Lage“ bewusst umgehen. Zu beachten ist dabei, dass kollektive Meinungsbildungsprozesse in einer ganzen Generation in nicht geringem Maße bestimmen, wie die jeweilige Lage eingeschätzt und bewertet wird, und zwar möglicherweise ganz anders, als die Individuen für sich genommen und unabhängig davon geurteilt hätten. Daher ist es sinnvoll, im Anschluss an Mannheim noch einmal zwischen „Zusammenhang“ und „Einheit“ zukünftiger Generation zu unterscheiden.22 Ein Generationszusammenhang liegt in dieser Perspektive vor, wenn zukünftig lebende Menschen an „gemeinsamen Schicksalen“ partizipieren und diese reflektieren. Tatsächlich existieren Prognosen darüber, auf welche Weise die Menschen in Zukunft ihre Lebensverhältnisse beurteilen werden, wie das Beispiel von Umfragen zum Grad des 20 Lübbe 1977, 122 f. 21 Birnbacher 2008, 14; Meyer 2005, 2 f., 18, 36 ff.; vgl. Heubach 2008, 125. 22 Mannheim 1964, 528 ff.; vgl. Kaufmann 1997, 21.

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Umweltbewusstseins in Deutschland veranschaulicht.23 Das beinhaltet auch Erwartungen darüber, wie die zukünftigen Generationen das Verhalten der heutigen Generation beurteilen und welche Gefühle sie dabei äußern werden. Außerdem können mit Mannheim auch Generationseinheiten antizipiert werden, deren Mitglieder noch enger miteinander verbunden sind, da sie gemeinsame „Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien“ teilen, über die sie sich selbst als Teil einer sozialen Gruppe identifizieren. Für die Zukunft würde dies bedeuten, Prognosen über bestimmte kulturelle Strömungen und Organisationen anzustellen wie beispielsweise über Umweltbewegungen und politische Interessenvertretungen. Während bisher strikt von der gegenwärtigen Zukunft die Rede war, handelt es sich in diesem besonderen Fall, in dem man sich gedanklich sozusagen direkt in die Lage von Gegenwarten zukünftiger Generationen hineinversetzt, um die zukünftige Gegenwart. Erinnert sei an die Konzeption einer bedingt offenen Geschichte, derzufolge die Einsicht in die historische Kontingenz in den ethischen Grundsatz mündete, den zukünftigen Generationen die Bedingungen der Möglichkeit für die freie Wahl von Werten, Optionen und Präferenzen zu einzuräumen. Dieses Autonomieprinzip korrespondiert mit der Konzeption der dreifachen Kontingenz, in der über die kontingenten Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in der Gegenwart hinaus die Kontingenz der in Zukunft zu erwartenden Deutungen und Urteile antizipiert wird. Im Folgenden kommt nun noch das Modell des Erbes hinzu. Wenn man sagen kann, dass eine bestimmte Lebenslage ein Erbe darstellt, lässt sich von einer vererbten Lage sprechen. Diese Fortführung ist für die weitere Argumentation deshalb wichtig, weil der Erbebegriff die theoretischen Mittel bereitstellt, um die hier angesprochene Antizipation zukünftiger Subjekte so zu konkretisieren, dass ein selbständiger Umgang mit dem Geerbten vorstellbar und wünschbar wird. Doch zuvor bedarf der Begriff der Generation noch einer anderen Präzisierung, indem nun verstärkt der historische Aspekt auf geschichtsphilosophische Weise herausgearbeitet wird.

8. Geschichte und Generation Wenn in der Öffentlichkeit heute von „Generation“ die Rede ist, wird darunter meistens eine bestimmteAltersgruppe verstanden, die sich durch gemeinsame Erfahrungen, Stimmungen und Erwartungen verbunden fühlt. Seit Mannheim ist dieser synchrone Generationenbegriff zum Paradigma geworden. Der Begriff färbt auch auf die Geschichtswissenschaften ab, 23 Während noch Ende der achtziger Jahre die Ökologie deutlich vor der Ökonomie rangierte, als

dem Umweltschutz die hohe Bedeutung von 79 Prozent und der dritte Platz in einer Wertskala beigemessen wurde, ist sie im Jahr 2008 auf den 13. Platz mit 51 Prozent abgerutscht. Daraus wird die Erwartung abgeleitet, dass dieser Wert auch in naher Zukunft mit den brennenden sozialen Problemen weiter sinken könnte. Auf der anderen Seite lässt sich jedoch erwarten, dass sich im Zuge der sich wahrscheinlich weiter zuspitzenden ökologischen Erfahrungen dieser Trend wieder umkehren könnte. – Opaschewski 2008, 28, 185, 662; Lienkamp 2009, 16 f. – In einer „Prognose der zukünftigen Wertentwicklung“ von 1984 ist zwar metaphorisch vom „Werteklima“ die Rede, aber ökologische Themen spielen dort noch gar keine Rolle, Klages 1984, 145 ff.

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in denen zwar der historische Wandel von Generationen thematisiert wird, aber innerhalb jener Prozesse der Schwerpunkt auf altersspezifischen Einstellungen liegt. Der diachrone Aspekt kommt hingegen zum Vorschein, wenn Mannheim die Kontinuität des Generationenwechsels thematisiert, indem er das Konzept der „Lage“ um die historische Dimension einer Abfolge von Generationen als „Kulturträgern“ erweitert. Daran kann auch die Ethik der Zukunft anknüpfen, in der unter „Generationengerechtigkeit“ die Beziehung zwischen den heute lebenden und den zukünftig zu erwartenden Generationen verstanden wird. In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass der synchrone Generationenbegriff erst ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist. Ursprünglich verbindet sich mit ihm die zeitliche Folge von Generationen. Wenn nun dieser Gesichtspunkt wieder verstärkt zur Geltung gebracht werden soll, liegt es nahe, sich auf die historische Bedeutung eines Generationenbegriffs zu besinnen, der in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist. Denn der diachrone Begriff der Generation setzt ein bestimmtes Bild von Geschichte voraus, das nun expliziert werden soll. Zunächst möchte ich zeigen, dass der moderne Begriff der Generation, wie er in der Zukunftsethik verwendet wird, ohne ein bestimmtes historisches Bewusstsein gar nicht möglich ist. Nicht das Wissen um den Generationenwechsel konstituiert die Geschichtsauffassung, vielmehr ist es das moderne Verständnis von Geschichte, das mit dem Abgang der alten und dem Auftreten einer neuen Generation strukturelle Veränderungen und einmalige Ereignisse verknüpft. Wenn folglich die „Verantwortung für zukünftige Generationen“ thematisiert wird, ist der Generationenbegriff zwar grundlegend, aber nur unter der Voraussetzung, dass er seinerseits in einem bestimmten Geschichtsbewusstsein wurzelt. Es geht mir daher um die Rehabilitation des Kontextes von Generation und Geschichte in ethischer Perspektive. Betrachtet man das Problem der Generation aus historischer Perspektive, ist das Verhältnis von Lebensgeschichte und Weltgeschichte näher zu untersuchen. In den Prozess der Geschichte sind die endlichen Lebenszyklen der Individuen eingebettet. Wer in diesem Zusammenhang vom Tod spricht, setzt auch eine bestimmte Vorstellung von Geschichte voraus, was jedoch wenig beachtet wird. Die Diskurse über den Tod sind daher zwiespältig: Zwar ist der Tod etwas höchst Persönliches und Einzigartiges, Individuelles und Besonderes. Aber die philosophischen Reflexionen über den Tod vermengen sich zugleich mit politischen, gesellschaftskritischen und eben auch geschichtlichen Aspekten. Am Ende mutiert der Tod zu einem geschichtsphilosophischen Thema, indem über die Rolle des Individuums in der Geschichte reflektiert wird. Auf die eben genannte Ambivalenz kommt es mir an, wenn ich den Tod im Rahmen einer Ethik der Zukunft thematisiere. Aus dieser Überlegung resultiert der folgende Dreischritt: Zuerst behandle ich den Tod aus der Sicht des Individuums, um daraus transzendierende Aspekte zu gewinnen. Sodann nehme ich den Standpunkt der Geschichte ein, um die Rolle des Individuums in der Geschichtsphilosophie zu bestimmen. Schließlich führe ich die weltgeschichtliche wieder auf die individuelle Perspektive zurück, indem ich darüber nachdenke, wie sich Individuen beziehungsweise Angehörige einer Generation ihrer eigenen historischen Rolle mit Blick auf die Zukunft bewusst werden. Um diesen Zusammenhang von

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Generation und Geschichte zu untersuchen, beginne ich mit einem kurzen Rückblick auf die Bedeutung des Konzepts der Generation in der Geschichtsphilosophie.

„Generation“ in der Geschichtsphilosophie Wenn hier die Geschichtsphilosophie angesprochen wird, so ist damit das historische Denken des 18. Jahrhunderts gemeint seit der „Sattelzeit“ (Koselleck) der Aufklärung und beginnenden Moderne. Im zweiten Kapitel habe ich anhand der gegenwärtigen Diskurse über die Zukunft demonstriert, wie sich die zahlreichen ‚Erzählungen‘ mehr oder weniger explizit von diesem Denktypus verabschieden und an den vormodernen Geschichtsbildern des Zyklus und der Apokalypse orientieren. Daran hat sich eine Kritik am Posthistoire angeschlossen mit dem Ziel, einen tragfähigen Begriff von Zukunft und Gegenwart ausdrücklich auf dem Boden des modernen Geschichtsbewusstseins zu entwickeln. Auch an dieser Stelle ist es meine Absicht, die in jüngster Zeit zu beobachtende Tendenz umzukehren und die Genese des neuzeitlichen Sinns für Geschichte wach zu rufen, um einen für die Zukunftsethik brauchbaren Begriff der Generation zu bilden. Wie bereits erwähnt, verdankt sich die Entstehung der modernen Geschichtsphilosophie dem Übergang vom zyklischen Modell der Lebensalter zum Modell einer irreversiblen Entwicklung basierend auf der Vorstellung einer „Kette“ von Generationen. Hinter dem Modell des Kreislaufs, das seit der Antike bis zur Renaissance vorherrschend war,24 verbirgt sich eine Wachstumssymbolik, die sich entweder das Entstehen, Aufblühen und Vergehen von Pflanzen und Tieren oder die Lebenszeit des Menschen mit Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Greisenalter und Tod zum Vorbild nimmt. Das führt zur Analogie zwischen dem Lebensalter von Individuen und dem Auf- und Abstieg von Völkern und Kulturen in der Geschichte. Zuerst hat Fontenelle die Weltgeschichte von den Lebensaltern einzelner Individuen abgekoppelt, indem er die Metapher des Wachstumszyklus überwindet und die Dauer der Menschheit über Alter und Tod hinaus verlängert.25 Derselbe vorsichtige Ausbruch aus einer alten Metaphorik ist bei Turgot beobachtbar: „Und wenn man die menschliche Gattung von ihren Ursprüngen an betrachtet, so scheint sie in den Augen eines Philosophen wie ein großes Ganzes, das selbst auch, wie jedes Individuum, seine Kindheit hat und Fortschritte macht.“26 Dieser Befund entspricht der verbreiteten These von der „Denaturalisierung“ der Geschichte.27 Während demnach das Bild des Zyklus die natürliche Lebenszeit eines Menschen abbildet, orientiert sich der moderne Begriff der Geschichte an den „Fortschritten“ in Wissenschaft, Technik, Ökonomie und somit an der von den Menschen „gemachten“ Kulturentwicklung. Im Rahmen dieser Interpretation geht das moderne Geschichtsbewusstsein von einer naturalen zu einer spezifisch histo24 25 26 27

Vgl. Schlobach 1980, 136 ff.; Rohbeck 1987, 33 ff. Fontenelle 1971, 255; Schlobach 1980, 291 ff.; Blumenberg 1986, 180 ff. Turgot 1990, 140, vgl. 169; siehe Rohbeck 2000, 28 ff.; ders. 2010, 75 ff. Koselleck 1975a, 372 f.; Schlobach 1980, 281 ff.; Baumgartner 1996, 151 ff.

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rischen Zeit über. Mit ihm korrespondiert ein lineares Geschichtsbild und im Falle des „Fortschritts“ das Bild eines aufsteigenden Pfeils. Wie sehr diese Beobachtung zutrifft, so darf nicht übersehen werden, dass auch das moderne Verständnis von Geschichte eine natürliche Basis hat. Bei Turgot und Kant ist es die menschliche „Gattung“, die in der Folge der Generation besteht.28 Zwar wird die Analogie zwischen natürlichem Wachstum von Individuen und Kulturen verlassen, aber dafür etabliert sich das Paradigma der Sequenz einander ablösender Generationen. Es ist nicht einzusehen, warum die Generationenfolge als Träger kultureller Entwicklungen weniger ‚natürlich‘ sein soll als die Zeitspanne eines Menschenlebens – schließlich ist die Reproduktion der Generationen ganz wesentlich auch ein Naturprozess. Meiner Auffassung nach liegt hier kein Wandel von Metaphern der Natur zu einem naturunabhängigen Geschichtsmodell vor, sondern der Übergang von einem bestimmten Naturbild zu einem anderen. An die Stelle des natürlichen Wachstumszyklus von Individuen tritt die ebenso naturale Vorstellung der Generationenkette. Es handelt sich also um verschiedenartige Naturmodelle. Es lässt sich sogar nachweisen, dass die Vorstellung einer „Kette“ der Generationen einer um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstehenden Biologie als Wissenschaft geschuldet ist. Während das Modell des Wachstums oder Lebensalters aus der alltäglichen Erfahrung stammt, hängt das Modell der Generationenfolge mit den ersten Ansätzen des Entwicklungsdenkens in der zeitgenössischen „Naturgeschichte“ zusammen.29 Am Ende des Jahrhunderts setzte sich sowohl in den biologischen als auch in den Sozialund Kulturwissenschaften ein neues Konzept von Generation durch, das nun Kollektive von Menschen und anderen Organismen umfasste, die ungefähr zur gleichen Zeit geboren sind. Dadurch wurde es möglich, Vererbung als Transformationen von ganzen Gesellschaften beziehungsweise Arten zu konzipieren. Die Zeit stellte sich als genealogisches Kontinuum dar.30 Generationen waren diejenigen Einheiten, auf die das Erbe vorhergehender Generationen entfiel, die durch dieses Erbe in eine neue Ausgangslage versetzt souverän davon Gebrauch machen und es schließlich angereichert an die nächste Generation weitergeben konnten. Der Generationenbegriff versah Vererbung mit diachronen und synchronen Koordinaten, was einen geordneten Wandel erkennbar machte. Gleichzeitig setzte das in dieser Epoche entwickelte Modell der Generationenfolge ein bestimmtes Geschichtsbewusstsein voraus: die Idee der Universalgeschichte oder Weltgeschichte im Sinne einer kontinuierlichen und offenen Geschichte. Der moderne Begriff der Generation hätte ohne das entsprechende Geschichtsbewusstsein gar nicht entstehen können. Demnach ist die Folge der Generationen eine Kette von naturhaften und sozialen Gruppen, in der eine Generation auf die andere in gerader Linie und lückenloser Kontinuität folgt. Seit der europäischen Aufklärung hat diese Folge keinen schöpfungsgeschichtlichen ‚Ursprung‘, weil sie sich in der Vorgeschichte und Naturgeschichte der Evolution verliert. Ebenso wenig hat sie ein definitives ‚Ende‘, da die Geschichte 28 Kant 1968, Bd. 11, 37. 29 Ausführlich dazu Rohbeck 2010, 126 ff. 30 Rheinberger 1990, 130; Parnes 2005, 238 ff., 253; Rheinberger, Müller-Wille 2009, 155 f.

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„entfristet“ und mit offenem Ausgang gedacht wird.31 Diese Implikationen wirken in den Diskursen über Generationen fort, ohne dass sie in den einschlägigen Ethiken erwähnt werden.32 Generation und Geschichte gehören zusammen. Wie der Begriff der Generation setzt auch das Erbschaftsmodell das moderne Geschichtsbewusstsein voraus. Standen noch bei Bacon Entdeckung und Erfindung im Mittelpunkt, um neue Fortschritte zu garantieren, verlagerte sich das Interesse später auf die Tradierung des Wissens und Könnens. Dahinter stand die Erfahrung, dass die erzielten Innovationen im Laufe der Zeit immer auch wieder verloren gingen. Es verbreitete sich zunehmend die Befürchtung, dass auf den „Aufstieg“ der eigenen Zivilisation bald ein „Niedergang“ folgen könne, wie es vielen Kulturen in der Vergangenheit widerfahren ist. Bei allem Stolz über den erreichten „Gipfel“ schien die Gefahr eines neuerlichen Zyklus nicht gebannt zu sein. Aus diesem Grund erhielt die durch Weitergabe von Kulturgütern hergestellte Kontinuität in der Geschichte eine neue Relevanz. Um diesen kontinuierlichen Transfer von einer Generation zur anderen begreifbar zu machen, diente das Modell der Erbschaft. So betrachtet Turgot die Kenntnisse der Menschen als einen Schatz, „den eine Generation an die nächste weitergibt wie eine Erbschaft, die um die Entdeckungen jedes Jahrhunderts erweitert wird“. Dabei schreibt er den Menschen die einzigartige Fähigkeit zu, ihren Wissensvorrat mit Hilfe von „Zeichen“ von einer Generation an die anderen weiterzugeben.33 Doch Rousseau deutet die tradierte Kultur in eine Erblast um. So versteht er das Erdbeben in Lissabon von 1755 nicht als reine Naturkatastrophe, sondern als Folge einer verkehrten Zivilisation, in der verderbliche und zugleich verletzbare Städte gebaut würden.34 In diese Richtung argumentiert auch der junge Kant, der dieses Erdbeben als Mahnung zur moralischen Besserung interpretiert.35 In der darauf folgenden politischen Ökonomie bezieht sich dieses Modell bei Auguste Comte und John Stuart Mill vor allem auf die Vererbung von Kapitalanlagen.36 Auch Marx spricht von der Aufeinanderfolge der Generationen und der geregelten Weitergabe von Kapitalien, die er primär in einem ökonomischen Sinn versteht: „Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen Jede der ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert“.37 Schleiermacher, der eher die geistige Seite betont, begreift Erbe als doppelseitigen Prozess von Übergeben und Aneignen einer Kultur, wobei die Erziehung eine wesentliche Rolle spielt.38 31 32 33 34 35 36 37

Blumenberg 1986, 180 ff.; Marquard 2003, 220 ff.. Riedel 1969, 15 ff.; eine Ausnahme bildet Veith 2006, 24 f. Turgot 1990, 140. Rousseau 1994, 79 ff. Kant 1902, Bd. 1, 461. Parnes 2005, 248 f. Marx 2008, 58; zu einem erweiterten Kapitalbegriff siehe den Abschnitt „Kulturelles Kapital“ im folgenden Kapitel. 38 Schleiermacher 1965; neuerdings gibt es den Versuch, einen solchen „pädagogischen Generationenbegriff“ in die Zukunftsethik einzuführen, Veith 47 ff.

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Leider ist der Begriff der Generation weder in der ‚klassischen‘ Geschichtsphilosophie noch im späteren Historismus systematisch ausgearbeitet worden. Eine Ausnahme bildet Dilthey, der die Geschichte nicht „von außen“ betrachtet, sondern „von innen“ zu verstehen versucht. Dazu bietet sich für ihn die Generation an, die er als „natürliche Einheit für anschauliches Abmessen der Geschichte geistiger Bewegungen“ einführt. Das Konzept der Generation scheint diese Kombination von objektiver Maßeinheit und subjektiver Qualität in idealer Weise zu verbinden. So bezeichnet Dilthey die Generation als „Zeitinbegriff des Menschenlebens“, wie die folgende Definition zeigt: „Generation ist zunächst also […] die Bezeichnung für einen Zeitraum, und zwar ebenfalls von innen abmessende Vorstellung, welche der des Menschenlebens eingeordnet ist.“39 Bemerkenswert ist daran, dass Dilthey den Begriff der Generation zur Vermittlung einsetzt, und zwar zwischen Natur, die er nicht außer Acht lässt, und Kultur, die er hermeneutisch erschließen will. Außerdem schreibt er dem Generationenbegriff die Funktion zu, zwischen der Lebenszeit eines Individuums und der Weltzeit der Geschichte zu vermitteln.40 Der Begriff der Generation hat den Vorzug, dass er zwischen den Ideen der Menschheit und des Individuums auf einer mittleren Ebene angesiedelt ist.41 Einerseits vermeidet er den Rückgriff auf das Großsubjekt „Menschheit“, das der Geschichtsphilosophie der Aufklärung bis Hegel häufig unterstellt wird.42 Nachdem sich in der Zukunftsethik das Referenzsubjekt „Gattung“ ebenfalls als überdimensioniert herausgestellt hat, verspricht der Generationenbegriff überschaubare und vielfältige Populationen. Selbstverständlich ist auch damit kein neues Handlungssubjekt der Geschichte gemeint. Andererseits umgeht dieser Begriff die Fixierung der Ethik auf einzelne Personen, die zwar die verantwortlichen Akteure sind, aber in sozialen Zusammenhängen agieren und kollektiv verantwortlich gemacht werden können. Mit Generationen werden vielmehr soziale Gruppen benannt, die eine historische Identität herausbilden können. Wenn daher zunächst von der Lebenszeit einzelner Menschen die Rede ist, werden wir uns in den daran anschließenden Abschnitten der Rolle von endlichen Individuen in der Weltzeit zuwenden, um daraus einen geschichtsphilosophisch fundierten Begriff von Verantwortung zu gewinnen.

39 Dilthey 1962, 36 f. – In direktem Anschluss an Dilthey spricht Heidegger vom Erbe, das den exis-

tentiellen Entwurf oder die Antizipation einer faktischen Möglichkeit erschließt; 1967, 383; vgl. Weigel 2006, 120 f. – Eine negative Bestätigung findet sich bei Flusser, der eine Geschichte ohne Erbe beklagt: „Unsere Epoche enterbte sich selbst.“ 1997, 131. 40 In der heute erfahrenen Trennung von „Lebenszeit“ und „Weltzeit“ (Blumenberg) sieht hingegen Bohrer (2001, 757) einen Grund dafür, dass die Geschichte nicht mehr subjektiv erfahren werden könne und im Bewusstsein der Menschen verschwinde. 41 Siehe auch Schäffer 2003, 76; Unnerstall 2006, 66. 42 Zur ausführlichen Kritik an dieser Unterstellung siehe Rohbeck 2010, 103ff.

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Begrenzte Lebenszeit Geht man im ersten Schritt von den Individuen aus, setzt die Generationenfolge die begrenzte Lebenszeit und damit den Tod der Menschen voraus. Im übertragenen Sinn ‚sterben‘ dann auch Generationen und überlassen dadurch die Zukunft den nachfolgenden Generationen. Auf diese Weise hängen die Begriffe Tod und Generation eng miteinander zusammen. Wer von Generation spricht, darf über den Tod nicht schweigen. Bezeichnet man den Zeitraum bis zum Tod als eine „Frist“, ist damit die existenzielle Befristung des menschlichen Lebens angesprochen. Paradigmatisch für die besondere Signifikanz des Todes für ein Individuum ist bekanntlich die Existenzialanalyse von Heidegger, der von der „Jemeinigkeit“ des Todes spricht, was bedeutet, dass der Tod ein Faktum ist, welches das je eigene Dasein eines Menschen prägt.43 Mit dem berühmten „Sein zum Tode“ meint er nicht etwa das Ende des Lebens im Tod, sondern das lebenslange Verhältnis des Menschen zu seinem Ende. Verdienstvoll ist daran die Kritik an modernen Gesellschaften, in denen der Tod tendenziell verdrängt wird. Umso problematischer ist jedoch der Eindruck, dass zwischen den beiden Weltkriegen ein Heroismus propagiert wurde, der junge Männer in den angeblich heldenhaften Tod trieb. Darin besteht jedenfalls die heftige Widerrede von Theodor W. Adorno, der Heidegger eine „Komplizität mit dem Tod“ vorwirft,44 wie auch von Herbert Marcuse, der in dieser Ontologie eine „Ideologisierung des Todes“ im Sinne einer „Verherrlichung des Krieges“ mit der entsprechenden Legitimierung von Opfern argwöhnt.45 Demgegenüber sieht Jean Paul Sartre im Tod keinen sinnverleihenden Aspekt des Lebens, sondern die abrupte Durchstreichung jeder Bedeutung, mithin ein kontingentes und brutales Geschehen.46 In unserem Zusammenhang ist die Antwort von Hannah Arendt auf Heidegger besonders interessant, da sie den Primat des Todes durch die Aufwertung der Geburt relativiert,47 so dass menschliches Leben von „Natalität“ und „Mortalität“ bestimmt wird. Während die Folge der Generationen in erster Linie durch politisches „Handeln“ geschaffen wird, steht innerhalb dieses Kontinuums die Natalität für den jeweiligen „Neubeginn“, der es einer Generation erlaubt, einen spontanen Anfang zu machen und damit in der Geschichte etwas zu verändern. Auch Jonas verbindet „Sterblichkeit“ und „Gebürtigkeit“, indem er unterstreicht, dass der Abschied einer Generation die „Zufuhr von Andersheit“ ermögliche.48 43 Heidegger 1967, 383; vgl. Ebeling 1979, 16; Gehring 2010, 146 ff. – Siehe auch Knappe Zeit von

44 45 46 47 48

Harald Weinrich (2004, 229 ff.), der in einem Epilog auf den „inneren Zeitsinn“ und damit auf die Wahrnehmung begrenzter Lebenszeit hinweist; zur „knappen“ Zeitspanne zwischen Geburt und Tod vgl. auch Marquard 2003, 238; zum Verhältnis Tod und Geschichte siehe Zwenger 2008, 122 f. Adorno 1977, Bd. 6, 502; Ebeling 1979, 30; vgl. Koselleck 2003, 100 f. Marcuse 1965, 66 ff.; Ebeling 1979, 28 f., 106 ff. Sartre 1966, 670 f.; Ebeling 1979, 25. Arendt 1967, 15. Jonas 1987, 160; skeptisch dazu Marquard 2003, 238; vgl. Schnell 2007, 229.

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In der heutigen Gegenwart hat sich Heideggers „vorlaufende Entschlossenheit“ zum Tode49 ins gerade Gegenteil verkehrt, da über die Option debattiert wird, das Leben der Individuen durch medizinische Maßnahmen zu verlängern.50 Doch gibt es gute Gründe, eine Verlängerung der Lebenszeit abzulehnen. Folgt man einem Konsens,51 wäre ein Leben ohne zeitliche Befristung sinnlos, wenn alles wiederholbar und nicht mehr einzigartig sein würde. Die Menschen litten unter der Langeweile der Unsterblichkeit. Angesichts dessen sei der Tod kein Übel, er sei nur dann schlecht für eine Person, wenn er sie an der Verwirklichung ihrer Wünsche hinderte, was von den jeweiligen Lebensumständen abhänge. So könne das Wissen um die eigene Sterblichkeit eine Rolle für die vernünftige Lebensführung spielen, weil man sich auf wesentliche Wünsche konzentriere. In diesem Sinn erhält Heideggers „Gegenwart des Todes im Leben“ die modifizierte Bedeutung, dass ein Mensch, der sich der eigenen Endlichkeit bewusst ist, sein Leben besser in den Griff bekommt. Indem ihm bewusst wird, was er noch sinnvollerweise tun kann und was er unterlassen sollte, gewinnt er aus der Vergegenwärtigung des Todes neue Kraft zum Handeln. Durch die Umkehrung der Ohnmacht des Auf-den-Tod-hin-Lebens in das Vom-Tod-her-Leben verwandelt er die Todesfurcht in Macht. Die hier referierten Positionen verdeutlichen, dass der Tod nur scheinbar ein privates Thema ist. Vielmehr ist er sowohl in seiner Apologisierung als auch in seiner Verdrängung ein politischer Gegenstand. Vor allem steht der Tod in der Lebensgeschichte eines Individuums zugleich im übergreifenden Zusammenhang mit der Geschichte der fortlaufenden Generationenfolge.

Generationenwechsel Eine andere Perspektive zeigt sich im zweiten Schritt mit der Entstehung der Philosophie der Geschichte, in welcher der Vorrang der Gattung gegenüber dem Individuum behauptet wurde. In extremer Form findet sich diese Denkfigur bei Hegel, der den Glücksanspruch der Individuen in der Weltgeschichte für zweitrangig erklärt. Fiel Volney angesichts des Untergangs der Kulturen in „Melancholie“, hält er diese „Trauer“ für unbegründet, weil sie den geschichtlichen Endzweck verkenne, „dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden“ sind.52 Mit dieser Wendung ordnet er den Tod und die Vernichtung des Einzelnen, ob Individuum oder Kultur, der Weltgeschichte unter, was scharfe Kritik auf sich gezogen und die Geschichtsphilosophie insgesamt diskreditiert hat. Auch für Kant scheint es selbstverständlich zu sein, die Menschen „als Klasse vernünftiger Wesen“ zu bezeichnen, „die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterb49 50 51 52

Heidegger 1967, 382. Wittwer 2004, 19 ff.; ders. 2009, 43 ff. Heidegger 1967, 382; Theunissen 1991, 204 ff.; vgl. Schlette 2010, 117 ff. Volney 1977, 28 f.; Hegel, Werke 12, 33; vgl. Rohbeck 2010, 220.

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lich ist“.53 Während das Leben der Individuen befristet sei, lebe die Menschheit ohne eine solche Frist fort. Interessant ist es hier zu beobachten, dass bis ins 17. Jahrhundert eine medizinische Verlängerung des Lebens erhofft wurde,54 bevor derartige Utopien im 18. Jahrhundert verschwunden sind. Bei den Geschichtsphilosophen der Aufklärung entsteht vielmehr der fatale Eindruck, dass die Menschen gar nicht früh genug sterben können, um den folgenden Generationen den Weg für weitere „Fortschritte“ zu ebnen. Mit aller Deutlichkeit spricht später Comte diesen Verdacht aus, indem er behauptet, durch Ausdehnung der individuellen Lebensdauer werde die Dynamik des gesellschaftlichen Fortschritts nur verzögert, so wie er sich durch Verkürzung beschleunige.55 Ein verlängertes Leben wird nur noch im übertragenen Sinn eines fortlebenden Erbes toleriert. Es ist aber auch Kant, der das darin steckende moralische Problem auf ambivalente Weise expliziert. Zum einen ermahnt er die Menschen, die „Hoffnung besserer Zeiten“ nicht aufzugeben, um den Willen zur praktischen Anstrengung wach zu halten. Zum andern kritisiert er die „befremdende“ Vorstellung, „dass die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, […] ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können“.56 Diese Kritik am Fortschrittsglauben ist anschließend vielfach geübt worden; bereits im 19. Jahrhundert ist sie im deutschen Historismus verbreitet; im 20. Jahrhundert richtet sie sich vor allem gegen den Marxismus; sie hat sich bis in die gegenwärtige Ethik der Zukunft erhalten. So wirft Jonas etwa Marx und Bloch vor, das jeweils gegenwärtige Individuum als Mittel zum Zweck der zukünftigen Geschichte zu missbrauchen.57 Allerdings übersieht er dabei, dass Bloch selbst genau diese Kritik am doktrinären Marxismus geübt hat.58 Trotz berechtigter Einwände sowohl gegen Heideggers Todesontologie als auch gegen die Fortschrittsidee seit der Aufklärung hat die Einsicht der Geschichtsphilosophie in den Zusammenhang von begrenzter Lebenszeit und fortdauernder Geschichte ihre Gültigkeit behalten. Nach Koselleck ist die Folge der Generationen konstitutiv für die Geschichte im Ganzen, die damit die Endlichkeit der Menschen voraussetzt.59 Er hält die Generativität für eine transzendentale Bestimmung von Geschichte. Obwohl die Geschichte einen irreversiblen Prozess bildet, ist in ihn die Reproduktion von Individuen eingelassen. Geschichte ist die Abfolge der Generationen, indem sie die Lebensalter der Individuen übersteigt. Die Endlichkeit ist zugleich eine Voraussetzung für immer neue mögliche Geschichten. Eine bedeutende Rolle spielt dabei der Wechsel von Generationen, insbesondere die damit verbundenen Brüche. 53 54 55 56 57 58

Kant 1968, Bd. 11, 37. Bacon, 1960, 52; siehe den Abschnitt „Utopien von Bacon bis Marx“ im ersten Kapitel. Comte 1967, 27 ff.; vgl. Riedel 1974, 275. Kant 1968, Bd. 11, 351, 37. Jonas 1979, 343, 348, 374-378. Sein vermeintlich „roter Held“ nimmt den Tod nicht nur hin, sondern geht in der Kontinuität der sozialen Klasse auf, in der Unsterblichkeit am Werk sei; Bloch 1985, Bd. 3, 1378 f. 59 Im kritischen Anschluss an Heidegger: Koselleck 2003, 107 f.; ders. 2010, 103 f.; vgl. Husserl, Gesammelte Werke, Bd. 15, 171 f.; Theunissen 1991, 197 ff.; Zwenger 2008, 123.

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Mit seinen geschichtstheoretischen Überlegungen knüpft Koselleck an die Soziologie Mannheims an, der auf der Basis des biologischen Rhythmus der Generationenfolge eine Theorie der Aufeinanderfolge von Kulturen entwirft.60 Nach Mannheim setzt diese Folge sowohl den „Abgang“ früherer als auch das „Neueinsetzen neuer Kulturträger“ voraus. Da jeder Protagonist nur einen begrenzten Abschnitt im Geschichtsprozess ausfüllt, ergibt sich die Notwendigkeit des Tradierens und Akkumulierens. Geschichte besteht demnach aus der Kontinuität in der Generationenfolge. Zugleich liegen im Wechsel der Generationen die Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass historische Veränderungen begünstigt werden. Dabei ist zu beachten, dass ein so verstandenes Verhältnis von Generation und Geschichte wiederum ein bestimmtes Geschichtsmodell voraussetzt. Wie im dritten und sechsten Kapitel erwähnt, unterstellt die Erwartung der Zukunft im Singular die Vorstellung von Geschichte als eines kontinuierlichen Prozesses. Insbesondere die Erwartung, dass sich die Zukunft von der Gegenwart unterscheidet und etwas noch nie Dagewesenes hervorbringt, bedarf des modernen historischen Bewusstseins. Denn in der Vormoderne galt die Folge der Generationen eher als Garant für Stabilität im Sinne von kulturellem Stillstand. Das Umdenken begann erst mit der Fortschrittsidee der Aufklärung, die auf elementarer Stufe besagt, dass sich ein Wandel gesellschaftlicher Strukturen vollzieht. Diese Einsicht bestätigt sich im Historismus, der die Besonderheit und Einmaligkeit historischer Ereignisse betont. Aus diesen Gründen ist die Beziehung zwischen Generation und Geschichte umzukehren. Zwar ist die biologische Folge der Generationen eine sachliche Basis von Geschichte, aber der moderne Begriff von Geschichte ist die wesentliche theoretische Voraussetzung dafür, dass die Generationenfolge als Geschichte im emphatischen Sinn interpretiert werden kann. Der Begriff der Generation im modernen Sinn hätte gar keine historische Bedeutung ohne die Einbettung in Geschichtsphilosophie und Historismus. Hier stellt sich nun die entscheidende Frage, welche Konsequenzen ein derartiges Nachdenken über den Generationenwechsel für die einzelnen Menschen hat. Wie wir sahen, kann die Einsicht in die Begrenztheit durch den Tod zur vernünftigen Lebensführung eines Individuums beitragen und gegenüber der Gesellschaft den ungerechtfertigten Anspruch auf eine künstliche Verlängerung des Lebens abwehren. Doch was folgt aus einem Geschichtsbewusstsein, durch das sich Individuen nicht nur über ihre begrenzte Lebenszeit, sondern auch über ihre transitorische Bedeutung innerhalb der Kette der Generationen im Klaren werden? Im dritten Schritt frage ich also nach den Auswirkungen der geschichtsphilosophischen Reflexion auf die praktische Orientierung.

Historische Verantwortung In der Ethik der Zukunft wird das Bewusstsein eines Individuums von seiner Rolle in der Generationenfolge meistens anthropologisch begründet. Demnach gehört es zum Begriff einer Person, die eigene Existenz zu transzendieren. Erst mit dieser weltlichen 60 Im unmittelbaren Anschluss an seine Theorie der „Generationslagerung“ Mannheim 1964, 530 ff.;

vgl. Schäffer 2003, 59 ff.

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„Selbsttranszendierung“ ist der volle Sinn des guten Lebens erreicht.61 Da physisches Fortleben nicht nur unmöglich, sondern in letzter Konsequenz auch nicht wünschenswert ist, bleibt nur die Möglichkeit, in dem an zukünftige Generationen Vererbten und somit in der Erinnerung Zukünftiger symbolisch weiterzuleben. So kann man dem eigenen begrenzten Leben über das natürliche Ende hinaus dadurch einen Sinn verleihen, dass man für zukünftige Generationen etwas hinterlässt. Mit dieser Annahme wird unterstellt, dass Menschen generell ein Interesse daran haben, nach ihrem Tod einen guten Ruf zu genießen. Sie erwarten, dass zukünftige Generationen das eigene Werk fortsetzen mögen, und bemessen die Qualität ihres Lebens am imaginierten Erfolg ihrer Bemühungen, auch von ihren Nachfahren gerecht beurteilt zu werden. An dieser Stelle bietet es sich an, den Diskurs über „historische Gerechtigkeit“ von Meyer auf das Feld der Intergenerationalität zu übertragen.62 Die Toten der Vergangenheit haben zwar keine Rechte mehr, wohl aber sind „überlebende Pflichten“ anzunehmen, indem die heute Lebenden den Toten ein faires Gedenken bewahren. Das Interesse an posthumer Anerkennung soll in der Gegenwart stellvertretend wahrgenommen werden. Dies ist jedoch nur deshalb plausibel, weil die gegenwärtig Lebenden selbst ein solches Interesse haben. Daraus ergibt sich eine zeitlich versetzte Analogie. Die Menschen erwarten, dass ihnen in Zukunft ein ebenso faires Andenken gewährt wird, wie sie es gegenwärtig den Toten gegenüber bereits praktizieren. Stellt man nun diese durchaus zutreffende Argumentation in einen geschichtsphilosophischen Kontext, gelangt man noch zu einer anderen Begründung des Rechts auf ein angemessenes Gedenken. Dann ist nämlich festzuhalten, dass der Mensch nicht nur ein individuelles, sondern wesentlich auch ein soziales und geschichtliches Wesen ist. Das Interesse an der so genannten Transzendierung der eigenen Person verdankt sich daher einem historischen Bewusstsein, das die Menschen in die Lage versetzt, sich selbst in der Generationenfolge zu verorten und sich dementsprechend zu verhalten. Die menschliche Existenz wird nicht „transzendiert“, sondern konzeptuell in einen übergreifenden historischen Zusammenhang gestellt, indem sie sich faktisch immer schon befindet. Aus diesem Grund halte ich es für konsequent, das individualistische Argument der „Selbsttranszendierung“ durch eine geschichtsphilosophische Reflexion zu ergänzen. Auch das Merkmal des Generationenwechsels enthält kritische Potenziale, um das historische und ethische Bewusstsein von Menschen zu prägen. Wenn die Folge der Generationen, die existenziell in Geburt und Tod der Individuen und soziologisch im „Abgang“ und im „Neueinsetzen“ von Kulturträgern besteht, als konstitutiv für Geschichte verstanden wird, damit im Laufe der Zeit überhaupt etwas Neues entstehen kann, dann bedeutet diese Reflexion für die Individuen, dass sie die Chance einer möglichen Veränderung nicht nur dulden, sondern aktiv fördern und mitgestalten. Zwar liegt es 61 Theunissen 1991, 213; Mehl 2001, 201 f.; Weigel 2006, 59; Birnbacher 2008, 32; Schlette 2010,

122 ff.

62 Meyer 2008, 75 ff.; siehe auch die Abschnitte „Folgen aus der Vergangenheit“ im fünften Kapitel

und „Gabe und Anerkennung“ im neunten Kapitel.

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in der Natur der Sache, dass sie den Wandel nur in Grenzen selbst betreiben, aber sie können dazu beitragen, die Bedingung der Möglichkeit eines ökonomischen, ökologischen und kulturellen Wandels zu beeinflussen. Im Gegenzug ist es sinnvoll, die Menschen zukünftiger Generationen nicht nur als „Betroffene“ anzusehen, sondern auch als Handelnde mit je eigenen Präferenzen und Wahlmöglichkeiten. Dazu gehört die Antizipation, dass die später lebenden Menschen das ihnen hinterlassene Erbe nach eigenen Wertmaßstäben annehmen, ablehnen oder verändern.63 Diese vorlaufende Anerkennung zukünftiger Menschen als handelnde Subjekte in der Geschichte schließt auch deren Eigenständigkeit als über die bisherige Geschichte Urteilende ein. War zunächst davon die Rede, dass Personen ein legitimes Interesse an posthumer Würdigung haben, so ist nun im historischen Kontext zu ergänzen, dass sie sich das Gedenken der Zukünftigen an die Gegenwärtigen prinzipiell offen vorzustellen haben. Eine solche Grundhaltung hat wiederum Folgen für das moralische Handeln; es verzichtet darauf, ein bestimmtes Gedenken zu suggerieren. Dieses Verständnis könnte die Gestalt kollektiver Testamente modifizieren. Wenn keine allzu rigiden Erwartungen daran geknüpft werden, wie sich die zukünftige Erinnerung an die heutige Gegenwart gestaltet, fällt es leichter, keine festgelegten Optionen zu vererben, sondern sich auf die Bereitstellung eines möglichst großen Handlungsspielraums zu beschränken. Nicht zuletzt profitiert von dieser Haltung die Zuschreibung von Verantwortung für zukünftige Generationen. Etymologisch bedeutet Verantwortung eine „Antwort“ an jemanden, gegenüber dem man für seine Handlungen Rechenschaft ablegen muss.64 Wer so zur Verantwortung gezogen wird, erwartet zunächst Anschuldigungen für Verfehlungen und Vernachlässigungen, die Forderungen nach Schadenersatz oder Wiedergutmachung nach sich ziehen. Verantwortung muss sich indessen nicht nur auf Haftung für Schäden beschränken, sondern kann sich auch in einer positiven Würdigung fortsetzen, die sich in Dankbarkeit ausdrückt. Für Simmel ist Dankbarkeit „gleichsam das moralische Gedächtnis der Menschheit“.65 Sie kann jedoch auch als Bringschuld verstanden werden. Wie die gegenwärtig Lebenden den Verstorbenen Dank schulden, so schulden die Menschen der Zukunft den Gegenwärtigen diesen, sofern sie ihn verdient haben. Nach den bisherigen Ausführungen versteht es sich von selbst, dass damit keine ökonomische oder juristische, sondern allein eine symbolisch einzulösende Schuld gemeint sein kann.66 In jedem Fall scheint der Begriff der Verantwortung eine bereits abgeschlossene Handlung vorauszusetzen, für deren Folgen eine Person rückwirkend verantwortlich gemacht wird. Doch für die Zukunft ist eine solche Antwort nur als antizipierte Reaktion auf eine gegenwärtige und zukünftige Handlung denkbar. Wenn also im Fall der langfristigen 63 Siehe den Abschnitt „Erbe und Testament“ im neunten Kapitel. 64 Waldenfels 2010, 72; Nida-Rümelin 2011, 12. 65 Simmel 1958, 438 ff. – Diese Art Anerkennung entspricht dem dritten Typus „Solidarität“ in der

Theorie der Anerkennung, ohne dass darin das Thema Zukunftsverantwortung angesprochen wird; Honneth 1992, 148, 150, 183. 66 Von einer „Erwiderungsschuld“ und „Dankbarkeitsschuld“ spricht Hénaff 2009, 312, 319.

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Generation und Erbschaft

Verantwortung diese Handlung beziehungsweise deren Wirkung erst in ferner Zukunft erwartet werden, ergibt sich die temporale Struktur einer zukünftigen Vergangenheit in der grammatikalischen Form des zweiten Futurs. Demnach ist eine Person fernverantwortlich, weil sie sich in der Zukunft rückblickend zu verantworten haben wird für Leistungen und Fehler, welche in der Gegenwart entstanden sind.67 Die prospektive Verantwortung wird also aus der retrospektiven Verantwortung abgeleitet, die eine Antizipation des zukünftigen Standpunkts voraussetzt, zu dessen Zeit Verantwortung übernommen wird. Für diese Zeitstruktur lassen sich handlungstheoretische, ethische und historiographische Gründe anführen. Bereits eine individuelle Handlung enthält die Struktur der rückblickenden Betrachtung in der Zukunft. Die zukünftige Retrospektion gilt für jede Antizipation von Zweck und Ziel. Eine Person stellt sich das Ergebnis einer Handlung vor und überlegt, welche Schritte erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen; anders formuliert, die Person stellt sich vor, was sie zu tun hat, damit die erwünschte Wirkung eintritt. Auf diese Weise konstruiert sie die Handlung als Mittel vom Standpunkt des späteren Zwecks. Während der Zweck das Zukünftige darstellt, ist das Mittel die in der Zeit dazwischen erfolgte Handlung, die immer vom Ende her betrachtet wird. Die Theorie der Zweckrationalität operiert mit dieser Zeitstruktur, indem sie den Zweck in der Zukunft und die instrumentelle Tätigkeit als rückwärtige Zukunft deutet. Derartige temporale Verhältnisse resultieren nicht zuletzt aus dem Unterschied zwischen den Begriffen Pflicht und Verantwortung.68 Schon die PXicht hat eine zeitliche Dimension, wie Kants kategorischer Imperativ demonstriert: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 69 Das „jederzeit“ ist zwar nicht zeitlos, bleibt aber formal unbestimmt. Ich interpretiere diesen Indikator in der Weise, dass sich die Verpflichtungen nicht auf die Vergangenheit beziehen, in der nicht mehr gehandelt werden kann, sondern auf die gesamte universelle Zukunft, in der zu handeln ist. Der kategorische Imperativ ist unmittelbar prospektiv, weil er einen in die Zukunft gerichteten Willen ausdrückt. Anders verhält es sich beim Begriff der Verantwortung. Zwar teilt er mit dem Pflichtbegriff die Prospektive, aber die Rechenschaftsverantwortung setzt bereits Getätigtes voraus, für die sich der Handelnde nachträglich verantworten muss. Wie erwähnt, unterscheidet Birnbacher zwischen der Verantwortung für Vergangenes (ex-post-Verantwortung) und einer Verantwortung für Zukünftiges (ex-ante-Verantwortung). Setzt man dabei den Zeitpunkt früh an, besteht eine „gewisse Chance, eine Rückmeldung über Erfolg und Misserfolg der Vorsorge zu erhalten und das eigene Vorsorgeverhalten daran zu orientieren“.70 Aber die Pointe dieser Unterscheidung besteht darin, dass auch 67 Birnbacher 2008, 23; vgl. Heilbroner 1980, 191; Hubig 2000, 297. 68 Zum Unterschied zwischen den Begriffen „Pflicht“ und „Verantwortung“ siehe Heidbrink 2006,

239 ff.

69 Kant 1968, Bd. 7, 61 (Hervorhebung von mir). 70 Birnbacher 2008, 12, vgl. 23, 26; vgl. Sturma 2006, 235.

Geschichte und Generation

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die ex-ante-Verantwortung eine (imaginierte) Verantwortung ex post darstellt. Im Begriff der Verantwortung für zukünftige Generationen ist also die Zeitstruktur der zukünftigen Vergangenheit enthalten. Die Erwartung an eine zukünftige Erinnerung lässt sich schließlich als Historiographie zukünftiger Historiker vorstellen. Auch sie beurteilen Handlungen ex post, und zwar nicht nur die Absichten der Akteure, sondern vor allem die darauf folgenden Ergebnisse. Sie nehmen dabei den Standpunkt des Außenstehenden ein, der Verantwortlichkeiten nachträglich überprüft. Da sich die gegenwärtig Lebenden vor den in der Zukunft über die Geschichte Urteilenden zu verantworten haben, antizipieren sie heute die spätere Geschichtsschreibung. So fragt Jürgen Mittelstraß: „Wie wird die Geschichte der Leonardo-Welt in dreihundert und vierhundert Jahren oder gar im Jahre 3000 aussehen? Wird ein zukünftiger Geschichtsschreiber […] noch viel Kultur in unserer Kultur erkennen? Wir sollten ihm die Arbeit nicht erschweren“.71 Dieses Bewusstsein ist auch bei Politikern präsent, wenn sie sich im Spiegel zukünftiger Geschichtsschreibung betrachten. Auch sie bezeugen ein lebendiges Interesse daran, die richtigen Spuren für die Nachwelt zu hinterlassen. In der Geschichtsphilosophie spielt diese Art Retrospektion schon immer eine prominente Rolle wie in der von Friedrich Schiller entlehnten Aussage: „Die Geschichte ist das Weltgericht.“72 Am Ende folgt die abschließende Bewertung und kollektive Verantwortung. Darin bestehen das Urbild von Geschichte und der tiefere Sinn der Teleologie. Dieser Perspektivwechsel, durch den man sich nicht nur in die Lage zukünftiger Generationen versetzt, sondern sich sogar pro- und zugleich retrospektiv vorzustellen versucht, wie Menschen in naher, fernerer und ferner Zukunft die in der heutigen Gegenwart vollzogenen Handlungen beurteilen und damit die entsprechenden Akteure dafür verantwortlich machen, hat für das ethische Konzept der Langzeitverantwortung weitreichende Konsequenzen. Die Verantwortung für zukünftige Generationen hat nicht nur die zeitliche Struktur des zweiten Futurs, sie setzt vielmehr die antizipierte Reaktion der Zukünftigen auf das gegenwärtige Verhalten und damit die imaginierte Interaktion zwischen den Generationen voraus. Auch die erwartete Dankbarkeit verortet die daran interessierte Person von vornherein in den genuin geschichtlichen Zusammenhang der Generationenfolge. Historisch ist dieser Kontext, weil damit zu rechnen ist, dass die zu beschreibenden und bewertenden Ereignisse und Prozesse auf hermeneutische Weise gedeutet werden. Darüber hinaus kann diese Verantwortung nur wahrgenommen werden, wenn zugleich eine intergenerationelle Kooperation hypothetisch antizipiert und praktisch aufgebaut wird, die man als Geschichte bezeichnen kann. Dieser Aspekt einer wechselseitigen Beziehung zwischen den Generationen wird nun mit der Konzeption der Erbschaft weiter verfolgt.

71 Mittelstraß 1993, 32. 72 Hegel übernimmt diese Formulierung aus Schillers Resignation; Hegel, 1969, Bd. 12, 165. −

Rohbeck 2005, 482.

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Generation und Erbschaft

9. Intergenerationelles Erbe Der Generationenbegriff ist eng mit dem Begriff des Erbes verwoben. Beide Begriffe sind, wie soeben dargestellt, nicht nur historisch zur selben Zeit entstanden; in der diachronischen Bedeutung als „Kette“ aufeinander folgender Menschen hängen sie auch inhaltlich miteinander zusammen. Einerseits setzt das Erbe die Folge der Generationen voraus; ohne den Generationenbegriff ist kein Konzept eines kollektiven Erbes denkbar. Andererseits vermag der Begriff des Erbes den Generationenbegriff zu konkretisieren; er beschreibt die sachliche Verbindung zwischen den Generationen. Sobald man nämlich nach der Art der „Verkettung“ zwischen den Generationen fragt, stellt sich die Generationenfolge über die biologische Linie hinaus als eine Tradierung von Kultur dar. So kann man auch bestimmte „Generationslagerungen“ im Guten wie im Schlechten als Erbschaft betrachten. Auf diese Weise kann der Begriff des Erbes dazu beitragen, den bisher konzipierten Generationenbegriff weiter zu entwickeln. Generationen lassen sich definieren als durch Erbschaft vermittelte Folge von Bevölkerungsgruppen, die jeweils eine bestimmte gemeinsame Lage teilen und eine kollektive Identität herausbilden können. In Bezug auf die Ethik dient die Verknüpfung von „Generation“ und „Erbe“ dazu, das Konzept der Verantwortung zu präzisieren. Wie in den letzten beiden Kapiteln demonstriert werden konnte, ist darin in nuce ein interaktives Verhältnis angelegt. Wenn Verantwortung für zukünftige Generationen beinhaltet, dass sich die heute lebenden Menschen vorstellen, wie die Zukünftigen möglicherweise die Auswirkungen ihres Handelns beurteilen, ist eine phasenverschobene Wechselbeziehung zwischen zeitlich entfernten Generationen anvisiert. Damit entsteht das Problem, wie diese Art Reziprozität, die in der Ethik der Zukunft höchst umstritten ist, gedacht werden kann. Das Modell des Erbes eignet sich zu ihrer Klärung, weil im Prozess des Vererbens und Erbens ein reziprokes Verhältnis zwischen Erblasser und Erben enthalten ist. In der Ethik der Zukunft haben sich die Modelle Fürsorge, Yktiver Dialog und Generationenvertrag eingebürgert. Als Ergänzung schlage ich das Modell des intergenerationellen Erbes oder der Erbschaft vor, das, wie im achten Kapitel ausgeführt, aus der Geschichtsphilosophie stammt. Es überwindet die engen Grenzen familiärer Fürsorge und ist zugleich, wie ich zu zeigen versuche, konkreter und ‚realistischer‘ als die Konstruktionen eines fiktiven Dialoges und Vertrages. Daneben werde ich noch zwei andere Modelle heranziehen, um das Erbschafts-Modell zu vervollständigen: das Modell des kulturellen Kapitals und das der Gabe. Der Gabe-Diskurs ist deshalb wichtig, weil sich das sozialkritische Prinzip der Generosität auf die Beziehung zu zukünftigen Generationen anwenden lässt. Kritische Impulse enthält auch die Theorie des kulturellen Kapitals, da sie das Unbewusste der Weitergabe und die darin enthaltenen Machtstrukturen thematisiert. Während den Modellen Erbe und kulturelles Kapital von Anfang an die diachrone Tradierung von Kulturen eingeschrieben ist, verdeutlicht das Modell der Gabe ursprünglich eine synchrone Beziehung, die im Hinblick auf die Zukunft so zu modifizieren ist, dass sich nur bestimmte Momente auf den Problemhorizont einer Weitergabe an zukünf-

Intergenerationelles Erbe

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tige Generationen übertragen lassen. Grundlegend bleibt daher das Modell des kollektiven Erbes, in das die beiden anderen Modelle integriert werden.

Dialog, Vertrag, Fürsorge Bevor die von mir favorisierten Modelle ausführlich zur Sprache kommen, werden die in der Zukunftsethik bisher bekannten Modelle einer kritischen Prüfung unterzogen. Während das Modell der Fürsorge durchaus als konkret und lebensnah bezeichnet werden kann, handelt es sich beim Dialog und Vertrag um abstrakte Konstruktionen, die das Verhältnis der gegenwärtigen zu den zukünftig lebenden Menschen kalkulierbar machen sollen. Die diskurstheoretische Variante konstruiert einen Dialog zwischen den gegenwärtig lebenden und zukünftig zu erwartenden Menschen. So wird die Verbindung zur zukünftigen Menschheit durch „Antizipation einer unbefristeten Diskursgemeinschaft“ hergestellt.73 Ziel ist es, das Prinzip der Nachhaltigkeit mit der Diskursethik zu verbinden, wobei unparteiische und auch potentielle Gesprächsteilnehmer vorausgesetzt werden.74 Unterstellt wird ein fiktiver intergenerationeller Diskurs zwischen den heutigen und zukünftigen Menschen. Etwas realistischer wird diese Konstruktion, wenn gefordert wird, dass die in der Gegenwart lebenden Menschen wie auch Institutionen die Zukunftsinteressen stellvertretend wahrnehmen sollen. Die größte Verbreitung hat das Modell des Generationenvertrags. Im Kapitel „Das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen“, das der Theorie der Gerechtigkeit erst später hinzugefügt wurde, erweitert John Rawls seine Vertragstheorie in der Weise, dass die am „Urzustand“ Beteiligten nicht nur über ihren sozialen Status im Unklaren sind.75 Denn dann würden sie immer noch ihre „Eintrittszeit“ kennen und wissen, dass sie „Zeitgenossen“ sind, was sie dazu verleiten könnte, die Rechte zukünftiger Generationen zu missachten. Daher ist mit Blick auf die intergenerationelle Gerechtigkeit zusätzlich vorauszusetzen, dass die Beteiligten nicht wissen, welcher Generation sie angehören, wohl aber wissen, dass sie „Vertreter von Nachkommenlinien“ sind und sich daher um alle Generationen zu kümmern haben.76 In diesem Fall sehen wir uns mit der „gleichzeitigen Versammlung aller nur denkbaren Generationen“ konfrontiert.77 Eine Alternative stellt der Kommunitarismus dar, dessen Vertreter sowohl den abstrakten Utilitarismus als auch den hypothetischen Kontraktualismus kritisieren. Dagegen bieten sie die konkreten Beziehungen zwischen den drei miteinander lebenden Generationen 73 Gethmann 1993, 12; Böhler, Gronke 2003, 313 ff.; Ott, Döring 2008, 92; Böhler 2009, 28 ff., 84 ff. 74 Ekardt 2005, 61 ff., 93; vgl. Heubach 2008, 177 f. 75 Rawls 1979, 319 ff.; vgl. Laslett 1992, 24 ff.; Höffe 1993, 183; Veith 2006, 127 f.; Heubach 2008,

136 ff.; Ott, Döring 2008, 96 ff.

76 Rawls 1979, 323; zur Kritik an der Vertragskonstruktion von Martha Nussbaum und Jürgen Haber-

mas siehe Hahn 2009, 65 ff., 231.

77 Caspar 2001, 96.

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Generation und Erbschaft

auf, die bereits Elemente einer Zukunftsverantwortung enthalten. Eltern haben ein elementares Interesse an ihren Kindern, für die sie sorgen müssen. Das Prinzip einer solchen Ethik ist die familiäre Fürsorge.78 Das Modell der Fürsorge ist zunächst anthropologisch begründet, weil es den Radius kognitiv erfahrbarer und motivierender Verantwortung begrenzt. Es ist ferner sozialphilosophisch gerechtfertigt, weil es den Horizont der konkreten Lebenswelt in Familie und Gemeinschaft beschreibt. Schließlich ist dieses Modell ontologisch fundiert, weil es sich um Menschen handelt, die gegenwärtig existieren und denen daher reale Interessen, Rechte und Pflichten zugeschrieben werden können. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und wie die lebensweltlich legitimierte Verantwortung für die „nahen“ Generationen auf die „fernen“ Generationen ausgeweitet werden kann. Dieses Modell ist indessen so modifiziert worden, dass sich die unmittelbare Vorsorge der Eltern für ihre Kinder auf diese überträgt, die dann ihrerseits für ihre Kinder so sorgen, wie die Eltern für sie vorgesorgt haben.79 Hinter einer solchen „Kette“ steckt folgendes Kalkül: Wenn die gegenwärtige Generation für die eigenen Kinder vorsorgt, geht es den Urenkeln möglicherweise besser als mit moralischen Appellen zur Verantwortung für fern stehende Generationen. Aber mit dieser Argumentation wird die Zukunftsethik wieder auf das ursprüngliche Modell der Elternsorge reduziert, als ob die Notwendigkeit der Erweiterung dieses Modells gar nicht bestünde. Der unbestrittene Vorteil einer Konzentration der Verantwortung auf die nahen Verwandten besteht zwar im praktisch erfahrenen, empfundenen und motivierenden Lebenszusammenhang. Aber es macht sich die Grenze der drei gleichzeitig lebenden Generationen bemerkbar, die auf der schmalen moralischen Basis der Elternsorge nicht überschritten werden darf. Außerdem verstellt das Modell der Fürsorge das Problem der Gerechtigkeit. Schließlich klingt es „paternalistisch“, da es dem Prinzip der Wahlfreiheit widerspricht, das im fünften Kapitel im Kontext einer bedingten Offenheit der Geschichte diskutiert wurde. Um den Aspekt der existenziellen „Sorge“ zu bewahren und die Gefahr der Dominanz zu vermeiden, ist an die Stelle der „Fürsorge“ die offener konzipierte „Vorsorge“ getreten. Doch unabhängig davon stellt sich erneut die Frage, wie die lebensweltliche Praxis über die nahen Zukünftigen hinaus auf die fernen Zukünftigen übertragen werden kann. Im Rahmen des Konstruktivismus wird vorgeschlagen, die Verantwortung für die nahen ZukünftigenwenigstenszumAusgangspunktfürdieBegründungderLangzeitverantwortung zu wählen, um die Nahverantwortung in die ferne Zukunft ausdehnen zu können. Zwar ist es ethisch nicht gerechtfertigt, zukünftige Güter und Interessen zu „diskontieren“, aber daraus folgt nicht, dass es zwischen Nah- und Fernverantwortung überhaupt kei78 Bei Jonas in Anlehnung an den Begriff der „Sorge“ bei Heidegger: 1979, 84, 197 f.; vgl. Laslett

1992, 24 ff.; Höffe 1993, 182; Marbach 1997, 85 ff.; Unnerstall 1999, 66; Caspar 2001, 92 f.; 57 f.; Leist 2005, 459 f.; Müller 2008, 151; Birnbacher 2008, 33; Böhler 2009, 29. – Das Modell der Fürsorge steht dem ersten Typus „Liebe“ in der Theorie der Anerkennung nahe; Honneth 1992, 148, 150, 182. 79 Im Anschluss an Passmore so Birnbacher 2008, 32 f.; vgl. Höffe 1993, 183.

Intergenerationelles Erbe

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nen Unterschied gibt. Es ist ja nicht gleichgültig, ob Eltern für ihre eigenen Kinder sorgen oder ob sie sich für das Wohl einer beliebig späten Generation einsetzen sollen. Um diesen lebensweltlichen Unterschied abzubilden, ohne in die Falle der Diskontierung zu laufen, wird der Begriff der Graduierung aufgeboten, der den Universalismus vermeidet und zugleich an der Langzeitverantwortung festhält.80 Unter dieser Voraussetzung versucht man, die Fernverantwortung zu konstruieren, indem man aus der Erfahrung mit der nahen Zukunft eine moralische Verhaltensweise mit Blick auf die ferne Zukunft ableitet. Dadurch soll eine konkrete Beziehung zwischen den nahen und entfernt gedachten Generationen denkbar werden. Das konstruktivistische Verfahren enthält jedoch eine Schwierigkeit, die darin besteht, dass ein Modell der Fürsorge zugrunde gelegt wird, dessen Schranken es ja gerade zu überwinden gilt. Versteht man die auf drei Generationen begrenzte Elternsorge als Familiengeschichte oder Genealogie, kommt es darauf an, diese ‚kurze‘ in eine ‚lange‘ Geschichte zu verlängern. Dazu ist es erforderlich, noch andere Modelle zu finden, die es erlauben, Kontinuitäten zwischen den nahen und mittleren Zeiten der Verantwortung herzustellen. Gesucht wird nach Modellen, die zwar nicht so lebensnah sein können und dürfen wie das Sorgemodell, aber doch konkreter sind als die Denkmuster der unbefristeten Diskursgemeinschaft oder des generationenübergreifenden Vertrags. Zur Überwindung dieses Dilemmas schlage ich das Modell der Erbschaft in der Generationenfolge vor, das ich mit den erwähnten Modellen kulturelles Kapital und Gabe ergänzen werde.

Erbe und Testament Das Wohlergehen zukünftiger Generationen hängt in großem Umfang davon ab, welche materiellen Vermögen die Eltern an die Kinder vererben, ob sie das mögliche Erbe ‚verprassen‘ oder an ihre Nachfahren weitergeben.81 Im Verhältnis der Generationen spielt daher die juristisch geregelte Erbschaft zwischen aufeinander folgenden Individuen eine elementare Rolle. Doch im Mittelpunkt der Ethik der Zukunft steht das kollektive Erbe.82 Es bezieht sich auf die Erbschaft zwischen den Generationen, die als historische Folge von Bevölkerungsgruppen zu verstehen sind. Wie sich im Kontext der „nachholenden Entwicklung“ zeigte, gehören dazu regionale oder ethnische Gruppen, Völker oder Nationalstaaten bis hin zur Weltgesellschaft, so dass man zwischen einem nationalen und globalen Erbe unterscheiden kann. Entsprechend lässt sich das intergenerationelle Erbe inhaltlich weiter spezifizieren. Denn das „inter“ bedeutet hier nicht nur die zeitliche Folge (wie bei der intergenerationellen Gerechtigkeit), sondern ausdrücklich auch die hypothetische Interaktion zwischen den diachron gelagerten Generationen. 80 Gethmann 1993, 11, 15; Gethmann, Kamp 2001, 145, 149; vgl. Sturma 2006, 235; kritisch dazu

Hubig 2000, 300.

81 Opaschowski 2004, 146 ff.; Heubach 2008, 50 ff. 82 Im Brundtland-Bericht ist von der „Verwaltung des gemeinsamen Erbes“ die Rede, Hauff 1987,

259 ff.; vgl. Jonas 1979, 72 f.; Meyer 2005, 135 ff.

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Generation und Erbschaft

Zu einem solchen Erbe gehören zunächst ökonomische Reichtümer, materielle Güter wie öffentliche Gebäude und Einrichtungen, Verkehrs- und Kommunikationssysteme und die gesamte Infrastruktur – nicht zuletzt auch die Finanzen eines Staates. Außerdem gibt es das kulturelle Erbe in Form des überlieferten Wissens und Könnens sowie Bildung, Sprache, Kunst und Religion. Das soziale Erbe besteht in den gesellschaftlichen Institutionen sowie in den kulturellen Lebensformen, Normen und Werten. Seit der ökologischen Krise begreift man auch die natürliche Umwelt als ein Erbe, das an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Das ist insofern plausibel, als der überwiegende Teil der Erdoberfläche aus Kulturlandschaften oder durch die Zivilisation zerstörten Landstrichen besteht und die Erhaltung der wenigen verbliebenen Naturreservate eine kulturelle Leistung bedeutet. Seitdem gilt jenes Erbe als global, zu dem ausdrücklich das kulturelle (Weltkulturerbe) wie auch das natürliche Erbe gezählt werden.83 Diesen Gestalten des Erbes wird die Funktion zugeschrieben, das Wohlergehen der zukünftigen Generationen zu garantieren, eine Verschlechterung zu vermeiden oder gar eine Verbesserung zu ermöglichen. Auf einer elementaren Ebene soll das Erbe aus bestimmten Grundgütern bestehen wie Nahrung, Arbeit zum Lebensunterhalt, Gesundheitsfürsorge, Wohnmöglichkeit und ausreichende Wasser- und Energieversorgung; darüber hinaus soll es dazu dienen, die Wahlfreiheit der zukünftig lebenden Menschen zu ermöglichen. Allerdings gibt es auch negative Beispiele des intergenerationellen Erbes. Dazu gehören verwahrloste Städte, veraltete Verkehrssysteme, eine marode Infrastruktur und vor allem die enorme Verschuldung vieler Staaten. In solchen Fällen werden Übel vererbt, die ebenfalls einen kollektiven Charakter haben.84 Nicht zuletzt besteht die Erblast unserer Gegenwart in der belasteten Umwelt, der Knappheit der natürlichen Ressourcen und der Erderwärmung. Wenn der Klimawandel zum Teil als ein kulturelles Phänomen zu betrachten ist, handelt es sich ebenfalls um ein kulturelles Erbe. Wie schon Rousseau am Beispiel des Erdbebens von Lissabon anmahnte,85 sind Naturkatastrophen im Grunde oftmals kulturelle Ereignisse, die durch ein verkehrtes Erbe verursacht werden. Sind die daraus resultierenden Schäden auf frühere Versäumnisse oder Vergehen zurückzuführen, erben die folgenden Generationen aufgrund kollektiver Verantwortung auch die Pflicht, diese Schäden zu kompensieren. Trotz der Analogien zwischen individuellem und kollektivem Erbe wird ein wesentlicher Unterschied deutlich: In den genannten Fällen kann man das kollektive Erbe nicht ablehnen. Während Individuen ihr Erbe ausschlagen können, ist ein bestimmtes Erbe für Kollektive wie Nationen oder gar die ganze Erdbevölkerung zwingend. Ein derart bestimmtes intergenerationelles Erbe wirft daher völlig neue Probleme auf. 83 Siehe die „Vereinbarung über das kulturelle und natürliche Welterbe“ der Unesco vom Jahr 1972. –

Weikard 1999, 130 f.; Tremmel 2005, 91 ff.; Weigel 2006, 59 ff.; Heubach 2008, 61 ff. – François Hartog mokiert sich über einen inflationären Gebrauch des Begriffs „patrimoine“ in Frankreich und spricht gar von einer „patrimoinialisation“, reflektiert jedoch besonders das Problem „natürliche Umwelt als Erbe“, Hartog 2003, 163 ff. 84 Meyer 2005, 158 ff. – Siehe den Abschnitt „Folgen aus der Vergangenheit“ im fünften Kapitel. 85 Siehe den Abschnitt „‚Generation‘ in der Geschichtsphilosophie“ im achten Kapitel.

Intergenerationelles Erbe

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Natürlich steht es Generationen frei, mit bestimmten Traditionen zu brechen; dazu zählen vor allem soziale Institutionen wie politische Diktaturen, autoritäre Strukturen, Wirtschaftssysteme bis hin zur Ideologie des ungebremsten Wachstums. Ein derartiger Bruch mit dem Erbe, der mit dem Prinzip der bedingten Offenheit der Geschichte vereinbar ist, kann eine Neuorientierung bis hin zur Utopie bedeuten. Doch ebenso gilt: Staatsschulden müssen zunächst einmal übernommen werden, wie auch die natürlichen Lebensbedingungen nicht sofort austauschbar sind. Das gilt nicht zuletzt für bestimmte Kulturgüter wie etwa Sprache und Technik. Umso dringender stellt sich das Problem des praktischen Umgangs mit dem kollektiven Erbe. Das Modell der Erbschaft erlaubt es, die Art und Weise der Tradierung zu strukturieren. Hierbei spielt nicht nur das Verschulden und Anliegen des Erblassers, sondern darüber hinaus das antizipierte Verhalten des Erbenden eine Rolle. So bedeutet Erbe sowohl die Weitergabe durch den Erblasser im Sinne von Fortführung als auch die Vermehrung oder Veränderung durch den Erben. Indem das Erbe zwischen Erblasser und Erben eine eigene Realität bildet, ermöglicht es einen flexiblen Gebrauch. Dieses Modell erlaubt es daher, die ‚freie‘ Verfügbarkeit über das Geerbte denkbar und wünschenswert zu machen. Doch dabei zeigt sich eine Ambivalenz, die mit der erwähnten dreifachen Kontingenz und der Forderung nach einer ‚offenen‘ Geschichte zusammenhängt.86 Zum einen determiniert das Erbe nicht in jedem Fall seine zukünftige Verwendung, sondern stellt es dem Erben in gewissen Grenzen frei, wie er von ihm Gebrauch machen will. Denn das Erbe besteht aus Gütern, die als Gegenstände oder Systeme eine relative Eigenständigkeit besitzen. Es fungiert wie ein Mittel, das man auf verschiedene Arten und Weisen verwenden kann. Folglich hält es für den Benutzer sowohl Restriktionen als auch überschüssige Potenziale bereit, die eine kreative Weiterverwendung ermöglichen.87 Es eröffnet einen Horizont realer Möglichkeiten, die von den Nachfahren nach eigenem Ermessen ausgeschöpft werden können. Damit wird das Erbe zu einer ethischen Kategorie: Für die gegenwärtig Lebenden impliziert es das Gebot, ein ‚gutes‘ Erbe zu hinterlassen und Spielräume für einen „freie“ Aneignung offen zu lassen. Zum andern sind die vererbten Güter keine ‚neutralen‘ Gegenstände; sie verkörpern vielmehr bestimmte Gebrauchsweisen und damit auch Lebensgewohnheiten. In ihrer Dinghaftigkeit repräsentieren sie bestimmte Werthaltungen und Praxisformen. Atomkraftwerke transferieren eine andere Haltung zur Umwelt als alternative Formen der Energieversorgung. Eine „autogerechte Stadt“ verkörpert einen anderen Lebensstil als eine Stadt mit einem entwickelten System öffentlicher Verkehrsmittel. Mit einem solchen Erbe schaffen die Erblasser nicht nur die Bedingungen für zukünftige Lebenswelten, sondern beeinflussen auch die Präferenzen zukünftig lebender Personen. Es besteht wohl auch kein Zweifel darüber, dass materialisierte Lebensräume diese Einflüsse sehr viel wirksamer und langfristiger ausüben als eine davon abgehobene 86 Siehe die Abschnitte „Bedingte Offenheit der Zukunft“ im fünften Kapitel, „Reale Möglichkeit

und Kontingenz“ im sechsten Kapitel, „Zukünftige Subjekte“ im siebten Kapitel und „Historische Verantwortung“ im achten Kapitel. 87 Siehe Rohbeck 1993, 244 ff.; ders. 2000, 118 ff.

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Generation und Erbschaft

Erziehung. So ist es wenig sinnvoll, den Nachfahren eine „Autostadt“ zu hinterlassen und sie zugleich zur Entwicklung alternativer Verkehrssysteme zu motivieren. Geradezu zynisch wäre es, der nächsten Generation enorme Schulden zu hinterlassen und sie gleichzeitig zur Sparsamkeit ‚erziehen‘ zu wollen. Wenn man also Präferenzen zukünftiger Generationen gegen riskante Tendenzen absichern will, tut man dies am besten in Form gegenständlicher Systeme und sozialer Strukturen, die einen bestimmten Gebrauch einüben, mit ihm vertraut machen und auf diese Weise eine verantwortungsvolle Lebensweise habitualisieren. Das Erbe spricht sozusagen für sich selbst, meiner Meinung nach sehr viel motivierender als bloße moralische Appelle. An dieser Stelle ist noch das Testament nachzutragen, das ein Bestandteil von Erbschaften ist. Im Hinblick auf Individuen ist das Testament eine Vorschrift, wie mit einem persönlichen Erbe umgegangen werden soll; es regelt den privaten Prozess des Vererbens und ist für die Erbenden bindend. Doch wie man von einem kollektiven Erbe sprechen kann, so gibt es analog dazu kollektive Testamente wie zum Beispiel Verfassungen, Gesetze und Rechtsvorschriften. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Gebrauch ist das Testament ein geeignetes Instrument, auf die spätere Verteilung und Verwendung des Erbes Einfluss zu nehmen. Im Sinne des bisher Ausgeführten sind hier allerdings einige Differenzierungen erforderlich. Starre Vorschriften widersprechen den Prinzipien der Wahlfreiheit und Autonomie zukünftig lebender Menschen. Daraus folgt, dass diejenigen Testamente, die eine bestimmte Verwendung festschreiben, zugleich auch eine flexible Aneignung ermöglichen sollten. Dazu gehört ebenfalls, dass sie ausdrücklich formulieren, was nicht festgelegt werden soll und geändert werden darf. Bei einer öffentlichen Stiftung ist zum Beispiel darauf zu achten, dass die ursprünglichen Ziele in Zukunft den geänderten Rahmenbedingungen angepasst werden können. Wenn aber die Offenheit der Zukunft so einzuschränken ist, dass bestimmte Fehlentwicklungen ausgeschlossen werden, hat dies Konsequenzen für den Charakter kollektiver und öffentlicher Testamente. Das korrespondiert mit der Klage von Hannah Arendt: „Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.“88 Damit moniert Arendt die Lücke, die das angebliche Verschwinden des Konzepts der Tradition für das Handeln hinterlassen hat. Ohne das Testament gäbe es ihrer Auffassung nach keine Tradition, die auswählt und benennt, die übergibt und bewahrt; damit gäbe es überhaupt keine Vergangenheit und Zukunft, mithin keine Geschichte. Der Verlust von Tradition als ererbter Erfahrung führe dazu, dass sich keine qualitativen Maximen für die Gestaltung der Zukunft ableiten ließen. Überträgt man diese Kritik auf die oben genannten Fälle, wäre über das materielle und symbolische Erbe hinaus ein historisch wirksames Testament zu fordern. Will man, wie soeben erwähnt, mit Hilfe des Erbes bestimmte Deutungen desselben durch zukünftige Generationen bestärken, bietet sich ein öffentlich-politisches Testament an, das mehr oder weniger genau beschreibt, welche Gebrauchsweisen für die Zukunft aus heutiger Sicht als wünschenswert erscheinen. Wenn man bestimmte natürliche Ressourcen hinterlässt, wäre 88 Nach einem Zitat von René Char: Arendt 1994, 7.

Intergenerationelles Erbe

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demnach genau festzulegen, in welchen Zeiträumen und in welchem Umfang Öl, Gas, Metalle usw. verbraucht werden sollten. Bei Atomreaktoren werden solche Testamente bereits praktiziert, indem zukünftige Laufzeiten und Abschaltungen festgelegt werden. Auch was mit dem vererbten Endlager geschehen soll, muss in einer Art Testament fixiert werden. In diesen Fällen ist das Erbe keineswegs selbstredend, sondern bedarf einer zusätzlichen juristischen Regelung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Unterstützung des kollektiven Erbes durch ein verantwortliches Testament immer wichtiger geworden ist.

Kulturelles Kapital Das zweite Modell ist das „kulturelle Kapital“ im Anschluss an Pierre Bourdieu. Indem er die diachrone Weitergabe von Kultur als „Vererbung“ charakterisiert, verdeutlicht er, dass sein Kapitalbegriff mit dem Begriff des Erbes durchaus kompatibel ist.89 Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf die kulturelle Tradierung in der Generationenfolge beziehen. Um die „Transmission des kulturellen Kapitals“ zu analysieren, verwendet Bourdieu einen „übergreifenden Kapitalbegriff“, der ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital umfasst.90 Beispiele ökonomischen Kapitals sind Geld, Immobilien und Eigentumstitel, ebenso das Wissens- und Humankapital sowie sachliche Produktivvermögen. Das kulturelle Kapital besteht für Bourdieu in inkorporierter Form aus Wissen, Habitus und Bildungstitel sowie in materieller Gestalt aus Gegenständen, Institutionen und Statussymbolen. Als soziales Kapital bezeichnet er die akkumulierte Arbeit und Verfügungsmacht in materieller Form; er charakterisiert es als die Summe an Ressourcen, die auf der Mitgliedschaft in einem sozialen Beziehungsnetz beruhen.91 Symbolisches Kapital ist hingegen eine Form aller Kapitalarten, wenn diese durch die gesellschaftlichen Bewertungskategorien wahrgenommen werden. Heute müssen wir noch das ökologische Kapital oder Naturkapital hinzufügen.92 Es umfasst die Ressourcen, d.h. die von der Natur bereitgestellten und für menschliche Zwecke nutzbar gemachten Stoffe sowie Funktionen beziehungsweise „Dienstleistungen“ der Ökosysteme. Mit der Erweiterung des Kapitalbegriffs behauptet Bourdieu, dass die genannten Kapitale miteinander zusammenhängen. Zwar basieren in seiner Gesellschaftstheorie soziales und kulturelles Kapital auf dem ökonomischen Kapital, aber sie können auf Grund der Transformationskosten und vor allem der Eigenlogiken der Kapitalsorten nicht auf jenes reduziert werden. Ferner ist die Wirkung kulturellen und sozialen Kapitals nach 89 Bourdieu 1997, 115 ff., 136 f., 187 f. 90 Ebd., 183 ff.; ders. 1991, 11. 91 Bourdieu 1983, 183, 190 f.; vgl. Riemer 2005; Euler 2006; Koob 2007, 207 f.; siehe auch Putnam

2001, 19, 24.

92 Tremmel 2003, 37; vgl. Höffe 1993, 185 f. – In den aktuellen Diskursen zur Nachhaltigkeit geht

es um drei Arten des Kapitals: um das ökologische, ökonomische und soziale Kapital; Kopfmüller, Brandl, Jörissen 2001, 68 ff.; Westle, Gabriel 2008, 26; Ott, Döring 2008, 145; Hauff, Kleine 2009, 20.

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Generation und Erbschaft

Bourdieu umso größer, je mehr der zu Grunde liegende wirtschaftliche Aspekt nicht in das Bewusstsein der Akteure tritt. Insgesamt wird ein gesellschaftliches Gesamtkapital übertragen, das sich aus Ökonomie, Ökologie, Kultur und Sozialem zusammensetzt. Vererbt werden materielle und immaterielle Güter wie auch natürliche Ressourcen und Umweltbedingungen. Der innovative Gewinn des Begriffs „kulturelles Kapital“ besteht nun darin, dass Bourdieu zwar keiner ökonomistischen Reduktion erliegt, aber wesentliche Merkmale der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx übernimmt. Bourdieu integriert in seine Soziologie die Theorie gesellschaftlicher Klassen, die er im Anschluss an Foucault in eine Theorie sozialer Macht umformt. Er kritisiert, dass mit dem kulturellen Kapital auch Herrschaftsverhältnisse tradiert werden, weil der Erwerb von Bildung von der sozialen Herkunft abhänge.93 Entscheidend sei die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht, die durch einen internalisierten Habitus funktioniere und dadurch eine statusmäßige Vertrautheit verschaffe. Zugleich adaptiert Bourdieu die Marxsche Ideologiekritik, indem er von der Naturwüchsigkeit sozialer Prozesse spricht. Demnach vollziehe sich die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft scheinbar natürlich und damit unbewusst, so dass sie sich dem individuellen Willen und der Kontrolle der daran Beteiligten entziehe. Weil die soziale Vererbung im Verborgenen geschehe, seien weder die Übergabe noch die Annahme sichtbar. Die Kritik hat hier die Aufgabe, diese verschleierten Vorgänge bewusst zu machen. Wenn sich an dieser Stelle die Frage stellt, welche Merkmale dieses Modells auf das Problem der Verantwortung für zukünftige Generationen übertragbar sind, ist zunächst davor zu warnen, den Kapitalbegriff auf unkritische Weise zu verwenden, indem man ganz beliebig von ökonomischem, sozialem und natürlichem Kapital redet.94 Im unverfänglichen Fall fungiert dieser Begriff wie eine Metapher für diverse Arten von Gütern. Im schlimmeren Fall dient er zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche, was den Zielen einer jeden Zukunftsethik widersprechen würde. Meine Absicht besteht hingegen darin, die Sozialkritik von Bourdieu auf Zukunftsfragen anzuwenden. Zunächst ist dieserAnsatz aktuell, weil mit der Weitergabe der heute gegeben Natur und Kultur an zukünftige Generationen nicht nur ökonomische Ungleichheiten, sondern auch bestimmte Machtverhältnisse verbunden sind, die häufig unsichtbar bleiben. Dafür lassen sich aktuelle Beispiele anführen. Die Weitergabe von Finanzen, natürlichen Ressourcen und Umweltbedingungen ist Gegenstand ökonomischer und politischer Kämpfe oder gar „Klimakriege“.95 Wie wir sahen, enthalten entsprechende „Fristen“ Machtrelationen, wenn etwa zwischen Staaten die Termine für finanzielle Rettungsaktionen oder ökolo93 Bourdieu 1997, 116. 94 Diese Brisanz zeigt sich insbesondere in dem von Putnam weiter entwickelten Begriff des „sozialen

Kapitals“ und der daran anschließenden Debatte; siehe oben.

95 Welzer, 2008, 126 ff., 247 f. – Berechtigte Kritik richtet sich vor allem gegen das Konzept der

Nachhaltigkeit, das nicht nur als diffus und theoretisch schwach, sondern vor allem auch als machterhaltend und herrschaftsstabilisierend gilt; siehe den Abschnitt „Maßstäbe intergenerationeller Gerechtigkeit“ im vierten Kapitel.

Intergenerationelles Erbe

153

gische Ziele ausgehandelt werden. Mit der Kritik am Kapitalbegriff verbindet sich das Plädoyer für eine Beschränkung des Privateigentums, das auf diesen Feldern zu extremer Ungerechtigkeit führt. Dem entspricht die Position, dass die historisch zufälligen Naturgüter kein Privateigentum von Ländern sein dürfen, sondern auf der Erde gerecht verteilt werden sollten.96 Gefordert werden internationale Eigentumsregeln in Form einer Dividende für arme Länder, wodurch die unfaire Verteilung von Ressourcen ausgeglichen werden soll. Dahinter steht nicht selten eine Kritik am kapitalistischen Weltsystem. Außerdem schließe ich mich Bourdieus These an, dass die Tradierung von kulturellem Kapital oft genug auf unbewusste Weise geschieht. Dabei können Lebensgewohnheiten jedoch auch eine positive Wirkung entfalten. Diese Art der Vererbung ist gegeben, wenn sich etwa das neue Umweltbewusstsein in sozialen Systemen verkörpert. Ebenso ist es erforderlich, derartige Transformationsprozesse zu reflektieren, damit nicht solche Systeme, die längst als diskreditiert gelten, übernommen werden und damit der jeweilige regionale und schichtenspezifische Habitus immer wieder neu in Frage gestellt werden muss. Schließlich übernehme ich die Erweiterung des Kapitalbegriffs über die ökonomische Sphäre hinaus zum symbolischen Kapital. Diese Symbolik bezieht sich nicht allein auf die soziale Anerkennung der Rechte zukünftiger Menschen. Vielmehr kann die symbolische Funktion aller vererbten Kapitalarten auch darin bestehen, eine bestimmte Haltung zu vermitteln. Zum Beispiel symbolisiert heute ein vorbildliches Energiesystem ein ökologisches Bewusstsein, das man an die folgenden Generationen weitergeben möchte und das von diesen habituell angenommen werden soll. Auch in diesem Fall beschränkt sich die erwartete Akzeptanz nicht auf das ehrende Gedenken etwa in Form von Denkmälern, Namensgebungen oder Festtagen, was die gesamte Thematik sogar ins Lächerliche ziehen könnte. Wichtiger ist die faktische Übernahme des von einer Generation zur anderen weiter gegebenen Erbes, d.h. ein fortführender Umgang, in dem pragmatische und symbolische Aspekte miteinander verschmelzen. Der Kapitalbegriff suggeriert die durchaus legitime Vorstellung, dass man ein Anrecht auf zukünftige Anerkennung mit der Zeit und entsprechender Mühe akkumulieren könne. So trägt das Modell des kulturellen Kapitals dazu bei, sich hypothetisch eine solche Interaktion zwischen den gegenwärtig lebenden und den auch in Zukunft zu erwartenden Menschen vorzustellen.

Gabe und Anerkennung Das dritte Modell für eine inhaltliche Bestimmung der Relation zwischen den Generationen ist die Gabe. Jede Generation „gibt“ ihr Erbe an die nächste Generation weiter, so wie jede Generation ihr Erbe von der vorausgegangenen Generation empfängt. In dieser Weise kann die Generationenfolge nicht nur als ein Vererben, sondern auch als ein Weitergeben mit Geben und Nehmen charakterisiert werden. Die Gabe hat die Funktion der Vermittlung zwischen den Generationen. Meine Absicht besteht darin, das Modell der Gabe auf die 96 Pogge 2002, 197; Hahn 2009, 108 ff.

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Generation und Erbschaft

Beziehung zu künftigen Generationen zu übertragen. Allerdings wirft der Versuch einer solchen Transformation eine ganze Reihe neuer Probleme auf, deren Lösung ich jedoch dann für möglich und vielversprechend halte, wenn ich dieses Modell nicht in toto übernehme, sondern mich auf ausgewählte Aspekte konzentriere. Im Unterschied zum Erbe stellt die Gabe eine Art Tausch dar, der sich freilich zeitlich verzögert vollziehen kann, aber die Existenz gleichzeitig lebender Menschen voraussetzt. Daher steht es außer Zweifel, dass zwischen den gegenwärtig und zukünftig Lebenden gerade kein Tausch im strikten Sinne möglich ist. Denn die in der Gegenwart lebenden Generationen geben an die zukünftigen Generationen die aktuellen „Lagen“ von Natur und Kultur weiter, können jedoch aus prinzipiellen Gründen mit keiner gleichartigen Gegengabe rechnen.97 Wie die heute lebenden Menschen nichts Materielles mehr für die Toten tun können, so vermögen die zukünftig lebenden Menschen uns Heutigen keine materiellen Vorteile oder Nachteile zu verschaffen. Gleichwohl stelle ich die Frage, ob das Modell der Gabe nicht Potenziale enthält, die eine Übertragung auf intergenerationelle Beziehungen produktiv macht. Da Gabe und Gegengabe nicht ausschließlich in materiellen Gütern bestehen, sondern vor allem symbolische Anerkennung bedeuten, ist es denkbar, dass sich die Erwiderung der gegenwärtigen materiellen Gaben durch die Zukünftigen im Symbolischen vollzieht, etwa durch posthumes Gedenken oder spätere Dankbarkeit. Im Fortgang unserer Analyse der in die Zukunft projizierten retrospektiven Verantwortung ist also zu prüfen, ob das Verhältnis des Gebens, Nehmens und Erwiderns im Hinblick auf die Zukünftigen ansatzweise oder teilweise als eine reziproke Beziehung antizipiert werden kann. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob eine solche Idee, die dem erwähnten Interesse nach posthumer Würdigung im historischen Kontext entgegenkommt, nicht auch auf den heute Gebenden zurückwirkt. Sie könnte ihn dazu motivieren, mehr zu geben, als die Tauschrationalität vorschreibt, und damit gegenüber den zukünftigen Generationen eine für das Gabemodell typische Großzügigkeit walten zu lassen, die jedes ökonomische Kalkül relativiert. Um diese Problematik zu entfalten, werde ich kurz den Forschungsstand der einschlägigen Literatur referieren und dann den Übertragungsversuch wagen. Initiiert wurde die Theorie der Gabe von dem französischen Ethnologen und Soziologen Marcel Mauss, der elementare und vorökonomische Tauschverhältnisse bei so genannten primitiven Völkern untersuchte und damit zugleich den Boden moderner Gesellschaften freizulegen versuchte.98 Inzwischen wurde der Gabebegriff in der Ethnologie, Soziologie, Philosophie und Theologie so weit ausgearbeitet, dass man von einer Sozialphilosophie der Gabe sprechen kann.99 Ausgangspunkt dieser Diskurse ist eine eigentümliche Ambivalenz, auf die Mauss bereits hingewiesen hat. 97 Nach Birnbacher bleiben Akteure und Betroffene disjunkt; Birnbacher 2003, 82; ders. 2008,

14.

98 Mauss 1968, 17 ff.; vgl. die ganaue Analyse dieses Textes von Hénaff 2009, 166 ff.; siehe auch

Därmann 2010, 12 ff.

99 Sichtbar in der rückblickenden und zusammenfassenden Einführung von Därmann 2010, 9; ebenso

Kaufmann 2011a, 21 ff.

Intergenerationelles Erbe

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Auf der einen Seite sind gegebene Geschenke freiwillig, spontan und selbstlos.100 Die Gabe wird zunächst als ein demonstrativ großzügiges Präsent mit einem gewissen Überschuss dargeboten. Sie erfolgt mit dem Risiko, dass eine Gegengabe ausbleibt und die Schenkung „umsonst“ verausgabt wird.101 Das Kalkül des Gebenden besteht gerade darin, nicht zu kalkulieren. Da die Gabe ohne das Junktim einer Erwiderung geleistet wird, bleibt die angestrebte Kooperation unbedingt im Sinne einer offenen Möglichkeit. Die Gabe repräsentiert daher das Bedingungslose oder Unbedingte. Auf der anderen Seite enthält die Gabe eine soziale Verpflichtung.102 Geschenke erwecken nur den Eindruck freiwillig zu sein, in Wirklichkeit sind sie obligatorisch und eigennützig. In Gesellschaften besteht ein geheimer Zwang, Geschenke anzunehmen und zu erwidern. In dieser Hinsicht ist die Gabe eine Erscheinungsform des Austauschs und des Vertrags, weil letztlich nur unter der Bedingung der Gegenleistung gegeben wird. Somit steht die Gabe zugleich für das Bedingte. Es ist versucht worden, diese Zwiespältigkeit theoretisch zu formulieren. Mauss hält die Gabe für einen mehrdeutigen Prozess und spricht von deren „agonistischem“ Charakter.103 Marcel Hénaff verweist auf die „radikale Asymmetrie“ zwischen Gabe und Gegengabe.104 Alain Caillé führt den Neologismus „Freundschaftlichkeit“ ein, mit dem er eine Vermittlung zwischen Selbstlosigkeit und Egoismus intendiert.105 Um die Synthese von Bedingtheit und Unbedingtheit auszudrücken, prägt er die Formel „bedingte Unbedingtheit“. Die Gabe sei weder als Tausch rein ökonomisch noch als bloß moralische Handlung zu definieren; sie sei weder rein egoistisch noch altruistisch; sie verbinde Eigennutz und Kooperation. Angesichts dieser Doppeldeutigkeit liegt die Kritik gleichsam auf der Hand. So wendet Bourdieu ein, im Gabentausch werde der reale Zusammenhang von Gabe und Gegengabe so verschleiert, dass die Schenkökonomie die Tauschmotive und damit die Existenz einer materiellen Verbindung verleugne. Die angebliche Großzügigkeit der Gabe sei in Wahrheit eine bloße Fiktion und soziale Lüge.106 Auf ähnliche Weise kritisiert Jacques Derrida, dass die Gabe das ökonomische Kalkül nicht zu überwinden vermag.107 100 Mauss 1968, 17 f., 22; gegen Émile Durkheims Reduktion der Gabe auf kollektiven und normati-

ven Zwang. 101 Caillé 2008, 60 ff.; ders. 2005, 158; vgl. Bollnow 1955, 133; Dalferth 2007, 172, 185; Adloff, Papilloud 2008, 13 ff. 102 Mauss 1968, 13, 52; Caillé 2008, 61 ff.; Hénaff 2009, 208; vgl. Därmann 2010, 164 f. 103 Mauss 1968, 15, 24. 104 Hénaff 2009, 167. 105 Caillé 2008, 48 ff., 101, 117; ders. 2005, 158, 175; ders. 2009, 32 ff.; ähnlich Hénaff 2009, 178, 203; vgl. Adloff 2005, 27 ff.; Ricœur 2006, 282 ff.; Dalferth 2007, 168. 106 Bourdieu 1987, 180; vgl. zu Bourdieu auch Caillé 2005, 160 ff.; Hénaff 2009, 195; siehe bereits Adornos Aphorismus „Umtausch nicht gestattet“; Adorno 1977, Bd. 4, 46 f. 107 Derrida 1993, 22 f., 30, 37, 50 f.; auch mit Berufung auf Claude Lévi-Srauss, siehe Därmann 2010, 69; vgl. zu Derrida auch Caillé 2005, 165 ff. – Noch radikaler: „don sans présent“ (Derrida, ebd., 49), d.h. eine Gabe ohne Gegengabe. Doch „présent“ kann nicht nur „Geschenk“ heißen, sondern auch „Gegenwart“. In der deutschen Übersetzung steht „Eine Gabe ohne Gegenwart“, weil Derrida im Folgenden die Zeit thematisiert, die in unserem Zusammenhang zu einem besonderen Problem wird.

Generation und Erbschaft

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Damit es eine Gabe im strengen Sinn gibt, ist es seiner Auffassung nach nötig, dass der Gabenempfänger gerade nicht zurückgibt oder begleicht. Die Gabe ‚gibt es‘ demnach nur, wenn gerade keine Gegengabe und daher kein Tausch, mithin keine Reziprozität stattfindet. Aus seiner Argumentation schließt Derrida, dass sich die Gabe selbst zerstört; er hält eine solche „reine Gabe“ für das schlechthin Unmögliche. Doch gegenüber dieser Kritik lässt sich der Begriff der Gabe auch verteidigen. Die Pointe besteht darin, das Verhältnis von Gabe und Gegengabe in der Schwebe zu lassen. Zum einen steht dahinter die Überzeugung, dass auch moderne Gesellschaften auf die „Logik der Gabe“ nicht verzichten können, weil ohne sie keine Kooperation zustande käme. Zum anderen verbirgt sich hinter diesem Konzept eine engagierte Kritik am Ökonomismus und der Versuch, eine sozialpolitische Alternative aufzuspüren, die den Kapitalismus zwar nicht zu ersetzen, wohl aber zu ergänzen vermag.108 So bezeichnet sich Caillé als „positiven Anti-Utilitaristen“, der seinen Gabebegriff als einen Beitrag zu einer Theorie über die Herstellung gesellschaftlicher Ordnungen begreift. Dabei sucht er nach sozialen Kräften, mit deren Hilfe sich die kapitalistische Entwicklung eindämmen und die Chancen solidarischen Wirtschaftens erweitern lassen. Hénaff grenzt den symbolischen Gabentausch sowohl von der „reinen Gabe“ als auch vom ökonomischen Tausch ab. Er besteht darauf, dass beide Typen von Austausch nebeneinander existieren. Im Unterschied zur Ökonomie ist die Sozialform der Gabe dazu bestimmt, für intersubjektive Anerkennung zu sorgen.109 In diesem Sinn ist die Gabe ein hermeneutisches Phänomen innerhalb einer kommunikativen Praxis.110 Die Gabe muss als solche verstanden werden, so wie sich auch die beteiligten Individuen selbst als Gebende und Nehmende verstehen. Mit Blick auf die Geschichte gehört der Gabentausch nicht etwa bloß zur Vergangenheit „primitiver“ Völker, sondern ist außerdem in modernen Gesellschaften allgegenwärtig. Die Praxis des Schenkens gehört sogar zu deren Genese, sozusagen als romantische Reaktion auf Industrialisierung und Ökonomisierung, mithin auf die Ideologie eines verabsolutierten Eigennutzes. Dadurch erfährt der archaische Gabentausch eine Differenzierung in eine strikte Marktlogik einerseits und in einen privaten Raum des Schenkens andererseits.111 Aus diesen Gründen ist die Gabe, wie Hénaff betont, keineswegs archaisch und irrational; vielmehr stehen der utilitaristische Austausch und die Ordnung der Gabe im Einklang miteinander. An dieser Stelle setzt mein Versuch einer Transformation der Theorie der Gabe auf das Problemfeld der Verantwortung für zukünftige Generationen ein. Gerade aufgrund der 108 Adloff, Papilloud 2008, 13 ff. 109 Hénaff 2009, 7 f., 16 ff., 36 f., 169 ff. – Damit beruft sich Hénaff auf die Theorie der Anerkennung;

siehe Honneth 1992.

110 Dalferth 2007, 170. 111 Berking 1996, 16 f.; Schmied 1996, 11 ff.; vgl. Adloff 2005, 40 f.; Kaufmann 2011b, 168 f., 189 f. –

Offen bleiben kann hier die Beantwortung der Frage, ob das wechselseitige Geben und Nehmen ein „universales anthropologisches Faktum“ sei; Starobinski 1994, 10; Simmel 1958, 444; Bollnow 1955, 121 ff.; ebenso die Frage, ob die Gabe die „Unterstruktur unserer Gesellschaft“ oder der transzendentale Horizont von Markt oder Vertrag sei; Berking 1996, 61 ff.

Intergenerationelles Erbe

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genannten Ambivalenz des Gabebegriffs halte ich ihn für reichhaltig genug, um bestimmte Aspekte in den Kontext der intergenerationellen Gerechtigkeit zu übersetzen. Mit dem Ziel, dessen theoretische Potenziale zu nutzen, möchte ich die folgenden Merkmale in systematischer Absicht herausstellen. Der Umstand, dass die Theorie der Gabe ursprünglich aus der Ethnologie stammt, ist für die intendierte Übertragung von besonderer Bedeutung. Das betrifft zunächst die Subjekte des Gebens und Nehmens. Denn unter „Gabe“ wird keine Beziehung zwischen Individuen, sondern zwischen sozialen Gruppen verstanden, in diesem Fall zwischen Familien, Sippen und Stämmen. Während in modernen Gesellschaften „Gaben“ auf die Privatsphäre beschränkt bleiben, wird in unserem Zusammenhang der kollektive Charakter der Gabe wieder wesentlich.112 Damit lässt sich der Gabebegriff auf das Verhältnis von historisch aufeinander folgenden Generationen übertragen. In diesem Sinn kann man von einem kollektivem Geber und Empfänger sprechen beziehungsweise von einer kollektiven Gabe und – ähnlich wie schon beim Erbe – von einer intergenerationellen Gabe. Außerdem eignet sich die ethnologische Theorie für unser Thema, weil unter einer Gabe sehr verschiedenartige Güter verstanden werden können.113 Diese Indifferenz erlaubt es, auch solche Güter als Gaben zu bezeichnen, die sich dem ökonomischen Tauschverhältnis und damit dem kapitalistischen Markt entziehen. Gerade weil die Gabe keinen Warentausch darstellt, können darunter Güter fallen, die nicht mit der Ware-GeldBeziehung erfasst werden können. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, da die moralische Verantwortung für zukünftige Generationen mit dem ökonomischen Kalkül der Gegenwart nur selten übereinstimmt, wie die Debatte um die so genannte Diskontierung zukünftiger Güter gezeigt hat. Es stellt sich also die Frage, was überhaupt unter einer Gabe an zukünftige Generationen und einer erwartbaren Gegengabe verstanden werden kann. Bereits das menschliche Dasein ist etwas Gegebenes und in diesem Sinn eine „Gabe“. Der Mensch hat sich nicht selbst gemacht, sondern ist eine derartige „Gegebenheit“.114 Menschen verdanken ihren Eltern das Leben, es wird ihnen von ihren Eltern „gegeben“, so wie Eltern ihren Kindern das Leben „schenken“. Obwohl keine Pflicht zur Nachkommenschaft besteht,115 sind sie dazu verpflichtet, für bereits existierende und auch für zukünftig mögliche Menschen angemessene Bedingungen für ein gutes Leben zu schaffen. Auch die Lebensumstände sind den Menschen jeweils „gegeben“. Wie diese Bedingungen im Anschluss an Mannheim im siebten Kapitel als „Lagen“ bezeichnet worden 112 Darauf verweist insbesondere Hénaff 2009, 168 f., 178 f. 113 In vormodernen Gesellschaften kann auf die Gabe von Vieh die Gegengabe eines Festes folgen;

Mauss 1968, 21.

114 Vgl. hierzu den Begriff der Natalität bei Hanna Arendt 1967, 15; Gerl-Falkovitz 2008, 199, 207;

vgl. Godelier 1999, 242 ff.; Grätzel 2004, 185 ff.; Marion 2007, 67 f., 70 ff.; zu Marion siehe Dalferth 2007, 164 ff., 179 ff.; Kaufmann 2011b, 165 ff., hier 173, 183. 115 Jonas behauptet zwar eine „Pflicht zum Dasein künftiger Menschheit“, verknüpft damit aber kein „Recht Ungeborener auf Geborenwerden“; Jonas 1979, 86; kritisch dazu Birnbacher 1988, 202 f.; aus theologischer Perspektive Lienkamp 2009, 187 f.

Generation und Erbschaft

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sind, die eine Generation an die nächste „vererbt“, so kann man sie ebenso als „Gaben“ verstehen. Obwohl es dem Gabebegriff eigentlich zuwiderläuft, sind – wie beim Erbe – sowohl „gute“ als eben auch „schlechte“ Gaben oder schädliche Geschenke möglich.116 Zu derartigen „Gaben“ gehören Dinge, ökonomische Reichtümer, soziale Institutionen, kulturelle Lebensformen wie unter anderem das überlieferte Wissen. Vor dem Hintergrund der globalen und temporalen Reichweite technischen Handelns ist gerade auch die Natur als eine Gabe zu verstehen: einerseits als bearbeitete Natur oder Kulturlandschaft, andererseits als bewahrte Natur, d.h. als unberührte oder unversehrte Naturregion. Eine besondere Rolle spielen hier die natürlichen Ressourcen, die entweder aufgebraucht oder in vertretbarem Umfang an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Darüber hinaus gehören zu den Naturgaben solche Güter, die nicht profitabel sind. Die Sorge um genügend Wasser und saubere Luft widerspricht zwar nicht prinzipiell dem Nutzenkalkül, wohl aber dem ausschließlich profitorientierten Wirtschaften. „Gabe“ kann hier bedeuten, den zukünftigen Generationen etwas zu „geben“, was vom heutigen Standpunkt ökonomisch nicht verwertbar ist. Insofern birgt der Begriff der Gabe eine Kritik an der sich verabsolutierenden Tauschrationalität. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob die spezifische Art der Gegebenheit eine besondere moralische Verpflichtung begründen kann. Der Umstand, dass eine Gabe das Resultat einer vorausgegangenen Gabe ist, also selbst bereits gegeben ist, verpflichtet in höherem Maße dazu, diese Vorgabe, sofern sie erhaltenswert ist, unversehrt weiterzugeben. In den Termini der Erbschaft bedeutet dieses Postulat, dass ein „gutes“ Erbe, das bereits geerbt worden ist, vermehrt oder wenigstens nicht gemindert werden soll. Beispielsweise sieht sich jemand, der ein Vermögen erbt, eher dazu genötigt, dieses Erbe an seine Nachkommen zu vererben, als jemand, der sein Vermögen selbst erwirtschaftet hat und sich das Recht herausnimmt, es wieder zu verbrauchen. Denn im ersten Fall handelt es sich um eine Verschlechterung zukünftiger Lebensverhältnisse im Vergleich zum vergangen Zustand, was kategorisch zu vermeiden ist, im zweiten Fall um eine kontinuierliche Verbesserung, die zwar für die Zukünftigen wünschenswert ist, aber nur unter bestimmten Bedingungen eingefordert werden darf. Überträgt man diese Überlegung auf das intergenerationelle Erbe, so ist prinzipiell zu unterscheiden zwischen einem Erbe, das sich allein dem gewachsenen Wohlstand einer Generation verdankt, und einem Erbe, das von den Vorfahren überliefert wurde. Daraus leiten sich unterschiedliche Haltungen zum Erbe ab. Man betrachtet es entweder als Privateigentum mit uneingeschränkter Verfügungsgewalt oder als etwas Überantwortetes mit der Auflage eines schonenden Gebrauchs. Das Erbe ist wie etwas Geborgtes, eine „Leihgabe“ oder ein Lehen, freilich nicht im Dienste eines Fürsten, sondern in demokratischer Verantwortung für zukünftige Generationen. Die Erbschaft wird im Sinne einer Treuhänderschaft verstanden,117 die dazu verpflichtet, das Erbe gleichsam zu verwalten. 116 Aus der Mythologie bekannt sind das Trojanische Pferd (Homer) und das Danaer-Geschenk

(Vergil); Kaufmann 2011a, 41 f.

117 Diese Haltung kommt zum Ausdruck in Titeln wie „Ihr habt dieses Land nur von uns geborgt“;

Gesellschaft für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.) 1977; vgl. Friedmann 2009, 255. –

Intergenerationelles Erbe

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Praktisch relevant ist dieser Unterschied insbesondere hinsichtlich der Natur, d.h. der Umwelt und den Ressourcen. In einem übertragenen Sinn kann man hier von einem Erbe sprechen, das die gegenwärtige Generation nicht selbst geschaffen, sondern von vorausgegangenen Generationen geerbt hat, so wie die Natur eine ‚Gegebenheit‘ für die gesamte Menschheit ist. Ganz konkret bedeutet dies, dass die natürlichen Güter wie auch die eigene Naturbeschaffenheit den Menschen beziehungsweise der gesamten Menschheit ‚gegeben‘ sind. Aus dieser Überzeugung resultiert die erwähnte Forderung nach einer global gerechten Verteilung von Naturgütern.118 Außerdem erwächst aus der Tatsache, dass diese Ressourcen von den Menschen nicht geschaffen wurden und daher von ihnen auch nicht wieder künstlich produziert werden können, die Aufgabe, den Verbrauch zu senken, um sie möglichst lange zu bewahren. Bei der natürlichen Umwelt besteht gegenwärtig nur die Chance, den Ökosystemen die Zeit zur Regeneration zu geben, damit sie zu früheren Zuständen zurückkehren können. Daraus geht die besondere Verpflichtung hervor, mit dem Naturerbe schonend umzugehen und es in einem möglichst unversehrten Zustand an die folgenden Generationen weiterzugeben. Doch unter einer Gabe werden nicht allein materielle Werte verstanden, sondern ebenso immaterielle symbolische Güter. Formen sozialer Anerkennung spielen häufig sogar die größere Rolle.119 Wenn es zutrifft, dass im Fall der fernen zukünftigen Generationen keine materiellen Gegengaben erwartet werden dürfen, weil die gegenwärtig lebenden Menschen dann nicht mehr existieren werden, so folgt daraus keineswegs, dass überhaupt keine Erwiderung möglich ist. Gerade die Tatsache, dass Gaben wesentlich Symbolisches repräsentieren, kann die Voraussetzung dafür bilden, eine Wechselbeziehung zu den zukünftigen Generationen zu konzipieren. Auf diese Weise lässt sich der Austausch von Materiellem und Symbolischem auf das Feld der Zukunftsethik übertragen. Denn die gegenwärtig lebenden Menschen geben zwar an die zukünftigen Generationen materielle Güter weiter, können aber, wenn überhaupt, für die Zukunft lediglich auf symbolische Gesten hoffen. Wie anhand der Zeitstruktur der langfristigen Verantwortung gezeigt worden ist, kann ein solcher Wunsch nach Dankbarkeit oder die Vermeidung von Schuldzuweisung in der Gegenwart allerdings vorausgesetzt werden. Wenn die gewährte oder verwehrte Anerkennung bei zukünftigen Generationen auch subjektiv antizipiert wird, kann eine solche Vorstellung schließlich zur Motivation für verantwortliches Verhalten in der Gegenwart beitragen. Damit kehrt sich die Perspektive um, aus der es nun zu prüfen gilt, in welchem Maße das Geben von der erwarteten Annahme und Gegengabe abhängt. An diesem Punkt scheint mir der Begriff der Gabe besonders ergiebig zu sein, weil sich seine Ambivalenz im Hinblick auf die ferne Zukunft verschärft. Der zukünftige Handlungsraum ist im Fall der Langzeitverantwortung extrem ungewiss und unsicher. Damit gewinnt das Moment Aus teleologischer Perspektive bezeichnet Jonas die Natur als ein „Treugut“, Jonas 1979, 29, 74. – Dieser Gedanke findet sich auch in theologischen Abhandlungen, Lienkamp 2009, 225 f.; vgl. Kaufmann 2011b, 185, 191. 118 Pogge 2002, 197; Hahn 2009, 108 ff. 119 Mauss 1968, 21, 59; Ricœur 2006, 290 ff.; Hénaff 2009, 169; Adloff 2005, 44 f.

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Generation und Erbschaft

des Risikos eine besondere Bedeutung. Wenn sich heutige Menschen dazu entschließen, Verantwortung für zukünftige Generationen zu übernehmen, riskieren sie, das Falsche zu tun. Entweder unterlassen sie notwendige Handlungen und setzen damit das Leben zukünftiger Menschen aufs Spiel. Oder sie ergreifen Maßnahmen, welche die beabsichtigten Wirkungen verfehlen. Schließlich laufen sie sogar Gefahr, die Gabe „umsonst“ geleistet zu haben; nicht allein, weil sie möglicherweise nicht erwidert wird, sondern vor allem auch, weil sie dem Empfänger eventuell nicht mehr nützen wird. Wer heute auf die Ausbeutung bestimmter Ressourcen verzichtet, um für ein menschenwürdiges Leben der zukünftigen Generationen vorzusorgen, geht das Risiko ein, dass diese Generationen seine Gaben gar nicht mehr brauchen können. Sollte dies der Fall sein, würde sich ein solcher Verzicht auf vermehrten Ressourcenverbrauch im Nachhinein als sinnlos erweisen.120 Doch anstatt dieses Argument gegen die Zukunftsethik zu wenden, sehe ich die tiefere ‚Logik‘ des Gabebegriffs darin, auch dann eine derart riskante Vorsorge zu leisten, wenn der Ausgang im Vagen bleibt. Das Risiko des Umsonst ist bewusst einzugehen. Die erwähnte Formel „bedingte Unbedingtheit“ von Caillé bringt dieses Dilemma auf den Begriff und legt nicht nur die kritischen, sondern auch die utopischen Potenziale des Konzepts der Gabe frei. Denn diese Formel erinnert an die Theorie der realen Möglichkeit von Bloch. Dabei korrespondiert das Bedingte mit den realen Bedingungen des menschlichen Handelns. Auf diesem Feld werden Prognosen erstellt sowie Bilanzen zwischen dem Verzicht der gegenwärtig Lebenden und dem Vorteil der zukünftig Lebenden gezogen. Doch in einer Situation struktureller Ungewissheit gehen derartige Kalküle nicht restlos auf, weil das Risiko des Vergeblichen nicht zu tilgen ist. Diese Kehrseite ist das Unbedingte, ohne das die Gabe gar nicht erst möglich wäre.121 Es äußert sich im riskanten Schritt auf andere Menschen zu. So kann dieAllianz mit den Zukünftigen nur im Reich der Bedingungslosigkeit entstehen. Mit Bloch gesprochen, setzt dieser Sprung ins Ungewisse ein Minimum an begründeter Hoffnung voraus. Darin sehe ich die politische Utopie der Gabe. Immerhin wird von den heute lebenden Generationen verlangt, dass sie eine Vorsorge treffen, deren Früchte sie selbst nicht ernten können. Dem entspricht die moralische Norm der freigebigen, großherzigen und die übliche Norm überschießenden Gabe. An die Stelle der ‚kleinlichen‘ Aufrechnung tritt das ethische Prinzip der Generosität. War zuvor von den „Maßstäben intergenerationeller Gerechtigkeit“ die Rede, gilt es jetzt, das bisher übliche und nicht einmal nur mittelmäßige Maß der Rücksicht und Vorsorge zu überschreiten.122 Hier trifft auch Caillés Idee der „Freundschaftlichkeit“ zu, die bedeutet, dass sich die gegenwärtig lebenden Menschen zu den zukünftigen ‚Fremden‘ wie zu potenziellen Freunden verhalten sollen. 120 Sturma bezeichnet dieses Problem als „Paradox der zukünftig Begünstigten“; 2006, 229. 121 Caillé 2008, 109 f. 122 Das Modell der Gabe läuft jedoch nicht darauf hinaus, dass der Staat entlastet wird und die Leistung

für die Generationengerechtigkeit an Privatleute delegiert werden sollen. Im Gegenteil, dieses Modell bedeutet, dass primär die staatlichen Institutionen zu großzügigeren Leistungen bewegt werden sollen. Diese Position richtet sich gegen Sloterdijk 2009; siehe Kaufmann 2011b, 46 f., 166 f., 171, 185, 191.

Intergenerationelles Erbe

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Versuch einer Synthese Abschließend stellt sich das Problem eines Zusammenhangs der hier behandelten Modelle. Worin bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Wie ist eine Synthese denkbar? Zur Beantwortung dieser Fragen konfrontiere ich zunächst die beiden Modellgruppen Dialog, Vertrag, Fürsorge auf der einen Seite und Erbe, Kapital, Gabe auf der anderen Seite, um die mir wesentlichen Differenzen zu markieren und die Vorteile der zweiten Gruppe zu begründen. Sodann werde ich die gemeinsamen Merkmale nennen, um die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Modellen zu erkunden. Zuletzt werde ich die Modelle zweiten Typs untereinander vergleichen, um die Besonderheiten eines jeden Modells zu betonen und damit zu einer Verbindung zu gelangen, in der das Erbe als übergreifende Konzeption fungiert. Die zuerst zitierten Modelle Fürsorge, Dialog und Vertrag zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einer direkten Interaktion bestehen, die zwar ihren jeweiligen „Gegenstand“ hat, aber in Absehung davon auf eine zweistellige Relation zurückgeführt werden kann. Am unmittelbarsten ist die Fürsorge, weil sie auf den direkten Kontakt zwischen gleichzeitig existierenden Menschen zielt. Im Gegensatz dazu ist ein direkter Dialog zwischen den gegenwärtig lebenden und in ferner Zukunft erwarteten Menschen nicht möglich, so dass nur die Konstruktion einer fiktiven Kommunikation bleibt. Ähnlich verhält es sich mit dem fiktiven Vertrag in Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit. Demgegenüber ist den Modellen des zweiten Typs die Eigenart gemeinsam, dass die Beziehung zwischen den Generationen gar nicht als unmittelbare Kommunikation vorstellbar ist, sondern wesentlich in Form einer Vermittlung. Denn es ist zu unterscheiden zwischen dem Begriff des Erbes, der das tradierte Gut bezeichnet, und der Erbschaft, womit der Prozess des Vererbens gemeint ist. Mit dem Erbe tritt zwischen die zeitlich aufeinander folgenden Generationen ein Drittes, das die Übertragung leistet und eine dreistellige Relation konstituiert, die nicht auf zwei Stellen reduzierbar ist. Dabei handelt es sich um materielle oder immaterielle Güter, die auch unabhängig vom Erblasser und Erbenden existieren und als selbständige Entitäten weitergegeben werden. Diese relative Selbständigkeit ist auch im Diskurs über die Gabe präsent, namentlich in den Anfängen bei Mauss, der die Gabe ein „Zwischending“ nennt,123 welches ein soziales Band zwischen den Gemeinschaften knüpft. Zwar betont Hénaff, dass es dabei nicht primär um den Austausch von Gütern gehe, sondern um wechselseitige Anerkennung;124 aber dem ist zu entgegnen, dass diese Art Interaktion durch ausgetauschte Dinge zustande kommt. Ohne die Vermittlung der Gaben wäre die soziale Beziehung nicht realisierbar. Die Gabe als symbolischer Tausch bedarf wesentlich materieller Träger, die das hergestellte Bündnis beglaubigen. Andererseits ist beim materiellen Erbe nicht auszuschlie123 Mauss 1968, 80 ff.; siehe hierzu Därmann 2010, 164 f. 124 Hénaff 2009, 593 f. – Ausdrücklich bezeichnet er die Gabe als „Kitt des sozialen Bandes“ (166).

Und obwohl er versichert, dass hier keine Vermittlung im Hegelschen Sinn vorliege (207 f.), spricht er selbst ständig von „Vermittlung“. So sei das dargebotene Gut „Vermittler der gewährten Anerkennung“ (223 f.).

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ßen, dass es auch einen symbolischen Wert in Form sozialer Anerkennung verkörpert. Schließlich besteht selbst das „kulturelle Kapital“ nach Bourdieu unter anderem aus Gegenständen wie Geräten und Büchern, mit deren Hilfe die akkumulierte „Bildung“ von einer Generation an die andere tradiert wird.125 Gleichwohl lassen sich auch Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Modelltypen feststellen, da sich die Merkmale wechselseitig verschränken. Erbe und Vertrag sind insofern miteinander vereinbar, weil es Erbschaftsverträge gibt, in denen die Übertragung des Erbes (auf der Grundlage eines Testaments) juristisch geregelt wird. Die Modelle Erbe und Dialog überkreuzen sich, denn das Aushandeln der Erbschaft vollzieht sich kommunikativ, während sich umgekehrt auch der fiktive intergenerationelle Dialog und Vertrag auf Güter beziehen. Insbesondere sind Gabe und Dialog miteinander verwandt, weil der symbolische Tausch und die damit intendierte soziale Anerkennung als Dialog mit hermeneutischer Dimension verstanden werden kann. Schließlich ist den Modellen Erbe und Fürsorge gemeinsam, dass die Fürsorge nicht zuletzt das Hinterlassen eines guten Erbes bedeutet, das zu einem großen Teil aus Gütern besteht. Aber trotzdem halte ich am wesentlichen Merkmal der Selbständigkeit fest, das vor allem bei den Modellen Erbe, Kapital und Gabe dominiert. Sie haben den Vorzug, dass die Beziehung der gegenwärtig lebenden Generation zu zukünftig erwarteten Generationen nicht mehr als Fiktion vorgestellt werden muss, sondern, da durch materielle und immaterielle Güter vermittelt, als höchst ‚real‘ gelten kann. Denn diese Güter werden wirklich weitergegeben, sei es in Form von verantwortbaren Lebensbedingungen, sei es in Gestalt von sachlichen Schäden an öffentlichem Eigentum, verbliebenen Ressourcen oder natürlicher Umwelt wie auch in Form von Symbolen. Aktion und Reaktion sind dabei gegenständlich vermittelte Praxen, indem man heute beobachten kann, dass die Erblasser tatsächlich etwas weitergeben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten darf, dass die in Zukunft Erbenden die weitergegebenen Sachsysteme tatsächlich empfangen, verweigern oder verändern werden. Abschließend möchte ich diese Modelle untereinander so vergleichen, dass die angekündigte Synthese denkbar wird. Es geht mir um ein integratives Modell des intergenerationellen Erbes. Die Modelle Erbe und kulturelles Kapital haben den diachronen Aspekt der Tradierung in der Generationenfolge gemeinsam. Die Besonderheit des Kapitalbegriffs besteht jedoch in der Kritik an der Eigendynamik dieses Prozesses. Daher schlage ich vor, das Modell des Erbes mit diesem ideologiekritischen Moment zu verbinden. Wenn Bourdieu von „Kapital“ spricht, übernimmt er von Marx die Auffassung, dass die generationenübergreifende Akkumulation gleichsam ein naturwüchsiger Prozess ist, der weder von den Vererbenden noch von den Erben beherrscht werden kann. Dahinter steht die Überzeugung, dass dieses scheinbar autonome Erbe innerhalb des kapitalistischen Systems nicht wesentlich veränderbar sei. Wenn ich nun im Gegenzug den Begriff des Erbes favorisiere, so ist es meine Absicht, dem kritischen Aspekt bei Bourdieu eine positive Wendung zu geben, die darin besteht, den Prozess der Kapitalakkumulation bewusst 125 Bourdieu 1997, 185 f.

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und damit kontrollierbar zu machen. Das betrifft nicht nur den Akt des Vererbens, sondern eben auch den Handlungsspielraum der Erbenden. Der kritische Impuls des Kapitalbegriffs besteht ferner darin, dass die Beziehung zwischen den genannten Sphären thematisiert werden kann. Wenn Bourdieu das ökonomische Kapital für letztlich dominierend hält, lässt sich diese kritische Position auch auf den Erbebegriff übertragen. Sie bedeutet die Relativierung des Ökonomischen sowie die Begrenzung des Tauschprinzips und des Privateigentums. Denn ökonomisches Kapital ist Vermögen, das aus den Tauschbeziehungen vergegenständlicht ist und sich verselbständigt hat. Außerdem repräsentiert Kapital ein Machtverhältnis, das andere von der Verfügung wie etwa von Ressourcen ausschließt. Diese Kritik an einer verabsolutierten Ökonomie verweist auf das Modell der Gabe. Den Modellen Erbe und Gabe ist zunächst gemeinsam, dass auch die Erbschaft in einem Prozess des Gebens und Nehmens besteht. Wie wir sahen, zeigt sich der wesentliche Unterschied erst beim Akt des Erwiderns. Hier sind also drei Aktionsformen in systematischem Zusammenhang zu betrachten: In der Sprache der Gabe sind es Geben, Annehmen und Erwidern; im Kontext des Erbes sind es erst einmal Vererben und Erben, wobei die Möglichkeit der zukünftigen Dankbarkeit problematisch ist.126 Für die ersten beiden Akte sehe ich die Möglichkeit einer Synthese, die ich mit dem Begriff der Weitergabe kennzeichne. Jede Generation gibt das Erbe, das es von der vorausgegangenen Generation empfängt, in mehr oder weniger verändertem Zustand an die kommenden Generationen weiter, so dass sich eine tendenziell endlose Kette bildet: die des Vererbens, Erbens, Vererbens usw. oder die Kette des Gebens, Nehmens, Gebens usw. Demnach ist das jeweils Vererbte selbst schon ein Geerbtes, so wie die Gabe schon ein Gegebenes ist, das – freilich verändert – weitergegeben wird. Diese Verkettung kann sich über einen derart langen Zeitraum hinziehen, dass kein direkter Kontakt zwischen Vererbenden und Erbenden beziehungsweise Gebenden und Nehmenden besteht. In diesem Sinn spricht man von indirekter Reziprozität,127 die es nun nach den genannten Phasen Geben, Annehmen und Erwidern zu analysieren gilt. Beim erstenAkt des Gebens kommt der Schwebezustand der Gabe zwischen Ökonomie und Moral zum Zuge. Da sich die Gabe den ökonomischen Regeln teilweise widersetzt, ermöglicht das Modell eines um das Gabekonzept bereicherten Erbes, dem Aspekt der Ökonomismuskritik Rechnung zu tragen. Im Fall des Klimawandels ist dies umso mehr geboten, als die reichen und armen Länder davon nicht nur unterschiedlich betroffen sind, sondern außerdem in der Weise miteinander konkurrieren, dass der Süden weiter verelendet und der Norden von der Erderwärmung sogar wirtschaftlich profitieren könnte. Zwar ist die Idee einer „reinen Gabe“ illusionär, aber der Umstand, dass die Natur im Ganzen eine unverfügbare Gegebenheit darstellt, verstärkt das Postulat eines kollektiven Erbes, das im Geiste der Generosität an die zukünftigen Generationen weiterzugeben ist. Im Hinblick auf die zweite Aktionsform des Annehmens oder Erbens ist das Konzept der Gabe in der Zukunftsperspektive zu modifizieren. Während auf den Feldern der 126 Darauf verweist besonders Hénaff 2009, 208. 127 Mehl 2001, 197; Tremmel 2003, 27 ff.

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Ethnologie, woher ja der Gabebegriff stammt, in der Regel eine strikte Verpflichtung zur Annahme einer Gabe besteht, muss diese Phase des Empfangens nicht allein in der gegenwärtigen Moderne, sondern insbesondere auch im Hinblick auf spätere Zeiten in zweifacher und gegensätzlicher Hinsicht differenziert werden. Einerseits ist bereits festgestellt worden, dass bestimmte Arten des intergenerationellen Erbes angenommen werden müssen, weil es gar keinen Spielraum zur Ablehnung gibt. Dazu gehören die staatlichen Finanzen, die von späteren Generationen nicht verweigert werden können, und das ökologische Erbe, dem sich zukünftig lebende Menschen im Guten wie im Schlechten nicht entziehen können. In solchen Fällen besteht keine Wahl, sondern nur Notwendigkeit. Hier ist es vielleicht gar nicht mehr sinnvoll, überhaupt noch von einer Handlung des Annehmens zu sprechen, sondern lediglich von einem aufgezwungenen Erbe. Andererseits bleibt den zukünftigen Generationen immer noch die Wahlfreiheit, wie sie mit einem derartigen Zwangserbe umgehen. Dann gilt wie für das Modell des Erbes nun auch für die Gabe, dass den zukünftig lebenden Menschen die Art und Weise der Nutzung prinzipiell freigestellt werden soll. Für die heute gebende Generation resultiert daraus die Verpflichtung, sich vom Gegebenen zu lösen und die Gabe freizugeben, d.h. die testamentarische Verfügung entsprechend einzuschränken. Die Intention der Geber darf die Deutungen der Empfänger nicht determinieren. So kann die Konzeption der Gabe dazu dienen, die zukünftigen Phasen des bewussten Annehmens oder aktiven Umgangs offener zu gestalten.128 Zugleich ist daran zu erinnern, dass ein schädlicher Umgang mit dem Erbe in der Zukunft ausgeschlossen werden muss, so dass bestimmte Einschränkungen durchaus legitim sind. Die dritte Aktionsform des Erwiderns ist im Modell der Erbschaft noch nicht angelegt. Wesentlich ist hier das Vererben und Erben, das nur mit den ersten beiden Aktionsformen der Gabe, dem Geben und Nehmen, korreliert. Mit dem Modell der Gabe kommt jedoch zusätzlich die Rückgabe ins Spiel, die sich in diesem Diskurs als konstitutiv erwiesen hat. Wiederum fragt es sich, wie diese Erweiterung in das Erbschaftsmodell eingefügt werden kann. Wesentlich ist der zeitliche Abstand, in dem das Geben, Nehmen und Erwidern erfolgt. Dazu unterscheide ich zwischen einer kurz-, mittel- und langfristigen Rückgabe. Bei langen Fristen wird die angestrebte Synthese besonders problematisch. Gabe und Gegengabe beschränken sich auf Gruppen gleichzeitig lebender Menschen. Zwar kennt auch die Gabe den zeitlich verzögerten Tausch. Da die Gabe nicht auf der Stelle erwidert wird, ergibt sich ein zeitliches Intervall zwischen Gabe und Rückgabe. Der Geber von heute ist der Empfänger von morgen. Aber dieser Aufschub ist nur von verhältnismäßig geringer Dauer. Der Austausch findet in einem überschaubaren Zeitraum statt, innerhalb dessen grundsätzlich dieselben Menschen kooperieren. Angesichts derart kurzer Fristen besteht kein Zweifel an einer direkten Gegenseitigkeit. 128 In Abgrenzung zu Sartre: „Beschenken heißt knechten.“, Sartre 1966, 746. – Für den Empfangenden

ist „Passivität“ keineswegs konstitutiv, wie Dalferth behauptet, 2007, 175 ff.; Berking 1996, 170; Kaufmann 2011a, 37, 42.

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Davon zu unterscheiden ist der mittelfristige Austausch zwischen Generationen, die zeitlich aufeinander folgen, als Eltern, Kinder und Enkel jedoch zur gleichen Zeit leben. Höffe spricht hier von einem Tausch, der nicht „ungeduldig“ ist, sondern die „Phasenverschiebung“ hinzurechnet. Dieser „phasenverschobene“ Tausch bleibt bloß negativ, solange er auf der Machtüberlegenheit der mittleren gegenüber der jüngeren und älteren Generation basiert; er wird zum „positiven diachronen Tausch“, wenn die Hilfeleistungen, welche die junge Generation erfährt, später durch die Hilfe gegenüber den Älteren „wiedergutgemacht“ werden.129 Auch in diesem Fall eines mittleren Zeitabstands kann man von einer zwar zeitlich verzögerten, aber direkten Reziprozität sprechen.130 Trotz des vergrößerten Zeitintervalls handelt es sich immer noch um eine materialisierbare Gegenseitigkeit. Wird hingegen die Drei-Generationen-Grenze überschritten und der Tausch auf eine lange Frist ausgeweitet, radikalisiert sich das Problem der Rückgabe. Die Menschen in zeitlicher Ferne können den gegenwärtig lebenden Menschen nichts Materielles erwidern.131 Da also für die fernen Zukünftigen keine materielle Gegengabe möglich ist, bleibt in diesem Fall nur die nachträgliche symbolische Anerkennung. Hier ist genau zu unterscheiden: Während das prospektive Erbe (wie das kulturelle Kapital) sowohl materiell als auch symbolisch sein kann, beschränkt sich die zeitlich ferne retrospektive Reaktion auf das Symbolische. Erst diese Differenz ermöglicht die Vorstellung einer Gegenseitigkeit zwischen zeitlich aufeinanderfolgenden und entfernten Generationen. Überträgt man die Symmetrie der Gabe auf das asymmetrische Erbe, werden auch in zeitlich aufeinander folgenden Generationen indirekt über das Erbe Ansätze einer reziproken Beziehung denkbar. Sie besteht nicht nur in der Weitergabe eines bereits von anderen Weitergegebenen, sondern auch als symbolische Erwiderung in Form erwartbarer Dankbarkeit. Die Ungleichzeitigkeit des Vererbens und Erbens beeinträchtigt daher nicht den Realitätsgehalt des langfristigen Erbschaftsverhältnisses. Das materielle Erbe überbrückt die dazwischen liegende Zweitspanne. In diesem Sinn möchte ich von einer zeitlich verzögerten Reziprozität sprechen. Die in diesen Ausführungen intendierte Integration der Modelle Erbe, Kapital und Gabe lässt sich wie folgt zusammenfassen. Das grundlegende Modell ist das Erbe, weil es materielle und immaterielle Güter beinhaltet. Dank dieses Merkmals ist es in der Lage, die Vermittlung zwischen den Generationen zu beschreiben und die Fiktionen eines intergenerationellen Dialogs und 129 Höffe 1994, 724, 730; vgl. ders. 1993, 182. 130 Tremmel 2003, 32; Adloff 2005, 46 f.; Weigel 2006, 64. – Innerhalb der Grenze von drei Gene-

rationen lassen sich drei Typen von Reziprozität unterscheiden: die Balance aus der Sicht eines der Tauschpartner, den Ausgleich aus der Sicht beider Tauschpartner und den Konsens, bei dem sich Geber und Nehmer über die transferierten Leistungen einig oder nicht einig sind (Marbach 1977, 88). Übertragen auf die fernen Generationen ist nur die Kategorien der Balance aus der Sicht heutiger Menschen möglich. Aus der Perspektive zukünftig Lebender ist auch die imaginierte Feststellung eines Ausgleichs möglich. Ein Konsens ist überhaupt nicht möglich, da keine direkte Kommunikation besteht. 131 Jonas 1979, 84; Heilbroner 1980, 191 ff.; Birnbacher 1988, 26, 33.

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Vertrags zu überwinden. Das Erbe stellt das reale Verhältnis zwischen den zeitlich entfernt lebenden Generationen dar. Es repräsentiert einen bestimmten Lebensstil, der mit ihm fortgesetzt werden soll. Auf diese Weise kann das Erbe darauf Einfluss nehmen, dass sich bei künftig lebenden Menschen bestimmte Präferenzen bilden. Zugleich eröffnet die Eigenständigkeit des Erbes die Möglichkeit, einen flexiblen Gebrauch der tradierten Güter durch die in Zukunft zu erwartetenden Menschen zu antizipieren und dadurch ihre Wahlfreiheit und Autonomie zu garantieren. Das Grundmodell Erbe lässt sich mit den anderen Modellen so kombinieren, dass darin wesentliche Merkmale aufgenommen werden können. Mit dem Modell des kulturellen Kapitals kann auch der Begriff des Erbes eine kritische Aufgabe erfüllen, indem man mit seiner Hilfe auf verborgene Machtverhältnisse im scheinbar naturwüchsigen Prozess des Vererbens ökonomischer, natürlicher, sozialer und kultureller Güter verweist. Umgekehrt ist es möglich, den Erbebegriff in dem Sinne gegen den Kapitalbegriff aufzubieten, dass das Vererben und Erben nicht als verselbständigter Prozess erscheint, sondern dass man die übrig gebliebenen Handlungsspielräume erkundet. Trotz gravierender Unterschiede haben die Modelle Erbe und Gabe so viele Gemeinsamkeiten, dass eine Verknüpfung grundlegender Merkmale durchführbar ist. Entscheidend ist hier der sowohl materielle als auch immaterielle Charakter der Gabe. Hier ist auf die gleichfalls symbolischen Aspekte des Erbes aufmerksam zu machen, wodurch das Erbe eine erzieherische Funktion auszuüben vermag. Außerdem lässt sich das Modell des Erbes, anschließend an die Gabe, um die Phase der Erwiderung erweitern, wodurch über die Weitergabe von einer Generation an die nächste eine indirekte Reziprozität antizipierbar wird. Die materielle Eigenart des Erbes garantiert, dass sich die häufig beschworene Dankbarkeit der Zukünftigen nicht auf symbolische Gesten reduziert, sondern als handfester Umgang mit dem Geerbten vorgestellt werden kann. Nicht zuletzt vermag das Konzept der Gabe das Modell des Erbes insofern zu modifizieren, als die Gabe, wenn sie schon keine Alternative zur Ökonomie darstellt, so doch die Relativierung eines totalen Ökonomismus einklagt. Mit dem Prinzip der Generosität bietet das Gabemodell ein kritisches Korrektiv gegenüber den Theorien zur intergenerationellen Gerechtigkeit und langfristigen Verantwortung.

Resümee Deutungsmuster des Historischen

Zum Abschluss stellt sich noch einmal die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Zukunftsethik und Geschichtsphilosophie. Genauer ist zu fragen, ob die Geschichtsphilosophie ihre normativen Grundlagen gleichsam aus der Ethik borgt oder ob aus ihr selbst spezifische Normen zu gewinnen sind. Es leuchtet ein, dass eine solche Begründung im Rahmen der formalen Philosophie der Geschichte nicht zu leisten ist, in der die Art und Weise von Beschreibungen, Erzählungen und Erklärungen analysiert wird. Allein die materiale Geschichtsphilosophie besitzt die normativen Potenziale, um die Ziele für zukunftsorientierte Handlungen zu bestimmen und zu rechtfertigen. In der heute verbreiteten Ethik der Zukunft ist es üblich, moralische Prinzipien, die sich in der Gegenwart bewährt haben, in die nahe, fernere und ferne Zukunft zu projizieren. Dazu gehören in erster Linie die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf die Befriedigung von Bedürfnissen, das Recht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und entsprechende Fähigkeiten zu entwickeln. Bekanntlich spielt die Philosophie der Geschichte dabei keine Rolle. Wenn man sie jedoch ins Spiel bringt, wie in diesem Buch vorgeschlagen wird, kann man sich die Beziehung zunächst einmal so vorstellen, dass die Prinzipien der Moral in die Geschichtsphilosophie implantiert werden. Man könnte auch sagen, dass beispielsweise die Theorie der Gerechtigkeit auf die zukünftige Geschichte ‚angewandt‘ werde, so dass die Geschichtsphilosophie eine Art ‚angewandte Ethik‘ darstellte, die sich auf Zukunftsfragen spezialisierte. Dabei stellt sich etwa heraus, dass komparative Standards der Gerechtigkeit besser als absolute Standards dazu geeignet sind, in die Geschichtsphilosophie übertragen zu werden, weil sie auch historische Vergleiche einschließen. Eine solche Transformation hätte immerhin den Vorteil, dass die zeitliche und historische Dimension der verwendeten ethischen Prinzipien deutlicher zum Vorschein käme. Doch gehe ich noch einen Schritt weiter mit meiner These, dass es besondere Normen gibt, die nicht nur aus der Ethik in die Geschichtsphilosophie übersetzt werden, sondern ihren Ursprung in der Geschichtsphilosophie selbst haben und somit einen genuin geschichtsphilosophischen Charakter tragen. Derartige Normen enthalten einen Index historischer Erfahrungen und Erwartungen, weil für sie die historische Dimension der gesellschaftlichen Entwicklung und des damit einhergehenden diachronen Vergleichs konstitutiv sind.

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Deutungsmuster des Historischen

Diese These möchte ich nun anhand der Deutungsmuster des Historischen demonstrieren, die das Leitmotiv der bisherigen Untersuchung bildeten. Darunter verstehe ich ganz allgemein Vorstellungen, in denen sich geronnene Erfahrungen, subjektive Einstellungen, Werte und Normen, Weltbilder, Sinnentwürfe oder Theoreme kondensieren.1 Wenn nun die Geschichte als derjenige Bereich gilt, der von den Menschen unter bestimmten Bedingungen ‚gemacht‘ wird, handelt es sich im Grunde um Selbstdeutungen der eigenen Historie. In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass derartige Deutungsmuster nicht nur der Darstellung und Beurteilung vergangener Geschichte und gegenwärtiger Zustände dienen, sondern darüber hinaus in den Diskursen über die Zukunft eine wesentliche Rolle spielen. Zu jenen Mustern zähle ich die folgenden drei Typen. Zunächst handelt es sich um Geschichtsmodelle, die eine eher narrative und metaphorische Bedeutung haben, wie die Modelle des Fortschritts, der Stagnation oder des Niedergangs sowie der irreversiblen Entwicklung und des Zyklus beziehungsweise der Wellenlinie. In diesem Kontext kann man, wie noch zu erläutern sein wird, außerdem von Geschichtszeichen sprechen, wenn etwa mit stereotypen Formeln wie „Klimawandel“ operiert wird, die historische Prozesse verkürzt ansprechen und normativ konnotieren. Darüber hinaus sind die behandelten Geschichtstheoreme zu nennen, also Kontinuität, Kontingenz, historische Kohärenz, Synchronisation, nachholende Entwicklung, Generationenfolge oder Erbschaft. Ausdrücklich verstehe ich die genannten Theoreme ebenfalls als Deutungsmuster, um die Gemeinsamkeit der drei Typen zu betonen. Denn es hat sich ja gezeigt, dass auch ein Geschichtsmodell wie „Fortschritt“ theoretische Implikationen hat und dass ein Theorem wie „Kontinuität“ nicht etwa eine Tatsache widerspiegelt, sondern eine Deutungsfunktion ausübt. Alle diese Deutungsmuster dienen der praktischen Orientierung. Sie sind „dichte“ normative Konzepte, in denen sachliche Beschreibungen und moralische Wertungen miteinander verschmelzen.

Geschichtsmodelle Autoren, die sich über Langzeitverantwortung, intergenerationelle Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit äußern, operieren im Hintergrund mit bestimmten Modellen. So stellt sich das grundsätzliche Problem, ob wir wollen, dass es zukünftigen Generationen besser gehen soll; oder ob wir es für ausreichend halten, dass angesichts drohender Klimakatastrophe und knapper Energieressourcen die erworbene Lebensqualität bestehen bleibt; oder ob 1

In das allgemeine Konzept von Deutungsmustern sind mehrere Leitbilder aus der Soziologie und Philosophie eingegangen. Am Anfang stand wohl die Theorie der symbolisch vermittelten Interaktion von Habermas, der zufolge sich primär Individuen über ihre Handlungen und Erwartungen verständigen. Hermeneutisch und semantisch betrachtet, sind Deutungsmuster Interpretationsschemata. Auch die konstruktivistische Soziologie betont, dass diese Muster keine Abbilder von Realität sind, sondern dass die beteiligten Akteure ihre soziale Wirklichkeit eigenständig aufbauen. – Rohbeck 2000, 47 ff.; mit ausführlicher Literatur Rohbeck 2011, 51 ff.

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wir notgedrungen in Kauf nehmen, dass sich die Lebensbedingungen langfristig verschlechtern, wenn sich der unvermeidbare Schaden nur in vertretbaren Grenzen hält. Offensichtlich enthalten diese Zukunftserwartungen modellhafte Schemata über den generellen Verlauf der Geschichte. Darin sind auch die ‚klassischen‘ Verlaufsformen aus der Geschichtsphilosophie erkennbar. Unter Modellen verstehe ich Übertragungsverhältnisse von einem Vorbild auf ein Nachbild, wodurch strukturelle Ähnlichkeiten erzeugt werden. Dabei beeinflusst nicht allein das Vorbild die Sicht auf die Abbildung, sondern umgekehrt übt auch das Nachbild durch Selektion einen bestimmenden Einfluss aus, so dass man – ähnlich wie bei Metaphern – von einem Interaktionsprozess sprechen kann. Aber im Unterschied zur Metapher, deren Verwendung offen bleibt, stellt der Merkmaltransfer im Fall des Modells ein geregeltes Verfahren dar. Es handelt sich bereits um theoretisch verarbeitete, nicht selten schon in einer Einzelwissenschaft systematisierte Vorstellungen, die auf andere Gegenstandsbereiche übertragen werden.2 Ich halte derartige Modellübertragungen für geeignet, um historische Prozesse begreifbar zu machen. Allerdings sind Modelle systematisch und fragmentarisch zugleich; sie verändern sich selbst im Laufe der Geschichte. Im Unterschied zu den „biomorphen“ Modellen, die sich am Lebensalter einzelner Individuen orientieren, bezeichnet Baumgarnter das Modell des Fortschritts als „ratiomorph“, weil darin eine menschheitsgeschichtlich konzipierte Vernunft die natürlichen Folgen von Tod und Untergang überwindet.3 Dieser Befund entspricht der erwähnten Denaturalisierungs-These. Doch droht hier das Missverständnis, dass diese Geschichtsmodelle als einfache Alternativen auf derselben theoretischen Ebene behandelt werden. Abgesehen davon, dass sich der Übergang von einem Modelltyp zum anderen – wie bei Fontenelle und Turgot – nur zögernd und unentschieden vollzieht, demonstriert vor allem Kant, wie gerade der Fortschritt der Vernunft nach einem naturgeschichtlichen Modell konzipiert werden kann.4 In diesem Zusammenhang interessiert nun vor allem die normative Dimension derartiger Modelle. Zuerst behauptete Koselleck, das historische Denken des 18. Jahrhunderts sei aus dem Widerspruch zwischen Politik und Moral hervorgegangen und habe dadurch die ungelösten moralphilosophischen Probleme fortgeschleppt und in die Zukunft vertagt. In diesem Sinn forderte Habermas das Ende der Geschichtsphilosophie mit demArgument, sie wolle sich an die Stelle der praktischen Philosophie setzen und deren kritische Potenziale usurpieren. Indem die normativen Geltungsansprüche durch die Faktizität historischer Prozesse ersetzt würden, etabliere sich eine falsche Legitimierung des Bestehenden.5 Wie dargestellt, forderte auch Jonas eine Zukunftsethik ohne Geschichtsphilosophie, um die normativen Ansprüche der Utopie zu retten. 2 3 4 5

Ich bezeichne mit Modellen nicht bloß Typen der Geschichtsphilosophie, sondern wähle einen speziellen Modellbegriff; vgl. Rohbeck 1995, 31 ff. Baumgartner 1996, 151 ff.; vgl. Zwenger 2008, 89 f. Kant 1968, Bd. 11, 35. Koselleck 1973, 105 ff.; Habermas 1994, 16 f.; kritisch dazu Rohbeck 2010, 118 ff.

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Deutungsmuster des Historischen

Kaum ein Einwand dürfte unbegründeter sein, wie sich im achten Kapitel gezeigt hat. Bei den Aufklärern war die normative Dimension fest verankert, womit sich die Geschichtsphilosophie als eine frühe Form der Zukunftsethik erweist. Mit der Fortschreibung der Menschenrechte verband sich die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und die vorsichtig formulierte Hoffnung, dass Wohlstand und bürgerliche Verkehrsformen einen günstigen Einfluss auf Recht, Politik und Moral ausüben mögen. Insbesondere die Fortschrittsidee enthielt die Erwartung, dass es den in Zukunft lebenden Menschen im Rahmen der sich wandelnden Bedingungen möglichst besser gehen sollte, womit ein utopisches Moment in die Geschichtsphilosophie einfloss. Dieser Wunsch nach Verbesserung setzte wiederum das moderne historische Bewusstsein voraus, welches die Vorstellung beinhaltet, dass überhaupt Veränderungen in der Geschichte und fortschreitende Entwicklungen im Prozess der Zivilisation bisher erfahren wurden und in Zukunft erwartet werden dürfen. Aus diesem Grund handelt es sich um eine genuin geschichtsphilosophische Zielvorstellung. Auch in der heutigen Gegenwart erfüllt das Modell des Fortschritts eine sowohl deskriptive als auch normative Funktion. Es verbirgt sich hinter dem zitierten Motto „Die Zukunft hat schon begonnen“, in dem die optimistische Erwartung ausgedrückt wird, dass die Zukunft besser werden könnte oder dass es sich lohnt, für eine bessere Zukunft tätig zu werden.6 Diese Idee schwingt ferner im ethischen Utilitarismus mit, wenn eine Steigerung der Zivilisation angenommen wird. So fordern einige Ethiker nicht nur eine „Nicht-Schlechterstellung, sondern eine Besserstellung“. Um nicht das Risiko einer versehentlichen Verschlechterung zukünftiger Lebensverhältnisse einzugehen, sollten die Heutigen im Sinne des Vorsorgeprinzips eine Besserstellung anstreben.7 Derartige Zukunftsethiken schreiben im Grunde die Fortschrittsidee fort, die ich am Beispiel der Utopien von Condorcet und mit Modifikationen ebenfalls von Marx skizziert habe. Sie unterstellen, dass zukünftige Generationen neue und nützliche Technologien entwickeln und dabei auch neuartige Bedürfnisse und Interessen herausbilden werden. Trotz aller Skepsis ist der Wunsch aktuell geblieben, dass es zukünftig lebenden Menschen möglichst besser gehen soll. Insbesondere die Erwartung von Verbesserungen enthält das historische Bewusstsein dafür, dass sich die Möglichkeitsbedingungen menschlichen Handelns in der Geschichte erweitern und somit der modernen Zivilisation neue Horizonte eröffnen. Dieses Interesse bedeutet, sich mit absoluten und häufig minimalen Standards nicht zufrieden zu geben, sofern die Voraussetzungen für eine Steigerung des Lebensniveaus gegeben sind. Die Menschen werden, wenn sie eine Verbesserung ihrer Umstände für realistisch halten, dieses Verlangen äußern und entsprechende Forderungen stellen. Als Bewohner weniger entwickelter Länder werden sie dies vor allem dann fordern, wenn sie ihre realen Möglichkeiten beim Blick auf reichere Ländern bereits als konkrete Realität erkennen. Ein entsprechender Appell ist gerechtfertigt, sofern er sich 6

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Manchmal ist explizit vom Fortschritt die Rede, wenn etwa Fortschritt und Zukunft gleichsetzt oder gar eine „Renaissance“ der Fortschrittsidee verkündet wird; Opaschewski 2008, 658 f.; vgl. Lay 1996, 160 ff. Birnbacher, Schicha 2001, 24; Tremmel 2003, 34.

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unter kontingenten Bedingungen realisieren und in ein kohärentes, die Natur schonendes und die soziale Gerechtigkeit respektierendes System einbinden lässt. Wie am Ende des sechsten Kapitels ausgeführt, ist das Plädoyer für „Fortschritte“ in den weniger entwickelten Ländern nicht mit einem naiven Optimismus zu verwechseln, weil damit alternative Entwicklungen intendiert sind. Zudem wird mit diesem Begriff kein Faktum behauptet, als ob die bisherige Historie in einer reinen Erfolgsgeschichte bestünde, wo doch angesichts der gegenwärtigen Krisen auch das Gegenteil diagnostiziert werden könnte. Vielmehr verknüpft sich mit diesem Begriff die begründete Erwartung, die Bedingungen der Möglichkeit für ein besseres Leben zu schaffen. Wenn ich dabei von „Fortschritten“ spreche, beabsichtige ich, die normativen Potenziale dieses Begriffs aus der Geschichtsphilosophie auszuschöpfen und neu zu definieren. In dieser Absicht bedeutet „Fortschritt“ die moralische Aufforderung, sich für derartige Verbesserungen praktisch einzusetzen. Freilich muss man sich davor hüten, den Fortschrittsbegriff spekulativ zu überfrachten. „Fortschritt“ darf nicht mit der Geschichte gleichgesetzt werden, denn die Imagination des gesamten historischen Prozesses als einer uniformen Entwicklung zum Besseren enthielte die Gefahr einer Teleologie, die der ‚klassischen‘ Geschichtsphilosophie häufig nachgesagt wird. Sofern dabei zugestanden würde, dass jeder Fortschritt auch seine negative Kehrseite hätte, wäre es nicht minder teleologisch, einen universellen Fortschritt zu hypostasieren, der Positives und Negatives in seinem ‚Wesen‘ vereinigte.8 Auch in diesem Fall eines als ‚ambivalent‘ oder ‚widersprüchlich‘ konstruierten Fortschritts, der sich im Laufe der Geschichte in sein Gegenteil verkehrte und seinen wahren ‚Preis‘ zum Vorschein brächte, bliebe es bei der unzulässigen Verabsolutierung einer geschichtlichen Totalität, die sich in wechselseitig negierenden Momenten letztlich auf sich selbst bezöge. Anstelle dieser Spekulation kann an der Bedeutung der Fortschrittsidee als existenzieller Sorge um das Wohlergehen zukünftiger Generationen und als begründete Hoffnung auf Verbesserung der Lebensverhältnisse dann festgehalten werden, wenn man die Erwartung von Fortschritten auf bestimmte Handlungsfelder begrenzt und die zeitliche wie auch räumliche Reichweite der angestrebten Progressionen konkretisiert. Bei einer solchen Differenzierung, wie ich sie in meinem Konzept der Fristen versucht habe, zeigt sich jedoch zugleich, dass eine Pluralisierung der Fortschritte keineswegs ausreicht, ja sogar zu einer unverantwortlichen Zersplitterung der Aktionen führen kann. Vielmehr kommt es darauf an, die nach den verschiedenen Bereichen und entsprechenden Fristen zu koordinierenden Fortschritte in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, der sowohl auf intragenerationeller Ebene aufeinander abgestimmte Maßnahmen als auch intergenerationelle Kooperationen zu garantieren vermag. Wie sich die Singulare „Gegenwart“ und „Zukunft“ als unverzichtbar erwiesen haben, bedarf es an dieser Stelle ebenso eines in sich differenzierten Kollektivsingulars Fortschritt. Wenngleich es eine Totalisierung des Fortschrittsbegriffs zu vermeiden gilt, so ist aus praktischen Gründen das 8

Diese Kritik folgt den Ausführungen zu Marx bei Mäder 2010, 10 ff.; siehe auch das Ende des Abschnitts „Rettung in der Gefahr“ im zweiten Kapitel.

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Konzept eines übergreifenden Fortschritts zu entwickeln, das den genannten Grundsätzen historischer Kontinuität und Kohärenz gerecht wird. Ein derart modifiziertes Fortschrittsmodell erhält hier eine dreifache Bedeutung. Für die armen Länder bedeutet „Fortschritt“ zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als einen Mindeststandard ihrer Lebensverhältnisse zu erreichen, unter denen sie ihre Grundbedürfnisse befriedigen können. In diesem Fall ist das Fortschrittsmodell mit dem Ansatz der Grundbefähigungen durchaus kompatibel. Im Übrigen hat die EgalitarismusDebatte demonstriert, dass die Forderung nach absoluten Standards und die nach annähernd gleichen komparativen Standards faktisch auf dasselbe hinauslaufen. Für die Schwellenländer bedeutet „Fortschritt“ ausgleichende Entwicklung, um ein mit den reichen Regionen vergleichbares und gleichwertiges Niveau der modernen Zivilisation anzustreben. Die Industrieländer haben hingegen zunächst einmal keinen Anspruch auf „Fortschritt“. Sie sind sogar dazu verpflichtet, auf ihn so lange zu verzichten, bis in den Entwicklungs- und Schwellenländern die jeweils unverzichtbaren und gewünschten Fortschritte realisiert sind. Doch falls die realen Möglichkeiten des historischen Prozesses Verbesserungen zulassen, die ökologisch verträglich und global gerecht sind, können sogar für diese Länder Verbesserungen der Lebensverhältnisse nicht nur als wünschenswert, sondern darüber hinaus als moralisch gerechtfertigt gelten. Wenn die reichen Länder ihr Wirtschaftswachstum jedoch bremsen oder sogar zurückfahren, kommen die Geschichtsmodelle der Stagnation oder gar des Niedergangs im Sinne eines kontrollierten Abstiegs zum Zuge. In Kombination mit dem Fortschrittsmodell für die weniger entwickelten Länder haben auch diese Deutungsmuster ihre Berechtigung. Während in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung die Stagnation oder der Rückschritt negativ beurteilt wurden, ist unter heutigen Bedingungen eine partielle Umdeutung und damit eine Aufwertung dieser Modelle geboten. Diese Position erinnert an die Utopie von Bacon, der einen Rückgang ausschließlich auf sozialem Gebiet postuliert hatte, und von Mercier in Anlehnung an Rousseau, der zwar kein ‚Zurück zur Natur‘, wohl aber – im Sinne der wörtlichen Bedeutung von ‚Revolution‘ – eine Rückkehr der modernen Zivilisation zu einem historisch früheren Stadium auf mittlerer technischer und ökonomischer Stufe angemahnt hatte. Zu den aktuellen Forderungen gehört, bestimmte Konsumgewohnheiten zu reduzieren und damit auf den Stand der Vergangenheit zu senken wie zum Beispiel weniger massenhafte Fernreisen, weniger Konsum von Fleisch, weniger Verbrauch von Energie, also letztlich allgemein ein geringerer Verbrauch natürlicher Ressourcen. Ebenso verbreitet ist der Rückgriff auf frühere technische Systeme, die lange als überholt galten und nun eine Renaissance erfahren wie Eisenbahn, Windkraft usw. In diesen Fällen kann man von geplanten partiellen Regressionen sprechen. Das Geschichtsmodell der Wellenlinie verbindet die Erfahrung eines vergangenen Niedergangs mit der Erwartung eines wiederkehrenden Aufstiegs. So setzt der Topos „Rettung in der Gefahr“ erst einmal die Phase der Rückschritte voraus. Im zweiten Kapitel ist eine Reihe von Darstellungen zur Sprache gekommen, in denen der „Untergang“ der modernen Zivilisation als (fast) unabwendbares Schicksal beschrieben worden ist. Die Gebiete, auf denen ein Abstieg oder gar Kollaps erwartet wird, haben dabei vari-

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iert: im Bereich der Finanzen, der Technik und Wissenschaft, der Ökonomie und des Kapitalismus, der Überbevölkerung und der ökologischen Krise. Doch hat sich damit stets die anschließende Kehrtwende in Richtung eines erneuten Fortschritts verbunden. War der darin verborgene Kreislauf ursprünglich auf einzelne Kulturen beschränkt, ist er im Zuge der globalen Katastrophen auf die gesamte Menschheit übertragen worden. Allerdings hat daraus nicht mehr das absolute „Ende“ der Geschichte oder gar der Tod der Menschheit folgen sollen, sondern die Wiedergeburt der Menschen aus eigenen Kräften. Zuversicht dafür ist aus einer Darstellung der Menschheitsgeschichte als eine Folge von „Wellen“ gezogen worden, die für die Vergangenheit zeigen, dass selbst die schlimmsten Krisen überwunden werden konnten, und auf diese Weise die Hoffnung nähren, dass die folgende Geschichte ebenfalls derartige „Zukunftswellen“ erwarten lässt. Wesentlich weniger dramatisch und spekulativ findet sich dieses Modell der Welle in den Ethiken der Zukunft. Nachdem zugestanden wird, dass die Vorsorge für die Natur in der heutigen Gegenwart einen Tiefpunkt erreicht hat, folgt der Appell, nun endlich die Umkehr zu schaffen in Richtung einer fortschreitenden ökologischen Erneuerung. Dies ist freilich nur möglich, wenn der traditionelle Fortschritt in alternative Richtungen gelenkt wird. Werden in seriösen wissenschaftlichen Texten die heutigen Krisen beschworen, steckt darin die Vorstellung, dass sich die Menschen der Gegenwart in einer Talsohle befinden, aus der sie sich wieder emporarbeiten müssen. Insbesondere wenn gefordert wird, dass es den zukünftigen Menschen „besser“ oder zumindest „gleich gut“ gehen soll, verbirgt sich dahinter die Erwartung, dass es gelingen kann, den gegenwärtigen Trend zu verändern. Das Modell des Zyklus der Geschichte kommt auch im Diskurs über „Nachhaltigkeit“ ins Spiel. Ursprünglich hat sich dieses Ideal an der Rückgewinnung natürlicher Rohstoffe orientiert. Ökologen sprechen von der Sukzessionsfähigkeit der Natur, d.h. vom stufenweisen Wiederaufbau des natürlichen Systems bei konstanten Randbedingungen. Um die Regenerationsfähigkeit geht es, wenn die Erneuerung von Strukturen als Systemelementen der Natur angestrebt wird.9 In beiden Fällen kommt es darauf an, die Dauer und den Zeitpunkt von Eingriffen abzustimmen beziehungsweise den richtigen Wechsel von Aktivität und Ruhe zu finden. Das betrifft den kosmischen Zyklus von Jahres- und Tageszeiten, den biologischen Kreislauf organischen Wachstums und den ökologischen Funktionswandel der Erde als Rohstoffquelle und Abfalldeponie.10 Wird nun dieses Modell auf die globale Geschichte übertragen, entsteht insgesamt ein zyklisches Geschichtsbild. Folgt man dem Prinzip der „strikten Nachhaltigkeit“, schließen sich der Zyklus der Natur und der lineare und beschleunigte Prozess der Industrialisierung wechselseitig aus. Im Gegenzug wird verlangt, dass sich der ökonomische Zivilisationsprozess dem Rhythmus der Natur unterordnen soll. Auch dieses Modell ist daher normativ hoch aufgeladen. Doch der Umgang mit regenerativen Rohstoffen kann nicht das Vorbild für die Geschichte im 9 Enge 2000, 31, 53, 70; vgl. Kümmerer 1993, 85 ff.; Held 1993, 11 ff. 10 Held 1993, 11 ff.; Kümmerer 1993, 85 ff.; Held 1995, 169 ff.; Kümmerer 1995, 87 ff.; Hofmeister

1999, 119 ff.; Enge 2000, 21 ff.; Opaschewski 2008, 212 f.

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Deutungsmuster des Historischen

Ganzen sein, weil es im globalen Maßstab keinen vergleichbaren geschichtlichen Kreislauf gibt. Die Verabsolutierung des Zyklus verträgt sich nicht mit dem modernen Wissen um die Spezifik historischer Zeiten. Wollte man die Historie auf zyklische Naturprozesse reduzieren, führte dies zu einer unzulässigen Naturalisierung der Geschichte. Ein solcher partieller Begriff der Nachhaltigkeit taugt daher nicht als Modell für die Weltgeschichte. Ebenso problematisch ist die kategorische Entgegensetzung von Naturzyklus und Zivilisationsprozess. Einerseits kennt die Natur nicht nur Zyklen, sondern auch gerichtete Prozesse wie die Kette der zeitlich aufeinander folgenden Generationen und die darauf aufbauende Evolution, die zwar keine kontinuierliche Linie erzeugt, wohl aber eine Entwicklung der natürlichen Arten. Andererseits sind auch in die Geschichte Kreisläufe wie die natürliche Reproduktion der Individuen und die zirkulären Prozesse in gesellschaftlichen Institutionen eingebettet.11 Paradigmatisch ist der Wirtschaftskreislauf, der schon bei seiner Entdeckung durch die Physiokraten mit einem natürlichen Zyklus verglichen wurde. Zyklisch sind außerdem die wiederkehrenden Konjunkturschwankungen und Wirtschaftskrisen. Wiederholungen gibt es ferner in der Arbeitswelt; mit Marx kann die menschliche Arbeit nicht nur als Produktion, sondern vor allem auch als Reproduktion und erweiterte Reproduktion verstanden werden, ein Begriff, der dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung nicht fern steht.12 Neuerdings erhalten sogar Zyklen in modernen Technologien wie zum Beispiel Schaltkreisen erhöhte Aufmerksamkeit.13 Geschichte und Kreislauf schließen sich also keineswegs aus. UmdiesesPhänomenzuverstehen,greifeichaufdenBegriffder„Wiederholungsstruktur“ von Koselleck zurück,14 der damit die wiederkehrende biologische Reproduktion von Individuen wie auch kreisförmige Bewegungen in sozialen Institutionen charakterisiert. Dabei betont er, dass diese Verlaufsform mit dem Zyklus kaum etwas gemeinsam habe, weil der Zyklus die Geschichte im Ganzen betreffe, die hier gemeinten Wiederholungen hingegen in die Kette der Generationen und damit in den nicht zyklischen historischen Prozess eingelassen seien. Obwohl die Geschichte Kreisläufe in sich einschließt, bleibt sie aus dieser Perspektive insgesamt als irreversibler Prozess bestehen. Während die Position der „strickten Nachhaltigkeit“ das Modell des Zyklus verabsolutiert, versuchen die Position der „schwachen“ wie auch „starken“ Nachhaltigkeit das Kreislaufmodell in die Vorstellung einer progressiven Entwicklung zu integrieren. In diesem Sinn vereinigt der Doppelbegriff „nachhaltige Entwicklung“ die Modelle von Kreislauf und aufsteigendem Pfeil. Unwillkürlich denkt man dabei an die „Spirale“ in der Geschichtsphilosophie Hegels. Im Zuge der Ökologie erhält dieses Modell eine völlig neue Bedeutung, weil es jetzt nicht das Auf und Ab der Kulturen, sondern den Erhalt des Naturzyklus symbolisiert. 11 Rheinberger 1990, 132 f.; Koselleck 2010, 102 f. 12 Rohbeck 2006, 86 ff.; Enge 2000, 21 ff. 13 Leider überzeichnet Demuth diese durchaus zutreffenden und interessanten Beobachtungen zum

angeblich neuen Paradigma einer „Zyklomoderne“, das sich vom linearen Geschichtsbild abgrenzen soll; 2010, 14 f., 104 ff. 14 Koselleck 2010, 96 ff.; siehe den Abschnitt „Generationenwechsel“ im achten Kapitel.

Geschichtszeichen

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Geschichtszeichen In den Diskursen über die Zukunft lassen sich ferner bestimmte Deutungsmuster beobachten, in denen historische Prozesse auf extreme Weise komprimiert werden wie zum BeispielKlimawandel,Ressourcenknappheit,BevölkerungswachstumoderFinanzkrise.Ich schlage vor, diese sprachlichen Ausdrücke in Anlehnung an Kant als „Geschichtszeichen“ zu reflektieren.15 Kant räumt zwar ein, dass er zur Beantwortung der Frage nach einer moralischen und politischen Besserung der Menschheit keine Anzeichen aus der historischen Erfahrung, mithin keine empirischen Beweise beizubringen vermag. Dennoch ließen sich bestimmte Ereignisse als solche Zeichen lesen, wie er am Beispiel der Französischen Revolution erläutert.16 Ihm zufolge weist die positive Anteilnahme an diesem Ereignis auf den möglichen Verlauf des historischen Prozesses im Ganzen hin, hier auf den gewünschten „Fortschritt“ in der Geschichte. Andere Zeichen verweisen auf Stagnation und Verfall, wie Kant am Beispiel des Erdbebens von Lissabon, das er auch als „Zeichen“ charakterisiert, im Anschluss an Rousseau demonstriert.17 In dieser reflexiven Struktur zeigt sich ein innerer Zusammenhang von gedeuteten Zeichen und erwarteten Verlaufsformen der Geschichte. Ebenso ist darin die praktische Absicht erkennbar, die Deutung von Geschichte zur Bewältigung historischer Kontingenz heranzuziehen. In diesem Zusammenhang lässt sich die Idee von Arnim Grunwald aufnehmen, der aktuelle Phänomene zu „Chiffren der Zukunft“ erklärt,18 wobei über den allgemeinen Zeichencharakter hinaus der Aspekt des Undurchschaubaren und Rätselhaften noch zunimmt, der ja bei derart komplexen Vorgängen durchaus angemessen ist. Da es sich hier um Ereignisse handelt, die auf ein mehr oder weniger langfristiges Geschehen hinweisen, liegt für mich die Umdeutung von „Chiffren“ in „Geschichtszeichen“ nahe. Außerdem lassen sich diese „Zeichen“ im Kontext historischer Erzählungen betrachten. Als Ereignisse mit Zeichencharakter beziehungsweise als entsprechende sprachliche Zeichen symbolisieren sie insofern Geschichte, als die genannten Begriffe für historische Prozesse stehen. Diese werden nicht mehr als solche erzählt, sondern durch jene Bezeichnungen als schon erzählte abgerufen, um sich darüber schnell zu verständigen. Sie sind sozusagen verkürzte Erzählungen, die an vergangene Ereignisse erinnern und Erwartungen an die Zukunft signalisieren.19 In der heutigen Gegenwart stellt sich nun die Frage, ob im 21. Jahrhundert ähnliche Geschichtszeichen auszumachen sind und welche es sein könnten, um langfristige Tendenzen in der Geschichte zu beurteilen. Als ein solches Zeichen könnte man den 15 Kant 1968, Bd. 11, 357 f.; Rohbeck 2004, 49 f.; vgl. Kittsteiner 1999, 81ff.; ausführlich zu diesem 16 17 18 19

Aspekt einer Semiotik der Geschichte: Handrick 2010. Kant 1968, Bd. 11, 357 f. Siehe den Abschnitt „‚Generation‘ in der Geschichtsphilosophie“ im achten Kapitel. „Vision Assessment“ technikbasierter Visionen bei Grundwald 2008, 45 f. Rüsen nennt diese Zeichen „narrative Abbreviaturen“, 1994, 11. – Das gilt auch für historische Begriffe wie „Zweiter Weltkrieg“, die man als „Erzählausdrücke“ in „narrativer Supposition“ bezeichnen kann, Zwenger 2008, 192.

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Anschlag am 11. September 2001 ansehen, weil er die Illusion von einem postkommunistischen und kapitalistischen „Ende der Geschichte“ zerstört und auf die drohende Terrorgefahr hingewiesen hat, die ja dann tatsächlich zu einem beherrschenden Thema bis hin zu den neuen Kriegen geworden ist. Zuletzt ist es die Kraftwerkskatastrophe 2011 in Fukushima gewesen, die man als Zeichen für die Notwendigkeit eines Umdenkens hinsichtlich der Atomkraftnutzung interpretieren kann und die in einigen Ländern bereits zu einer Wende in der Energiepolitik geführt hat. Um Geschichtszeichen handelt es sich hier nicht nur, weil die Ereignisse und Reaktionen historische Prozesse repräsentieren, sondern vor allem, weil sie zum beherrschenden Thema einer global medialen Wahrnehmung, eines weltweiten Mitgefühls und einer öffentlichen Debatte geworden sind. Derartige Zeichen finden sich auch in den referierten Diskursen über die Zukunft. Sie fungieren wie Symbole, um Gefahren zu beschwören, die Katastrophe anzudeuten oder gar die Apokalypse zu behaupten. Schließlich sind sie Indizien für eine gefährdete Zukunft. Wie Kant ein katastrophales Erdbeben zum „Zeichen“ erklärt hat, so können wir heute den „Klimawandel“ als Geschichtszeichen deuten. Begriffe wie Nachhaltigkeit oder nachhaltige Entwicklung gelten dann als Symbole der Hoffnung, dass sich die Probleme doch noch lösen lassen und sich die Geschichte zum Guten wenden möge. In den Erzählungen operiert man mit diesen Geschichtszeichen, die gewissermaßen selbst Kurzgeschichten sind, wie mit narrativen Fabeln. Sie geben den Erzählungen eine bestimmte Struktur, Richtung und Verlaufsform, so wie sie die Endpunkte markieren, von denen aus retrospektiv die Erzählung aufgebaut wird. Mit den genannten Plots wird ferner auf die vergangene Geschichte verwiesen, um daraus, wenn nicht „Lehren“, so doch Orientierungen für die Gegenwart zu gewinnen. Um den jeweiligen Zeitbezug zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erfassen, lässt sich mit Kant zwischen einer remorativen, demonstrativen und prognostischen Funktion der Geschichtszeichen unterscheiden.20 Wie gezeigt wurde, erinnern die Autoren der zitierten Diskurse an unterschiedlich lange Zeiträume der Vergangenheit, um die Entwicklung auf die Gegenwart hin zu charakterisieren. Sie vergegenwärtigen entweder die Ursprünge der Menschheit oder die Anfänge der diagnostizierten Fehlentwicklungen. Daraus folgt meist unmittelbar die prognostische Funktion, mit deren Hilfe die gegenwärtige Zukunftsvorstellung dargestellt wird. Eine besondere Bedeutung hat die Demonstration der gegenwärtigen Situation, in welcher an den Leser appelliert wird. Knappe Ressourcen erinnern beispielsweise an verloren gegangene Bestände, prangern den heute immer noch nicht gestoppten Raubbau an und machen auf die zukunftsbezogenen Fristen aufmerksam, bis sie endgültig und unwiederbringlich aufgebraucht sein werden. Geschichtszeichen haben also die Aufgabe, in narrativer Form an die Vergangenheit zu erinnern, daraus Erwartungen an die Zukunft abzuleiten, um in der Gegenwart eine normative Orientierung zu stiften. Meinen Versuch einer Transformation der verwendeten Deutungsmuster des Historischen in geschichtsphilosophische Grundlagen der Zukunftsethik setze ich nun auf dem Feld der Theoriebildung fort. Damit wechsle ich von den Geschichtsmodellen und 20 Kant 1968, Bd. 11, 357 f.; hierzu speziell Handrick 2010, 20.

Geschichtstheoreme

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-zeichen zu den Theoremen der Geschichtsphilosophie. Wenn ich alle drei Typen als Deutungsmuster bezeichne, möchte ich wiederum hervorheben, dass Modelle, Zeichen und Theoreme der Geschichte miteinander verschränkt sind. Wie sich im achten Kapitel und in meinen Erläuterungen zum Modellbegriff gezeigt hat, ist zum Beispiel das Modell des Fortschritts wesentlich komplexer, als die geometrische Figur des aufsteigenden Pfeils vermuten lässt. Dieses Modell setzt die Theorie der Generationenfolge und der Erbschaft, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sowie der historischen Kontinuität, Kohärenz und Kontingenz voraus. Umgekehrt verweisen diese Theoreme auf die genannten Geschichtsmodelle, die sie zu begründen vermögen. Außerdem bedürfen sie der Konkretion durch diese Modelle, weil sie sonst – etwa die Idee der Kontinuität in der Geschichte – unterbestimmt blieben. Schließlich dienen sie selbst der praktischen Orientierung und haben eine sowohl deskriptive als auch normative Dimension.

Geschichtstheoreme Wie mehrfach erwähnt, dienen die Hinweise auf bestimmte Theoreme der Geschichtsphilosophie häufig dazu, die Verantwortung für zukünftige Generationen in Zweifel zu ziehen oder einzuschränken. Zugespitzt formuliert, entsteht der Eindruck, dass Bezugnahmen auf historische Zusammenhänge gegen die Ethik der Zukunft ins Feld geführt werden, während deren Initiatoren und Verteidiger seit Jonas gerade mit der Ausklammerung von Geschichte operieren. Dagegen habe ich versucht, die Argumente so zu transformieren, dass sie zur Grundlegung der Zukunftsethik beitragen. Insbesondere beim Thema Kontingenz lässt sich beobachten, dass der Verweis auf kontingente Prozesse in der Geschichte dazu missbraucht wird, die Verantwortung für zukünftige Generationen zu relativieren. Nicht selten wird der Einwand erhoben, die Zukunft sei so ungewiss und die Vorhersagen seien so unsicher, dass eine Verpflichtung zur Vorsorge für bestimmte Zustände kaum zu rechtfertigen sei. Auch das viel zitierte NichtIdentitäts-Paradox gründet sich letztlich auf Kontingenz, wenn festgestellt wird, dass man die Zahl und Eigenart zukünftiger Individuen nicht wissen könne. Die Behauptung, auch die Interessen dieser Menschen seien uns völlig unbekannt, soll als Vorwand dafür dienen, darauf abgestimmte Maßnahmen zurückzuweisen. Schließlich spielt die Kontingenz eine wichtige Rolle, wenn die Verursachung von Schäden aus der Vergangenheit oder gar die daraus resultierende Schuld in Zweifel gezogen werden und die entsprechende Forderung nach Kompensationsleistungen wenig Resonanz findet. Betrachtet man hingegen, wie im sechsten Kapitel geschehen, die Kontingenz in der sachbezogenen Bedeutung, ist mit Bloch darauf zu insistieren, dass Kontingenz gerade die realen Möglichkeiten impliziert, die es uns erlauben, innerhalb bestimmter Grenzen frei zu handeln und mit utopischer Perspektive verändernd einzugreifen. Außerdem enthält diese Kategorie einen eigenen Maßstab, nach dem Probleme intergenerationeller Gerechtigkeit behandelt werden können. Wenn nämlich die Frage gestellt wird, welcher Lebensstandard den zukünftigen Generationen zugemutet werden darf, lautet die entsprechende Antwort: Intergenerationelle Gerechtigkeit ist dann erfüllt, wenn für die

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Deutungsmuster des Historischen

nachfolgenden Generationen diejenigen verantwortbaren und eventuell auch verbesserten Lebensbedingungen geschaffen werden, die nach dem gegenwärtigen und für die Zukunft erwartbaren Stand der Zivilisation real möglich sind. Berücksichtigt man ferner die von mir so genannte dritte Kontingenz, bei der es um das kontingente Urteilen und Handeln der in Zukunft lebenden Menschen geht, ist es unabweisbar, dass diese Menschen von unseren Hinterlassenschaften nicht nur ‚betroffen‘sein werden. Wie im Zusammenhang des Modells der Erbschaft dargelegt, darf vielmehr erwartet werden, dass sie mit dem Geerbten je nach Deutung in einer bestimmten Weise aktiv umgehen werden, zumal das Erbe in seiner Eigenschaft als vermittelndes Drittes einen flexiblen Gebrauch einräumt. Bei der ethischen Reflexion dieser Struktur lässt sich die Einsicht gewinnen, dass ein derart selbständiger Umgang mit dem Erbe ausdrücklich zu unterstützen ist. Eine solche Wertung kommt in den zitierten Programmen zum Ausdruck, denen zufolge nicht nur für bestimmte Güter zur Befriedigung festgelegter Interessen vorgesorgt, sondern die Deutungshoheit und Wahlfreiheit zukünftig lebender Menschen garantiert werden soll. Geschichtsphilosophisch drückt sich dieser Wert der Autonomie in der Erwartung eines permanenten kulturellen Wandels und in der Idee einer offenen Geschichte aus. Letztlich werden damit die Menschen der Zukunft als autonome Subjekte ernst genommen. Im Kontext des Theorems der historischen Kohärenz lässt sich das Verhältnis von Zukunftserwartungen und Möglichkeitsbedingungen präzisieren. Denn „Kohärenz“ bedeutet nicht nur die Koordination divergierender Ziele, sondern ebenso dieAngemessenheit dieser mit Blick auf die kontingent gegebenen oder zu entwickelnden Bedingungen zur Realisierung jener Ziele. Auch im Kontext der intergenerationellen Gerechtigkeit, innerhalb derer die Interessen der heute lebenden und später möglichen Generationen in ein faires Verhältnis gesetzt werden sollen, sind die angemessenen Optionen gemäß der historisch konstatierten und prognostizierten Entwicklungen zu bestimmen. Zum einen folgt daraus das Gebot, die entsprechenden Bedingungen zu ermöglichen; zum anderen ist es ebenso geboten, die sich eröffnenden Handlungsspielräume unter der Voraussetzung sozialer Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit zum Wohle der Menschen auch tatsächlich auszuschöpfen. Folgt man dieser Argumentation, wäre ein bestimmter Zustand schon dann ungerecht, wenn er zwar gleichwertig ist, aber die Bedingungen für eine real mögliche Verbesserung unterschreitet. Ist also die Vorsorge für einen besseren Zustand möglich und zumutbar, würde die „Verantwortung für zukünftige Generationen“ die Verpflichtung bedeuten, eine solche Verbesserung nach Möglichkeit auch anzustreben. Mit Blick auf die Realisierbarkeit von Zielen ist ein sozialer Zustand also dann historisch kohärent, wenn ein bestimmter Stand der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Entwicklung eine bestimmte Lebensweise auf einem bestimmten Niveau der Kultur möglich macht. Daran knüpft sich für die Zukunft die Erwartung, neue Möglichkeiten auch zu realisieren. In politischen Kontexten gehen daraus bestimmte Forderungen hervor, die darauf drängen, das technisch und ökonomisch Mögliche in die Tat umzusetzen. „Fortschritt“ ist dann die Herstellung von Kohärenz in Bezug auf die Ziele nach Maßgabe von sich erweiternden, jedoch stets kontingenten Möglichkeitsbedingungen.

Geschichtstheoreme

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Wenn die Aufgabe der Geschichtsphilosophie von jeher in der Bewältigung historischer Kontingenz bestand, um im Chaos der Zielsetzungen, Ereignisse und Prozesse Orientierung zu erlangen, ist die Idee der Kontinuität unverzichtbar. Am Beispiel von Zukunftserzählungen habe ich untersucht, wie auf narrative Weise kontinuierliche und langfristige Linien in die Geschichte eingezogen werden. Im praktischen Bereich unterstellt das Programm der Synchronisation die Idee der Kontinuität, weil die zu Grunde liegende Konstruktion einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Vergleichbarkeit zivilisatorischer Zustände erfordert. Sofern man dabei den armen Ländern ein „Recht auf Entwicklung“ zubilligt, kommt man nicht umhin, bestimmten Völkern oder Nationen eine historische Identität und damit identitätsstiftende Kontinuität zuzuschreiben wie auch von einem kontinuierlichen Gesamtzusammenhang globaler Gerechtigkeit auszugehen. Auf diese Weise setzt die Legitimation weltgeschichtlicher Gerechtigkeit einen übergreifenden Prozess in der Geschichte und damit historische Kontinuität voraus. Bereits mein Konzept der Fristen, das ich im fünften Kapitel entworfen habe, hat die Funktion, pragmatische Brücken der Kontinuität aufzubauen. In ihrer sowohl deskriptiven als auch normativen Bedeutung sollen „Fristen“ dazu dienen, einerseits die Differenz zwischen Gegenwart und Zukunft zu markieren und andererseits praktische Übergänge zwischen diesen historischen Modi ins Auge zu fassen. Damit beabsichtige ich, sowohl die Idee einer endlosen und damit abstrakten als auch einer willkürlich beschränkten Kontinuität zu vermeiden und stattdessen gestaffelte Reichweiten kontinuierlicher Verantwortung zu konzipieren. Wenn ich dazu zwischen Fristen der Handlung, Wirkung und Verantwortung unterscheide, ist es mein Ziel, je nach Tätigkeitsfeld kurz-, mittel- und langfristige Handlungszusammenhänge sachbezogen zu beschreiben und ethisch zu begründen. Auch hier kommt es auf Kohärenz an, weil die verschiedenen Aktionsbereiche voneinander abhängen und in praktische Übereinstimmung zu bringen sind. Mit dem Theorem einer historisch strukturierten Kontinuität verbindet sich der moralische Imperativ, für bestimmte Traditionslinien in der Geschichte praktisch zu sorgen. Es bezieht sich auf die Vergangenheit, wenn die gegenwärtig lebenden Menschen die Pflicht haben, das Verschulden von Unrecht anzuerkennen und dafür bei den Nachkommen Kompensation zu leisten. Mit Blick auf Zukunft sind die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Wahlfreiheit zukünftiger Generationen überhaupt gewährleistet ist. Sowohl die Anerkennung ihrer Autonomie als auch die Realisierung durch langfristig verbindliches Handeln setzt die Vorstellung historischer Kontinuität voraus. Als Repräsentant einer kontinuierlichen Tradierung gilt insbesondere das Testament, das einen sowohl freien als auch verantwortlichen Umgang mit dem Geerbten garantieren soll. Letztlich verlangt die Wahrnehmung einer langfristigen Verantwortung die Sorge um einen kontinuierlichen Kooperationszusammenhang. Wenn man Geschichte insgesamt als einen die Generationen übergreifenden Handlungszusammenhang definiert, zeigt sich die normative Qualität des dabei zu Grunde gelegten Begriffs der Kontinuität. Um diese intergenerationelle Kooperation theoretisch zu begründen, habe ich eine inhaltliche Konzeption der Generation entwickelt, die das moderne Geschichtsbewusstsein voraussetzt. Der Generationenbegriff hat eine normative Dimension, indem in der Gegenwart Ziele formuliert werden, die von bestimmten Generationen realisiert werden

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sollen. Im Anschluss an Mannheims Begriff der Generationenlagerung, der es gestattet, erwartete Lebensbedingungen zukünftiger Populationen zu beschreiben und sowohl zeitlich als auch räumlich miteinander zu vergleichen, lässt sich der Lagebegriff mit dem ebenfalls aus der Geschichtsphilosophie stammenden Begriff des Erbes verknüpfen, weil auch derartige „Lagen“ von einer Generation an die andere „vererbt“ werden. „Generation“ und „Erbe“ hängen insofern miteinander zusammen, als die Erbschaft die Folge der Generationen voraussetzt und ohne den Generationenbegriff kein Konzept eines kollektiven Erbes denkbar ist, das imstande ist, die Generationenfolge inhaltlich über die biologische Linie hinaus als eine mehr oder weniger kontinuierliche Tradierung von Kultur zu konkretisieren. Mit dem Modell des Erbes werden bestimmte Normen formuliert, die sowohl das Handeln der gegenwärtig Lebenden als auch das mögliche reaktive Verhalten der Zukünftigen betreffen. Das ethische Potenzial des Erbebegriffs besteht zum einen darin, dass die Vererbenden ein „gutes“ Erbe hinterlassen sollen – mit den Möglichkeitsbedingungen einer Verbesserung der Lebensverhältnisse oder zumindest keiner Verschlechterung. Zum andern erlaubt es dieser Begriff, für die Möglichkeit eines freien Umgangs der zukünftig Erbenden mit den Hinterlassenschaften Sorge zu tragen. Konkret bedeutet diese Flexibilisierung des Erbes das Programm, die überlassenen technischen, ökonomischen und sozialen Systeme mit der Eigenschaft der Reversibiltät auszustatten. Letztlich kommt darin die moralische Haltung zum Ausdruck, die in Zukunft lebenden Menschen als autonome Subjekte in der Geschichte anzuerkennen. Sofern das Modell des Erbes mit dem der Gabe kombiniert wird, kommt das moralische Prinzip der Generosität hinzu, durch welches das Paradigma der intergenerationellen Gerechtigkeit kritisch ergänzt wird.

Geschichtspolitik Die resümierten Deutungsmuster des Historischen erfüllen die Aufgabe der praktischen Orientierung. Um diese Funktion zu analysieren, lässt sich das Modell der dreifachen Mimesis von Ricœur anwenden.21 Auf der ersten Stufe werden bestimmte Erfahrungen mit der bisherigen Geschichte der modernen Zivilisation verarbeitet wie die genannten ökonomischen und ökologischen Krisen, die auch zu wachsender Ungerechtigkeit in der globalen Welt führen. Auf der zweiten Stufe werden diese Erfahrungen in Erwartungen an die zukünftige Geschichte transformiert, in die Hoffnung eines anhaltenden oder wiederkehrenden Fortschritts, in die skeptische Haltung einer Sicherung des bestehenden Niveaus und in die Befürchtung eines generellen Abstiegs beziehungsweise der Zumutung einer Verschlechterung späterer Lebensbedingungen. Auf der dritten Stufe folgt die moralische Aufforderung, die in den genannten Erzählungen enthalten ist. Damit schließt sich der Kreis der Deutung des Historischen, der als Prozess der Selbstreflexion zu verstehen ist. In unserem Zusammenhang schlage ich vor, noch eine vierte Form der Mimesis hin21 Ricœur 1988, Bd. 1, 87 ff.; vgl. Rohbeck 2012, 63 ff.

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zuzufügen. Sie ist insofern in der ‚Antwort‘ der Verantwortung angelegt, als auf eine Handlung, die zu verantworten ist, eine Beurteilung folgt, die eine narrative Struktur hat. Es ist also zu erwarten, dass die gegenwärtigen Handlungen in der Zukunft bestimmte Erzählungen veranlassen, in denen sich die Wertschätzung oder die Verurteilung jenes Handelns ausdrücken. Doch finden sich derartige Appelle nicht allein innerhalb der Diskurse, vielmehr üben die Erzählungen mit ihren jeweiligen Deutungsmustern selbst appellative Funktionen aus. Das liegt an einem besonderen Umstand, der mit der mittleren und langfristigen Verantwortung zusammenhängt. Hier geht es häufig um historische Prozesse, die so langsam über einen größeren Zeitraum stattfinden, dass sie für den naiven Beobachter unbemerkt bleiben. Weil sie sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, bleibt nur übrig, sie wissenschaftlich zu erklären und für ein breites Publikum zu erzählen. Derartige Erzählungen sind dazu in der Lage, historische Tendenzen darzustellen, zukünftig mögliche Zustände zu beschreiben und erwartbare Reaktionen später lebender Menschen zu antizipieren. Auf diese Weise vermitteln sie ein Gespür über lange Fristen der Verantwortung und rufen zum politischen Engagement auf. Darin liegt die spezifische und unverzichtbare Aufgabe historischer Deutungen. So hat Harald Welzer darauf aufmerksam gemacht, dass sich vor allem die klimatischen Veränderungen für die Beteiligten weitgehend im Verborgenen vollziehen.22 Das Problem liege in der mangelnden Sichtbarkeit des Klimawandels, zu dessen Nachweis es komplexer mathematischer Modelle bedürfe, die für die Öffentlichkeit unverständlich blieben. Zwar würden einzelne Symptome wahrgenommen wie schmelzende Gletscher, vermehrte Unwetter und Dürreperioden wie auch die daraus resultierenden sozialen Konflikte und Kriege. Aber weil sich die bedrohlichen Tendenzen über mehrere Generationen erstreckten, seien sie für einzelne Individuen innerhalb ihrer Lebenszeit kaum sichtbar und daher nicht mehr unmittelbar erlebbar. Diese „Apokalypseblindheit“ erschwere die mora22 Hierbei könnte auch in Zukunft ein Phänomen auftreten, das Umweltpsychologen „shifting base-

lines“ nennen; demnach halten Menschen immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den ursprünglichen, der mit ihrer eigenen Erfahrung während ihrer Lebenszeit zusammenfällt. So ist zum Beispiel untersucht worden, wie kalifornische Fischer Veränderungen ihrer Fanggründe im Generationenvergleich wahrnehmen. Während die älteren Fischer wohl wissen, dass große Fischbestände innerhalb von dreißig Jahren verschwunden sind, glauben die Jüngeren, diese Fische habe es niemals gegeben. Veränderungen der natürlichen und sozialen Umwelt werden nicht absolut wahrgenommen, sondern immer nur relativ zur Lebenszeit. Deshalb haben die in einer jeweiligen Gegenwart lebenden Generationen allenfalls vage Vorstellungen darüber, dass die sie umgebenden Kulturlandschaften erst von vergangenen Generationen geschaffen wurden und dass auch die als ‚natürlich‘ empfundene Umwelt wie die abgeholzten Gebirge in Südeuropa bereits das Resultat massiver Zerstörungen sind. Dieses Phänomen zeigt sich auch in kürzeren Zeiträumen im Übergang von einer Generation zur nächsten. Projiziert man diese Beobachtungen in die Zukunft, ist zu befürchten, dass spätere Generation gar nicht mehr wissen werden, wie viel ‚Natur‘ ihnen verloren gegangen sein wird. Daraus erwächst die moralische Aufgabe, die Erinnerung an die vergangenen Umweltzerstörungen wach zu halten. Zur Umwelterziehung gehört daher wesentlich auch die Bildung eines historischen Bewusstseins. – Welzer 2008, 17, 214 ff.; 250 ff., 273 ff., 257, 267; vgl. Leggewie, Welzer 2009, 9 ff., 52, 99, 174 ff.; Enge 2000, 56; Lienkamp 2009, 466.

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lische und politische Mobilisierung, die nur mit Hilfe neuer kultureller Identitäten von Gesellschaften überwunden werden könne. Sowohl in wissenschaftlichen als auch populären Darstellungen bedient man sich der literarischen Form der Erzählung. Denn nur sie ist in der Lage, die Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten oder auch nur Jahrzehnten anschaulich zu überbrücken. Sie erinnert an verloren vergangene Zustände, die den gegenwärtigen Generationen nicht mehr präsent sind und wohl auch gar nicht mehr als Verluste wahrgenommen werden. Und sie malt bedrohliche Szenarien aus, die sich in Zukunft abspielen könnten. Auf diese Weise kompensiert die Erzählung die mangelnde sinnliche Präsenz langfristiger Veränderungen, indem sie in der historischen Darstellung das nicht unmittelbar Erlebbare zumindest für den Leser fiktiv erleben lässt. Die Erzählung versucht die strukturelle „Blindheit“ zu heilen, weil sie katastrophale Tendenzen in längeren Zeiträumen vor Augen führt. Im Grunde geht es hier um die Unsichtbarkeit historischer Entwicklungen, die allein vom Ende her erkennbar und nur durch Erzählung vermittelbar sind. In diesem Sinne stehen auch die Geschichtszeichen für etwas, das man nicht direkt erfahren kann. Die narrative Formel „Klimawandel“ weist auf das nur durch Vermittlung Einsehbare hin. Zugleich erzeugt dieser Verweis eine emotionale Reaktion, die zum Handeln motivieren soll. Eine appellative Funktion erfüllen zudem die in den Zukunftsdiskursen eingelassenen Geschichtsmodelle. Das Bild des Naturzyklus im Kontext der Nachhaltigkeit appelliert zum Beispiel daran, die natürliche Umwelt zu erhalten. Ebenso forderte das Geschichtsbild der Stagnation dazu auf, den Prozess der Industrialisierung zu stoppen, um die Natur zu schützen und die bestehende Kultur zu bewahren. Demgegenüber ruft die Fortschrittsidee dazu auf, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass zumindest die Lebensverhältnisse der bisher Benachteiligten verbessert und gerade durch technische Fortschritte die Naturzerstörung rückgängig gemacht werden könnten. Das Bild der Wellenlinie repräsentiert den Wunsch, dass nach einer Phase des Niedergangs durch den rettenden Eingriff doch wieder ein Aufstieg folgen möge. Eine Orientierungsfunktion üben schließlich auch Theoreme aus wie die Theorie historischer Kontingenz oder die Ideen der Kontinuität in der Geschichte, die als intergenerationelle Kooperation zu denken ist. Hinzu kommen die von mir vorgeschlagenen alternativen Konzeptionen wie die bedingte Offenheit und Reversibilität, die Integration von Wiederholungsstrukturen in das Prinzip der Irreversibilität von Geschichte, das modifizierte Konzept einer nachholenden Entwicklung mit den Implikationen Ungleichzeitigkeit und Synchronisation sowie die Modelle Generationenfolge und Erbschaft. An dieser Stelle zeigt sich die wesentliche Differenz zwischen den üblichen historischen Darstellungen und den Diskursen über die Zukunft. Zukunftsdiskurse beschreiben einen geschichtlichen Handlungsraum, der keineswegs abgeschlossen, sondern noch zu betreten und zu gestalten ist. Damit sind sie Teil der Planung von Handlungen, letztlich sogar Element der Handlungen selbst. Historisch sind diese Darstellungen des real Möglichen nicht nur durch ihren kollektiven und langfristigen Charakter; der spezifisch geschichtliche Charakter ergibt sich außerdem aus der Generierung von Deutungsmustern bei der Reflexion bisheriger Entwicklungen unter Bezugnahme auf unsere heutigen

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Wertvorstellungen, die in der Gegenwart handlungsorientierend wirken und so mitbestimmen, wie wir die Zukunft im Rahmen unserer Möglichkeiten beeinflussen. Hier ist zu berücksichtigen, dass die dabei verwendeten Maßstäbe weiterhin entwickelt und ebenso für die Zukunft als wandelbar vorgestellt werden müssen. Unter diesenVoraussetzungen halte ich den reflektierten Umgang mit Deutungsmustern des Historischen nicht nur für gerechtfertigt, sondern für unverzichtbar. Denn es hat sich gezeigt, welche deskriptiven und normativen Potenziale sie in Diskursen über die Zukunft entfalten können. Sofern sie in politischen Debatten verwendet werden, kann man von einer Geschichtspolitik sprechen. Auf diese Weise tragen sie zu einer Re-Politisierung der Zukunft bei. Hier sehe ich die Chance der Geschichtsphilosophie darin, Zukunft als einen Aktionsraum möglicher Geschichte zu erschließen und zugleich in Verbindung mit der Ethik der Zukunft ethische Maßstäbe für zukunftsorientiertes und verantwortungsbewusstes Handeln zu entwickeln. Auch diese neuartige Aufgabe gehört zur historischen Aufklärung.

Literaturverzeichnis

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