Geschichte und Zukunft: Fünf Vorträge [1 ed.] 9783428441440, 9783428041442


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Geschichte und Zukunft: Fünf Vorträge [1 ed.]
 9783428441440, 9783428041442

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Geschichte und Zukunft Fünf Vorträge

Im Auftrag des Fachbereichs Geschichte der Universität Tübingen herausgegeben von

Heinz Löwe

Duncker & Humblot . Berlin

GESCHICHTE UND ZUKUNFT F Ü N F VORTRÄGE

Geschichte und Zukunft Fünf Vorträge

I m Auftrag des Fachbereichs Geschichte der Universität Tübingen herausgegeben von

Heinz Löwe

DÜNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3 428 04144 5

VORWORT Die hier herausgegebenen Vorträge wurden anläßlich der Veranstaltungen zum fünfhundert] ährigen Jubiläum der Universität Tübingen i n der Vortragsreihe „Geschichte und Z u k u n f t " des Fachbereichs Geschichte i m Sommersemester 1977 gehalten. Das Thema schlug Gerhard Schulz vor, der sich zusammen m i t K a r l Ernst Petzold und Klaus Schreiner auch u m die Gewinnung der Redner bemühte; Hubert Mordek sprang i n hilfreicher Weise ein, als der Unterzeichnete infolge seiner Wahl zum Dekan die schon übernommene Vortragsverpflichtung nicht einhalten konnte. Karl-Ernst Petzold traf als Dekan i m Amtsjahr 1975/76 die ersten organisatorischen Vorbereitungen. Dem Unterzeichneten als seinem Amtsnachfolger blieben der Abschluß der Organisationsarbeiten und die Einführung der einzelnen Vorträge. Schließlich hatte er i m Auftrag des Fachbereichs die Druckvorbereitung und Herausgabe des hier vorgelegten Sammelbandes und die Abfassung der Einleitung zu übernehmen. Der Dank des Fachbereichs gilt den Vortragenden, die sich zur M i t w i r k u n g an der Vortragsreihe bereit erklärten und ihre Manuskripte für den Druck zur Verfügung stellten, sowie dem Verlag Duncker & Humblot, der den Druck übernahm und gestattete, daß der i n der Festschrift für Erich Hassinger erscheinende Vortrag von Herrn Strasburger auch an dieser Stelle noch einmal abgedruckt wurde. Besonderer Dank gebührt schließlich Herrn Universitätspräsidenten Adolf Theis, der m i t immer regem Interesse die Entstehung des Bandes gefördert hat. Heinz Löwe

INHALT

Heinz Löwe: Einleitung

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Hermann Strasburger: Geschichte und Politik im Altertum

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Hubert Mordek: Vergangenheit und Zukunft im Geschichtsdenken des Mittelalters

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Hartmut Lehmann: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Geschichtsdenken des Württembergischen Pietismus

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James Joll: Das Bild eines zukünftigen Krieges 1919 - 1939

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Ernst Schulin: Die Zukunft im historisch-politischen Denken des 20. Jahrhunderts . . Verzeichnis der Mitarbeiter

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EINLEITUNG Von Heinz Löwe Als der Fachbereich Geschichte, einem Vorschlag von Gerhard Schulz folgend, seiner Vortragsreihe das Thema „Geschichte und Zukunft" gab, griff er ein Problem auf, das der Geschichtswissenschaft i n den letzten Jahren mehrfach gestellt worden ist und eine ähnliche A k t u a l i tät gewonnen hat, wie sie i n den Jahren des Neubeginns nach dem Zusammenbruch von 1945 die Frage nach dem „Historiker und seiner Gegenwart" besessen hatte. Damals hatten bedeutende Historiker daran erinnert, daß i m A l t e r t u m und i m Mittelalter bedeutende Geschichtsschreibung immer auch die Zeitgeschichte umfaßt habe und daß es nun gelte, i n Erneuerung dieser alten, jedoch nie ganz abgerissenen Tradition sich den Aufgaben der Gegenwart zu stellen. Der Ausbau der „Zeitgeschichte" i n den folgenden Jahrzehnten läßt erkennen, daß dieser Appell nicht ungehört verhallte. Die Frage nach dem Verhältnis von „Geschichte und Z u k u n f t " erhob sich i n einer ganz anderen Situation, als nach Jahren erfolgreichen Aufbaus die Zukunft nicht mehr i m optimistischen Licht des Neubeginns nach der Katastrophe, sondern i n düsteren Perspektiven gesehen wurde. I n dem vielfach postulierten und auch praktizierten Zusammenwirken von Geschichte und Sozialwissenschaften wurde der Geschichte nahegelegt, sich i n Ausnützung — aber w o h l auch Uberschreitung — ihrer Möglichkeiten nun der Zukunft prognostisch zu bemächtigen. Daß diese Forderung und der Versuch ihrer V e r w i r k lichung Probleme i n sich bergen, ist ebensowenig zu bestreiten wie die Tatsache, daß solche Zukunftsprognosen nur auf dem Boden ganz bestimmter Weltanschauungen eine Aussicht auf Erfolg zu bieten scheinen. Andererseits hat ein K r i t i k e r der „Entfremdung von Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit" inzwischen feststellen zu können gemeint, daß „der kurze und hektische . . . Versuch, die Zukunft i n Besitz zu nehmen" bereits „lange dahin" sei. Denn, so hieß es: „Seit die Zukunft mehr und mehr an suggestiver K r a f t eingebüßt hat und ihre Schrecken größer anmuten als ihre Verheißungen, scheint es, als wendeten viele Menschen ihr Gesicht wieder nach rückwärts, der Vergangenheit zu."

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Heinz Löwe

Immerhin hat es Zeiten gegeben, i n denen die Menschen die Zukunft — wenn auch i m Rahmen einer ganz bestimmten Geschichtsbetrachtung und i n ganz bestimmten Grenzen — erkennen zu können glaubten. Das Christentum hat i n Spätantike und Mittelalter eine lange und sogar noch i n einer nichtchristlichen Welt nachwirkende Geschichtsanschauung entwickelt, i n der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ein einheitlicher großer, durch den Willen Gottes bestimmter Prozeß gesehen wurden, eine lineare, teleologisch bestimmte Entwicklung, die zwar auch das A l t e r t u m neben seiner Kreislauflehre gekannt hatte, die aber nun i n ganz anderer Weise einheitlich bestimmt wurde durch den Willen des allmächtigen Schöpfergottes, der seine Welt und die Menschheit von der Schöpfung zum Ende und zum Gericht leitete, das er ihnen bestimmt hatte. Vor diesem Gott aber, dem tausend Jahre nach dem Psalmwort waren wie der Tag, der gestern vergangen war, verschmolzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander i m Hinblick auf das Ziel, das er den Menschen gesetzt hatte. Dieses Ziel kannte man: Jüngstes Gericht und ewige Verdammnis oder ewige Seligkeit. Man glaubte zunächst sogar, den Zeitpunkt des Endes der irdisch-menschlichen Geschichte auf das Jahr genau errechnen zu können; aber bedachtsamere Köpfe haben schon früh auf die Unsicherheit dieser Berechnungen hingewiesen. Andererseits glaubte man der Bibel Indizien für das Herannahen des Endes entnehmen zu können; doch auch diese blieben unsicher. Otto von Freising, der i n seiner Weltchronik auf Grund der erschütternden Ereignisse des Investiturstreits das Ende ganz nahe gerückt glaubte, gab diese Prognose unter dem Eindruck der ersten Erfolge Friedrich Barbarossas schon wenige Jahre später auf. Auch der calabresische Seher Joachim von Fiore (f 1202), der für das Jahr 1260 zwar nicht das Ende der Welt, wohl aber den Durchbruch eines neuen Zeitalters der Menschheitsgeschichte, des Zeitalters des Heiligen Geistes, voraussagte, enttäuschte m i t dieser Prophezeiung die Späteren, obwohl es nicht an Menschen fehlte, die durch ihren Lebenswandel die vorausgesagte Zeitenwende vorzuleben und herbeizuführen suchten. Sieht man von Joachim und seinen Nachfolgern ab, so betrafen diese Prognosen oder Prophezeiungen mehr die Heilsgeschichte und den zu erreichenden jenseitigen Endzustand, als die Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Endzeitprophezeiungen haben aber bis i n die Neuzeit weitergelebt, und zwar nicht nur i m württembergischen Pietismus und nicht nur i n christlichen, sondern auch i n durchaus diesseitigen Formen m i t der Erwartung eines letztlich geschichtslosen irdischen und glücklichen Endzustandes. Andererseits ist die Vorstellung eines möglichen Weltendes dem Menschen heute wieder näher gerückt als dem Geschichtsstudenten etwa der Zeit u m 1931, dem gesagt wurde, daß die mittelalterlichen Geschichtschrei-

Einleitung

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ber i n Schöpfung und Gericht feste Anfangs- und Endpunkte der Geschichte besessen hätten, während für den „modernen" Historiker Geschichte aus dem Unendlichen komme und ins Unendliche gehe. Der selbstverständliche Glaube an die unbegrenzte Fortdauer unserer Erde ist ins Wanken geraten. Aber wenn man i m Mittelalter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Gott so sehr zusammensah, daß man Ereignisse der älteren Geschichte als „Präfigurationen" der jüngeren verstehen konnte — wie etwa den alttestamentlichen Priesterkönig Melchisedech als Präfiguration Christi —, wenn man, z.T. von ganz anderen Voraussetzungen her, i m Alten vielfach das Gute, Rechte und Vorbildliche sah, dann konnte es nicht ausbleiben, daß man das, was man i n der Gegenwart für gut und für die Zukunft verbindlich ansah, auch i n die Vergangenheit zurückprojizierte, teils bewußt, um i h m damit eine stärkere Legitimation zu geben, teils unbewußt, weil man sich die Vergangenheit nur weitgehend i n den Formen vorstellen konnte, die man i n der Gegenw a r t erlebte. Daß so Gegenwartszüge i n das Vergangenheitsbild einfließen konnten, ist eine Erscheinung, die nicht nur i m Mittelalter und i m Altertum, sondern auch i n der Neuzeit aufgetreten ist, wo sie freilich ihre „Unschuld" verloren hat, seit der Historiker m i t dem wissenschaftlichen Rüstzeug des Historismus ausgestattet ist. Noch i m 19. Jahrhundert haben sich die „politischen" Historiker i n Deutschland von ihren politischen Zielen auch i n ihrer Geschichtschreibung leiten lassen. Ein Gelehrter und Politiker wie Johann Gustav Droysen richtete auch an Alexander den Großen Fragen der Gegenwart, schrieb aber seine „Geschichte der preußischen P o l i t i k " so sehr unter dem Zeichen der preußisch-deutschen Zukunftshoffnungen seiner Zeit, daß er die wissenschaftliche Bedeutung und andauernde W i r k u n g seines Alexander-Buches m i t i h r nicht zu erreichen vermochte. Immerh i n ergibt sich, daß der Historiker auch Mensch und Zeitgenosse ist, daß i h n die der Zeit gestellten Aufgaben und damit die Sorgen vor der Zukunft ebenso belasten wie seine Mitmenschen und daß diese A u f gaben und Sorgen auch seine Geschichtschreibung mitbestimmen können. Selbst ein Ranke wollte sich zwar von den Einflüssen der Gegenw a r t so weit wie möglich frei machen und keines Richteramtes über die Geschichte walten, sondern nur „sagen, wie es eigentlich gewesen". Aber er wußte ebenso wohl, daß ohne die Impulse der Gegenwart Geschichte nicht geschrieben würde. Impulse der Gegenwart erwachsen aus Sorgen u m die Zukunft. Auch der Historiker steht wie der Politiker und jeder Zeitgenosse vor der großen Woge der Zukunft, die auf i h n zukommend für eine kurze Zeit zur Gegenwart w i r d und über i h n hinwegrollend sich immer mehr i n

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Heinz Löwe

der Vergangenheit verliert. Wie alle Zeitgenossen w i r d auch i h n die Frage bewegen, wie der Woge der Zukunft zu begegnen sei, damit man sich i n ihr behaupte. Aber seine eigentliche und nur i h m zukommende Aufgabe ist doch die des „rückwärtsgewandten Propheten". Er blickt suchend zurück auf die Schöpfungen, welche der menschliche Geist i n die Woge der Zukunft gestellt hat. Er sieht aber nicht mehr die, welche von den immer neu heranrollenden Wogen verschlungen wurden, sondern nur die, welche ihre Zukunft überstanden haben, w e i l ihr Bau stark genug war, rechtzeitig verstärkt oder auch neu i n die Zukunft hinein errichtet wurde. Das gilt von politischen Schöpfungen ebenso wie von Schöpfungen der Kunst, Literatur oder Wissenschaft. So entbehrt die rückblickende Arbeit des Historikers nicht der Bedeutung für die Zukunft, also für das Leben. Der Rückblick auf ein Erbe, das Jahrhunderte überstanden hat, kann der Gegenwart nur den Rücken stärken und ihr helfen, die Zukunft zu bestehen. Das genügt vielen Heutigen nicht; sie verlangen mehr von diesem Rückblick. Vermag er aber auch den Blick dafür zu öffnen, welche Eigenschaften es waren, die den Schöpfungen der Vergangenheit die Fähigkeit zum Überleben gegeben haben? Dann würde sich ein Weg öffnen, auf dem der Historiker zur Gestaltung der Zukunft beitragen könnte. Ob er deswegen Prognosen — und zwar m i t den M i t t e l n seiner Wissenschaft — stellen kann, bleibe offen, ebenso ob alle Schöpfungen der Vergangenheit geeignet sind, i n dieser Form befragt zu werden. Daß es jedoch ein Recht des Historikers ist, i n methodisch gezügelter A r t Fragen dieser A r t an die Vergangenheit zu stellen, w i r d man kaum bestreiten können. Es kann sicherlich nicht schaden, wenn sich zu den aus den verschiedensten Fachgebieten entwickelten Prognosen solche gesellen, die aus der Arbeit von Historikern erwuchsen. Das Risiko, sich i n diesen Prognosen sehr schnell von der Zukunft widerlegt zu sehen, muß freilich getragen werden. Es ist ohnehin die besondere A r t der Geschichtswissenschaft, daß sie ihre Ergebnisse ständig selbst i n Frage stellt. Denn Geschichtschreibung und Geschichtswissenschaft können sich auch selbst zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen. I n diesem Zusammenhang gewinnt dann das Problem „Geschichte und Z u k u n f t " einen neuen Platz. Die Zukunftsängste und Hoffnungen des Menschen, die Bemühungen der Wissenschaft u m Voraussicht und Prognosen sind, wie auch die Beiträge dieses Bandes ergeben haben, ein lohnender und vielleicht mehr als bisher ins Auge zu fassender Gegenstand historischer Forschung und Darstellung. Hier wäre der Mensch als Gestalter und als Erdulder der Geschichte zu erkennen. Hier wäre aber auch ein U r t e i l zu gewinnen, ob und wie weit eine Erkenntnis der Zukunft möglich war oder k ü n f t i g sein wird. Das Leben des einzelnen wie der

Einleitung

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Menschheit birgt — man mag dies begrüßen oder nicht — Überraschungen, und andererseits könnte sich selbst die Zukunftsprognose eines Historikers einmal als eine „self-fulfilling prophecy", eine „sich selbst erfüllende Prophezeiung", erweisen. Die Aspekte, unter denen das Problem „Geschichte und Z u k u n f t " zu sehen ist, sind vielfältig, und die hier vorgelegten Untersuchungen sollten dazu beitragen, einen Eindruck von dieser Vielfalt zu geben.

GESCHICHTE UND P O L I T I K I M A L T E R T U M * Von Hermann Strasburger Die Intensität der Empfindung, die w i r m i t einem derzeitigen Modew o r t „Geschichtsbewußtsein" nennen, ist an sich, wie man gerade an der A n t i k e gut studieren kann, vom Ausmaß historischer Kenntnisse unabhängig. Schon die homerischen Epen zeigen i n der Behandlung ihrer fiktiven Stoffe ein tiefräumiges Bewußtsein von Vergangenheit. Gegenwart und Zukunft, ja auch von Kulturstufen an, welches die Dichter des als Geschichte verstandenen Mythos offenkundig auch bei ihren Hörern voraussetzen durften. Die Unechtheit dieser Erzählungen i m Sinne jetziger kritischer Wissenschaft ist denn auch kein Grund gegen ihren starken Einfiuß auf reales Handeln i n späterer Wirklichkeit, da die antike Menschheit — m i t verschwindend seltenen Ausnahmen — zwischen Mythos und Geschichte nicht zu unterscheiden wußte, das heißt, die Götter- und Heldensagen einfach für ihre älteste Geschichte hielt. W i r haben noch viele Beispiele dafür, daß Griechen oder Römer i n Entscheidungssituationen, auch echt politischen, sich an homerischen Leitbildern orientierten. Die homerischen Epen sind auch diejenigen „Geschichtsbücher", die i n der gesamten Antike weitaus am meisten und besten bekannt waren, auch i n den niedrigeren Bildungsschichten. Für Griechen wie auch Römer waren sie der Grundstoff des Schulunterrichts. Hingegen war „Geschichte" i n der antiken Schule niemals ein eigener Lehrgegenstand. Die Lektüre von Historikertexten, ζ. B. T h u k y dides oder Livius, diente der Stilkunde und literarischen Kompositionstechnik, die Kenntnisnahme von ihren Inhalten der Ansammlung eines Beispielschatzes für Verhalten i n den verschiedensten Lebenslagen, besonders als Argumentationsmaterial für den Redner vor Gericht und i n politischen Diskussionen 1 . Natürlich hat sich dabei kein Praktiker je u m Nachprüfung der Historizität eines i h m gelegen kommenden geschichtlichen Beispiels bemüht. Unbekümmert oder gar skrupellos holte ein jeder aus seinem mehr oder weniger gut gefüllten Schulsack einen geeigneten Vergleichsfall hervor. * Gleichlautend in: Historia Integra, Festschrift für Erich Hassinger, 1977, 33 - 50. 1 Zur diesbezüglichen rhetorischen Theorie des Aristoteles: R. Zoepffel, Historia und Geschichte bei Aristoteles, 1975, 21 f. m. Anm. 70.

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Hermann Strasburger

I m Ganzen tat somit das Unterrichtswesen wenig dafür, daß schon frühzeitig i n jungen Menschen der Sinn dafür geweckt wurde, welchen Nutzen sie für ihre sittliche und politische Bildung gerade aus dem gründlichen Studium größerer geschichtlicher Zusammenhänge ziehen konnten: ein u m so schlechterer Dank der antiken Menschheit an ihre zahlreichen und vielfach vorzüglichen Geschichtsschreiber, als deren meiste, und die allerbesten auf jeden Fall, i n eben dieser hohen erzieherischen Aufgabe: der Belehrung der Menschheit aus der Geschichte, Sinn und Rechtfertigung ihrer Lebensarbeit gesehen hatten. Die sozusagen zweckfreie Historie: die antiquarische Sammlung und Bewahrung alles noch ermittelbaren geschichtlichen Details hat es als Gelehrtenaufgabe i m A l t e r t u m neben der eigentlichen Geschichtsschreibung ebenfalls reichlich gegeben, aber das Erkenntnisinteresse der großen Geschichtsschreibung war w o h l nur selten frei von dieser erzieherischen Nebenabsicht. Mag auch das Motto: „historia magistra vitae", das, wie Polybios versichert, über so ziemlich jedem Geschichtswerk stand, bei nicht wenigen Autoren zum rhetorischen Gemeinplatz oder zur buchhändlerischen Reklame abgesunken sein, mögen die einen Darsteller den Sinn ihrer Lehre mehr politologisch, die anderen mehr moralisch verstanden haben 2 —, es muß diesem unverdrossenen Angebot doch auch irgendeine Aufnahmebereitschaft entsprochen haben*. Mehrheitlich aber neigte die Nutzanwendung historischer Kenntnisse zur punktuellen Bezugnahme, und diesem Bedürfnis wurde durch thematisch geordnete Excerpte aus den Geschichtswerken Rechnung getragen. Proben hierfür sind die uns noch erhaltene „Sammlung denkwürdiger Taten und Aussprüche" des Valerius Maximus, diese nach ethischen Kategorien geordnet, und die Zusammenstellungen von Kriegslisten i n den „Strategemata" von Frontin und Polyän. Es versteht sich leicht, wie sehr diese nützliche Literatur zur Verkümmerung des echten Geschichtsverständnisses beitrug. Von vornherein besteht zwischen A l t e r t u m und Neuzeit, was unser Thema angeht, der tiefgehende Unterschied darin, daß der Kreis derer, die über so etwas wie eine historische Bildung verfügten, i n der Antike immer ungleich kleiner gewesen ist. Nicht einmal die mutwillige Mißachtung der geschichtlichen Unterrichtung, zu welcher unsere Zeit es gebracht hat, kann zu dem Grad von Seltenheit bewußter politologischer Auseinandersetzung m i t den Lehren der Geschichte zurückführen, den w i r für das A l t e r t u m als Regel anzusehen haben. Das kontrastiert eigentümlich — und ist doch kein logischer Widerspruch — zu der intensiven Gefühlsbindung des antiken Menschen — hier darf man w i r k 2 s. ζ. B. Thuk. 1,22,4. Polyb. 1,1. 3,31f. Diod. 1,1-4. Sali. lug. 4,1. Liv. praef. 10. Tac. Ann. 3,65,1. 3 Vgl. Cie. ad Q. fr. 2,12(11),4. Plut. Brut. 4,8.

Geschichte und Politik im Altertuirt

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lieh, auch sozial verallgemeinern — an die Vergangenheit als den Lebensraum seiner Vorfahren. Nie und nirgends i m A l t e r t u m hat die Freude am zivilisatorischen Fortschritt — der sehr w o h l als ein natürlicher Entwicklungsgang bemerkt und beschrieben und als Erleichterung des Lebens auch gern i n Anspruch genommen wurde — die gültige Wertformel: alt = gut, neu = der Minderwertigkeit verdächtig, entkräften können. Allgemein ist akzeptiert, daß die Älteren es besser wissen als die Jüngeren und daß Sitte und Weisheit der Vorfahren i n allen Zweifelsfällen den Weg zum rechten Handeln zeigen. „Dies sind die Grundsätze, die uns unsere Väter überliefert haben und die uns selbst immer Nutzen gebracht haben", — läßt Thukydides (1,85,1) den Spartanerkönig Archidamos sagen —, „laßt uns sie nicht preisgeben und uns nicht drängen lassen, i m Bruchteil eines Tages über viele Menschenleben, materielle Güter, Städte, Ansehen Beschluß zu fassen, sondern dieses i n ruhigem Bedacht tun". Oder, als nur noch ein weiteres Beispiel von zahllosen, den Bescheid der römischen Censoren des Jahres 92 v. Chr. über einen neuen Schultyp: „Unsere Vorfahren haben festgesetzt, was sie ihre Kinder lernen lassen und i n welche Schulen sie sie gehen lassen wollten. Diese Neuheiten, die gegen Gewohnheit und Sitte der Vorfahren gehen, mißfallen uns und dünken uns nicht recht. Schulleitern, Eltern und Schülern sei deshalb unsere verbindliche Meinung kundgetan, es mißfalle uns 4 ." Die Ideale liegen i n der Vergangenheit. Als Beginn der Geschichte ist gedacht das „Goldene Zeitalter" — vorgestellt als das „einfache ländliche Leben" i m kleinbäuerlichen Familienverband —, als ihr Ende die glückliche Heimkehr i n eben diesen Zustand erhofft. Als hierauf folgende älteste Phase ihres politischen Lebens haben sich Griechen wie Römer ein heroisches Zeitalter erfunden, i n welchem die Menschen Mühe und Plage, Kampf und Not hatten, aber rechtschaffen waren, aufrichtig und sittenstreng, vor allem tapfer und opferfreudig für das Gemeinwohl. Das Einsetzen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung — bei den Griechen nach 500 v. Chr., bei den Römern um 200 v. Chr. — kann nicht anders als solche Truggespinste zerstören, dies aber sozusagen nicht m i t rückwirkender K r a f t —: die Ehrwürdigkeit des Alten bleibt von der Entzauberung unberührt, bleibt Autorität und Leitbild. Selbst noch ein Autor der frühen Principatszeit, Vellerns Paterculus, kann auf die Idee verfallen, die Gründung überseeischer römischer Kolonien, eines der wichtigsten M i t t e l der Reichsbildung und Herrschaftsbehauptung, m i t Berufung auf die Weisheit der Vorfahren für eine äußerst 4

Suet. De gramm. et rhet. 25.

2 Geschichte und Zukunft

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Hermann Strasburger

verderbliche Neuerung der Zeit seit C. Gracchus zu erklären 5 . Die größte, zugleich bedachteste und verhältnismäßig durchgreifendste politische Reform, die des Augustus, versteht sich oder maskiert sich folgerichtig als eine Rückkehr zur besseren, lediglich zeitweise unterbrochenen alten Lebensform. Selbst Caesar hatte den Römern nicht Fortschritt verheißen, sondern die Rückgewinnung ihrer Freiheit, deren sie durch oligarchische Bedrückung zeitweise beraubt gewesen seien, und die Wiederherstellung der Achtung vor Sitte und Gesetz der Vorfahren 6 . Geschichtliche Argumente scheinen i n der Antike deshalb auch zumeist wirkungsvolle politische Argumente gewesen zu sein. Gebietsstreitigkeiten zwischen griechischen Städten wurden vor einem neutralen Schiedsgericht, unter Umständen m i t Hilfe von Geschichtsbüchern ausgetragen 7 . Es w i r k t e wahrscheinlich auch weder abgeschmackt noch gar lächerlich, wenn vor der Schlacht bei Platää i m Jahr 479 v. Chr. Tegeaten und Athener sich um den Platz am linken Flügel der griechischen Schlachtordnung stritten: beiderseits m i t der Aufzählung besonderer einstiger Verdienste um Hellas, fast alle übrigens aus rein m y t h i scher Zeit 8 . Oder wenn Caesar angab, m i t dem helvetischen Volksstamm der Tiguriner dafür abgerechnet zu haben, daß sie fünfzig Jahre zuvor ein römisches Heer vernichtet und dabei auch den Großvater seines Schwiegervaters getötet hatten 9 . Hinter dem schon beinahe zwanghaften Respekt vor aller Vergangenheit i m allgemeinen bleibt die Gewissenhaftigkeit der Kenntnisnahme von ihr bei den politischen Akteuren weit zurück, auch wenn sie sich zu Entschlüssen von großer Tragweite durch das geschichtliche Beispiel bestimmen lassen. Der weltgeschichtlich bedeutendste Fall i n dieser Hinsicht ist Alexander der Große, bei dem sich unbekümmerte Phantasterei in den großen Zielsetzungen und realistische Nüchternheit i m Detail der Ausführung mischen. Sein vom Vater Philipp ererbter Plan, Persien anzugreifen, steht wenigstens noch i n einer ernsthaften quasi militärwissenschaftlichen Tradition. Es war „der Zug der Zehntausend" i m Jahre 401, bzw. seine Beschreibung i n Xenophons Anabasis, aus welcher griechische und makedonische Staatslenker gelernt hatten, daß der hundert Jahre vorher noch als absurd verworfene Gedanke, die persische Riesenmacht zu besiegen, ausführbar sei 10 . Auch konnte hier echte Geschichte noch als überzeugender Rechtsgrund herhalten, wenn 5 Veil. Pat. 2,7,7. Vgl. 1,141 F. Vittinghoff, Rom. Kolonisation und Bürgerrechtspolitik unter Caesar u. Augustus, 1952, 95. 6 Bell. Civ. 1,5-7; 22. ι F. Jacoby, FGrHist Nr. 491 F 1. s Herodot. 9,26f. » Bell. Gall. 1,12,6. io Herodot. 5,49ff. Plut. Ages. 9. Polyb. 3,6.

Geschichte und Politik im Altertum

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Alexander seinen Eroberungszug als Rachekrieg für die hundertfünfzig Jahre zuvor von Xerxes zerstörten griechischen Tempel ausgab. Der Schwung, m i t dem Alexander und der makedonische Adel um ihn an die Ausführung gingen, stammt aber, wie aus ernsthafter Uberlieferung gut belegbar, nicht unwesentlich aus ihrer gemeinsamen Begeisterung für homerisches Heldentum; Achilleus war es, den Alexander selbst sich zum Leitbild erkoren hatte 1 1 . Er machte sich nicht einmal die Mühe, die seriöse Information Herodots über die Ostländer und Ägypten — die seinem Lehrer Aristoteles wohlbekannt war — zu konsultieren 1 2 ; stattdessen glaubte er an die Sagen von Zügen der Heroen Perseus und Herakles zum Ammonsorakel i n der libyschen Wüste, des Gottes Dionysos nach Indien und an die Fabeleien eines königlich-persischen Hofarztes, des Griechen Ktesias, über die angeblichen Expeditionen der Semiramis zum Ammon, nach Indien und durch das mörderische K l i m a der Wüste Gedrosiens (Belutschistan) und machte Wirklichkeit aus ihnen1®. Andererseits ließ er sich das Geschichtswerk des Syrakusaners Philistos nach dem Osten nachsenden 14 , doch wohl u m bei diesem Gefolgsmann zweier Tyrannen und Verehrer des Thukydides die nüchternen Rezepte der Gewaltherrschaft zu studieren. Mannigfaltig und geschichtlich vielfach von großer realer Tragweite war die Nachahmung, zu der Alexanders leuchtende Eroberergestalt zahlreiche griechische und römische Feldherren und Staatslenker herausgefordert hat 1 5 . Es sind hier bereits Beispiele zur Sprache gekommen, wie Geschichte i m Altertum verschiedene Funktionen erfüllen konnte: als Argument, als Vorbild, als Lehre oder als verpflichtendes Vermächtnis. Als letzteres konnte sie auch zum Verhängnis werden; w i r lesen bei Thukydides (5,112), wie die Einwohner der kleinen Inselstadt Melos ihre Treue zu den Idealen einer siebenhundert Jahre i n Freiheit verbrachten Vergangenheit m i t ihrem aussichtslosen Endkampf gegen die übermächtigen athenischen Belagerer besiegeln; bei Plutarch, wie die Xanthier i n Lykien bei der Eroberung ihrer Stadt durch M. Brutus i m Jahr 42 v. Chr. allen flehentlichen Beschwörungen des Siegers zum Trotz mitsamt Weibern und Kindern den Tod i n ihrer brennenden Stadt suchen. „So fügten sich", heißt es da, „die Xanthier nach einem langen Zeitraum i n eine gleichsam über sie verhängte Wiederkehr der Ver11

Homer und die Geschichtsschreibung, 1972, 41 f. Belege in meiner Besprechung von H. U. Instinsky, Alexander der Große am Hellespont, in Gnomon 23, 1951, 83 ff. 13 F. Jacoby, RE s. ν. „Ktesias", 2054 u. 2070. 14 Plut. Alex. 8,3 = Jacoby, FGrHist Nr. 556 Τ 22. 15 s. jetzt insbesondere die eindringende und ertragreiche Untersuchung von O. Weippert, Alexander-imitatio und römische Politik in republikanischer Zeit, Diss. Würzburg, Augsburg 1972. 12

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Hermann Strasburge

nichtung und riefen m i t ihrem wilden M u t die Erinnerung an das Schicksal ihrer Vorfahren wieder herauf. Denn auch diese hatten einst i n der Perserzeit auf die gleiche Weise ihre Stadt angezündet und sich selbst den Tod gegeben 16 ." Weitere Einzelgeschichten zum Thema, die sich i n großer Zahl aneinanderreihen ließen, w i l l ich nicht häufen. Es scheint m i r instruktiver, einen geschlossenen Komplex echt politischer Geschichte, i n welchen die Gunst der Quellen uns tiefere Einblicke ermöglicht, etwas genauer zu betrachten, und ich wähle dazu die Endphase der römischen Repub l i k i m Kampf m i t Caesar aus. Hier spielen Lehren der Geschichte, echte und vermeintliche, i n mannigfach interessanter Weise i n die politischen Entscheidungen ein. Die Animosität auf beiden Seiten, die eine friedliche Verständigung schließlich illusorisch macht und zum offenen Bürgerkrieg führt, w i r d vor allem durch das Mißtrauen genährt, es gehe den Protagonisten, Caesar und Pompeius, i n Wirklichkeit gar nicht u m eine politische Lösung des Konfliktes, sondern beiden u m ihre persönliche Machtergreifung. So steht für die politisch mitdenkenden Zeitgenossen i m Hintergrund immer das Schreckgespenst eines regnum: der Königsherrschaft, nach damaligen Gefühlen offenbar das Schlimmste, was über Rom kommen konnte, obwohl der Gedanke, daß n u r die starke Hand eines einzelnen das zerrüttete politische Leben aus der Krise herausführen könne, gerade i n den unmittelbar dem Bürgerkrieg vorausgehenden Jahren stark an Boden gewonnen hatte und Pompeius als für diese Rolle am ehesten geeignet häufig genannt worden war 1 7 . Der emotionale Widerstand gegen diese Idee, der nach der Eröffnung des Bürgerkrieges zu Anfang des Jahres 49 v. Chr. hysterisches Ausmaß angenommen zu haben scheint, entstammte den angeblich schlechten und i n diesem Sinne ein für alle Male gültigen Erfahrungen, die Rom i n seinen Anfängen m i t der Königsherrschaft gemacht habe. Bei aller Würdigung der republikanischen Freiheitsliebe bleibt die Beharrlichkeit dieser vorgeblichen Abneigung uns insofern unverständlich, als ja die legendäre Ausgestaltung der ältesten römischen Geschichte während des Gesamtverlaufes der Republik nur ständig bestrebt gewesen war, den ersten sechs der sagenhaften sieben Könige die Begründung der Mehrzahl der staatlichen Einrichtungen anzudichten, die zu allen Zeiten den Stolz der Römer ausmachten 18 . Negativ aufgeladen wurden die Vokabeln rex, regnum, regnare wahrscheinlich erst i n der politischen io Übers, v. K. Ziegler: Plut. Brut. 30f. Appian. Bell. Civ. 4,76,321-82,338. Herodot. 1,176. 17 Cie. ad Q. fr. 3,6(8),4-6. 3,7(9),3. Plut. Pomp. 54,5-9. Appian. Bell. Civ. 2,20,72; 25,95. Cass. Dio 40,45,5. Quint. Inst. Or. 9,3,95. is Liv. 2,l,2f.

Geschichte und Politik im Altertu

Polemik der ausgehenden Republik und vielleicht erstmals gegen Ti. Gracchus ausgespielt; hier begegneten auch schon die diskrimierenden Vergleiche m i t den berüchtigtsten griechischen Tyrannen, wie denn die griechische Tyrannis-Theorie noch i n den Kontroversen um Caesars Ermordung eine wichtige Rolle gespielt hat 1 9 . Was aber den vagen Ängsten vor einem möglichen Ende der republikanischen Verfassung wesentlich konkretere Nahrung gegeben hat als die grauen Gespenster sagenhafter Könige u n d Tyrannen 2 0 , das war zweifellos die von den Älteren noch v o l l miterlebte und -erlittene Geschichte der furchtbaren Bürgerkämpfe der sullanischen Zeit (88 - 81 v. Chr.). I n Ciceros aus der Zeit des caesarischen Bürgerkrieges besonders umfänglich erhaltenem Briefwechsel, aber auch i n den historisch erzählenden Quellen können w i r noch gut erkennen, wie inständig die u m die Klärung ihrer eigenen Parteinahme bemühten Häupter des politischen Lebens nun die Geschichte der letzten Jahrzehnte u m ein Orakel befragten. Natürlich wurden dabei auch die Erinnerungen an früheres Verhalten von Pompeius und Caesar selbst immer wieder sorgfältig durchmustert und interpretiert — insbesondere Caesars Consulat i m Jahre 59 w i r k t e sich jetzt aufs Neue ungünstig auf die Prognosen über sein Verhalten nach einem etwaigen Siege aus 21 —, aber eine besondere historische Chiffre i n dieser Diskussion war der Name Sulla. Er hatte den damaligen Bürgerkrieg durch die Proskriptionen i n Strömen von B l u t erstickt, als Dictator die Staatsordnung selbstherrlich reformiert, dann allerdings durch freiwilligen Rücktritt die Repub l i k wiederhergestellt. Was w a r demgegenüber jetzt von den Oberhäuptern der beiden Kriegsparteien zu erwarten? Inwieweit war Sullas Verhalten i m allgemeinen oder i m einzelnen für jeden von ihnen Leitb i l d oder Schreckbild? Das waren nicht nur theoretische Fragen an die Geschichte, es waren Fragen an Pompeius und Caesar selbst; beide fühlten jedenfalls, daß es politisch geraten war, Antworten gerade hierauf i n Umlauf zu setzen. Ihre geschichtliche Ausgangslage war dabei sehr verschieden. Pompeius: einst aktiver Sullaner und als solcher m i t dem Odium der grausamen Behandlung einzelner Gegner belastet — was jetzt nach dreißig Jahren auch wieder vorgebracht wurde —, i n der Zwischenzeit aber für humanes Gebaren als siegreicher Feldherr bekannt und jetzt auch der politische Vertrauensmann des Senates —: Pompeius traut sich die Autorität zu, den Lauen und von der Republik Abtrünnigen m i t einem Strafgericht nach Sullas Vorbild drohen zu 19 Zum Vorhergehenden klärend insbesondere C. J. Classen, Die Königszeit im Spiegel der Literatur der römischen Republik, Historia 14, 1965, 385 ff. Aus der älteren Literatur A. Rosenberg, RE s. ν. „Rex" (1914), 709 ff. 20 Cie. ad Att. 7,12,2; 20,2. 21 ad Att. 7,7,6f.

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dürfen 2 2 . Caesar hingegen, Verfolgter des sullanischen Regimes und auf seine enragierte antisullanische bzw. antioptimatische Vergangenheit verpflichtet, nunmehr als Angreifer und Staatsfeind der politischen Werbung i n weit höherem Maße bedürftig, verheißt i n den ersten Kriegsmonaten ausdrücklich, Sulla gerade nicht nachahmen zu wollen 2 3 , das heißt, er verspricht, allgemein Milde walten zu lassen und Leben und Besitz seiner Gegner zu schonen. Dieser klügeren Parole ist er auch i m Endsieg, entgegen den Befürchtungen selbst von Anhängern, i m Großen und Ganzen treu geblieben; aber er konnte dies sich auch deshalb leisten, w e i l er die geschichtliche Erinnerung an die sullanische Zeit als Schreckmittel i n der Hinterhand hatte, wie denn die grausige Wiederholung der Proskriptionen durch seine politischen Nachfolger i m Winter 43/42 es sicher nicht zum wenigsten gewesen ist, was die Überlebenden sich endgültig i n die Monarchie zu ergeben bewog. Für Sullas Verfassungstreue hatte Caesar nach dem Endsieg übrigens nur den Spott: Sulla habe sich durch die freiwillige Niederlegung der Dictatur als politischer Analphabet erwiesen 24 . I n besonders eigenartiger und folgenschwerer Weise ist auch der strategische Plan des Pompeius zu Beginn des Bürgerkrieges von zwei großen geschichtlichen Vorbildern inspiriert, auf die er sich ausdrücklich berief: Themistokles und wiederum Sulla. Themistokles war i m Jahre 480 v. Chr. anerkanntermaßen zum Retter Griechenlands geworden durch den die Kriegsgeschichte revolutionierenden Plan, das Gebiet seiner Vaterstadt Athen vor der Übermacht des persischen Landheeres kampflos zu räumen und den Feind damit zu der für ihn vernichtenden Seeschlacht i n der Meerenge bei Salamis zu verlocken 25 . Nach der allgemeinen griechischen Auffassung war die Zerstörung der Stadt der Inbegriff politischer Vernichtung und das K r i t e r i u m der endgültigen Niederlage, das themistokleische Strategem der vorgeplanten Rückeroberung eine unerhört kühne und von der griechischen Umwelt nach dem Erfolg entsprechend bestaunte Neuerung. Sullas Lage war insofern anders, als er Rom und Italien als Consul i m Jahre 88 sozusagen mitten i m Bürgerkrieg verließ, um seinem Staatsauftrag als Feldherr gegen die Invasion des Mithridates i n den Osten des Reiches nachzukommen und erst danach (fünf Jahre später) das Vaterland Italien zurückzuerobern. Ob Sulla an Themistokles dachte, ist uns unbekannt. Das Gemeinsame ist die aus irgendeiner politischen oder strategischen Rücksicht vorgeplante Preisgabe des staatlichen Kernbereiches zum Zwecke seiner siegreichen Rückgewinnung, gemeinsam auch der 22 23 24 25

ad Att. 9,10,6. Cie. ad Att. 9,7c,l. Cass. Dio 43,50,2. Suet. Caes. 77. Herodot. 7,139ff. Thuk. l,73f.

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Erfolg der beiden so völlig unkonventionellen Planungen. Diese historischen Vorbilder waren es, die Pompeius nach eigenen Aussagen ermutigten, Caesars Einmarsch i n das Staatsgebiet m i t der sofortigen kampflosen Räumung der Hauptstadt und Italiens zu beantworten, u m die militärischen und politischen Kräfte des Gesamtreiches und der östlichen Klientelstaaten gegen ihn zu mobilisieren 2 6 . Wie gefährlich dieser Plan für Caesar war, zeigt dessen Anstrengung, den Abzug des Pompeius aus Italien zu verhindern. Der Plan scheiterte an der halbherzigen Ausführung, das heißt dem verfrühten Angebot der offenen Feldschlacht bei Pharsalos, zu welchem sich Pompeius von den m i l i tärisch konventionell denkenden Oberhäuptern der Republik, die um i h n versammelt waren, nötigen ließ. Pompeius dachte — wie Caesar — rein strategisch und politisch, ermutigt durch geschichtliche Vorbilder, die trotz ihres Alters offenbar immer noch zu modern waren, um von seinen Standesgenossen begriffen zu werden. Aber diese zu belächeln wäre allzu billig; auch sie folgten den Geboten der Geschichte, nicht allerdings so sehr den politischen wie den moralischen. Zu Belegen, die sich vervielfachen ließen, hier nur wenige Sätze aus Briefen Ciceros an Atticus i n den ersten Monaten des Jahres 49: „Bei allen guten Göttern, was hältst Du vom Entschluß des Pompeius? Ich meine den, die Stadt i m Stich zu lassen; m i r ist das rätselhaft. Nichts ist doch unsinniger! Du also w i l l s t die Stadt preisgeben? Folglich auch wenn die Gallier kämen? Dazu sagt er: ,der Staat besteht nicht i n den Mauern'. Aber i n den Altären und Herdstätten. ,Themistokles', sagt er, ,hat es getan'. Gewiß, denn die eine Stadt konnte nicht die F l u t der gesamten Barbaren weit aufhalten; aber Perikles hat dasselbe eben nicht getan, ungefähr fünfzig Jahre später, obwohl er außer den Mauern nichts mehr hielt, und die Unsrigen haben seinerzeit (beim Galliersturm), nachdem bereits die übrige Stadt erobert war, wenigstens noch die B u r g gehalten — ,so jedenfalls lautet die rühmliche Kunde von tapferen Männern' 2 7 ." Und i n einem späteren Brief: „Wie oft war doch von Pompeius zu hören: ,Sulla hat es gekonnt (gemeint: Italien zurückzuerobern), soll ich es etwa nicht können?' I n meinem Gedächtnis aber hafteten jene Beispiele: Übel Tarquinius, der (den Landesfeind) Porsenna, der den Octavius Mamilius gegen das Vaterland herbeirief; gewissenlos Coriolan, der sich Hilfe von den Volskern holte; recht handelte Themistokles, der zu sterben vorzog, verrucht Hippias, des Peisistratos Sohn, der i n der Schlacht bei Marathon i m Kampf gegen sein Vaterland fiel. A n se Cie. ad Att. 7,11,3. 8,2,2; 3,3; 8,2; 11,2. 9,7,4; 9,2; 10,3. 10,8,4. Plut. Pomp. 63,2. 84,5. Appian. Bell. Civ. 2,205. Ed. Meyer, Caesars Monarchie u. d. Principat d. Pomp., 31922, 299 ff. M. Geizer, Pompeius, 1949 (1959), 201. 27 ad Att. 7.11.3.

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dererseits Sulla, Marius, Cinna, jeder für sich moralisch i m Recht, vielleicht sogar juristisch; aber was war grausamer, was unheilvoller als ihr Sieg? Das ist die A r t von Krieg, der ich zu entgehen suchte, um so mehr als ich sah, daß noch Grausameres erwogen und vorbereitet wurde. Ich, den Viele den Retter, ja den Vater dieser Stadt nannten, sollte ich denn die Truppen der Geten, Armenier und Kolcher gegen sie heranführen? Ich meine Mitbürger dem Hunger, Italien der Verwüstung preisgeben! Bedachte ich doch, daß dieser Mensch (Caesar) ein Sterblicher sei und auf viele A r t und Weise vernichtet werden könne, daß aber die Stadt und unser Volk für die Unsterblichkeit bewahrt werden müßten, soweit dies bei uns stehe, und wiegte ich mich doch i n der Hoffnung, es werde zu irgendeiner Verständigung kommen, ehe der eine von ihnen so viel Verbrechen, der andere so viel Schande auf sich laden werde. Jetzt ist alles vollständig anders, anders auch mein Sinn. Die Sonne — wie Du einmal i n irgendeinem Brief das gesagt hast — scheint m i r aus dem Weltall herausgefallen zu sein 28 ." Hier ist — lediglich m i t besonderer Leidenschaft — einem Gefühl Ausdruck gegeben, welches, wie aus der ciceronischen Korrespondenz reichlich zu belegen, viele Angehörige der römischen Oberschicht damals beherrschte: dem Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen, und man übertreibt wohl nicht, wenn man es dahingehend interpretiert, daß die A k t i v e n unter den Republikanern ihre Vergangenheit, ihre Geschichte gegen eine neue, ihnen noch nicht faßliche politische Daseinsform verteidigten. Wer findet, daß die Weltgeschichte ihnen unrecht gab, möge immerhin der Tapferkeit Achtung zollen, m i t der damals viele von ihnen für ihr geschichtliches Ideal zu sterben sich bereitfanden. A l l e i n i m letzten Aufflammen des bewaffneten Widerstandes gegen Caesars Herrschaft, der Schlacht bei Munda i n Spanien (im Jahr 45), sollen nach dem schwerlich ganz zu entkräftenden Zeugnis eines M i t erlebenden 29 , welches aber antike wie moderne Historiker gleichermaßen m i t Schweigen übergehen, dreitausend Angehörige des römischen Ritterstandes „teils i n Rom, teils i n der Provinz (Spanien) beheimatet" auf pompeianischer Seite gefallen sein 30 . Ich sprach davon, daß sich, soweit w i r es noch erkennen können, offenbar viele antike Historiker weniger als Gelehrte, das heißt als Erforscher zweckfreier Wahrheiten verstanden, denn als Lehrmeister 28 ad Att. 9,10,3. 2» Bell. Hisp. 31,9; vgl. 26,2; 33,2. 80 Die Zahl erscheint fast unglaubhaft hoch; der Tatbestand an sich läßt die übliche Auffassung, der Ritterstand der späten Republik sei die Schicht der politisch überzeugungslosen Geschäftsleute, ergänzungsbedürftig erscheinen und wirft ein Schlaglicht auf den Grad der friedlichen Romanisierung Spaniens vor Caesar — vgl. bes. Bell. Alex. 48 - 64.

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der Menschheit für rechtes politisches und militärisches Handeln; ich führte sodann Beispiele an für bestimmte Schlußfolgerungen, welche sich Politiker und Strategen aus dem Erfahrungsschatz der Geschichte ableiteten. Dazwischen blieb die Frage noch unbehandelt, ob und inwieweit antike Historiker selbst ganz bestimmte Lehrmeinungen explizit niedergelegt haben, durch deren gewissenhafte Befolgung dem Handelnden das Heil i n allen einschlägigen Lebenslagen verbürgt sein sollte, oder ob es ihnen mehr um eine allgemeine Schulung der prognostischen und kombinatorischen Fähigkeiten für Politik und Kriegskunst ging. Soweit die Tatsache, daß uns von der überaus großen und vielseitigen historiographischen Literatur des Altertums nur ein verschwindender Bruchteil erhalten ist, Verallgemeinerungen erlaubt, würde ich meinen, daß antike Geschichtsschreibung, je höher sie stand, desto undogmatischer und rezeptfreier war, daß sie Erfahrung und Denkschulung, nicht aber feste Lehrsätze und starre Gebrauchsanweisungen vermitteln wollte. So jedenfalls Thukydides, dessen explizite Lehre sich auf die Grundgesetzlichkeiten der menschlichen Natur und politischen Dynamik beschränkt; so auch Herodot, der beispielsweise zwar den drei Grundtypen der Staatsverfassung ihre jeweilige festbestimmte Symptomatik zuordnet, aber sich vor jeder Andeutung hütet, welche Verfassung er persönlich für die bessere hält (3,80 - 82). Sehr anders Polybios, der sich immer wieder weitschweifig über den allgemeinen Nutzen historischer Belehrung verbreitet, m i t Lob und Tadel für Personen und Institutionen nicht zurückhält, desgleichen nicht m i t seinen persönlichen Deutungen der Ursachen von Erfolg oder Mißerfolg i m einzelnen, von Aufstieg und Niedergang der Völker i m Großen —: insgesamt ist vielleicht das Urteil eines vorzüglichen Polybios-Kenners nicht überspitzt, „daß Polybios' Werk sich schließlich nicht nur als eine Geschichtserzählung, sondern zugleich als eine A r t Handbuch der politischen und militärischen Wissenschaften darstellt" 3 1 . Der beklagenswerte Erhaltungszustand der antiken Geschichtsschreibung verwehrt uns eine Feststellung, ob die Mehrzahl der politischen Historiker des Altertums hinsichtlich des Lehrgehaltes und -anspruches ihrer Werke mehr der thukydideischen Unausgesprochenheit oder der polybianischen Ausgesprochenheit zuneigte. Letztere zeigt gewiß auch eine allgemeine Weiterentwicklung des Zeitstils und m i t i h m des Historikergeschmackes an, aber w i r können uns nicht darauf verlassen, daß das bis zum Ende des Altertums so weiterging. Die wenigen beai Κ . Ziegler, RE s. ν. „Polybios", 1502 f., wo ausführliche Belege für diese Charakteristik sich insbesondere S. 1489 - 1495, 1501 - 1515, 1552- 1557, 1571 finden; s. auch K.-E. Petzold, Studien zur Methode des Polybios und zu ihrer historischen Auswertung, 1969, 3 ff., 135 ff., vgl. sein Register unter „Methode", „Nutzen", „Polybios, Konzeption v. d. Geschichtsschreibung" usw.

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deutenden römischen Historiker, über die uns i n dieser Hinsicht Aussagen möglich sind, Sallust, Livius und Tacitus, kehren wieder entschieden zur altgriechischen (und ja wohl auch altrömischen) Verhaltenheit zurück. Der letzte große unter den antiken Historikern, Ammianus Marcellinus, stellt sich wieder i n die Linie der polybianischen Explizitheit; allerdings ist er stärker an lebensvollen Erinnerungsbildern und mehr an den moralischen Exempla als an den politischen interessiert 3 2 . Daß der Versuch, die Lehren, die so umfangreiche und bedeutende Geschichtswerke ihren antiken Lesern zu vermitteln bestimmt waren, inhaltlich zu referieren, hier nicht einmal i n einer repräsentativen Auswahl unternommen werden kann, w i r d einleuchten. Nur einen einzigen antiken Geschichtsschreiber möchte ich abschließend noch stärkerer Beachtung i m Sinne unseres Themas empfehlen. Es ist der Grieche bzw. Provinzialrömer Cassius Dio, hoher Reichsbeamter unter der Severer-Dynastie, der eine sehr umfängliche Römische Geschichte von den Anfängen bis auf seine eigene Zeit verfaßt hat (753 vor bis 229 nach Christus), von der uns etwa ein Drittel erhalten ist. Die Gelehrten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schätzten dieses betont nüchterne und sehr fleißige Werk vor allem als Ersatz für die von i h m benutzten uns verlorenen älteren Geschichtswerke (darunter L i vius) und als tüchtige, von echtem politischen Verständnis zeugende Darstellung seiner eigenen Zeit. Auch sein theoretisches Eintreten für die Monarchie und die i n die Geschichte des Augustus verwobenen Reformgedanken, m i t denen er offenkundig seine eigene Zeit anspricht, fanden immer Beachtung, ebenso — freilich eher m i t Mißbilligung — Dios penetrante stilistische Nachahmung des Thukydides, die hinter dem hohen Vorbild so augenfällig zurückblieb 33 . I n den letzten Jahrzehnten bahnt sich eine differenziertere anerkennende Würdigung an 3 4 . Dio verdient sie. Er ist weit mehr als nur selbstgefälliger und trivialer Nacherzähler besserer Autoren. Immerhin hat er es unternommen, 32 s. bes. J. Vogt, Ammianus Marcellinus als erzählender Geschichtsschreiber der Spätzeit, Sb. Mainzer Akad. d. Wiss. 1963, Nr. 8. Vgl. A. Demandt, Zeitkritik und Geschichtsbild im Werk Ammians, Diss. Marburg, Bonn 1965, 1 ff. K. Rosen, Studien zur Darstellungskunst und Glaubwürdigkeit des Ammianus Marcellinus, Diss. Heidelberg 1968, 228 ff. 33 Repräsentativ für die ältere Forschung: Ed. Schwartz, RE s.v. „Cassius Dio Cocceianus" (1899), der für die Quellenanalyse immer noch unentbehrlich ist. Viel anerkennender bereits Ed. Meyer, Caesars Monarchie u. d. Principat d. Pomp., 31922,610f. 34 s. bes. E. Gabba, Sulla Storia Romana di Cassio Dione, Riv. Stor. Ital. 67, 1955, 289 ff. Ders., Progetti di riforme economiche e fiscali in uno storico dell· età dei Severi, in: Studi in onore di A. Fanfani, 1962, 5ff. J. Bleicken, Der politische Standpunkt Dios gegenüber der Monarchie, Hermes 90, 1962, 444 ff. F. Miliar, A Study of Cassius Dio, 1964.

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rund tausend Jahre römischer Geschichte einer geschlossenen politologischen Deutung zu unterwerfen und aus diesem Lehrstoff ein eindeutiges Rezept für seine eigene Zeit abzuleiten, m i t einer Selbstgewißheit der Urteilsabgabe, die Polybios übertrifft und i n ihrer Weise originell ist. Wer letzteres bestreiten wollte 3 5 , müßte den oder die Namen antiker Autoren nennen, denen Dio diese großräumige Konstruktion verdanken könnte: ich weiß keinen. Wenn die Konzeption, über die ich gleich berichten werde, als Ganzes nicht so recht wahrgenommen worden zu sein scheint, so wohl, erstens, w e i l die starke Fragmentierung des Werkes einen Teil ihrer Spuren verwischte; zweitens, weil sie i n ihren Grundzügen so gut zu der uns aus dem 19. Jahrhundert überkommenen jetzigen communis opinio über die innere Logik der römischen Geschichte paßt 3 6 , daß sie gar nicht als etwas Besonderes erschien. Auch Dios Thukydides-Nachahmung ist keineswegs so oberflächlich, sondern sozusagen seine geschichtsphilosophische Grundlegung und der weitere Gedankenrahmen eben dieser Konzeption, für die er übrigens auch gar nicht ungeschickt Argumente aus Herodot herangeholt hat 3 7 . Er hat seinen Thukydides auch nicht schlechter verstanden als Friedrich Nietzsche, welcher ebenfalls stolz darauf war, die geheimsten Gedanken des Thukydides erraten zu haben, aber den Augenschein eines kruden „Macchiavellismus" bereits für den Hintersinn hielt 3 8 . Und wenn es i n Dios Text ständig vor den Augen des Lesers nur so schwirrt von thukydideischen und anderen klassischen Gedankensplittern — übrigens durchaus nicht i n sklavischer Abhängigkeit der Wortlaute —, so sollen offenbar damit nicht selten Gedanken und Situationen der Vorlagen i n die Phantasie eines historiographisch beschlagenen Lesers mitheraufbeschworen werden: Athen, Perikles, der Melierdialog und anderes mehr den römischen Zusammenhängen eine echt historische Tiefendimension verleihen. Schon die uns i m Originaltext des Dio verlorenen ersten fünfunddreißig von insgesamt achtzig Büchern, welche bis zum Jahre 70 v. Chr. einschließlich geführt hatten, waren, wie selbst die sprunghaften byzantinischen Excerpte noch überdeutlich zeigen, dicht i n die Atmosphäre 35 So Miliar, 76 f. 36 Daß diese mindestens bis auf Montesquieu (Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, 1734) zurückgeht, bemerkt Chr. Meier, Res Publica Amissa, 1966, 3. Montesquieu seinerseits, wie mir eine Durchsicht der Considérations zeigt, scheint sie aber bei Dio, den er für Anderes häufig zitiert, nicht bemerkt zu haben. 37 Zeigt fr. 1,3 Melber ( = 1,3 Boissevain, 1,3 Cary) sogar Benutzung des Antiochos von Syrakus für die Urgeschichte Italiens: FGrHist Nr. 555 F 2? 38 Götzendämmerung, Was ich den Alten verdanke, Nr. 2. Vgl. Morgenröte 3, Nr. 168.

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dieser quasi-thukydideischen Problembewußtheit gehüllt. Dios Zentralthema, das der zweckmäßigsten Staatsverfassung, begegnet gleich von Anfang an über diese ersten siebenhundert Jahre römischer Geschichte verstreut i n zufällig von den Excerptoren herausgepickten Sentenzen immer wieder. I n der Darstellung der sagenhaften Ständekämpfe wurde als Warnung vor der außenpolitischen Schwächung eines aufstrebenden Staatswesens durch inneren Zwist das thukydideische B i l d der sich selbst zerfleischenden athenischen Demokratie evoziert 39 . Die römische Senatsdebatte über den Entschluß zum zweiten punischen Krieg w i r d stark nach dem Gang der thukydideischen Verhandlung i n Sparta vor Ausbruch des peloponnesischen Krieges schematisiert 40 , und soviel Nachäffung könnte i n der Tat ärgern, erklänge hier nicht bereits leitmotivisch ein Kerngedanke von Dios Auffassung der römischen Welteroberung: die Lehre des Thukydides nämlich, daß die Beherrschung der Schwächeren durch den Stärkeren ein ewiges Grundgesetz der Natur sei 41 . Eben diesen Gedanken legt Dio später Caesar i n den Mund, als Motto zur Eroberung Galliens (38,36,3), und erhebt damit Caesar i n diesem Sinne zur Symbolfigur der Reichsidee (der altrömischen Interpretation der Reichserweiterung als einer stets nur gerechten und defensiven scheint Dio keinerlei Realitätsgehalt beizulegen) 42 . Es geschieht dies i n einer vom Historiker frei erfundenen ungewöhnlich langen und m i t thukydideischen Gedanken, besonders aus den Reden des Perikles, dicht gespickten Rede Caesars an seine Offiziere vor der Schlacht m i t Ariovist (38,36 - 46), sozusagen als gedankliche Quintessenz des gallischen Krieges, wie Dio ihn sieht: als einen gnadenlosen Eroberungs- und Raubkrieg, den Caesar aus rein persönlicher Machtgier entfesselt und immer wieder aufs Neue anfacht, sobald er einzuschlafen droht 4 3 . Und so läßt Dio Caesar i n dieser Rede ausführen, daß Machtkampf und Expansionsdrang i m Leben der Völker Naturgesetz seien, Präventivkriege daher auch gegen einstweilen noch friedliche Nachbarn zweckmäßig; Rom sei aus kleinsten Anfängen groß geworden durch die Einsicht, daß starke Völker siegen und reich werden, tatenlose verarmen und untergehen, und diese Überzeugung sei auch die sicherste Garantie für die Zukunft. Dio ist kein Zyniker, sondern ein gottesfürchtiger Mann und verantwortungsbewußter Reichsbeamter, der der gütigen und gerechten 3» Fr. 16,3 Me. = 17,3 Β. = 4,17,3 C. Thuk. 2,65,12. 40 Fr. 54 Me. = 55 Β. = 13,55 C. Thuk. 1,76; 80ff. 41 Fr. 54,1 Me. = 55,1 Β. = 13,55,1 C. Thuk. 1,76,2. 4,61,5. 5,89 u. 105,2. F. Miliar, a.O. 82. 42 Anders E. Gabba, Riv. Stor. Ital. a.O. 301-311; F. Miliar, a.O. 82; K. Christ, Caesar und Ariovist, Chiron 4, 1974, 278. 43 38,31-40; 43 passim.

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Herrschaft eines Marc A u r e l 4 4 nachtrauert und dem jüngeren Cato — allerdings als ungefähr einzigem Politiker der caesarischen Epoche — moralische Ehrfurcht bezeigt 45 . Aber er setzt seinen Stolz darein, alles politische Leben m i t dem Pessimismus zu betrachten, den er selbst als den einem guten Staatsmann und Historiker anstehenden Wirklichkeitssinn verstanden haben würde. So sind auch i n dieser Caesar angedichteten Rede nicht einfach pseudo-thukydideische Phrasen m i t i h m durchgegangen, sondern sie ist ein tragender Pfeiler i n der Gesamtkonstruktion seines Geschichtsbildes. Es ist ein Vorverweis darauf, daß Caesar, wiewohl nach Dios gesamter Darstellung seines politischen Aufstiegs ein grundschlechter Charakter, der lediglich die Maske der Humanität geschickter als andere zu tragen weiß 4 6 , bis ihm am Ende die gespielte d e m e n t i a i n eine partiell echte übergeht 47 , — daß dieser Mann dennoch sich schließlich als der einzige seiner Zeit herausstellte, der die Lehren der Geschichte und damit das Gebot der Stunde verstanden hatte; es lautete: kraftvolle Führung von Staat und Reich durch einen einzelnen, der überlegene Stärke m i t überlegener politischer Einsicht verbindet. Die über Thukydides hinaus an Aristoteles' Politik gemahnende philosophische Begründung hatte Dio Caesar selbst i n den Mund gelegt (in seiner Rede vor den meuternden Soldaten i n Placentia, i m Jahr 48: 41,33): Wie i n allen Lebensbereichen Autoritätsverhältnisse sich als notwendig erweisen, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Ärzten und Patienten, Steuerleuten und Matrosen, so sei auch allgemein das Führen und Geführtwerden von der Natur der Menschheit zu ihrer Rettung eingerichtet. So lautet Dios Schlußurteil über Caesar, vor der Schilderung der Verschwörung gegen i h n i n die Darstellung eingerückt (44,1 - 2): Caesar war i m Recht und seine Mörder i m Unrecht, w e i l „Demokratie" (so nennt Dio die römische Republik ständig) zur segensreichen und dauerhaften Führung eines großen Reiches unfähig ist. Denn da i n einem solchen zu viele Anschauungen, Interessen und ökonomische Kräfte einander widerstreben, ist es bei demokratischer Staatsform unmöglich, die Maße der Vernunft einzuhalten, noch unmöglicher aber, ohne Vernunft die Eintracht zu bewahren. Leichter sei es, einen einzigen geeigneten Mann als viele zu finden. Bestand habe letztlich nur und sinnvoll sei deshalb nur die — von Caesar selbst noch nicht konsequent und rücksichtslos genug durchgesetzte 48 — Alleinherrschaft. Das lehre alle Geschichte: die der Griechen, der Barbaren und auch die der Römer 44 45 4β 47 4S

72,34-36 B. = C. 37,22. 43,lOf. 38,11. 40,66,4-41,3. 42,8. 41,62f. 43,12f. Vgl. 76,8,1.

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selbst. Dios emphatische Betrachtungen über die geschichtliche Bedeutung der Schlachten bei Pharsalos und Philippi unterstreichen diesen Gedankengang und zeigen die durchdachte Einheit seiner Gesamtdeutung der römischen Geschichte 49 . Die Vervollständigung und Differenzierung dieses Räsonnements ist i n der m i t Recht schon vielbeachteten Redengruppe aufzusuchen, i n der Dio nach dem Vorbild zweier berühmter Herodot-Szenen die beiden engsten Mitarbeiter des Augustus, Agrippa und Maecenas, dem neuen Herrscher Ratschläge zur Gestaltung der Principatsverfassung erteilen läßt 5 0 . Agrippas Rede zugunsten der „Demokratie" ist (wohl absichtlich) etwas schwach gehalten, sein bestes Argument — mit Berufung auf die athenische Demokratie und deutlichem Bezug auf Herodot (3,80,6 und 5,78) — die freiwillige Leistungsbereitschaft aller für die gemeinsame Sache. I n der Rede des Maecenas, dem großen Plädoyer für die Monarchie, ist diesem Gesichtspunkt insoweit Rechnung getragen, als i n einer hierarchisch gegliederten Leistungsgesellschaft der Monarch die oberen Stände, erweitert um die wertvollsten Kräfte aus dem Gesamtreich, i n stärkstem Maß zur Mitarbeit (und damit Mitverantwortungsfreudigkeit) i n der Reichsverwaltung heranziehen und auch für die unteren Stände ausreichende Anreize zur Loyalität schaffen soll (52,25,4). Doch finden sich i n diesem Zusammenhang noch zwei wichtige Bemerkungen, die sich m i t der früheren, vor Caesars Ende eingelegten kritischen Vergleichung der Demokratie m i t der Monarchie zu einer echt historischen Diagnose des Schicksals der römischen Republik verbinden: Wie auch die Geschichte des klassischen Athen zeige, sei die Demokratie die geeignete Verfassung, einen kleinen Stadtstaat zum Aufschwung zur Großmacht zu beflügeln (Gründe bei Herodot, s. o., nachzulesen). Eben dieses habe sich an Rom, bis zu seiner Eroberung Italiens einschließlich, bewahrheitet: für die noch kleine Bevölkerung war die Republik die bessere Staatsform. Das Weltreich jedoch sei i n soviel Freiheit nicht mehr zu beherrschen gewesen und habe dringend der Leitung durch eine starke Hand bedurft 5 1 . Augustus habe sich durch die Schicksale seiner Vorläufer belehren lassen und eine glückliche Mischform aus Monarchie und Demokratie geschaffen 52 . Hat man diesen roten Faden der dionischen Gesamtauffassung einmal i n der Hand, so zweifelt man bei diesem Schematiker kaum noch, i n 4» so 51 52

41,57. 47,39. Herodot. 3,80ff. 7,8ff. Dio 52,1-41. 52,9,2; 15,6; 16,1. 53,19,1. 52,17,3; 41,1. 56,43,4.

eschichte und Politik im Altertu

welchem Sinne er die uns verlorene Geschichte Sullas geschrieben hatte. Darüber könnte der erste Augenschein der byzantinischen Excerpte täuschen, die von ihr fast nichts als die Schrecknisse übriggelassen haben, vor allem natürlich die der Proskriptionen. Doch von diesen, die Dio nicht i n sein sonstiges B i l d von Sulla einzuordnen weiß, abgesehen, scheint er i h n als Staatsmann und Charakter gerade günstig beurteilt zu haben 5 3 ! So bleibt der Hypothese Raum — da sehr viel fehlt —, er habe Sulla als Vorläufer Caesars auf dem Weg zur M i l i t ä r monarchie gewürdigt 5 4 . Eine genauere Durcharbeitung des Gesamttextes, vor allem auch der Fragmente aus den ersten dreieinhalb Dekaden des Werkes, würde noch weitere Stützpfeiler dieses Gebäudes zu Tage fördern. Für die Beweissicherung ist dies so entbehrlich wie die Ausgrabung der vierten Ecke eines Römerkastells. Zur besseren Nuancierung des historischen Gedankenganges könnte wahrscheinlich eine m i t respektvollerer Erwartung erneuerte Interpretation der jeweiligen Absicht von Dios t h u k y dideischen, herodoteischen und sonstigen historiographischen Assoziationen führen; das aber hieße den Rahmen meiner jetzigen Aufgabe gänzlich verlassen. Hier genüge, an einen antiken Praktiker der Politik erinnert zu haben, der seine historischen Studien zu einer Gesamtansicht der römischen Geschichte zusammengefaßt und daraus Reformvorschläge an seine eigene Zeit abgeleitet hat. Dios Lehre von der anfänglichen Effizienz der stadtrepublikanischen Verfassung für Roms Machtentfaltung, der ihr jedoch zwangsläufig folgenden Unzulänglichkeit eben dieser Verfassung für das Reich und der hieraus wieder resultierenden Unentbehrlichkeit der Monarchie, die als Erster klar erkannt zu haben das überzeitliche Verdienst Caesars war, — diese These sagt den Althistorikern vom Fach nur, was sie sich ohne Dios Hilfe längst selbst gedacht hatten 5 5 . Wären sie anderer A n sicht als er, hätten sie die seinige längst beachtet und vermutlich auch angemerkt, daß sie, entstanden i n einem Zeitalter der etablierten Monarchie und von einem Diener der Monarchie an einen Monarchen gerichtet, mehr vaticinium ex eventu als echte Schlußfolgerung aus geschichtlicher Erfahrung sei. Das erinnert uns allerdings daran, daß auch die neuzeitliche communis opinio sich i n einer Blütezeit der monarchischen Idee verfestigte und 53 Fr. 100,4 u. 105,1 Me. = 102,4 u. 109,1 B. = 30-35, 102,4 u. 109,1 C. 52,13,5. 54 Vgl. 36,34,3. 37,20,6. 43,50,1. 75,8,1 B. = 76,8,1 C. Zur Dictatur vgl. fr. 15-16 Me. = 16-17 Β. = 4,16-17 C. 55 Vgl. meine ausführliche Wiedergabe und wissenschaftsgeschichtliche Analyse der Konzeption von M. Geizer in: J. Bleicken, Chr. Meier, H. Strasburger, Matthias Geizer und die römische Geschichte, FAS ( F r a n k ! Althist. Stud.) Heft 9, 1977.

Hermann Strasburge

i n der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch noch einmal überdacht werden sollte. Denn einem Dio jedenfalls würden w i r doch w o h l nicht gern zugestehen, m i t seiner monocausalen Diagnose der römischen Krise allen modernen Großdemokratien auch gleich das Urteil m i t gesprochen zu haben. Oder sollen w i r uns überhaupt enttäuscht von den Lehren der Geschichte abwenden, w e i l sie so oft getrogen haben, bzw. zu viele Möglichkeiten der Selbsttäuschung offenlassen? Thukydides scheint demgegenüber gedacht zu haben, daß die Lehre der Geschichte nicht i n der Anleitung zum richtigen Wissen, sondern i n der zum rechten Lernen besteht.

VERGANGENHEIT U N D Z U K U N F T I M GESCHICHTSDENKEN DES MITTELALTERS* Von Hubert Mordek Gerd Teilenbach, Vorbild und Förderer, zum 17. I X . 1978.

Resignierend fast wie der Althistoriker könnte der Mediävist sich grundsätzlich fragen: Hat denn das Mittelalter überhaupt etwas zu t u n m i t dem Thema unserer Ringlesung, m i t dem Thema: Geschichte und Zukunft? Mittelalterliche Schulen und Universitäten kennen ja so etwas gar nicht wie Geschichte als eine selbständig etablierte Wissenschaft. Man weiß nicht einmal genau, wo denn das Brünnlein flöß, an dem auch die Historie — eben unter vielen — ihren damals noch bescheidenen Durst stillte. Nur daß dieses Wasser nicht den höheren Regionen entsprang, daß es vielmehr — um i m Bilde zu bleiben — i m unteren Bereich der Trivia so dahinplätscherte und daß es das kleine historische Rinnsal eigentlich nie zu einem großen mächtigen Strom brachte, dem andere dienten, nicht er anderen, — diese vielleicht saure Erkenntnis ist zum Gemeingut unseres gegenwärtigen Wissens über das Fach Geschichte i m Mittelalter geworden. Resignation also — und damit Ende unseres Vortrags? Dem wäre wohl so — käme nicht Rettung durch niemand und nichts anderes als durch diese unsere Geschichte selbst, die stets mehr sein w i l l als das Produkt trockener Zunftgelehrsamkeit, stets mehr als sezierende, i m Endeffekt skelettierende Wortanalyse welcher Wissenschaftstheorie auch immer: Geschichte als das je pulsierende Leben der Menschen, wie es immer gewesen, wie es Früheren zugänglich war i m eigenen Erleben, i n Sagen und Mythen, i n Wort, B i l d und Schrift, und wie es uns Heutige noch tangiert i m Wissen u m das wesenhaft Verwandte von Einst und Jetzt. * Dem Uberblickscharakter des für ein breiteres Publikum gedachten Vortrags entsprechend wurde auf Einzelbelege verzichtet. Ich hoffe, das Thema später in erweiterter Problemstellung und mit vermehrtem Quellenmaterial ausführlicher behandeln zu können. 3 Geschichte und Zukunft

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Hubert Mordek I.

Der Historiker hat es m i t Vergangenem zu tun, eine heute ebenso beifallssichere Feststellung wie etwa jene, der Juwelier habe es m i t Gold zu tun. Halten w i r uns heraus aus dem Streit, ob alles Vergangene auch Geschichte sei, irreversibel gilt: Alle Geschichte ist vergangen, vor kurzem, lange schon, das bleibt — allgemein gefragt — unerheblich. Dem Historiker und also auch dem Mediävisten w i r d niemand seine Vergangenheit streitig machen wollen. Aber die Zukunft? Vergangenheit und Zukunft i m Denken, i m Geschichtsdenken des Mittelalters — m i t der Zukunft verbinden w i r doch gemeinhin das Ungewisse, das, was erst noch kommen soll, das: Es hat sich noch nicht ereignet. Dieses „Noch nicht" als das Zukünftige ist weder lesbar noch faßbar, weder interpretierbar noch verstehend nachvollziehbar. Was also — so drängt sich als zweite Vorfrage auf — geht den Historiker, gar den mittelalterlichen Historiker die Zukunft an? U m allzugroße Erwartungen zu dämpfen: W i r glauben nicht jenen, die da meinen, Vergangenheit und Zukunft verbinde eine Brücke der Erkenntnis, die sich nennt: Lehren für die Gegenwart, und der Historiker als der Sachverständige für die Vergangenheit habe auch das A m t des Brückenbauers, sprich das Augurenamt für die Zukunft anzutreten. Nach diesem platonischen Schema, das hier so ganz dem landläufigen Wunschdenken entgegenkommt, würde der Historiker — und es w i r d einem doch warm und kalt dabei — verdächtig i n die Nähe des Meteorologen gerückt: morgen Regen, übermorgen Sonnenschein — und vielleicht stimmt sie sogar manchmal, die Voraussage. Nein, selbst Fach-Menschen irren, wenn es um die Zukunft geht. M i t Prophetie des Irdischen hat unser Sinnen nichts gemein. Abgewehrt sei auch nochmals das mögliche Mißverständnis, als wollten w i r dem mittelalterlichen Historiker gleichsam bei der Arbeit über die Schulter sehen, u m herauszufinden, wie er es nun anstellte, aus der Anschauung, aus dem Bedenken der vergangenen Wirklichkeit zur Substanz der Geschichte vorzustoßen, zu ihrem Wesen, das — so verstanden — letztlich m i t gründet i m Wissen um eine offene Zukunft. K a r l Dietrich Erdmann hat i n seinem vielbeachteten Duisburger Vortrag über „Die Zukunft als Kategorie der Geschichte" eben diesen Einblick zu geben versucht i n die als kritisch empfundene Situation der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft und i n grundsätzlicher, bohrender Reflexion fünf seiner Meinung nach legitime Frageweisen herausgestellt, i n denen die Zukunft als Kategorie der Geschichte fungiere (ich darf sie kurz ins Gedächtnis zurückrufen): die existenzielle (sie ist auf das Sein des Menschen bezüglich), die prognostische (hier kommen die spezifisch menschlichen Verhältnisse i n den Blick — wie w i r d es

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weitergehen?), die pragmatische (d. i. die Frage nach dem sinnvollen T u n i n einem nach Ursachen und Folgen ablaufenden Geschehen), die teleologische (welches Ziel hat dieses menschliche Geschehen?) und schließlich die eschatologische Frageweise (die — eigentlich übermenschliche — Frage nach dem Ende aller Geschichte). Es hat uns hier nicht zu interessieren, ob nicht schon die einfach scheinende Prämisse fraglich bleibt, daß nämlich die Zukunft i m Sinne einer Kategorie als unabdingbare Grundform für jede Möglichkeit sinnvoller Beschäftigung m i t der Historie zu gelten habe, — diese Problematik gehört i n eine allgemeine Debatte über die Struktur menschlich-geschichtlichen Erkennens schlechthin. Wichtig ist für unsere Fragestellung, daß ein Versuch, den W i r k - und Verstehenshorizont des mittelalterlichen Geschichtsdenkers und -schreibers i n ähnlicher Weise zu erhellen, von anderen Voraussetzungen w i r d ausgehen müssen als sie dem heutigen Historiker gegeben scheinen, von Voraussetzungen, die uns i n ihrer gesetzten Sicherheit vielleicht merkwürdig fremd anmuten. Aber das kann kein Argument dagegen sein. Denn es sind Gegebenheiten, die seine Welt, das Zeit- und Weltbild des mittelalterlichen Menschen konstituieren, dem es wichtig war, per visibilia ad invisibilia sich vorzutasten, ad invisibilia aber als einem durchaus Einsichtigen und Bekannten. Existenz, Pragma, Prognose, Telos, Eschaton, alles ist letztlich schon vor-ausgerichtet nach einem höheren, alles erfassenden, Diesseits und Jenseits verbindenden Sinn. Wenden w i r also — zum Begreifen dieses eigentümlich Mittelalterlichen aufgefordert — unseren Blick möglichst unbefangen zurück. Zukunft eröffnet sich uns dann i m Sinne dessen, was der mittelalterliche Mensch über seine Gegenwart hinaus zu sehen, ja zu wissen glaubte, und analog Vergangenheit: Wie der mittelalterliche Mensch sich zu dem stellte, was vor seiner Gegenwart lag. Zukunft w i r d also von unserem Standpunkt aus gesehen zu „vergangener Zukunft" (R. Koselleck — R. Wittram), sei es — völlig entschärft — zu einer abgeschlossenen, sei es — möglicherweise — zu einer noch defizienten „vergangenen Zukunft". Und m i t letzterer könnten w i r vielleicht doch noch bis auf unsere Gegenwart vorstoßen m i t der ihr wiederum innewohnenden, jetzt aber absolut ungewissen Zukunft.

II. „Argument, Vorbild, Lehre, verpflichtendes Vermächtnis": I n diesen vier großen, eng miteinander verwandten Weisen sah Hermann Strasburger die Geschichte i m A l t e r t u m wirksam, und seine Ausführungen verdichteten sich schließlich zu der Grundeinsicht: Die Ideale (jener 3*

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Zeit) lagen i n der Vergangenheit. Spricht so ein Althistoriker zu uns? Jeder Satz, jedes Wort könnte ebenso aus dem Munde eines Mediävisten stammen. Verschieden natürlich sind die Inhalte damals und später. Die Antike selbst, die Vergangenheit Roms, w i r d dem Mittelalter nicht selten zur idealen Zeit, deren Erneuerung man anstrebt. Karolingische Renaissance, die Proto-Renaissance des 12. Jahrhunderts, die von Italien ausgehende eigentliche Renaissance: Vielfach geht es auf kulturellem Sektor (wenn auch keineswegs ausschließlich) u m eine Wiederaufnahme antiker Elemente. Daß der Gang der Bildung vom Osten nach dem Westen verlief, die Übertragung der K u l t u r vom alten Athen über Rom nach Paris (translatio studii), war eine schon der Zeit der beginnenden Universitäten geläufige Anschauung. Eine große W i r k kraft entfalteten die Sagen u m Troja, Äneas, Alexander usw., sie w u r den sogar für das politische Denken ausgemünzt. „Das Altertum", sagt Huizinga, „hatten die mittelalterlichen Menschen allezeit bei sich". Aber die antike Tradition w a r weitgehend eine heidnische, und an der Frage der Rezeption dieser heidnischen Uberlieferung mußten sich die christlichen Geister scheiden. Rigoristen wie die schwäbischen Hirsauer scheinen eine fast totale damnatio über das heidnische Alte verhängt zu haben, gepackt zutiefst von der Sorge um das Heil der Seele, das vor jeder nichtchristlichen, und das w i r d leicht zur bösen, Einwirkung zu schützen sei. Eine am unsichtbar-überirdischen Ziel des Menschen sich orientierende Anschauung rückt aber bedenklich i n die Nähe jener grundsätzlichen Abkehr von allem Irdischen, die das Mittelalter immer wieder erlebt hat. „ A l l e Freude dieses Lebens scheint m i r nichts als Mist", kernige Worte einer Frau, der hl. Margarita, m i t denen sie der Welt i n stupender Verachtung Ade gesagt haben soll: contemptus mundi und der Zug der mittelalterlichen Nonnen, Mönche, Eremiten weitet sich ins Unübersehbare. Respektieren w i r deren selbstgewählte Abgeschiedenheit — die Lehre für uns schon vorbereitend für später: Nicht nur die ratio, vor allem christliche Glaubensüberzeugung ist oft ausschlaggebend für Denken und Handeln des mittelalterlichen Menschen. Und damit können w i r zurückkehren zum Ausgangspunkt, zum Verhältnis des Mittelalters zur Antike: Die Antike trat unleugbar auch politisch i n die mittelalterliche Gegenwart des Abendlandes für eine lange Zukunft i m Jahre 800, m i t der Erneuerung des Kaisertums i n Rom durch K a r l den Großen. Die Zeiten der aurea Roma schienen manchem wiedererstanden, Renovatio Romani imperii: Das fränkische Reich übernahm die Nachfolge des römischen i n terminologischer wie ideologischer Hinsicht, schließlich auch i n seiner eschatologischen A u f gabe (translatio imperii). Das Bewußtsein der Kontinuität, der Fortdauer des antik-römischen Reiches jetzt auf christlicher Grundlage —

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i m Frühmittelalter mehr noch ein virtuelles Ideal, dessen volle Verwirklichung i n der Zukunft lag — bleibt lebendig, ja steigert sich i m Hoch- und Spätmittelalter, und wenn der Stauferkönig Philipp von Schwaben um 1200 — ich muß es natürlich immer bei ausgewählten Beispielen bewenden lassen, allein unser Schwabenländle ist ja schon exempla-trächtig genug — wenn Philipp von Schwaben sich überraschenderweise Philippus secundus, nicht primus nannte, eben w e i l i m 3. Jahrhundert schon einmal ein Philippus, ein ganz unbedeutender Araber, auf dem römischen Kaiserthron saß, so wäre eine Interpretation seines Verhaltens als persönliche spielerische Laune völlig verfehlt: Philipp sah sich vielmehr als Glied einer langen, bis i n die Antike zurückreichenden Kette der Vergangenheit. A n diesem fortwirkenden römischen Charakter des Reiches änderte auch nichts die Tatsache, daß K a r l der Große seine Herrschaft v o l l auf fränkisch-christlicher Tradition gegründet sah. Schon der König und nicht erst der Kaiser war ja aus dem gemeinen Laienstand herausgehoben durch die Weihe und Salbung m i t priesterlichem ö l . Das sakrale Königtum des mittelalterlichen Herrschers hat seinerseits zum unüberbietbaren Vorbild die Gestalt Christi, des Königs und Priesters zugleich, der bereits i n seiner Person die oft beschworene mittelalterliche Einheit von regnum und sacerdotium ideell vorwegnahm. Übrigens ist es kurioserweise eben diese Doppelmacht Christi als rex et sacerdos, die nach späterer kurialer Ansicht auf Petrus und seine Nachfolger überging und die dann m i t den einseitigen weltlichen Herrschaftsanspruch des Papsttums begründete. Der göttliche Prototyp Christus Schloß keineswegs Exempla auch aus dem menschlichen Bereich aus, Konstant i n den Großen etwa als den ersten christlichen Kaiser und weiter zurück noch aus dem Alten Testament Melchisedek, den weisen und gerechten Salomon (selbst auf der Reichskrone abgebildet) und vor allem David als den vom Hohenpriester gesalbten gottgefälligen König. Z u m novus David w i r d Pippin, der Vater Karls des Großen, für den Papst, und K a r l der Große sah sich selbst gern — i m Kreise der Seinen am Hofe — angesprochen als „neuer David", was ihn durchaus nicht daran hinderte, sich und seiner noch relativ jungen Dynastie auch das Charisma des nicht orthodoxen, aber gleichwohl großen Germanenkönigs Theoderich, seines von ihm i n seiner Weise verstandenen politischen Vorbilds, zu sichern. Und kaum war K a r l verblichen, da erhob man seine Gestalt zum magischen Bezugspunkt, an dem Größe und Ruhm der Späteren gemessen wurden. Zum Ideal gehört nun einmal eine zumindest subjektiv empfundene Vollkommenheit, und einer irgendwie noch mangelhaften Vergangenheit war man gern bereit, das ihr nach eigenem Empfinden ja ohnehin zukommende Fehlende aus der Zukunft nachzutragen: K a r l der Große, der Wahrer von Reich und Recht

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(natürlich nicht der Sachsenschlächter oder gar der nimmermüde Frauenheld), fand sich i m 12. Jahrhundert unversehens wieder i m erlauchten Kreis der Heiligen: Fortleben der Vergangenheit also weniger als eines ein für allemal Abgeschlossenen, eines tabuisierten Toten, sondern Vergangenheit durchaus, wenn nötig, aufbereitet für die Erfordernisse der Gegenwart, was immer zugleich auch ein Wollen auf Zukünftiges m i t impliziert. Man muß sich entschieden freimachen von der Vorstellung, das mittelalterliche B i l d von der jeweiligen Vergangenheit habe stets realitätsgetreu zu sein oder sagen w i r deutlicher, es müsse so sein, wie es uns heute nach intensivem Quellenstudium und unter Zuhilfenahme historisch verfeinerter Bearbeitungsmethoden als das wahre erscheint. Kopfschüttelnd hat man das fromme Mittelalter der größten Pietätlosigkeit geziehen, das täglich Fälschungen produziert habe wie der Bäcker das Brot, und ein Jesuit, ein ehrenwert-gelehrter Mann, verstieg sich gar zu der Behauptung, die antike lateinische Literatur sei fast durchweg ein Phantasieprodukt emsig-ehrgeiziger Humanistengeister. Nun, daß gefälscht wurde, sehr viel sogar, Urkunden, Rechtssätze und -Sammlungen, Wundergeschichten, literarische Erzeugnisse usw., w i r d niemand leugnen. Aber einfühlsame Interpretation hat uns viele dieser formaljuristischen Falsifikate besser verstehen gelehrt aus der spezifischen Rechts- und Geisteswelt des Mittelalters heraus, der eine Buchstabenverbindlichkeit i m Sinne unserer modernen Gesetzgebung weitgehend fremd war. Gott hat die Welt aufs beste geordnet, und diese m i t der Gegenwart vielleicht nicht mehr zusammenfallende gültige Ordnung wieder aufzufinden, nach ihr sein Tun auszurichten, war der Mensch aufgerufen, und so konnte sich mancher der von uns sogenannten Fälscher in gutem Glauben wähnen, m i t seinem Vorgehen der immerwährenden Billigkeit, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen und damit die Harmonie wiederherzustellen zwischen dem Geschehen und der ewig gültigen, da göttlichen rechten Ordnung. Freilich, auch i m Mittelalter tummelten sich wie zu allen Zeiten Filous, die über den engen Horizont ihres Eigennutzes nicht hinaussahen, und wenn der kuriale Zensor, einem Vorwurf des Franziskanerspiritualen O l i v i entgegentretend, den weltlichen Besitz der Kirche dadurch zu rechtfertigen suchte, daß er den Temporalienbesitz schlankweg schon für die Urkirche behauptete, und zwar m i t der Begründung, es müsse nach dem göttlichen Heilsplan, bei dem es höchstens ein Fortschreiten vom Unvollkommeneren zum Vollkommeneren geben könne, aber nicht umgekehrt, eben einfach so gewesen sein und damit basta, — bei so unverfrorener Korrektur der Vergangenheit nach einem Bilde, das vom Standpunkt der Gegenwart einfach so hat gewesen sein müssen, ohne auch nur entfernt so gewesen zu sein, war doch die

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Grenze überschritten, nach der gesundem Menschenverstand (und der ist gewiß keine Erfindung der Neuzeit) ein Einklang m i t den Intentionen des Schöpfers noch einsichtig war. Nie sind denn auch die Stimmen verstummt, die der Kirche ein energisches „Zurück" zugerufen haben: zurück zur vita apostolica, zurück zur ecclesia primitiva, zurück zum alten Recht usw. Die kleine Vorsilbe „zurück", lateinisch „re", w i r d zum sichtbaren Zeichen vielfältigster Bemühungen in Kirche und Welt, freilich kaum zur Partikel für re-volutio, sondern mehr für re-formatio, re-novatio, re-stauratio: Erneuerung unter Wahrung der alten Substanz. Völlig verfehlt aber wäre es, aus der respektvollen Haltung gegenüber der Vergangenheit vorzüglich i m religiösen Bereich ein generelles Gefühl des untätigen „Wir-können-es-doch-nicht-besser-machen-als-dieVorfahren" ableiten zu wollen. I m Gegenteil: Auf kulturellem Gebiet etwa sagte sich schon Alkuin, das Frankenreich werde bald noch glänzender dastehen als selbst das einstige Athen, denn „(über die sieben platonischen Künste hinaus) überstrahle die siebenförmige Fülle des Heiligen Geistes alle Würde der Weltweisheit". V o l l ins Profane zielt der nur bescheiden scheinende Vergleich Bernhards von Chartres, die Menschen seiner Zeit (des Hochmittelalters also) seien wie Zwerge gegenüber den gigantischen Alten, aber: da sie auf den Schultern dieser Riesen stünden, könnten sie schließlich doch weiter sehen als jene. Und arrogant schon fertigten junge Logiker des 12. Jahrhunderts die früher bestens bewährten Grammatiker und Rhetoriker ab: „Was w i l l der alte Esel? Immer die Sprüche und Taten der Alten. Wir, die Jugend, schöpfen das Wissen aus uns selbst, w i r brauchen die Alten nicht." So also sprachen moderne mittelalterliche Studenten m i t ihren Professoren! Zum Wort modern übrigens: Es war selten so modern, von modern zu reden, wie i m Mittelalter. Modern w i r d i m Mittelalter (die Antike war da gewissermaßen noch rückständig) beinahe zu einem Modewort, oft gewiß nur als wertneutraler Zeitbegriff verstanden, vor allem i n Bücherverzeichnissen, wobei man sich manchmal allerdings fragt, was aus stichwortartig kargen Katalognotizen auch anderes herausinterpretiert werden soll, modern aber durchaus auch schon selbstbewußt reklamiert für fortschrittsbewußtes Denken einerseits (via moderna etwa), pejorativ den Neuerern entgegengeschleudert von ihren traditionsbewTißteren K r i t i k e r n andererseits. Und selbst die Kirche, Vergangenheitsbastion der Zukunft: Auch an die unerschütterlich scheinende mittelalterliche Glaubenstür klopft der Zweifel. Bischof Anselm von Havelberg (aus dem 12. Jahrhundert), Vielreisender i n Sachen Kirche und Staat, am prachtprunkenden Hof von Byzanz ebenso zu

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Hause wie an seinem arm-einfachen Bischofssitz i m rauhen, slawengefährdeten Norden des Reiches: Anselm überfragt noch das Dogma. Erstmals w i r d eingeräumt: Auch die Offenbarung entwickle sich, entfalte ihre Geheimnisse v o l l erst i n der Zeit. Die durch unzählige Kirchen- und Konzilsväter belehrte Gegenwart wisse mehr als die Urzeit der Apostel. Der Glaube an eine Vervollkommnung i n der Zeit bricht sich schon i m Mittelalter, nicht erst — wie häufig noch zu hören und zu lesen — i n der Neuzeit i n einem Fortschrittsbewußtsein Bahn, das für die Zukunft ganz neue Perspektiven eröffnet. Freilich, der mittelalterliche Fortschrittsglaube einzelner und i n einzelnen Bereichen steigerte sich nicht zum Rausch einer ganzen Zeit. Hermann Heimpel sah i m reibungsträchtigen M i t - und Gegeneinander von A l t und Neu das Wesen noch des deutschen Spätmittelalters beschlossen. Die mittelalterlichen Menschen — so Jacques Le Goff i n feiner Charakterisierung —, „sie haben beim Vorausschreiten das Gesicht nach rückwärts gewandt". Dieses eigentümliche Verhältnis i n der Einstellung zu traditionsmächtiger Vergangenheit und fortschrittsmöglicher Zukunft, das i m Extrem zu völlig verschiedenen Auffassungs- und Verhaltensweisen führen müßte, w i r d uns wiederbegegnen, wenn w i r nun vom ersten Teil (vom Verhältnis des Mittelalters zu mehr konkreten, hier natürlich nur ganz unbefriedigend exemplarisch vorgestellten Einzelerscheinungen der Vergangenheit und ihrer W i r k u n g auf mittelalterliche Gegenwart und Zukunft) übergehen zu dem Teil unserer Betrachtung, i n den uns Anselms altmodische und moderne Frage zugleich nach der erstaunlichen Vielfalt der Erscheinungen und der Ursache dieser varietates schon wie von selbst eingeführt hat: zur Stellung von Vergangenheit und Zukunft i n der Gesamtkonzeption mittelalterlichen Geschichtsdenkens. III. „Daß alles, was ist, . . . dem Wandel unterliegt, bedarf wohl kaum des Beweises; die Notwendigkeit der Natur ist mächtig genug, uns davon zu überzeugen"; oder: „ W i r sehen ein ungeheures Gemälde von Begebenheiten und Taten, von mannigfaltigen Gestaltungen der Völker, Staaten, Individuen, i n rastloser Aufeinanderfolge . . . Der allgemeine Gedanke, die ,erste Kategorie 4 , die sich aus dem Anblick des Wechsels von Individuen, Völkern und Staaten . . . ergibt, ist die Kategorie der Veränderung"; oder: „Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung"; oder:

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„ V o n jetzt ab gerechnet sind die nächsten 50 bis 100 Jahre ein großes Zeitalter der radikalen Veränderung . . e i n Zeitalter, m i t dem sich keine der vergangenen Geschichtsepochen vergleichen kann." Polybios, Hegel, Burckhardt, Mao — und m i t folgendem Geständnis eröffnet Otto von Freising, der staufische Historiograph, Theologe und Politiker, seine „Chronica" oder „Historia de duabus civitatibus", später von ihm selbst „De mutatione rerum" genannt: „ O f t und lange habe ich nachgedacht über den Wandel und die Unbeständigkeit der irdischen Dinge, ihren wechselvollen, ungeordneten Verlauf . . . " Immer wieder hat Otto — und wie er dachten viele Menschen des Mittelalters — den Wandel der Dinge beklagt (nihil stabile super terram) und diesen Wandel am konkreten historischen Beispiel bestätigt gefunden. Es ist für Otto „das Erlebnis der i n Ruinen fallenden Weltreiche, der Unbeständigkeit politischer Machtgefüge, . . . der Hinfälligkeit menschlicher Konzeptionen" (W. Kaegi). Mutabilitas temporum, mutatio rerum als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Welt, i n der w i r Menschen leben: Darin also scheinen sich alle einig, von Polybios bis Mao, und vielleicht — so könnte man sich nachdenklich fragen — ist es tatsächlich das Letzte, was sich nachweislich über dieses Drama irdischen Mühens und Schaffens aussagen läßt? Vielleicht sollte man es dabei bewenden lassen — bei diesem offenbar allezeit und allen einsichtigen und daher wohl gültigen Axiom, daß nichts so beständig sei als der Wechsel? Vielleicht sollte man — aber man hat nicht. Schon früh drängte sich dem Menschen die Frage auf: Wozu, wozu denn dieses dauernde Getriebe? Dem A u f und Ab, dem H i n und Her müsse doch ein höherer Zweck zugrunde liegen, ein Endzweck, ein Fortschreiten von Niederem zu Höherem oder zumindest doch irgendeine A r t von Gesetzlichkeit, die einen Sinn des sinnlos Scheinenden verrate! Genau dies nun ist der Punkt, an dem die Zukunft ins Spiel kommt, wo die Vergangenheit i n die Zukunft vorstößt, wo mehr gefordert wird, als menschliche Wissensmächtigkeit erfüllen kann. Und wo das Wissen die Waffen streckt, da t r i t t immer der Glaube, ganz gleich unter welchem Etikett, ob jenseitsbezogen, ob säkularisiert, i n seine Bahn. Polybios glaubte — u m nur einen Hauptstrang seines Denkens anzuziehen — a n die

π οΑιτειων άνακύκλωσις

an den Kreislauf

der

Verfassungen entsprechend der griechischen Vorstellung, alles Geschehen vollziehe sich nach dem kosmischen Gesetz des Werdens und Vergehens als eine ewige Wiederkehr des Gleichen, Kreislauf der Zeit, die sich prinzipiell ewig ähnlich bleibt — damit verliert die Zukunft gewissermaßen ihre Rätselhaftigkeit —, Kreislauf der Zeit, die sich doch i m Detail nie wiederholt — damit freilich kehrt sie für den einzelnen

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zurück: die lastende Verschlossenheit der Zukunft: „ W i r steigen i n denselben Fluß und doch nicht i n denselben." Hegel glaubte an die Vernunft in und als Prinzip der Weltgeschichte, Burckhardt glaubte an die große Kontinuität alles Geistigen, Mao glaubte an die soziale Weltrevolution und den Sieg der klassenlosen Gesellschaft, Toynbee schließlich glaubte an einen steten Rhythmus von Aufstieg und Niedergang, von zerfallenden Kulturen und neugeborenen Religionen, und er glaubte 21mal daran, um diesen seinen vielfachen Glauben dann praktisch durch einen neuen aufzuheben, indem er das Ziel erreicht sah i n der christlichen Religion, der römisch-katholischen Kirche, die — nach Toynbee — „ m i t dem Helm des Papsttums und dem Brustschild der Hierarchie" der irdischen Vergänglichkeit entrückt sei. Schwer fällt es, von alten Vorstellungen Abschied zu nehmen. Voraussetzungen vielmehr überall, wo Menschen sich ein sinnvolles, auch die Zukunft bedenkendes B i l d der Vergangenheit zu machen versuchen: Wer also wollte den ersten Stein werfen auf jene, die nie (selbst, ja gerade auch noch als Ketzer, wie man sie nannte) einen Hehl gemacht haben aus ihrem Glauben, ihrem christlichen Glauben: die Menschen des Mittelalters? Und es ist diese fundamentale Voraussetzung des Glaubens, die dem Christen ja noch heute geläufig ist — w i r haben sie schon h i n und wieder angedeutet —, aus der das Mittelalter seine jeder Beschäftigung m i t dem menschlichen Geschehen schon als absolut gewiß vorausgehende Grundeinsicht von der Geschichte bezogen hat: Die Welt, nicht mehr ein ewiger Kosmos ohne Anfang, ohne Ende, sondern geschaffen erst aus dem Nichts durch einen persönlichen Schöpfergott, der Himmel und Erde und alles Leben, speziell aber den Menschen als die Krone der Schöpfung geformt hat nach seinem Ebenbild. Kein Zerrinnen der Vergangenheit i n einer nebelhaften Unendlichkeit, kein Verfließen der Zukunft i n unergründlicher Ferne, eingegrenzt ist der Lauf der Zeit m i t einem klaren Anfang (dem Schöpfungsakt Gottes) und einem klaren Ende (das Ende der Welt und Gottes Gericht. Der mittelalterliche Mensch machte es sich nicht so leicht, schon die Weltgeschichte für das letzte Weltgericht zu halten). Gott selbst — i m Gegensatz zur endlichen Welt, zum endlichen Raum, zur endlichen Zeit, zum endlichen Menschen der unendliche Gott — hat den Zeitenlauf gegliedert und den Gang der Geschichte geordnet nach seinem Plan. I n diesen Gang der Geschichte ist als zentrales Ereignis eingetreten und als absoluter Höhepunkt die Menschwerdung Christi, Gottes Sohn, sein Tod und seine Auferstehung, einmalige Begeben-

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heiten von wahrhaft universaler Bedeutung. Denn alles Geschehen vor Christus bewegt sich auf ihn hin, alles Geschehen nach Christus n i m m t von seiner menschheitserlösenden Heilstat seinen Ausgang: ein grundsätzlich Neues, Christus Uberbietendes ist ausgeschlossen. Was nach ihm kommt, kann demnach nur das Letzte sein, die letzte Zeit bricht an, die vielleicht täglich, stündlich endet. Das ist die grundlegende Geschichtsanschauung des Mittelalters, auf ihren K e r n zurückgeführt und alles Rankenwerks entkleidet, wie sie zur absoluten Gewißheit sich gewinnen ließ für den mittelalterlichen Menschen aus den Worten der Heiligen Schrift. Deutlicher läßt sich der Abstand kaum ermessen, der das Damals von dem Heute trennt. Heute: Einstieg ins Verständnis der menschlichen Geschichte allein von ständig sich wandelnden menschlichen Voraussetzungen her, i m Resultat daher unvollkommen, unbefriedigend, immer wieder überholt, damals: Einstieg ins Verständnis der menschlichen Geschichte immer schon i m Vorwissen um einen großen, göttlichen, ein für allemal gefaßten Plan vollkommener, nie überholbarer, höchstens sich steigernder Ordnung. Nicht so, w i r hörten es schon, als ob der mittelalterliche Mensch, der Historiker das A u f und Ab, Glück und Unglück, Freud und Leid, überhaupt das bunt belebte Schauspiel menschlichen Tuns und Wollens nicht auch wahrgenommen und registriert hätte — gerade zeitgenössisches Geschehen fand seine volle, vorbildliche Aufmerksamkeit, und man hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß auch Augustinus und nach ihm Regino, Otto u. a. das Dynamische und Einmalige historischer Vorgänge durchaus gesehen und damit i n dieser Hinsicht neuzeitlichhistoristisches Geschichtsdenken schon vorweggenommen hätten, aber alle Kontingenz — und das ist der entscheidende Unterschied — war für den mittelalterlichen Geschichtsdenker letztlich aufgehoben i n einem höheren, providentiellen Sinn. Zukunft w i r d damit i m Faktischen keineswegs bestimmt, keineswegs vorhersehbar, Zukunft i m heilsgeschichtlichen Sinn aber kann nur heißen: zeitlicher Vollzug eines längst Beschlossenen, i n eine paradoxe Formel gebracht: Zukunft wird zu defizienter Vergangenheit. Vergangenheit und Zukunft verschmelzen so i m heilsgeschichtlichen Denken des Mittelalters zu sinnerfüllter permanenter, ja ewiger Gegenwart, die immer schon weiß, was war, und die immer schon weiß, was sein wird, die eben seinsmäßig weiß, was ist, nach den Verheißungen Gottes i m A l t e n und Neuen Testament. Ins Sekundäre sinkt dagegen ab das menschliche und damit i m Resultat sofort widersprüchliche Bemühen, den Plan der Vorsehung i m realen Lauf des irdischen Geschehens systematisch aufzuspüren. Ich meine die verschiedenen Gliederunesschemata^ i n die der mittelalter-

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liehe Chronist die Weltgeschichte einzuteilen pflegte. Nicht scharf genug kann auch hier wieder der Unterschied zum modernen historischen Denken, da zum Periodisierungsdrang betont werden. Die ursprüngliche Erkenntnis der mittelalterlichen Einteilungen war nicht aus einem Sichversenken i n den historischen Ablauf der Geschichte gewonnen, sondern: A m Anfang der mittelalterlichen Zeiteneinteilung stand das Grübeln über den wahren Sinn der Worte und Zahlen der Heiligen Schrift, und die Aufgabe war „ n u r " dahingehend gestellt, das, was wesenhaft schon i m Wort angelegt war, i n etymologisch-allegorischer Deutung ans Licht zu ziehen, i n der Geschichte wieder aufzufinden: Das Geschehen, das seinerseits wieder über seine jeweilige Gegenwart hinaus auf ein Zukünftiges wies, auf einen höheren Sinn deutete — non solum voces, sed et res significativae sunt, lehrt der Viktoriner Richard i m 12. Jahrhundert, — das Geschehen richtete sich nach dem Wort und nicht das Wort nach dem Geschehen. Nur aus diesem besonderen Verstehenshorizont heraus, i n dem die menschliche Geschichte ohne die heilige Geschichte nur als „ein dunkles Gewoge (erscheinen konnte) ohne Sinn" (G. Tellenbach), w i r d m. E. einsichtig, warum mittelalterliche Chronisten ohne Skrupel oft m i t mehreren (an sich ja ganz verschiedenen) Zeitengliederungen zugleich arbeiteten: A l l diese Schemata waren gedeckt durch das sinnspendende Wort der Schrift. Nehmen w i r als Beispiel wieder den uns schon geläufigen Otto von Freising, der nach augustinischem Vorbild die Welt — und die mittelalterliche Welt ist m i t tausend Fäden an den Himmel geknüpft —, der die Welt beherrscht sah vom uralten Dualismus zwischen Gut und Böse, zwischen civitas dei und civitas diaboli — Spiegelbild der grundsätzlich zweipoligen Spannung, unter der die Menschen lebten und litten: Gott — Satan, Christus — Antichrist, Engel — Dämonen, Heilige — Verfluchte, Gläubige — Ungläubige, Himmel — Hölle, Jerusalem — Babylon usw.; Otto gliederte seine Darstellung aber gleichermaßen (also zweitens) nach der Abfolge der vier Weltreiche, jenem Nachklang der alttestamentlichen Traumdeutung des Daniel i n der Präzisierung durch Hippolytus und Hieronymus, nach der das seltsame Gesicht Nebukadnezars die Regna mundi der Assyrer-Babylonier, Meder-Perser, Griechen-Makedonier und schließlich der Römer zu bedeuten habe; Otto handhabte auch (drittens) m i t souveräner Selbstverständlichkeit das von Paulus nach der jüdischen Talmudüberlieferung festgeschriebene Dreistadiengesetz der Weltgeschichte m i t gewisser inhaltlicher Abwandlung, wie er auch (viertens) anstandslos die durch Augustinus, Isidor und Beda popularisierte Lehre von den sechs aetates akzeptierte, sechs Weltalter, präfiguriert schon i m Sechstagewerk der Schöpfung. A l l diese weltgeschichtlichen Einteilungen und ihre vielfachen, hier nicht zu erörternden Variationen verbindet ja nicht nur und läßt als

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gleichrangig erscheinen ihre heilsgeschichtliche Bedeutsamkeit; gemeinsam ist ihnen auch, abgesehen von der schwierigen civitates-Lehre, daß es sich u m die jeweils letzte Epoche handelt (also ob nun dritter status [sub gratia], viertes regnum [das römische Reich] oder sechste aetas [die senectus, wie man gern in Parallele zu den Lebensaltern sagte]), immer ist es die letzte Phase, i n welche die mittelalterliche Gegenwart fällt. Von daher versteht sich ganz natürlich, warum der mittelalterliche Mensch i m Gefühl des In-der-letzten-Zeit-Lebens sich so ansprechen läßt, so gepackt ist von der Vorstellung eines kommenden, oft bald kommenden Endes. Diesem Ende, natürlich nur als dem Ende unseres Vortrags, haben w i r uns nunmehr zuzuwenden. IV. Wer ein Ziel vor Augen hat, wer einem Ziel zustrebt, w i r d auf dem Wege dahin kaum verweilen. Tempus breve, die Zeit ist kurz, nicht mehr als eine Nadelspitze, tröstet Katharina von Siena die Mühseligen und Beladenen, und folgsam führt der Hirtenknabe seine Schafe heim, als St. Nikolaus i h m erscheint und seinen nahen Tod verkündet, und stirbt — wie es heißt — zur vorbestimmten Stunde. Das kommende Ende gehört wie selbstverständlich zum Lauf der Zeit, ist allemal nah, das Ende der Zeit als das Tor zur Ewigkeit: Ende des einzelnen, Ende der Welt (erst dann entscheidet sich ja endgültig das Schicksal des einzelnen). Aber wann, wann würde dies alle treffende Letzte sich ereignen? Unwirsch weist Beda (t 735) die Bauern zurück, als sie ihn — statt über Ochs und Esel — m i t der brennenden Frage bedrängen nach dem Ende, Beda, der doch den Anfang der Welt so gut zu berechnen wußte wie kaum ein anderer, auf den Tag genau: den 18. März 3952 vor Christi Geburt, die Welt damit gleich u m mehr als ein Jahrtausend jünger machend als bislang angenommen, bei Hippolytus, Hieronymus, Isidor u.a.; eben derselbe Beda verweigert die Gelehrtenpflicht, wenn es u m das Ende geht, Augustinus gleich, der das biblische „ I h r wißt nicht den Tag noch die Stunde" ernst genommen und vor einer Berechnung des Jüngsten Tages eindringlich gewarnt hat — ganz vergeblich! Immer wieder siegte vor allem seit dem Hochmittelalter die Versuchung, den heilsgeschichtlichen Ort näher zu bestimmen, den das Jetzt i m göttlichen Zeitenplan einnehme, immer wieder wurden Prognosen gewagt über das nahende Ende. Die ersten Christen lebten ja bekanntlich i n der täglichen Erwartung des Herrn, und auch als die Hoffnung einer nahen Parusie zerrann, blieb doch der eschatologische Gedanke stets lebendig, und eifrig spähte man nach Vorzeichen aus, die das

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Ende ankündigten. Schreckliches sollte sich nach der Apokalypse ereignen: „Die Sonne w i r d schwarz wie ein härener Sack, und der Mond w i r d wie Blut, und die Sterne fallen vom Himmel auf die Erde." Katastrophen und Wunder der Natur, Seuchen und Krieg, Raub und Mord überall wie von den Evangelisten vorausgesagt: War das Böse nicht schon da? Der Böse selbst, Satan und sein menschlicher Spießgesell, der Antichrist, wie ihn Johannes offenbarte und die Sibyllinen weissagten, nach der Vision Hildegards von Bingen „ein Ungeheuer m i t riesigem, pechschwarzem Kopf, flammenden Augen, Eselsohren und gähnendem, m i t eisernen Fängen bewehrtem Rachen"? Der seit dem Investiturstreit i m innersten aufgewühlten Welt schien der Zerstörer schon am Werke, der Wolf i m Schafspelz, Heinrich IV. als der fleischgewordene Böse für die Päpstlichen und vor allem Friedrich II., der kalte Staufer, der m i t gleicher Münze heimzahlte freilich anderer Prägung, den Verdacht auf den Urheber zurücklenkend, den Papst, i n dem noch Luther leidenschaftlich den „rechten Endechrist" sah, den „Widerchrist". Doch wie mußten sich die Bilder schon für die Zeitgenossen verwirren, wenn derselbe Widerchrist Friedrich anderen erschien als der verheißene Erlöser von A r m u t und Not, als der ersehnte Endkaiser, i n d e m uralte chiliastische Hoffnungen auf die Wiederkunft des Messias, die Befreiung des Heiligen Grabes i n Jerusalem und den Anbruch eines 1000jährigen Friedensreiches aller Menschen aller Zeiten, mit sibyllinischen Prophezeiungen verbunden, ins rein Irdische gewendet und auf den sichtbaren irdischen Kaiser Platz und Funktion des unsichtbaren, immer noch vergeblich erwarteten göttlichen Herrschers übertragen wurden. Jahrhunderte klammerten sich an die Hoffnung: Er schläft nur, also er lebt. Falsche Friedriche standen auf und sanken ins Grab. Dante, auch von Heinrich V I I . enttäuscht, setzte nochmals, nun auf den „Fünfhundert-Zehn-und-Fünf", i n römischen Ziffern D V X , also DUX, den neuen Führer, „durch den die Dirne und der Riese, der m i t ihr sündigte, i m Tod w i r d enden" ( = die verweltlichte Kirche und das französische Königtum). Kleriker und Ritter, Bürger und Bauern, Geißler und Wiedertäufer, vor allem eben arme Leute, arme und nochmals arme: Aus ihrer Mitte erhoben sich neue eschatologische Retter m i t dem Anspruch, das apokalyptische, das letzte Ringen „zur endgültigen Läuterung der Welt" einzuleiten. Hoffnungen verdichteten sich und zerrannen. Was blieb war die elementare Sehnsucht der Menschen nach dem unverrückbaren Ziel der ewigen Seligkeit. Z u diesem jenseitigen Ziel aber trat i n zunehmend Unruhe stiftender Spannung die wachsende Sorge u m den Verlauf der irdischen Dinge i n einer Welt, die aus ihrer vorgezeichnet ruhigen Bahn geworfen schien: geistige, soziale und wirtschaftliche Umwälzungen, Kampf statt Zusammenwirken zwischen geistlicher und weltlicher

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Gewalt, Verweltlichung der Kirche u. a. m. Bewußt oder unbewußt: Das jenseitige Ziel konnte so — ohne daß es, dies bleibt wichtig festzuhalten, je aus dem Auge verloren wurde — doch leicht i n die Ferne rücken, wenn die problematische Gegenwart schon des Hochmittelalters alle Kräfte zu ihrer Diesseitsbewältigung forderte. Das Heil zu retten i n einer von Krisen und Niedergang geschüttelten Welt schienen aber i n den Augen vieler besonders jene berufen, die herausgehoben waren ab omni misero mundi rotatu, von all den Wechselfällen des Weltenlaufs, die sich rückhaltlos abgewandt hatten vom Irdisch-Vergänglichen und hin zu Gott: eben die Mönche. Darin übrigens ist sich — u m i n der vielleicht nicht gerade glücklichen Terminologie Funkensteins zu reden — „reflektierende" wie „exegetische" Geschichtsdeutung einig. „Die Welt", so sinnierte der Zisterzienser Otto, „könne wegen der stinkenden Sündhaftigkeit der lärmenden Zeit nicht mehr lange dauern, wenn sie nicht durch die Verdienste der Mönche, der wahren Bürger des Gottesstaates, am Leben erhalten würde", die durchaus solide abgesicherte Prophetie des Historikers. Und der Nichthistoriker Joachim von Fiore, Notarssohn und auch Zisterzienser, bis er sich i n die tiefe Einsamkeit des kalabrischen Sila-Gebirges zurückzog zu reiner Kontemplation? Auch für Joachim wurde der ordo monachorum zum zentralen Agens i m letzten A k t des irdischen Geschehens, und noch mehr. „Als ich" (so Joachim selbst) „ u m die Matutin aus dem Schlaf erwachte, nahm ich zur Meditation das Buch (der Apokalypse) i n die Hand. Plötzlich durchfuhr . . . eine Helligkeit der Erkenntnis die Augen meines Geistes, und es enthüllte sich m i r die plenitudo, die volle Fülle, die Erfüllung dieses Buches und die symmetrische Concordia, die Konkordanz des Alten und Neuen Testaments". Ein fanatisches Ringen um den tieferen, letzten Sinn der Heiligen Schrift hatte Joachim i m stürmischen Erleben des Pfingstereignisses zu plötzlicher Klarheit geführt: Alles Geschehen schon dieser Welt korrespondiere i n geheimnisvoller Weise, dem Eingeweihten aber i n typologischer Exegese erkennbar, m i t den Worten, Zahlen und Bildern der Schrift. Nicht erst i m Jenseits, schon hier i m Irdischen erfüllten sich die Verheißungen des Alten und des Neuen Bundes. Wie das Zeitalter Gott Vaters abgelöst worden sei durch das Zeitalter des Sohnes, so folge auf Christus nicht — wie die Orthodoxie meinte — das Ende, sondern i n nochmaliger grandioser Überhöhung ein drittes, jetzt letztes irdisches Zeitalter des Heiligen Geistes, i n dem die Kirche m i t ihren Klerikern und Sakramenten werde weichen müssen der neuen Kirche des Geistes, der ecclesia spiritualis, i n der die zur Liebe geläuterte Menschheit unter der Führung kontemplativer Mönche sozusagen i n einem einzigen Riesenkloster glücklich dahinlebe bis zum Jüngsten Tag.

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Das ist nicht mehr das „Zurück-zur-Urkirche" der Reformer. Das ist — die spekulativen Ideen für Realität genommen — die totale Verabschiedung der Vergangenheit und der aus ihr erwachsenen Gegenwart zugunsten einer neuen idealen Zukunft i n dieser Welt. Gewiß, Joachim hat persönlich aus seinen kühnen Ideen keine Konsequenzen gezogen. Er war immer gut Freund m i t Kaiser und Papst — böse Zungen behaupteten, es habe sich für i h n gar nicht mehr gelohnt, m i t diesen sinkenden Größen anzubinden. Andere nach ihm aber haben den Worten Taten folgen lassen. Zur Vollstreckung des joachitischen Testaments angetreten, gerieten sie — wie die Franziskanerspiritualen — zwangsläufig m i t der bestehenden Hierarchie i n Konflikt, und eine gewisse Ernüchterung trat ein, freilich keineswegs das Ende aller Hoffnungen, als das von Joachim allerdings nur vage berechnete Jahr 1260 eben nicht zur Zeitenwende wurde, als man erfahren mußte, daß mehr oder weniger alles beim alten blieb. Joachims Traum, ein, vielleicht der uralte Traum der Menschheit, das — wenn überhaupt, dann — i n jenseitiger Zukunft liegende Endziel dauernder menschlicher Glückseligkeit schon i n die diesseitige nahe Zukunft hereinzuholen, hat sich (natürlich — ist man versucht zu sagen) nicht erfüllt. Ob seine und ähnliche Lehren des Spätmittelalters als Utopien zu bezeichnen sind, ob man i m Mittelalter überhaupt schon von Utopien sprechen könne, diese wohl mehr i n den Bedeutungsbereich der gelehrten denn der historischen Welt fallende Wortstreiterei mag hier auf sich beruhen. Modern jedenfalls mutet uns das abseits der großen Bahn mittelalterlichen Geschichtsdenkens sich vollziehende Bemühen Joachims und all seiner Nachfolger an, die irdische Zukunft durch intensives Abhorchen der Vergangenheit i n den Griff zu bekommen, modern auch, daß dieses Bemühen scheiterte.

* Die Flut neuer, zur Verwirklichung drängender Ideen i m Hoch- und Spätmittelalter, gespeist jetzt auch aus dem wesenhaft unruhigen Meer des universitären Geistes — so ließ aristotelisch-averroistisches Gedankengut erstmals wieder das antike Weltbild zur Diskussion stehen und zeitigte (vor allem außerhalb des Reiches) W i r k u n g i n einem säkularisierten staatspolitischen und staatskirchlichen Denken — die erodierenden Elemente haben doch den Damm des orthodoxen mittelalterlichen Geschichtsdenkens nie ernsthaft zu durchbrechen vermocht. Erstaunlich, daß selbst Humanisten noch, die sich doch sonst so gern erhaben dünkten über die dunkle Zeit des Mittelalters, sich als i n der sechsten aetas und kurz vor dem Weltende lebend betrachteten. Schlaue Köpfe freilich haben dann das Ende vorsorglich noch um

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einiges i n der Zeit hinausgeschoben, Pico della Mirandola etwa — übrigens keineswegs ein Freund der damals aktuellen Astrologie (die astrologischen Prophezeiungen des Spätmittelalters wären überhaupt noch ein Zukunftsaspekt für sich, den w i r leider gar nicht behandeln konnten) — Mirandola starb 1494, und 1994 — so hatte er berechnet und damit stoßen w i r zu guter Letzt doch noch über unsere Gegenwart hinaus vor i n die offene Zukunft — 1994 werde die Welt sterben. 500 Jahre nach Mirandolas Tod könnten w i r dem angekündigten Weltende unter mittelalterlichen Voraussetzungen gelassen entgegensehen, Wilhelm Busch ähnlich, der da meinte: „Obgleich die Welt ja, sozusagen, wohl manchmal etwas mangelhaft, wird sie doch in den nächsten Tagen vermutlich noch nicht abgeschafft."

Aber: — und das ist Ernst: Atomspaltung und Kernfusion haben die Welt inzwischen tatsächlich an den Rand des Letzten geführt, indem sie Hoffnung und Angst besiegten oder richtiger wohl übertrumpften durch die reale Möglichkeit der Menschheit, sich selbst das totale Ende zu bereiten. Das erst bedeutet ja die letzte „Kopernikanische Wende" i m Verhältnis Gott — Mensch: Der Mensch selbst hat sich i n autonomem A k t zum Gott, zum vielleicht alles zerstörenden Gott erhoben. Und diesem Gott zu trauen — und ich bedaure, daß meine Schlußworte (ganz anders als bei Busch) so wenig verheißungsvoll-zukunftsfreudig klingen — diesem Gott zu trauen, an seinen schon immer beschworenen, aber noch nie so recht gezeigten Gesinnungswandel, an seine Metanoia zu glauben, nun schon wieder zu glauben!, das fällt schwer. Das Mittelalter jedenfalls wäre dem neuzeitlichen Gott ebenso ratlos gegenübergestanden wie die Neuzeit vielfach dem mittelalterlichen Gott.

VERGANGENHEIT, GEGENWART U N D Z U K U N F T I M D E N K E N DES WÜRTTEMBERGISCHEN PIETISMUS Von Hartmut Lehmann A u f den ersten Blick erscheinen die Zusammenhänge, die hier dargelegt werden sollen, einfach: Die Vorstellungen der württembergischen Pietisten von der Vergangenheit können eingeordnet werden i n die lange Reihe heilsgeschichtlicher Geschichtsdeutungen; ihre Vorstellungen von der Zukunft können subsumiert werden unter den i n der christlichen Eschatologie beschriebenen Glauben an die Wiederkunft Christi; ihre jeweilige Gegenwart sahen die württembergischen Pietisten schließlich an als eine Station auf dem Weg der Menschheit von der Schöpfung zur Erneuerung der Welt durch das Jüngste Gericht. Beschäftigt man sich jedoch m i t den Ausführungen der württembergischen Pietisten über das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft näher, dann zeigen sich verschiedene, durchaus nicht immer miteinander vereinbare Positionen: Während einige württembergische Pietisten sich darum bemühten, die Vergangenheit und die Zukunft m i t Hilfe der i n der Offenbarung Johannis gegebenen Hinweise und Zahlen möglichst präzise zu deuten, versuchten andere, u m den heilsgeschichtlichen Standort ihrer eigenen Zeit zu bestimmen, die allerneuesten Fingerzeige Gottes, die Zeichen der Zeit, wie sie sagten, zu erkennen und daraus die für wahre Christen nötigen Schlüsse zu ziehen. Während einige dann zu dem Ergebnis kamen, das Ende der bisherigen Weltordnung, die Wiederkunft Christi und der Beginn des Tausendjährigen Reiches, stünden unmittelbar bevor, verlegten andere dieses Ereignis i n eine fernere Zukunft. I m folgenden ist es nur möglich, besonders wichtige und besonders typische Positionen zu charakterisieren und zu interpretieren, Deutungen des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft freilich, die i n eine für Historiker und selbst für Theologen i m letzten Drittel des 20. Jahrhunderts fast fremde Welt hineinführen. I. Beginnen w i r m i t Johann Albrecht Bengel, der i m zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts die von Philipp Jakob Spener beeinflußten, insgesamt aber ziemlich diffusen Vorstellungen der ersten württember4*

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gischen Pietisten von ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Christen durch ein ausgeklügeltes, umfassendes System ersetzte, das bis ins 20. Jahrhundert von großem Einfluß bleiben sollte. Dabei soll auf drei Fragen besonders geachtet werden: 1. Wie kam Bengel zu seinem heilsgeschichtlichen Entwurf und m i t welchen Belegen fundierte er diesen? 2. Wie beurteilte er das Verhältnis von Profangeschichte und Heilsgeschichte? 3. Wie beschrieb Bengel die für wahre Christen seiner eigenen Zeit notwendigen Aufgaben? Zunächst zur ersten Frage: Als Bengel i m Jahre 1724, also siebenunddreißigjährig und bereits seit über zehn Jahren Klosterpräzeptor i n Denkendorf, i m Rahmen neutestamentlicher Studien die Offenbarung Johannis durcharbeitete, kam er, wie übrigens vor i h m schon Luther, zu der Uberzeugung, die i m dreizehnten Kapitel der Offenbarung genannte Zahl 666, die Zahl des als Tier aus dem Abgrund auftretenden Antichristen, sei eine chronologische Angabe und bezeichne, womit er über Luther hinausging, die Jahre von 1143 bis 18091. Von seiner eigenen Zeit, dem Jahre 1724, bis zur Wiederkunft Christi und dessen Sieg über den Antichristen lag also nur noch eine Spanne von 85 Jahren. Der apokalyptische Schlüssel, der ihm die „oeconomia divina" enträtselte, w a r für Bengel deshalb, wie er noch 1724 einem Schüler schrieb, nicht nur „ein Trost bei häuslichen Trauerfällen", 1724 war das fünfte seiner bis dahin geborenen sieben Kinder gestorben, er wies auch darauf hin, es gelte zu erkennen, diejenigen, „die jetzt geboren" werden, würden „ i n wunderbare Zeiten", also noch i n das von Christus regierte Tausendjährige Reich, hineinkommen 2 . Bengel verstand seinen Fund als „Erleuchtung", als „göttliches Gnadengeschenk", vergleichbar m i t der Berufung eines Propheten i m Alten Testament*. Auch wenn er 1740 notierte, er sei „nichts", und sei ihm „etwas von der Wahrheit" zuteil geworden, so sei es i h m „auf dem gemeinen Himmels-Weg bey einfältigem Forschen des göttlichen Worts", ohne seine eigene Wahl, „aufgegangen" 4 , so sah er i n seiner 1 Erklärte Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi . . . Allen, die auf das Werk und Wort des Herrn achten und dem, was vor der Thür ist, würdiglich entgegen zu kommen begehren, Stuttgart 1740, 21746, Vorrede; auch zitiert bei Gottfried Mälzer, Johann Albrecht Bengel. Leben und Werk, Stuttgart 1970, S. 246; dazu und zum folgenden siehe auch Mälzer, Bengel, S. 220 - 248. 2 Zitiert nach Karl Hermann, Johann Albrecht Bengel. Der Klosterpräzeptor von Denkendorf, Stuttgart 1937, S. 413. 3 So Mälzer, Bengel, S. 247 f. 4 Erklärte Offenbarung, Vorrede,

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Entdeckung doch eine Verpflichtung, die sein ganzes weiteres Leben bestimmte. Vom Jahre 1727, als er seine ersten Überlegungen zur Heilsgeschichte publizierte, bis zu seinem Tode 1752 verbreitete er seine neuen Erkenntnisse i n einer ganzen Serie von Aufsätzen und Büchern. Zeitgeschichtliche Anlässe, also Zeichen der Zeit 5 , traten dabei ganz zurück hinter einer Fülle von höchst komplizierten, i n geradezu skurrilbarocker Weise auswuchernden mathematisch-chronologischen Berechnungen, die sich i m Laufe der Jahre weit von den wenigen Zahlen entfernten, die er der Bibel entnommen und seinem System zugrundegelegt hatte. Die wichtigsten Stationen seien genannt 6 : Nachdem Bengel i n einem Aufsatz 1727 sein System noch nicht offen dargelegt hatte, postulierte er i n einer weiteren Veröffentlichung 1729 immerhin, die Johannesoffenbarung lege den Verlauf der Weltgeschichte bis zum Weltende dar und enthalte i n verschlüsselter Form alle Angaben, die für eine genaue Berechnung der Weltgeschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende notwendig seien. 1731 führte Bengel zum ersten Male entsprechende Berechnungen durch und kam dabei zu einer neuen Einsicht: Christi Wiederkunft finde nicht, wie er bisher angenommen hatte, 1809, sondern bereits 1742 statt, ein Ergebnis, das er bereits i m folgenden Jahr wieder korrigierte, als er den Wiederkunftstermin erneut i n das Jahr 1809 legte, um dann i m Jahre 1740 den Beginn des Tausendjährigen Reiches endgültig für das Jahr 1836 zu berechnen. Nachdem Bengel bis dahin stets nur einen Teil seiner Einsichten preisgegeben hatte, stellte er 1740 i n der „Erklärten Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi" zum ersten Male sein ganzes System dar. Ausgehend von der „Nähe der Zeit", wie er i m Vorwort schrieb, und gestützt auf die von i h m gegen die Confessio Augustana verteidigte Lehre des Chiliasmus, kommentierte er den gesamten Text der Offenbarung und ergänzte seine Ausführungen durch verschiedene Exkurse, so über die Kennzeichen wahrer Auslegung und den rechten Gebrauch prophetischer Betrachtungen sowie durch eine apokalyptische Zeittafel von Christi Geburt bis zum Weltende. Diese heilsgeschichtlichen Überlegungen vertiefte Bengel 1741 i m „Ordo Temporum", erweiterte und ergänzte sie 1745 in einem weiteren Werk durch Ausführungen zur Astronomie 7 , verteidigte sie i m gleichen Jahr gegen seine K r i t i k e r i n der Schrift „Welt-Alter darin die Schriftmässige Zeiten-Linie bewiesen", und legte 5 Allerdings hatte die Nachricht von dem sogenanntén Thorner Blutgericht, wo 1724 zwölf Protestanten hingerichtet wurden, Bengel in der Meinung bestärkt, das Ende der Zeiten sei nahe. β Zum folgenden siehe Mälzer, Bengel, S. 223 - 241, sowie Hermann, Bengel, S.414 - 422. 7 Cyclus sive de anno magno solis, lunae, stellarum consideratio ad incrementum doctrinae propheticae atque astronomicae accomodata, U l m 1745.

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sie schließlich 1747 noch einmal i n einem weiteren großen Kommentar dar, i n den „Sechzig erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis". Bengels biblische Chronologie ging von einigen wenigen Prämissen aus. Zweierlei charakterisierte seiner Ansicht nach die sich i n der Geschichte vollziehende Offenbarung: Klare Proportionen, ausgedrückt i n mathematisch faßbaren Zahlenverhältnissen, und eine stete Progression, erkennbar i n der kontinuierlichen Abfolge der Zeitalter. Die Bibel enthalte alle relevanten Daten, meinte Bengel, deshalb sei die Erkenntnis dieser Zusammenhänge einem geeigneten, von Gott berufenen Werkzeug durch solide exegetische Arbeit durchaus möglich 8 . Diese allgemeinen Prämissen wurden ergänzt durch einige spezielle Voraussetzungen: Bengel war überzeugt, die i n den biblischen Weissagungen erwähnten Ziffern, die prophetischen Zahlen, wie er sie nannte, könnten umgerechnet werden i n die Zeiteinheiten der antikeuropäischen Chronologie. Dadurch ließen sich Aussagen der biblischen Prophetie m i t historischen Daten korrelieren. Bengel setzte ferner voraus, hierin übrigens wieder Luther folgend, das Papsttum seit Gregor V I I . sei nichts anderes als das i n der Johannesoffenbarung genannte Tier aus dem Abgrund. Und schließlich glaubte er, Gott schenke jeder Zeit die für sie notwendigen heilsgeschichtlichen Einsichten 9 . Er vertraute also darauf, i n seiner von der Wiederkunft Christi nur noch eine kurze Frist entfernten Zeit sei es möglich, eine weitgehende Entschlüsselung der Offenbarung vorzulegen. Daß ihm, wie er meinte, diese Dechiffrierung gelungen sei, bestärkte andererseits wiederum seinen Glauben an das i n Kürze anbrechende neue Reich 10 . Von diesen Überlegungen kommen w i r zur zweiten oben gestellten Frage, dem Verhältnis von Profangeschichte und Heilsgeschichte bei Bengel. I n der „Erklärten Offenbarung" bemerkte er dazu, „bey einer rechten Auslegung der heiligen, und sonderlich der prophetischen Schrift kommt es hauptsächlich auf die himmlische Gnaden-Gabe an: und dabey t h u t gleichwol auch eine Wissenschaft von Sprachen, Historien und dergleichen", also eine Kenntnis der Profangeschichte, „einen Dienst". Er hoffe, auf beiden Wegen, auf dem der Exegese und auf dem der Historie und Philologie, etwas zu leisten. Es gelte, so weiter Bengel, dabei zu unterscheiden zwischen der Auslegung der historischen Zeiten, der Erklärung der prophetischen Zeiten und der Bindung 8 So Mälzer, Bengel, S. 313, und Gerhard Sauter, Die Zahl als Schlüssel zur Welt. Johann Albrecht Bengels »prophetische Zeitrechnung' im Zusammenhang seiner Theologie, Evangelische Theologie 26 (1966) S. 10; siehe zum folgenden auch Mälzer, Bengel, S. 311 - 335. 9 Dazu auch Walter Nigg, Das ewige Reich. Geschichte einer Hoffnung, Zürich 21954, S. 202 f. 10 Dazu besonders Sauter, Die Zahl, S. 13, 35, und Mälzer, Bengel, S. 312.

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„gewißer vergangener Geschichten oder künftiger Begegnungen an gewiße Jahre, Monate" 1 1 . Bengel meinte zwar, „meine Rechnung von vergangenen, und von künftigen bösen, guten und wieder bösen Zeiten, ist nichts erdachtes. Die Zeiten hangen alle, i n der Schrift, wie eine wundersame Kette, zusammen, und bestärken einander mächtiglich" 1 2 . I m Rückblick erscheint jedoch insbesondere diese „Alligation", wie Bengel das Korrelieren von historischen und prophetischen Angaben nannte, als eine zwar i n einem gesetzten Rahmen vollzogene und auch m i t einigem Wissen fundierte, vor allem aber m i t sehr viel Phantasie betriebene Spekulation. Die Historie w a r für Bengel dabei kein Feind biblischer Exegese, i m Gegenteil: Sie konnte, richtig betrieben, wie er glaubte, nur erklären, was i m A l t e n und i m Neuen Testament prophezeit w i r d ; sie lieferte also zusätzliches Beweismaterial zur Demonstration von Gottes Absichten m i t der Menschheit. „Eine Wissenschaft von den alten und neuen Kirchen- und Welt-Geschichten machet zwar die Sache bey weitem nicht aus", schrieb Bengel 1740, aber doch seien solche allgemein- und kirchenhistorischen Kenntnisse „unumgänglich nöthig" für jene, „die eine wahre Auslegung der Weissagung geben wollen. Denn wie kan man sonsten das, was bereits geschehen ist, oder das was geschieht, darthun, und es von dem, was annoch künftig ist, unterscheiden 13 ?" Dabei gelte es alle Relationen und Chroniken, die von Seuchen, Pest, Erdbeben, Wasserfluten, Hagel, Feuer, Teuerung, Mißwuchs und dergleichen berichteten, „hoch zu achten", priesen diese doch „des Höchsten Werke", zeigten sie doch Gottes Gerichte 14 . „Alles, was i n der weiten Welt, auf dem Erdboden, unter dem ganzen Himmel vorgehet", ergänzte Bengel 1747, „ i n allen Königreichen und bey allen Völkern, zu guten Zeiten, und i n Land-Plagen", all dieses sei beschrieben „ i n der Offenbarung". Und weiter: „Wann einer alle Welt- und Kirchen-Geschichten auf das pünctlichste inne hätte, und auf einen Hauffen ausforschete, so würde es nichts anders seyn, als eine Auslegung dessen, was i n dieser Weissagung zuvor verkündigt ist. Wer also von denen Begebenheiten einen Begriff hat, der kan solchen zu großem Nutzen anwenden 1 5 ." Schon 1740 hatte Bengel näher ausgeführt, wie historische Arbeit 11

Erklärte Offenbarung, Vorwort. Welt-Alter darin die Schriftmässige Zeiten-Linie bewiesen und die Siebenzig Wochen samt andern wichtigen Texten und heilsamen Lehren erörtert werden, Eßlingen 1746, S. 278. 13 Erklärte Offenbarung, 21746, S. 162; siehe dazu auch ebenda S. 91, und Sauter, Die Zahl, S. 14. 14 Erklärte Offenbarung, 21746, S. 354. 1 5 Sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis oder vielmehr Jesu Christi, Stuttgart 1747, S. 316; ähnlich auch ebenda S. 617: Die Offenbarung enthalte „eine summarische Kirchen-Historie", und S. 646: sie biete „eine Kirchen- und Weltgeschichte". 12

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seine Zukunftsberechnungen stützen könne: „Die Theile, deren unläugbaren Erfolg man i n der Historie siehet", wo also Weissagung und historisches Ereignis korrespondierten, „geben einen Beweis, man habe die anderen Theile, von denen i n dem Text eine Spur ist, daß sie gar nicht aus den menschlichen Geschichten zu erklären seyen, oder daß sie nicht aus der zur Zeit bekannten Historie völlig beleget werden können, gleichwol auch getroffen" 1 6 . Die Prioritäten blieben jedoch stets klar: Die Historie und die Historiker konnten nach Bengel zwar das Eintreffen von Weissagungen bestätigen, sie konnten aber niemals von sich aus zum Verständnis von Gottes Plänen hinführen; sie ermöglichten gewissermaßen i n Bengels Rechensystem die Gegenprobe, konnten aber niemals die biblische Eschatologie ersetzen 17 . Und selbst bei diesem Hilfsdienst kam es nach Bengel noch auf die Einstellung der Historiker an: „Je mehr die heutige Gelehrsamkeit sich zieret", mahnte Bengel, „je weiter entfernt sie sich von der Einfalt der Heiligen Schrift", und „wer sich nach dieser nicht richtet, muß leiden" 1 8 . Selbstkritisch konzedierte freilich auch Bengel, es könnten in seinem System Fehler sein, Fehler freilich, die sich nicht auf die Prämissen und die Grundsätze seiner Berechnungen, sondern allein auf deren Durchführung und damit auf das Datum der Wiederkunft Christi beziehen würden 1 9 . Bei der Klärung der dritten Frage schließlich, der Frage, wie Bengel die Aufgaben wahrer Christen i n seiner eigenen Zeit beurteilte, können w i r von Paul Althaus' i n streng lutherischem Geist formulierter K r i t i k an der pietistischen Eschatologie ausgehen. Paul Althaus bemerkte, biblische Eschatologie, wie Bengel sie vorgetragen habe, sei unbiblisch, da sie die Endgeschichte i n eine Reihe von Vorzeichen auflöse und das entscheidende Element der Eschatologie, deren stete Aktualität, auflöse 20 . Diese K r i t i k verkennt, so meine ich, Bengels Intentionen und Bengels Leistung, da dieser i n seiner endzeitlichen Eschatologie keinesfalls einer „Ent-Aktualisierung der Erwartung" 2 1 das Wort redete. Immer wieder unterstrich Bengel vielmehr, wie rasch sich das endzeitliche Geschehen vollziehe, wie groß die Versuchungen durch den Teufel ι* Erklärte Offenbarung, 21746, S. 360. 17 Dazu Sauter, Die Zahl, S. 14, und Mälzer, Bengel, S. 326. « Welt-Alter, S. 332. 1 9 Bengel äußerte sich auch nur sehr vorsichtig zur heilsgeschichtlichen Rolle einzelner Personen. So schlug er zwar vor, Johann Arndt und Spener könnten die zwei ersten Engel der Apokalypse sein, wollte sich auf diese kirchengeschichtliche Einordnung seiner zwei Vorläufer — die ihn selbst als dritten Engel der Apokalypse ausgewiesen hätten — nicht festlegen. Siehe dazu Welt-Alter, S. 276; Erklärte Offenbarung, 21746, S. 758, 767; Sechzig erbauliche Reden, S. 746 - 749, 780 f. 20 Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie (1922), Gütersloh 61949, S. 248 f., 264. 21 So Althaus. Die letzten Dinge. S. 276.

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bereits seien, wie notwendig deshalb die Glaubensstärke wahrer Gotteskinder, wie herrlich aber auch der ihnen verheißene Lohn. Es gelte, die verbliebene Bußfrist zu nützen, betonte Bengel beispielsweise i n den „Sechzig Erbaulichen Reden", „für diejenige(n), die redlich aushalten", sei „eine große Belohnung bereitet", und „je größere Proben" bestanden würden, desto „größer" sei auch „die Belohnung" derjenigen, „die zum Ziel gelangen"; es sei „ein Hauptfehler, wann man meynt, es gehe nur die Gelehrten an", denn was die Weissagungen betreffe, so fänden die geschicktesten Leute „oft den Boden nicht: und die Einfältigen erreichen oft den Grund"; man müsse also nicht verzagen, „wann man schon i n anderen Dingen nicht sehr beschlagen ist"; angesichts des zunehmenden teuflischen Grimms i n der Endzeit sei es „höchstnöthig uns m i t der göttlichen Wahrheit durch den Glauben an den Herrn Jesum Christum zu stärken und zu wapnen"; „viele, große, nahe, geschwinde, schröckliche Dinge" stünden bevor; „ w e i l das Ende unterdessen so viel näher gekommen" sei, gelte es wachsam zu sein 22 . Entsprechende Zitate ließen sich aus Bengels Werken mehren. Die knapp hundert Jahre, die zwischen Bengels Zeit und dem von ihm errechneten Wiederkunftstermin 1836 lagen, rechtfertigten in seinen Augen keine Saumseligkeit, sondern nur die höchste Glaubensanstrengung. Das Endzeitgeschehen wurde durch den präzisen Termin nicht entaktualisiert, wie Paul Althaus unterstellte, sondern auf erregende Weise aktuell. Zur gleichen Zeit warnte Bengel jedoch vor falscher Reaktion. Energisch forderte er seine Leser auf, sich Gruppen wie die Waldenser zum Vorbild zu nehmen, die statt der i n ihrer Zeit dominierenden „sündlichen, eitelen, tollen, unlustigen Lustbarkeiten, an statt unnöthiger, aussweif fender loser Händel" sich m i t dem Wort Gottes beschäftigten; er legte seinen Anhängern nahe, sich „ i n das, was itzt auf der Bahn ist, es seye nahe oder ferne, schicken [zu] lernen, bis der Jammer vorübergeht"2®. I m Kontext der politischen Verhältnisse Württembergs i m 18. Jahrhundert hießen solche Worte, daß Bengel seine Anhänger nicht i n den für sie aussichtslosen Kampf gegen den von ihnen abgelehnten höfischen Absolutismus schickte. Indem er ihnen die Konzentration auf Buße, Glauben und Gehorsam gegen Gott empfahl, stärkte er zwar die pietistische Neigung zum politischen Quietismus, schützte jedoch die pietistische Minderheit und rettete die Kontinuität der pietistischen Bewegung in diesem Lande. Bengels politische Ethik entsprang jedoch, das sei betont, nicht politischem Weitblick; sie entsprang zunächst seiner heilsgeschichtlichen Perspektive, die es i h m ermöglichte, die Probleme der Gegenwart als Teil einer größeren Entwicklung zu erkennen, und 22 Sechzig erbauliche Reden, S. 110 f., 198 f., 441, 820, 1107. 23 Sechzig erbauliche Reden, S. 722.

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sie wurde verstärkt durch die faszinierende Präzision seiner eschatologischen Mathematik. Dabei ist ein weiterer Zusammenhang nicht zu übersehen: Die von Bengel dargelegte Lehre von den Pflichten der Kinder Gottes i n den Stürmen der letzten Zeit gab den württembergischen Pietisten i n der Mitte des 18. Jahrhunderts auch klare ethische Richtlinien; indem diese Bengels Einsichten befolgten, machten sie ihn zum einflußreichsten württembergischen Pietisten seiner Zeit. Anders formuliert: Die Ergebnisse der Bengelschen Rechenkunst und die politischen Bedürfnisse der auf Existenzsicherung bedachten pietistischen Minderheit seiner Zeit entsprachen einander weitgehend 24 . Ein letztes Wort zu Bengels System sei angefügt. Obwohl i m Rückblick die unüberbrückbare Differenz zwischen seiner biblisch-spekulativen Zeitenrechnung und den von Experiment und Beobachtung ausgehenden Grundsätzen der modernen Wissenschaft, so wie diese sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelte, evident ist, fühlte sich Bengel als Teil der Gelehrtenwelt seiner Zeit. M i t lateinischen Publikationen zur Heilsgeschichte suchte er die internationale Fachwelt anzusprechen 25 , m i t Eifer und Sorgfalt war er bedacht, gegen i h n vorgebrachte Einwände zu widerlegen 2 6 ; wie vor i h m schon Spinoza, Leibniz und andere suchte er nach den Regeln einer auf mathematisch faßbare Strukturen gegründeten Welt, wie diese sah er i n der Einfachheit und der Kombinierbarkeit der von i h m entdeckten Elemente einer mathematischchronologischen Weltordnung einen sicheren Beweis für deren Wahrheit 2 7 . Wie einige Zitate Bengels erkennen lassen, sah er sich sogar an der entscheidenden Front wissenschaftlicher Auseinandersetzung kämpfen. „Andere Gelehrte verlassen sich auf ihren Verstand", polemisierte er 1746, „und sehen nicht auf das ganze durchgängige Zeugniß der Schrift, aus dessen Zusammenhang den einzelnen Schwierigkeiten abgeholfen w i r d " . „ M i r ist nichts daran gelegen", ergänzte er wenig später, „ob ich schleunigen oder langsamen Bey fall, vor oder nach meinem Heimgang, erhalte: aber es kan bald dazu kommen, daß die schriftmässige Zeit-Lehre einen sonderbaren Nutzen bringen (l.Chron. X I I al. XIII.32) und das Mistrauen oder gar das Streiten wider dieselbe viel Nachtheil verursachen möchte" 2 8 . Bringt man die gewundene D i k tion und die prophetische Arroganz dieser Sätze auf einen Nenner, dann heißt das doch, nur jene verdienten das zeitliche und ewige Heil, die sich seiner Lehre anschlossen. 24 Dazu Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1969, S. 79 f., 99 f., 124 - 134. 2 δ Dazu Mälzer, Bengel, S. 223. 2 6 Siehe ζ. B. Welt-Alter, 1745, und Johann Albrecht Bengels bekräftigtes Zeugniß der Wahrheit, Stuttgart 1748. 27 Dazu Sauter, Die Zahl, S. 18 - 24. 28 Welt-Alter, S. 372, 374.

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II. Während Bengel sein System allein auf eine Ausdeutung der biblischen Weissagungen aufgebaut und die Zeichen der Zeit völlig vernachlässigt oder nur als zusätzliche Beweise für seine Berechnungen angeführt hatte, drehten die württembergischen Pietisten i m Laufe des späten 18. und des 19. Jahrhunderts diese Relation völlig um, so daß sie, wenn sie über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft redeten und schrieben, die entscheidenden Hinweise immer mehr bei den Zeichen der Zeit suchten. Dieser Umschwung deutete sich bereits i n den ersten Jahrzehnten nach Bengels Tod an. Friedrich Christoph Oetinger, der zu den älteren Bengelschülern gehörte und Bengels Berechnungen, auch den Wiederkunftstermin 1836, akzeptierte, schilderte i n der A b handlung „Die güldene Zeit" nicht nur die Verhältnisse i m Tausendjährigen Reich, so wie er sie sich vorstellte, bis ins Detail 2 9 , ein gewiß heikles Thema, auf das sich Bengel nur summarisch eingelassen hatte 3 0 , er beschrieb auch jene Zeichen der Zeit, die dem Tausendjährigen Reich vorangehen würden. Z u ihnen gehöre, so Oetinger, „die große Rache, die Gott an den Völkern und auch an den Christen ausüben" werde, also eine A r t Gericht vor dem Jüngsten Gericht, und zu ihnen gehöre ferner „die Sammlung der Israeliten aus allen Enden der Welt" i n ihrem angestammten Land, wobei auch Wunder geschehen und „sich große Zeichen an Sonne, Mond und Sternen sehen lassen" würden 3 1 . Magnus Friedrich Roos aus der Gruppe der jüngeren Bengelschüler führte den realistischen Chiliasmus Oetingers 32 nicht weiter. A n Roos* 1786 publiziertem Buch „Prüfung der gegenwärtigen Zeit nach der Offenbarung Johannis" sind dagegen zwei andere Aspekte von Interesse. I n dieser Abhandlung, i n der er die Bengelschen Berechnungen noch einmal wiederholte und gegen K r i t i k e r verteidigte, konzedierte Roos zum einen, daß auch derjenige, der sich i n Bengels Rechnung „nicht finden" könne, „auch ohne dieselbe m i t dem Leitfaden der [in der Offenbarung Johannis vorgetragenen] Geschichten, wenn er sie m i t den Weissagungen vergleicht, ziemlich weit" komme. Für Roos war es also immerhin denkbar, auf die mathematische Komponente des Bengelschen Systems zu verzichten, solange man dem Verlauf der Heilsgeschichte insgesamt vertraute. Zum anderen nannte er als besondere endzeitliche „Vorbereitungen" i n seiner Zeit den „Indifferentismus, 29 Des Wirtembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger sämtliche Schriften, hrsg. v. K. Chr. E. Ehmann, 2. Abt. Bd. 6: Abhandlungen von den lezten Dingen, Stuttgart 1864, S. 1 - 91. 30 Vgl. Mälzer, Bengel, S. 324 f. 31 Schriften, Bd. 6, S. 27 f. 32 Dazu Nigg, Das ewige Reich, S. 207 - 209.

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Naturalismus und Atheismus" 3 3 . Gewiß diente dieser Hinweis dazu, den damals schon nicht mehr selbstverständlichen Glauben an die Bengelsche Chronologie zu stützen; indem Roos den Blick auf die neuen Zeichen der Zeit lenkte, förderte er aber auch vom Bengelschen System ganz unabhängige eschatologische Spekulationen. I n den Jahrzehnten nach 1789 wurde das Vergangenheit und Zukunft umfassende Bengelsche System i n Württemberg dann durch heilsgeschichtliche Erwägungen i n den Hintergrund gedrängt, die sich zuallererst am gegenwärtigen Geschehen orientierten. Die großen politischen Erschütterungen jener Epoche dramatisierten zwar auch Bengels endzeitliche Voraussagen, zugleich bewirkten sie jedoch bei vielen württembergischen Pietisten eine eschatologische Radikalisierung. Statt auf den vorherbestimmten und von Bengel vorausberechneten Gang der Dinge zu vertrauen, blickten sie fasziniert auf die großen Veränderungen, auf die neuen Zeichen der Zeit, und fühlten sich mitten i n das endzeitliche Geschehen hinein versetzt. I n der i m Jahre 1800 publizierten Schrift „Glaubens- und Hoffnungs-Blick des Volks Gottes i n der antichristlichen Zeit" schilderte der junge Geistliche Johann Jakob Friederich das der Wiederkunft Christi vorangehende Geschehen noch detaillierter als eine Generation zuvor Oetinger. Hatte Oetinger eher beiläufig dargelegt, auch Fremde, also auch Christen, könnten sich den i m Lande Israel i n der Endzeit zusammenströmenden Israeliten anschließen und dort, wo das Tausendjährige Reich zuerst errichtet würde, m i t gleichen Rechten wie die Israeliten leben 34 , betonte Friederich ausdrücklich, alle Christen, wo immer sie jetzt wohnten, die ins gelobte Land zögen, gehörten zu den Erstlingen der neuen Zeit. Wer immer sich dem Zug des Volkes Gottes anschließe, würde aller göttlichen Verheißungen teilhaftig; alles sei vorherbestimmt und vorhergeplant: „Die Marschroute ist längst für alle entworfen", schrieb Friederich, „unser Paß ist längst schon ausgefertigt". Darin seien dem Volke Gottes solche Privilegien erteilt, „daß sichtbare und unsichtbare Feinde, Meer- und Wasserflüsse, Berge und Hügel, ja selbst wilde Thiere, vor solchem Respekt haben und es ungehindert werden passieren lassen müssen". Die an Hitze nicht gewöhnten Württemberger sollten sich nicht fürchten, unterwegs einem Hitzschlag zu erliegen, ja selbst Kranke, Hinkende, Lahme, Blinde, Alte und Schwache, Schwangere und Säuglinge würden den großen Zug ins gelobte Land heil überstehen. Die endzeitlichen Phantasien Friederichs kannten offensichtlich keine Grenze. M i t der „Bitte um baldige Errettung aus der Gefangenschaft und Einführung ins verheißene Land" Schloß er sein Werk 3 5 . ss Roos, Prüfung der gegenwärtigen Zeit, S. 28, 188. 34 Schriften, Bd. 6, S. 15; siehe dazu auch Hans Bietenhard, Das Tausendjährige Reich. Eine biblisch-theologische Studie, Zürich 21955, S. 117.

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Als sich bereits i m Jahre 1801 einige württembergische Pietisten aber tatsächlich auf den Weg nach Palästina machten und bei der türkischen Gesandtschaft i n Wien u m Pässe nachsuchten, wurde Friederich vor das Konsistorium i n Stuttgart zitiert. Es ist hier nicht nötig, Friederichs weiteres Schicksal zu verfolgen 36 . Wichtiger ist die Beobachtung, daß vom Jahre 1801 bis etwa zum Jahre 1820 eine große Zahl religiös motivierter Auswanderer Württemberg verließ. Der kleinere Teil zog nach Amerika, um an der dort weitgehend verwirklichten religiösen Freiheit zu partizipieren, so beispielsweise Johann Georg Rapp und seine A n hänger, der größere Teil suchte den Weg i n den Osten, dorthin, wo der wiederkommende Herr zuerst erscheinen würde. Aber auch bei denjenigen Pietisten, die i m Lande blieben, dominierte damals der Glaube an das nahe Ende der Welt. Besondere Resonanz fand Johann Michael Hahn, ein belesener, schreibgewandter, für theologische und philosophische Probleme besonders aufgeschlossener Mann aus einfachsten Verhältnissen, der unter dem Einfluß von Jakob Böhme eine eigene Lehre von der Wiederbringung aller Dinge, von der ersten Auferstehung und vom Tausendjährigen Reich entwickelte, die sich nur noch zum Teil an den entsprechenden Aussagen Bengels orientierte 3 7 . Hahn beschäftigte sich auch immer wieder und besonders intensiv m i t der Ausdeutung der Zeichen seiner Zeit. I n einem Brief aus dem Jahre 1813 betonte er beispielsweise, es komme darauf an, „sichere Kennzeichen" zu haben, und wenn man ihn frage, welches „die sichersten Kennzeichen" seien, antworte er, „wenn das Reich des Herrn kommt. Und wann kommt denn dieß", so weiter Hahn, „wenn Satan gebunden w i r d i n den Abgrund. Und wann w i r d er gebunden? Wenn sein Maaß voll ist. Wann w i r d er es v o l l machen? Bald, und zwar durch seinen eingefleischten Satanssohn, den Widerchrist. Wann w i r d dieser kommen, Antwort: er kommt, wenn der Abfall kommt und gekommen ist, 35 Glaubens- und Hoffnungs-Blick, 1800, 21801, neu hrsg. durch Gottlob Ade, Stuttgart 1857, siehe vor allem Kapitel X I V - X V I . Zitat nach der Ausgabe von 1857, S. 93. Zu Friederich vgl. auch Friedrich Fritz, Johann Jakob Friederich (1759 - 1827). Ein Kapitel vom Glauben an einen Bergungsort und an das Tausendjährige Reich, Blätter für württembergische Kirchengeschichte 41 (1937) S. 140 - 194. 36 Siehe dazu Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung, S. 152 - 164, 174 - 187. 37 Siehe dazu: Die Schriftauffassung Johann Michael Hahns von der Wiederbringung aller Dinge, von der ersten Auferstehung und vom Tausendjährigen Reich hrsg. M. Hahnsche Gemeinschaft Stuttgart, Stuttgart 1930; Johann Michael Hahn. Briefe von der ersten Offenbarung Gottes durch die ganze Schöpfung bis an das Ziel aller Dinge oder System seiner Gedanken, Tübingen 1825; Johann Michael Hahn. Kurze Darstellung seines Lebens und seiner Lehre, hrsg. M. Hahnsche Gemeinschaft Stuttgart, Stuttgart o. J.; Gottlob Lang, Michael Hahn. Einführung in seine Gedankenwelt, Stuttgart 1923; Joachim Trautwein, Die Theosophie Michael Hahns und ihre Quellen, Stuttgart 1969.

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und dieser Abfall ist w i r k l i c h gekommen. Es kann also der Antichrist alle Tage und Jahre kommen, es ist Alles vorbereitet" 3 8 . I n einem Brief aus dem folgenden Jahr, 1814, modifizierte Hahn diese Aussage etwas: „Die Verführung ist groß und fast allgemein, sie w i r d aber freilich noch allgemeiner werden 3 9 ." Einem anderen Empfänger schrieb Hahn dagegen 1814, „aus den Begebenheiten unserer Zeit hat man wahrscheinlich Merkzeichen, daß er [der Herr] bald kommen könnte, ob man schon Tag und Stunde nicht bestimmen kann und soll". Und weiter: „Vielleicht ist es nicht mehr lange, bis der Bräutigam kommt; w i r haben Merkzeichen seiner Nähe"; so sei „nunmehr fast mehr Bewährungs- als Sammlungszeit für die Braut Christi" 4 0 . I n einem weiteren Brief führte Hahn ebenfalls 1814 dann wiederum aus, es sei zwar sicher, daß „ w i r i n äußerst bedenklichen Zeiten leben", man könne aber nicht wissen, wann der Herr komme und „ob nicht abermal ein Verzug" eintrete. Es sei „vorwitzig", Tag und Stunde bestimmen zu wollen. Zwar deuteten „Zeichen der Zeit und allerlei Weltbegebenheiten" darauf hin, „daß Alles bald kommen und geschehen wird, was zu erwarten ist", und doch fehlten „die sichersten Kennzeichen immer noch, ganz bestimmt zu wissen, woran w i r sind". Gewiß, „vielleicht" sei „die Zeit der Entscheidung sehr nahe", „vielleicht" kämen sie „bald aus dem Dunkel in's Helle", und doch behaupte er es nicht. Vor allem störe ihn eine „verdrießliche" Sache, die nicht i n die letzte Zeit passe, nämlich „der Zwist und die Uneinigkeit der Kinder Gottes. Dieses schändliche Ding", meinte Hahn, „sollte nicht seyn zu dieser Zeit". Daran, daß das Ende nahe sei, könne jedoch kein Zweifel sein. „Wer keinen Fehler machen w i l l , der verschiebe nur nichts, daß es i h n nicht bald reuen müße. Niemand schlage, plage, mißhandle oder übervortheile seinen Nebenmenschen oder Mitknecht i n der Meinung, als käme der Herr noch lange nicht", mahnte Hahn, „denn ach, wie bald kann er kommen 4 1 !" I m Jahre 1815 war Hahn schließlich von der Möglichkeit fasziniert, Napoleon sei der Antichrist. Als dieser Antichrist dann aber von durchaus irdischen Mächten geschlagen wurde, sah er sich genötigt, von dieser Version wieder abzurücken 42 . Das ganze Dilemma, das sich bei einer Ausdeutung der Zeitzeichen für jene Pietisten ergab, die aus ihnen sichere Hinweise für Gottes künftige Absichten erhalten wollten, zeigt sich bereits i n diesen Briefen Hahns: Je konkreter und direkter seine Deutung war, desto überzeugender w i r k t e sie für seine Anhänger, je aktueller jedoch der von i h m 38 39 40 41 42

Schriften, Bd. 13: Sendschreiben und Lieder, Tübingen 1841, S. 307, 309. Schriften, Bd. 13, S. 330. Schriften, Bd. 13, S. 362, 366. Schriften, Bd. 13, S. 395 - 401, 408. Dazu Trautwein, Die Theosophie Michael Hahns, S. 211 - 213.

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hergestellte Bezug, desto kurzfristiger auch dessen Geltung, desto notwendiger war es, bald eine revidierte Deutung vorzulegen, die die inzwischen eingetretenen Veränderungen auf eine neue heilsgeschichtliche Formel brachte. Die vorsichtig-gewundenen Formulierungen i n den zitierten Briefen resultierten also nicht nur aus Hahns persönlichem Stil; solches Ausweichen und Spekulieren lag auch i n der Natur der von i h m verfolgten Sache. Als das Jahr 1836 anbrach, war unter den württembergischen Pietisten die Erinnerung an Bengels präzise berechneten Termin zwar noch lebendig; angesichts der allgemeinen politischen Beruhigung seit dem Jahre 1815 wollte keiner jedoch so recht daran glauben, das letzte Wüten des Antichristen und seine endgültige Niederlage stünden nunmehr bevor. Der junge Korntaler Geistliche Sixt K a r l Kapff konnte sich der undankbaren Aufgabe nicht entziehen, i n dieser Situation ein klärendes Wort zu sprechen. Kapff postulierte einleitend, das „Was", also der Glaube an „eine sichtbare Zukunft Jesu Christi als des verklärten Menschensohnes", müsse bleiben, „wenn auch das Wann eine Verzögerung erleidet". U m dieses „Wann" zu bestimmen, gelte es auf zwei Zeichen zu achten: A u f die Verführung durch falsche Propheten sowie zunehmenden Unglauben, also auf „ein Zeichen der Macht des Teufels" zum einen, und zum anderen auf die Verkündigung des Evangeliums i n der ganzen Welt, „ein Zeichen der Macht des Herrn". Was dieses letztere Zeichen angehe, fuhr Kapff fort, so sei zu konstatieren, daß das Evangelium tatsächlich noch nicht überall verkündigt sei. „Wenn der HErr w i l l " , setzte Kapff hinzu, dann könne aber „Alles i n sehr kurzer Zeit geschehen". Was den sich ausbreitenden Unglauben betreffe, so verweise er neben Hegel, David Friedrich Strauss und Goethe vor allem auf Gutzkow und Heine. Dazu Kapff: „ K a n n der Antichrist eine andere Sprache führen, als diese Menschen?" Solch dezidierte Urteile können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch Kapffs Stellungnahme letztlich unklar blieb. A u f der einen Seite verkündete er: „Der Charakter unserer Zeit ist Eile, sie eilt i n der Windstille, was w i r d erst i m Sturme geschehen", und weiter: „Die ganze Welt liegt i m Argen, und der Satan hat einen großen Zorn und weiß, daß er wenig Zeit mehr hat." A u f der anderen Seite wies er auf „Andeutungen über einen vielleicht noch ziemlich lange dauernden Verzug der Zukunft des H E r r n " hin, auf eine außerhalb jeder Berechnung liegende „große Gedulds-Zeit, da der HErr, was noch zu retten ist, retten w i l l " 4 3 . W i r wissen nicht, ob Kapff diesen Widerspruch absichtlich gelassen hatte; auf alle Fälle diente sein Hinweis auf das nahe Weltenende dazu, seinen Ermahnungen den nötigen Ernst zu geben, 43 Die Zukunft des Herrn. Belehrungen aus Matthäi 24 und 25, verglichen mit den Zeichen der Zeit, Stuttgart 1836, Zitate S. 2, 29 - 79.

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während seine Bemerkung, dieses Ende könnte noch einige Zeit auf sich warten lassen, ihn für die nähere Zukunft der mißlichen Aufgabe enthob, das erneute Ausbleiben der Wiederkunft noch einmal zu erklären. Der vom eschatologischen Enthusiasmus bestimmte und vor allem beim Gemeinen Mann populäre separatistische Pietismus hatte i n den 1830er Jahren zudem bereits viel von seiner Kraft verloren. I n W ü r t temberg wurde seine geistige und politische W i r k u n g damals bereits weit über troff en von jenen vor allem i m Bürgertum der Kleinstädte beheimateten pietistischen Gruppen, die eine christliche Gesellschaftserneuerung anstrebten. I n unserem Zusammenhang gilt es näher auf Christian Gottlob Barth einzugehen, der zwischen 1834 und 1843 i n dem von ihm gegründeten Calwer Verlagsverein mehrere Geschichtslehrbücher herausbrachte. M i t seiner 1834 veröffentlichten „Christlichen Kirchengeschichte für Schulen und Familien" wollte Barth nicht nur zur Bekehrung der seiner Ansicht nach ungläubigen Schuljugend beitragen, hier unternahm er auch den Versuch, eine heilsgeschichtliche Deutung der gesamten Geschichte vorzulegen 44 , folgte bei der Beschreibung des Altertums, des Mittelalters und der Reformationszeit freilich den seinerzeit von Bengel skizzierten Linien 4 5 . So charakterisierte er beispielsweise Gregor V I I . als den großen Verderber der Kirche, die Waldenser und die böhmischen Brüder dagegen als die wahre Kirche, i n der m i t der Reformation dann der „volle Frühling" anbrach. Bei der Beurteilung seiner eigenen Zeit wich Barth aber von den Bengelschen Voraussagen ab. Seit dem Sturz Napoleons hätten sich die Verhältnisse i n Deutschland sehr gebessert, betonte er, „Fürsten und Staatsmänner, Gelehrte und Prediger, Reiche und Arme — wenigstens Viele von ihnen — sind wieder zum Glauben zurückgekehrt; die Bibel- und Missionssache hat an manchen Orten frisches Leben angeregt; gute christliche Bücher sind i n großer Zahl verbreitet worden". Zwar sei „noch 44 Ausdrücklich gegen den endzeitlichen Enthusiasmus und radikalen Chiliasmus gerichtet ist eine von Katharina Fausel, einer 1836 in Wilhelmsdorf lebenden jungen Frau von 21 Jahren, am 16. Juni 1836, also zwei Tage vor dem von Bengel errechneten Termin, handschriftlich eingetragene Widmung in meinem aus Familienbesitz stammenden Exemplar der „Christlichen Kirchengeschichte" Barths, Stuttgart & Calw 31836. Sie lautet (die Satzzeichen wurden von mir ergänzt): „Man kommt nicht nur mit Rennen zur Himmelsthür hinein; man muß ausweisen können, wer und woher wir sein; auf welchem Weg wir gingen, ob Jesus unser Ziel; den Paß muß mit sich bringen, wer in den Himmel will." 45 Die folgenden Zitate S. 172, 254 f. Zum Hintergrund siehe: Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung. S. 188 - 212.

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lange kein Paradies" entstanden; auch wisse man nicht, wie sich der Streit zwischen „Licht und Finsterniß" weiter entwickeln werde; da die jetzt geschenkten „Gnadenmittel" auch wieder genommen werden könnten, gelte es „sie recht benützen, so lange sie da sind". Auch i n seiner 1837 i n Calw und Stuttgart publizierten „Allgemeinen Weltgeschichte nach biblischen Grundsätzen bearbeitet für nachdenksame Leser" 4 6 benützte Barth die von Bengel geprägten Periodisierungen und Wertungen. Die von Barth i n diesem Werk intendierte betont christliche Bewertung der Profangeschichte beschränkte sich freilich auf wenige Sätze. Völker, die Gottes Willen gehorchten, unterstrich er, würden von Gott belohnt; andere, die i h m widerstrebten, vor allem die i n Laster und Luxus lebten, würden zuerst gewarnt, dann gezüchtigt, und wenn sie sich immer noch nicht bekehrten, schließlich m i t dem Untergang bestraft. „Solche Gerichtsstunden schlugen" nach Barth „über Sodom, Tyrus, Babylon, Karthago, Jerusalem". Und weiter: „Feuer und Hagel, Stürme und Meeresbrausen, Theuerung und Dürre, Erdbeben und Gewitter richteten von Zeit zu Zeit die Botschaft Gottes an die Menschen aus." Die indianischen K u l t u r e n Amerikas waren, u m Barths rigorose Auslegung göttlicher Strenge an einem Beispiel zu verdeutlichen, als die Europäer Amerika entdeckten, „innerlich von hochgetriebenen Lastern, Uneinigkeit und Selbstsucht zerrüttet", und „daraus erklären sich auch die schrecklichen Gerichte, welche Gott über diese Völker kommen ließ. Sie waren reif zur Ausrottung." Gottes Zuchtruten waren die Spanier, die aber, „indem sie die verdorbenen Amerikaner i m Trieb ihres eigenen verkehrten Herzens bestraften, selbst ein Gegenstand des strafenden Zorns Gottes" wurden. Auch i n seiner Weltgeschichte pries Barth i m übrigen die 1815 eingetretene „Wendung zum Besseren", prophezeite zugleich aber eine neue Zeit des Kampfes. Ehe die Weltgeschichte vollendet würde, schrieb er, erscheine der große Verführer: „Der w i r d geistliche und weltliche Gewalt vereinigen, das Papstthum stürzen, und sich selbst für den Messias ausgeben, alle Anhänger des wahren Christus aber vertilgen." Dann würde jedoch Christus „selbst" erscheinen und der Macht der Finsternis ein Ende bereiten. I n „sein altes Erbland" zurückgerufen und zu Christus bekehrt, würde das „ V o l k Israel" dabei „den neuen Mittelpunkt der Geschichte bilden". Das sei „die Entwicklung der Weltgeschichte zu ihrem Ziele"; die Bibel sage jedoch nicht, wie lange es noch bis dahin dauern werde; sie verweise auf die „Zeichen der Zeit", und wer diese „nicht selbst bemerkt", setzte Barth geheimnisvoll hinzu, „dem würde 4 6 Die folgenden Zitate S. 106 f., 241, 368. Etwas faktenreicher und noch positivistischer als Barths Weltgeschichte ist das ebenfalls beim Calwer Verlags ver ein zuerst 1840 und dann in zahlreichen Auflagen erschienene „Handbüchlein der Weltgeschichte" von Johann Christoph Blumhardt.

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es wenig helfen, wenn man i h m auch i m Einzelnen zeigen wollte, auf was sie i n unseren Tagen deuten". Einige Passagen i n Barths 1843 gedruckter „Geschichte von Württemberg neu erzählt für den Bürger und Landmann" 47 " zeigen seine Vorstellungen von betont christlicher Geschichtsschreibung noch deutlicher. Der geneigte Leser müsse wissen, schrieb Barth einleitend, es gebe „zwei gelobte Länder i n der W e l t " : das Land Kanaan oder Palästina und Württemberg. Beide Länder seien nicht nur i n äußerer Hinsicht ähnlich, beide hätte Gott auch besonders reich gesegnet. Wenn die Württemberger ihre Gaben mißbrauchten, erginge es ihnen deshalb nicht besser als dem Volke Israel. Was Barth m i t diesen Sätzen meinte, zeigt seine Darstellung: Wann immer i n Württemberg ein seiner A n sicht nach eigensüchtiger Herrscher regierte und das Volk sittenlos lebte, griff Gott m i t Strafgerichten ein; wann immer es aber gute Herrscher gab und das Volk tugendsam und fromm war, dann ergoß sich Gottes Segen und Lohn. So wurden beispielsweise nach Barth die Gewalttaten Herzog Ulrichs durch sein E x i l und die Besetzung Württembergs durch Österreich bestraft, seine Übernahme der Reformation jedoch durch die Rückführung i n sein Herzogtum belohnt. Die Beispiele ließen sich mehren. Obwohl Barths Geschichtsbücher i n zahlreichen Auflagen erschienen, blieb ihr Einfluß begrenzt, wobei das pietistische Geschichtsbild i m 19. Jahrhundert i n württembergischen Volksschulen stärker als i n den höheren Bildungsanstalten wirkte, wo es kaum Anhänger fand. Aus diesem Grunde polemisierte nach der Revolution von 1848 der inzwischen zum Dekan i n Münsingen ernannte Kapff erneut gegen die i n den württembergischen Gymnasien dominierende klassische humanistische Bildung und betonte, „ n u r Christus" sei „der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte, nur sein Geist und Sinn der Lehrer einer gesunden Politik". Führen „unsere Professoren, Real- und Schul-Lehrer fort, eine Geschichte zu lehren ohne einen Christus", so hätte man „fortwährend von unserer Jugend das Schlimmste zu befürchten", dann würde „der revolutionäre Geist" auch künftig „unsere Jünglinge . . . zu offenen oder geheimen Demagogen heranbilden" 4 8 . Trotz dieser Klage wurden von Pietisten nach 1848 jedoch keine weiteren Geschichtsbücher verfaßt. Wenn sie sich i n den folgenden Jahrzehnten zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft äußerten, griffen sie vielmehr wieder ausschließlich auf die biblischen Weissagungen und die Zeichen der Zeit zurück. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen 49 . 47 Vgl. S. 1 - 4, 66 f., 112 - 174, 231. Die Revolution, ihre Ursachen, Folgen und Heilmittel, Hamburg 1851, S. 63. 48

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Der einflußreichste württembergische Pietist des späten 19. Jahrhunderts, der Stuttgarter Rektor Christian Dietrich, faßte das, was er als „Hauptpunkte der biblischen Weissagung" bezeichnete, folgendermaßen zusammen: Das Evangelium vom Reich Gottes müsse unter allen Völkern gepredigt sein; die alte Christenheit falle von Gott ab; die „antichristische Weltmacht" stürze „das buhlerische Rom"; ein persönlicher Antichrist trete als Weltherrscher auf; die wenigen getreuen Christen würden verfolgt; „Gerichtsheimsuchungen von unerhörter A r t und Ausdehnung" kündigten schließlich „das Nahen des Richters" an. Dietrichs Fazit, niedergeschrieben gegen Ende der Bismarckzeit: Die Zeit eile, es gelte die verbliebene Gnadenfrist „auszukaufen für die Werke des Herrn" 5 0 . Sowohl 1914 als auch besonders 1918/19, sowohl i n den letzten Jahren der Weimarer Zeit als dann ebenso, allerdings eher vorsichtig und verschlüsselt, i m Dritten Reich, meditierten und sinnierten, rätselten, grübelten und spekulierten zahlreiche württembergische Pietisten über die Bedeutung der Zeichen der Zeit und über die für sie sich daraus ergebenden Konsequenzen. Immer wieder kamen sie zu dem Schluß, die letzte Zeit sei angebrochen, Buße und Festigkeit i m Glauben seien für wahre Gotteskinder das Gebot der Stunde. U m die Ergebnisse der Geschichtsforschung kümmerten sie sich bei ihren heilsgeschichtlichen Erwägungen wenig. Die „menschliche Geschichtsschreibung" erfasse „die Entwicklung der Menschheit nur i n ihrer Mitte", gab der Stuttgarter Lehrer und spätere Leiter der Hahn^· sehen Gemeinschaft Friedrich Jehle 1920 zu bedenken; sie wisse „über Anfang und Ende nichts Gewisses auszusagen". Das Reich Gottes und seine Geschichte seien demgegenüber „der tragende Grund der ganzen Weltentwicklung, die göttlichen Offenbarungstaten" nichts anderes als „die wahren Knotenpunkte und Fortschrittselemente i m Weltgang, die biblische Geschichte und Weissagung letzlich der Schlüssel zum Verständnis der Profangeschichte". So war Jehle nicht nur überzeugt, die Bibel sei „das großartigste Geschichtsbuch, das die zwischen Gott und der Kreatur vorgehende Geschichte schildert, die m i t der Erschaffung Himmels und der Erde beginnt und m i t der Neuschöpfung beider schließt"; Jehle glaubte auch, „die Elle unserer Spätlings w e i t " sei „viel zu klein, um die Verhältnisse der Urwelt danach zu bemessen"; „die Verhältnisse der Unordnung", i n der er und seine Zeitgenossen lebten, 4» Ein in der Tradition von Oetinger und Friederich entwickeltes besonderes Geschichtsverständnis besaßen der von dem in den 1850er Jahren in Württemberg herrschenden Pietismus verstoßene Christoph Hoffmann und die von ihm gegründete Tempelgesellschaft. Zu den folgenden Abschnitten siehe auch Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung, S. 212 - 348. so Kirchliche Fragen der Gegenwart (1887), Kassel 21888, S. 98, 131. 5*

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seien ungeeignet, um als „Maßstab für die Urordnung" zu dienen; das „Irrtümliche" dürfe nicht zu Beurteilung des „Urtümliche(n)" herangezogen werden. Notwendig sei es deshalb, so noch einmal Jehle, „aus den Zaubergärten der Künste und Wissenschaften, aus den Irrgärten menschlicher Gedankensysteme immer wieder emporzusteigen i n den Paradiesesgarten der Hl. Schrift" 5 1 . Solche Bemerkungen zeugen von unhistorischem Fundamentalismus, der das theologische Denken vieler württembergischer Pietisten seit dem 19. Jahrhundert charakterisiert. Sie bemühten sich nicht mehr wie seinerzeit Bengel darum, das gesamte Wissen ihrer Zeit nach heilsgeschichtlichen Gesichtspunkten zu ordnen, sondern begnügten sich m i t den biblischen Weissagungen und den ihnen i n den Zeichen der Zeit von Gott gegebenen und von den Führern ihrer Bewegung erklärten Hinweisen. Dabei konnten sich die württembergischen Pietisten freilich auf keinen Katalog jener Zeitzeichen einigen, die der von ihnen erhofften und erwarteten Wiederkunft Christi unmittelbar vorangehen w ü r den. Der ehemalige Basler Missionsdirektor und spätere Prälat der württembergischen Landeskirche K a r l Hartenstein, der zwar i n der pietistischen Tradition lebte, dem Pietismus seiner Zeit aber nicht unkritisch gegenüberstand, schrieb beispielsweise 1940: „Der Ruf Gottes w i r d dringender, die Zeit w i r d kürzer, die Zeichen klarer, sein Kommen für die Gemeinde immer deutlicher erkennbar." Zwar hätte zunächst noch ein gewisser Aufschub bestanden, so daß das Evangelium hätte weiter verkündet werden können und die Gemeinde trotz aller Verfolgung bewahrt geblieben sei; dann aber hätten sich die Gerichte erweitert, sei der Einbruch dämonischer Gewalten erfolgt, sei es zu „wirklicher Massenverführung, zu einem erschütternden Massenabfall, zu einer tiefen Massenzerrüttung" gekommen. M i t dem 18. Jahrhundert, als sich die Vernunft des Menschen aus den Bindungen an Gott gelöst und der Mensch sich „zum Maß aller Dinge" gesetzt habe, sei „eine ganz entscheidende Wende" erfolgt: Nun sei es zu einem bewußt antichristlichen Geist, zu Revolutionen und zu einer totalen „Entgottung" i n allen Lebensbereichen gekommen. U n d hier sei auch der „Ansatzpunkt" zu suchen, um „die unheimlichen und aufrüttelnden Zeichen Gottes" i n seiner eigenen Zeit zu verstehen. Hartenstein betonte zwar, er wolle „alles vermeiden, was nach Rechnen und Berechnen" aussehe; alle Zahlen und Zeiten seien der Gemeinde Christi „nicht zum Rechnen sondern zum Wachen auf die Zeichen der Zeit und zum Warten auf den kommenden Herrn" gegeben. Und doch folgerte er m i t geradezu mathematischer Präzision aus der Auslegung der Offenbarung Johannis, i n seiner eigenen Zeit sei das Weltenende nahe. „Noch" kämpfe zwar 51

Weltschöpfung und Weltvollendung, Hamburg 1922, S. 35, 38, 56 f., 60, 75.

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Christus „ u m die Herzen der Menschen", und doch spürten alle, „wie die Zeit rückt". Wer die endzeitlichen Gestalten aus der Offenbarung Johannis richtig deute, so Hartenstein 1940, dem blieben nur „Gebet und Zittern, daß der Herr uns bewahre und stärke, u m die Versuchungen der Zeit zu bestehen". „ M i t gewaltigen Schritten" gehe Gott der Herr auf sein Ziel und auf das Ende zu 5 2 . I n einer völlig veränderten politischen Situation prophezeite der Korntaler Pfarrer Fritz Grünzweig Ende der 1950er Jahre erneut, die Vorzeichen der Wiederkunft Christi" würden „großenteils aus dem Nebel der Zukunft hervortreten"; notwendig sei es, „daß w i r uns reinigen, richten, sammeln und zu einer mobilen Truppe unseres Herrn machen lassen"; „die abendländische Christenheit" müsse sich „neu ordnen, Waffen und Ausrüstung überprüfen und das Gepäck auf das einer einsatzfähigen Truppe beschränken". Grünzweig begründete diesen seltsamen Aufruf m i t dem Hinweis auf fünf apokalyptische Zeitzeichen: Bei der Verkündigung des Evangeliums sei „die Entwicklung beachtenswert weit vorgeschritten"; die angekündigten Naturkatastrophen fehlten zwar, aber m i t der Atomspaltung habe der Mensch „unübersehbare Möglichkeiten" i n die Hand bekommen, Katastrophen auszulösen; das Auftreten des Antichristen, so der dritte Punkt, bereite sich vor; die Christen Verfolgung sei, so viertens, i n den letzten Jahren, „wenn auch noch m i t einer gewissen Zurückhaltung", i n weiten Teilen der Welt „neu aufgebrochen" ; vor allem aber, so fünftens und letztens, habe Gott „das Gericht über Israel wieder aufgehoben" und versammle dieses Volk wieder i m Lande seiner Väter. „Israel ist das Zeichen unserer Zeit dafür", so Grünzweig 1958 und erneut 1962, „daß sich der gegenwärtige Äon seinem Ende zuneigt. Es ist der Zeiger an der Weltenuhr Gottes". Z w a r anerkenne Israel Jesus von Nazareth noch „nicht als seinen Messias"; auch sei unklar, „durch welche Nöte es vor der ganzen Erfüllung der Verheißung noch gehen muß" ; und doch vollziehe „sich heute vor unseren Augen" die „äußere Bereitstellung für das Letzte" 5 3 . Diese fünf Grünzweigschen Kriterien, für die er jeweils einzelne Bibelstellen anführte, brachten ohne Zweifel eine gewisse Ordnung i n die eher unsystematische eschatologische Diskussion der vorangehenden Jahrzehnte; es ist jedoch gerade diese Ordnung, die verblüfft, reduzierte Grünzweig die gesamte Eschatologie damit doch zu einer Liste, deren einzelne Punkte geprüft und dann abgehakt werden können. 52 Der wiederkommende Herr. Eine Auslegung der Offenbarung Johannis, Stuttgart 1940, S. 37, 112 f., 126 ff., 155, 167, 224. 5 3 Sind wir für die Zukunft gerüstet?, Metzingen 1962, S. 5 f., 9 6 - 9 9 ; zwar in anderer Reihenfolge, im übrigen aber in wörtlich fast gleicher Formulierung nannte Grünzweig die gleichen fünf Punkte schon in: Die Evangelische Brüdergemeinde Korntal. Weg. Wesen. Werk, Metzingen 1958, S. 219 - 221.

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III. Zusammenfassend folgendes: Sowohl das Bengelsche System als auch später die Deutung der Zeitzeichen vermittelten den württembergischen Pietisten das Gefühl einer nur ihnen offenbarten besonderen heilsgeschichtlichen Einsicht. Sowohl durch Bengels eschatologische Chronologie als auch durch die Überzeugung, i n politischen Veränderungen und Katastrophen aller A r t manifestierten sich göttliche Offenbarungen, schufen sie sich ein nur ihnen eigenes Weltbild, ein für die Anhänger ihrer Bewegung zu akzeptierendes und nur von diesen akzeptiertes eigenes religiöses, ethisches und auch politisches Bezugssystem. Die Überzeugung, mehr als ihre Zeitgenossen über den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Verlauf der Welt zu wissen, führte zu zwei Reaktionen: Sie bewirkte zunächst, daß sich die württembergischen Pietisten i n der Regel konsequent von anderen gesellschaftlichen Gruppen und von anderen geistigen oder politischen Bewegungen abkapselten. Daß ihre Gruppe klein war und klein blieb, war für sie geradezu ein weiteres Zeitzeichen. Außerdem führte die von den württembergischen Pietisten reklamierte besondere heilsgeschichtliche Einsicht zu einer starken inneren Disziplin i n ihrer Bewegung, auch zur Ausbildung einer starken eigenen Tradition. Verkürzt formuliert könnte man sagen, daß sich die württembergischen Pietisten durch ihre heilsgeschichtlichen Sonderlehren isolierten und i n der Isolation eine Eigenkultur entwickelten, die weitere Abgrenzung implizierte. A u f die Unterschiede zwischen Bengels System und der späteren endzeitlichen Deutung des Zeitgeschehens soll abschließend noch einmal hingewiesen werden 5 4 . Bengel lebte i n einer Zeit, i n der Herzog Eberhard L u d w i g die alte patriarchalische Regierungsform i n Württemberg aufgegeben und eine neue höfische K u l t u r m i t unerhörtem Glanz und ebenso unerhörten Schattenseiten etabliert hatte, i n einer Zeit, i n der Herzog K a r l Alexander die Landestradition mißachtete, auf landfremde Ratgeber hörte und i m erzprotestantischen Württemberg wieder katholische Gottesdienste 54 Die kritischen Stimmen in der neueren Bengelliteratur, die auf die fraglichen Prämissen und auf den spekulativen Charakter seiner Rechenoperationen aufmerksam machen, sollen hier nicht wiederholt werden. Dazu vor allem Mälzer, Bengel, S. 241, 319, 332-335; siehe auch Sauter, Die Zahl, S. 34, und Nigg, Das ewige Reich, S. 203, dessen weitere Ausführungen die theologischen Bemühungen Bengels allerdings in unzulässiger Weise idealisieren. So S. 201 f.: Bengels Auslegung der Offenbarung Johannis sei „nicht Neigung zu Geheimniskrämerei oder bloßer Schriftgehorsam" ; S. 203 : Bengels „sachliche Arbeit" habe „einen läuternden, heilsamen Einfluß auf die pietistische Denkweise" ausgeübt; Bengel habe „nicht langweilige Exegese, sondern kühne Deutung" vorgelegt; S. 204: Bengel sei „nicht ein konfuser Phantast, sondern ein begnadeter Bibeltheologe, der auf solider Basis arbeitete", gewesen. Daß Bengel, wie Nigg S. 205 schreibt, „den Horizont des schwäbischen Pietismus gewaltig erweitert(e)", ist hingegen unbestreitbar.

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einführte. I n dieser bewegten Zeit, i n der das alte Recht und die alten Sitten und damit nach Ansicht der frommen Christen die für Gottes Segen notwendigen Voraussetzungen verloren zu gehen schienen, gaben Bengels Werke jenen, die i h m glaubten, wiederum eine feste und klare Orientierung. I n diesem Zusammenhang kam es dann gar nicht darauf an, daß Bengels apokalyptische Berechnungen von der lutherischen Tradition nicht gedeckt und i n vielen Punkten unhaltbar waren; hier kam es allein an auf die weitgehende Kongruenz zwischen der von Bengel m i t Hilfe seiner biblisch-mathematischen Beweisführung entschlüsselten und scheinbar objektiv dargelegten endzeitlichen Entwicklung und der von vielen um ihr Seelenheil besorgten württembergischen Pietisten subjektiv empfundenen Notlage. Vor diesem Hintergrund zählte es wenig, daß Bengel m i t seinem eschatologischen Determinismus schon i m geistigen Leben seiner Zeit ein Außenseiter war; hier kam es viel mehr auf die besonderen Prämien an, die er für alle i n Aussicht stellte, die seinem Rat folgten. Indem Bengel die heilsgeschichtliche Standortbestimmung m i t der Mahnung zu Buße und Bekehrung verband, gewannen die von i h m gepredigte antihöfische Ethik Glaubwürdigkeit und sein eschatologisches System eine politische Funktion. I m Vergleich m i t Bengels Vorgehen erscheint die Deutung der Zeitzeichen als ein einfacheres und zugleich schwierigeres Unterfangen. Sie erscheint einfacher, w e i l die württembergischen Pietisten des 19. und 20. Jahrhunderts bei der Deutung der Zeitzeichen höchstens einige exegetische Überlegungen zur Offenbarung Johannis anstellten, i m übrigen aber auf den großen gelehrten Apparat, m i t dem Bengel sein System gestützt hatte, verzichteten. Häufig versuchten sie m i t geradezu prophetischer Arroganz, sich einen direkten, fast intuitiven Zugang zu dem zu verschaffen, was sie als göttliche Offenbarung i n ihrer Zeit ansahen. Während aber Bengel m i t seiner Methode zu anscheinend exakten Ergebnissen gekommen war, machten die späteren pietistischen Zeichendeuter zwar einige ganz konkrete Aussagen, ließen entscheidende Punkte aber doch offen. Diese Mischung aus direkten und vagen Hinweisen verwundert jedoch nicht: N u r wenn nicht zu viele konkrete Aussagen gemacht wurden, veralteten ihre ohnehin sehr zeitgebundenen Deutungen der Zeitzeichen nicht so rasch; nur wenn ihre Auslegungen anschaulich und zugleich auch v o l l von Anspielungen und Andeutungen waren, konnten sie als eine A r t Geheimcode für Eingeweihte erscheinen und damit auch an A t t r a k t i v i t ä t für jene gewinnen, die i n diese Geheimnisse eindringen wollten. Der hier erkennbare Zug ins Spekulative w i r d dadurch noch verstärkt, daß die eschatologischen Kriterien, wie der Fortschritt der Heidenmission und die Sammlung der Juden, wie Katastrophen, Kriege

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und Not, die sie zur Beurteilung der Zeitzeichen heranzogen, i n ihrer Epoche leicht zu finden waren, daß diese Kriterien jedoch elementare politische und soziale Bewegungen nur teilweise erfaßten, marginale Entwicklungen gelegentlich als Beweis heranzogen und gegenläufige Tendenzen nicht genügend berücksichtigten. Diese Behauptungen gilt es zu begründen. Die württembergischen Pietisten des 19. und 20. Jahrhunderts negierten bei ihrer Deutung der Zeitzeichen elementare historische Entwicklungen; so setzten sie sich, u m nur ein Beispiel zu nennen, m i t den politischen, ökonomischen, demographischen und sozialen Folgen der Industriellen Revolution nicht auseinander. Der Einwand, auf diese Thematik treffe keine besondere biblische Weissagung zu, zeigt nur, w i e wenig die von den württembergischen Pietisten angewandte eschatologische Kasuistik geeignet war, Hinweise zur Deutung historisch-politischer Entscheidungsfragen zu liefern. Marginales wurde dagegen von ihnen betont, wenn sie aus einzelnen Katastrophen oder einzelnen Ereignissen weitreichende Folgerungen zogen; gegenläufige Tendenzen verkannten sie, wenn sie beispielsweise die Verkündigung des Evangeliums beobachteten, aber sowohl das Wachstum der Weltbevölkerung als auch die Fortschritte konkurrierender Religionen wie die des Islams außer acht ließen. Wie die einzelnen Versuche, die Zeichen der Zeit zu erklären, beweisen, kam schließlich bei allen Deutungen noch ein Stück Konservativismus hinzu. M i t der Ausnahme von Christoph Blumhardt, der die politischen Veränderungen seiner Zeit als Wege zum kommenden Gottesreich pries, werteten die württembergischen Pietisten Veränderungen der traditionellen Ordnung stets als besonders bedrohliche Zeitzeichen. I n ihren apokalyptischen Spekulationen über die Nähe der Wiederkunft Christi und die daraus abzuleitenden Konsequenzen mischten sich nicht nur Antiliberalismus und Antisozialismus, sondern generell konservative Zeitkritik, Kulturpessimismus, Antimodernismus überhaupt. Eine letzte Bemerkung sei angefügt. Nach den heilsgeschichtlichen Überzeugungen der württembergischen Pietisten bedeutete Vergangenheit geschehene Offenbarung Gottes und die Gegenwart eine Station auf einem vorherbestimmten Weg i n eine zwar noch nicht bis ins letzte erkennbare, aber ebenso vorherbestimmte Zukunft. Diese heilsgeschichtlichen Einsichten drückten sich aus i n ihrer persönlichen Ethik und Frömmigkeit. W i l l man das Denken der württembergischen Pietisten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beurteilen, kommt zu der heilsgeschichtlichen und zu der persönlichen Ebene noch als dritter Komplex der jeweilige geistige, politische und soziale Kontext hinzu. Das heißt: Trotz des ständigen Bemühens, ihre Bewegung vom Denken und Handeln der „Weltkinder" zu isolieren, waren die w ü r t -

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tembergischen Pietisten von den Strömungen ihrer Zeit gar nicht so unabhängig wie sie meinten. Hinter der Bengelschen Lehre ist der ständische Kampf seiner Zeit zu sehen, hinter den endzeitlichen Visionen der württembergischen Pietisten des 19. Jahrhunderts die Romantik und der Konservatismus, hinter ihrem Glauben an die Wiederkunft i m 20. Jahrhundert der Sturz der Monarchie und die nationale Reaktion. W i l l man die K r a f t der von eschatologischen Hoffnungen und Ängsten wesentlich geprägten pietistischen Bewegung i n Württemberg verstehen, dann gilt es, dieses weitere politisch-soziale und geistige Umfeld zu analysieren.

DAS B I L D EINES Z U K Ü N F T I G E N KRIEGES 1919-1939 Von James Joll

Jede Generation macht sich ihre eigene Vorstellung vom Wesen eines zukünftigen Krieges; doch haben sich i n unserem Jahrhundert solche Vorstellungen selten als richtig erwiesen. Vor 1914 erwartete die Mehrheit der Öffentlichkeit und der Generäle lediglich einen kurzen, ziemlich schmerzlosen und bald entschiedenen Krieg — einen frisch-fröhlichen Krieg, wie man sagte —, obwohl m i t Friedrich Engels und Jean Jaurès, u m nur zwei Beispiele zu nennen, durchaus konträre Auffassungen von der A r t und den Konsequenzen eines totalen Krieges vorhanden waren, die keineswegs m i t der euphorischen Stimmung i n Deutschland und England i m August 1914 Hand i n Hand gingen. Doch ist für viele Angehörige der Generation vor dem ersten Weltkrieg der Krieg ein zunächst m i t Begeisterung und Jubel aufgenommenes Erlebnis gewesen. Die Wirklichkeit des ersten Weltkriegs aber war eine ganz andere. Der Krieg erzeugte Erinnerungen und Rückwirkungen, die einer Wolke gleich fast alle Aspekte des europäischen Lebens zwischen den beiden Weltkriegen überschatten sollten. Die W i r k u n g des ersten Weltkrieges auf die Haltung der Europäer war tiefgreifend; sie bestimmte nicht nur die politische und soziale Entwicklung der Zwischenkriegszeit, sondern formte auch die Vorstellung von einem künftigen Krieg, vor allem während der 30er Jahre, als sich die Hoffnung, der erste Weltkrieg sei der letzte aller Kriege gewesen, immer deutlicher als vergeblich herausstellte. Nicht nur die Generalstäbe und die, die i m weiteren Sinne für die strategische Vorbereitung des nächsten Krieges verantwortlich waren, benutzten die Erfahrungen des ersten Weltkrieges als Grundlage zu Voraussagen für einen kommenden Krieg, sondern auch die Öffentlichkeit, deren Meinungen i n den Plänen der Strategen eine wichtige Rolle spielten. Ich werde mich mehr m i t einigen dieser allgemeinen Vorstellungen als m i t der technischen Entwicklung des rein militärischen Denkens, und besonders m i t dem B i l d eines zukünftigen Krieges, wie man es sich in England und Frankreich machte, beschäftigen.

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Der erste Satz eines Gedichtes, verfasst von dem englischen Dichter Stephen Spender i m Jahre 1932, drückt das Dilemma einer ganzen Generation aus 1 : "Who live under the shadow of war, what can I do that matters?" Die beiden Jahrzehnte zwischen dem Ende des ersten Weltkrieges, dem großen Krieg, wie i h n die Zeitgenossen nannten, und dem Anfang des zweiten Weltkrieges lebten m i t diesem Schatten. Sie waren bestimmt durch Erinnerungen, Erfahrungen und Konsequenzen der Jahre von 1914 bis 1918 und einer aufkommenden Angst vor einem neuen Krieg. Es war nicht nur die einmalige Anzahl von Toten und Verwundeten, sechs Millionen Gefallener und noch mehr Verletzter, welche die Leute zu dem Glauben veranlaßte, dies sei eine neue A r t des Krieges gewesen, der sich sogar von den schlimmsten Desastern der vergangenen europäischen Geschichte noch unterschied. Die Erfahrungen eines durch Verschanzungen und Gräben bestimmten wie verlängerten Krieges, offensichtlich fruchtloser Offensiven, von Monaten i n Schlamm, Angst und Langeweile zeichneten alle, die daran teilnahmen, und ließen sie es nicht mehr vergessen. Es war so, wie Ernst Jünger schrieb: „Dieser K r i e g ist wie ein Urwald, der uns seit Jahren i n seinem dunklen Banne hält, so daß w i r zu zweifeln beginnen, ob er noch einen jenseitigen Rand hat 2 ." Ohne Zweifel waren i n den Nachkriegs jähren die Toten und Verletzten i n der Erinnerung der Menschen sehr lebendig. So war die Parade vom 14. J u l i 1919 i n Paris bestimmt durch das makabre Schauspiel, das tausend „Mutilés de guerre" boten, die auf Krücken oder i m Rollstuhl geschoben die Champs Elysées passierten. Zudem gab es noch neue Typen von Verwundeten: Männer, deren Lungen durch Gas ruiniert waren. " A long saddish person, w i t h a dusty mottled complexion and a pleuritic stitch which he had got during the war through a leaky gas mask 3 ." Das ist eine literarische Figur i n einer von Rudyard Kiplings Erzählungen aus den zwanziger Jahren. K i p l i n g kannte aber auch den „Shellshock" Fall, den Mann, dessen Nerven — und i n manchen Fällen Verstand — für immer zerstört waren, weil, und hier zitiere ich wieder K i p l i n g 4 : "What with noise and fear of death, Waking and wounds and cold, They filled the cup of my mother's son, Further than it could hold."

Es ist merkwürdig, wie oft Kipling, der als Dichter des englischen Imperialismus galt, doch auch i n einem ganz anderen Sinne geschrieben hat. 1

Stephen Spender, Poems, London 1933, S. 31. 2 Ernst Jünger, Das Wäldchen 125. Werke 1, Stuttgart 1961, S. 314. 3 Rudyard Kipling, Limits and Renewals, London 1932, S. 289. 4 Rudyard Kipling, Limits, S. 151.

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Für viele Menschen i n den 20er Jahren beschwor die Idee eines anderen Krieges die gleichen, wenn nicht größere Schrecken herauf. Selbst wenn die langzeitigen demographischen Folgen nicht so signifikant gewesen waren — und hier streiten sich die Wirtschaftshistoriker noch —, so besteht kein Zweifel, daß der Gedanke an die Verluste die Haltung vieler Soldaten und Zivilisten zum Krieg für die nächsten zwei Jahrzehnte festlegte. Die Gewißheit der Franzosen, daß nun die mageren Jahre — les années creuses — kämen und der Zeitpunkt eintreten würde, wo nicht genügend junge wehrfähige Männer vorhanden seien, u m m i t einer expandierenden deutschen Bevölkerung gleich zu ziehen, bildete die Basis ihrer strategischen Überlegungen und war kennzeichnend für die Stimmung weiter französischer Schichten gegenüber dem Krieg. Die Furcht vor „kurzfristiger Stärke und langfristiger Schwäche" führte, wie Judith M. Hughes einmal konstatierte 5 , zu wenig erfolgreichen Versuchen, die Geburtenrate zu steigern, indem ζ. B. der Verkauf von Verhütungsmitteln kurzerhand von 1920 an für illegal erklärt wurde. Daraus erwuchs der psychologische Effekt, daß militärische Befehlshaber von nun an glaubten, es sei ihre höchste Pflicht, französisches Leben zu bewahren. „Ich b i n geizig m i t französischem B l u t " , soll einst ein höherer General gemeint haben. Allerdings war der psychologische und politische Eindruck, den der Verlust von Menschenleben an der Westfront hervorgerufen hatte, keineswegs auf Frankreich beschränkt. I n England schrieb ein m i l i t ä r i scher und strategischer Experte wie Liddell Hart i m November 1935 an den Chef des Stabes: „Niemand, der nicht so gut wie ich sozusagen an der Quelle sitzt und die Ansichten der verschiedensten Klassen von Leuten hört, kann sich vorstellen, welch bleibenden Schaden die Erinnerung an Somme und Passchendaele angerichtet hat, bedenkt man unsere nationale Verteidigung und zieht hierzu die Haltung unserer Bevölkerung i n Betracht." Und i n der Tat, das Denken nahezu aller militärischen Befehlshaber i n Deutschland wie auch i n England und Frankreich wurde i n den dreißiger Jahren beherrscht — wie Donald Watt kürzlich i n seinem Buch „Too Serious A Business" 6 gezeigt hat — von tiefen Zweifeln über ihre Fähigkeit, einen Krieg zu gewinnen, über die Möglichkeit und sogar den Nutzen eines solchen Unternehmens. Die Reaktion der ehemaligen Kriegsteilnehmer m i t ihrer Erfahrung i m Graben- und Stellungskrieg war nichtsdestoweniger eine reichlich komplizierte, i n der die schreckliche Erinnerung an das Abschlachten s Judith M. Hughes, Towards the Maginot Line, Cambridge, Mass. 1971, S. 83. β D. C. Watt, Too Serious a Business, London 1975.

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und nutzlose Leiden einherging m i t Nostalgie für einen nicht mehr existierenden Sinn für Solidarität, Selbstvertrauen und Selbstaufopferung. Man kann den Gegensatz i n den berühmten Romanen und Memoiren sehen, die vom Krieg handeln. A u f der einen Seite findet man den Schrecken, den Horror, i n Henri Barbusses „Le Feu" oder i n dem Bestseller von Erich Maria Remarque „ I m Westen nichts Neues", den der französische Außenminister Aristide Briand als ein sehr schönes und wahres Buch beschrieb: „Es hat vier Millionen Leser i n aller Welt. Warum? Weil die Männer genug gehabt haben vom Krieg 7 ." Auf der anderen Seite allerdings läßt sich eine stoische Nobilität ausmachen, die patriotische Solidarität, die aus den Werken eines Ernst Jünger spricht: „ I m Stahlgewitter" etwa, oder „Das Wäldchen 125". Diese Ambiguität läßt sich verständlicherweise auch i n politische Begriffe fassen. So befanden sich i n dem einen Lager die Leute, i n deren Gedächtnis sich vorwiegend die Schrecken des Krieges eingebrannt hatten. Die Pazifisten m i t ihrer Losung „Nie wieder Krieg" oder ihrem wiederholten Glauben, der vergangene Krieg müsse der Krieg gewesen sein, der den K r i e g für allemal beendet habe, „The War to end War", ein Satz, der meines Wissens zum ersten Mal von H. G. Wells 1914 benutzt worden ist. Sie bildeten die Gruppe der potentiellen Pazifisten, bereit, die Politik zu unterstützen, die eine Wiederholung des Krieges unmöglich machen würde. I m anderen Lager standen jene ehemaligen Soldaten, die sich zur British Legion, zur Ligues des Anciens Combattants, zum Stahlhelm zusammengeschlossen hatten, als einem M i t t e l zur Aufrechterhaltung eines Geistes der Solidarität und einer Fortsetzung der Ideale von patriotischer Selbstaufopferung und unangezweifeltem Dienst für ihr Vaterland, ob es nun politisch motivierte Gruppen oder lediglich Gruppen m i t einfach sozialen Ambitionen waren, auf jeden Fall „frontgemäß, ohne Damen" wie ein deutscher Führer der ehemaligen Soldaten sie später beschrieb 8 . Sogar diejenigen, die durch den Krieg von seiner Sinnlosigkeit überzeugt waren, konnten sich an Momente erinnern, wenn — i n Worten eines der berühmtesten englischen Kriegsgedichte — „Everyone suddenly burst out singing" 9 . Unsere Analyse europäischer Haltungen gegenüber dem Krieg, — beiden Kriegen, dem einen, der bereits vergangen war, und dem anderen, der i n den dreißiger Jahren immer näher zu rücken schien —, hat uns zwei unterschiedliche Auffassungen erkennen lassen, die eine derjeni7 F. Siebert, Aristide Briand, Zürich und Stuttgart 1973, S. 508. » Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918 - 1935, Düsseldorf 1966, S. 18. » Siegfried Sassoon, Collected Poems 1908 - 1956, London 1971, S. 124.

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gen, bei denen der Schrecken des Krieges die dominierende Erinnerung war und die daher einen anderen Krieg u m jeden Preis verhindern wollten, und andererseits die Auffassung derjenigen, die vom Krieg eine Lektion i n sozialer Solidarität und kriegerischem Verhalten erfahren hatten, die sie als ein Modell für die Umgestaltung der i n ihren Augen kraftlosen und korrupten Gesellschaftsformen der Nachkriegswelt verwenden zu können glaubten. Selbstverständlich gab es verschiedene Formen von Pazifismus: politische, religiöse, revolutionäre. Nicht jeder würde m i t dem Staatsmann Pierre Laval übereingestimmt haben — einem Mann, der i n seiner Haltung dem Krieg gegenüber sehr beständig blieb, von seiner militanten linken Opposition gegen den Krieg 1917 bis zu seiner Kollaboration m i t den Deutschen nach 1940 —, der einmal feststellte: „Wenn ich die Adresse des Teufels gekannt hätte, wäre i d i zu i h m gegangen, u m Frieden zu machen, da ich weiß, daß der Krieg mörderisch ist 1 0 ." Es gab viele, die, ohne diesem Extrem von Appeasement zu folgen, dennoch aus praktischen Erwägungen heraus fast genau so weit gegangen wären, u m den Krieg zu vermeiden. Aber vielleicht ist es hilfreich, zwischen den verschiedenen Arten von Reaktionen auf die Kriegsgefahr zu unterscheiden. Aufrichtige Abscheu vor dem Kriege empfanden die führenden Politiker i n England und Frankreich, die zur Zeit des Kriegsausbruches i n der politischen Verantwortung standen. Es besteht kein Grund, an der Aufrichtigkeit König Georgs V. zu zweifeln, der sich Lloyd George gegenüber äußerte: „ I w i l l not have another war, I w i l l n o t " 1 1 , oder an der Aufrichtigkeit Neville Chamberlains, der i n einer berühmten Rundfunkansprache während der Münchener Krise ausführte: " I am myself a man of peace to the bottom of m y heart. Armed conflict between nations is a nightmare to me 1 2 ." Auch haben w i r keinen Zweifel an Edouard Daladiers Überzeugung, die er i m August 1939 i n einem vergeblichen Appell an Adolf Hitler aussprach: „Wie ich selbst waren Sie Soldat i m letzten Krieg. Sie wissen wie ich, wie die Erinnerung der Bevölkerung die Schrecken und die Desaster des Krieges tief bewahrt hat, was auch immer sein Ergebnis gewesen sein mag 1 3 ." Diese Haltung hatte sehr bemerkenswerte praktische Konsequenzen, als es zur Planung und Organisation des nächsten Krieges kam. Und i n diesem unmittelbaren instinktiven Sinn gab es sehr wenige, die 1939 io P. C. F. Bankwitz, Maxime Weygand and Civil-Military Relations in Modern France, Cambridge, Mass. 1967, S. 56. ι 1 Frances Stevenson, Lloyd George: a Diary, London 1971, S. 309. !2 Keith Feiling, Neville Chamberlain, London 1964, S. 372. Documents on German Foreign Policy, Series D., Vol. V I I , London 1956, S. 331.

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nicht Pazifisten gewesen wären — eingeschlossen die Deutschen, deren schlechte Stimmung General Ritter von Leeb am 3. Oktober 1939 i n seinem Tagebuch festhielt: „Keinerlei Begeisterung, kein Beflaggen der Häuser, alles erwartet den Frieden. Das Volk fühlt das Unnötige des Krieges 1 4 ." Das ist meilenweit entfernt von der Stimmung des August 1914. Es war leichter, Pazifist i n den zwanziger als i n den dreißiger Jahren zu sein, da i n den Zwanzigern der Krieg eben vorbei und der nächste noch nicht unmittelbar i n Sicht war. Dieser Meinung der zwanziger Jahre, daß der nächste Krieg noch weit sei, haben sich auch die britischen Militärplaner angeschlossen, die bis 1932 auf der Grundlage operierten, daß für die nächsten 10 Jahre kein größerer Konflikt zu befürchten sei. Es war die Zeit von Gesten internationaler Freundschaft: da gab es Bewegungen h i n zu einer französisch-deutschen Versöhnung. M. Briand griff die Ideen zu einer europäischen Föderation auf, die von dem österreichisch-japanischen Grafen Coudenhove-Kalergi vorgeschlagen worden war, wenngleich es sehr schwierig ist, die Ernsthaftigkeit dieses Unternehmens zu beurteilen. I n Deutschland nahmen Carl von Ossietzky und andere Schriftsteller, die m i t seiner Zeitschrift „Die Weltbühne" assoziiert waren, einen mutigen Kampf gegen geheime Wiederbewaffnung und Kryptomilitarismus auf, der allerdings nicht von Erfolg gekrönt war. I n den dreißiger Jahren wurden diese Stimmen i n Deutschland zum Schweigen gebracht, i m Gegensatz zu Frankreich und England, wo sie überlebten. Die meisten derer aber, die ihre Hoffnung darauf gesetzt hatten, daß den neuen internationalen Organisationen und frisch konzipierten Methoden zur friedlichen Gestaltung internationaler Beziehungen — wie dem Völkerbund und vor allem der Abrüstung — automatisch der Friede auf dem Fuß folgen würde, sahen sich getäuscht. Sie fanden sich bald i n einer Position wieder, die es immer schwieriger machte, diese Form von liberalem Pazifismus gegenüber einer wachsenden Wirklichkeit militärischer Bedrohung durch den Faschismus aufrechtzuerhalten. Allerdings existierte i n der Linken durchaus auch die unterschiedliche Meinung, der nächste Krieg bringe die Möglichkeit einer neuerlichen Revolution m i t sich, einer Revolution, die ihrer Ansicht nach 1918 verloren hatte. Das w a r ein Gesichtspunkt der extremen Linken aus der Zeit des ersten Weltkrieges, vor allem Lenins. Es war i n der Tat diese Haltung, die nach langem H i n und Her von den europäischen Kommunisten als offizielle Linie adoptiert wurde, und man versuchte, sie bis zur deutschen Invasion der Sowjetunion i m Juni 1941 festzuhalten. Spuren dieser Haltung lassen sich während der Befreiung i n den kom14

Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb, Tagebuchaufzeichnungen und Lagebeurteilungen aus zwei Weltkriegen, Stuttgart 1976, S. 184.

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munistischen Widerstandsbewegungen i n Europa ausmachen, vor allem i n Italien, Jugoslawien und Griechenland. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, konnten Kriege zwischen kapitalistischen Staaten nicht die Sache der arbeitenden Klasse sein; deren Pflicht war es, wie Lenin vor und während des ersten Weltkrieges propagierte, jeden Krieg i n einen Bürgerkrieg umzukehren, u m damit die Gelegenheit zu einer Revolution zu benutzen. Das war auch speziell die Haltung einiger Gruppierungen i n der französischen L i n ken. Marceau Pivert, der seine Opposition gegen den Krieg auch nach dem September 1939 fortsetzte, meinte: „Der Wille, die eigene Bourgeoisie zu bekämpfen und sie aus ihrer Machtposition zu jagen, muß Vorrang vor allen übrigen Überlegungen haben 15 ." Der gleiche Aspekt zeigt sich bildhafter i n einer berühmten Strophe der Internationalen, die von manchem Kriegsgegner enthusiastisch während dieser Zeit gesungen wurde: „S'ils s'obstinent ces cannibales De faire de nous des héros Ils sauront bientôt que nos balles Sont pour nos propres généraux."

I n diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß auch diejenigen L i n ken, die diese revolutionäre Position nicht teilten, der von der Regierung geforderten Aufrüstung sehr skeptisch gegenüberstanden und bedachten, daß die Wiederbewaffnung sich genau so gegen sie wie gegen den äußeren Feind verwenden ließe. Diese Befürchtung hatte besonders tiefe Wurzeln i n der französischen Arbeiterbewegung geschlagen. Das führte i m Winter 1938 - 39 zu einem kaum verschleierten Gegensatz zwischen Léon Blum, dem Vorsitzenden der sozialistischen Partei, und ihrem Generalsekretär Paul Faure und ist vielleicht eine der deutlichsten Ursachen für die Skepsis, m i t der man i n Frankreich i m Herbst 1939 den Krieg betrachtete, und für die Haltung, die man i m Jahre 1940 gegenüber dem Zusammenbruch einnahm. Auch i n England bestanden manchmal Zweifel über die Absicht der Regierung. Vor allem gab es ein anhaltendes Mißtrauen gegen alles, was den ersten Weltkrieg ins Gedächtnis zurückrief. Dieses Gefühl des Mißtrauens äußerte zum Beispiel Mr. Attlee, Chef der Labour Partei, i m Jahre 1935, als er sagte: „Diese Politik der alten Herren, dieser Rückfall i n eine regellose Welt, führte uns zum ersten Weltkrieg und w i r d uns zu einem noch weit schrecklicheren Krieg führen, falls die Politik nicht vollständig geändert w i r d 1 6 . " Einige Leute i n der Linken der Gewerkschaft, be15 Richard Gombin, Les Socialistes et la Guerre, Paris und Den Haag 1970, S. 194. le Ν. H. Gibbs, Grand Strategy, Vol. I, London 1976. S. 173.

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sonders in Frankreich, drückten sich noch viel stärker aus. „Der Krieg", so war auf einem Flugblatt vom September 1939 zu lesen 17 , „ist das Höchste aller Übel . . . Er ist eine Frage nach der ökonomischen Vorherrschaft . . . Wer w i r d der Beherrscher des Weltmarktes werden . . . die Kaufleute der City oder die deutschen Bürokraten . . . ? " I m Grunde genommen aber war die allgemeine Abscheu vor dem Krieg wichtiger als die revolutionären Vorstellungen der extremen Linken. Die Gewißheit, daß i n England und i n Frankreich sehr viele Menschen schon den Gedanken an einen Krieg viel zu schrecklich fanden, u m ihn überhaupt i n ihre Überlegungen einzubeziehen, mußte selbstverständlich das Kriegsbild derer beeinflussen, die von Berufs wegen verantwortlich für seine Planung waren. So bedachte die britische Regierung 1934 diesen Sachverhalt m i t folgender Stellungnahme: „Obwohl eine mehr oder minder uninformierte Öffentlichkeit niemals ein entscheidender Faktor i n unseren Verteidigungsvorbereitungen sein darf, muß m i t ihr gerechnet werden, da das Parlament die finanziellen M i t t e l zu bewilligen hat 1 8 ." Diese Angst bewirkte, daß die Regierung nur sehr widerwillig die Wahrscheinlichkeit eines Krieges auf dem Kontinent i n Betracht zog. „Auch wenn die Zeit kommt", führte Chamberlain i m Dezember 1936 aus, „daß die Leute i n diesem Land überzeugt werden können von der Unvermeidlichkeit einer Intervention, werden sie Vorbereitungen i n Friedenszeiten m i t der Absicht größerer Operationen auf dem Kontinent sehr mißtrauisch verfolgen und diese Maßnahmen so betrachten, daß w i r damit i n Streitigkeiten verwickelt werden, m i t denen w i r nichts zu t u n haben" 1 9 . Z u einem gewissen Grad war dies Chamberlains eigene Meinung — Politiker zitieren oft die öffentliche Meinung, wenn sie m i t ihrer eigenen Absicht zusammenfällt, ansonsten ignorieren sie sie —. Die Folge war, daß die englische Planung für einen künftigen Krieg stark beschränkt wurde. So mußte der britische Generalstab noch i m Januar 1937 gezwungenermaßen zugeben: „ W i r können die Umstände, unter denen ein Krieg i n Europa ausbrechen wird, nicht vorhersehen, und über die Entscheidung, welche Rolle unsere Armee dabei spielen soll, werden Zweifel bis zur letzten Minute bestehen 20 ." Wenn die Erwartungen der Militärs über einen zukünftigen Krieg von der öffentlichen Meinung abhingen: welchen Krieg erwartete denn dann eigentlich die öffentliche Meinung, das Volk von England und Louis Lecoin, De Prison en Prison, Antony 1947. Vgl. Guy Rossi-Landi, Le Pacifisme en France 1939 - 40, ungedrucktes Referat, Anglo-French Colloquium, Comité d'Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale, Paris 1975. « Gibbs, Grand Strategy, S. 107. ι» Gibbs, Grand Strategy, S. 447. 20 Gibbs, Grand Strategy, S. 452.

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Frankreich? Was war es, wovor sie sich fürchteten und dem sie zögerten, ins Auge zu blicken? Für viele von ihnen war es einfach die Wiederholung des ersten Weltkrieges. So meinte Edouard Daladier, der französische Ministerpräsident 1939: „Das non plus ultra der militärischen Kunst ist sich zu verschanzen und die Stellung zu halten. Was nachher kommt — C'est de la blague — 2 1 . " Aber wenn der Krieg i n den Augen der Franzosen nur ein besserer und größerer Stellungskrieg sein sollte — und die Maginot-Linie legt diesen Schluß nahe —, so sahen sich vor allem die Engländer einer zusätzlichen und schrecklichen Dimension von Krieg gegenüber, dem Luftkrieg. Die Durchschlagskraft strategischer Bombardierungen hatte gerade i n den letzten Monaten des ersten Krieges dem englischen Generalstab imponiert, und vor allem General Smuts zeigte sich beeindruckt: „Der Tag mag nicht sehr weit sein", sagte er 1917, „wenn Lufteinsätze m i t ihrer Verwüstung i m gegnerischen Land und ihrer Zerstörung von Industrie- oder Bevölkerungszentren i n riesigem Ausmaß zu prinzipiellen Kriegshandlungen werden, bei denen die älteren Formen von Heer- und Marine-Operationen nur noch von zweitrangiger und untergeordneter Bedeutung sind" 2 2 . Und wie kürzlich eine Londoner Doktorarbeit ausgeführt hat, fand 1917/18 eine heiße Diskussion über die Möglichkeit statt, ob man sich i n den Niederlanden Luftwaffenstützpunkte i m Hinblick auf eine eventuelle Bombardierung deutscher Fabriken i m Ruhrgebiet sichern sollte 23 . 1925 stellte das englische Luftwaffenministerium Schätzungen über ein mögliches Luftbombardement Londons an, die i m Falle eines französischen Angriffs für den Zeitraum der ersten 24 Stunden m i t 1700 Toten und 3000 Verletzten rechneten 24 . Während der Abrüstungsverhandlungen i n den zwanziger Jahren hatten die Engländer darauf bestanden, Bomber nicht aufzugeben, u m sie gegen aufbegehrende Kolonialvölker einsetzen zu können — der italienische Feldzug i n Abessinien machte die Effektivität solcher Maßnahmen gegenüber einem schlecht bewaffneten Land deutlich —. Die Ansicht, daß „die Bomber immer durchkommen", u m einen berühmten Satz von Baldwin zu zitieren, hatte sich i n den dreißiger Jahren durchgesetzt, und viele Fachleute und Nichtfachleute glaubten, strategisches Bomben würde der entscheidende Faktor i n einem zukünftigen Krieg sein. Die Tatsache, daß i m September 1939 London nicht wie erwartet angegriffen wurde, verstärkte das Gefühl, der Krieg sei irgendwie si Bankwitz, Maxime Weygand, S. 86 - 87. 22 Gibbs, Grand Strategy, S. 44. 23 Diana Sanders, The Netherlands in British Strategie Planning, August 1914 - November 1918. Ungedruckte Ph. D. Dissertation, London 1975. 24 Sir C. Webster and N. Frankland, The Strategie Air Offensive against Germany 1939 - 1945. 1, London 1961, S. 62 - 63. 6*

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irreal, der „phony war" oder „drôle de guerre", wie es damals hieß. I m allgemeinen aber rechnete fast jeder damit, daß der Krieg ein Ausmaß von Zerstörung m i t sich bringen würde, das zu grauenvoll sei, als daß man es sich überhaupt vorstellen könne. Eben diese Furcht vor einem Luftkrieg beherrschte viele Zukunftsromane, die eine künftige kriegerische Auseinandersetzung zum Inhalt hatten. Die Vorstellung eines plötzlichen Luftangriffes, der innerhalb weniger Minuten das ganze Land lähmen und damit den Zusammenbruch einer komplexen, hochtechnisierten Gesellschaft nach sich ziehen würde, geisterte immer wieder als Hauptthema durch die vielen damals populären, heute allerdings weitgehend vergessenen Romane. Andere Schriftsteller zeichneten die Apokalypse eines möglichen bakteriologischen Krieges oder die Fortsetzung der Gasangriffe aus dem ersten Weltkrieg i n noch scheußlicherer und durchschlagender Weise. Wieder andere bedienten sich der i n der Science Fiction Literatur so wohlbekannten Figur des geisteskranken professoralen Genies, das immer grausamere und teuflischere Methoden der Kriegsführung erfindet. U m ein einziges Beispiel zu zitieren; der bekannte englische Schriftsteller Alfred Noyes, Poet Laureate, schrieb i n einem Roman 1940: „Professor Hammerstein of Bonn had discovered a method of transm i t t i n g an all-pervasive ethereal wave which would instantaneously stop — not the engines of motor-cars and aeroplanes but the beating of the human heart 2 5 ." Der Gebrauch von Atomwaffen 1945 und manche der Methoden, die während des Vietnamkrieges angewandt wurden, zeigen, daß die Vorstellungen der Science-Fiction-Schriftsteller der zwanziger und dreißiger Jahre gar nicht so abwegig waren, wie es zur damaligen Zeit wohl den Anschein gehabt haben könnte. Die Furcht vor dem Bomberangriff hatte natürlich praktische Folgen. I n England wurde der Verteidigung gegen einen plötzlichen Luftangriff Vorrang eingeräumt und zwar nicht nur i n der Einbildung der Schriftsteller, sondern auch i n der Planung der Regierung. Einige der strategischen Theoretiker, so bemerkenswerte Männer wie der italienische General Douhet und der englische A i r Commodore Charlton, betonten diesen Aspekt eines kommenden Krieges vor allen anderen, und viele Mitglieder der englischen Regierung teilten diese Ansicht. „Es ist allgemein bekannt", führte der englische Verteidigungsminister 1937 aus, „daß die größte Gefahr, gegen die w i r uns schützen müssen, ein L u f t angriff auf das Vereinigte Königreich ist, der uns gleich zu Beginn des Krieges erledigen würde" 2 6 . Demgemäß lag die Priorität englischer 25 Alfred Noyes, The Last Man, London 1940, S. 8. Vgl. auch I. F. Clarke, Voices Prophesying War, London 1966. 26 Gibbs, Grand Strategy, S. 533.

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Aufrüstung in den Jahren 1936 bis 1938 auf der Landesverteidigung und der Luftabwehr, und nur sehr zögernd akzeptierte die englische Regierung, daß sie womöglich eine Armee nach Frankreich schicken und sozusagen dort wiederanfangen müßte, wo sie 1918 aufgehört hatte. Für beide, die Briten und Franzosen, und i n mancher Hinsicht auch für die Deutschen, galt der Gedanke, der nächste Krieg werde mehr oder weniger genau so vernichtend und zerstörend sein wie der letzte, so daß er unter allen Umständen zu vermeiden sei, oder — noch schlimmer —, daß es eine neue A r t von Krieg, durch die Bombardierungen auf dem Luftwege von sogar noch schrecklicherem Ausmaß geben würde, der deswegen erst recht vermieden werden müsse. Nur einige wenige strategische Denker, ein Guderian, ein de Gaulle, ein Fuller oder ein Liddell Hart waren darauf vorbereitet, wie ein neuer Krieg i n Wirklichkeit aussehen könnte. Sie zogen die Wahrscheinlichkeit i n Betracht, daß Panzer und Sturzbomber eine neue Rolle i n einem künftigen Krieg spielen würden, der zugleich schlimmer, aber auch weniger schlecht sein könnte, als populäre Vorstellungen i h n ausmalten. Da man sich den Krieg, ob nun einen Zermürbungskrieg nach dem alten Muster von 1914/18 oder einen neuen i n der Form massiver Luftbombardierung, überhaupt nicht vorstellen konnte, klammerten sich sowohl die Politiker als auch die Öffentlichkeit i n Frankreich und England an die Vorstellung, daß es einen Ersatz für den wirklichen Krieg gäbe, der genau so erfolgreich sein könnte wie dieser, ohne daß man aber die Greuel des letzten Krieges oder die Gefahren eines massiven Luftangriffes auf sich nehmen müßte. Ein berühmter englischer Historiker drückte dies i m Jahre 1937 so aus: " I f war is to be averted something must be devised to do i n future what war has done i n the past 2 7 ." Viele Politiker und einige Generäle verschlossen einfach ihre Augen vor der Möglichkeit eines Krieges, da diese viel zu schlimm war, u m i n die Überlegungen einbezogen zu werden. Deutlichstes Zeichen für die Sehnsucht, an die Stelle des Krieges irgend etwas anderes zu setzen, bildete die Bewegung für die Abrüstung; noch deutlicher w i r d es bei dem Versuch, i n die Struktur der internationalen Abkommen und vor allem i n die Verfassung des Völkerbundes irgendeinen automatischen Kunstgriff zur Verhinderung des Krieges hineinzubasteln. Die Debatten der zwanziger Jahre über den Entwurf eines gegenseitigen Beistandspaktes oder des Genfer Protokolls basierten alle auf der Hoffnung, daß überhaupt keine Kriegsgefahr aufkommen würde, wenn die Verfahren, die den Angreifer feststellen und zum obligatorischen Schiedsspruch 27 Charles K. Webster, What is the Problem of Peaceful Change? in: C. A. W. Manning, Peaceful Change, London 1937, S. 6. Vgl. auch Martin E. Ceadel, Pacifism in Britain, Ungedruckte D. Phil. Dissertation, Oxford 1976.

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führen sollten, nur rigoros genug waren. Folglich glaubte man, daß die von der Völkerbundssatzung vorgesehenen militärischen Maßnahmen dann niemals angewendet werden müßten. Diese Vorstellungen zeigten sich sehr deutlich bei der berühmten „Peace Ballot", einer A r t Referendum, das in England 1935 von der League of Nations Union organisiert wurde. Damals wurden 11 Millionen Menschen unter anderem gefragt 2 8 : „Sollte Ihrer Meinung nach eine Nation, die eine andere Nation fortgesetzt angreift, von den übrigen Nationen zum Aufhören gezwungen werden durch a) ökonomische und nichtmilitärische Mittel, oder wenn nötig b) m i t militärischen Mitteln?" Über 10 Millionen Teilnehmer stimmten für die ökonomischen Maßnahmen, und nur rund eine dreiviertel M i l l i o n befürworteten militärische Sanktionen, während zweieinviertel Millionen, von denen die meisten möglicherweise ökonomische Maßnahmen billigten, sich vollständig gegen militärische M i t t e l aussprachen. Es war klar, daß die Wähler m i t großer Mehrheit diese ökonomischen Maßnahmen als einen gefahrlosen Ersatz für einen wirklichen Krieg ansahen. Das wirkungsvollste Argument, das von den Gegnern einer gemeinsamen internationalen A k t i o n gegen die italienische Invasion i n Äthiopien vorgebracht wurde, lautete: „Sanktionen bedeuten Krieg". Aber viele der A n hänger des Völkerbundes konnten einen solchen zwingenden Zusammenhang zwischen den beiden Alternativen gar nicht sehen. Wie w i r den englischen Kabinettsprotokollen entnehmen können, glaubten die englische und französische Regierung das Risiko eingehen zu können, die Italiener ohne militärische A k t i o n abzuschrecken. So teilte Baldwin seinen Kollegen am 2. Dezember 1935 m i t : „Wenn sich die aufgestellte Behauptung, daß Sanktionen Krieg bedeuten, durch die Erfahrung bewahrheiten sollte, wäre dies eine Katastrophe ersten Ranges 29 ." Der gleiche Glaube, daß irgend etwas als Ersatz für den undenkbaren Krieg herhalten könnte — vorzugsweise Worte —, liegt vielleicht ebenso anderen berühmten internationalen Abkommen dieser Periode zugrunde, etwa der Verfassung des Völkerbundes selbst. Der Vertrag von Locarno 1925, i n dem England sich m i t Deutschland gegen Frankreich und m i t Frankreich gegen Deutschland verpflichtete, schließt schon durch seine A r t jegliche ernsthafte militärische Zusammenarbeit zwischen diesen Ländern aus, da es wohl schon sehr schwierig ist, sich vorzustellen, der englische Generalstab würde sich m i t dem franse Viscount Cecil, The Peace Ballot, London 1935. Vgl. auch James Joli, Britain and Europe: Pitt to Churchill, Oxford 1967, S. 297 -304. 29 Cabinet Minutes 2 December 1935, Public Record Office, London,

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zösischen zusammensetzen und Pläne gegen einen deutschen Angriff ausarbeiten, um dann den Rhein zu überqueren und m i t der deutschen Wehrmacht zu diskutieren, wie einem französischen Einfall am besten zu begegnen wäre. Der Höhepunkt dieser Bemühungen, den Krieg durch internationale Abkommen unmöglich zu machen und Kanonen durch Worte zu ersetzen, kam m i t dem Briand-Kellogg Pakt 1928, i n dem sich 61 Staaten — unter manchen offenen und versteckten Vorbehalten — verpflichteten, den Krieg als M i t t e l nationaler Politik zu verbannen. Der Krieg ist nun abgeschafft, behaupteten nun einige, allerdings mehr alberne Verfechter dieses Paktes, und sie meinten, w i r würden keinen Anlaß zur Beunruhigung mehr haben. Die Stimmung einer Öffentlichkeit, die sich verzweifelt bemühte, vor der Realität eines herannahenden Krieges i n internationale Abkommen zu flüchten, faßte das „White Book on Defence" der englischen Regierung i m März 1935 treffend zusammen: „Trotz vieler Rückschläge hat die öffentliche Meinung i n diesem Lande bisher zu der Annahme geneigt, zur Beibehaltung des Friedens sei nichts anderes als die Existenz einer internationalen Maschinerie notwendig, und die älteren Methoden der Verteidigung würden somit nicht mehr länger benötigt 3 0 ." Und sogar noch i m März 1939, als die Engländer und Franzosen einen letzten Versuch zur Bildung eines diplomatischen Blocks gegen Deutschland unternahmen, taten sie es i n der Hoffnung, daß dies ein Ersatz für den Krieg wäre. Ein englischer Minister führte aus: „ W i r bereiten keinen Krieg, sondern eine Friedensfront vor 3 1 ." Die gleiche trügerische Hoffnung, daß man an Stelle des wirklichen Krieges eine A r t Ersatzkrieg m i t anderen Mitteln führen könnte, findet man selbst i n den Planvorstellungen der Militärs i n den dreißiger Jahren. Die französische Strategie, welche die Maginot-Linie zum Kernpunkt gemacht hatte, zielte — trotz der K r i t i k de Gaulles und anderer realistischer Strategen der damaligen Zeit — darauf ab, i m Krieg, wenn nicht gar ohne Blutvergießen, dann zumindest aber m i t einem M i n i m u m davon zu kämpfen und Beton statt Soldaten einzusetzen. Dieses verständliche Zögern, der tatsächlichen Kriegsgefahr zu begegnen, erklärt den tiefen Eindruck, den der spanische Bürgerkrieg i n psychologischer, politischer und militärischer Hinsicht i n Europa gemacht hat. Hier fand ein Krieg statt, den die Öffentlichkeit schwerlich ignorieren konnte, auch wenn sie ihre Augen von den Kriegen i m fernen Osten oder Äthiopien abgewandt hatte. Hier wurde moderne Kriegführung i n der Praxis erprobt. Der spanische Bürgerkrieg schien die Befürchtung über die Auswirkungen der Bombardierung der 30 Statement Relating to Defence, March 1935, Cmd. 4827, London 1935. Vgl. Gibbs, Grand Strategy, S. 171. 31 Gibbs, Grand Strategy, S. 803.

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zivilen Bevölkerung zu bestätigen: die Luftangriffe auf Madrid und Barcelona gaben einen Vorgeschmack von dem, was London oder Paris drohte. Vor allem die Bombardierung der kleinen baskischen Stadt Guernica gewann symbolischen Wert, teilweise deshalb, weil sie Picasso zu dem genialsten öffentlichen B i l d des 20. Jahrhunderts inspirierte, aber auch deswegen, weil man sie i m allgemeinen den Deutschen zuschrieb und sich diese Ansicht nun etabliert hat. Ein normalerweise skeptischer Beamter des englischen Auswärtigen Amtes stellte fest: „Guernica hat uns gelehrt, was w i r von den Deutschen zu erwarten haben 32 ." Andere fanden i n den Schützengräben rings u m Madrid ihre Meinung bestätigt, daß der nächste Krieg dem vergangenen sehr ähnlich sein würde. Ein englischer Franco-Sympathisant, Douglas Jerrold, schrieb deshalb über Madrid: „Ich sah überall Erscheinungen, die mich zutiefst bewegten. Diesmal war es wieder England, das England meiner Jugend. Und i n den Linien von Madrid wurden die gleichen Erinnerungen wieder zum Leben erweckt. Der gleiche Humor, der gleiche Mut, dieselben heroischen und unordentlichen Gestalten, die gleichen Gewehre angelehnt an die Stufen des Unterstandes, i n deren Mündung ein Korken oder ein Stück Papier der gestrigen Zeitung steckt 33 ." Und wenn Jerrold m i t Bewunderung auf die Wiederbelebung der Atmosphäre des großen Krieges i n der so anders gearteten Situation von Kastilien blickte, bemerkte ein scharfsinniger Beobachter auf der anderen Seite, George Orwell, seine Gefährlichkeit: „Das, was mich wirklich i m spanischen Bürgerkrieg schockierte, war nicht so sehr die Gewalttätigkeit, deren Zeuge ich wurde . . . , sondern die Wiederbelebung der geistigen Atmosphäre des ersten Weltkrieges, und insbesondere die Tatsache, daß jene linken Kreise, die sich zwanzig Jahre vorher ihrer Erhabenheit über die Kriegshysterie gerühmt hatten, daß diese Kreise nun von demselben geistigen Schmutz wie 1915 erfaßt wurden. A l l die bekannten Kriegszeitidiotien, Spionen-Hetze, die Hetzereien gegen Minderheiten, das Wiedererzählen der Schauergeschichten kamen wieder i n Mode, als wäre die Zeit seit dem ersten Weltkrieg stehengeblieben 34 ." Wichtiger als jede militärische Lektion, die sich aus dem spanischen Bürgerkrieg lernen ließ — und die richtigen sind nicht immer gelernt worden —, war der Glaube, daß dieser Konflikt offenlegte, wo die Trennungslinien i m nächsten Weltkrieg verlaufen w ü r den. Nun war es an der Zeit, die Plätze einzunehmen, zu zeigen, für welche Seite das eigene politische Herz schlug, für die Linke oder die 32 H. H. Abendroth, Hitler in der spanischen Arena, Paderborn 1973, S. 360. 33 Stanley Weintraub, The Last Great Cause, London 1968, S. 169 - 170. 34 George Orwell, Inside the Whale. The Collected Essays. Journalism and Letters of George Orwell, Volume I, London 1970, S. 567.

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Rechte. „C'est la lutte finale." Die Eröffnungsworte der „Internationalen" schienen nun Wahrheit zu werden. Der nächste Krieg würde ein Krieg zwischen Faschismus und Kommunismus werden, so war die weitverbreitete Ansicht. Ein Krieg, den die Linke m i t ganzem Herzen unterstützen könnte, ein Volkskrieg. Die Auswirkungen einer solchen Vorstellung von einem unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen Kommunismus und Faschismus brachten noch eine andere Variante hervor. Diejenigen konservativen Patrioten i n England und Frankreich, die dem kommunistischen und dem faschistischen Lager gleich distanziert gegenüberstanden, hielten es für eine gute Idee, ihren Krieg von jemand anderem gekämpft zu sehen. Baldwin zum Beispiel fühlte, daß es keine Wahl gab zwischen dem, was er die „Bolshies" und die „Nasties" nannte, und sagte zu einer Delegation konservativer Abgeordneter i m Juni 1936: „Wenn i n Europa schon irgendwie gekämpft werden muß, würde ich es gern die Bolschewisten und die Nazis t u n sehen 35 ." I n Frankreich ging diese Reaktion sogar noch weiter. Viele Leute auf der Rechten sahen i m Kommunismus ihren Hauptfeind und machten sich den Slogan zu eigen: „Besser Hitler als Blum." Denn sie befürchteten, daß, wenn einmal ein Trennungsstrich zwischen ideologischen Linien gezogen werden sollte, Frankreich auf der Seite der Kommunisten stehen könnte. Die Patrioten hatten sich zu Pazifisten gewandelt, wie das Vichy-Regime zeigen sollte. Viele der traditionellen Verfechter militärischer Tugenden und einer starken nationalen Bewegung wurden zu Befürwortern von Appeasement, Wiederannäherung und Kollaboration m i t den Deutschen. Und so wie die Patrioten sich i n Pazifisten verwandelten, verwandelten sich die Pazifisten i n Patrioten. Die Kommunistische Partei ließ bis zum Nazi-Sowjet-Pakt und wiederum nach 1941 jakobinische Erinnerungen an die Helden von Valmy i n den Revolutionskriegen wieder aufleben. Als der Krieg tatsächlich ausbrach, bekam niemand den Krieg, den er erwartet und befürchtet hatte, m i t Ausnahme Hitlers vielleicht, zum mindesten bis zum Ende des französischen Feldzuges. Es war i n mancher Hinsicht schlimmer, als die Erfahrungen des ersten Weltkriegs hatten vermuten lassen, aber der Schrecken war von unterschiedlicher Natur. Und trotzdem dauerte es nahezu ein Jahr, bis das Wesen dieses Krieges endlich klar wurde. Während des Sitzkrieges i m Winter 1939/40 blieben einige der Einstellungen, die ich beschrieben habe, bestehen: die Verwirrungen und Widersprüche verharrten. Es sah nach dem ersten Schock über die Niederlage Polens immer noch so aus, als ob der Krieg trotz allem noch nicht wirklich begonnen 35 Keith Middlemas and John Barnes, Baldwin — a Biography, London 1969, S. 955.

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habe und die Erfahrungen des vergangenen Krieges und auch die stark befürchteten Luftangriffe noch immer vermieden werden könnten. Die Eventualität, einen Ersatz für den Krieg zu finden, wurde noch als möglich angesehen. Wiederholt sprachen es beispielsweise Jean Giraudoux und das französische Propagandaministerium aus: „Nous vaincrons parce que nous sommes les plus forts." Und wenn die Deutschen sich nicht ergeben wollten, worum sie i n den von der Royal A i r Force abgeworfenen Handzetteln gebeten wurden, meinte man, daß Deutschland mittels einer wirtschaftlichen Blockade unterminiert werden würde. Immer noch existierte ein Zaudern, den wirklichen Zustand des Krieges zu akzeptieren. „ Z u m Frieden mag es noch ein gutes Stück Weg sein", schrieb Chamberlain am 10. September 1939, „das mag sein, aber ich habe das Gefühl, daß es nicht sehr lang sein wird. Der Wunsch, den Krieg zu vermeiden, ist so weit verbreitet und so tief verankert, daß er m i t Sicherheit bald zum Ausdruck k o m m t " 3 6 . Der Glaube, der erste Weltkrieg hätte den Krieg für alle Zeiten beendet, starb nur langsam aus; und der zweite Weltkrieg zeigte sich genau so als „ein Krieg der Illusionen", um Fritz Fischers Satz über den ersten Weltkrieg zu benutzen, wie es der erste Krieg gewesen war. Die Illusionen waren, wie zugegeben werden muß, verschieden. Aber die Schatten, unter denen w i r leben, die Katastrophen, die w i r befürchten, die Vergangenheit, die w i r zum Leben zu erwecken hoffen, stellen sich niemals als genau das heraus, als was w i r sie angenommen haben. Die Welt, die aus dem zweiten Weltkrieg hervorging, war, genau wie der Krieg, völlig verschieden von dem, was sich sowohl Patrioten als auch Pazifisten i n den Ζwischenkriegsjähren vorgestellt hatten. Kriege können sich, wie auch alles andere i n der Geschichte, als besser oder schlechter herausstellen, als w i r sie uns vorgestellt haben. Das einzige, von dem w i r sicher sein können, ist, daß sie anders sein werden. (Aus dem Englischen übersetzt von Hubert Seipel)

36 Feiling, Chamberlain, S. 417.

DIE Z U K U N F T I M HISTORISCH-POLITISCHEN D E N K E N DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS Von Ernst Schulin

Sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hielt der Historiker Hermann Heimpel an verschiedenen Orten, darunter auch in Tübingen, einen wirkungsvollen Vortrag über den „Menschen i n seiner Gegenwart". Es ging dabei u m „Geschichte und Gegenwart", d. h. u m die verschiedenartige, nachlassende Einwirkung der Geschichte auf den Menschen, je nachdem wie dieser seine „Gegenwart" begreife. M i t „jeweiliger Gegenwart" bezeichnete Heimpel die lebendige, weiterwirkende Geschichte, — einen je nach A l t e r und Herkunft des Menschen unterschiedlichen Vergangenheitsbereich; „dauernde Gegenwart" nannte er die zeitaufhebende, objektive Tradition; dann behandelte er die von der Geschichte sich befreiende, die „einmalige Gegenwart", „das Zu-Sich-Kommen i n der Zeit, also das Absehen von Gestern und Morgen"; alles zusammenfassend, aber dies letzte betonend sprach er dann von „unserer Gegenwart" 1 . Wie fern lag für einen Historiker von 1951 das Reden von der Zukunft! Gegenwartsglück, Dankbarkeit für eine schonende Gegenwart nach einer katastrophalen Zeit war das, wofür Heimpel seinen Hörern die Augen öffnen wollte. „ W i r haben so viel erlebt. Z u viel Geschichte. Darum w i r d die Gegenwart teuer . . . Es gilt den schrecklichen Zeichen der Zeit das Positive abzulesen, . . . es gilt nicht immer nur das verlorene Menschenbild zu beklagen, sondern die Züge des Menschen zu suchen und zu entspannen 2 ." Zehn Jahre später, Anfang der Sechziger jähre, wäre eine solche Haltung nicht mehr als repräsentativ oder gar als nachahmenswert angesehen worden. Die Zukunftsforschung wuchs i n dieser Zeit über ihre militärstrategischen und industrieplanerischen Anfänge hinaus. Sie wurde gesellschaftswissenschaftliche Mode, pries ihre Prognosemöglichkeiten sehr zuversichtlich an und hatte auch eine vorherrschend optimistische Einstellung zu den Zukunftsaussichten selber, — voraus1 Hermann Heimpel, Der Mensch in seiner Gegenwart, Göttingen 21957, S. 9. 2 Ebd., S. 36 u. 37.

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gesetzt, man wählte unter den vielen, theoretisch leicht durchspielbaren Zukunftsmöglichkeiten (den „futuribles") die richtige aus. Wieder zehn Jahre später, Anfang unseres Jahrzehnts, ist dieser Optimismus geschwunden: hinsichtlich der Aussichten, der überhaupt vorhandenen Wahlmöglichkeiten und der Glaubwürdigkeit von Prognosen. Ich greife drei Beispiele heraus, das bekannteste, das eigentlich spektakuläre zuerst: 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht über die „Grenzen des Wachstums"; es waren Prognosen m i t Hilfe der wissenschaftlichen Systemanalyse und Computersimulation über die katastrophale Richtung der heutigen Entwicklung. 1973 schrieb neben vielen anderen Kommentatoren der Tübinger Theologe Klaus Scholder über die „Grenzen der Zukunft", d. h. über die tiefen Unsicherheiten derartiger Prognosen. U n d 1975 verfaßte der Schriftsteller Dieter Wellershoff einen großen Essay über „Zukunft und Tod", i n dem er ein sonst beinahe vergessenes Dilemma i n den Mittelpunkt der Betrachtung rückte, nämlich die für jeden Einzelmenschen i m Laufe seines Lebens immer größer werdende Diskrepanz zwischen seiner persönlichen Zukunft — dem Altern und Sterben — und der Zukunft der Gesellschaft 3 . Natürlich soll und kann all das nicht die grundlegende Einsicht verdrängen, daß Zukunftsforschung notwendig ist, d. h. daß ohne Planung und Vorausschau ein Überleben der Menschheit nicht mehr möglich ist. Der warnende Bericht des Club of Rome war ja eben von dieser Einsicht diktiert. Und es bedarf auch keiner großen Erklärung, daß der Historiker sich m i t diesen Fragen beschäftigen muß, sie jedenfalls mitbedenken muß. Man stellt sich zwar gern Vergangenheit als die unwiderruflich so und nicht anders verlaufene Entwicklung vor, die zwar nicht immer voll bekannt, aber eben deswegen vom Historiker zu erforschen sei, — Zukunft hingegen als das Land der vielen ungewissen Möglichkeiten, in dem der Historiker nichts zu suchen habe. Schon vom Wortsinn her ist es etwas anders. „ Z u k u n f t " meint eine von der Gegenwart ausgehende Bewegungsrichtung, „Vergangenheit" ein weites Gebiet, einen fernen, ruhigen Zustand. Der eigentliche Gegenbegriff von Zuk u n f t ist Herkunft. Vielleicht nicht der Historiker als Vergangenheitsforscher, wohl aber der Historiker als Herkunftsforscher ist an Zukunftsfragen gebunden. Der große Teil der Geschichtswissenschaft, der als Herkunftsforschung zu bezeichnen ist, der sich also m i t Vergangenheit unter dem Gesichtspunkt der geschichtlichen Entstehung der 3 Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek bei Hamburg 1973. Klaus Scholder, Grenzen der Zukunft. Aporien von Planung und Prognose, Stuttgart 1973. Dieter Wellershoff, Zukunft und Tod, in: Literaturmagazin 3, hrsg. von Nicolas Born, Reinbek bei Hamburg 1975.

Die Zukunft im historisch-politischen Denken des 20. Jahrhunderts

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Gegenwart beschäftigt, hat deutliche wechselseitige Beziehungen zu der Forschung, die sich m i t der von der Gegenwart aus weiterführenden Richtung beschäftigt, also m i t der Zukunftsforschung. Diese Beziehungen zeigen sich auch i n der Weiterentwicklung der Soziologie seit den Sechziger jähr en. Damals fand nicht nur eine Öffnung für Zukunftsfragen statt, sondern man kann gleichzeitig von einer „Rehistorisierung" der Sozialwissenschaft sprechen. Hierbei ist allerdings längst deutlich geworden, daß sich die Sozialwissenschaftler eine vom vorherrschenden Interesse und Stil der Historiker abweichende und anders problematisierende Behandlung der Geschichte wünschen. Die entsprechende Diskrepanz, oft von den Forderungen der neuen Geschichtsdidaktik unterstützt, ist inzwischen i n die Geschichtswissenschaft selber hineingetragen worden. A m deutlichsten artikuliert w i r d sie vielleicht von Klaus Bergmann und Hans-Jürgen Pandel i n ihrer Schrift „Geschichte und Z u k u n f t " : „Geschichte zu untersuchen, um Zukunft zu entdecken, ist die Sache der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft nicht", heißt es dort 4 . „Die Verengung des erkenntnisleitenden Interesses hat zur Folge, daß Wissenschaft ihren Zusammenhang m i t der auf echte Zukunft gerichteten Lebenspraxis aufgibt und der Kontemplation verfällt. Die Geschichtswissenschaft, diesem Prozeß nicht enthoben, überläßt sich der dinglichen Gewalt ihrer Gegenstände, richtet sich i m Museum des Gewesenen und Gewordenen ein und beruhigt ihr schlechtes Gewissen, indem sie die formale methodologische Seite der Historie — vor allem Quellenkritik und ,Verstehen 4 — als permanente Einübung i n Kritikfähigkeit und Gerechtigkeitsempfinden stilisiert 5 ." Der Vorwurf ist gut formuliert und läßt sich als Ausgangspunkt für unser Thema verwenden, für die „Zukunft" i m historisch-politischen Denken des 20. Jahrhunderts. M i t dieser vielleicht nicht ganz deutlichen Bezeichnung ist das deutsche Denken und das durch Historiker oder jedenfalls durch ihre Gesichtspunkte bestimmte Denken gemeint; denn speziell i n Deutschland dachten und forschten die Historiker i m 19. und 20. Jahrhundert „historisch-politisch", bevorzugten also die politische Geschichte und deren Gesichtspunkte. Es ist ein großer Unterschied, ob man von hier aus oder vom Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Entwicklung aus die Zukunft mitbedenkt. Die Frage w i r d sein, ob und warum hiermit ein eingeschränktes Verhältnis zur Zukunft verbunden ist (I). Ich möchte dieses Verhältnis dann an einem 1917 veröffentlichten, damals sehr berühmten deutschen Zukunftsbuch veranschaulichen, das K r i t i k am 4 Klaus Bergmann / Hans-Jürgen Pandel, Geschichte und Zukunft. D i daktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a. M. 1975, S. 17. 5 Ebd., S. 109.

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historischen Denken übt, aber doch i n gewissen, sehr wichtigen Teilen darauf basiert: Walther Rathenaus Buch „Von kommenden Dingen" (II). Daran w i r d sich der Versuch anschließen, die Bedeutung des historischpolitischen Denkens unter dem heutigen Vorzeichen schwächerer Traditionen und stärkerer Produzierbarkeit der Zukunft neu zu bestimmen (III). I. Das deutsche historisch-politische Denken findet i m neunzehnten Jahrhundert seine beiden musterhaften Ausprägungen bei Ranke — m i t dem Ton auf „historisch" — und bei den liberalen kleindeutschen Historikern Droysen, Sybel, Treitschke —: m i t dem Ton auf „politisch". Beides war kein antiquarisches oder traditionalistisches Geschichtsdenken, sondern Auffassen und Lebendigerhalten der bisherigen geschichtlichen Entwicklung i m Sinne einer maßvollen, machtmäßig abgesicherten Weiterentwicklung i n Gegenwart und Zukunft. Gegen die Abstraktheit der Neuerungen, wie sie die Französische Revolution versucht hatte und wie sie von Konstitutionalisten und Demokraten auch für Deutschland gefordert wurden, schrieb Ranke i n den Dreißiger jähren seine „Historisch-politische Zeitschrift". I n seinem Kolleg über die „Geschichte unserer Zeit" pflegte er seinen Hörern zu sagen: „ F ü r mich liegt ein Motiv darin, daß Sie, meine Herren, junge Männer sind. Sie haben eine Teilnahme für das Gute, Große, Zukunftsvolle, eine natürliche Teilnahme, ohne die das jugendliche Gemüt gar nicht sein kann: es sind einige Meinungen von Haus und Schule Ihnen zu eigen geworden, aber Sie haben noch nicht Partei genommen. Ihnen gehört die Zukunft, auch für Sie ist es Pflicht, sich über die Gegenwart zu unterrichten, um nicht von dem Winde der Meinungen hin und her geschleudert (zu) werden. Fern ist von mir, Sie zu einer politischen Partei herüberziehen zu wollen; zumal da ich, wenn ich mich recht kenne, zu keiner gehöre; wäre es wieder Partei, zu keiner zu gehören, so wäre es wenigstens eben die Partei des Historikers 6 ." 1863 sprach er sich i n einer Vorlesung über deutsche Geschichte vorsichtig über die gegenwärtigen Einheitsbestrebungen aus: „Eine jede Nationalität beruht auf ihrem eigenen alten Instinkt. Nicht i n den Jetztlebenden allein besteht die Nationalität, sie umfaßt alle Geschlechter. Unsere Geschichte ist eines der größten Besitztümer unserer Nation. Ich b i n entfernt davon, über unsere Zukunft etwas aussprechen zu wollen; ich sage nur: Ich finde sehr natürlich, daß, nachdem der Partikularismus lange vorgewaltet hat, sich nun die Einheitsbestreβ Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlaß, hrsg. von Walther Peter Fuchs u. Theodor Schieder, Bd. 4: Vorlesungseinleitungen, hrsg. von Volker Dotterweich u. Walther Peter Fuchs, München 1975, S. 306.

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bungen mächtig regen. Ein Zerfallen der Einheit würde dem ganzen Laufe der Geschichte widersprechen 7 ." So vorsichtig dachten die Liberalen nicht, die Geschichtsschreibung und politische A k t i v i t ä t für ein klares Zukunftsziel viel stärker m i t einander verbanden. Für Droysen und seinesgleichen waren die sittlichen Kräfte für den Fortschritt der Menschheit viel wichtiger als die materiellen Bedingungen oder die von verschiedenen gesellschaftlichen Interessen verursachten Entwicklungen; also schrieb er Geschichte von den idealen Zielen aus — die Geschichte der preußischen Politik von den deutschen Einheitsbestrebungen aus — und wurde selber für dieses Ziel politisch tätig, um bei den Zeitgenossen den Einsatz für die richtige Zukunftsentwicklung zu stärken. Die Reichseinigung 1871 war nicht zuletzt ein Erfolg dieses historisch-politischen Zukunftsdenkens. Aber auch seine erste Krise. Das w i r d deutlich i n Sybels bekannter brieflicher Äußerung Ende Januar 1871: „Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? und wie w i r d man nachher leben? Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun i n so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man i n meinen Lebensjahren noch einen Inhalt für das weitere Leben nehmen 8 ?" Es fiel ihm dann doch noch etwas ein, er schrieb die vielbändige Geschichte der „Begründung des Deutschen Reiches": freilich auch das nur ein Zeichen, daß seine Zukunft Gegenwart und Vergangenheit geworden war. Sieht man sich die jüngeren Historiker nach 1871 an, so w i r d man feststellen müssen, daß das deutsche historisch-politische Denken keine derartig klare Zukunftsrichtung mehr gefunden hat, trotz enormer tatsächlicher Weiterentwicklungen: der BevölkerungsVermehrung, dem Wachstum von Industrien und Großstädten, der Bildung großer politischer Parteien und Verbände, trotz aller sozialen Veränderungen also. Zukunftsziel ist beinahe nur die zu stabilisierende Gegenwart; entweder durch Stärkung der sogenannten staatstragenden Kräfte, wie es die konservativeren Historiker nach der „inneren Reichsgründung" von 1879 als ihre Aufgabe ansahen, oder durch innere Nationalisierung des gesamten Volkes, Schaffung der großen Volksgemeinschaft, wie es die liberaleren propagierten, oder durch die Versöhnung von Macht und Geist, von Politik und K u l t u r , Preußen und Weimar, wie es neuidealistische Historiker unter Rückgriff auf das vorbildliche Modell der preußischen Reformzeit ersehnten. 7 Ebd., S. 326. β Heinrich von Sybel, Vorträge und Abhandlungen, mit biographischer Einleitung von Conrad Varrentrapp, München 1897, S. 132. Es handelt sich um einen Brief an Hermann Baumgarten. Sybel war damals 54 Jahre alt.

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Ein entschiedener Zukunftsweg war nur die machtmäßige Erweiterung, die Weltpolitik, der Imperialismus: die Zukunft lag — nur — auf dem Wasser. Das hing m i t der später oft beklagten Nutzanwendung aus der Erfahrung zusammen, die man m i t Realpolitik und Machtdenken bei der Reichseinigung gemacht hatte. Max Lenz stellte i m Mai 1914 fest, wenige Begriffe seien dem Zeitbewußtsein vertrauter als der Machtbegriff; dabei sei seine Herrschaft sehr jung, erst i m letzten Jahrhundert sei er die stärkste Kraft i n der „Erziehung unseres Volkes zur Nation" geworden 9 . Dietrich Schäfer, lautester Propagator der deutschen Seemachtspolitik unter den Historikern, erinnerte 1915 daran, daß David Friedrich Strauss schon 1848 das große Bibel wort „Trachtet am ersten nach dem Himmelreich, so w i r d euch alles andere zufallen" i n so zutreffender Weise verweltlicht hätte: „Trachtet am ersten nach der Einheit, so w i r d euch alles andere zufallen" (also Freiheit, Konstitution usw.). Schäfer unternahm nun seinerseits i m Weltkrieg eine nochmalige „zeitgemäße" Veränderung und verkündete: „Trachtet am ersten nach der Macht, so w i r d euch alles andere zufallen 1 0 ." Das dürfte wohl der extremste Ausdruck dieser historisch-politischen Sicht sein. Für den Weg i n die Zukunft wurden weniger Institutionsveränderungen oder Reformdiskussionen herbeigewünscht als vielmehr die große, machtvolle, führende Persönlichkeit. Das war eine Vermischung der Lehre Droysens von der Bedeutung der individuellen sittlichen Kräfte für den Fortschritt m i t einer Erfahrung der Reichseinigungszeit: der Erfahrung der Effizienz Bismarcks. Als K a r l Alexander von Müller 1923 zusammen m i t Erich Mareks die Kurzbiographien „Meister der Politik" herausgab, schrieb er i m Vorwort: „Immer sind es große Männer gewesen, . . . deren dämonischer Wille, Verstand, Einbildungskraft das Verworrene . . . auf eine Weile bemeisterte. Unsere eigene . . . Gegenwart, unser eigenes niedergebrochenes, aus der Bahn geworfenes deutsches Volk haben diesen neuen schöpferischen Gestalter noch nicht gefunden. Indem w i r diese Bildnisse seiner Vorgänger aus der Vergangenheit sammeln, lauscht unsere Hoffnung i n die Zukunft, durch die dunkle Nacht der Ratlosigkeit . . . auf das erste Blitzen, das i h n verkünden w i r d 1 1 . " Dieses Zitat stammt wie das vorige von Schäfer aus einer Krisenzeit, aber m i r scheint, beide sind eher überdeutlich als verfälschend.

® Max Lenz, Macht und Geschichte, in: Aus der Aufklärung in die permanente Restauration. Geschichtswissenschaft in Deutschland, hrsg. von Manfred Asendorf, Hamburg 1974, S. 225. i° Dietrich Schäfer, Mein Leben, Leipzig 1926, S. 209. h Karl Alexander von Müller, Vorwort in: Meister der Politik, hrsg. von Erich Mareks u. Karl Alexander von Müller, Bd. 1, Stuttgart 1923, S. V f.

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Irritierend ist für uns bei diesem historisch-politischen Denken die relativ gelassene oder optimistische Haltung zu Fragen der verfassungsmäßigen Weiterentwicklung, zur Einordnung der Industrialisierung, zum politischen und sozialen Problem der Arbeiterschaft, zum Problem der Bewußtseinsveränderung für neue Zeitverhältnisse. I n Frankreich versuchte man seit der Jahrhundertwende, zu einer Synthese zwischen historischen, kultursoziologischen und neuen philosophischen Gesichtspunkten zu kommen. I n Amerika propagierte man die „New History", eine pragmatische, präsentistische, also explizit auf Nutzanwendung i n Gegenwart und Zukunft ausgerichtete geschichtliche Betrachtungsweise. Man interessierte sich vor allem für die Umbildung des zeitgenössischen Allgemeinbewußtseins, von dem man erklärte, es hinke der geschichtlichen Entwicklung nach. I n dieser Weise hat z. B. James H. Robinson seine Beschäftigung m i t der „intellectual history" aufgefaßt, m i t den interessenbedingten „rationalizing ideas", den „habits of thought", die immer einen „cultural lag" (nach Vehlens Bezeichnung) zu den tatsächlichen gleichzeitigen Verhältnissen bildeten, also kritisch verändert werden müßten, und den förderungswürdigen „kreativen Ideen" wie besonders der Fortschrittsidee. I n Deutschland versuchten nur wenige Historiker die staatlichen und politischen Gesichtspunkte gegenüber wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder sozialpsychologischen zurücktreten zu lassen, — nur etwa Lamprecht, der entsprechend verketzert wurde. I n der politischen Zielrichtung unterschied er sich zwar kaum von seinen Kollegen, w o h l aber i n seiner Betonung regelmäßig aufeinanderfolgender, mehr von K u l t u r und Wirtschaft als vom Staat geprägter Stufen der Kollektivmentalität. Er stand damit den Nationalökonomen und Soziologen seiner Zeit näher, die sich auf die Problematik der modernen staatlich-bürokratischen und kapitalistischen Entwicklung konzentrierten. Aber auch innerhalb dieser damals modernen Forschungsrichtung läßt sich gerade bei dem bedeutendsten Vertreter, bei Max Weber, nicht übersehen, wie stark er von den herrschenden historisch-politischen Gesichtspunkten geprägt ist. Daraus erklärt sich seine Skepsis gegenüber einer — von früheren und gleichzeitigen Soziologen oft angenommenen — gesetzmäßigen gesellschaftlichen Weiterentwicklung, sein Verhältnis zu Machtstaat und Imperialismus, auch seine Vorstellung von der charismatischen politischen Führerpersönlichkeit. II. Es wäre verlohnend, aber ziemlich kompliziert, hierauf hinsichtlich der Zukunftsvorstellungen näher einzugehen. Ich werde darum versuchen, an einem anderen, mehr sozialphilosophischen als historisch7 Geschichte und Zukunft

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soziologischen Denker die Problematik genauer aufzuzeigen, an Walther Rathenau. Er stand den bisher genannten Richtungen etwas ferner, beschäftigte sich aber besonders intensiv m i t der Zukunftsfrage. Sein futurologisches Buch „Von kommenden Dingen" erschien 1917 und erregte damals, mitten i m Ersten Weltkrieg, großes Aufsehen. Es ist für uns aufschlußreich, w e i l sich Rathenau bei seinem Interesse für die Zukunft ausdrücklich gegen den herrschenden „Historismus" stellte. Die traditionalistische Haltung und der naive Fortschrittsoptimismus der herrschenden Politiker und der etablierten Gelehrten irritierten ihn genauso wie i h r militärpolitisch bestimmtes, imperialistisches und industriefernes Denken. Er wollte dem aber keineswegs eine technischindustrielle Utopie entgegenstellen, sondern griff durchaus auf Wertund Zielvorstellungen des deutschen Idealismus zurück, sowie auf gewisse, weniger historische als geschichtsmythologische Konzeptionen der eigenen Zeit. Wie setzte Rathenau an? Obwohl er kein Gelehrter war, vielmehr zur damaligen Führungsschicht der an schnelles, umwälzendes Handeln gewöhnten deutschen Industriellen gehörte, bereitete er seine Zukunftsüberlegungen sehr umständlich vor. Er versuchte zunächst, die Situation seiner eigenen Zeit zu analysieren und historisch zu erklären. Sodann formulierte er seine Ansichten über das letzte höchste Ziel oder auch die Grundprinzipien, die das Handeln und Denken der Menschen weniger bestimmen als bestimmen sollten. Erst danach t r u g er seine Ideen über die kommenden Dinge, über den zukünftigen Weg vor. Das erste, die Situationsanalyse, veröffentlichte er 1912 i n der „ K r i t i k der Zeit". Nicht Imperialismus oder Kapitalismus, sondern „Mechanisierung" wurde als bestimmendes Phänomen der Zeit gedeutet, — ein Begriff, der dann jahrelang zum beliebten Schlagwort für Zeit- und K u l t u r k r i t i k e r wurde. Für die geschichtliche Erklärung der Mechanisierung konnte Rathenau m i t zünftigen historisch-politischen Vorstellungen nichts anfangen, er ging vielmehr von der Bevölkerungsverdichtung des 19. Jahrhunderts aus und versuchte, die Massenerscheinungen durch eine sehr fragwürdige Kombination von populärwissenschaftlichen Rassenanschauungen und gewissen Klassentheorien — teils sozialistischer, teils kulturpessimistischer Herkunft — zu erklären. Das Zeitbild, das dieser Sohn des Schöpfers der A E G von der modernen elektrifizierten Großstadt und ihrem materialistischen Geschäfts- und Vergnügungsleben zeichnete, war düster. Nachdem er dann i n seinem 1913 erschienenen zweiten Buch „ Z u r Mechanik des Geistes" sozusagen eine ausführliche Einübung i n das Erfahren höherer und höchster Lebenswerte jenseits aller Zwecke und Interessen vorgetragen hatte, versuchte er i n seinem dritten Hauptwerk „Von kommenden Dingen"

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den Weg der Zukunft zu bestimmen: i n einer spezifischen Mischung von Wahrscheinlichkeit — oder besser: Praktikabilität — und Wünschbarkeit. Dieses dritte Buch erschien, wie gesagt, 1917. Aber es war eigentlich kein Kriegsbuch. Es handelte von Dingen jenseits des Krieges und seiner unmittelbaren Ziele. Und Rathenau hatte es — was nie beachtet w i r d — kurz vor seinem Ausbruch, ohne ihn vorauszusehen, konzipiert und begonnen. Die Unterschiede zwischen Entwurf, Fortführung und W i r kung des Buches sind davon bestimmt. Ein genauerer Blick auf die Entstehungsgeschichte ist also nicht uninteressant 12 . I m Juni und J u l i 1914 entwarf Rathenau den Gesamtplan und schrieb etwa ein Viertel des Buches. Er wollte i n drei Teilen, einem ökonomischen, ethischen und politischen, den Weg i n die Zukunft beschreiben. Alles ist i n diesem ersten Viertel von den politisch-sozialen Problemen der Vorkriegszeit geprägt. Das gilt vor allem von den berühmten und hinsichtlich der späteren Weiterführung ziemlich irreführenden Einleitungsworten: „Dieses Buch t r i f f t den dogmatischen Sozialismus ins Herz." Worte des Burgfriedens vom August 1914 waren das nicht, sondern der Situation seit Januar 1912, als die SPD die größte Fraktion i m Reichstag wurde. Man weiß, welche Rolle diese innenpolitische sogenannte „Gefahr" für die Standpunktverhärtung der Konservativen und Nationalliberalen und m i t ihnen vieler Industrieller gespielt hat. Linksliberale suchten durch Ignorierung der dogmatisch-marxistischen Züge der Sozialdemokraten zu vermitteln. Rathenau entschloß sich, seinen Klassenstandpunkt als Großindustrieller zu verleugnen und strengen Antimarxismus m i t bestimmter sozialistischer, antikapitalistischer K r i t i k zu verbinden: m i t der K r i t i k an der Klassentrennung der Gesellschaft, der von i h m sogenannten „neuen erblichen Schichtung des Volkskörpers" durch das Bildungs- und Besitzmonopol des Bürgertums. Wie sich etwa an der starken Anklage gegen den bürgerlichen Luxus zeigt, war das ein Entschluß angesichts von Vorkriegserscheinungen. Er dachte an eine friedliche Ermöglichung größerer „menschlicher Freiheit" durch wenige gesetzliche Änderungen, vor allem durch innere Umkehr. M i t Kriegsbeginn unterbrach er sein Zukunftsbuch. Er beteiligte sich m i t keinem Wort an den flammenden Kriegspublikationen der Literaten und Professoren, an dem chauvinistischen „Stammesgeheul", wie es damals der Nationalökonom Georg Knapp nannte. Dafür war er von der unerwarteten Katastrophe zu tief deprimiert, und außerdem war er 12

I m folgenden fasse ich eigene Forschungsergebnisse zu Rathenaus „Kommenden Dingen" zusammen. I n vollständiger Form befinden sie sich in der Walther Rathenau Gesamtausgabe, Bd. 2: Hauptwerke und Gespräche, hrsg. von Ernst Schulin, München—Heidelberg 1977. 7*

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zu sehr i n kriegswichtige Tätigkeit eingespannt, i n die verantwortungsvollste Aufgabe, die er bis dahin überhaupt gehabt hatte: Anfang August übernahm er auf eigene Initiative die Leitung der Kriegsrohstoffversorgung. Sofort sah er i m Krieg und i n dieser Tätigkeit einen anderen und w o h l kürzeren Weg zu dem Neuen, das er verkünden wollte. Die bisherige individualistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schien zwangsläufig i n gemeinwirtschaftlicher und staatssozialistischer Richtung verändert zu werden, — provisorisch, aber vielleicht auf Dauer. Tatsächlich kann man ja diese Kriegswirtschaft als Ausgangspunkt für planwirtschaftliche Überlegungen, also für einen Hauptstrang moderner Zukunftsplanung ansehen. Nicht nur deutsche Nationalökonomen erkannten diese Bedeutung schon damals, sondern auch ausländische, nicht zuletzt auch Bucharin und Lenin, die hier ihre Vorstellungen vom Staatskapitalismus, vom Staat als alleinigem Unternehmer und von der dadurch möglichen langfristigen Planwirtschaft ausbildeten 13 . Bei Rathenau selber war der Sprung von theoretischer zu praktischer Zukunftstätigkeit aber nur vorübergehend. Ende März 1915 verließ er die Kriegsrohstoff organisation; man muß vermuten, i n dem aufreibenden Kampf zwischen staatlicher Bürokratie und Industrieinteresse verlor er die Geduld und Sicherheit, praktisch für eine neue wirtschaftsstaatliche Organisation tätig sein zu können. Er kehrte zu seinem Zukunftsbuch zurück. Bei seinen nun folgenden Ausführungen über die Wirtschaft ist auffallend, daß er zwar mehrfach Hinweise auf die Kriegssituation gab, aber ruhig an seine Vorkriegsausführungen anknüpfte. Es ging u m Luxus- und Erbgesetzgebung, um Entpersönlichung des Besitzes, u m Mischgebilde zwischen Privatwirtschaft und Staatswirtschaft. Aber n i r gends schlugen sich i n diesem Abschnitt seines Buches Erfahrungen aus der Kriegswirtschaft oder gar Konsequenzen aus ihnen nieder. Die Hemmung, öffentlich etwas über die Kriegsrohstoffabteilung zu sagen, verband sich offenbar m i t der Skepsis, hiervon einen Weg der W i r t schaft i n die Zukunft ableiten zu können. Wichtiger war i h m n u n der nächste Teil seines Buches, der „Weg der Sitte", das Problem der gesinnungsmäßigen Veränderung, deren Fehlen er bei seiner Tätigkeit erfahren hatte. Über diesen Weg konnte er 1915 frei schreiben, nicht aber über den „Weg des Willens", d. h. über Staat und Politik. Gerade w e i l er, wie er andeutete, dem Staat eine verstärkte Rolle i n der Zukunft zudachte, mußte i h m deutlich werden, daß dies nicht der bestehende deutsche Staat sein konnte. Und mitten i m Krieg kritisch über deutsche Peter Scheibert, Revolution und Utopie. Die Gestalt der Zukunft im Denken der russischen revolutionären Intelligenz, in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, hrsg. von H. Barion u. a., Bd. 2, Berlin 1968, S. 634.

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staatliche und gesellschaftliche Verhältnisse zu schreiben, damit also die nationale öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen, schien i h m unmöglich. Das Buch blieb auch i n diesem Jahr unvollendet. I m folgenden Jahr, August bis Oktober 1916, schrieb er den „Weg des Willens" und damit das Buch zu Ende. Die Hemmung, sich mitten i m Krieg kritisch über das politische Deutschland zu äußern, hatte er nun überwunden. Er nahm das i n der Vorkriegszeit steckengebliebene Problem der Parlamentarisierung wieder auf, übrigens bevor die allgemeine Reformdebatte 1917 einsetzte. Er wurde gleich zu Anfang dieses Abschnittes noch deutlicher und bekannte offen seine nun zweijährige Distanz zur „Denkweise meines Volkes" 1 4 , zur Kriegsbegeisterung und den inzwischen i n immer weiteren Kreisen diskutierten Kriegszielen. Außerdem entschloß er sich, nun doch seine kriegswirtschaftlichen Erfahrungen einzubringen und über Rohstoffschutz, Importschutz und neuen Merkantilismus auch i m kommenden Frieden zu sprechen. Dazu wurde er durch den damaligen Stand der öffentlichen Auseinandersetzung über Staatssozialismus und Gemeinwirtschaft ermuntert. Nach manchen anderen Anregungen hatte i m Sommer 1916 Wichard von Moellendorf (ein Mitarbeiter der AEG, der auch schon 1914 Rathenau den ersten Anstoß zur zentralen Organisation der Kriegsrohstoffversorgung gegeben hatte) i n seiner Schrift „Deutsche Gemeinwirtschaft" auf die Kriegsgesellschaften als mögliche Vorformen künftiger berufsständischer Organe hingewiesen. K e i n geringerer als Harnack hatte Anfang August 1916 i n einer Rede diesen Gedanken einer nationalen Gemeinwirtschaft aufgegriffen und damit den Protest vieler Industrieller erregt. Dieser Stand der Diskussion war obendrein deutlich m i t Rathenaus Person verknüpft, da inzwischen seine wichtige, oft als entscheidend oder rettend gerühmte Tätigkeit für die Rohstoffversorgung öffentlich bekannt geworden w a r 1 5 . Für die W i r k u n g von Rathenaus Zukunftsbuch, das i m Schwebezustand zwischen Vorkriegskonzept und vorsichtiger Auswertung von Kriegserfahrungen beendet worden war, kam diese gerade vieldiskutierte praktische Kriegsleistung des Verfassers also hinzu und hat sicherlich den ungewöhnlichen Publikumserfolg bestimmt. 65 000 Exemplare wurden i n IV2 Jahren verkauft. Der durch die besagte Kriegsleistung angesprochene Leser wurde dann aber aus der unmittelbaren Gegenwart des Krieges und der Kriegsziele gelöst, indem Rathenau, wie 14

Rathenau, Hauptwerke und Gespräche, S. 422. Schon Ende 1915 durch britische Zeitungen, die diese Leistung als Sieg über die britische Blockade bezeichneten. Zur Diskussion der Gemeinwirtschaft vgl. Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914 -1918, Düsseldorf 1974, S. 51 - 59. 15

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w i r sahen, m i t scheinbarer Selbstverständlichkeit an seinen älteren und längerfristigen Zukunftsvorstellungen festhielt. Wie drei Traktate i m Stile des Aristotelismus handelten die drei Teile des Buches von Ökonomik, Ethik und Politik. Aber es kam nicht auf Tatbestandsaufnahme an, sondern auf Impuls, auf Bewegung des Willens. Rathenau stellte diese seine Zukunftsrichtung gegen die „geschichtliche Betrachtungsweise", die ein Jahrhundert „unserem Denken" gedient habe und nun ausarte und schädlich werde, zumal wenn sie auf Institutionen angewandt werde und dabei deren Funktionswandel — etwa den des Staates — unterschätze. „Aus falscher Anwendung geschichtlicher Betrachtung folgt falsche Einschätzung des geschichtlich Gewordenen 4 als eines absoluten Wertes; der Tradition als einer positiven K r a f t 1 6 . " Rathenau lastete das besonders der „Kathederpraxis des deutschen Gelehrten" an, der nach seiner Wesensanlage i m polaren Gegensatz zum Tatmenschen, zum handelnden Politiker und Geschäftsmann stehe 17 . Fragen der Zukunft, auch wenn sie theoretisch behandelt würden, seien aber viel mehr Sache des Tatmenschen. W i l l man hiernach die besondere A r t von Rathenaus Zukunftsdenken näher bestimmen, so läßt sich vielleicht ganz grob von vier verschiedenen, i n seiner Zeit schon verbreiteten Formen zukunftsgerichteten Denkens ausgehen. Als erste kann man die Theorien über die gesellschaftliche fortschrittliche Entwicklung ansprechen, über die Ausdehnung der Zivilisation (womit die europäische Zivilisation gemeint war). Diese evolutionäre Vorstellung, ausgerichtet auf ein zunehmend wissenschaftliches, industrielles und emanzipatorisches Zeitalter, bestand seit Condorcet, war besonders entschieden von Comte vertreten worden und war auch noch i m beginnenden 20. Jahrhundert sehr stark, obwohl sie vom Bürgertum und seinem gesellschaftlichen Denken, also besonders seiner Soziologie, nicht mehr i n der ganz unkomplizierten Form eines einfachen gradlinigen Fortschritts vertreten wurde. I n ungebrochen optimistischer Form war sie mehr die Sache des Sozialismus, der vereinfachten marxistischen Theorien von Kautsky und anderen. Die zweite Form zukunftsgerichteten Denkens war die des K u l t u r pessimismus, der sich als ängstliche Reaktion auf die Entwicklung der Massen i m eigenen Land, auf die der Farbigen i n Asien und A f r i k a oder auf die der Technik und Industrie entwickelte. Wie man am Grafen Gobineau und an Houston Stewart Chamberlain sehen kann, war diese Form oft m i t Rassismus verbunden. Hauptinhalt solcher geschichtlicher 16

Rathenau, Hauptwerke und Gespräche, S. 335 f. 17 Ebd., S. 425.

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Vorausbestimmungen war die Gefahr des Untergangs der K u l t u r oder der kulturvollsten Rassen oder Völker. Drittens finden w i r Utopien hinsichtlich der technischen Entwicklung, — „science fiction" wie bei H. G. Wells m i t einigen optimistischen, aber meist düsteren Zukunftsbildern. Und als vierte Form läßt sich die speziellere Futurologie der Kriegsziele anschließen, die während des Krieges eine zunehmende Rolle i n der öffentlichen Diskussion spielten. Das berühmteste Beispiel war Friedrich Naumanns „Mitteleuropa", der Plan eines durch den Krieg zu erreichenden und i h m damit einen guten Sinn gebenden deutschösterreichischen Zusammenschlusses, 1915 geschrieben und veröffentlicht und nach einem Jahr übrigens schon i n noch höherer Auflage verbreitet als später die „Kommenden Dinge". Wenn w i r diese verschiedenen Formen teils prophezeienden, teils planenden Zukunftsdenkens m i t Rathenaus Intentionen vergleichen, so läßt sich sagen: Für das einfache Fortschrittsdenken, den Glauben an automatisches Zusammenwirken von Entwicklung der „mechanisierten Welt" und Verbesserung der Lage der Menschheit, neigte er zu sehr zu der pessimistischen Befürchtung von K u l t u r - und Rassenverfall, wenn er auch die Notwendigkeit eines solchen Niedergangs verneinte. Fortschritt der Menschheit war seine Hoffnung und er kämpfte dafür. Er meinte damit nicht nur einen materialistischen. Diese Seite schien i h m notwendig und wünschenswert, jedoch relativ einfach zu erreichen, also des Aufwandes einer speziellen Weltanschauung (nämlich des „dogmatischen Sozialismus") oder gar einer Revolution nicht wert. Hinsichtlich der „science fiction", der technisch-industriellen Zukunft, war er erstaunlicherweise noch desinteressierter. Es w a r die Welt, die er am besten kannte, und zweifellos hatte eben sie ihn veranlaßt, mehr i n die Zukunft als zurück zu den Traditionen zu blicken, aber er zeichnete kein B i l d ihrer Zukunft, er erwähnte nicht einmal mögliche Erfindungen und Modernisierungen. Das abschreckende Bild, das er von der mechanisierten Welt zeichnete, geht über Technik und ihre Neuerungen weit hinaus, und es ist außerdem ein B i l d der Gegenwart; die Zukunft sollte anders aussehen. Was schließlich die Kriegsziele betraf, so machte er seit 1914 der Regierung geheime Vorschläge — auch über Mitteleuropa, dann vor allem über eine Expansion i m Osten —, aber all das fand keinen Eingang i n sein Buch. Obwohl er hier sehr w o h l Ziele setzte. Darin sah er sogar eine der beiden Hauptaufgaben seines zukunftsgerichteten Denkens. Er wollte nicht eine günstige Zukunft prophezeien oder eine sicherlich schlechte

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beklagen, sondern gute Ziele setzen und nach den besten vorhandenen M i t t e l n suchen, um sie zu erreichen. I n diesem Primat des Zielesetzens, von dem er also mehr hielt als vom bloßen Prophezeien, und außerdem i n seiner Überzeugung, daß Gesinnungsänderung für die Erreichung dieser Ziele wichtiger sei als Veränderung der Institutionen, läßt sich die besondere Form seines Zukunftsdenkens am deutlichsten erkennen. Das ist alles andere als selbstverständlich bei einem Techniker, einem nahezu planwirtschaftlichen Organisator, einem Anhänger von Rassenund Schichtungstheorien. Polak bezeichnet i h n i n seinem Werk „The Image of the Future", einem Panorama der bisherigen europäischen Zukunftsbilder, als größten und letzten prophetisch-idealistischen Zukunftsdenker 1 8 . Zielsetzung und Aufruf zur Gesinnungsänderung — beides bedeutet Umwertung bestehender Werte und setzt den Glauben an die Veränderbarkeit des Menschen voraus. Natürlich erregte Rathenau m i t beidem Widerspruch, obwohl er diese Fragen milde und vorsichtig bis zur Verharmlosung behandelt hatte. Von der Kühnheit Nietzsches bei der U m wertung aller Werte ist kaum etwas zu spüren. Trotzdem ist hier ohne Zweifel ein Ausgangspunkt von Rathenaus Gedanken zu sehen: i n Nietzsches Verkündung neuer ethischer Möglichkeiten, i n seiner stolzen Behauptung, „Umschaffung der Überzeugungen" sei wichtiger als Besitzumteilung, sie sei die eigentliche Kulturarbeit 1 9 . Rathenaus eigene Umwertung diente freilich weniger einer Befreiung und Lebenserweiterung als einer Zivilisierung und Vergeistigung, einer neuen Bindung i n volksstaatlicher Verantwortlichkeit, beinahe einer Rehabilitierung christlicher Moral ohne Kirche. Das entspricht älteren, maßvolleren Mustern, als sie Nietzsche bietet, es entspricht der Betonung der entscheidenden Bedeutung der sittlichen Kräfte, wie w i r sie i m deutschen Idealismus und innerhalb des deutschen historischen Denkens besonders bei Droysen, auch bei Ranke, finden. Rathenau mochte gegen den Historismus und Traditionalismus der i h n umgebenden wilhelminischen Gesellschaft eingestellt sein, auch gegen die altmodische politisch-militärische Geschichtsschreibung, — so weit historisch empfand er doch, daß er das Preußen Kants, Steins und Humboldts als große vorbildliche Epoche bewunderte. I m Sinne dieses deutschen Idealismus sah er Handlungen und Institutionen — oder besser: den Umgang m i t Institutionen — völlig von den Gesinnungen abhängig. Das ist genau der Punkt, i n dem er sich extrem antimarxistisch gab. I m Kontrast zu dieser hohen Funktion minimalisierte er das Problem der Gesinnungsänderung, soweit es ging. Die is F. L. Polak, The Image of the Future, Bd. 1, Leyden 1961, S. 341. ι» Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke in drei Bänden, hrsg. von K a r l Schlechta, Bd. 1, München 1960, S. 672 u. 852.

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Frage, ob das Wesen des Menschen sich ändern kann, ließ er offen, es genügte ihm, daß sich i n der Geschichte „von Jahrhundert zu Jahrhundert die Änderung der herrschenden sittlichen Bewertungen" nachweisen läßt 2 0 . Er gab Beispiele aus den letzten Jahrhunderten deutscher Geschichte, i n denen sich beispielsweise klassenbewußte Bürger und Arbeiter aus untertänigen Leibeigenen entwickelt hätten. „Der Lauf der letzten beiden Jahrhunderte", behauptete er, „hat größere Bewußtseinswandlungen gebracht, als die w i r fordern" 2 1 . Das, was er forderte, also die Abkehr von Bildungs- und Besitzmonopolen, vom militanten Nationalismus, von unpolitischer, rein profitbezogener Lebenseinstellung des Bürgertums, — kurz alles, was er als „Wiederbeseelung der mechanisierten Welt" begriff, schien i h m buchstäblich einfacher zu sein als beispielsweise die Entwicklung des Standesbewußtseins der preußischen Beamten und Offiziere. III. Dieses Zukunftsdenken Rathenaus, das ich hier so ausführlich vorgestellt habe, ist i n seiner spezifischen Ausprägung eine ziemlich seltene Erscheinung. Es findet keine Nachfolge i n dem gewöhnlichen historischpolitischen Denken nach 1918, das, jedenfalls bis 1933, unter dem Schock des Kriegsendes und i n der Unzufriedenheit m i t der politischen Gegenw a r t viel zu sehr m i t Vergangenheitsrechtfertigung beschäftigt war. Die Zeit nach 1933 m i t ihrer verordneten Zukunftsschau, ihrer politischen Funktionalisierung primitiver Herrenrassen- und Herrenvolksideologien, unter deren Vorzeichen für tausend Jahre Geschichte „gemacht" werden sollte, ist eine Sache für sich. Nach der Katastrophe ging es wieder u m die Vergangenheit, u m ihre Bewältigung diesmal, nicht u m ihre Rechtfertigung, außerdem, wie anfangs erwähnt, u m Dankbarkeit für schonende Gegenwart. Aber auch bei den m i t Rathenau etwa vergleichbaren Versuchen, aus Z e i t k r i t i k und Geschichtsphilosophie die zukünftige Entwicklung zu erkunden, findet sich keine eigentliche Nachfolge. Als solche Versuche kann man den „Untergang des Abendlandes" von Oswald Spengler ansehen, der selber seine Beeinflussung durch Rathenaus Zeitanalyse betont, oder den „Arbeiter" von Ernst Jünger. Beiden geht es aber nicht u m Gesinnungsänderung zur Beeinflussung der künftigen Entwicklung, sondern u m Anpassung an eine unabänderlich auf uns zukommende, schwere, veränderte Zeit. L y r i k e r seien da weniger gefragt als Techniker, erklärte Spengler, man solle sich also seinen Beruf ent20 Walther Rathenau, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Berlin 1929, S. 116. 21 Rathenau, Hauptwerke und Gespräche, S. 392.

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sprechend wählen. Jünger konstruierte den Typ des „Arbeiters", den die neue Zeit verlange 22 . Das sind keine sehr zufriedenstellenden Erfolge des aus deutscher Tradition kommenden historisch-politischen Denkens hinsichtlich der Zukunft. Man w i r d aber betonen müssen, daß seit den Zwanziger]ahr en nicht nur dieses Denken Schwierigkeiten m i t der Zukunft hat. Angesichts der Entwicklung des Bolschewismus, der verschiedenen faschistischen Staaten und der westlichen Demokratien i n den Zwanziger- und Dreißigerjahren ging es dem evolutionistischen Fortschrittsdenken Westeuropas und Amerikas kaum anders. Das läßt sich hier nicht ausführen. Es soll nur darauf hingewiesen werden, daß K a r l Poppers Abwendung vom „Historizismus", also von jeder Lehre eines deterministischen Geschichtsverlaufes und den damit verbundenen Großprognosen der Kommunisten, der Faschisten und der westlichen Soziologen, eine A n t w o r t auf diese Situation war. Ein anderes, damals weitwirkendes Beispiel gab der zur „New History" gehörende amerikanische Historiker Charles Beard. Angesichts mehrerer miteinander konkurrierender moderner politisch-gesellschaftlicher Systeme in Rußland, i n Deutschland, Italien und i m Westen glaubte er den einfachen Gegensatz zwischen traditionalistischer und fortschrittlicher Anschauung nicht mehr aufrechterhalten zu können. Er begann deshalb größeren Wert auf die Entscheidung des Menschen für einen Zukunftsweg zu legen 23 . Heute stehen w i r unter dem Eindruck einer weitausgebreiteten m i l i tärpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunftsforschung, die sich nicht ganz, aber doch großenteils unabhängig von geschichtlichen Fragen, von historischen oder historizistischen Ideenrichtungen entwickelt hat. Prognosen und Planungen stehen heute, könnte man allgemein sagen, unter dem Vorzeichen schwächerer Traditionen und stärkerer Produzierbarkeit der Zukunft. Bei den schwächeren Traditionen denke ich an den oft diagnostizierten Übergang von den sogenannten traditionalen Gesellschaften, also denen, die sich soziokulturell i n den jeweils überlieferten Formen bewegen, zu den modernen Gesellschaften. Manche sprechen i n sicherlich sehr übertriebener Vereinfachung von der jahrtausendealten „stationären" K u l t u r , die i n unserer Zeit durch die dynamische Entwicklung der Technisierung und Industrialisierung abgelöst werde. Jedenfalls ist die industrielle Gesellschaft intellektuell und emotionell an Veränderung, Ausbeutung, Konsum und Wegwerfen orientiert. I m Vergleich 22 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde., München 1919/1922. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932. 2 3 K a r l R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 41974. Charles A. Beard, Written History as an Act of Faith, American Hist. Rev. 39 (1934).

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zur agrarischen, handwerklichen, kommerziellen Gesellschaft braucht sie die Vergangenheit nicht oder weit weniger. Permanentes Umlernen, lebenslange jeweils funktionsbezogene Erziehung w i r d für notwendiger gehalten als Tradition, Bildung und Erfahrung, die also demgegenüber einen starken Bedeutungsverlust erleiden. Hinsichtlich der Zukunftsbestimmung bedeutet die frühere starke Traditionsgebundenheit, daß für den damaligen Menschen Vergangenheit und Zukunft nicht — oder nur i m Katastrophenfall — sehr verschieden waren. „Eine auf Herkommen gegründete Sozialordnung", sagt Bertrand de Jouvenel, „bietet dem Individuum optimale Garantien für die Voraussehbarkeit seiner menschlichen U m w e l t " 2 4 . Diese Garantien fehlen heute. Die Zukunft ist weniger voraussagbar, aber zugleich machbarer. M i t dieser stärkeren Produzierbarkeit der Zukunft spiele ich auf Werner Pichts Bemerkung an, daß die heutige Zivilisation m i t der gesamten Lebenssituation des Menschen vollkommen durch Wirtschaft und Technik „produziert" werde, der Mensch also zum „Produzenten seiner eigenen Zukunft" geworden sei 25 . Prognosen haben hierbei Steuerungsfunktionen. Die Großindustrie muß wegen der steigenden Investitionen i n technisch komplexe Produktionsanlagen langfristigere und folgenreichere Planungsentscheidungen als früher treffen und kann dies nur auf der Grundlage umfassender Voraussicht i n die allgemeine Entwicklung. Katastrophen müssen prognostiziert werden, damit sie verhindert werden. Nichttechnische und nichtindustrielle Reaktionen und Folgen der technisch-industriell produzierten Zukunft müssen berücksichtigt werden. „Stärkere Produzierbarkeit der Zukunft" heißt nicht, daß alles i n gleicher Weise verändert w i r d oder werden soll. Es kommt auf eine Koordinierung von technischem Fortschritt und sozialem Wandel an oder sogar auf weitestgehende politisch-soziale Systemerhaltung bei weitestgehender technischer Veränderung. Ich neige dazu, das Phänomen des geschichtlichen (nicht nur des historisch-politischen) Denkens i n der Weise i n die angedeutete Strukturveränderung der modernen Zeit einzuordnen, daß ich seinen Bedeutungs- und Funktionswandel Ende des 18. Jahrhunderts und etwa Mitte unseres Jahrhunderts hervorhebe, also am Anfang und Ende eines „langen neunzehnten Jahrhunderts" (wenn hier eine Formel von Braudel verpflanzt werden darf). Zwischen den Jahrhunderten der traditionalen Gesellschaften, i n denen Geschichte als „die Sehwarte aller Zeiten, die Lehrmeisterin der 24 25

Bertrand de Jouvenel, Die Kunst der Vorausschau, Neuwied 1967, S. 23. Georg Picht, Prognose, Utopie, Planung, Stuttgart 31971, S. 7.

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Völker, die untrüglichste Verkünderin der Zukunft" galt 2 6 , und unserer eigenen Zeit liegt eine Phase, in welcher der Begriff „Geschichte" als „emphatischer Kollektivsingular" 2 7 überhaupt erst Bedeutung gewann. Geschichtliches Denken wurde i n nun ganz anderer Weise das beherrschende zukunftsgerichtete Denken, nämlich als Konstruktion der geschichtlichen Veränderung, der zusammenhängenden Entwicklung von den Ursprüngen her bis zu einer neuartigen Zukunft. A n die Stelle des geschichtlichen Erfahrungsschatzes, der angesichts der jeweils veränderten Umstände nicht mehr unmittelbar anwendbar erschien, trat das geschichtlich-philosophische, evolutionäre und prognostische Denken, bei Condorcet, Hegel und Comte, bei Lorenz von Stein, M a r x und Tocqueville. Es endete m i t Spengler und m i t den marxistischen, faschistischen und soziologischen Großprognosen der Zwanziger- und Dreißigerjahre unseres Jahrhunderts, gegen die, wie gesagt, Popper sein „Elend des Historizismus" schrieb. Es scheint m i r nicht unwichtig, sich diese Situation klarzumachen: u m nämlich zu erkennen, w o r i n die heutige Bedeutung des geschichtlichen Denkens für Zukunftsfragen liegen könnte. I n der Konstruktion historischer Großprognosen sicherlich nicht mehr. Aber auch schwerlich auf dem Gebiet der technisch-ökonomischen Entwicklung, also dem Gebiet der m i t der Planung unmittelbar verbundenen statistisch berechnenden Voraussagen. Auch bevölkerungsgeschichtliche Vorausberechnungen stehen relativ fern. Das eigentliche Gebiet scheint m i r das aus einer Gesamtanalyse der vorhandenen politischen, ökonomischen und ideologischen Kräfte zu ermittelnde politische und soziale Verhalten i n naher Zukunft zu sein. Hierbei handelt es sich u m ein Gebiet m i t noch verhältnismäßig starken Traditionen. Der Historiker kann bei politischem, geistigem und sozialem Verhalten — damit meine ich: Handeln und Leiden — auf den Erfahrungsschatz der Geschichte zurückgreifen, selbst wenn es u m Reaktionen auf völlig neuartige Verhältnisse geht. Wenn man m i t Daniel Bell annimmt, daß auch noch i n der von i h m so genannten nachindustriellen Gesellschaft politische Entscheidungen von überragender, ausschlaggebender Bedeutung sind 2 8 , dann ist auch 26

So charakterisierte Fichte 1793 diese bisherige Sicht: Johann Gottlieb Fichte, Schriften zur Revolution, hrsg. von Bernard Willms, Frankfurt/M.— Berlin—Wien 1973, S. 100. 2 7 Nach Reinhart Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag, hrsg. von M. Riedel und H. Braun, Stuttgart—Berlin 1967, S. 203 ff. Das folgende ausführlicher in meinem Aufsatz Die Frage nach der Zukunft, in: Geschichte heute, hrsg. von Gerhard Schulz, Göttingen 1973, S. 121 ff. 28 Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M.—New York 1975, S. 53 u. 247 ff.

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das historisch-politische Denken nicht i n der Weise als überholt anzusehen, wie es uns heute oft dargestellt w i r d und wie es nach gewissen, von m i r am Anfang zitierten Ausprägungen auch zu sein scheint. Wichtige Grundauffassungen der deutschen historisch-politischen Denker des 19. und 20. Jahrhunderts über ihre Aufgabe für Gegenwart und Zukunft sind durchaus weiterhin gültig. Diese Aufgabe liegt, schlicht gesagt, i n der Einflußnahme auf künftiges politisches und soziales Verhalten. Man weiß, daß Prognosen die künftige Entwicklung beeinflussen können und oft auch sollen, i n verhinderndem oder förderndem Sinne. Warum sollen historisch-politische Voraussagen davon ausgenommen sein? Die prognostische Betrachtung traditionellen politischen oder sozialen Verhaltens i n einer zukünftigen veränderten Welt und seine wahrscheinliche W i r k u n g i n i h r kann dazu beitragen, entweder die Zukunft anders zu produzieren oder zu einem Wandel des Verhaltens zu erziehen. Damit ist zugleich gesagt, daß Beschäftigung m i t Traditionen nicht m i t ihrer Fortschreibung identisch ist. Schon i n der Gegenwart läßt sich ja etwa an den berühmten Umweltproblemen zeigen, daß traditionelles Verhalten nicht nur kulturelle und soziale Fortschritte verhindern kann, sondern sogar der Bewahrung herkömmlicher lebensnotwendiger Verhältnisse zuwiderlaufen kann. Aus diesem letzten Gesichtspunkt heraus wäre eine Akzentverschiebung des historisch-politischen Denkens i n der Richtung des Rathenauschen Zukunftsdenkens notwendig, das ich deshalb so ausführlich behandelt habe. Es ist die Richtung, die vor zwanzig Jahren besonders eindrucksvoll K a r l Jaspers vertreten hat, als er i n seinem Buch über die „Atombombe und die Zukunft des Menschen" einen Gesinnungswechsel für notwendig hielt, wenn die gegenwärtige Weltentwicklung zum Guten führen solle. Diese Richtung findet sich ebenfalls i n einem der jüngsten Zukunftsbücher, i n Carl Friedrich von Weizsäckers „Wegen i n der Gefahr". Behandelte Rathenau i n seinen „Kommenden Dingen" nebeneinander die Bereiche Wirtschaft, Gesinnung und Politik, so untersucht nun Weizsäcker zunächst die Technik, dann Wirtschaft, dann K r i e g und Politik, schließlich Fragen der Bewußtseinsveränderung, kühler und nüchterner als Rathenau und Jaspers, aber, wie er selber betont, eben i n „unterkühlter" Form. Änderung des politisch-moralischen Verhaltens hält er zur Bewältigung kommender Gefahren für weit notwendiger, als er darzulegen wagt 2 9 . 29 K a r l Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit, München 1958. Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung, München *1977, besonders S. 138 f.

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Wenn ich also abschließend noch einmal auf den V o r w u r f Bergmanns und Pandels zurückkommen darf, die Geschichtswissenschaft richte sich i m Museum des Gewesenen und Gewordenen ein und beruhige ihr schlechtes Gewissen, indem sie Quellenkritik und „Verstehen" als permanente Einübung i n Kritikfähigkeit und i n Gerechtigkeitsempfinden stilisiere, so läßt sich antworten: Diese permanente Einübung ist keineswegs zu verachten, keineswegs eine Flucht vor Gegenwart und Zukunft, sondern eine wichtige Voraussetzung, u m durch kritische und gerechte Wahrnehmung traditioneller und gegenwärtiger Verhältnisse und Verhaltensweisen den Gefahren der Zukunft zu begegnen.

VERZEICHNIS DER MITARBEITER

Prof. Dr. James Joll, The London School of Economics and Political Science, London Prof. Dr. Hartmut Lehmann, Universität K i e l Prof. Dr. Heinz Löwe, Universität Tübingen Prof. Dr. Hubert Mordek, Universität Tübingen Prof. Dr. Ernst Schulin, Universität Freiburg i. Br. Prof. Dr. Hermann Strasburger, Universität Freiburg i. Br.