Geschichtsphilosophie: Gibt es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte? 9783495998151, 9783495998144


132 3 8MB

German Pages [218] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess auf ein Drittes oder relative Wiederkehr des Gleichen?
1. Einführung: Zu einigen Motiven des Philosophierens in der Geschichte
2. Zum Unterschied zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
3. Exkurs zur geschichtlichen Perspektive
4. Anfänge und Entwicklung der Philosophie in der Antike
5. Der Gegensatz von Idealismus und Realismus in der Antike
6. Der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus in der Neuzeit
7. Auflösung dieses Streits durch Kant!?
8. Kant, Hegel, Husserl – Die Gründer der Moderne
8.1 Der transzendentale Kritizismus von Kant
8.2 Der absolute Idealismus von Hegel
8.3 Die transzendentale Phänomenologie von Husserl
9. Die modernen Kritiker der Moderne
10. Der Gegensatz von Universalpragmatik und Systemtheorie in der Moderne
11. Interimistische Auflösung dieses Gegensatzes durch Lyotard
12. Der Gegensatz Moderne versus Postmoderne
13. Ausblick im Rückblick
14. Resümee
Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten und des Geistes
1. Grundgedanken zur geschichtlichen Entwicklung der Philosophie
2. Die Welt der Philosophie: Die relative Wiederkehr des Gleichen?
3. Idealismus und Realismus
4. Wissenschaftliche Sicht oder das Erleben der philosophischen Disziplin als der geistigen Kraft, die sich immer in Zeiten von Krise, Kriegen und anderen Katastrophen entfaltet
5. Die Philosophie aus dem Bewussten oder Unbewussten im Verständnis Walter F. Furrers und Abraham Heschels
6. Die Bewandtnis der Philosophie und Kunst aus dem Bewussten und Unbewussten im 15. und 17. Band der Gesammelten Werke C. G. Jungs
7. Die Individuation bedeutsamer Philosophen und Denker wie Sokrates, Plato usw. aus der Sicht des Individuationsprozesses der Tiefenpsychologie C. G. Jungs
8. Der Inhalt der bedeutsamen Philosophie
9. Repräsentanten der Philosophie aus dem Unbewussten
10. Bedeutende Philosophen, die aus dem Leben und der Kraft des Unbewussten geschrieben haben
10.1. Sokrates
10.2. Platon
10.3. Sören Kierkegaard
10.4. Jean-Paul Sartre
10.5. C. G. Jung: Der Mitbegründer der Tiefenpsychologie
10.6. Hannah Arendt: Die politische, journalistische und philosophische Seite der Philosophie
11. Geschichte der Philosophie
Begreifen, was es gibt
1. Philosophie als relative Wiederkehr fundamentaler Gegensätze
2. Erfahrungsbasierte und lebenssinnbezogene »bedeutsame« Philosophie
3. Was gedacht wird
Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften
1. Fortschritt und Wiederholung
2. Fortgang und Kreislauf in Hegels Geschichte der Philosophie
3. Wiederkehr und Entwicklung
3.1 Idealismus und Realismus in der Antike
3.2 Rationalismus und Empirismus in Neuzeit und Aufklärung
3.3 Idealismus und Materialismus bei Hegel und Marx
3.4 Moderne und Postmoderne
4. Über den reflektierten Umgang mit der Philosophiegeschichte
4.1 Kritik in der Zeitenfolge
4.2 Historische Formationen
4.3 Epochenübergreifende Bezugnahmen
4.4 Philosophiegeschichte als Bildungsaufgabe
Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?
Geschichtstheoretische Überlegungen im Anschluss an Popper und Russell
1. Analogien zwischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Philosophiehistorie
2. Historische und philosophische Philosophiegeschichtsschreibung. Wider die Idee des radikal Neuen in der Philosophiegeschichte
3. Analyse einer falsifikationistischen Philosophiehistorie: Bertrand Russells »Philosophie des Abendlandes«
4. Über die Notwendigkeit der Idee des Fortschritts in einer philosophisch begründeten Historie der Philosophie
Wenn die Eule der Minerva zu fliegen beginnt: Philosophiegeschichte als Lernprozess
1. Hans Friesen: Philosophie als Streit
2. Dagmar Berger: Die Verwirklichung des Unbewussten
3. Thomas Gil: Der Bezug der Philosophie zu den anderen Wissenschaften
4. Johannes Rohbeck: Die genealogische Methode
5. Rudolf Lüthe: Die falsifikationistische Methode
6. Das Hegel’sche Fortschrittsmodell
7. Das Paradigmenmodell
8. Das narrative Modell
9. Aporien der Postmoderne
10. Gibt es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte?
11. Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen
Recommend Papers

Geschichtsphilosophie: Gibt es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte?
 9783495998151, 9783495998144

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Hans Friesen [Hrsg.]

Geschichtsphilosophie Gibt es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte?

https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen [Hrsg.]

Geschichts­ philosophie Gibt es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte?

https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Onlineversion Nomos eLibrary

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99814-4 (Print) ISBN 978-3-495-99815-1 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszü­ gen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Inhaltsverzeichnis

Hans Friesen Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess auf ein Drittes oder relative Wiederkehr des Gleichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Dagmar Berger Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten und des Geistes . . . . . . . . . . . . .

49

Thomas Gil Begreifen, was es gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Johannes Rohbeck Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

Rudolf Lüthe Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung? Geschichtstheoretische Überlegungen im Anschluss an Popper und Russell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Thomas Zoglauer Wenn die Eule der Minerva zu fliegen beginnt: Philosophiegeschichte als Lernprozess . . . . . . . . . . .

147

5 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess auf ein Drittes oder relative Wiederkehr des Gleichen?

Auch 200 Jahre nach Hegel ist die geschichtliche Lage für die Phi­ losophie durch zahlreiche »Gegensätze« bzw. »Dichotomien« oder »Ambivalenzen« etc. charakterisiert. Hegel betrachtete seine Epo­ che als ein »Zeitalter der Entzweiung« und seine Philosophie als den Versuch der Überwindung bzw. Versöhnung dieser Entzweiung (vgl. Hegel 1979). Diese Diagnose wird allerdings nicht nur von Hegel festgestellt, sondern es handelt sich dabei um eine weit ver­ breitete Klage der Zeit. Auch Schiller stimmte in diese Jeremiade ein, suchte aber für die Problemlage einen anderen Ausweg. Unter­ gründig wird seine Problemlösung von einer »Zwei-Welten-Lehre« getragen, wonach der Mensch, der als sinnliches Körperwesen und zugleich als übersinnliches Vernunftwesen in eine polarisierte Zwei­ heit zerfällt, sich selbst gleichwohl in seiner je eigenen Identität reflektieren kann: nämlich als »eine Person« in ihren beiden entge­ gengesetzten Zuständen (vgl. Schiller 1965, Zwölfter Brief). Hegel dagegen hatte das Ziel, alle Entzweiungen im Medium der Vernunft zu überwinden. Entscheidend aber ist, dass er den Gegensatz als zwar notwendiges, aber eben nur notwendiges Durchgangsstadium innerhalb der Entwicklung der absoluten Idee und damit nicht als eigenständige theoretische Konzeption betrachtet. Gegensätze müs­ sen überwunden bzw. »aufgehoben« werden, ohne dass die vorherige Gegensätzlichkeit positiv als solche erhalten bliebe. Der Gegensatz ist Durchgangsstation für den Fortschritt des Geistes. Und genau hier liegt das eigentliche Problem für das geschichtliche Gegensatzdenken; es kann sich positiv ausschließlich in einem polaren Dualismus, nicht jedoch in einem »Dritten«, d. h. einem ›aufhebenden‹ Dritten entfalten. In dem bei Hegel vorgesehenen Dritten ist dieser Deutung zufolge die Polarität nicht mehr positiv vorhanden, sondern nur

7 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

noch negativ deponiert. Für Joachim Ritter (1974) ebenso wie für Theodor W. Adorno (1984) droht diese negativ konstatierte Polarität unweigerlich in einen »Zustand der Indifferenz« zu verfallen. Was das für die Geschichte der Philosophie bedeutet, soll im Folgenden entfaltet werden.

1. Einführung: Zu einigen Motiven des Philosophierens in der Geschichte Platon – Gegen die Auffassung der Sophisten, die Philosophie oder Sophia als verfügbares und verwertbares Wissen betrachteten, das man wie eine Ware für Geld an die Schüler weitergeben kann, verstehen Sokrates (um 470–399 v. Chr.) und Platon (427–347 v. Chr.) Philosophie selbst nicht als Wissen, sondern als ein Mittleres zwischen Unwissen und Wissen, d. h. als ein Streben nach Wissen, aber nicht als gewöhnliches Streben, sondern als ein Streben nach Wissen aus dem Erstaunen. In seinem Dialog Theaitetos bestimmt Platon das »Erstaunen« schlechthin als den Anfang der Philosophie. »Sokrates: [...] Du kommst doch wohl mit, Theaitetos? Wenigstens scheinst du mir nicht unerfahren in diesen Dingen zu sein. Theaitetos: Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich erstaune ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwindelt mir ordentlich. Sokrates: Theodoros, du Lieber, urteilt eben ganz richtig von deiner Natur. Denn dies ist der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen [...]« (Theaitetos, 155 d)

Aristoteles – Das Staunen versetzt den Menschen für Sokrates und Platon in eine schwindelerregende Unwissenheit, die nach einem Wissen drängt, das von anderer Art ist als das gewöhnliche Erfah­ rungswissen. Auch bei Aristoteles (384–322 v. Chr.), der bei Platon studierte, ohne wirklich dessen Schüler zu werden, finden wir die Auffassung, dass die Philosophie mit dem »Erstaunen« oder dem »Verwundern« beginnt. Allerdings entsteht sie ihm zufolge erst unter der Voraussetzung eines materiell gesicherten Lebens in der Stadt. Wenn unter dieser Voraussetzung das alltägliche In-der-Welt-Sein – unsere Erfahrungswelt würde Aristoteles sagen – seine Selbstver­ ständlichkeit und Vertrautheit verliert, können wir in ein Erstaunen versetzt werden. Das Erstaunen besteht in der Erfahrung, dass etwas

8 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

so ist, wie es ist, ohne dass wir wissen, warum es so ist; es fordert uns insofern auf, diesbezüglich nach Gründen und Ursachen zu forschen. In seiner Metaphysik, der »Ersten Philosophie«, beschreibt Aristoteles das folgendermaßen: »Weil sie sich nämlich wunderten, haben die Menschen zuerst wie jetzt noch zu philosophieren begonnen; sie wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat. Allmählich machten sie auf diese Weise Fortschritte und stellten sich über Größeres Fragen, etwa über die Affektionen des Mondes und die von Sonne und Sternen und über die Entstehung des Alls. Der jedoch, der voller Fragen ist und sich wundert, vermeint, in Unkenntnis zu sein. [...] Philosophierte man also, um der Unwissenheit zu entkommen, so suchte man offenbar das Verstehen, um zu wissen, keineswegs aber um eines Nutzens willen. Das beweist auch der Gang der Dinge; denn erst, als alle Lebensnot­ wendigkeiten vorhanden waren und alles, was der Erleichterung und einem gehobenen Leben dient, begann man eine derartige Einsicht zu suchen. Es ist klar, daß wir diese nicht um eines anderen Nutzens willen suchen; sondern, wie unserer Meinung nach der ein freier Mensch ist, der um seiner selbst und nicht um eines anderen willen lebt, so ist auch diese Wissenschaft als einzige von allen frei; ist sie doch allein um ihrer selbst willen da.« (Metaphysik, 982 b)

Goethe – Im Staunen wird sich der Mensch seiner Unwissenheit bewusst und fängt an, nach sicherem und grundlegendem Wissen zu streben. Für Aristoteles hat die Philosophie in diesem Zusammen­ hang eine Sonderstellung. Denn während die sogenannten Einzelwis­ senschaften jeweils einem bestimmten vorher festgelegten Nutzen verpflichtet sind, definiert er die Philosophie als die einzig freie Wissenschaft, die auf das Erstaunen unmittelbar reagiert, indem Gründe und Ursachen beigebracht werden, die das zunächst Unver­ ständliche verständlich machen sollen. Aber solches Philosophieren setzt die Bereitschaft voraus, sich unendliche Mühe zu geben im eigenen Denken. Man muss über eine längere Zeit seine Kräfte unter Ausblendung der übrigen Potenziale des Gesamtvermögens auf eine einzige Aufgabe konzentrieren. Auch dann ist die Weisheit noch nicht garantiert. Leider resignieren aus diesem Grunde viele Schüler der Philosophie und verfallen vorschnell in Irrationalismen. Goethes Faust (Goethe 1976, 13) kann ein Lied davon singen:

9 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

»Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen. Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen, Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen; Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel – Dafür ist mir auch alle Freud entrissen, Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen, Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, Die Menschen zu bessern und zu bekehren. Auch hab ich weder Gut noch Geld, Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt; Es möchte kein Hund so länger leben! Drum hab ich mich der Magie ergeben, Ob mir durch Geistes Kraft und Mund Nicht manch Geheimnis würde kund; Daß ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß, Zu sagen brauche, was ich nicht weiß; Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau alle Wirkenskraft und Samen, Und tu nicht mehr in Worten kramen.«

Lyotard – Die Vorstellung, die Erkenntnis der Wahrheit werde uns von jeder weiteren Anstrengung des Denkens entlasten, ist eine Illusion, der zwar das magische, aber nicht das rationale Denken nachhängen wird, würde Jean-François Lyotard sagen. In unserer Zeit der wirtschaftlichen Rezession und der technologischen Vorherrschaft jedoch, in der die Wissenschaften restlos an die Interessen der Wirt­ schaft angekoppelt werden und die Philosophie als »Orchideenfach« abgestempelt wird, verliert das um seiner selbst willen praktizierte Denken seine Autonomie und wird mit unerfüllbaren Nützlichkeits­ forderungen schließlich ganz infrage gestellt. Im Vorwort zu seinem

10 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienenen Hauptwerk Der Widerstreit warnte der französische Philosoph Lyotard (1924– 1998) bereits vor einem allmählichen unheilvollen Verschwinden der begrifflichen Reflexion und des philosophischen Buches: »Es wird also im nächsten Jahrhundert keine Bücher mehr geben. Lesen ist zu langwierig, wenn Erfolg sich am Zeitgewinn mißt. ›Buch‹ wird man einen bedruckten Gegenstand nennen, dessen ›Botschaft‹ (Infor­ mationsgehalt) mit Namen und Titel zuerst von den Medien, durch einen Film, ein Pressegespräch, eine Fernsehsendung, eine Kassette verbreitet worden sein wird, mit dessen Verkauf der Verleger [...] zusätzlichen Profit macht [...] Dieses Buch hier gehört mit anderen zu einer Auslaufserie. [...] Nicht weil sie gefährlich oder störend wäre, weist man die Reflexion zurück, sondern einfach deshalb, weil sie Zeit verschlingt, ›zu nichts taugt‹, jedenfalls nicht zum Zeitgewinn. [...] Der Widerstreit betrifft nicht den Inhalt der Reflexion. Er rührt an ihre äußerste Voraussetzung. Die Reflexion verlangt Aufmerksamkeit gegenüber dem Vorkommnis, verlangt, daß man nicht bereits weiß, was geschieht. [...] Im ökonomischen Diskurs gilt die Regel, daß, was geschieht, nur dann geschehen kann, wenn es bereits beglichen, also geschehen ist. Der Tausch setzt voraus, daß die Abtretung im voraus durch eine Gegen-Abtretung wettgemacht wird, die Auflage des Buches durch ihren Verkauf.« (Lyotard 1987, 15 f.)

Wenn die Wissenschaften insgesamt gezwungen werden, ihr Lehren und Forschen eng am Bedarf von Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu orientieren, bleibt kein Spielraum mehr für das Experiment einer philosophischen Reflexion, die um ihrer selbst willen praktiziert wird, weil sie auf keinen Fall einen unmittelbaren Nutzen erbringen wird. Die Disziplin der Philosophie kann weder arbeitsmarktkompatible Absolventen ausbilden noch vermarktungsfähige Erkenntnisse pro­ duzieren. Ihre Produkte sind Vorlesungen, Vorträge, Aufsätze und umfangreiche Bücher, die nicht selten aus der Anstrengung eines ganzen Philosophenlebens hervorgehen. Das in solchen Werken enthaltene Wissen lässt sich nicht auf die in einer Informationsge­ sellschaft verlangten nützlichen Informationseinheiten reduzieren. In einer Welt, in der die auf Verwertung abgezweckten Informationen in kürzester Zeit aus dem globalen Netzwerk des Internets und den audio-visuellen Medien bezogen werden, könnte das Zeit kostende Lesen von Büchern und das langwierige Nachdenken über das Gele­ sene allerdings die letzte Widerstandsform gegen eine falsche Totali­ sierung der Welt sein, die die Aufhebung der Grenze zwischen dem

11 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Nützlichen und dem Selbstständigen, dem Schnellen und dem Lang­ samen, dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen bedeuten würde. Das philosophische Denken bildet ein Gegengewicht zum vermeintlich ausgereiften Denken, zum alles berechnenden und zeitgewinnenden Denken, zum alles beherrschenden Denken der heutigen Zeit. Die philosophische Lektüre regt den Menschen zum philosophischen Denken an. Das Motiv, das es antreibt, ist eine Art kindlicher Neugier. Nicht derjenige Geist, der sich mit dem Erwerb von Leistungswissen einen beruflichen Wettbewerbsvorteil verschafft, sondern derjenige, der es versteht, sich von sich selbst zu lösen, an die Kindheit des Geistes anzuknüpfen, wieder neu beginnen zu können, ist philoso­ phisch, denn die philosophische Tätigkeit besteht nicht in einem Erwerb von anwendbarem Wissen, auch nicht in der Übermittlung von Informationen; sie widmet sich vielmehr der Erforschung dessen, was noch ungedacht ist im Denken selbst; sie fragt danach, was denken heißt, auch danach, was aus dem Denken geworden ist und werden soll. Ein mit solchen Fragen erworbenes Wissen dient der reinen Freude am Wissen und hat keinen anderen Zweck. Und gerade weil die Philosophie sich selbst nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zweck an sich behandelt, genügt sie sich selbst, reicht sie sich selbst, gibt sie sich selbst, d. h. macht sich in ihrer Geschichte immer wieder selbst zum Thema ihrer gedanklichen Anstrengung. Im Unterschied zu den Einzelwissenschaften bewegt sich die Philosophie in einem »eigentümlichen Zirkel«, d. h. versucht sie weiterhin »innerhalb ihrer eignen Denkweise, ihrer eignen Absichten, die Voraussetzungen dieser Denkweise und Absichten zu bestimmen« (Simmel 1989, 7).

2. Zum Unterschied zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften Fragt man dagegen einen Naturwissenschaftler, was Physik, Chemie oder Biologie sei, so wird man in der Regel auf Unverständnis stoßen und an die Wissenschaftstheorie verwiesen, denn der Naturwissen­ schaftler als Naturwissenschaftler braucht für seine Tätigkeit keine wissenschaftstheoretische Vorstellung von seiner eigenen Disziplin. Zwar haben sich alle großen Naturwissenschaftler Gedanken über die Theorie ihres Faches gemacht. In diesem Fall aber waren sie zugleich auch Philosophen, wie Einstein, Heisenberg, von Weizsäcker und andere. Die Theorie der Wissenschaft der Physik beispielsweise ist

12 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

nämlich nicht Physik, sondern Philosophie. Das erklärt sich folgen­ dermaßen: Die Physik ist eine Theorie der Natur, die Wissenschafts­ theorie der Physik aber, die verständlich macht, was Physik überhaupt ist, ist eine Theorie der Theorie der Natur, d. h. eine auf die Phy­ sik bezogene Metatheorie. Wissenschaft und Wissenschaftstheorie bewegen sich demzufolge nicht auf ein und derselben Ebene. Und in der Wirklichkeit der modernen Welt lässt der positivistische, d. h. der wissenschaftsgläubige Wissenschaftler die Philosophie häufig auch beiseite, denn sie bringt ihm keine unmittelbar verwertbaren Ergebnisse. Dem philosophischen Denken eignet nämlich nicht, wie dem wissenschaftlichen, der Charakter eines objektiven Fortschritts­ prozesses. Aus diesem Grunde wird es auch oft als »gegenstandsloses Denken« oder als »überflüssiges Grübeln von Träumern«, wie Karl Jaspers einmal gesagt hat, verworfen und verachtet. Tatsächlich lässt sich für die Philosophie nicht so leicht ein besonderer Gegenstand angeben wie etwa das Recht für die Rechts­ wissenschaften, die Kunst für die Kunstwissenschaften oder die Natur für die Naturwissenschaften. Es scheint einen ganz bestimmten bzw. besonderen Gegenstand für die Philosophie nicht zu geben; sie scheint sich mit allem zu beschäftigen, womit es die Wissenschaften auch zu tun haben. Während sich die Einzelwissenschaften mit einem klar definierten Ausschnitt der Wirklichkeit beschäftigen, zielt die Philosophie einerseits auf die Gesamtheit der Wirklichkeit, anderer­ seits jedoch ebenso auf deren Teilgebiete und bringt Disziplinen wie Rechtsphilosophie, Kunstphilosophie und Naturphilosophie hervor. Diese Ambivalenz ist charakteristisch für die Philosophie und in unserer Zeit ganz besonders stark ausgeprägt. Die Frage, was Philoso­ phie überhaupt sei, ist somit ungeklärt bzw. nicht genau geklärt und sogar bei ihren eigenen Vertretern heftig umstritten. Eine verbindliche Definition gibt es wohl nicht und wird es auch nicht geben. Aus diesem Grunde empfahl Max Horkheimer (1895–1973), ihre Definition mit der expliziten Darstellung dessen gleichzusetzen, was sie in der langen abendländischen Geschichte zu sagen hatte. Diese Auffassung hat er von Hegel (1770–1831) übernommen. Seit Hegel ist es zu einer Selbstverständlichkeit geworden, den Schlüssel der Philosophie in der Geschichte der Philosophie zu suchen. Wenn man auf diese Weise die Geschichte der Philosophie ins Zentrum der Philosophie stellt, macht man die Philosophie selbst zu einer historischen Disziplin und ist aus diesem Grunde dann auch gezwungen, das gesamte Gebiet zu durch­

13 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

schreiten, das in der bisherigen Geschichte der Philosophie abgesteckt worden ist. Diese Aufgabe sollte nicht unterschätzt werden.

3. Exkurs zur geschichtlichen Perspektive Es gibt ein Kunstwerk von Paul Klee aus dem Jahre 1929 mit dem Titel »Hauptweg und Nebenwege«. Mit dem Verweis auf einen Hauptweg lässt sich dieses Werk als Darstellung der klassischen monistischen Position in der Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deuten. Im Kontrast dazu ließe sich sagen, dass das Feld der Geschichte der Philosophie und insbesondere das der Moderne nicht als einheitliches, sondern als heterogenes Feld vorgestellt werden muss. Entsprechend hat dieses Feld nicht einen Hauptweg, sondern Hauptwege und Neben­ wege. Ein Hauptweg, nicht der Hauptweg, soll im Folgenden rekon­ struiert werden.

Eine Philosophiegeschichte, in der gleichzeitig zahlreiche unter­ schiedliche Strömungen nebeneinander oder gegeneinander gegeben sind, kann nicht mehr, ebenso wenig wie die Kunstgeschichte, auf eine »eindimensionale« Stilgeschichte, d. h. einen sogenannten »Gänse­ marsch der Stile« reduziert werden; sie muss vielmehr Haupt- und Nebenwege unterscheiden und untersuchen. Diese Untersuchung soll hier jedoch nicht darin bestehen, die Pluralität der unterschied­ lichen Wege in der antiken und neuzeitlichen Geschichte sowie in der Moderne und im 20. Jahrhundert mit ihren vielfältigen Ver­ flechtungen zu analysieren, sondern vielmehr auf einen für diese unterschiedlichen Zeitepochen sehr markanten Hauptweg der Philo­ sophieentwicklung hinzuweisen. Dies impliziert, so behaupte ich, eine Reihe von Fragen, etwa die Frage nach der Unterscheidung und dem Selbstverständnis der verschiedenen Zeitenabschnitte. Meine grundsätzliche These zur Beantwortung der hier aufgeworfenen Fra­ gen lautet: »Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst«, um es mit Hegel zu sagen (vgl. Simon 2000). Wie Hegel zeigt, beginnt die Eule der Minerva erst mit der eingehenden Dämmerung ihren Flug und registriert, was tagsüber alles geschehen ist in ihrem Gebiet. Daraus ergibt sich meines Erachtens aber nicht nur eine einzige Entwicklungslinie von Philosophie, sondern grundsätzlich mehrere und völlig verschiedenartige Ansätze der Interpretation, obwohl hier nur einer davon rekonstruiert werden soll. Ich neige zu der Auffassung, dass man Entwicklungen über­ haupt erst erkennen und verschiedene Entwicklungen voneinander

14 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

unterscheiden kann, wenn man einen Überblick hat. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht daher nicht die philosophische Analyse eines einzelnen Werkes, sondern die Frage der Entwicklung der Philosophie von der Antike zur Moderne und die Frage nach dem philosophischen Beschreibungsmodell dieser Entwicklung. Dieser Aufsatz wird des­ wegen den Charakter eines Überblicks erhalten. Ich stelle mir vor, erst in der Kenntnis eines solchen Überblicks die Besonderheit eines einzelnen Werks wirklich angemessen einschätzen zu können. Doch diese gründliche Analyse wäre ein zweiter Schritt, der hier nur in Ansätzen erfolgen kann. Wir werden es im Folgenden mit zwei Modellen zu tun haben, die ich der Anschaulichkeit halber durch ein Schema darstellen möchte. In der Erklärung dieses Schemas soll die Krise der Philosophie sowie ein Ausweg aus dieser Krise dargestellt werden. Das im obers­ ten Schema gezeigte erste Modell ist von Hegel. Man könnte es als das dialektische bzw. allzu optimistische Fortschrittsmodell benennen oder als den universalen Entwicklungsprozess bzw. die stufenweise Entfaltung des Bewusstseins des allgemeinen Geistes in der Welt­ geschichte, in der sich die eigentliche bzw. höchste Bestimmung des menschlichen Seins als Endzweck erfüllt. Dieses Modell wird heute als höchst problematisch eingeschätzt. Das bedeutet aber nicht, nun von einer Entwicklung auszugehen, die von der ›Steinschleuder zur Megabombe‹ führt. Wenn man einen Extremismus vermeiden möchte, kann man auch den mittleren Weg einschlagen, wie wir das in unserem zweiten Modell prüfen. Es ist das »mehrdeutige zweigleisige Verlaufsmodell«; es soll als Ausweg aus der Krise des absoluten Optimismus wie des absoluten Pessimismus vorgestellt werden, die beide nicht für sich bestehen können.

15 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Gegenwart

Neuzeit

Antike Hegels originale Epochengliederung: »orientalische, antike, germanische Welt« wurde hier modernisiert! Fortschritt: Hegels Modell des dialektischen Fortschritts

I/R

R/E

M/P

Antike

Neuzeit

Gegenwart

Wiederkehr: Modell der gegensätzlichen Duplizität

Abb. 1

Beginnen wir mit dem ersten Modell, das Hegel vertreten hat. Für ihn stellt sich die Entwicklung bzw. die ›Geschichte der Philosophie‹, die er als die höchste Form der Selbsterfassung des Geistes betrachtet,

16 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

als Prozess auf der Basis seines eigenen Systems dar und kombiniert diese mit einer ›Philosophie der Geschichte‹, die er als einen »dia­ lektischen Fortschrittsprozess« der Freiheitsverwirklichung deutet, dessen Träger die staatlich organisierten Völker bzw. die sich durch die Individuen bildenden Volksgeister sind. Die Entwicklung verläuft in einem harten Kampf des Geistes gegen das ihm Entgegenstehende von der Epoche, in der nur einer frei ist, zur Epoche, in der alle frei sind. Obwohl Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von der Epochengliederung 1.) orientalische Welt, 2.) antike Welt und 3.) germanische Welt ausgeht, möchte ich hier eine nach dem heutigen Verständnis der Epochen geordnete Gliederung vorschlagen: 1.) Antike, 2.) Neuzeit und 3.) Gegenwart. Doch diese Auffassung, dass nach Hegel am Ende der Geschichte alle frei sein könnten, kann uns letztendlich nicht überzeugen. Gehen wir zum zweiten Modell über. Hier wird die Ansicht vertreten, die man als ein »mehrdeutiges zweigleisiges Verlaufsmo­ dell« bezeichnen könnte. Es wird angenommen, dass es gar keinen Fortschritt in der Geschichte der Philosophie gibt, sondern lediglich einen Verlauf, in dem von Zeit zu Zeit gewisse Wiederholungen im Sinne von Ähnlichkeiten bzw. Analogien auftauchen. Wir könnten daraus schließen, dass es nicht sinnvoll ist, ganz klar bzw. überhaupt über Fortschritt in der Philosophie zu sprechen. Der Übergang zur Gegenwart des 20. Jahrhunderts stellt nicht etwas radikal Neues dar, denn dieser Übergang entspricht etwa dem Übergang, der sich von der Antike bzw. vom Mittelalter zur Neuzeit ereignete. Die Entwicklung der Philosophie ist kein Fortschrittsprozess (im Sinne einer naturwissenschaftlichen oder hegelschen Aufwärtsbzw. Höherentwicklung), in dem das auf der ersten Stufe erworbene Wissen aufgehoben und überwunden wird, sobald die zweite Stufe erreicht ist, sondern die relative Wiederkehr einer Gegensätzlichkeit, die in der Geschichte auf verschiedenen, jedoch gleich gültigen Gebie­ ten eine Auseinandersetzung gefunden hat. Dabei ist zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden. Auf der ›formalen Ebene‹ kehrt der »Gegensatz« immer wieder, auf der ›inhaltlichen Ebene‹ gibt es eine Weiterentwicklung im Sinne einer »Erneuerung«, einer »Ersetzung« oder »Fortsetzung«. Der ›hauptsächlich prozedierende‹ Gegensatz wird demgemäß von Epoche zu Epoche mit jeweils neuen Inhalten gefüllt – Antike: Idealismus vs. Realismus (I/R), Neuzeit: Rationalis­ mus vs. Empirismus (R/E), Gegenwart: Moderne vs. Postmoderne (M/P). Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Neben den haupt­

17 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

sächlichen kann es in jeder Epoche weitere objektiv prozedierende Gegensätze oder starke Einzelentwicklungen (etwa Heidegger im 20. Jahrhundert) geben. Mit welchem hauptsächlichen Gegensatz sich die Philosophen in Zukunft auseinandersetzen werden, lässt sich heute noch nicht mit Sicherheit sagen. Sicher sind wir jedoch darin, dass es sich wieder um einen Kampf gegen das Entgegengesetzte handeln wird. Gegenüber der aus heutiger Sicht problematisch erscheinenden Auffassung von Hegel möchte ich hier, wie gesagt, ein alternatives Modell ansprechen, das ich das »mehrdeutige zweigleisige Entwick­ lungsmodell« genannt habe. Es kennt nicht nur Aufwärts-, son­ dern auch Abwärtsentwicklungen, Haupt- und Nebenentwicklungen, gegensätzliche Entwicklungen und parallele Einzelentwicklungen, die sich gegensätzlich nicht beeinflussen.

4. Anfänge und Entwicklung der Philosophie in der Antike Verfolgen wir diese Geschichte bis zum Anfang zurück, stoßen wir auf das griechische Wort philosophos. Es ist gebildet worden im Gegensatz zum älteren Wort sophos. Danach ist der Philosoph der die Erkenntnis (das Wissen) Liebende, nicht der im Besitz der Erkenntnis einen Wissenden sich nennende. Diese Bedeutung des Wortes gilt bis heute. Nicht der Besitz der Wahrheit, sondern das Suchen macht das Wesen der Philosophie aus. Platon legt den Akzent auf die ersten beiden Sil­ ben des Wortes philosophia, um zu betonen, nur Götter dürfe man als Weise benennen, der Mensch könne höchstens nach Weisheit streben (Phaidros 278 d, Symposion 203 e). Das »Staunen« (Theaitetos 155 d) wird als Quelle des Verlangens nach Erkenntnis angesehen. Davon war auch, wie gesagt, Aristoteles überzeugt (Metaphysik 982 b). Das Staunen oder das Verwundern veranlasst also zum Philoso­ phieren. Damit entstehen die zentralen Fragen nach dem »Woher«, dem »Was« und dem »Wohin« des Seins. Im archaischen Griechen­ land werden diese Fragen allerdings noch religiös beantwortet. Die Götter werden in diesem Zusammenhang als Urheber allen Entste­ hens und Vergehens genannt. In der späteren ionischen Naturphilo­ sophie wird die Frage nach dem »Woher« bzw. dem »Was« allen Seins dann durch die Annahme eines Urstoffes beantwortet. Methodisch bedeutet dies eine Abwendung von Geglaubtem und die Hinwendung zu empirisch Erfassbarem. An die Stelle eines personifizierten Verur­

18 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

sachers tritt ein materielles Prinzip: das Wasser bei Thales (ca. 624 – ca. 547 v. Chr.), die Luft bei Anaximenes (ca. 585 – ca. 525 v. Chr.). In der weiteren Entwicklung der griechischen Philosophie ist eine aber­ malige Verlagerung in der Ursachenerklärung zu beobachten, denn seit Parmenides (um 515–445 v. Chr.) und Heraklit (um 520 – um 460 v. Chr.) wird der Versuch unternommen, das Materielle mithilfe immaterieller Prinzipien zu erklären. Trotz ihrer inhaltlichen Diffe­ renzen stimmen beide Philosophen darin überein, dass Grund (Prin­ zip) und Begründetes (Prinzipiat) unterschiedlicher Natur sind. Das heißt: Die Gründe für die Existenz der Dinge gehören selbst nicht zu diesen Dingen, sondern bilden einen eigenen ontologischen Bereich. Allerdings hat erst Aristoteles mit seiner Unterscheidung zwischen Material- und Wirkursache diese Erkenntnis unmissverständlich auf den Punkt gebracht. Während die ältesten Naturphilosophen einseitig einen Stoff der Welt und die Pythagoreer einseitig ihre Form im Sinne von Zahlenverhältnissen zum Ursprung allen Seins erhoben, versuchten, wiederum von einander entgegengesetzten Richtungen aus, Heraklit und Parmenides, den stofflichen Inhalt und die gesetz­ mäßige Form zu einer Einheit zusammenzufassen, also einerseits das ewige Werden als Form zu bestimmen, in der sich die Inhalte der Welt darstellen, und andererseits das ewige Sein anzunehmen, dem gegenüber die veränderliche Welt als negativ betrachtet wird, d. h. als Schein. Die empirische Erfahrung wird damit aber nicht nur vom ontologischen Denken getrennt, sondern diesem zudem völlig untergeordnet. Weil jedoch weder von Empedokles (483/82–430/20 v. Chr.), der die vier Elemente, die sich durch Liebe und Hass anziehen und abstoßen, als Prinzip von allem ansah, noch von Anaxagoras (um 500–428 v. Chr.), der als erster den Geist oder die Vernunft als Prin­ zip des Weltganzen benannte, und weder von Leukipp (480/70–? v. Chr.) (dem Begründer der Atomtheorie) noch von Demokrit (um 460–um 370 v. Chr.) (dem Hauptvertreter des Atomismus, für den alles, was ist, aus kleinsten Teilchen besteht, die durch Verbindung und Trennung die Dinge der Welt entstehen und vergehen lassen) die Gegensätzlichkeit der Positionen von Heraklit und Parmenides überwunden werden konnte, verlagerte sich der Interessenschwer­ punkt der griechischen Philosophie allmählich von den naturphilo­ sophischen, kosmologischen und ontologischen Problemen hin zu ethischen und gesellschaftlichen Fragen. Aber auch in diesem Bereich entstand sofort, beispielsweise zwischen den Sophisten und Sokrates,

19 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

ein Streit über die Stellung und Gewichtung von Empirie und Ver­ nunft, Dynamik und Statik, relativen und ewigen Wahrheiten und Werten, der nicht mehr geschlichtet werden konnte. Seither entwickelt sich die Philosophie ambivalent: Einerseits unterscheidet sie zwei Weisen des Seienden, andererseits hat sie diese Unterscheidung immer wieder kritisiert, beispielsweise in der Entwicklung von Platon zu Aristoteles, von Descartes zu Locke, von Kant zu Hegel, von Sartre zu Merleau-Ponty und von Habermas zu Lyotard. Diese Entwicklung, der keine strenge Notwendigkeit zugrunde liegt, sondern die eher im Sinne einer freien Folge zu beurteilen ist, scheint sich so weiter fortzusetzen. Auf die Geschichte der Philosophie rückblickend können wir heute drei objektiv proze­ dierende Hauptgegensätze erkennen – für die Antike den Gegensatz von Idealismus und Realismus, für die Neuzeit den von Rationalismus und Empirismus, für die Gegenwart den von Moderne und Postmo­ derne. Daneben gibt es weitere Gegensätze, für die wir uns hier aber nur beiläufig interessieren wollen.

5. Der Gegensatz von Idealismus und Realismus in der Antike Das Ziel des Philosophierens ist für Platon wie für Aristoteles die Erkenntnis des Göttlichen. Aber im Unterschied zu Homer und Hesiod verstehen Platon und Aristoteles das Göttliche nicht mehr im Sinne personifizierter Götter. Platon setzt es mit der Idee aller Ideen, der »Idee des Guten« gleich, die jenseits der sinnlichen Erscheinungs­ welt eigenständig als reales Wesen existiert. Aristoteles betrachtet das Göttliche als sich selbst denkende Vernunft (Metaphysik, XII, 9, 1074 b), in der Vernunft und Gedachtes dasselbe sind, oder als den ersten unbewegten Beweger. Trotz einiger Ähnlichkeiten zwischen den theoretischen Auffassungen von Platon und Aristoteles überwie­ gen jedoch die Unterschiede. Das »eigentlich Seiende«, welches einem Gegenstand zugrunde liegt, ist nach Aristoteles nicht, wie bei Platon, ein von der sinnlichen Erscheinungswelt getrenntes »selbstständiges Objekt«, in dem sowohl formal als auch inhaltlich vorherbestimmt, d. h. festgelegt ist, wie und was ein Ding in der Welt sein kann; es ist vielmehr als eine nur im einzelnen Gegenstand selbst wirkliche und wirksame »Form« (eidos) zu verstehen. In aus unserer heutigen Sicht schon recht empiristisch anmutenden Analysen untersucht

20 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

Aristoteles in seiner später so betitelten Metaphysik, der »Ersten Phi­ losophie«, die der platonischen Ideenlehre krass entgegengesetzt ist, die Begriffe, mit denen das erkennende Denken das Seiende anläss­ lich der Erfahrung erfasst. Aristoteles übte damit scharfe Kritik an Platon, weil dessen rein intuitives Erfassen philosophischer Gegen­ stände mittels einer dialektischen Entwicklung, die ohne Rückgriff auf Erfahrung vorgenommen wurde, ihm keine genügende Gewähr für die Richtigkeit der Ergebnisse bot. Er musste die Ideenlehre inso­ fern als eine willkürliche Konzeption, die sämtlichen Tatsachen der Erfahrung widerspreche, einstufen und verwerfen. Beide Standpunkte waren damit grundsätzlich nicht mehr miteinander zu vereinbaren. Während Platon sich von der Sinnenwelt abwandte und sich in die ewigen Formen oder Ideen einer übersinnlichen Welt vertiefte, beschäftigte Aristoteles sich mit dem genauen Gegenteil, nämlich den Veränderungen in der Natur und verfasste viele wissenschaftliche Abhandlungen bzw. Aufzeichnungen für Vorlesungen über Naturpro­ zesse und Naturphänomene, die stets in intensiven Naturstudien ihren Ursprung hatten. Dieser Unterschied zwischen den Ansätzen von Platon und Aris­ toteles, der sich als Gegensatz zwischen einem (objektiven) Idealis­ mus und einem Realismus beschreiben lässt, ist weithin maßgebend für die Entwicklung der abendländischen Philosophie geblieben. Es ist die Frage, ob das wahre Sein als ein Allgemeines eine geistige Wirk­ lichkeit, d. h. etwas eigenständig Existierendes sei und deswegen nur im Zusammenhang eines ontologischen Dualismus gedacht werden kann, oder ob das Sein im erfahrbaren Einzelnen selbst anzusetzen sei und dieses deswegen den Ansatzpunkt der Erkenntnis bildet, ohne die Welt verdoppeln zu müssen. Der ontologische Unterschied, der mit dieser Frage verknüpft ist, taucht in der Neuzeit mit der Frage nach dem epistemologischen Unterschied im Gegensatz zwi­ schen Rationalismus und Empirismus wieder auf und bestimmt die philosophische Auseinandersetzung einer ganzen Epoche, die sich vor allem durch eine Änderung der philosophischen Blickrichtung auszeichnet und somit nicht mehr die Objekte, sondern die Subjekte der Erkenntnis betont.

21 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

6. Der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus in der Neuzeit Fast gleichzeitig mit dem Empirismus, der durch Francis Bacon (1561– 1626) in seinem Werk Novum Organon von 1620 begründet wird (in dem er sich durch die gegen Aristoteles gerichtete Entwicklung der Regel der Induktion auszeichnet, mit der er von der einzelnen Erscheinung aus zum allgemeinen Begriff gelangen will), entsteht der Rationalismus, der glaubt, aus allgemeinen metaphysischen Voraus­ setzungen alle Erkenntnisse allein durch Vernunftschlüsse ableiten zu können. Aus diesem Grunde geht der Rationalismus letztlich wieder auf Platon zurück. Dieser hatte gezeigt, dass es ein Wissen gibt, das nicht aus sinnlicher Erfahrung gewonnen, sondern nur anlässlich der Erfahrung in der Seele wieder bewusst wird. Die Erkenntnis der Ideen ist daher ein Akt der »Wiedererinnerung«; die Seele habe vor ihrem Eintritt in die Welt der Sinnendinge die Ideen aller Dinge bereits an einem übersinnlichen Ort geschaut; daher wüssten wir, dass die Ideen bereits alle fertig vorliegen. Sie sind der Seele angeboren, wie René Descartes (1596–1650) in seinen 1641 erschienenen Meditationes de prima philosophia sagt. Im Unterschied zu Platon besitzen die Ideen für Descartes jedoch kein selbstständiges Eigen-Sein mehr, sondern sind in das Denken des seiner selbst bewussten Subjekts eingefügt. Auch in der Frage nach der Sicherheit der Erkenntnis ist eine entscheidende Verlagerung festzustellen, denn die Frage nach der Sicherheit der Gegenstände der Erkenntnis wird in die Frage nach der Sicherheit des erkennenden Subjekts umformuliert. In der »Klarheit und Deutlichkeit« des Bewusstseins eines denkenden Wesens besteht das Kriterium für Erkenntnissicherheit. Im klaren und deutlichen Denken ist für Descartes die Wahrheit des Gedachten verbürgt. Unter dem Ausdruck »klar« ist hierbei zu verstehen, dass sich etwas von allem anderen abgrenzen lässt, während mit »deutlich« gemeint ist, dass etwas bis in seine Bestandteile hinein erkannt werden kann. So ist eine Erkenntnis der Ideen möglich, deren Gewissheit über allen Zweifel erhaben ist. Von den drei Arten von Ideen, die Descartes insgesamt unterscheidet, erfüllen allerdings nur die »angeborenen«, wozu die Idee der unendlichen Substanz Gottes und die Ideen der endlichen Substanzen »res cogitans« und »res extensa« zählen, diese Forderung, klar und deutlich erkennbar zu sein. Die Zuverlässigkeit der beiden anderen Arten von Ideen, nämlich die vom Subjekt selbst

22 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

gebildeten und die von außen an das Subjekt herangetragenen, ist mit zunehmender Skepsis zu betrachten. Die Lehre von den angeborenen Ideen (ideae innatae), auf der die rationale Metaphysik aufgebaut ist, findet in der empiristischen Phi­ losophie von John Locke (1632–1704) einen entschiedenen Kritiker. Ihm zufolge werden alle Erkenntnisse und Begriffe aus der Einzeler­ fahrung auf dem Wege der Induktion gewonnen. Alle Erkenntnis geht von der Erfahrung aus, und nichts ist im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen war. Die äußeren und inneren Wahrnehmungen sind Materialien, die der Verstand braucht, um sie zu Begriffen zu verbinden und um sie zu vergleichen, denn Erkennen im engeren Sinne ist ein Vergleichen, d. h. ein Erfassen der »Übereinstimmung« und »Nichtübereinstimmung« der »einfachen Ideen«, aus denen durch Verbinden, Trennen und Abstrahieren die »komplexen Ideen« entstehen. Wie für Locke gibt es auch für David Hume (1711–1776) keine angeborenen Ideen. Alle unsere Erkenntnis stammt ihrem Inhalt nach aus der Erfahrung, das Denken schafft nicht, es verknüpft nur das Material, das uns in der Sinnes- und Selbstwahrnehmung jeweils gegeben ist, zu den komplexen Ideen, wozu die Allgemeinbe­ griffe (wie »der Mensch«, »die Wahrheit«, »die Gerechtigkeit«) oder auch die Naturgesetze (wie der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang) gehören. Nun fragt sich Hume aber auch noch, wie wir eigentlich zu den Urteilen kommen, die über unsere unmittelbaren Wahrnehmun­ gen und Erinnerungen hinausgehen. Sehe ich beispielsweise eine Bil­ lardkugel, die auf eine andere zurollt, sie trifft und in Bewegung ver­ setzt, erfahre ich nicht unmittelbar ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis, sondern die erwartete und beobachtete Wirkung wird aufgrund aller bisherigen Erfahrungen, die diesbezüglich eine »Gewohnheit« ausge­ bildet haben, erschlossen. Somit ist für Hume das Verhältnis von Ursache und Wirkung weder unabhängig von der Erfahrung, noch kann es als eine wesensnotwendige Verknüpfung, die den Dingen inhäriert, erkannt werden. Eine Aussage über die gewohnheitsmäßige Aufeinanderfolge unserer Vorstellungen über die Dinge ist also keine Einsicht in das Wesen der Dinge, das, wie Hume sagt, dem Menschen verborgen bleibt. Die Wege der beiden maßgeblichen Richtungen der neuzeit­ lichen Philosophie, also der Rationalismus und der Empirismus, sind völlig entgegengesetzt verlaufen. Während Descartes, Spinoza (1632–1677), Leibniz (1646–1716) und Wolff (1679–1754) aus­ schließlich aus angeborenen und feststehenden Begriffen und Sätzen

23 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

oder zumindest dem »intellectus ipse«, dem »Verstand selbst« als Inbegriff logischer Prinzipien des Denkens zur Erkenntnis des inneren Weltzusammenhangs gelangen wollen, gilt die Erfahrung, d. h. die äußere Sinneswahrnehmung der weltlichen Dinge und die innere Selbstwahrnehmung des Subjekts, für Bacon, Locke und Hume als einzige Quelle des gesamten menschlichen Wissens. Und im Gegen­ satz zu den Rationalisten, die stets nach Gewissheit streben, sind die Empiristen unausgesetzt auf der Suche nach möglichst plausi­ blen Argumenten.

7. Auflösung dieses Streits durch Kant!? Gegenüber diesen einseitigen Auffassungen über die Erkenntnis hebt Immanuel Kant (1724–1804) in seiner 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft hervor, dass jede Erkenntnis das Produkt von sowohl empirischen als auch rationalen Faktoren ist. Damit kann er die entgegengesetzten Auffassungen von Hume und Leibniz zu einer neuartigen Erkenntnistheorie verknüpfen. Mit Hume nämlich kann er nun fordern, alle rationalen Grundsätze, überhaupt alles, was an »keinem Probierstein der Erfahrung« (Kant 1966, A VIII, 864) geprüft werden kann, als »Blendwerk und Täuschung« zu verwerfen. Und mit Leibniz kann er zugeben, dass es zwar keine fertigen angeborenen Ideen gebe, wohl aber den Verstand selbst als Inbegriff aller Prinzipien des Denkens, ohne den eine Verarbeitung der Sinnesempfindungen zu einer Erkenntnis, die über die bloße Assoziation der »ideas« hinausgehe, nicht möglich sei. In seinem Hauptwerk kann er daher feststellen, was die Vernunft vor aller Erfahrung (a priori) zu erkennen vermag. Dabei ergibt sich, dass die Vernunft weiter nichts als die Formen der Erkenntnis, d. h. die Formen der Anschauung, also Raum und Zeit, und die Formen des Denkens, also die zwölf Kategorien, enthält, und dass ihre Tätigkeit in einer Zusammenfassung (Synthe­ sis) besteht. In den Instanzen der Vernunft verbirgt und vergoldet sich jedoch, wie Lyotard (1987 und 1994) es wahrnimmt und her­ vorhebt, die dämmernde Erinnerung eines beharrlich schwebenden Widerstreits, der den menschlichen Sprechereignissen innewohnt und dafür verantwortlich ist, dass fortwährend zwar etwas zur Sprache kommt, aber zugleich anderes nicht. Insofern transformiert Lyotard Kants Erkenntnistheorie folglich in Sprachphilosophie, ähnlich so, wie Habermas (1981) Kants und Adornos Bewusstseinsphilosophie

24 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

in eine Theorie des kommunikativen Handelns verkehrt. Doch bevor wir hierauf näher eingehen, kommen wir noch einmal auf Kants eigene Bestimmung der Erkenntnis zurück: Der Streit zwischen den Rationalisten und Empiristen konnte von diesen selbst nicht gelöst werden. Erst Kant ist dies in seinem Hauptwerk von 1781 gelungen. Obwohl die meisten Philosophen heute dieser Auffassung zustimmen, existiert der neuzeitliche Streit zwischen Rationalisten und Empiristen im 20. Jahrhundert weiter in den modernen Formen des Logischen Empirismus bzw. Neopositivismus, der vom sogenann­ ten »Wiener Kreis« um Moritz Schlick entwickelt wurde, und des Kritischen Rationalismus, den Karl R. Popper in kritischer Auseinan­ dersetzung mit den wissenschaftstheoretischen Thesen des Wiener Kreises begründete. Aber welchen Status bzw. welchen theoretischen Wert hat damit Kants Auflösung des Streits zwischen Rationalisten und Empiristen noch? Sie steht dafür, dass die offene Kluft zwischen Anschauung und Begriff in der Erkenntnis überbrückt werden kann. Aber wie sieht es mit den Klüften zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten oder zwischen Natur und Freiheit bzw. zwischen Verstand und Vernunft aus? Aus der Kritik der reinen Vernunft, mit der Kant die sogenannte kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie vollzogen hat, ergibt sich, dass die Formen und die Grenzen der Erkenntnis von der theoretischen Vernunft selbst bestimmt werden. Sie ist insofern autonom. Ihre Tätigkeit bleibt aber beschränkt auf die Erscheinungen der Welt. Erkenntnisse vom Seienden an sich oder, wie Kant auch sagt, vom »Ding an sich« gibt sie uns nicht. Jedoch erlaubt uns die Kritik der praktischen Vernunft, das An-sich-sein unserer selbst als vernünftiges Wesen im moralischen Gesetz, dem kategorischen Imperativ, bestimmen zu können. Aus dem kategorischen Imperativ lässt sich aber kein inhaltlicher Pflichtenkatalog ableiten. Bei Kant ist die Allgemeinheit eines normativen Prinzips nur auf der Ebene seiner Formalität und Negativität zu bekommen. Jede inhaltliche Bestimmung der Pflicht müsste sich auf materiale Elemente, Bedürf­ nisse, Interessen oder Zwecke berufen und würde damit die reine praktische Vernunft als Fundament verlieren. Der von der praktischen Vernunft formulierte kategorische Imperativ verlangt, dass er nur um seiner unbedingten Verbindlichkeit willen befolgt wird. Das Gebot, sich der selbstgesetzgeberischen, d. h. der vernunftverursachten Ver­ nunft gemäß zu bestimmen, bedeutet allerdings auch, dass wir stets unter Abkehr vom sinnlichen Glücksstreben allein aus »Pflicht«

25 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

handeln sollen. Denn der absolute Sollensanspruch der Vernunft ist ein »aus allen Datis der Sinnenwelt«, aber auch aus »dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum« (Kant 1985, 51). Das bedeutet, dass der Mensch in dem verpflichtenden Gesetz der praktischen Vernunft seine Zugehörigkeit zu einer nicht der naturgesetzlichen Kausalität unterworfenen Welt gewinnt. Weder die Normen richtigen Handelns noch die Prinzipien gültiger Erkenntnis werden von Kant in objektiven Gegebenheiten, wie dem Naturgesetz, dem Weltgesetz, ewigen Musterbildern etc., gesucht, sondern nur noch im Subjekt selbst, d. h. entweder in seinem theoretischen oder in seinem praktischen Vernunftgebrauch. Der große Fehler, der Kant zufolge vor allem im Bereich der theoretischen Erkenntnis immer wieder gemacht worden ist, besteht darin, dass wir als Eigenschaft der Wirklichkeit ansehen, was lediglich eine der Strukturen unseres Denkvermögens ist. Wir erkennen die Dinge aufgrund unseres uns eben so und nicht anders gegebenen Erkennt­ nisvermögens immer nur als raumzeitlich und als kausal verknüpft. Unsere Erkenntnisse bleiben jedoch auf die Erscheinungen der Welt beschränkt; wie die Dinge an sich sind, können wir auf keinen Fall erkennen, obwohl die Frage danach andererseits durchaus denkbar ist und auch gestellt werden muss. Diese Unterscheidung Kants macht aus uns unweigerlich »Bürger zweier Welten«. Und so spricht Kant denn auch parallel zur Ursache im Erscheinungsbereich über die Ursache im Bereich des bloß denkbaren und auch denknotwendigen, aber unerkennbaren An-sich-seins, in dem unsere Freiheit lokalisiert werden kann. Aber die Freiheit kann den Menschen weder aus seinem Naturzusammenhang herausheben, noch kann die Tatsache, dass der Mensch zur Natur gehört und unter der Naturnotwendigkeit steht, seine Freiheit ausschließen. Insofern ist und bleibt der Mensch ein »Bürger zweier Welten«. In der »Kritik der reinen theoretischen Vernunft« und in der »Kritik der reinen praktischen Vernunft« stehen sich somit zwei ver­ mittlungslos dastehende Welten gegenüber: die Welt der Natur, des Bedingten, und die Welt der Freiheit, des Unbedingten. Diese beiden Welten, deren Existenz bereits Platon behauptet hatte und zwischen denen er eine »Kluft« (chorismos) feststellte, verlangen Kant zufolge nach einem »Verbindungsmittel« (Kant 1974, XX ff., 12 ff.), das er in den beiden Einleitungen zu seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 zu bestimmen versucht, aber letztlich in den Augen einiger seiner direk­ ten Nachfolger (Hegel etc.) und späteren Philosophen (wie etwa

26 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

Deleuze 1990 und Lyotard 1994) doch nicht überzeugend auszufüh­ ren vermag. Insofern wird er zunehmend kritisiert und muss schließ­ lich neuen Paradigmen weichen, die allerdings wiederum, wie im Fol­ genden gezeigt werden soll, in die Konstellation des Gegensatzes eintreten. Aus Gründen des dafür erforderlichen Umfangs kann ich hier nur einige wenige solcher Gegensätze darstellen. Ich überspringe deshalb mit Ausnahme von Hegel das 19. Jahrhundert und konzen­ triere mich insbesondere auf die Situation in der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

8. Kant, Hegel, Husserl – Die Gründer der Moderne Kant, Hegel und Husserl können in ihren Grundannahmen als Philo­ sophen verstanden werden, die auf die Problemlage der Philosophie der Neuzeit antworten und mit ihren Antworten eine neue Epoche der Philosophie begründen: die Moderne. Die neuzeitliche Philosophie hatte sich nach dem Zerfall des antiken und mittelalterlichen Kosmos die Frage gestellt, welches die Grundlagen und unbezweifelbaren Fundamente der menschlichen Welterkenntnis sind. Für den Ratio­ nalisten Descartes war das unbezweifelbare ego cogito ein solches Fundament, für den Empiristen Locke hingegen die innere und äußere Erfahrung, für den Rationalisten Leibniz wiederum der intellectus ipse, der Verstand selbst, der in den Sinnen bzw. mit den Sinnen nicht zu finden ist. In der Folgezeit wurden diese Auffassungen immer problematischer, weil mit ihnen weder auf die Frage, wie überhaupt Erkenntnis deduktiv aus einer Setzung möglich sein könne, noch auf die Frage, wie von der Erfahrung aus induktiv zu einer allgemeingül­ tigen Erkenntnis zu kommen sei, überzeugend geantwortet werden konnte. In dieser problematischen Situation stellt sich zunächst Kant noch einmal grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit der Philo­ sophie. Hegel und Husserl werden ihm darin folgen. Dabei kommen alle drei zwar zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, doch jeder von ihnen ist der festen Überzeugung, dass es vor ihren eigenen Auffassungen überhaupt noch keine Philosophie gegeben habe, die diesen Namen auch wirklich verdiene. Eine solche Auffassung kann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr vertreten werden. Auf die ungelösten Probleme der neuzeitlichen Philosophie ant­ wortet Kant mit einem transzendentalen Kritizismus, der sowohl die Eigenständigkeit von »Natur« und »Freiheit« und damit eine

27 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Kluft zwischen beiden Seiten als auch die Einheit des Systems der Vernunft darzustellen beansprucht, Hegel mit einem dialektischen Idealismus, der die auf Absolutheit abzielende »Selbstbewegung des Geistes« in seiner Geschichte rekonstruieren will, und schließlich Husserl mit einer transzendentalen Phänomenologie, die von einer intentional strukturierten Erfahrungswirklichkeit ausgeht und sich von der Freilegung des transzendentalen Erfahrungsfeldes die Entde­ ckung universaler Strukturen des Bewusstseins verspricht.

8.1 Der transzendentale Kritizismus von Kant Die philosophische Entwicklung des jungen Kant gleicht einer »Odys­ see« zwischen Empirismus und Rationalismus, aus der allmählich die »kritizistische« Fragestellung entwickelt wurde. Ab 1762 begann Kant auf zaghafte Weise von dem durch Wolff vermittelten Rationalismus abzurücken. Es ist die Beschäftigung mit Hume gewesen, durch die Kant aus dem »dogmatischen Schlummer« des Rationalismus geweckt wurde. Im Jahre 1764 verfasste Kant den Aufsatz »Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, der durch und durch empiris­ tisch beeinflusst ist. Schon ein Jahr später (1765) beschäftigt sich Kant nach der Lektüre von Leibniz’ Kritik an Locke erneut mit dem Rationalismus. Eine Rechenschaft von dieser Irrfahrt legt Kant in seiner Prolegomena-Schrift (1783) ab, die einen guten Einblick in die Arbeit des Königsberger Philosophen ermöglicht, weil er hier seine wandlungsreiche Entwicklung in der Ich-Form beschrieben hat (Kant 1989, 11). Kant hatte sich nach 1765 die Aufgabe gestellt, die berechtigten Belange der empiristischen und rationalistischen Erkenntniskritik in einer neuen philosophischen Konzeption zur den­ kerischen Ausgeglichenheit zu bringen. Aus dieser philosophischen Arbeit sollte die Kritik der reinen Vernunft von 1781 hervorgehen. Sie besteht darin, die Bedingungen und die Voraussetzungen, den Umfang und die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens genauer zu untersuchen. Die Urteilskraft steht als Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstand und der Vernunft. Sie hat zwar kein eigenes Gebiet für ihre Gesetze, aber Prinzipien, mit denen sie zwischen den Prinzipien des reinen Verstandes und der reinen Vernunft vermitteln kann. Das Prinzip nun, durch das die reflektierende Urteilskraft angeleitet wird, die Natur nicht nur nach dem Gesetz der Kausalität, sondern zugleich

28 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

nach dem Grundbegriff des Gebietes der Freiheit zu denken, ist die »Zweckmäßigkeit der Natur«. Dieser Begriff stammt nicht aus der Erfahrung, sondern ist apriorisch, d. h. »transzendental«. Er regelt das Nachforschen über die Natur, indem er angibt, wie die Urteilskraft dabei zu verfahren habe. Danach wird die Natur so betrachtet, dass ihr das Prinzip der Zweckmäßigkeit unterstellt werden kann. Dieses Prinzip ist aber kein »konstitutives«, sondern nur ein »regulatives«, also ein Prinzip, das den Gebrauch der Urteilskraft betrifft. Der Begriff der Zweckmäßigkeit hat seine Berechtigung nur im Übergang von der Naturkausalität zur Kausalität aus Freiheit, dem Endzweck. Durch den Begriff der Zweckmäßigkeit soll die Möglichkeit, im Bereich der empi­ rischen Realität nach dem Begriff der Freiheit zu handeln, verständlich werden – wie Kant annimmt. Hegel widerspricht dem offensichtlich. Diese Auffassung wurde entsprechend nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von dem französischen Philosophen Lyo­ tard einer sehr genauen wortwörtlichen Lektüre unterzogen; aber er hat sie nicht nur kritisch analysiert, sondern auch zu einer neuen Gel­ tung gebracht (Lyotard 1988, 31 ff.). Lyotard nimmt einen gewaltigen »Widerstreit« zwischen den von Kant dargestellten Denkvermögen wahr und betrachtet dennoch im Anschluss an Kant das Erhabene als das Gefühl, das diesen Widerstreit zum Ausdruck bringen kann (vgl. Lyotard 1994).

8.2 Der absolute Idealismus von Hegel Kritisch gegen Kant betritt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein »ruhiger Verstandesmensch« – wie Hölderlin einmal gesagt hat, das Problemfeld, indem er mit seiner Phänomenologie des Geistes (1807) keine statische, sondern eine geschichtliche Auffassung der Philosophie vorstellt, die das »Gewordensein« aller Formationen des Geistes, der Vernunft und des Wissens betont. Die Vernunft ist nicht einfach angeboren oder vorgegeben, sie muss sich erst entfalten und entwickeln. Dasselbe ist von den Begriffen des Ganzen und des Absoluten zu sagen. Eine entscheidende Stelle aus der Vorrede der Phänomenologie des Geistes lautet: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resul­ tat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wirklichkeit ist« (Hegel 1986, 24). Hegel, der seine Zeit als eine des Umbruchs erlebt, deutet

29 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

den Prozess der Entwicklung des Ganzen als einen dialektischen; dieser Prozess ist die aus dem ›Widerspruch‹ von Natur und Geist resultierende Bewegung bzw. Triebkraft. ›Entwicklung überhaupt‹ vollzieht sich Hegel zufolge, weil die reine Innerlichkeit des göttlichen Denkens sich in ihr Gegenteil, die Natur, entlässt und weil in der Natur bereits ein schleppendes ›Insichgehen‹ der Äußerlichkeit des göttlichen Geistes stattfindet, obwohl seine eigentliche Rückkehr aus seinem ›Anderssein‹ (Natur) sich erst im Menschen vollzieht. Das Werden des absoluten Geistes entfaltet sich auf einem langen dialektischen Weg von Entäußerung und Aneignung des Geistes, der in der Phänomenologie des Geistes bei der sinnlichen Gewissheit beginnt und beim Erreichen des absoluten Wissens des Geistes um sich selbst und die Welt beendet ist. Sein und Denken sind in dieser Endphase des Absoluten eins. Diese auf dialektische Weise, d. h. über die Schritte der Setzung (Thesis), der Gegensetzung (Antithesis) und der »Aufhebung« dieses Widerspruchs auf einer höheren Ebene und in einer tieferen Einheit (Synthesis), ausgearbeitete »Versöhnung« stellt die Antwort auf die »Entzweiung« bzw. die »Zerrissenheit des Lebens« dar, die Hegel als das Schlüsselproblem seiner Zeit interpre­ tiert. Doch während bei Fichte die Geltung von These und Antithese in der Synthese lediglich partiell »eingeschränkt« wird, werden These und Antithese bei Hegel in der Synthese »aufgehoben«, d. h. in jenem dreifachen Sinn, den dieses Wort in der deutschen Sprache besitzt: also ›beseitigt‹, ›bewahrt‹ und ›hinaufgehoben‹ auf eine höhere Ebene der Entwicklung. Allerdings wird Dialektik bei Hegel nicht nur in einem ›logischen‹ Sinne als eine Form des Denkens vorgestellt, son­ dern ebenfalls ›ontologisch‹ oder ›metaphysisch‹ gedacht. Das heißt, dass die ›Selbstbewegung des Denkens‹ und die ›Selbstbewegung der Wirklichkeit‹ in der Geschichte ein und denselben Prozess darstellen. Rückblickend auf den Prozess der Herausbildung all seiner Formen und Gestalten in der Weltgeschichte kann sich der absolute Geist als diesen Weg selbst erkennen und ihn damit zugleich rechtfertigen. Der absolute Geist ist eine höhere Einheit, die den subjektiven Geist (Sinnlichkeit, Bewusstsein, Moralität) und den objektiven Geist (Recht, Sittlichkeit, Staat) umfasst und damit die Totalität des Geisti­ gen überhaupt ausmacht. Der absolute Geist offenbart sich in der Geschichte seiner Entste­ hung auf drei jeweils unterschiedlichen Stufen: Kunst (Vorstellung), Religion (Gefühl) und Philosophie (Begriff). Diese drei Stufen des absoluten Geistes stehen nicht in einem gleichberechtigten Verhältnis

30 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

zueinander. Sie werden unterschieden durch ihre jeweilige spezifische Form, in der sie den absoluten Geist bewusst machen können. Die Kunst, die Stufe der Anschauung, macht das Absolute (die Wahrheit) in sinnlicher Darstellung bzw. Vorstellung bewusst. Die Religion, die Stufe der Gefühle, die immer mit der Kunst, der Darstellung religiöser Inhalte, verknüpft war, stellt das Absolute in der Form der gefühlsmäßigen Vorstellung dar. Die Philosophie schließlich, als höchste Stufe des Bewusstseins vom Absoluten, vereinigt die beiden anderen Bewusstseinsarten endgültig zum absoluten Wissen in der Form des Denkens. Hierin erst kommt der Geist zu seiner Endgestalt, indem er zum sich wissenden, absoluten (göttlichen) Geist wird. Hegel nennt diesen in seiner Philosophie vollendeten Geist auch das ›Selbstbewusstsein Gottes‹ im Menschen. Das Erkennen der Philosophie wird in dieser Hinsicht zur ›Wissenschaft des Absoluten‹, die die oberste Einheit aller Gegensätze ermittelt, erhoben. Hierin will er zeigen, wie das ›absolute Wissen‹, d. h. das Wissen von der dialektischen Vermittlung aller abstrakten und relativen Gegensätze, konkret etwa in der Logik, der Religions- und Naturphilosophie sowie in den Wissenschaften vom Menschen, also der Rechtsphilosophie und der Kunstphilosophie, und vor allem in der Philosophie der Geschichte entfaltet worden ist. Hegels Philosophie zielt insgesamt darauf ab, den Endzustand einer wahren Totalität zu erreichen, in der Begriff und Gegenstand, Vernunft und Wirklichkeit einander entsprechen und die Bildung des Geistes, die für ihn identisch ist mit dem Gang der Weltge­ schichte, absolut vollendet ist. Diese Auffassung von Totalität wurde im 20. Jahrhundert etwa von Adorno einer grundlegenden Kritik unterzogen und sowohl unter den Bedingungen des Faschismus als auch unten denjenigen der modernen Massengesellschaften mit ihren kulturindustriellen Organisationen und Medien als Prinzip blinder Herrschaft bzw. Beherrschung der Massenmenschen entlarvt (vgl. Adorno 1980, 57).

8.3 Die transzendentale Phänomenologie von Husserl Als Edmund Husserl (1859–1938) mit seinen Logischen Untersuchun­ gen (1900/01) in den Diskurs der Philosophie eintrat, präsentierte er in Anlehnung an seinen Lehrer Franz Brentano eine Theorie der »Intentionalität«, die mit dem damals verbreiteten Psychologismus

31 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

bricht. Mit dem Begriff der Intentionalität bezeichnete Brentano die Eigenart psychischer Phänomene, auf etwas gerichtet zu sein. Bewusstsein ist insofern immer Bewusstsein von etwas. Husserl konnte seine mit dieser Auffassung entfalteten Grundlagen der phänomenologischen Bewusstseinsanalyse allerdings erst in seiner Schrift Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie von 1913 auf die Ebene einer wirklich neuartigen »Tran­ szendentalphilosophie« stellen. Husserl fragt nicht, wie Kant, nach den Bedingungen der Mög­ lichkeit von Erkenntnis, sondern nach der »Sache selbst«, wie sie einem Bewusstsein als Phänomen erscheint, wobei er solche Fragen idealer Geltung als genuine Fragen einer Philosophie als ›strenger Wissenschaft‹ versteht. Die Grundthese von Husserl lautet, dass die Erfahrung kein chaotisches Datenmaterial ist, sondern immer schon intentional strukturiert und geordnet ist. Die Intentionalitätslehre überwindet den Dualismus, d. h., sie geht weder vom Subjekt noch vom Objekt aus. Die Einheit, nicht die Trennung beider Momente, ist grundlegend für Husserl. Er geht von der durchgängigen »Korrelation« zwischen den Vollzügen des Bewusstseins, die sich auf einen Gegenstand beziehen, und dem Gegenstand, wie er in diesen Vollzügen erscheint, aus. Einen Gegenstand wahrzunehmen heißt nicht, dass man Vor­ stellungen im Kopf hat, die der realen Außenwelt entsprechen oder nicht entsprechen. Vielmehr zeichnet sich jede Wahrnehmung stets durch einen vermeinenden Sach- und Weltbezug aus. Die intentional strukturierte Erfahrung des Bewusstseins kann in zweifacher Weise erforscht werden: Unter Ausschaltung aller Vormeinungen kann man in ›noetischer‹ Hinsicht die Erfahrungsweisen des Bewusstseins und in ›noematischer‹ Hinsicht die Gegebenheitsweisen des Gegenstan­ des näher untersuchen. Der Gegenstand wird damit zum »Phäno­ men«, das zuerst als Bewusstseinsakt und nicht wissenschaftlich beschrieben werden soll. Eine solche Beschreibung unter Ausschal­ tung aller Vormeinungen (auch wissenschaftlicher) nennt Husserl »phänomenologische Reduktion«, die zu einer »eidetischen« wei­ terentwickelt werden kann und damit schließlich wieder zu einer Ideenschau wird, die sich auf das Allgemeine oder das Wesen der Sache richtet. Husserl wollte mit seiner ständig weiterentwickelten Suche nach einem letzten Grund aller Gewissheit eine neuartige Transzendentalphilosophie begründen, die er letzten Endes jedoch nur ansatzweise ausbilden konnte.

32 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

Husserls ›Phänomenologie‹, die von ihm insofern nicht als ›Tatsachenwissenschaft‹, sondern vielmehr als ›Wesenswissenschaft‹ begründet worden ist, versteht sich insgesamt als eine ›letztbegrün­ dete Universalphilosophie‹, die auf die ersten und letzten Quellen aller Sinnbildungen zurückgeht, um schließlich die Entstehung jeg­ lichen Sinns und jeglicher Bedeutung aufzuweisen. Dabei wird die ›natürliche Erkenntniseinstellung‹, wie er sagt, in der sogenannten Epoché ›außer Aktion gesetzt‹ bzw. ›eingeklammert‹, um sich durch deskriptive Aufhellung zur Sphäre des »reinen Bewußtseins« vorzu­ arbeiten, die auf strengen »letztgeklärten« Grundlagen ruht, wobei er letztlich vom ontologischen Vorrang der geistigen Welt gegen­ über der naturalistischen ausging (vgl. Husserl 1984, Kapitel 3). Husserl kann aber aufgrund seines eigenen ›Gefangenbleibens‹ in der ›transzendentalen Subjektivität‹ die damit ungewollt zugespitzte aporetische Struktur im Spannungsfeld von Transzendentalem und Empirischem nicht mehr überwinden. Damit fällt das philosophische Denken Husserls letztendlich auf die Ebene von Descartes zurück, der mit seiner Reduktion aller Gewissheit bzw. Wahrheit auf die res cogitans das Problem des Zusammenwirkens von Körper und Seele, die sich ihm zufolge substanziell unterscheiden, nicht mehr lösen konnte und ihm daher auch die Welt letztlich nicht mehr zugäng­ lich bzw. verständlich werden kann (vgl. Husserl 1977). Husserls Annahme, dass die Welt durch Akte eines reinen Ich konstituiert sei, ist weder für Heidegger noch für Merleau-Ponty haltbar. Dennoch versucht es Elisabeth Ströker noch einmal in ihrer Einleitung zu einer Neuausgabe der Cartesianischen Meditationen in den 1970er Jahren deutlich zu machen, dass Husserl zwar von einer ›transzen­ dentalen Wir-Gemeinschaft‹ als »Urstätte« aller Sinnstiftung und Sinnkonstitution ausgeht, allerdings sei diese vollständig auf die ›transzendentale Subjektivität‹ reduzierbar. Anscheinend begreift sie jedoch nicht, dass es am Ende damit weder für die fremde Außenwelt noch für den leiblichen Anderen einen überzeugenden eigenen phäno­ menologischen Beweisgrund geben kann.

9. Die modernen Kritiker der Moderne Die philosophische Aufklärung hatte geglaubt, die Menschen dazu führen zu können, ihr Leben nach den Gesetzen der Vernunft zu gestalten. Voltaire, Rousseau und Condorcet nahmen den Kampf

33 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

gegen Dogmatismus auf und traten konsequent für die Freiheit des Menschen und die kulturelle als auch soziale Vervollkommnung der Gesellschaft ein. Ihre Hoffnung auf einen unbegrenzten Fortschritt von Vernunft und Freiheit, die sich konstituierend auf die gesamte Moderne auswirkte, wird jedoch im 19. Jahrhundert bereits stark angezweifelt. Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Theodor W. Adorno sind Denker, die die Ideale der Aufklärung aber nicht einfach leugnen, sondern als »ambivalent« einschätzen und daher gleicher­ maßen verteidigen und kritisieren. Die Kulturkritik Nietzsches gründet auf einer Zurückweisung der abendländischen Metaphysik, die die Vielfalt des Lebens gewaltsam der Einheit der Vernunft unterordnet. Das Ziel seiner polemischen Angriffe in seiner Götzen-Dämmerung ist der metaphysisch-morali­ sche »Dualismus«, der die Geschichte der Philosophie und Kultur seit Platon beherrscht. In dem berühmten kurzen Kapitel »Wie die ›wahre Welt‹ endlich zur Fabel wurde« (Nietzsche 1988, 80–81) wird der verhängnisvolle Irrtum der Trennung einer wahren von einer schein­ baren Welt aufgewiesen und in seinen platonischen, christlichen, kantischen und positivistischen Phasen rekonstruiert. Insgesamt ist die abendländische Kultur für Nietzsche der »Ausdruck einer Rache am Leben«. Sie beginnt mit dem »Problem Sokrates«, dessen »pöbel­ hafte« Dialektik auf eine »Degenerierten-Idiosynkrasie« hinauslau­ fen würde. Daher führt Nietzsche sowohl die sokratische Dialektik als auch die durch die christliche Moral betriebene »Zähmung der Bestie Mensch« auf »Verfall-Instinkte« der abendländischen Kultur zurück. Über diese Diagnose hätte sich Nietzsche mit Freud einigen können. Auf die Frage, was die Menschen vom Leben fordern, wäre Nietzsche sicherlich mit Freuds Antwort einverstanden gewesen. In seinem Werk Das Unbehagen in der Kultur sagt Freud: »Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt« (Freud 1980, 74). Dieses Programm liegt aber »im Hader mit der ganzen Welt«, die auf Zwang und Triebverzicht basiert. Freud hält das Sexualleben des modernen Kulturmenschen für schwer geschädigt. Für ihn macht es heute mitunter den Eindruck einer evolutionär in Rückbildung befindlichen Funktion. Das bedeutet für den Kulturmen­ schen, dass Kulturfortschritt nur gegen Glückspreisgabe zu haben ist. Der Urmensch, also der archaische Mensch der Steinzeit, hatte es noch besser, wie Freud feststellt, weil er Triebeinschränkungen noch nicht in dem Maße wie der moderne Kulturmensch gekannt hat: Letzterer erfülle die Forderungen an eine beglückende Lebensordnung jedoch

34 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

höchst unzureichend, weil sein Kultur bildender Triebverzicht, der zwar für Gewaltverzicht stehen solle, ursprünglich in einem Gewalt­ akt durchgesetzt worden war und daher ein ›Schuldbewusstsein‹ entstehen ließ, das als psychische Disposition auch in den moder­ nen Individuen fortbesteht und immer wieder erinnert wird. Um diesem zu entkommen, müsse der Mensch dringend epochemachende Änderungen seiner Kultur durchsetzen. Sonst würde die menschli­ che Gattung auf einen archaischen Naturzustand zurückfallen und untergehen. Die traditionelle, auf Triebverzicht basierende Kultur verursacht Freud zufolge also ein ›Unbehagen‹, das sich in körper­ lichen und seelischen Krankheitserscheinungen äußere und immer mehr auf einen ambivalenten Normalzustand des Menschen regre­ diere, in dem die sexuelle Beziehung nur aufgrund einer ehelichen Bindung zwischen Mann und Frau gestattet sei und »die Sexualität als selbständige Lustquelle« jedenfalls nicht bejaht werde. In dieser Situation stellt Adorno die Frage, ob das Ziel einer emanzipierten Gesellschaft überhaupt noch erreicht werden kann. Ein dialektisches Fortschrittsmodell, wie Hegel es vertritt, lehnt Adorno entschieden ab. In seinen Schriften zeigt er vielmehr die ständige, nicht mehr auf­ zuhebende Verschränkung von Mündigkeit und Abhängigkeit, von Fortschritt und Niedergang oder – um es dialektisch auszudrücken – von Thesis und Antithesis auf. Die Hegel zugleich verpflichtete und widersprechende Philosophie Adornos entfaltet eine dialektische Denkbewegung, die, beispielsweise in seinen Minima Moralia oder Negative Dialektik betitelten Werken, am Ende nicht, wie bei Hegel, zu einem positiven Systemabschluss führt, sondern fragmentarisch und unabgeschlossen bleibt. Adorno war aber kein grundsätzlicher Kriti­ ker der Moderne; er wollte nur deren Pathologien aufzeigen. Es geht ihm vor allem um die Rettung des Individuellen und des Sinnlichen.

10. Der Gegensatz von Universalpragmatik und Systemtheorie in der Moderne Jürgen Habermas (geb. 1929) hat in seinen 1985 veröffentlichten Vorlesungen Der philosophische Diskurs der Moderne behauptet, dass Kant mit seiner Konstellation von drei Kritiken unbewusst das Wesen der neuzeitlichen Moderne reflektiere. Aus der Retrospektive habe dann Hegel Kants Philosophie als die maßgebliche Selbstauslegung der Moderne verstehen können. Für Hegel sei die Geschichte des

35 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Abendlandes damit an einem Punkt angekommen, an dem sie sich im Bewusstsein ihrer Einheit vollenden könne. Aus diesem Grunde muss man das hegelsche Denken selbst noch zum abendländischen Denken, also zur Metaphysik rechnen. Das gilt nicht mehr für die verschiedenen Richtungen des nachhegelschen Denkens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders in Frankreich. Sie betrachteten das »grundbegriffliche Gehäuse der Bewusstseinsphilo­ sophie«, also die traditionelle Metaphysik gleichsam ex post, d. h. aus einer Distanz, aus der ihnen ihr fortgeschrittener Verfall erscheint. In Frankreich beunruhigte diese Vorstellung ebenso wenig wie in Deutschland, allerdings führte sie hier zu zwei entgegengesetzten theoretischen Auffassungen. Habermas beispielsweise, der in seinem frühen Hauptwerk Erkenntnis und Interesse von 1968 die Erkennt­ nistheorie nicht mehr im Rahmen eines metaphysischen Systems, sondern einzig noch als Gesellschaftstheorie für denkbar hielt, stellte sich in seinem Werk Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus von 1973 auch die Frage, wie man den drohenden Legitimationsverlust des modernen Staates abwenden könne. Um wirksam gegen die Entfremdung von Staat und Gesellschaft anzugehen, dürfe die Politik ihre Legitimation nicht mehr aus der »strukturellen Gewalt« eines »festgeschriebenen Normensystems« ableiten, sondern müsse sie aus den verallgemeinerbaren konsensusfähigen Wertentscheidungen der Bürger gewinnen. Niklas Luhmann (1927–1998) hingegen wollte in seinem 1969 erschienenen Werk Legitimation durch Verfahren die Probleme mit der Legitimation lösen, indem er sie auf die »Legali­ tät« reduzierte. Damit ersetzte er den von Habermas favorisierten »alteuropäischen« Begriff der kontrafaktischen Rechtfertigung aus Vernunftgründen durch die faktische Rechtmäßigkeit. Mit dieser Ent­ scheidung wollte er zeigen, dass Legitimationsprobleme in liberalen Gesellschaften nicht mit Rückbezug auf »invariant vorgefundene Wahrheiten«, sondern nur über rechtlich geordnete Verfahren beige­ legt werden können.

11. Interimistische Auflösung dieses Gegensatzes durch Lyotard So wie diese von der Faktizität ausgehende, damit auf den neuzeit­ lichen Empirismus und den antiken Realismus zurückverweisende »Systemtheorie« bleibt auch die von der Kontrafaktizität ausgehende

36 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

und somit auf den neuzeitlichen Rationalismus und den antiken Idealismus zurückverweisende »Universalpragmatik« von Habermas nach der Einschätzung Lyotards mit der nicht zu rechtfertigenden Voraussetzung verbunden, ein philosophischer Metadiskurs könne die Dissemination der Sprachspiele aufhalten und sie wieder zu einer Einheit, einer neuen Einheit, zusammenfassen. Tatsächlich aber gibt es Lyotard zufolge keinen die einzelnen Sprachspiele übergreifen­ den Metadiskurs: Insofern kann die Dissemination der Sprachspiele gar nicht aufgehalten werden, man muss sie endlich akzeptieren lernen und in ihren positiven Dimensionen erkennen und bestim­ men. Weder eine Theorie, die, wie bei Luhmann, mit einem Begriff der gesamtgesellschaftlichen Analyse operiert, noch eine Theorie, die, wie bei Habermas, im Konsens das Ziel der gesellschaftlichen Kommunikation bestimmt, kann nach Lyotards Sicht der Natur des sozialen Zusammenhangs gerecht werden. Gesellschaft kann weder im Sinne von Luhmann als funktionale noch im Sinne von Habermas als zweigeteilte, d. h. in Faktizität und Kontrafaktizität differenzierte Totalität bestimmt werden, denn diese Modelle entspringen, wie Lyotard in seinem Werk Das postmoderne Wissen von 1979 gezeigt hat, der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts. Die Vorstellung, die man sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts einzig noch machen konnte, wäre danach als offenes Feld heterogener Sprachspiele darzustellen. Lyotard, dies behauptend und bedenkend, gehört (neben Adorno und Habermas und einigen anderen) sicherlich zu den weitsichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Als Protagonist der sogenannten Postmoderne hat er Anfang der 1980er Jahre in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (1982) wiederum einen Gegensatz erzeugt, nämlich jenen zu dem nach wie vor unvollendeten »Projekt der Moderne«, hinter dem in erster Linie Habermas mit seiner Frankfurter Adorno-Preis-Rede von 1980 Die Moderne – ein unvollendetes Projekt und mit seinem 1981 erschienenen Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns steht.

12. Der Gegensatz Moderne versus Postmoderne Habermas versteht sich als einen Vertreter der Moderne, der Kants Projekt der Aufklärung kritisch korrigierend fortsetzen will, denn Kant habe in seiner Kritik der Vernunft, so der Habermasʼsche Vor­

37 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

wurf, die Vernunftmomente lediglich auseinandergenommen. Von Kant ausgehend müsse die Vernunft daher wieder in ihrer Einheit auf­ gezeigt werden. Das Habermasʼsche »Projekt der Aufklärung« nimmt an, dass die Moderne, die durch ein Auseinandertreten der substanzi­ ellen Vernunft in die drei Bereiche des Wahren (Wissenschaft), des Guten (Moral und Recht) und des Schönen (Kunst) gekennzeichnet ist, aus sich selbst heraus den rationalen Zusammenhalt dieser Berei­ che, also die Einheit, in der Handlung argumentativer Begründung garantieren kann. Dies setzt allerdings, wie Habermas sagt, einen Paradigmenwechsel vom Bewusstsein zur Sprache hin voraus. Die 1981 erschienene Theorie des kommunikativen Handelns entwirft ein umfassendes Modell der Vernunft, in dem sowohl die Ausdifferenzie­ rung der drei unterschiedlichen sprachlichen Weltbezüge, die seit der Neuzeit zu beobachten ist, als auch der Horizont einer vorinterpretier­ ten Lebenswelt zu einer sinnvollen Einheit zusammengefasst werden: »Allein das kommunikative Handlungsmodell setzt Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Sprecher und Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhan­ deln« (Habermas 1981, I, 142). Ausgehend von einer »Einheit der vernünftigen Rede«, die die Geltungsansprüche der drei unterschied­ lichen sprachlichen Weltbezüge umfasst, soll sich außerdem die Mög­ lichkeit eines Rückflusses von wissenschaftlichen, moralischen und kulturellen Potenzialen aus den seit der Neuzeit aus der Lebenswelt ausdifferenzierten Expertenkulturen für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse ergeben. Die durch Lyotard vertretene Postmoderne betrachtet hingegen alle Einheitsbildungen als metaphysische Illusionen. Der Mensch ist nicht mehr das Zentrum der Welt, die Sprache ist kein Instrument zur Erschließung der Wirklichkeit, sie ist vielmehr in eine »Vielheit von Sprachordnungen« auseinandergetreten, die nicht in eine übergeord­ nete Einheit oder universale Metasprache zurückgenommen werden kann. Die Zersetzung der substanziellen Vernunft soll gleichwohl zu neuen philosophischen Experimenten herausfordern. Ganz anders als bei Habermas, für den die Philosophie ein »Platzhalter« (Habermas 1983, 9 ff.) der Einheit ist, muss die Philosophie bei Lyotard als eine besondere Art und Weise, sich Problemen zu nähern, die nicht auf etwas anderes reduzierbar ist, verstanden werden. Eine solche Philo­ sophie ist nicht mehr bereit, große umfassende Systeme hervorzu­

38 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

bringen, um der Menschheit das eine große letzte Ziel, das sie angeb­ lich unbedingt erreichen muss, vermitteln zu können. Sie ist vielmehr davon überzeugt, dass die Philosophie in ihrem Status als Metaphysik untergegangen ist, und dass es nun darum geht, auszumessen, wie weit die »Zerstreuung der Philosophie« (Lyotard 1985, 21) reicht – um sie wiederaufzufinden, besonders in den Bereichen oder Sprach­ spielen, aus denen sie nach Habermas ausgeschlossen werden soll. Lyotard argumentiert also stark partikularistisch, ähnlich wie Adorno, der von Albrecht Wellmer (1985, 135–166) als Anwalt des (von Hegel vereinnahmten) Besonderen bezeichnet worden ist. Er verfällt damit in ein einseitiges Extrem, das im krassen Gegensatz steht zu einem anderen (un)klaren Extrem, für das sich Habermas entschieden hat: nämlich das Streben nach Allgemeinheit bzw. nach Universalität, mit dem er die Denker der Postmoderne bzw. die Anwälte des Besonderen in die Ecke des ›Irrationalismus‹ gestellt hat, weil »sie den modernen Universalismus zersetzen« (Zima 2000, 393) würden. Diese Auffas­ sung wäre von Adorno und Lyotard als repressives Streben nach sprachlicher Vereinnahmung und Tilgung des Heterogenen und Par­ tikularen verstanden worden; sie hätten daher sehr wahrscheinlich in kritischer Hinsicht zu bedenken gegeben, »dass der Respekt vor der Vielfalt der Vernunftformen (in Wissenschaft, Recht, Ethik und Ästhetik) alles andere als irrational ist« (ebd., 390). Das Andere bzw. Nichtidentische soll vor einer hegelschen Vereinnahmung geschützt bzw. verteidigt werden. Das daraus bei Horkheimer und Adorno ent­ springende Plädoyer für Negativität im Spätkapitalismus, das für sie uneingeschränkt als soziales Engagement zu verstehen ist, hat für Habermas letztlich nur Ohnmacht und Verstummen des individuellen Subjekts zur Folge. Dissens und/oder Konsens, Nichtidentität und/oder Identität, Besonderes und/oder Allgemeines befinden sich dieser Auffassung zufolge in einem Gegensatz bzw. Widerstreit, der nicht mehr aufge­ hoben werden kann und auch nicht mehr aufgehoben werden sollte. Denn mit der Konstitution personaler Identität durch intersubjek­ tive Verständigung nimmt die Repression der Triebregung, würden Adorno und Lyotard sagen, in direktem Verhältnis zu. Instinkt und Vernunft stehen auf der Stufe der unablässigen Fehde. Für Adorno war die Konstitution personaler Identität seit jeher mit einer Repression der Triebregung verbunden. Er kritisiert diesen Tatbestand radikal: eine Kritik der Repression von Triebregungen müsse zugleich eine Kritik der Zumutung personaler Identität sein, denn der richtige

39 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Zustand wäre einer, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno 1980, 131). Aus dieser Sicht ergibt sich sowohl für Adorno als auch für Lyotard ein charakteristisches Plädoyer für Heterogenität und Pluralität. Den Gegnern dieser Sicht würden Adorno und Lyo­ tard vorwerfen, sie verknüpften heterogene »Satz-Regelsysteme« so miteinander, dass sich ihre jeweiligen Funktionen und Intentionen dabei abschafften. Klassisch-modern wird das Allgemeine als Einheit verstanden. Zwar entwickelt sie sich vom 19. zum 20. Jahrhundert von der geschlossenen zur offenen Einheit. Aber die Idee der Einheit wird im modernen Universalismus nicht aufgegeben. Denn selbst das Verständnis einer »offenen Einheit« duldet keineswegs, dass sich das Allgemeine zu einem losen Ensemble unzusammenhängender Teile entwickelt und damit schließlich auseinanderfällt. Die Vielheit der realen Diskurse ist ohne eine zugrunde liegende Einheit nicht haltbar. In den realen Partikularitäten der Postmoderne dagegen steht Vielheit im Vordergrund, und zwar Vielheit ohne präkonfigurierende Einheit. Diese wird als Chance für weitere notwendige Demokratisierungspro­ zesse in der zukünftigen Lebenswelt angesehen. Dennoch bleiben viele bohrende Fragen offen. Es bleibt beispielsweise unklar, wie in einem sprachlich konstruierten Kosmos unendlicher Bedeutungsbe­ züge überhaupt demokratische Teilnahme und politischer Widerstand zustande kommen soll, wenn es nicht etwas Reales gibt, an dem sich dieser Widerstand festhalten könnte. Immanente Kritik aus dem Diskurs heraus braucht einen Bezugspunkt, einen Maßstab, eine reale und auch realistische Geschichte, also etwas Verbindendes. Ohne eine solche Geschichte können keine gemeinsamen Ziele verhandelt und keine Pläne umgesetzt werden. Während es in den aktuellen Debatten bezogen auf das Allgemeine vor allem um seine Einheit geht, geht es bezogen auf die realen Diskurse fast immer um ihre Vielheit. Meines Erachtens kann und darf man das eine nicht gegen das andere ausspielen. Es muss eher um eine wechselseitige Ergänzung der Leistungen gehen, die sowohl von der Besonderheit als auch der Allgemeinheit ausgehen. Die moderne reale Idee der Allgemeinheit steht ideengeschichtlich im Horizont des Kosmopolitismus und des Universalismus. Sie favorisiert daher eine monotone und reduktionis­ tische Gestaltung, die alle lokalen Identitäten einebnet und auslöscht. Das heißt, nur ein Stil, nämlich der internationale Stil, soll global ver­ breitet werden. Die postmodernen Diskurse bestehen positiv darin, genau die Werte zu vertreten, die im realen modernen Universalis­

40 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

mus negative Vorzeichen haben. Und das sind die marginalen und lokalen Identitäten, die in der virtuellen Welt insgesamt vernetzt werden. Das heißt, jeder lokale Stil kann in den Vordergrund gerückt und dadurch global verbreitet werden. So aber wird Universalität durch Homogenität ersetzt. Meines Erachtens kann und darf es nicht darum gehen, sich für die eine oder andere Welt zu entscheiden. Denn beide Welten vertreten berechtigte Belange. Weder kann man sinnvollerweise Universalität aufgeben, noch kann man so etwas wie das Eigenrecht lokaler oder marginaler Identitäten dementieren. Also: »Allgemeines« oder »Besonderes«, was trifft eher Wahr­ heit? – das ist die Frage, die in der »Gegeneinanderausspielung« von Adorno, dem Anwalt des Besonderen, und Habermas, dem Anwalt des Allgemeinen, aufgeworfen wurde (Honneth 1982, 87– 126); und sie macht es unmöglich, den theoriegeschichtlichen Schritt von Adorno zu Habermas als einen von der ›negativ-dialektisch‹ begründeten Bewusstseinsphilosophie zur ›handlungstheoretisch‹ begründeten Sprachphilosophie als Weiterentwicklung in Form einer Überwindung ohne Zweifel empfinden zu können. Habermas selbst versteht seine eigene theoretische Entwicklungsarbeit an der Kriti­ schen Theorie ja als Fortschritt aus den Exerzitien in der Aporie einer negativen Philosophie (Habermas 1981, I, 489–534). Dieser Fortschritt soll in den theoretisch wie praktisch »mehr« versprechen­ den Neuansatz einer Theorie des kommunikativen Handelns führen. Sie ist für ihn der aussichtsreichste Versuch, die Verwirklichung der Vorstellung des ›guten Lebens‹ in Angriff zu nehmen, und zwar durch eine rational motivierte und verständigungsorientierte Lebensfüh­ rung in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft, die er in seiner Theorie systematisch ausdifferenziert, nämlich als Praktischwerden der Philosophie, das für ihn vor allem ein Soziologischwerden ist. Allerdings muss dieses gute Leben, so könnte man mit Adorno einwenden, noch lange nicht ein richtiges sein. Insofern sitzen wir, wenn wir den Weg von Adorno zu Habermas nicht so einfach als Fortschritt deuten wollen, zunächst zwischen den Stühlen. Diese Stellung hat etwas von der ewigen Tragik eines ›undialektischen Ent­ weder-oder‹. Wir können hier erkennen, dass Adorno und Habermas einseitig in den Elementen einer Dialektik von Befreiung und Versöh­ nung verharren, ohne diese zum Zuge kommen zu lassen. Adorno philosophiert einseitig aus der Perspektive des Besonderen, Haber­ mas einseitig im Hinblick auf eine mögliche konsensuelle Versöhnung des Allgemeinen. Das Grunddilemma der adornoschen Philosophie,

41 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

nämlich die Mesalliance von Besonderem und Allgemeinem, taucht bei Habermas also kehrseitig wieder auf. Dieser Konflikt lässt sich ohne Weiteres nicht lösen. Denn weder in einer schlichten Trennung noch in einem bescheidenen Kompromiss kann das Problem der Mes­ alliancen von Besonderem und Allgemeinem oder von Postmoderne und Moderne zufriedenstellend aufgehoben werden. Der Gegensatz von Moderne und Postmoderne ist auch am Anfang des 21. Jahrhunderts noch ungelöst und wird aus diesem Grunde die nächste Entwicklungsepoche der Philosophie bestimmen und ausmachen. Die beiden rekonstruierten Positionen stehen somit offensichtlich im Gegensatz zueinander. Ob dieser aufgelöst werden kann oder gleich durch einen neuen Gegensatz ersetzt wird, kann aus heutiger Sicht noch gar nicht klar beantwortet werden. Die zentrale Frage nun lautet natürlich, ob es für diese gegensätzlichen Positionen die Möglichkeit einer Vermittlung gibt, die nicht auf ein Synthetisieren hinausläuft und damit den Gegensatz als Gegensatz aufrechterhält. Aber was macht einen solchen Gegensatz bzw. Wider­ streit überhaupt aus? Wie muss er genau bestimmt werden? Der Widerstreit bzw. Gegensatz zwischen den erörterten Posi­ tionen muss nach Ansicht des Autors dieses Aufsatzes mit anderen begrifflichen Mitteln eigens neu analysiert werden, um eine andere Perspektive für einen anderen Umgang mit diesem Gegensatz zu entwickeln. Diese begrifflichen Mittel sind aber erst dann verwend­ bar, wenn ihr Einsatz aufgrund weiterer theoretischer Überlegungen vorbereitet wird, d. h., wenn der theoretische Blick geschärft ist für ein ganz bestimmtes logisches Problem, das nicht im bloß Logischen stecken bleibt, sondern die sachlichen Eigenarten des Phänomens ebenfalls zu berücksichtigen hätte. Ein weiteres Ziel des philosophi­ schen Nachdenkens im hier vorgestellten Zusammenhang besteht demzufolge darin, einen weiterführenden Begriff von Integration zu formulieren, der es gestatten könnte, den logischen Widerspruch im Sinne einer Kontrastierung inhaltlich fruchtbar zu machen – aber weder im Sinne einer hegelschen Synthese noch im Sinne eines lyotardschen Widerstreits, sondern im Sinne der Übernahme einer »doppelten Betrachtung«. Diese setzt methodisch eine Theorie des ›produktiven Gegensatzdenkens‹ voraus. Ein solches Denken hätte die Aufgabe, die Inhalte beider Gegensatzseiten in Betracht zu ziehen, und zwar im Sinne eines »widerspruchsfreien Gegensatzdenkens«, das den Widerspruch weder gewaltsam aufheben noch als Negativum abstrakt einer melancholischen Verzweiflung des Denkens übergeben

42 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

will. Formal bestünde die Aufgabe des Philosophierens darin, eine Theorie zu formulieren, die ihre Hindernisse bzw. Schwierigkeiten oder gar Aporien – d. h. das einander Widersprechende – als Bestand­ teile ihrer Funktion integrieren kann. Ich gehe an diese Herausforde­ rung mit der Arbeitshypothese heran, dass ein solcher Gegensatz nur im Sinne eines logischen »Komplementärverhältnisses« gedacht werden kann.

13. Ausblick im Rückblick Die Entwicklung der Philosophie ist kein Fortschrittsprozess im Sinne einer in den Naturwissenschaften sowie in der Philosophie Hegels zu beobachtenden progressiven Fortentwicklung, in der das auf der ersten Stufe erworbene Wissen aufgehoben und überwunden wird, sobald die zweite Stufe erreicht ist. Das heißt: In den Naturwissen­ schaften wird das Wissen ständig vermehrt, der Erkenntnisfortschritt scheint an kein Ende zu kommen. Außerdem ist das Wissen innovativ, d. h., es bringt immer etwas Neues und überwindet das Alte, das somit keine Rolle mehr spielt. Als Beispiel dafür könnte einer der bedeutendsten Fortschritte der Medizin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt werden, der zum Sieg über die Infektions­ krankheiten führte. Im Jahre 1928 leitete das von Alexander Fleming zufällig entdeckte Penizillin die Ära der Antibiotika ein, obwohl er dessen therapeutische Bedeutung zunächst nicht erkannte. Es gelang dann Howard Florey und Ernst Chain 1940 zum ersten Mal, Penizillin zu isolieren und in konzentrierter Form herzustellen. Damit war der Siegeszug über Infektionskrankheiten wie Diphtherie, Tuberku­ lose, Keuchhusten, Syphilis etc. nicht mehr aufzuhalten. Zuerst in England und den USA, nach dem Zweiten Weltkrieg dann weltweit wurden Millionen investiert, um eine pharmazeutische Industrie auf­ zubauen, die im großen Maßstab Penizillin produzierte und weitere Medikamente entwickelte, mit denen nicht nur einstmals gefürchtete Krankheiten überwunden, sondern ebenfalls enorme Profite gemacht werden konnten. In der Wirtschaft des 20. Jahrhunderts ist das Wissen der Naturwissenschaften nicht nur zu einem der entscheiden­ den Produktionsfaktoren aufgestiegen, sondern darüber hinaus zur Produktivkraft schlechthin geworden. Mit der Mikroelektronik und der Gentechnologie sind in den letzten Jahren weitere tiefgreifende Fortschritte erreicht worden. Während es mit ersterer gelungen ist,

43 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

die Leistungen des Selektierens, Speicherns und Systematisierens ins Millionenfache zu steigern, könnte es mit letzterer in absehba­ rer Zeit ermöglicht werden, das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen gezielt und beliebig zu verändern. Parallel zu diesen Ent­ wicklungen ist in der westlichen Gesellschaft der immer weniger zu erschütternde Glaube erzeugt worden, dass die Naturwissenschaften jedes dem Menschen gestellte Problem bewältigen können. Durch diesen Glauben ist die Philosophie mit den Naturwissenschaften in ein Konkurrenzverhältnis gestellt worden, das ihr eine nicht mehr abzutragende Hypothek aufgelastet hat. Aus dieser Sackgasse kann die Philosophie sich nur noch befreien, wenn es ihr gelingt, aus dem Konkurrenzverhältnis auszu­ steigen und ihre Eigenständigkeit gegenüber den Naturwissenschaf­ ten zu behaupten. Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe muss sie erklären, dass die Entwicklung der Philosophie gar nicht als Fortschrittsprozess verstanden werden darf, sondern die relative Wiederkehr einer Gegensätzlichkeit ist, die in der Geschichte auf verschiedenen, jedoch gleich gültigen Gebieten eine Auseinander­ setzung gefunden hat. Trotz einer über 2500 Jahre langen Tradition mit zahllosen unterschiedlichen Positionen, Denkrichtungen und Schulen, beschäftigt sich die Philosophie mit bestimmten Grundfra­ gen immer wieder aufs Neue. Ein wesentliches Charakteristikum von Philosophie besteht gerade darin, eben nicht in einer linearen Fortschrittsgeschichte bestimmte Fragen nach und nach endgültig beantworten zu können. Im Gegenteil müssen diese Fragen stets aufs Neue, sowohl vor dem Hintergrund der Geschichte als auch vor den aktuellen Problemen der Gegenwart, verhandelt werden. Dabei ist zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden. Auf der formalen Ebene kehrt der »Gegensatz« immer wieder, auf der inhaltlichen Ebene gibt es eine Weiterentwicklung im Sinne einer »Erneuerung«, einer »Ersetzung« oder »Fortsetzung«. Dass die Welt durch Gegensätze geprägt ist, sagte bereits Heraklit. Aber diese Gegensätze stehen nicht isoliert in der Welt, denn nach Heraklit gibt es auch den sie umfassen­ den Logos. Wenn der Logos die Gegensätze wie beispielsweise die von Krieg und Frieden, Krankheit und Gesundheit, Nacht und Tag umfasst, bedeutet das, dass der Streit zwischen den Gegensatzseiten in geordneten Bahnen verläuft. Der endgültige Sieg einer Seite über die andere ist dadurch ebenso ausgeschlossen wie die Aufhebung des Streits in einer höheren Synthese. Der Streit der Gegensätze ist insofern ein immerwährender Streit. Ohne ihn würde Heraklit

44 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

zufolge die Welt aufhören zu existieren. So wie die Welt sind auch die Philosophie und ihre Geschichte durch den Gegensatz geprägt. Aber in ihrer Geschichte wird der Gegensatz als Form von Epoche zu Epoche mit jeweils neuen Inhalten gefüllt. In der Antike ist es derjenige von Idealismus versus Realismus, in der Neuzeit der von Rationalismus versus Empirismus und in der Gegenwart der von Moderne versus Postmoderne. Die Geschichte der Philosophie wird sich, wenn überhaupt noch, nur auf diese Weise fortsetzen.

14. Resümee Die Geschichte der Philosophie, in deren Tradition wir uns heute verstehen lernen, beginnt am Anfang des 6. Jahrhunderts v. Chr. im ionischen Griechenland. In dieser Zeit wurden die bis dahin fraglos geltenden Welt- und Naturerklärungen der Mythen erstmals durch Fragen ersetzt wie: Woraus besteht alles? Wie verhält sich alles zueinander? Was ist das Seiende im Kern? Nachdem die ioni­ schen Naturphilosophen mit solchen Fragen, auf die sie allerdings sehr unterschiedliche Antworten gaben, versucht hatten, sich über die Zufälligkeiten der natürlichen Welt zu erheben, stellten sich in Athen die Philosophen Platon und Aristoteles darüber hinaus sowohl die Frage nach dem, was wirklich ist, d. h., ob die Idee oder das Einzelne als das eigentlich Reale zu betrachten ist, als auch die Frage nach der Grundstellung des Denkens zum Sein, durch die der Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen betont wird. Aber während sich Platon nach einer wahreren Welt jenseits der zufälligen und stets veränderlichen Erfahrungswelt sehnte und diese in seinem Hauptwerk in der Welt der unveränderlichen und ewigen »Ideen« erblickte, machte sich dagegen Aristoteles klar, dass für den Menschen das Denken nicht ohne die realen Dinge und diese nicht ohne die Begriffe vorkommen können. Eine zwischen jenem Idealismus und diesem Realismus vermittelnde Ebene konnte in der weiteren Philosophiegeschichte der Antike und des Mittelalters nicht gefunden werden, sodass in der Neuzeit erneut ein Streit über diese Grundkonzeptionen geführt werden musste – diesmal zwischen dem in der Linie von Platon stehenden Rationalisten René Descartes und dem sich in der Tradition von Aristoteles befindenden Empiristen John Locke. Aber obwohl der Widerstreit zwischen dem an der Mathematik orientierten Rationalismus und dem von der

45 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

Sinneswahrnehmung ausgehenden Empirismus erst später, nämlich von Immanuel Kant, überwunden wurde, konnten sich die beiden Protagonisten, also sowohl Descartes als auch Locke, wesentlich am Aufschwung der modernen Wissenschaften beteiligen. Ungeachtet der Aufhebung dieses auf epistemologischer Ebene geführten Streits durch die von Kants Vernunftkritik ausgelöste »kopernikanische Wende« in der Philosophie versuchte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Jean-François Lyotard die von ihm als Vereinseiti­ gung des Denkens empfundene »Idee einer allgemeinen Vernunft« auf sprachphilosophischer bzw. gesellschaftstheoretischer Ebene zu »destruieren«. Dagegen hat sich sein Gegenspieler Jürgen Habermas das Ziel gesetzt, die Idee der Vernunft als Vorbedingung sowohl einer freien und gerechten Gesellschaft und eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates als auch einer modernen Wissenschaft auf jeden Fall zu verteidigen. Während Habermas daran festhält, dass wissenschaftliche Wahrheitsfindung in Expertenkulturen einer Rückkopplung mit einer kommunikativ strukturierten Öffentlichkeit bedarf, in der sich alle Menschen frei und gleichberechtigt nicht nur über das, was als »wahr«, sondern auch über das, was als »gut« und als »schön« gelten soll, verständigen und einigen können, glaubt Lyo­ tard nicht mehr daran, dass der Widerstreit zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Zwängen geschlichtet werden kann. Das postmoderne Denken Lyotards intendiert, die Totalität des Wirklichen, die in der Geschichte der Philosophie immer von einem einzigen allgemeinen Prinzip der Vernunft her erklärt wurde, radikal infrage zu stellen, um eine Legitimierung allein durch die Paralogie zu ermöglichen. Der Weg dazu besteht in einer Kritik und Destruk­ tion der Rationalität, durch die die Kultur der Moderne bestimmt ist. In der Geschichte der Gegenwart kann dagegen Habermas als der wohl wichtigste Verfechter des mit der kantischen Aufklärung begonnenen »Projekts der Moderne« betrachtet werden, an dem aber noch weitergearbeitet werden muss, weil es bislang nicht vollendet werden konnte. Die maßgebenden Denker der hier rekonstruierten Geschichte der Philosophie stehen nicht – um es metaphorisch zu sagen – auf den Stufen einer direkt zur Wahrheit hinaufführenden Leiter, die somit als lineares Fortschrittsmodell zu interpretieren wäre, sondern befinden sich in der mehr oder weniger freien Folge eines ständig wiederaufzu­ nehmenden Widerstreits, der bisher nicht aufgelöst werden konnte und sich vielleicht auch niemals aufheben lässt.

46 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als linearer Fortschrittsprozess?

Zitierte Literatur: Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 1980. Th. W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt, in: ders., Philosophie und Gesellschaft. Fünf Essays, Stuttgart 1984, S. 74–93. Aristoteles, Metaphysik, übers. u. hrsg. v. F. F. Schwarz, Stuttgart 1987. G. Deleuze, Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin 1990. S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frank­ furt/M. 1980. J. W. Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, hrsg. v. L. J. Scheithauer, Stutt­ gart 1976. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981. J. Habermas, Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: ders., Moralbe­ wußtsein und Kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S 9–28. G. W. F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Phi­ losophie, in: ders., Jenaer Kritische Schriften (I), neu hrsg. v. H. Brockard und H. Buchner, Hamburg 1979, S. 1–116. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986. A. Honneth, Von Adorno zu Habermas. Zum Gestaltwandel kritischer Gesell­ schaftstheorie, in: W. Bonß u. A. Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1982, S. 87–126. E. Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einführung in die Phänomenologie, hrsg. u. eingeleitet v. E. Ströker, Hamburg 1977. E. Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, hrsg. u. eingeleitet v. M. Sommer, Hamburg 1984. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. I. Heidemann, Stuttgart 1966. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, hrsg. v. R. Malter, Stuttgart 1989. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1985. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1974. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1987. J.-F. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985. J.-F. Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988. J.-F. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München 1994. F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München, Berlin 1988. Platon, Symposion, in: ders., Sämtliche Werke 2, übers. v. F. Schleiermacher, Hamburg 1986. Platon, Theaitetos, in: ders., Sämtliche Werke 4, übers. v. F. Schleiermacher, Hamburg 1988. Platon, Phaidros, in: ders., Sämtliche Werke 4, übers. v. F. Schleiermacher, Hamburg 1988. J. Ritter, Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974. F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1965. G. Simmel, Hauptprobleme der Philosophie, Berlin, New York 1989.

47 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Hans Friesen

J. Simon, Hegels Begriff der Philosophie als »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« und das Programm einer vergleichenden Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 25. Jg., 1/2000, S. 3–17. A. Wellmer, Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/M. 1985, S. 135–166. P. V. Zima, Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen, Basel 2000.

48 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten und des Geistes

1. Grundgedanken zur geschichtlichen Entwicklung der Philosophie Die geschichtliche Entwicklung und thematischen Schwerpunkte der philosophischen Disziplin werden von Hans Friesen in einem umfas­ senden Überblick repräsentiert, der von ihren Anfängen mit den Philosophen und Denkern Heraklit, Parmenides, Empedokles bis zu Sokrates, Platon, Aristoteles und in der Postmoderne unter anderem über Habermas, Lyotard und Adorno reicht. Dieser ausführlichen Darstellung und Übersicht Friesens über die Inhalte der großen Werke dieser so bedeutenden Philosophen gibt es in der Sache keine neuen wesentlichen Erkenntnisse hinzuzufügen. Zu den Gedanken und der Sicht der in Friesens Aufsatz offen­ barten Erkenntnisse und Stellungnahmen zum Wesen und der Bedeu­ tung der philosophischen Disziplin in der Geschichte der Kultur­ wissenschaft werden nun in diesem Aufsatz einige Kritikpunkte, Komplementierungen und kontroverse Stellungnahmen hinzugefügt: In seinem Aufsatz betont Friesen, dass Sokrates und Platon in der philosophischen Disziplin ein Mittleres erblicken, das zwischen Unwissen und Wissen anzusiedeln ist und dessen Wurzel im Staunen liegt. Auch von Aristoteles bekundet er, dass dieser in der Sphäre der Philosophie eine schwindelerregende Unwissenheit erblickt, die nach einem Wissen drängt, das von einer anderen Art ist als das gewöhn­ liche Wissen der Erfahrung. Ausdrücklich betont er in seinem Aufsatz, dass es das Ansinnen der philosophischen Disziplin ist, sich der kind­ lichen Neugier des Menschen und dem Phänomen des Denkens mit seiner Bedeutung zu widmen. Von der philosophischen Erkenntnis glaubt Friesen, dass sie nicht nur der Vermittlung von Informatio­

49 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

nen und Daten dient, sondern sich in einem eigentümlichen Zirkel bewegt, der innerhalb der philosophischen Denkweise ihre eigenen Absichten und die Vorrausetzungen ihrer Denkweise bestimmt. Auch im weiteren Verlauf seiner Darstellung gibt er zu bedenken, dass sich die philosophische Disziplin mit allem beschäftigt, was sich in dem gesamten Bereich der Wirklichkeit ereignet. Friesen erscheint ihr Wesen ambivalent zu sein, das sich eben nicht nur auf die Erforschung der gesamten Realität erstreckt, sondern sich auch auf die erörternde Darstellung von Einzelwissenschaften wie zum Beispiel dem Gebiet der Rechtswissenschaften, Kunst- und Naturphilosophie bezieht. Ebenso vertritt er die These, dass sich für die philosophische Disziplin nicht so leicht ein Gegenstand benennen lässt, dem diese sich voll und ganz widmet. Auch gliedert er sie in den Verlauf von Haupt- und Nebenwegen, die sich jedoch als Kampf des Geistes gegen die entgegenstehende Epoche erweisen. Ihre Produkte treten, so sagt er, in ihren Vorlesungen, Vorträgen, Aufsätzen und Büchern, die nicht selten der Anstrengung eines ganzen Philosophenlebens zu verdanken sind, zutage. Zu Recht erblickt Friesen in der philoso­ phischen Disziplin auch die Kraft, die dem Staunen, der Vermittlung der Gegensätze und der Offenbarung des Lebens dient und charak­ terisiert diese als die Gegenkraft, die sich gegen die Hauptströme jeder zeitlichen Epoche stellt und die Fragen ihrer Zeit modifiziert, erneuert und wandelt. Im Gegensatz zu dieser Sicht der Geschichte der Philosophie lässt sich auch die Auffassung vertreten, dass die philosophische Disziplin die erotische Macht ist, die seit Beginn der Menschheit die Weltseele in Atem hält und bewegt: Schon seit Beginn der ersten Menschheitstage, der Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies, dem Durchzug durchs Rote Meer, der Kreuzigung und Auferstehung Jesu ist es das Wort, in dem der sinnliche, kraft­ volle und emotionsgeladene Kampf des Geistes gegen die weltliche Macht offenkundig wird. Zugleich beseelt und forciert dieser auch die Individual- und Kollektivpsyche jeder menschlichen Generation der Weltgeschichte. Dieser permanente Kampf der triebhaften Kräfte gegen die geistigen, geistlichen und seelischen Mächte des Menschen forciert den Gang jeglicher menschlichen Entwicklung und kulturel­ len Entfaltung einer Gesellschaft: »Geist gegen Macht« – in diese schlichte Formel kann man den Gang der Philosophie-, Kultur- und Weltgeschichte auch einkleiden, dem der Haaner Dichter Emil Barth das Vermächtnis seines gesamten kulturellen Schaffens widmet. In seiner Tagebuchnotiz vom 20.10.1943 gibt Barth zu bedenken, dass

50 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

die Säulen der Grammatik die beiden Hilfswörter »sein« und »haben« sind, zwischen denen eine wundersame Spannung besteht. Wo diese Spannung fehlt, sieht Barth das Nichts walten, aus dem die Verödung des Geistes entsteht und dieser als ein tödliches Laster verurteilt wird, aus dem der geistige Tod und schließlich der Untergang der Gesellschaft erfolgt. Dieser geistige Tod jeder Gesellschaft fordert zugleich auch die geistigen und seelischen Kräfte des Unbewussten heraus, die sich in einzelnen Philosophen und Denkern manifestieren. Zugleich ist er auch der Inhalt der Philosophie- und Weltgeschichte, der die Dynamik jedweder persönlichen und kollektiven Entwicklung vorantreibt und das Gesicht der Welt gestaltet. In seinem Aufsatz gibt Friesen zu bedenken, dass es im nächsten Jahrhundert vermutlich keine Bücher zum Lesen mehr geben und die Welt der Literatur der Macht der Medien, des Filmes und der Fernsehsendungen zum Opfer fallen wird. Im Gegensatz zu dieser Sicht könnte man auch die berechtigte Frage aufwerfen oder den berechtigten Gedanken aufkommen lassen, ob die heutige Gesellschaft nicht am Höhepunkt einer triebhaften und primär materialistischen Sicht der Welt ist, in der die Diktatur des Geldes zu herrschen scheint und deren Ende, Bruchstückhaftigkeit und Unmenschlichkeit schon längst begonnen hat. Vielleicht bahnt sich schon im Verborgenen ein Neubeginn, eine tiefgreifende Wandlung und eine Wiedergeburt des gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenlebens an, in der die Sphäre des Wortes und die Welt der Bücher die Wegbereiter einer fundamentalen Rück­ besinnung sind, in der die Kraft der Philosophie eine tragende Säule der geistigen und seelischen Erneuerung der Gesellschaft ist und sein wird. So gibt der jüdische Pädagogikprofessor und Autor zahlreicher Bücher, Micha Brumlik, in seinem Werk »C. G. Jung zur Einführung« zu bedenken, dass Gestalt und Werk Jungs in den letzten Jahrzehnten wieder stärker im Brennpunkt des öffentlichen Interesses gestanden hat. Zugleich betont Brumlik, dass das Werk Sigmund Freuds seinen Einfluss eingebüßt hat. Sowohl die sogenannte humanistische Psy­ chologie als auch die Beziehungsspiele, Wünsche und die Sichtweise des Lebens als ein Spiel erscheinen ihm gescheitert. Des Weiteren sieht Micha Brumlik auch die Gesprächstherapie von Carl Rogers, die nach einem übergeordneten Sinn, Verständigung und Dialog fragt, als gescheitert. Am Ende all seiner gedanklichen Ansätze sieht er jedoch nur die Konflikte der eigenen Familiengeschichte und die Kontroversen mit den Arbeitskollegen stehen. Im Schlusswort seines

51 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Werkes betont Brumlik, dass er der Auffassung ist, dass das Werk Jungs und dessen Potenzial noch nicht voll ausgeschöpft ist und die Gesellschaft vor einer kulturellen Erneuerung steht, in dem dieses eine große Rolle spielen wird. Dem ist nichts hinzufügen, außer dass nicht nur das Werk Jungs, sondern sämtliche Werke bedeutsamer Autoren eine Renaissance erleben werden, die aus den Kräften des Unbewussten verfasst worden sind, zu denen unter anderem auch die Werke Sokrates’, Platons, Sören Kierkegaards, Hannah Arendts und vieler anderer Philosophen zählen, deren geistige Kraft beständig auf das gesamte seelische Befinden ausstrahlen.

2. Die Welt der Philosophie: Die relative Wiederkehr des Gleichen? In seinem Aufsatz stellt Friesen die These auf, dass die Geschichte der Philosophie die Geschichte der Wiederkehr einer immer gleichen for­ malen Gedankenstruktur ist. Das Ziel des Philosophierens erscheint ihm sowohl für Platon wie auch für Aristoteles in der Erkenntnis des Göttlichen. In diesem Kontext betont Friesen, dass Platon dieses Heilige in der Idee des Guten erblickt, die jenseits der sinnlichen Erscheinungswelt als reales Wesen existiert. Von Aristoteles glaubt er, dass dieser die Sphäre des Heiligen in der Seele und des Wesens des Einzelgegenstandes erblickt. Für diesen Denker tritt das Göttliche immer in einer Form zutage, die sich in der Gestalt des einzelnen Gegenstandes offenbart. Gegensätzlicher könnten beide Standpunkte nicht sein, die maßgeblich das Wesen der kulturellen Welt beeinflusst haben. Die platonische Sicht der Welt wird durch den Glauben an die göttliche Urkraft und die aristotelische Interpretation auf die Geschichte der Menschheit durch die Würdigung des Einzeldinges und der einzelnen Form bestimmt, in der die göttliche Kraft lediglich als Beweger wirksam und tätig ist. Beiden gedanklichen Ansätzen misst Friesen größte Bedeutung zu, in der sich die Geschichte der Philosophie immer wieder in neuen gedanklichen Ansätzen der Phi­ losophie ausformt und herauskristallisiert.

52 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

3. Idealismus und Realismus In dem Ausblick seines Aufsatzes gibt Friesen zu bedenken, dass die Entwicklung der Philosophie kein Fortschrittsprozess im Sinne einer in den Naturwissenschaften sowie in der Philosophie Hegels zu beobachtenden progressiven Fortentwicklung ist, in der das auf der ersten Stufe erworbene Wissen aufgehoben und überwunden wird, sobald die zweite Stufe erlangt ist. Ausdrücklich mahnt Friesen, dass die philosophische Disziplin nicht in einen Wettstreit mit der naturwissenschaftlichen Interpretation der Welt treten darf und sich auf ihre Eigenständigkeit berufen muss. Vielmehr steht sie in der Pflicht, ihre Vermächtnisse zu verteidigen und zu bewahren. In diesem Kontext gibt Friesen zu bedenken, dass die Philosophie sich auf ihre eigenen Fragen und ihre eigenen Perspektiven auf die Welt berufen muss, die sich trotz einer über 2500 Jahre alten Tradition in zahlrei­ chen unterschiedlichen Denkrichtungen und -strömungen offenbart und letztendlich sich auf die zwei grundlegenden Gedankengebäude Platons und Aristoteles reduzieren lässt.

4. Wissenschaftliche Sicht oder das Erleben der philosophischen Disziplin als der geistigen Kraft, die sich immer in Zeiten von Krise, Kriegen und anderen Katastrophen entfaltet Die Darstellung Friesens ist eine rein wissenschaftliche Interpretation und Würdigung dieses Faches und der philosophischen Disziplin schlechthin. Er verdeutlicht dem Leser ein breites Spektrum des Wissens in den einzelnen Epochen der Philosophiegeschichte, das er zugleich auch mit dem Gedankengut der Moderne zu verbinden sucht und mit seinem Werk so einen bedeutsamen Beitrag zum philosophi­ schen Diskurs der Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts leistet. Seine Sicht auf die Geschichte der Philosophie als die Wiederkehr gedanklicher Ansätze der immer gleichen zwei Gedankensäulen, die in den philosophischen Systemen Aristoteles’ und Platons zutage treten, ist eine gut durchdachte und schlüssige Interpretation im Rah­ men der Geschichte der Philosophie und ihrer einzelnen historischen Epochen. Wie bereits ausgeführt, ist dies eine rein wissenschaftliche Betrachtung, Sicht und Tradierung der philosophischen Disziplin,

53 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

die man durchaus auch in Zweifel ziehen und als nur eine mögliche Sichtweise auf die Welt der Philosophie auffassen kann. Um den Radius der Diskussion zu erweitern, wird in diesem Aufsatz die pro­ vozierende These in den Raum gestellt, dass große und bedeutsame Philosophie immer dort entsteht und entstanden ist, wenn Menschen gezwungen sind, sich ihrer eigenen Abgründe zu stellen oder sie zu überschreiten. Moderne Psychologen betonen, dass eine starke Persönlichkeit nicht im Gewächshaus wächst. Ebenso wachsen und entfalten sich die Werke bedeutsamer Philosophen, die Spuren in der Geschichte der Philosophie hinterlassen haben, nicht in einer heimlichen Atmosphäre, sondern in traumatischen Situationen, in denen diese gezwungen sind und waren, sich mit den fürchterlichsten Abgründen der eigenen Psyche und der Menschheitsseele auseinan­ derzusetzen: Bedeutsame Philosophie entsteht immer am Rand des Todes, des Krieges, der Folter und anderer grausamer Ereignisse, die die menschliche Seele fundamental erschüttern. Erst die Erfahrung, dass nichts Menschliches mehr trägt, all das, auf das man bisher vertraut und an das man geglaubt hat, sich als illusionär und brü­ chig herauskristallisiert, lässt einen Menschen zum Denkenden und Philosophen werden. In seinem Werk »Der Typ Sokrates« gibt der Philosoph Gernot Böhme zu bedenken, dass er in Leben und Werk Sokrates’ das Urbild des Philosophen erblickt. Sein Leben symboli­ siert für Böhme, dass Philosophie etwas Anstößiges, etwas Nutzloses, eine Kinderei und zugleich auch ein Wahnsinn und Taumel ist. Aus­ drücklich verweist er darauf, dass Sokrates von sich selber bekundet, dass er weiß, dass er nichts weiß. Philosophie erscheint Sokrates als ein Weg zur Weisheit, der seinen Anfang nicht in einem Wissen, sondern in einer Erschütterung hat, die die gesamte Person verwan­ delt. Wie Sokrates erlebt jeder bedeutende Philosoph diese große Verunsicherung seiner Person, aus der heraus er sein Werk schafft und gestaltet. So wie das Werk Sokrates’ aus einer tiefen Erschütterung, Verunsicherung und in den Wirren des Krieges zur Vollendung gelangt, so entstehen auch die übrigen bedeutsamen Werke aus einer inneren Notwendigkeit; niemals jedoch aus wissenschaftlicher Eitelkeit. Somit erhält auch der Blick auf die Geschichte der Philoso­ phie eine Wandlung. Grundsätzlich erscheint Friesens Gliederung in die immer gleiche Wiederkehr der bedeutsamen philosophischen Systeme Platons und Aristoteles’ als sinnvoll und dem Wesen der Philosophiegeschichte angemessen. In diesem Aufsatz wird der Blick auf diese jedoch erweitert, indem in ihm die These aufgestellt wird,

54 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

dass die Philosophen und Denker aller Zeiten sich zwar immer an dem Gedankengut Platons und Aristoteles’ orientiert haben und es einem ausführlichem Studium unterzogen haben, jedoch erst durch die Erfahrung von Krieg, Tod oder anderer menschliche Abgründe gezwungen sind, in ihre eigenen seelischen Tiefen zu steigen und das großartige Wissen Platons und Aristoteles’ schöpferisch in ihren Werken in das Leben und die Geschichte ihrer Zeit zu integrieren. Jedes philosophische Gedankengebäude basiert somit dann zwar auf den Grundgedanken, den beiden starken Säulen der platonischen und der aristotelischen Philosophie, stellt jedoch jeweils einen einmaligen und völlig neuen Gedankenansatz, Entwurf und ein einmaliges Bild dieses Philosophen in seiner Zeit, seiner eigenen Geschichte und der Kulturgeschichte der Menschheit dar. Seit den Anfängen der Mensch­ heitsgeschichte zieht sich diese bedeutsame Spur großer Philosophen und Denker durch die Geschichte der Philosophie, wie sie unter ande­ rem in den Werken von Heraklit, Sokrates, Platon, Sören Kierkegaard, Hannah Arendt, C. G. Jung und Jean-Paul Sartre zutage tritt und den Geist dieses Faches maßgeblich prägt. Ihre philosophischen Werke stellen jeweils zugleich eine völlig neue Antwort und Kritik auf die Herausforderungen der Zeit dar. In seinem Werk »Gott sucht den Menschen« gibt der jüdische Religionsphilosoph Abraham Heschel zu bedenken, dass es zwei Typen des Denkens gibt, von denen der eine es mit Begriffen und der andere mit Situationen zu tun hat. In der Kraft des begrifflichen Denkens erblickt Heschel einen logischen Akt. Die Sphäre des Situationsdenkens charakterisiert er als ein inneres Erleben. Darüber hinaus charakterisiert Heschel die zwei Arten zu philosophieren auch als einen Prozess, in dem Gedanken gedacht werden und Grundsätze, Hypothesen und Lehrmeinungen analysiert werden. Ausdrücklich gibt er zu bedenken, dass man Philosophie jedoch auch als einen Prozess der Selbsterkenntnis, Selbstbeobach­ tung und eines sich radikal wandelnden Selbstverständnisses inter­ pretieren und tätigen kann. Die großen philosophischen Gedanken und Werken leben immer in der individuellen Seele eines Menschen, die durch sein persönliches Schicksal und Leben bestimmt wird. Jede Philosophie ist somit ein Meisterwerk.

55 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

5. Die Philosophie aus dem Bewussten oder Unbewussten im Verständnis Walter F. Furrers und Abraham Heschels Wie dargelegt, stellt Friesens Aufsatz eine wissenschaftliche Abhand­ lung der Geschichte der Philosophie dar, die eine bewusste, aus dem Verstand gewachsene Erörterung darstellt und die sich primär an den Wertvorstellungen der universitären Welt orientiert. Hierbei ist es wichtig auch mit zu bedenken, dass die Geschichte der Philosophie sowohl einerseits aus dem Bewussten und andererseits auch aus dem Unbewussten geschaffen worden ist. Beide Weisen, bedeutsame phi­ losophische Werke niederzuschreiben und zu verfassen, tragen zum Bestand der Geschichte der Philosophie bei. Unter den Philosophen selbst herrscht jedoch seit Jahrhunderten ein erbitterter Streit, welche Weise philosophisch tätig zu sein die Bedeutsamere ist. Dem nachsin­ nenden Denker und an der Sache der Philosophie interessierten Phi­ losophen ist klar, dass beide Arten des philosophischen Schaffens von tragender Bedeutung sind, den Gang der philosophischen Tradition und Geschichte zu forcieren, zu modellieren und aufrechtzuhalten. Da Friesens Aufsatz eine Darstellung der Geschichte der Philosophie versinnbildlicht, die primär aus dem Verstand verfasst worden ist, scheint es nun angemessen zu sein, einen Blick auf die Geschichte der Philosophie zu werfen, die aus dem Unbewussten entstanden ist. In diesem Kontext muss jedoch ausdrücklich betont werden, dass die Philosophiegeschichte, die aus dem Unbewussten geschaffen ist, einen weit größeren Radius umfasst als die Tradition, die aus dem Bewussten schafft. Die Geschichte der Philosophie wandelt sich zur Geschichte der Kulturwissenschaften, die im Bunde steht mit der Disziplin der Literatur- und Kunstwissenschaft, Architektur, Medizin und Juristik, auch wächst sie über eine begriffliche Argumentation und Erörterung der Philosophie hinaus und bildet eine Einheit mit den Fragen und Anliegen der Theologie, der großen Religionen, Mytho­ logien und der Weisheit aller Völker. Aus diesem Grund erscheint es in diesem Zusammenhang auch bedeutsam, sich auf Erörterungen Walter F. Furrers und auch auf weitere Schriften Heschels zu besinnen. Ausdrücklich weisen diese Philosophen in ihrem Werk auf die Tren­ nung von philosophischen Werken hin, die sich aus den Kräften des Unbewussten oder Bewussten entfalten. In seinem Werk »Neue Wege zum Unbewussten« betont Furrer, dass die eine Quelle von schöpfe­ rischen Leistungen der Verstand ist, der in heller geistiger Wachheit erkennt, gestaltet, bildet und ordnet. In bewusster Konzentration

56 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

erfasst er das Wesen des zu Schaffenden und bringt es in einer neuen synthetischen Idee zur Anschauung. Die andere Quelle sieht Furrer in der Tiefe der Seele beheimatet. Der schöpferische Prozess beim Genie erscheint Furrer jedoch durch ein vielfältiges Ineinander dieser beiden Grundkräfte gekennzeichnet, wobei die Mischungsverhältnisse der bewussten und unbewussten Vorgänge außerordentlich verschieden sind. In den Leistungen der Philosophen und Künstler, die aus dem Unbewussten schaffen, scheinen Furrer geniale und göttliche Kräfte wirksam zu sein. Um seine Sicht der Kunst und Philosophie aus dem Unbewussten anschaulicher zu machen, verweist Furrer auf den Maler Paul Klee, der in seinen Tagebüchern aus dem Jahr 1918 notiert, dass alles um ihn herum versinkt und seine Werke wie von selbst entstehen. Klee spürt, dass ihm grafisch reife Früchte zufallen, und seine Hand das Werkzeug eines fremden Willens zu sein scheint. Ausdrücklich betont Furrer, dass beim wahrhaft genialen Menschen das individuelle Ich geleitet wird und aus den Tiefen seines inneren Dämons emporsteigt. Furrer vertritt die Auffassung, dass das Große Kunstwerk über dem Persönlichen des Künstlers steht, der es zugleich auch formt und gestaltet. Somit erscheint Furrer das Große Kunstwerk als zeitlos, objektiv und überindividuell. Durch die Kraft des Schöpferischen ist der Philosoph in der Lage etwas Neues, Einma­ liges und Ursprüngliches zu schaffen. Die Größe dieses Philosophen und Künstlers, der aus dem Unbewussten schafft, erblickt Furrer in dessen Fähigkeit, eine neue innere Welt aufzubauen, die er zugleich auch auf die äußere Welt bezieht. Durch diese Wechselwirkung von innerer und äußerer Welt sieht Furrer sich auch die Geschichte der äußeren Welt und Gesellschaft wandeln. Er erfasst, dass dieser Typ des Philosophen und Denkers einen schöpferischen Drang besitzt, aus dem heraus er schafft. Auch die Wirksamkeit seiner Existenz möchte er über seine Lebenszeit verlängern. Ausdrücklich weist sein Schaffen über seine eigene Existenz hinaus. Aus diesem Grund glaubt Furrer, dass der aus dem Unbewussten schaffende Philosoph auch mit einem Seelentraum zur Welt kommt. Seine ganze Begabung dient zur Gestaltung und Ausformung dieses Seelentraumes. Den Sinn seiner menschlichen Existenz erblickt Furrer in der Verkörperung dieses Traumes und seiner Vision durch das Leben, Agieren und Sosein dieses Denkers. Seine ganze Begabung dient nur diesem Zweck, die Furrer als hartnäckig, starr und einseitig erscheint. Dem bedeutsamen Philosophen geht es immer um die Sache. Die Selbstverwirklichung des Genies erscheint Furrer nicht als ein Akt der Vollendung und des

57 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Wachstums. Der geistig orientierte Mensch ist auf die Verwirklichung einer Wertewelt ausgerichtet. Er strebt nach Bestand, geistigem Wan­ del und Wachstum über seine Epoche hinweg. Der äußere Erfolg und Status spielt hierbei eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es in diesen darum eine Tradition, eine Spur und innere Kraft zu gestalten und in beständigem Dialog mit den ähnlichen denkenden und fühlenden Philosophen aller Zeiten zu verbinden. Der Philosoph und Denker, der aus dem Bewussten tätig ist, scheint Furrer aus dem Verstand zu schaffen. Dieser besitzt keine innere Quelle. Seine Philosophie entsteht aus dem Bewussten. Furrer betont, dass dieser Denker nur aus seiner Triebhaftigkeit wirksam ist. Sein künstlerisches Schaffen ist egozentrisch und ichbezogen. Niemals schafft solch ein Künstler oder Philosoph ein bedeutsames Werk, das eine tiefere Wirkung in der Gesellschaft hat. Dem Ansinnen des Menschen, der aus dem Unbewussten schafft, widmet C. G. Jung sein gesamtes Werk, in dem er ausdrücklich daraufhin weist, dass der Mensch sowohl vom Ich wie auch vom Selbst geleitet wird. Den Ich-Komplex sieht C.G. Jung durch die Summe der persönlichen Erfahrungen, die Rolle des Individuums in der Familie wie auch die Bestimmungen und Determinierungen seines persönlichen Charakters diktiert. Das Selbst nennt C.G. Jung durch die familiäre Konstellation der Familie im Kontext der Weltgeschichte, den Zeitgeist, die großen Religionen und Mythologien determiniert. Ebenso scheint es ihm auch bei dem Prozess der Kunstentstehung vor sich zu gehen, bei dem er auch strikt zwischen dem von außen- und innengeleiteten Kunstprozess unter­ scheidet. C.G. Jung glaubt, dass extrovertiertes Schaffen durch das künstlerische Umformen des außen Erlebten entsteht und dass intro­ vertiertes Schaffen durch ein Überwältigtwerden von den Inhalten des Inneren geschieht, das diesem Denker und Philosophen aus der Feder fließt. Ausdrücklich betont er, dass wer mit den Urbildern spricht, mit tausend Stimmen spricht. Zugleich überwältigt und erhöht er auch das Schicksal seiner Zeit und Epoche. Das Einmalige wird in die Geschichte der Philosophie und Mythologie erhoben. Im Werk des Philosophen, der aus dem Bewussten schafft, ist keine Bindung oder Verbindung zum Selbst sichtbar. Das Werk des Philosophen, der aus dem Unbewussten schafft, entsteht, wächst und gedeiht durch die überpersönlichen Kräfte des Unbewussten, der großen Weisheitstra­ ditionen und Religionen aller Völker. Auch in seiner Autobiografie verweist C.G.Jung darauf, dass die menschliche Seele sich primär aus den Kräften des Unbewussten schafft. Aus diesem Grund macht

58 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

er schon im Prolog seiner Autobiografie darauf aufmerksam, dass seine Gedanken um seine Bindung an das höhere Selbst und seinen Glauben an Gott wie die Planeten um die Sonne kreisen. Sein Leben stellt Jung als die Selbstverwirklichung des Unbewussten dar. Auch betont er, dass alles, was im Unbewussten liegt, offenbar werden wird. Auch gibt er zu bedenken, dass das Leben primär durch die innere Gedankenwelt bestimmt und gestaltet werden kann. Schon seit Kindesbeinen spürt er, dass er ein Schicksal zu bewältigen hat und ein Dämon ihn beflügelt, trotz aller Widerstände seinen Weg zu gehen. Dieses Gefühl einer tieferen Stimme, Gewissheit und Schicksalsbe­ stimmtheit verlässt ihn auch in den Zeiten seiner tiefsten Krisen nicht. Überdies verleiht dieser Dämon ihm die Kraft, nicht an diesen inneren und äußeren Widerständen zu zerbrechen, sondern daran zu wachsen und zu entfalten. Auch in seiner größten Krise im Alter von 45 Jahren verleiht diese Stimme und dieser höhere Wille ihm die Kraft, dem Ansturm des Unbewussten standzuhalten, das ihm wie Felsblöcke auf den Kopf fällt und ihm wie ein Donnerwetter erscheint. Wie durch ein Wunder gelangt er durch diesen Sumpf von Gedanken und Gefühlen. Ausdrücklich betont er, dass Nietzsche und Hölderlin an diesem zerbrochen sind. Aus dieser Konfrontation mit dem Unbewussten schafft Jung sein gesamtes Werk, das in diesen Tagen entsteht. Das große Werk entsteht also aus einer inneren Überzeugung und Kraft, die wie von selber aus der Feder des Philosophen fließt. Auch der Stil dieser Werke wirkt oft ursprünglich und sentimental. In seiner Autobiografie erzählt er auch über sein Verhältnis zu Freud. Explizit mahnt dieser Jung, niemals seine Sexualtheorie aufzugeben. Ebenso fordert er von ihm, diese gegen den Schlamm des Okkultismus zu verteidigen. Von Anfang an ist Jung jedoch der Auffassung, dass die Sexualität auch heilige und spirituelle Kräfte in sich trägt. Im Gegensatz zu Freud erblickt er in ihr eine schöpferische Kraft, die mit den göttlichen Kräften vereint ist. Diese unterschiedliche Inter­ pretation der Sexualität steht direkt zu Beginn zwischen Freud und Jung, die schließlich auch den Bruch zwischen beiden auslöst. Noch 1909 reisen Freud und Jung gemeinsam in die USA, um Vorträge zu halten. In dieser Zeit widerfährt Jung sein bedeutsamer Traum mit dem Haus, in dem er das Haus der Seele erblickt und dessen Stockwerke mit Möbeln aus verschiedenen Jahrhunderten bestückt sind. Durch diesen Traum erfasst Jung, dass die menschliche Seele ein mehrdimensionaler Raum ist, indem der Geist der gesamten Menschheitstradition wirksam ist. Ebenso erspürt Jung auch, dass

59 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

die Kraft der Sexualität mehrere Dimensionen beinhaltet, in der er sowohl die Sphäre der triebhaften, geistigen und seelischen Kraft der Sexualität erblickt. Direkt nach dieser USA-Reise beginnt Jung seine Arbeit an dem vierten Band seiner Gesammelten Werke mit dem Titel »Symbole der Wandlung«, in dem Jung die verschiedenen Dimensionen der Sexualität thematisiert, die er sowohl im Ritus der Messe als auch in den Mythologien aller Völker erblickt. Zugleich ist sich Jung bewusst, dass ihm die Publikation dieses Werkes seine Freundschaft mit Freud kosten wird. Vierzehn Tage nach dessen Veröffentlichung distanziert sich Freud von Jung. Diese Trennung von Freud fließt auch unmittelbar in Jungs Werk ein, der er sowohl den vierten als auch Teile des 15. Bandes seiner Gesammelten Werke widmet. Im 15. Band seines Werkes betont Jung, dass Freud kein Philosoph und Psychologe ist, sondern ledig ein Nervenarzt, dem im Gebiet der Philosophie die elementarste Bildung mangelt. Auch im vierten Band nennt er Freud einen Stümper und Zerstörer, der kein Verständnis für die Kräfte der Mythologie hat. Ausdrücklich weist er in diesem Kontext daraufhin, dass es der Babyraupe völlig egal ist, ob sie ihr Salatblatt mit Sexualgenuss verschlingt oder lediglich aus Hunger. Ebenso wie Jung die Kräfte der Sexualität immer auf mehreren Ebenen wirksam sieht, erscheinen ihm auch die Keime der Persönlichkeit sich nie nur auf das Ich oder Aspekte des Selbst zu reduzieren. Immer ist alles ein Wechselspiel dieser Mächte, in dem sowohl die Kräfte des Unbewussten als auch des Bewussten tätig sind. Auch der jüdische Religionsphilosoph Abraham Heschel gibt zu bedenken, dass Philosophieren und Studieren mehr bedeutet, als Wissen und Ruhm zu erlangen; er erblickt in ihnen vielmehr einen Akt der inneren Läuterung und Anbetung. Eine geniale Idee soll vermittelt, gestaltet und wirksam werden. Alle bedeutsamen Werke, die aus diesem Ansinnen geschaffen worden sind, haben maßgeblich die Geschichte der Kulturwissenschaft und Philosophie geprägt, zu denen unter anderem Sokrates, Platon, Sören Kierkegaard, Hannah Arendt und viele andere zählen. Durch ihre jeweils einmalige Art und Weise, individuelles Schicksal, Geschichte, Zeitgeschichte und Politik zu verbinden, haben sie nicht nur die Geschichte der Philosophie und Kultur bestimmt, sondern Zeit- und Weltgeschichte geschaffen. Philosophie ist also mehr als eine bloße Theorie, sondern legt das geistige Fundament kommender Generationen.

60 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

6. Die Bewandtnis der Philosophie und Kunst aus dem Bewussten und Unbewussten im 15. und 17. Band der Gesammelten Werke C. G. Jungs Jung ist ein bedeutsamer Philosoph, der in dem Vermächtnis seines brisanten und brillanten Werkes Kulturgeschichte geschrieben hat. Seinem Schaffen und Engagement ist die Mitbegründung der Tiefen­ psychologie und die moderne Psychologie zu verdanken, die Jungs Vermächtnis an seine Nachwelt ist. In diesem Kontext muss ausdrück­ lich erwähnt und gewürdigt werden, dass die Wurzeln der modernen Psychologie in der Disziplin der Philosophie liegen. Darüber hinaus widmet sich Jung in seinem Werk, insbesondere im 15. und 17. Band seiner Gesammelten Werke, auch dem Phänomen der Entstehung des Kunstprozesses und dem Großen Kunstwerk aus den Kräften des Unbewussten. Ausdrücklich betont Jung, dass das Phänomen der Kunst keine Wissenschaft ist, die wiederum ihrem Wesen nach keine Kunst ist. Das echte Kunstwerk lässt die Kurzlebigkeit seines Schöpfers hinter sich. Es stellt nicht etwas Hergekommenes und Abgeleitetes dar, Jung erkennt in ihm eine Neuschöpfung. Er ver­ gleicht das Entstehen eines Kunstwerkes mit dem Wachstum einer Pflanze. So wie die Pflanze nicht nur ein bloßes Produkt des Bodens ist, sondern ein in sich selbst ruhender, lebendiger und schöpferischer Prozess, so ist auch das Kunstwerk ein autonomer und kreativer Prozess der Selbstentfaltung. So ist auch jeder Philosoph wie ein sich in ruhender Zenit und Prozess, der sich im Verborgenen trotz aller Widerstände immer wieder neu entfaltet. Jung betont, dass es Kunstwerke gibt, die sich ihrem Schöpfer förmlich aufdrängen, sie zwingen ihn dazu, in ihrem Sinne tätig zu werden. Das Werk bringt seine Form mit sich, es diktiert dem Künstler sein Vorgehen, es führt die Regie, dass scheinbar wie von selbst zu Papier gebracht wird und fließt. Wie das Kunstwerk, so steht auch der schöpferische Mensch als lebendiges Rätsel vor Jung. Er vermutet eine Dualität oder Synthese paradoxer Eigenschaften in ihm am Werke. So muss der Künstler einerseits sein Leben in der Normalität des Alltags bewältigen, andererseits es in seine künstlich-fantastische Welt trans­ portieren. Dieser Zwiespalt macht die Tragik vieler Künstler aus, denn sie können sich der Kunst nur ergeben unter gewaltigen Schmerzen und Entsagungen. Der künstlerische Trieb wird aus dem Unbewussten geboren, er ist launisch und eigenmächtig. Der schöpferische Drang ist oftmals so groß, dass sich alles Menschliche dahinter zurückzieht,

61 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

oftmals muss der Künstler auf Kosten seiner Gesundheit und seines Glückes seine Werke schaffen. In seiner göttlichen Raserei sieht Jung eine gefährliche und reale Beziehung zum Krankhaften, ohne jedoch mit ihm identisch zu sein. Vielmehr scheint es so als ob sich Themen, die in der Geschichte einer Zeit stiefmütterlich behandelt worden sind, in einzelnen Personen sammeln und in ihren Werken bündeln, um neue Wege und Denkanstöße in Bewegung zu setzen. Die Welt des Dichters erscheint ihm als die Welt der gelösten Probleme, die Wirklichkeit dagegen charakterisiert er als das unge­ löste Problem. Im Geisteskranken erblickt Jung ein getreues Abbild dieser Wirklichkeit. Seine Lösungen sind unbefriedigende Lösungen, seine Heilung ein temporäres Aufgehen des Problems, das ungelöst in den Tiefen des Unbewussten weiterarbeitet und zu seiner Zeit wieder zur Oberfläche emporsteigt, um mit neuen Szenerien neue Illusionen zu schaffen. Der schöpferische autonome Komplex lebt im kollektiven Unbewussten des Künstlers, seine Bilder sind Gemeingut der Menschheitsgeschichte. Diese Bilder oder diesen Archetypus charakterisiert Jung als Figur und Dämon, der sich im Laufe der Menschheitsgeschichte wiederholt und immer dort zutage tritt, wo die schöpferische Fantasie frei tätig ist. Diese Bilder sind daher in erster Linie mythologische Figuren, sie sind der Niederschlag der Ahnenreihe und schildern Millionen individueller Erfahrungen. Darüber hinaus vertritt Jung die Auffassung, dass der Philosoph, Künstler und Denker, der aus der Kraft des Unbewussten schafft, aus der Macht der Urbilder mit tausenden Stimmen spricht. In diesem dynamischen Prozess wird er von diesen Stimmen zugleich überwäl­ tigt, ergriffen und erhöht. Dadurch, dass solch ein Philosoph sein persönliches Schicksal in den Prozess der Entstehung seines philoso­ phischen Werkes involviert, erhöht er sein persönliches Schicksal in die Geschichte der Philosophie- und Kulturwissenschaft und erlöst ein Stück menschlicher und individueller Geschichte zugleich. In diesem Kontext muss ausdrücklich noch einmal auf die Werke Sokrates’, Hannah Arendts und vieler andere Philosophen verwiesen werden, die aus dem Leben und aus den unbewussten Kräften ihr Werk geschaffen haben. Sowohl durch ihr Leben, Werk und ihr persönliches Engagement haben sie nicht nur Zeitgeschichte geschrieben, sondern auch das Schicksal ihrer Zeit maßgeblich beeinflusst und geprägt. In ihren Werken gestalten diese Philosophen ihr Schicksal, ihr Leben und ihr Leiden an der Zeit.

62 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

7. Die Individuation bedeutsamer Philosophen und Denker wie Sokrates, Plato usw. aus der Sicht des Individuationsprozesses der Tiefenpsychologie C. G. Jungs Entgegen der These Friesens zur Geschichte der Philosophie als Wiederkehr des Gleichen wagt dieser Aufsatz die Gegenthese zu dieser Interpretation. Dieser Aufsatz steht unter der revolutionären Mutmaßung und Behauptung, dass die Geschichte der Philosophie sich jeweils in den Werken einzelner Denker und Philosophen ent­ faltet, in denen das Schicksal, die Konflikte und das Geschehen der Zeit sich manifestiert. In ihrem philosophischen Schaffen greifen diese Philosophen die Herausforderungen der aktuellen Politik und Zeitgeschichte auf, die sie in ihrem eigenen Leben erleben. Somit stellt ihr Werk, das oft am Rande des Todes, Krieg, Verfolgung oder anderer fürchterlicher Missstände entsteht, lediglich eine indivi­ duelle Antwort auf die kollektiven Probleme einer Generation und Zeit dar. Durch die gesamte Geschichte der Philosophie und Kultur zieht sich diese Lichterkette der bedeutsamen Philosophen, die ihre philosophische Welt mitten aus dem Chaos des Lebens und ihres Leidens an diesem gestalten. Die Geburtsstätte großer Philosophie wird hiermit das Erleiden von einer kaum ertragbaren Not, aus der sich eine Notwendigkeit entwickelt, zu schreiben, zu denken und philosophisch tätig zu sein, um den Lebenskampf zu bestehen. Leben und Werk Hannah Arendts sollen an dieser Stelle als Beispiel für eine Denkerin genannt werden, deren Werk aus dem Leben entsteht, indem sie sowohl ihr Schicksal als Jüdin, als Frau und Philosophin zu gestalten versucht. Überdies greift sie auch die Problematik des Hitlerregimes, seiner Vasallen und des Elendes auf, das das Dritte Reich den Juden, Deutschland und der Welt gebracht hat. In jedem ihrer Werke schreibt sie über eines dieser historischen Phänomene. Dies geschieht zum Beispiel in ihrem Werk über den Eichmann-Pro­ zess, welches ihr den internationalen Durchbruch als Journalistin und Philosophin verschafft, in dem sie Eichmann als einen banalen Hanswurst charakterisiert (sie beschreibt banale Gleichgültigkeit, spricht von einem »Jedermann« bzw. von »Jedermännern«). Arendts Werke entstehen somit mitten aus dem wirklichen Leben, tragen autobiografische Züge und setzen sowohl in der Philosophie- als auch Zeitgeschichte Maßstäbe. Zu Recht gilt sie noch heute als eine der wenigen bedeutsamen Frauen, die Kulturgeschichte geschrieben

63 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

haben. Ihr Werk und Handeln besticht durch ihren Mut und ihre Kraft. In der Welt der Wissenschaft wird oft bemängelt, dass ihr Werk nicht wissenschaftlich im eigentlichen Sinne ist und nicht rein von wissen­ schaftlichen Terminologien gestaltet und bestimmt wird. In Wahrheit stellt es jedoch ein Werk von höchster wissenschaftlicher Brisanz und Klarheit dar, das die großen Themen der Menschheit aufgreift. Dies geschieht in einer ungeheuren lebendigen Art und Weise. Oftmals kann man den Eindruck gewinnen, dass Arendt über dem Abgrund tanzt und gleitet. Indem sie ihr Schicksal als Jüdin in ihrem Werk gestaltet und offenbart, erlöst sie ein Stück Zeitgeschichte. Durch ihre außergewöhnliche geistige und seelische Kraft wird Arendt zur Reformerin und Macherin ihrer Zeitgeschichte. Zugleich wird sie auch zu einer Symbolfigur des aufgeklärten Judentums und der befreiten intellektuellen Frau. So wie Arendt ihr persönliches Schicksal in ihrem philosophischen Werk gestaltet, so schaffen auch Sokrates, Kierkegaard, Jung und viele andere Denker ihr Werk aus ihrem Schicksal, indem sie ihrem Dämon folgen. All diese Philosophen schaffen ein außergewöhnliches Werk, mit dem sie zugleich Philo­ sophie- und Kulturgeschichte gestalten. In ihrem Leben und Werk geschieht etwas Ungewöhnliches und es vollzieht sich ein besonderer Prozess, den Jung mit dem Terminus der »Individuation« in seinem Werk thematisiert. Den 15. und 17. Band seiner Gesammelten Werke widmet er sogar ganz und gar dem Phänomen der Entstehung des Kunstprozesses aus den Kräften des Unbewussten. Jung selbst misst dem Individuationsprozess größte Bedeutung bei. Die großen Ereig­ nisse der Weltgeschichte nennt er belanglos, wesentlich erscheint ihm nur das Leben des Einzelnen, dieses allein macht Geschichte. In dem Prozess der Individuation finden seiner Meinung nach alle großen Wandlungen der Weltgeschichte statt, so sieht er auch in der Heilung des einzelnen Menschen sich die Heilung der ganzen Welt vollziehen, in dem privatesten und subjektivsten Lebensbereich des Einzelnen findet also der Fortschritt der Menschheit statt! Indem der Mensch sein Leben gestaltet, wird er laut Jung der Macher und Reformer seiner Zeitgeschichte. Der Mensch, der den Weg der Individuation geht, entwächst der Masse Mensch. Er verlässt das Kollektiv und nimmt, indem er eine individuell denkende Einzelperson wird, eine Schuld auf sich, die sich vorher hinter der Masse verstecken konnte; diese wächst jedoch mit jedem Schritt der Individuation heraus. Die Gefahr bei diesem Prozess der Selbstfindung, der sich der Mensch bewusst sein muss, liegt darin, dass er sich auf seine innere Welt konzentrieren

64 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

muss, sich dabei aber nicht in dem Kloster seines Selbst verschließen darf. Aus diesem Grund fordert Jung, dass er positive Werte für die Gesellschaft schaffen muss, ansonsten wird der nach Individua­ tion Strebende von ihr verachtet und gehasst. Nur der Mensch, der schöpferisch tätig ist, kann in Jungs Augen positive Werte und Ideen ins Leben rufen. Wer nur egoistische und narzisstische Motive pflegt, ist für Jung ein Schädling und Wichtigtuer, mit Recht wird er von der Gesellschaft verachtet. Im Unbewussten erkennt Jung die Kollektivpsyche der Gesellschaft, sie repräsentiert das Bewusstsein der Sozietät. Der Gegenpol zur Kollektivpsyche ist der Gottesbegriff. Um sich selbst finden zu können, muss das Individuum sich ganz und gar für Gott entscheiden. Wenn der Mensch dies nicht tut, wird er schuldig und verfällt der Hölle. Der Mensch, der mit und vor Gott zum Einzelnen werden will, trägt die Kraft und den Mut in sich, vor Gott und den Menschen den Weg seiner Selbstwerdung zu gehen, er kann bestehen. Der Weg der Individuation repräsentiert für Jung ein hohes Ideal, er ist die Idee vom Besten, Jung sieht in ihrer Entwicklung das urchristliche Ideal vom Reich Gottes. Sie stellt Monumente der eigenen Zeit-, Welt- und Kulturgeschichte dar, die diese beseelen und den Fortgang der Weltgeschichte forcieren.

8. Der Inhalt der bedeutsamen Philosophie Des Weiteren stellt Friesen in seinem Aufsatz die These auf, dass die Entwicklung der Philosophie gar nicht als Fortschrittsprozess ver­ standen werden darf, sondern die relative Wiederkehr einer Gegen­ sätzlichkeit ist, die in der Geschichte auf verschiedenen, jedoch gleich gültigen Gebieten eine Auseinandersetzung gefunden hat. Trotz einer über 2500 Jahre langen Tradition mit zahllosen unterschiedlichen Positionen, Denkrichtungen und Schulen sieht Friesen sie sich mit bestimmten Grundfragen immer wieder aufs Neue beschäftigen. Ein wesentliches Charakteristikum von Philosophie erblickt er gerade darin, dass bestimmte Fragen eben nicht in einer linearen Fortschritts­ geschichte nach und nach endgültig beantwortet werden können. Im Gegenteil, diese Fragen müssen stets aufs Neue, sowohl vor dem Hintergrund der Geschichte als auch vor den aktuellen Problemen der Gegenwart, verhandelt werden. Dabei unterscheidet Friesen zwi­ schen Form und Inhalt. Auf der formalen Ebene sieht Friesen den »Gegensatz« immer wiederkehren, auf der inhaltlichen Ebene erblickt

65 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Friesen eine Weiterentwicklung im Sinne einer »Erneuerung«, einer »Ersetzung« oder »Fortsetzung«. Wie Heraklit vertritt Friesen die Auffassung, dass die Welt durch Gegensätze geprägt ist. Diese Gegen­ sätze stehen für Friesen jedoch nicht isoliert in der Welt, denn wie Heraklit vertritt Friesen die Auffassung, dass diese Gegensätze durch die Kraft des Logos miteinander vereint werden. Wenn der Logos die Gegensätze wie beispielsweise die von Krieg und Frieden, Krankheit und Gesundheit, Nacht und Tag umfasst, bedeutet das, dass der Streit zwischen den Gegensatzseiten in geordneten Bahnen verläuft. Der endgültige Sieg einer Seite über die andere erscheint Friesen dadurch ebenso ausgeschlossen, wie die Aufhebung des Streits in einer höhe­ ren Synthese. Der Streit der Gegensätze erscheint ihm insofern als ein immerwährender Streit. Ohne ihn würde Heraklit zufolge die Welt aufhören zu existieren. Das philosophische Ansinnen dieses Aufsat­ zes steht jedoch unter der These, dass die Geschichte der Philosophie in jeder Epoche und Zeitgeschichte völlig neue gedankliche Gebäude, Bilder und Denker hervorbringt. Jeder Philosoph und Denker stellt hierbei einen völlig neuen philosophischen Kosmos zur Diskussion und eröffnet einen neuen Blick auf die Welt und ihre Geschichte. Diese Werke der Philosophen, die ihre Philosophie aus den Kräften des Unbewussten schaffen, finden zwar in der Auseinandersetzung und Reflexion bezogen auf die jeweils zwei großen Stilrichtungen der Philosophie statt, die sich in Platon und Aristoteles erweisen, stellen dabei weit mehr als eine Erneuerung, Ersetzung oder Fortsetzung des Gedankengebäudes Platons oder Aristoteles’ dar: Sie sind völlig neue und einmalige Beiträge zur Geschichte der Philosophie. Von Arendt ist zwar bekannt, dass sie in ihrer Studienzeit die Werke Sokrates’, Platons, Aristoteles’ usw. gelesen und einem ausführlichen Studium unterzogen hat, insofern ist ihr Denken und philosophisches Schaffen selbstverständlich von den Gedanken Sokrates’ und Platons beeinflusst. Jedoch stellt es keine Erweiterung oder Modifikation des Werkes Platons dar, sondern repräsentiert einen völligen Neuent­ wurf, der stilistisch, gedanklich und auch in seiner Botschaft und Art der philosophischen Erörterung keine Spur der Ähnlichkeit mit dem Werk Platons oder anderer antiker Autoren aufweist. In ihrem Werk über Sokrates, dem eine zweistündige Vorlesung über Sokrates zugrunde liegt, stellt sie dessen Gedanken infrage. In dieser Vorlesung spricht sie über das Gedankengut Sokrates’ und behauptet zugleich, dass Philosophie eine Begabung ist, die jedem Menschen zu eigen ist. Über Sokrates’ Schicksal gibt Arendt zu bedenken, dass Sokrates nicht

66 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

bereit war, die Machtspiele der Führungselite Athens mitzumachen, und er mit seinen ergründenden Fragen den Bürgern der Stadt auf die Nerven ging. Vor allem den Mächtigen ist er ein Anstoß. Darüber hinaus vertritt Platons Sokrates die Auffassung, dass den Philosophen die Macht in der Politik und in der Stadt zusteht. Diese Ansicht kritisiert Arendt, die der Meinung ist, dass jedem Menschen die Gabe der Reflexion und der Ausdrucksfähigkeit gegeben ist. Jeder Mensch erscheint ihr beständig im Gespräch mit sich selbst zu sein. Jeden Gedanken eines Menschen erachtet die Philosophin als wertvoll. Ausdrücklich betont sie, dass nicht nur in den Gedanken der Philo­ sophen Weisheit und Sinn vorhanden ist, sondern alle Menschen sinnvolle Gefühle und Ansichten haben. Die ganze Welt sieht sie in einem beständigen Gespräch, das ihren Gang forciert. Niemand erscheint ihr als der Gralshüter einer großen erhellenden Weisheit und Wahrheit. Die Welt der Philosophie charakterisiert Arendt als eine Sphäre der Liebe und Hingabe zu und an die Welt, die sich besonders in der Kraft der Liebe und Freundschaft äußert, in der sie die Liebe zur Welt erblickt. Wie Sokrates, Platon und Aristoteles vertritt Arendt die Auffassung, dass das Staunen die Voraussetzung aller philosophischen Tätigkeiten ist, die den Menschen in eine Art Sprachlosigkeit führt. Gerade dieses Staunen jedoch scheint ihr in der Seele des Menschen erst die Fähigkeit zu entfalten, eine eigene Sprache zu entwickeln und den Dialog mit sich, den Mitmenschen und der Welt zu suchen. Energisch wendet sich Arendt gegen die Ansicht Platons, der den Menschen die Welt nur in Abbildern wahr­ nehmen sieht. Ausdrücklich betont Arendt, dass jeder Mensch durch seine Fähigkeit, seine eigene Sprache zu entwickeln, das Staunen vor der Welt gestaltet und überwindet. Dadurch lebt er nicht mehr in Abbildern von Ideen und ist zugleich auch nicht mehr abhängig von der Meinung anderer Menschen. Dadurch, dass er den zunächst vorherrschenden Zustand des Staunens durch sein eigenes Denken und seine eigene Sprache überwindet und durchbricht, sieht Arendt ihn erst zum Menschen werden. Mithilfe seiner Sprachfähigkeit gelingt es ihm nun Freundschaften zu finden und sein Verständnis von Liebe zu gestalten. Philosophie ist für Arendt entsprechend nicht eine Begabung, die nur dem großen Philosophen zu eigen ist, sondern erscheint ihr als eine Kraft, die jedem Menschen die Fähigkeit gibt, sein Leben zu gestalten. Philosophie ist für sie also eine Liebe zur Weisheit, die Arendt als eine schöpferische Energie erfährt, die den Menschen Freundschaft, Liebe zur Weisheit, eine Leichtigkeit, Glück

67 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

und Zuversicht verleiht. Sie wird somit zu einer Lebenshaltung, die jeder Mensch jeden Tag in seinem alltäglichen Schaffen und Leben gestalten und erfahren kann. Arendt lebt und erfährt die Sphäre der philosophischen Wissenschaft somit als eine Liebe zur Weisheit, zu sich selber und zum Nächsten, aus deren Kraft und Lebensfreude sie auch ihr Leben und ihr Leiden gestaltet und transzendiert. Diese ist für sie demgemäß eine lebendige Kraft, die in jedem philosophischen Werk einen völlig neuen Niederschlag findet, der aus einem seeli­ schen Prozess entsteht. Dieser geschieht zwar jeweils in Anlehnung an die großen Werke bedeutsamer Denker wie Platon und Aristoteles und ihrer philosophischen Werke, stellt jedoch hierbei eine gewaltige Modifikation dieser Gedankenwelten und jeweils einen einmaligen und neuen Offenbarungs- und Läuterungsakt dieser Philosophen dar.

9. Repräsentanten der Philosophie aus dem Unbewussten Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes soll nun auf das Leben und Werk der bedeutsamen Philosophen eingegangen werden, die diesen Prozess der Individuation in ihrem Leben erfahren haben, um diesen dann schöpferisch in ihrem Werk zu gestalten und zu wandeln. Seit dem Beginn des geistigen Lebens auf Erden zieht sich die Lichterkette und Spur dieser Philosophen, Denker und Kulturwissenschaftler durch die Geschichte der Menschheit, die sich unter anderem in dem Werk Sokrates’, Platons, Aristoteles’, Kierkegaards, Arendts und vieler anderer Philosophen offenbart. Bevor jedoch das Leben und Werk dieser bedeutenden Philosophen zur Sprache kommt, soll hier in einem kurzen Exkurs das Leben und Werk des Haaner Dichters und Schriftstellers Emil Barth zur Sprache kommen. Grundsätzlich hält Barth jeden Menschen befähigt, Erinnerung zu leisten. In beson­ derem Maße betrachtet er es aber als Aufgabe des Künstlers, sich allem dahinraffenden Vergänglichen zu stellen. Hierbei erscheint ihm der Dichter als ein Gefäß der Läuterung, in dem Zerstörbares in Unzerstörbares verwandelt wird. Materie in Geist zu verwandeln ist seine Bestimmung, die ihm von der Schöpfung zugedacht ist. Dieser hohen Anforderung muss er sich stellen, was sie fordert, muss er erdulden. Mit all seinem Herzblut erleidet solch ein Denker und Philosoph diesen Prozess der Läuterung. Zugleich vollzieht sich in seiner Person ein moralischer Reifungsprozess, der ihm Zucht und Strenge auferlegt. Bis diese Form der Kunst, Philosophie oder

68 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

Kultur gelingt, erlebt der Kulturschaffende einen langen und zähen Läuterungsprozess. Die meisten Dichter erscheinen Barth lediglich als Handwerker. Von einem wirklichen Denker und Kulturschaffenden erwartet Barth, dass er diesen seelischen Wandlungsprozess erlebt, in dem zeitweise Leben und Werk als zwei unvereinbare Größen gegenüberstehen. Bis sein Schicksal in Kraft, Schöpfung und Vision verwandelt ist, sieht Barth den Kulturschaffenden in einer absoluten Konzentration auf das Wesentliche leben. Seine gesamten seelischen Kräfte sammeln sich auf den Moment hin und sehnen sich nach Erlösung durch sein künstlerisches Schaffen, um auf diese Weise Zerstörbares in Unzerstörbares zu verwandeln. Ebenso gibt Barths Tagebuch Aufschluss über die Entfaltung der Erinnerungskraft, in deren Präludien Barth erzählt, dass nicht ein einziger Tag vergehe, an dem er nicht fürchterliche Folter, Krieg und Gewalt erlebe. In jeder seiner zahlreichen Meditationen hält Barth fest, dass er beständig um sein seelisches Überleben kämpfe. Erst in seiner Meditation vom 31.12.1943 notiert Barth, dass nun endlich der Moment gekommen sei, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fallen und all sein Schmerz in das Gesetz des großen Werdens und Verge­ hens gegangen ist.

10. Bedeutende Philosophen, die aus dem Leben und der Kraft des Unbewussten geschrieben haben In seinem Tagebuch »Lemuria« betont Barth, dass er in den Werken Hölderlins, Novalis’ und Goethes die edelsten Tropfen der Mensch­ heitsgeschichte erkennt, in denen der feine Geist kultiviert und tradiert wird, der die Weltgeschichte bewegt. Allein durch diese Lichterkette der bedeutsamen Philosophen, die aus dem Unbewuss­ ten geschaffen haben, sieht Barth sich die Welt wandeln und geisti­ ges und kulturelles Leben geschehen. Sowohl in dem Leben und Wirken Sokrates’, Platons, Sören Kierkegaards, Jean-Paul Sartres, C. G. Jungs und auch Hannah Arendts vollzieht sich für Barth Weltgeschichte. All diese Denker und ihr Schaffen sollen nun im Folgenden kurz dargestellt werden, das die Geschichte der Philosophie und Kultur maßgeblich bestimmt hat, und aus deren Wirken sowohl das Vermächtnis der Tiefenpsychologie, der modernen Psychologie, des Existenzialismus als Lebensform und Philosophie als Teil des Kulturjournalismus hervorgingen. In diesem Kontext muss auch

69 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

darauf hingewiesen werden, dass in der Antike die Philosophie die Mutter aller Wissenschaften war, aus der alle anderen Wissenschaften entstanden sind, zu denen unter anderem die wissenschaftlichen Dis­ ziplinen der Medizin, Juristik, Theologie, Astrologie und der gesamte Bereich der Naturwissenschaften zählen. Diese ersten Philosophen verstanden sich als Vordenker und Vermittler des Mysteriums der Sphäre der Philosophie und des Göttlichen, die die Läuterung der Seele, die freudige Begrüßung des Todes, die Kraft, mit dem Jenseits in Verbindung zu treten und die Fähigkeit, zu rasen verkündeten.

10.1. Sokrates Sokrates, der Ortlose, der Fremdling, der Sonderling und die unange­ passte Existenz, in dessen Leben und Werk viele Philosophen den Typus des Philosophen schlechthin erblicken, erscheint vielen Philo­ sophen als das Urbild des Denkers. Zugleich erblicken viele in ihm eine absurde Existenz, einen Aufwiegler und eine anstößige Erschei­ nung. Im Jahr 469 v. Christus wird Sokrates als Sohn eines Stein­ metzes und einer Hebamme geboren. Als freier Bürger erlebt er die Blütezeit seiner Stadt, in der er den Dialog mit ihren Bürgern sucht. Seine Lehre gilt als Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie, denn im Fokus der sokratischen Philosophie steht die Frage danach, was es heißt, ein Mensch zu sein und wie man die richtige Existenz ausfüllt und die richtige Lebensweise entfaltet. Seine Philosophie charakterisiert Sokrates als Hebammenkunst, durch die nicht Wissen vermittelt, sondern wiederentdeckt wird. Seine Methode ist der offene Dialog, in dem er versucht, seine Zuhörer ins Gespräch zu ziehen und sie herausfordert, sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Welt der Philosophie erscheint ihm als eine Kinderei, etwas Nutzloses, ein Taumel und ein Weg zur Weisheit, der seinen Anfang nicht im Wissen hat, sondern in einer Erschütterung, die die Person verwandelt. Sokrates, der Sonderling und Kauz, der seinen Beruf, seine Familie und seine äußere Inszenierung vernachlässigt, erblickt in der Kraft der Philosophie die Sorge um die Seele, die auf dem Marktplatz in Athen gemeinsam mit den Bürgern kultiviert wird. Philosophie vollzieht sich für Sokrates als eine Form des Dialoges der Seele, die sich in Meditationen, Dialogen und Aufzeichnungen vollzieht. Ausdrücklich steht die Sorge um die Seele im Vordergrund der sokratischen Philo­ sophie, in der es Sokrates primär nicht um Politik, sondern um die

70 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

Verantwortung für die eigene seelische Gesundheit und das eigene Leben geht. Philosophie wird somit zu einem Weg der Weisheit und Offenbarung, der im alltäglichen Leben gestaltet wird. Die von Sokrates ins Leben gerufene Methode des offenen Dialoges leitet eine Revolution in der Geschichte der Philosophie ein. Bis heute ist sie eine anerkannte Methode der Gesprächstechnik, die die Geschichte der Gesprächsführung einem gewaltigen Wandlungsprozess unterzogen hat. Auch heute noch ist das Sokratische Gespräch keine Fiktion. Es ist weder Nostalgie noch Utopie, sondern eine philosophische Praxis, die Jahr für Jahr an verschiedenen Orten von einer wachsenden Zahl von Menschen realisiert wird. Bis heute dient das Sokratische Gespräch als Vorlage der philosophischen Unterrichtspraxis und auch der psychotherapeutischen Gesprächsführung. Nach Sokrates, der diese Gesprächstechnik primär in Dialogen auf dem Marktplatz in Athen gestaltete, greifen es sowohl Platon als auch Aristoteles in ihren philosophischen Schriften auf. Im Mittelalter kommt der Rolle des Sokratischen Gesprächs keine große Bedeutung zu. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts erlangt das Sokratische Gespräch erneut eine tragende Rolle. Leonard Nelson und Gustav Heckmann entdecken es quasi neu. Nelson erscheint der Sokratische Dialog als eine Forde­ rung nach Selbstbestimmung des Menschen, die ihm das Ideal der pädagogischen Selbstbestimmung vermittelt. 1922 gründet Nelson die philosophisch-politische Akademie. Er trägt zur Entwicklung des Sokratischen Gespräches entscheidend bei, indem er es in den Bereich der Erwachsenenbildung und des politischen Diskurses einbindet. Auch in der modernen Psychotherapie kommt ihm eine entscheidende Rolle zuteil. Sokrates’ Lehrtätigkeit besteht im Gespräch, in welchem er dem interessierten Zuhörer vermittelt, dass sein Geborenwerden durch die Mutter nicht reicht. Ausdrücklich betont er, dass der Mensch einer weiteren, zweiten Geburt durch den Geist bedarf. Durch die erste Geburt erhält er das Leben und durch die zweite Geburt seine Identität. Ausdrücklich gibt Sokrates selber zu bedenken, dass sein Ansinnen die Sorge um die Seele ist, zunächst jedoch nicht die Politik. Der Mensch soll gut sein und sinnvoll leben. Zugleich ist er einer der ersten und bedeutenden Denker, der die Geschichte der Philosophie maßgeblich bestimmt hat. Für ihn ist Philosophie die Mutter der Wissenschaften, die Sokrates zugleich als das Fundament des politischen Geschehens, der Welt der Kultur und Literatur sowie auch als Wiege der Psychotherapie gilt. Die Philosophie des Sokrates ist ein inhaltliches Wissen, das den ganzen Menschen organisiert

71 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

und erfasst und gewiss auch wegweisend für die gesamte Bildung der Zukunft sein wird. Philosophie ist somit mehr als Theorie, sondern eine Art des Psychotherapie und Besinnung.

10.2. Platon In den Werken Platons findet dann eine erste Niederschrift und Zusammenfassung der Gedanken Sokrates’ statt. In seiner Lehre versucht Platon die Gedankenwelt Sokrates’ zu modifizieren und zu gestalten. Platon wird 427 v. Chr. in Athen unter dem Namen Aristokles geboren, den Namen Platon (»der Breite«) erhält er erst später. In seiner Jugend betätigt er sich als Dichter, seine Werke haben allerdings nicht überdauert, er hat sie selbst vernichtet. Als er 407 Sokrates begegnet, gibt er seine eigenen künstlerischen Bestrebungen auf und begleitet den großen Griechen bis zu dessen Tod, wird in der Folge dessen Sprachrohr. Seine Ideen spiegeln sich in der Philosophie Platons. Reisen führen Platon in der Folge nach Unteritalien und Sizi­ lien, wo er wegen Streitigkeiten ob der Staatsführung des Tyrannen Dionysos dem Älteren von diesem gefangen genommen wird. Auf dem Sklavenmarkt von Aegina findet er sich wieder, wo ihn der Hedo­ niker Annikeris loskauft. Platon kehrt desillusioniert nach Athen zurück und gründet im Hain Akademos eine Schule, die »Akademie«. Weitere Reisen nach Sizilien folgen, immer mit dem Ziel, seine Staatsidee zu realisieren. Erfolg ist ihm nicht beschieden, vielmehr ist als Ergebnis seiner letzten Reise wieder seine Inhaftierung zu vermelden, diesmal durch Dionysos den Jüngeren. Aus dieser wird er erst durch die Vermittlung gewichtiger Freunde entlassen. Nach Athen zurückgekehrt, stirbt er dort 347 v. Chr. Nach dem Tod von Sokrates versucht Platon in seiner Lehre Mythen zu schaffen, die ihm die Seele retten sollen und widmet sich großen Themen der Religion und des Glaubens. Der Sinn des Lebens ist für ihn Vergeistigung und Läuterung der Seele. Den Menschen versteht er als ein wundersames Wesen, das aus der Güte Gottes lebt. Das Individuum hat durchaus dualen Charakter, gehört es doch sowohl der Welt der Idee als auch der der wandelbaren Dinge an. Durch die Gabe der Vernunft partizipiert es an der Ideenwelt, der Körperwelt gehört der Leib. Die platonische Philosophie will den Logos akzentuieren. Auf welchem Wege kann die Seele dieses Vorhaben realisieren? Sie muss sich vom Körper lösen, um in die Welt der reinen Idee zurückzukehren. Die Abbilder der

72 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

Welt haben keinen Glanz, in der Schönheit der Idee strahlt jedoch die Ewigkeit wider. Platons wesentliches Anliegen ist die Erkenntnis des Guten und Wahren. So findet er in der Idee des Guten die gesamte Schöpfung vereinigt, sie forciert den Gang der Welt. Die Welt der Sinne strebt nach der Vollkommenheit des Urbildes, der Idee, sie sehnt sich nach dessen Schönheit. Das Leben des Menschen ist für Platon lediglich eine Teilhabe an dieser Uridee, in der der Mensch das Sein, das er durch die Gnade der Uridee erhalten hat, lebt. Das Ziel der Menschenseele sollte aber sein, Gottähnlichkeit zu erreichen. Der Weg dahin ist nach Platon möglich. Was Not tut, ist das Eingreifen der Vernunft. Die Seele, teils verankert in der Sinnenwelt, teils etabliert in der Ideenwelt mittels der Vernunft, muss sich der Fesseln entledigen, die ihr auf dem Weg von der Sinnenwelt in die Welt der Ideen auferlegt sind. Eminent wichtig ist die Befindlichkeit der Seele, denn nach Meinung Platons handelt es sich dabei zwar um eine unsichtbare, aber undurchsichtige Wesenheit, sie ist gleichzeitig Anfang und Ende der menschlichen Existenz. Zurück in das Reich der Ideen darf sie erst, wenn die Vernunft den Sieg über die Triebhaftigkeit des Menschen erlangt hat. Möge es ihr in einem Lebenszeitraum gelingen, wenn nicht, muss sie durch diverse Leiber wandern, bis sie ihre ideelle Reinheit wiedererlangt hat. (Der Gedanke der Seelenwanderung geht wahrscheinlich zurück auf eine pythagoreische These). Die Aufgabe des Lebens besteht für Platon im Wissen und Schauen der ewigen Welt, der Welt der reinen Idee, durch die der Mensch die Nahrung erhält, die er zum Überleben benötigt. Das gesamte Leben ist für ihn gerichtete Bewegung dorthin. Allerdings sollten im realen Leben die natürlichen menschlichen Fähigkeiten nicht vernachlässigt werden, die da sind: Vernunft, Denkfähigkeit mit Sitz im Kopf, Gefühl mit Sitz in der Brust und Begierde mit Sitz im Unterleib. Was das Wesen des Einzelnen betrifft, das gilt in Gänze auch für das Staatswesen, auch das funktioniert nur, wenn der Einzelne den Platz einnimmt, der ihm aufgrund seiner Bildung zusteht. Platon geht hier von drei wesentli­ chen Säulen aus. Der oberste Stand wird vertreten durch Philosophen oder Könige. Sie allein sind im Besitz des tieferen Verständnisses vom Wesen aller Dinge und somit Garanten einer guten Herrschaft. Als zweiter Stand sind Krieger oder Wächter genannt. Sie bewachen u. a. die tugendhafte Entwicklung der Jugend, sind als Organ gedacht, den guten Ideen des Staates zur Durchführung zu verhelfen. Der dritte Stand ist quasi als Sammelbecken gedacht, aus dem sich Staatsdiener requirieren lassen. Sie sollen mit ihrem Körpereinsatz das gedeihliche

73 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Staatswesen garantieren. Der gerechte Staat funktioniert nur dann, wenn die drei Stände ihre vorgeschriebenen Positionen wahrnehmen. Dieser platonischen Idee vom gerechten Staat konnte in Realität kein Erfolg beschieden sein. Einerseits lag es an der Ungeduld des Tyrannen Dionysos, der der Neuorientierung keine Zeit zugestand, anderseits war die Idee vom funktionierenden Staatswesen unter dem Motto »Gerechtigkeit für alle« eine Utopie, die Realität konnte diesem Anspruch nicht gerecht werden, denn sie muss dem Interesse eines jeden Tyrannen entgegenstehen, hätte er doch seine Macht aus der Hand geben und auf viele Schultern verteilen müssen. In seiner Staatstheorie, ebenso wie in seiner gesamten Philosophie, tritt Platons idealistische Grundhaltung zutage. Ethik soll das Leben des Einzelnen wie auch der Menschheit insgesamt bestimmen. Dabei macht er keine Unterscheidung zwischen leblosen und lebendigen Dingen, zwischen organischem und anorganischem Sein: Alles muss sich der Idee des Wahren, Guten, Schönen unterordnen, um auf diesem Wege Vollkommenheit und Göttlichkeit zu erreichen.

10.3. Sören Kierkegaard Sören Kierkegaard ist der Wegbereiter der modernen Existenzphilo­ sophie, die er selbst jedoch zunächst noch in dem Leben des Einzelnen in Gott erblickt. In seinen Tagebüchern hält Kierkegaard fest, dass er allein in seinem Glauben an Gott Identität und Halt gewinnt, die er in den Menschen nicht findet. Mit diesem gedanklichen Ansatz ent­ steht die moderne Existenzphilosophie, die das Individuum in den Vordergrund stellt. Ausdrücklich wendet sich Kierkegaard von der Bewusstseinsphilosophie Hegels und deren begrifflichem Denken ab. Die Welt des Einzelnen erblickt Kierkegaard in der Innerlichkeit der Seele und im inneren Kosmos. Sowohl das Ich als auch seine Hand­ lungen und Wandlungen erscheinen ihm stets unabgeschlossen und wandelbar. Ausdrücklich gibt er zu bedenken, dass sich die Welt nicht im Gedankensystem Hegels in immer höheren Stufen der Erkenntnis aufhebt, sondern der Mensch stets vor dem Wagnis des Sprunges steht. Auch erblickt er den Begriff der Angst als das Grundgefühl des Menschen, aus dem dieser lebt und handelt. Wie Adam und Eva sieht er jeden Menschen im Paradies leben, in dem er naiv und unschuldig verweilt. Erst mit dem Sündenfall sieht Kierkegaard die Geschichte jedes Menschen beginnen. Durch diesen erblickt der Mensch seine

74 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

eigene Fehlerhaftigkeit sowie Sterblichkeit und durch ihn wird er erst zu einer Person. Dieser qualitative Sprung des Einzelnen in seinen eigenen Abgrund begründet die Geschichte des einzelnen Wesens und zugleich auch die Geschichte der Menschheit. Jeder Mensch vollzieht diesen Sündenfall in seinem Leben, reift zu einer Persönlichkeit oder zerbricht daran. Zugleich entfaltet sich dadurch auch sein eigenes Bewusstsein sowie seine eigene Geschichte auf Erden in der Reihe der gesamten Weltgeschichte, die aus jedem einzelnen Sündenfall neu gebildet wird. Diesen Sprung vom naiven Wesen zur erwachsenen Persönlichkeit sieht Kierkegaard sich allein durch den Glauben an Gott vollziehen, ohne den der Mensch nicht die Kraft findet, sein Scheitern und seine Zerbrechlichkeit zu ertragen. Durch diese göttli­ che und seelische Kraft entwickelt die menschliche Seele eine tiefe Erkenntnis und Liebe zu seiner eigenen Person und der Menschheit, die ihm die Kraft verleiht, zu leben. In seinem Werk unterscheidet er zwischen drei Formen der Existenz, die er in der Form des ästheti­ schen, religiösen und ethischen erblickt. Ausdrücklich betont er jedoch, dass der Mensch ein religiöses und innerliches Wesen ist, das allein vor Gott steht und das allein diesem göttlichen Wesen ver­ pflichtet ist. Der Mensch erscheint ihm als eine Synthese von Geist und Unendlichkeit, von Zeitlichkeit und Ewigkeit sowie von Irdi­ schem und Göttlichen; letztendlich aber lebt er aus der Kraft Gottes und steht vor diesem als Einzelner. Besonders das Werk Kierkegaards beeinflusst das Schaffen Emil Barths, der dessen Vermächtnis und dessen Gedankengut mehrfach in seinem Werk thematisiert. In seiner Meditation vom 23. Oktober des Jahres 1943 betont Barth, dass er von der Kunst des Vergessens immer im Hinblick auf das Vergangene und die Vergangenheit denkt, die zugleich jedoch auch die Gabe der Erinnerung ins Leben ruft. Ebenso wie Kierkegaard sieht Barth die Heilung und Beheimatung der menschlichen Seele allein in Gott ruhen. Auch in seiner Meditation vom 31. Dezember des Jahres 1943 betont Barth, dass der Mensch erst im Moment des Todes erfährt, was die Kraft der Erinnerung ist. Ausdrücklich hebt er hervor, dass sich der Lichtstrahl des Bewusstseins erst an einem undurchdringlichen Widerstand gebrochen haben muss, um den Schauder und den Schat­ ten der Vergänglichkeit farbig betrachten zu können. In diesem Kon­ text betont Barth, dass das Erste, dessen der Mensch sich erinnern müsse, die Erkenntnis sei, dass er sterblich ist. Mit einem Schrei und von einem metaphysischen Schauder erfasst vollzieht sich seine geis­ tige Geburt. Auch erfasst er ebenso wie Kierkegaard, dass mit dieser

75 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Erkenntnis sowohl die Geschichte des Einzelnen als auch die der Menschheit ihren Verlauf nimmt. Er gibt zu bedenken, dass der Mensch wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben werden muss, um Erkenntnis zu erlangen.

10.4. Jean-Paul Sartre Das 20. Jahrhundert hat viele Denker und Philosophen hervorge­ bracht, aber keinen, dessen Produktivität so erstaunlich gewesen ist wie die von Sartre. Wer kann sich schon rühmen, mehr als 50 Werke, die insgesamt an die 15 000 Seiten umfassen, geschrieben und etwa 600 Bücher, Artikel und Fragmente hinterlassen zu haben. Die Wör­ ter waren sein Leben, jedoch zeichnet Sartre auch seine Bereitschaft aus, sich in der Öffentlichkeit zu stellen, zu provozieren und zu pro­ testieren, dies macht ihn zu einer ungewöhnlichen Philosophenge­ stalt des 20. Jahrhunderts. Als Sartre am 19. April 1980 begraben wird, geben seinem Sarg mehr als 50 000 Menschen das Geleit. Weit über seine Tätigkeit als Schriftsteller und Philosoph war Sartre zu einer Symbolfigur des Intellektuellen geworden, wie ihn das 20. Jahr­ hundert nie gesehen hat. Als Ikone des Geistes stellte er in seinen Tagebüchern, Briefen, Dramen und anderen Werken die Gesellschaft infrage, getrieben von dem Anliegen, nach Wegen zur Befreiung der menschlichen Existenz aus den Fängen des Moralkodex zu suchen. Schon in seiner Autobiografie betont Sartre, dass das Wesen seines Lebens allein durch die Kraft der Wörter bestimmt wird und bekundet, dass er allein in den Büchern das Herz der Weltseele findet, weil ihm die Erwachsenen und ihr Leben als Theater erscheinen. Mithilfe der Wörter schneidert Sartre sich einen Leib und formt sich ein Dasein. Das alltägliche Leben erscheint ihm öd und fade. Niemand achtet den anderen, alles bleibt an der Oberfläche und alles ist nur Schau und Theater. Sartre fühlt sich wie ein Floh, eine Topfblume und ein Eis­ palast. Als junger Mensch glaubt Sartre, dass er sich durch die Kraft des Geistes von seinen Leiden befreien kann. Schnell gelangt er zu Ruhm, der ihn jedoch langweilt und anödet. Noch im Alter von 50 Jahren ist Sartre das ungeliebte Kind, das nichts und niemand liebt. Sein Ruhm geht ihm auf die Nerven, seine Frauengeschichten auch und selbst sein Werk bedeutet ihm nicht mehr sehr viel. Immer noch fühlt er sich leer und einsam. Auch die Literatur verliert ihre gehei­ ligten Kräfte für ihn, in der er nur noch Abbilder des Lebens erblickt.

76 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

Trotzdem beschließt Sartre zu schreiben, um in seinem Werk Spiegel der Wirklichkeit zu formen. Dieser Wille durchzieht sein gesamtes Dasein, der beständig in seinem Werk zutage tritt. Auch Sartres Thea­ terstücke versinnbildlichen diese Ohnmacht des Philosophen gegen­ über dem Leben, in denen Sartre das Leben erneut als ein sinnloses Bühnenstück darstellt, in dem jeder Mensch nur der Schauspieler sei­ ner selbst ist und seine Rolle erhält, in denen Sartre sowohl die Got­ tesfrage wie auch erneut die Beziehungslosigkeit der Menschen unter­ einander thematisiert. Jeder trägt eine Fassade vor sich, hinter der er sich fürchterlich einsam fühlt. Niemand begegnet dem anderen. Alles ist nur Schau und bleibt völlig an der Oberfläche. Selbst der Glaube verkommt zu einer Farce. Auch in seinen Tagebüchern denkt Sartre über die Bedeutung des Wortes, das ihm in seinen jugendlichen Jahren wie ein Schwert vorkommt und mit dessen Kraft er die Welt erobern möchte, nach. Manchmal glaubt er, dass er ein Genie ist, das mit der Kraft des Wortes die Welt aus den Angeln heben kann. Allein in der Sphäre des Geistes erblickt Sartre Freiheit und Mut. Auch in seinen politischen Schriften thematisiert Sartre die Kraft des Wortes, in denen er durch das Wort für die menschliche Freiheit kämpft. Hier ist es die Kraft, die das menschliche Leben, Krieg und Folter umschreibt. Auch über den Kolonialismus, die Besetzung Paris’ und den Krieg in Vietnam reflektiert Sartre in seinem Werk. Besonders in seinem Text über die Affäre Henri Martin bekundet er die Bedeutung des Schrift­ stellers für die Gesellschaft, von dem er glaubt, dass dieser allein durch sein mutiges Schreiben über soziale Missstände die Welt verändert und gestaltet. In diesem Werk betont Sartre, dass Henri Martin ein junger Mensch ist, der nichts weiter als für sein Vaterland kämpfen wollte und sich darum freiwillig zum Vietnamkrieg meldet. Dort erlebt er das fürchterliche Sterben vieler Menschen und verliert seinen Glauben an die Menschheit. Aus diesem Grund verfasst Martin einen Brief, in welchem er seine Kameraden auffordert, sich gegen diese Missstände zu erheben, der ihm jedoch den Vorwurf des Vaterlands­ verrates einbringt und ihn in größte Schwierigkeiten bringt. Martin wird vor ein Gericht gestellt und angeklagt. Dieser Prozess empört besonders die Intellektuellen Frankreichs, die entschlossen auf die Straße gehen und gegen diesen Verrat an der Menschlichkeit demons­ trieren. Durch das Engagement der Literaten und Journalisten wird Martin schließlich freigesprochen. Dieses Werk Sartres ist ein starkes Dokument für die Kraft von Philosophie und ihrer Ausstrahlung. Zugleich zeigt es, was Philosophie und Kultur in Gang setzen kann.

77 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Auch in seinen wissenschaftlichen Schriften weist Sartre auf die Bedeutung des Wortes hin, das er in fünf verschiedenen Bänden wür­ digt. Im ersten Band betont Sartre, dass es das Wort ist, das die Welt bewegt. Er sieht die Welt nicht in der Kraft der Mythen wirksam, sondern allein durch die Macht der menschlichen Literatur und Kultur bewegt. Im zweiten Band wird der Wahrnehmungsprozess beschrie­ ben, indem Sartre die Welt wie eine Bühne beschreibt, auf der der Mensch sich bewegt und tanzt. Allein durch das Wort bewegt sich die Welt. Akribisch genau beschreibt Sartre die Bewegungen der Tänzerin auf der Bühne, um dem Leser die Komplexität der menschlichen Bewegung zu versinnbildlichen. Im dritten Band nennt Sartre das Wort die Basis der menschlichen Philosophiegeschichte, der Weltge­ schichte und auch seines eigenen Werkes. Im vierten Band strebt Sartre danach, die Sphäre des Humanismus, des Existenzialismus und der Philosophie miteinander zu verbinden, die er allein in der Kraft des Wortes wirksam sieht. Auch im fünften Band intendiert Sartre, Philosophie und Weltgeschichte zu verknüpfen. In seinem Alterswerk »Der Idiot der Familie« greift Sartre dieses Thema erneut auf, indem er in diesem Werk die Frage aufwirft, wie sein Leben hätte auch ver­ laufen können. In der Gestalt Gustave Flauberts erzählt Sartre dessen Schicksal, der angeblich der Idiot der Familie ist. Seit den Stunden seiner Geburt ist Gustave zugleich ein Mensch der Unendlichkeit und Fülle, der aus der Kraft der Poesie lebt, die er in seinen göttlichen Ekstasen empfängt. Aus dieser Kraft lebt und schreibt Gustave. Seine Umwelt erscheint ihm dumm und kindlich, darum verweigert er zu sprechen. Im Alter von sechs Jahren konnte er noch nicht reden bzw. sprechen, da er keine Verbindung zu seiner Familie hatte. Die Schule langweilt ihn und schon früh beginnt er zu schreiben. Nach dem Abitur zwingt sein Vater ihn, Jura zu studieren. Kurz vor dem Examen beschließt Gustave aus seiner Rolle und seinem Schicksal zu fliehen. Er wagt den Aus- und Zusammenbruch. Gustave empfängt Tausende von Bildern und Visionen. Durch seine Krise steht er als großer Künstler auf und befreit sich von seinem ihm auferlegtem Schicksal, dass er angeblich ein Idiot sei. Fortan lebt er als freier Autor und Lite­ rat, dem bereits mit seinem ersten Roman der Durchbruch gelingt. Allein von dem Geld, das Gustave mit seinem ersten Roman verdient, kann er sein ganzes Leben fristen, in dem er zu einer Zufriedenheit, Glück und einer erfüllenden Beziehung gelangt. Dieses Schicksal von Flaubert bewegt Sartre sehr. Erstaunt fragt er sich, wie solch ein Mensch trotz all seiner Anfeindungen und Schicksalsschläge zu sich

78 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

selbst gelangen kann. Zeit seines Lebens gelingt Sartre dies nämlich nicht, obwohl er ein vergöttertes Einzelkind ist. Diese Poesie aus gött­ licher Gabe beeindruckt Sartre zutiefst, die ihm völlig mangelt. Auch dass ein Mensch trotz der Ablehnung aus der eigenen Familie zu einer Persönlichkeit reifen kann, bewundert Sartre. Deutlich fühlt er, dass Flaubert eine seelische Tiefe und Kraft hat, die sein Schicksal zur Voll­ endung bringt. Deutlich erkennt Sartre jedoch auch, dass es ihm an dieser göttlichen Gabe mangelt. Auch in seinen Schriften zur Literatur thematisiert Sartre die Bedeutung der Literatur in der Geschichte der Kultur, in denen er offenbart, dass die Welt der Literatur viele Gesich­ ter und Facetten hat, die sich durch die Geschichte der Menschheit gewandelt hat. Ausdrücklich betont Sartre in diesen Schriften, dass die Kraft der Literatur gedankliche Veränderungen fokussiert und herbeiführt.

10.5. C. G. Jung: Der Mitbegründer der Tiefenpsychologie Das Leben und Werk C. G. Jungs stellt einen bedeutsamen Meilen­ stein der Philosophiegeschichte dar, aus dem das Vermächtnis der Tiefenpsychologie hervorgegangen ist, auf das sich die moderne Psychologie erst begründet. In genialer Weise verbindet Jung Philoso­ phie, Kultur, Zeitgeschichte und gelebtes Leben zu einem sinnvollen neuen Gedankenansatz in der Geschichte der Philosophie und Kultur. Sein Werk bestimmt bis heute die Welt der Kultur und Gesellschaft maßgeblich, indem die Kräfte des Unbewussten und Schöpferischen im Vordergrund stehen. Schon in seiner Autobiografie betont Jung, dass er fühlt, dass er ein Schicksal zu bewältigen hat, und dass sein Leben auf die Kräfte des inneren Kosmos fokussiert ist. In dem Prolog seiner Autobiografie »Erinnerungen, Träume und Gedanken« unterstreicht er, dass sein Leben die Geschichte der Verwirklichung des Unbewussten ist, aus dem sich die Persönlichkeit in ihrer Ganzheit entfaltet. Alles, was im Unbewussten liegt, sieht er offenbart werden. Auch bekundet er, dass seine Erinnerungen an Reisen, Menschen und seine Umgebung nicht sehr stark sind, allein in der Welt des Inneren erfährt er Leben und Fülle. Schon in seiner Kindheit erlebt Jung in seinen frühkindlichen Visionen, dass es weit mehr zwischen Himmel und Erde gibt als nur die Mächte des Bewusstseins. In der Zeit seiner Tätigkeit als Arzt im Burghölzli erfasst er, dass die menschliche Seele tiefere Schichten hat, als die Wissenschaft glaubt.

79 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Besonders in den Gesprächen mit den sogenannten geisteskranken Patienten spürt Jung, dass diese fürchterliche Traumatisierungen erlitten haben, die ihre Seele zutiefst verletzt haben. Er begreift, dass diese Traumata, die oft durch seelische oder körperliche Gewalt in der Kindheit ausgelöst wurden, jedoch auch eine Chance der Heilung und Gestaltung beinhalten, indem der leidende Mensch sich ihnen stellt, den Schmerz annimmt und schöpferisch gestalten kann. Durch seine Gespräche mit den Patienten fühlt Jung sich beschenkt; aus ihnen entwickelt er sogar seine wissenschaftliche Theorie, die er in seine Tiefenpsychologie und ihre Begrifflichkeiten einkleidet, die er primär in der Figur der Anima, des Schattens und des Prozesses der Individuation wirksam sieht. Ausdrücklich betont er, dass der Prozess der Individuation ein Charisma, ein Fluch und das Geheimnis des Lebens und der Menschheitsgeschichte schlechthin ist, in dem immer wieder Figuren aus dem Unbewussten emporsteigen und in das Bewusstsein integriert werden. Dem Prozess der Individuation misst Jung größte Bedeutung bei, die er mit den großen Ereignissen der Welt- und Kulturgeschichte einhergehen sieht. Auch gibt Jung zu bedenken, dass, wenn ein Mensch sich von seinem Schicksal erlöst, ein Stück Weltheilung geschieht. Ohne es zu wollen, wird der sich Erlösende zum Macher und Reformer seiner Zeit. Die erste Figur, die aus dem Unbewussten auftaucht, ist die Figur der Anima. Jung erfasst, dass kein Mann so männlich ist, dass er nicht auch weibliche Anteile hat, die in der Wahl seiner Geliebten zutage treten. In dieser Mann-Frau-Begegnung werden dann jedoch die tiefsten Traumata der Mutter- und Vaterbeziehung neu aufgelegt oder vielleicht erst offenbar. Durch diese Konfrontation mit diesen verdrängten Traumata gerät der Mensch in tiefste Verzweiflung und Not, die ihn seelisch und gesellschaftlich in größte Schwierigkeiten bringen kann. Nun erscheint die Figur des Schattens, in der der Mensch seine eigenen Abgründe erfährt, wenn es ihm nicht gelingt, diesen Schmerz sinnvoll zu gestalten. Ausdrücklich betont Jung, dass jeder etwas von einem Heiligen, einem Verbrecher und einem Kriminellen in sich trägt. Erst wenn es gelingt, diese verdrängten Anteile in die Person aufzuneh­ men, sieht Jung den Menschen zur Persönlichkeit und Ganzheit rei­ fen. Diese Konfrontation mit dem Schatten ist der absolute Härtetest der Individuation, von dem die gesamte Entwicklung abhängt. Nun wird die menschliche Seele mit so großen Schmerzen konfrontiert, dass sie nur auf die Kräfte Gottes hoffen kann, um nicht an diesem Kampf um Leben und Tod zu zerbrechen. In beeindruckender Art und

80 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

Weise dokumentiert Jung seiner Nachwelt diesen Kampf um Leben und Tod in seiner Autobiografie, in der er bekundet, dass die Kräfte des Unbewussten auf ihn wie Felsblöcke niederprasselten und ihn fast erschlagen haben. Wie durch ein Wunder gewinnt Jung diesen Kampf, den Nietzsche und Hölderlin verloren haben und an diesem zerbro­ chen sind. Für Jung ist seine Wissenschaft das Mittel, sich aus seinem seelischen Leiden zu befreien. Dies erscheint ihm wie ein Wunder und als ein großes Gottesgeschenk. Aus diesem Grund bekundet Jung auch am Ende seiner Autobiografie, dass er der Nachwelt primär nicht sein wissenschaftliches Werk vermachen möchte, sondern die Botschaft, dass es wichtig ist, an etwas Heiliges zu glauben. Allein in der Welt der Seele, des Glaubens und der Spiritualität sieht Jung die Kräfte beheimatet, die Heilung, Entwicklung und Entfaltung ermöglichen. Das Vertrauen in das eigene Fühlen und positive Streben nach Gestal­ tung der Fähigkeiten steht im Vordergrund seines Ansinnens. Der Wunsch nach der Werdung des Selbst verleiht die Kraft Widerstände zu überwinden und gestalten.

10.6. Hannah Arendt: Die politische, journalistische und philosophische Seite der Philosophie Hannah Arendt ist eine der wenigen Frauen, die die Geschichte der Philosophie maßgeblich geprägt haben. Die Faszination ihres Werkes liegt sowohl in ihrem Wesen, der Geschichte ihrer Zeit sowie auch in ihrer seelischen und geistigen Kraft begründet, die ihre Zeitgenossen als leidenschaftlich, liebevoll, kraftvoll und kritisch charakterisieren. Auch schildern diese Arendt und ihr Werk als provokativ, nie trivial, nie gleichgültig und nie falsch. Auch soll sie herrlich streitsüchtig und rechthaberisch gewesen sein, wobei sie jedoch nie glaubte, im Besitz der Wahrheit zu sein. Selbst ihre Irrtümer erscheinen ihren Freunden lohnender als die Wahrheiten vieler anderer zu sein. Hierbei soll sie sich jedoch nie selbst angeklagt, beurteilt und verurteilt haben. Trotzdem liebte sie die Welt, die der Inhalt ihrer Werke ist. Darüber hinaus beeindruckt ihr Werk auch durch eine ungeheure Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Manchmal hat der Leser sogar den Eindruck, dass sie über dem Abgrund schwebt und tanzt. Ihr Werk verfügt überdies auch noch über eine beeindruckende und bedeutende Fülle von Themen und Gedanken. In ihrem ersten Werk »Rahel van Hagen« versucht Arendt, das Leben der Jüdin Rahel zu schildern, in dem sie ihr eigenes

81 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Leben erblickt. Zudem schildert sie auch deren Leiden und Konflikte, die für Rahel van Hagen aus ihren jüdischen Wurzeln entstehen. Wie Rahel fühlt Arendt sich heimatlos. Erst am Ende des Romans lässt Arendt Rahel erfassen, dass sie nur durch Annahme ihres Leidens ihr Leben verändern kann. In ihrem Werk »Denken ohne Geländer« betont sie, dass der Mensch nicht ohne Denken leben kann, durch dessen Hilfe alte Gewohnheiten durchbrochen werden. Erst durch Denken ist für Arendt Entwicklung möglich und so wird die Welt gestaltet. In ihrem Werk »Wahrheit und Lüge in der Politik« gibt sie zu bedenken, dass Geheimhaltung und Täuschung in der Politik an der Tagesordnung sind. Der Autor, Philosoph und Denker muss diese Lügen aufdecken und gestalten. In ihrem Werk »Vom Leben des Geistes« schreibt sie über die Trennung von Geist, Körper und Leben. Hierbei erscheint ihr das Denken als ein einsames Gespräch, in wel­ chem der Mensch sich selber entwirft. Ausdrücklich steht der Mensch in der Pflicht, Veränderungen in der Welt zu gestalten. Ausdrücklich bekundet Arendt, dass Geschichte durch Zufälle gemacht wird und die Zukunft radikal offen ist. In ihrem Werk »Vom Leben des Geistes« bekundet Arendt, dass der Geist die Geschichte der Welt bewegt und beseelt. Entwicklung sieht Arendt dort immer stufenweise geschehen. Mit der Niederschrift ihres Werkes »Eichmann in Jerusalem« gelingt Arendt der internationale Durchbruch, in dem sie über die Banalität des Bösen nachdenkt, von dem sie glaubt, dass es keine Tiefe hat. Eichmann erscheint ihr als Bürokrat, Hanswurst und Wichtigtuer (benennt ihn einen Jedermann). Auch empfindet sie ihn als fürch­ terlich banal und belanglos. Er erscheint ihr gerade nicht als ein Monster, sondern als Schreibtischtäter und als ein Feigling, der seine Taten nicht erkennt, sondern sich als einen gesetztestreuen Bürger begreift. Zugleich ist Eichmann ihrer Meinung nach auch nicht fähig, einen einzigen Satz zu sprechen. Seine Sprache erscheint Arendt als Amtssprache. Durch ihre Schilderung Eichmanns als banalen und feigen Schreibtischtäter sowie devoten Amtsträger gelingt Arendt der internationale Durchbruch als Journalistin und Autorin, der ihr wie ein Hampelmann und Hanswurst erscheint. Durch ihre wagemutige Schilderung polarisiert Arendt die Weltöffentlichkeit. Ihr Werk und ihre journalistische Tätigkeit fordern den Menschen zum Handeln auf, durch das er Geschichte schreibt. Allein durch die Kraft des Geistes kann der Mensch handeln und sich ausdrücken. Durch ihr Werk, Handeln und Schreiben verfasst Arendt Kulturgeschichte, die die Welt verändert.

82 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

11. Geschichte der Philosophie Wie bereits dargelegt stellt Friesen die These auf, dass die Geschichte der Philosophie die immer wiederkehrende Wiederholung des Glei­ chen und kein Fortschrittsprozess ist; in den bedeutsamen philoso­ phischen Systemen von Aristoteles und Platon erweist sich dies. Für beide Philosophen ist die Erkenntnis des Göttlichen der wesent­ liche Gedankenansatz, der die Gedankensphäre der Philosophie vorantreibt, wobei Platon es in der Kraft der Uridee wahrnimmt und Aristoteles in der Welt der göttlichen Idee. Beide philosophi­ schen Gedankengebäude bilden jedoch die tragenden Säulen der Geschichte der Philosophie, die immer auch eine Antwort auf die Frage der Geschichte einer Epoche ist. In diesem Kontext betont Friesen aber auch, dass das philosophische Denken ein Gegenwicht zum vermeintlich ausgereiften Denken der jeweiligen Zeit bildet. Die philosophische Lektüre regt an zum Nachdenken, dass Friesen mit Lyotard aus einer Art kindlicher Neugier heraus entstehen sieht. Im Gegensatz zu Friesen wird hier die These vertreten, dass die Geschichte der Philosophie nicht eine Wiederkehr des Gleichen ist, die sich in den fundamentalen philosophischen Systemen Aristoteles’ und Platons erweist, sondern sich in immer neuen gestaltenden und ausformenden Gedankengebäuden erweist, mit neuen Inhalten und Ideen verschiedener Denker und Philosophen gestaltet. Diese sind jeweils eine Antwort auf die Herausforderungen, Nöte und Versäumnisse des individuellen sowie gesellschaftlichen Kontextes. Jeder einzelne philosophische Ansatz stellt hiermit eine völlig neue und einzigartige Beantwortung der jeweiligen Zeitgeschichte dar. In diesem Kontext muss somit ausdrücklich betont werden, dass jede Philosophie eine neue Antwort auf die Fragen ihrer Zeit und ihrer Herausforderungen ist, die sich in der Seele eines Philosophen wie auch in dessen Leben und Umwelt manifestiert. Auch muss bedacht werden, dass der Geburtsort großer philosophischer Werke selten der Schreibtisch eines Gelehrten ist, sondern dass diese meistens inmitten von Abgründen, Nöten und den daraus resultierenden Herausforde­ rungen entstehen. Am Rande des Todes, des Chaos, des Krieges oder einer fürchterlichen Krankheit entsteht bedeutsame Philosophie, die ihre Spuren in der Philosophiegeschichte hinterlässt. Die Geschichte der Philosophie ist somit die Geschichte der Erinnerung, die aus der Kraft des Unbewussten mitten am Rande der Verzweiflung und des Todes entsteht, die zum Beispiel im Leben und

83 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Werk des Haaner Dichters Emil Barth beschrieben wird, der in seinem gesamten Werk, das mitten im Chaos des Zweiten Weltkrieges von ihm geschaffen und vollendet wird, die Kraft der Erinnerung feiert. Der augenscheinliche Verlust und die augenscheinliche Zer­ störung wandeln sich in eine innere seelisch-geistige Kraft. Barth begreift, dass alles, was verloren geht, in die Kraft der Innerlichkeit heimkehrt. Diese Erfahrung von Leid und Schmerz verwandelt sich in einen inneren Kosmos, der zum Lebensstrom Barths wird, dessen Welt in Trümmern liegt: Der Dichter kämpft sich von einem zum anderen Tag; nur in der Welt der Poesie findet er noch Halt. Auch in den Werken großer Philosophen sucht er die Antworten auf seine Fragen, mit deren Studium er sich dem schmerzhaften Prozess der Läuterung stellt, in welchem Barth alles weggerissen wird, an dem er hängt. Sein Wandlungsprozess, der ihm die Kraft verleiht, Zerstör­ bares in Unzerstörbares zu verwandeln, gestaltet sich schwierig, wie Barth in seinen Meditationen schildert. Sein Werk dokumentiert, dass Philosophie und Literatur keine leblosen Vorgänge sind, sondern Weisheiten, die die Kraft aller Mythologien und aller Völker in sich versammeln. Durch die Annahme der Zerbrechlichkeit seiner Seele gelingt es Barth, in die eigenen Tiefen hinabzusteigen, um dort die Kraft zu finden, sein Leid zu wandeln. Seine gesamte Poesie ist durch dieses Eintauchen in die archetypischen Kräfte bestimmt. Ebenso wie Barth erleben, erleiden und erfahren auch Sokrates, Platon, Kierkegaard, Sartre, Jung und Arendt diesen schmerhaften Prozess der Läuterung in ihrem Leben, den sie durch ihr Werk gestalten. So ist Sokrates mitten in den Wirren des Krieges und der Korruption seiner Heimatstadt Athen als freier Philosoph tätig. Philosophie interpre­ tiert er als eine Art der Selbstsorge und -reflexion, die den ganzen Menschen erfasst. Für Sokrates ist Philosophie eine Lebenshaltung sowie eine Form der Selbstorganisation der menschlichen Seele und des menschlichen Lebens an sich. Durch sein Leben und Werk wird Sokrates zu einem Sinnbild des ortlosen und eigenständigen Denkers, der quer durch die Kulturgeschichte und Geschichte der Menschheit seine Spuren hinterlässt. Ihn kann man auch als den Typ Sokrates bezeichnen, der immer ein Stein des Anstoßes, der Kritik und zugleich auch der kulturellen Entfaltung ist. Dieser Künstler- und Philoso­ phentyp tritt zu allen Zeiten in der Gestalt vieler Philosophen auf, zu denen unter anderem auch Sören Kierkegaard, Jean-Paul Sartre, C. G. Jung und Hannah Arendt zählen. So wie Barth durch das Chaos des Zweiten Weltkrieges herausgefordert wird, so erlebt auch Kierkegaard

84 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

harte Schicksalsschläge, die er durch den frühen Tod seiner Geschwis­ ter erleidet. Fortan gleicht sein Leben einem unendlichen Schmerz, da dieser sich schuldig fühlt. Allein durch die Kraft des Glaubens und der Frömmigkeit überlebt und überdauert Kierkegaard sein Leiden und Leben. In der modernen Anthropologie verkörpert das Leben und Werk Jean-Paul Sartres diesen Typus des Philosophen, der sein Werk aus dem Leben schafft. In seinem Werk betont Sartre ausdrücklich, dass er den Menschen als das Wesen versteht, das schicksalshaft in die Welt geworfen worden ist. Zugleich ist der Mensch mit Vernunft und Kraft beschenkt, die er sich jedoch beständig neu erkämpfen muss. Diese Freiheit ist eine versackte Freiheit. Der Mensch erscheint Sartre als ein Spieler, der sein Leben beständig neu entwerfen und gestalten muss. Ausdrücklich akzentuiert Sartre, dass der Mensch allein durch sein Bewusstsein bestimmt wird. Sein Werk entsteht allein aus der Kälte, Oberflächlichkeit und Beziehungslosigkeit seiner Familie, die Sartre in seinem Werk versucht, zu gestalten. In den Wörtern seines Werkes versucht er, sich einen Leib zu schneidern, in dem er sich entfremdet und ein Leben ersinnt. C. G. Jung inspiriert dieser Typus so stark, dass er ihm sein gesamtes Werk widmet, wobei besonders im 15. und 17. Band seiner Gesammelten Werke das Wesen des künstlerischen Menschen zum Ausdruck kommt, in dem Jung die Entstehung des Großen Kunstwerkes zu ergründen versucht, was dieser immer aus den Kräften und Mächten des Unbewussten entstehen sieht. Das Leben erscheint ihm wie ein Tanz der Figuren des Unbewussten über den Abgrund der menschlichen Seele. Schon im Alter von drei Jahren spürt Jung, dass er hier auf Erden ein Schicksal zu bewältigen hat, das ihn in die Kräfte des Unbewussten weiht. Auch in seiner Autobiografie erzählt er seiner Nachwelt, dass von Anfang an eine Schicksalsgewissheit in seiner Seele wohnte. Dieser Dämon verleiht Jung die Kraft, sein Werk zu schaffen und auch in den dunkelsten Stunden seines Lebens an seine Vision zu glauben. Aus ihrer Autorität verzichtet Jung auch auf die große Karriere, die ihm als Professor und Leiter des Burghölzli offensteht. Aus ihr schafft er sein gesamtes Werk und das Vermächtnis der Tiefenpsychologie, die der Wegbereiter der modernen Psychologie ist. Auch Hannah Arendt ist eine Philosophin, deren Werk aus ihrem Leiden am Leben und ihrem persönlichen Schicksal als Jüdin, Frau und Opfer des Hitlerregimes entsteht. Ihr Werk erscheint wie ein Tanz über dem Abgrund und besticht durch seine Leichtigkeit und Mut. Ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozess macht sie

85 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

schlagartig weltberühmt. Ihr Werk und philosophisches Ansinnen betont die journalistische, schriftstellerische und literarische Seite der Philosophie, die eine Öffnung in die gesamte Kultur verfügt oder besser alle Bereiche des menschlichen Lebens berührt. Sokrates, Platon, Arendt, Kierkegaard, Jung und Sartre erleben und erleiden allesamt diesen schmerzhaften Prozess der Läuterung, den Barth in seinem Tagebuch und Werk schildert. Ihr gesamtes Herzblut müssen sie spenden, bis sie den Moment der Erlösung erlangt haben, der ihre Seele zu einer höheren Stufe der Erkenntnis befreit und erhöht ist, um Vollendung und Erlösung zu bringen. Auch im 20. Jahrhundert wird dieser Glaube an die Kräfte des Unbewussten von Philosophen und Kulturschaffenden gewürdigt, zu denen unter anderem der jüdische Religionsphilosoph Abraham Heschel und auch der Schweizerische Philosoph Walter F. Furrer zählen. Ausdrücklich betont Heschel in seinem Werk, dass ein Dozent den Schüler im Unbewussten treffen muss, dort, wo er unsicher ist. Auch Furrer weist daraufhin, dass das Große Kunstwerk immer aus dem Unbewussten entsteht. Darum ist es auch zeitlos und überpersönlich. Friesen stellt in seinem Aufsatz die Geschichte der Philosophie als eine relative Wiederkehr des Gleichen dar. Der vorliegende Aufsatz vertritt mit dieser Interpreta­ tion der Geschichte der Philosophie hingegen die Auffassung, dass jeder philosophische Ansatz eine völlig eigenständige Sicht auf die Geschichte der Philosophie, Kultur und Wissenschaft darstellt, die sich jeweils in einzelnen Philosophen und Denkern beständig in neuer Art und Weise offenbart und manifestiert. Jeder Ausdruck, jedes Werk ist also eine völlige Neuschöpfung, die in formaler Hinsicht nicht durch die Wiederholung der bewährten Systeme Aristoteles’ und Platons lebt, sondern allein durch die seelische Kraft des einzelnen Philosophen neu gestaltet und entfaltet wird, in der sein Schicksal und das Schicksal seiner Zeit und Epoche transzendiert wird. Dieser Läuterungs- und Offenbarungsakt geschieht zwar auf der Basis des Studiums der bedeutsamen philosophischen Systeme Platons und Aristoteles’, der wirkliche Kern dieser kulturellen Schöpfungen liegt jedoch in der Seele und dem Schicksal des jeweiligen Philosophen beheimatet, in der sich der geheimnisvolle Prozess der Individuation vollzieht. Dieser Aufsatz erblickt in der Geschichte der Philosophie die Geschichte der Verwirklichung des Unbewussten, die sich immer in einzelnen Persönlichkeiten realisiert, die wie ein Katalysator die Probleme der Zeit aufgreifen und in ihrem Werk thematisieren. Zwar sind diesen Denkern die bedeutsamen Werke Platons und Aristoteles’

86 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

geläufig, Hannah Arendt hat z. B. auch während ihres Studiums die Werke Sokrates’, Platons und vieler großer Denker studiert, jedoch liegt der Kern ihres Schaffens in ihrer Seele und ihrem Schicksal begründet. Aus diesem Grund haftet der Aura dieser großen Denker und Philosophen auch immer ein Hauch des Unheimlichen und Geheimnisvollen an, in denen sich der unergründliche Prozess der Individuation vollzieht, dem der Schweizer Philosoph und Tiefenpsy­ chologe C. G. Jung sein ganzes Werk widmet. In diesem betont er ausdrücklich, dass der Prozess der Individuation ein Charisma, Fluch und ein gefährliches Abseits von der Masse ist. Jung selber misst diesem Prozess der Individuation größte Bedeutung zu, in dem er sich den bedeutsamsten Prozess der Welt- und Kulturgeschichte vollzie­ hen sieht. Darüber hinaus betont er auch, dass in diesem heilige und numinose Mächte wirksam sind. Wenn dieser jedoch gelingt, sieht Jung sich ein Stück Weltheilung vollziehen. Wann, wie und warum sie jedoch jeweils in diesen gewissen Persönlichkeiten geschieht, bleibt letztendlich ein Geheimnis und zugleich ein göttlicher Gnadenakt. Wunderbar, dass er sich überhaupt vollzieht und im Lauf der Weltund Kulturgeschichte ereignet, und dass aus ihm die bedeutsamsten Werke der Philosophen Sokrates, Platon, Kierkegaard, Jung, Sartre und Arendt entstanden sind. Das Fazit und der Ausklang dieses Aufsatzes bildet die These – die im völligen Gegensatz zu dem Aufsatz von Friesen steht –, dass die Geschichte der Philosophie die Selbstverwirklichung des Unbewussten und des Geistes ist, die sich in einzelnen Philosophen und deren Werk manifestiert und entfaltet, zu denen mehr als 1800 Werke und 800 Autoren zählen, die deren Fortgang forcieren. Jeder stellt jedoch eine völlig neue Sichtweise des Lebens und des Wesens der Philosophie dar, sodass sich ihre Geschichte in einem beständigen Fluss und Wandlungsprozess befin­ det, der sich auf ein großes Ziel hinbewegt: die Individuation des Geistes in der Geschichte der Menschheit und Kultur, in der sich der erotische Kampf Geist gegen Macht manifestiert, der seit Beginn der Menschheit die Welt bewegt und der unter anderem im Prolog des Johannesevangeliums seinen Niederschlag in den Worten findet: »Am Anfang war das Wort und am Ende steht das Wort, das Fleisch geworden ist.« Es bleibt zu hoffen, dass nun endlich in dieser seelenund geistlosen Zeit wieder etwas wirklich Sinnvolles gedacht und geschrieben wird, so wie es z. B. im Werk von Arendt geschehen ist, um die Bedeutung der Philosophie für den Fortgang der Kultur zu verdeutlichen, die in den Anfängen der Menschheitsgeschichte die

87 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Mutter der Wissenschaft und die Wiege der Kultur bildet. Werk und Leben Sokrates’ legen das Fundament der Philosophie, durch welche sie erst ins Leben gerufen wird. Viele erblicken in Sokrates den Urvater der Geschichte der Philosophie. Das Vermächtnis seines philosophi­ schen Werkes lässt die Dialogtechnik des Sokratischen Gespräches entstehen, die das offene Gespräch ins Leben ruft. Bis heute dienen Sokrates’ gedankliche Ansätze als Vorlage des psychotherapeutischen Dialoges und des Ethik- und Philosophieunterrichtes. Auch in der Gewaltforschung wird das Sokratische Gespräch angewandt. Glei­ cherweise hinterlässt das Vermächtnis der platonischen Philosophie tiefe Spuren in der Geschichte der Philosophie, das die Gedankenwelt der Ideenlehre etabliert. Ebenso prägt das Vermächtnis der Philoso­ phie Kierkegaards das Wesen der Philosophie- und Kulturgeschichte, indem dieser durch sein philosophisches Wirken zum Begründer des modernen Existenzialismus wird, den sowohl Sartre als auch Jung und Arendt in ihren Schriften aufgreifen. Das Vermächtnis der Philosophie Sartres stellt den gedanklichen Unterbau der modernen Lebensweise dar, der in den Theaterstücken Sartres thematisiert wird. Auch das Werk Jungs beeinflusst die Gedankenwelt des 20. Jahrhun­ derts maßgeblich, durch das die Tiefenpsychologie ins Leben gerufen wird, aus deren Vermächtnis die moderne Psychologie erst entsteht. Ebenso setzt das philosophische Ansinnen Arendts Maßstäbe in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, indem in einzigartiger Art und Weise Philosophie, Kulturgeschichte, jüdische Geistesgeschichte und Weltgeschichte miteinander verbunden werden. Darüber hinaus symbolisiert Arendts Werk die Verbindung von Philosophie, Politik und Journalismus, die unter anderem in Arendts Reportagen zum Eichmann-Prozess zutage treten. Diese Werke symbolisieren die Manifestation des Unbewussten und Geistes in der Geschichte der Philosophie, die sich in einzelnen Denkern und Philosophen heraus­ kristallisiert, um neue Wege des Denkens und der Lebensgestaltung zu modellieren. In ihren Anfängen ist die Philosophie Staatskunst, Rhetorik, Politik, Seelsorge und Psychotherapie. In seinem Werk »C. G. Jung zur Einführung« betont Micha Brumlik, dass er der Auf­ fassung ist, dass das Potenzial des Werkes Jungs noch nicht voll und ganz zur Entfaltung gelangt ist. Auch die Bedeutung der Denker, die aus dem Unbewussten schaffen, wartet nur auf eine Würdigung und Auferstehung, die man nahtlos zu einer Lichterkette zusammenfügen kann: Eine Welt ohne Literatur und Kultur würde noch Grausamer und Leerer sein als sie es ohnehin schon ist.

88 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Die Geschichte der Philosophie als (Selbst-)Verwirklichung des Unbewussten

Literaturliste: Arendt, Hannah, Denken ohne Geländer, New York 2005, 1. Auflage 2006. Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem, München 2011, 1. Auflage. Arendt, Hannah, Ich will verstehen, München 2005. Arendt, Hannah, Rahel Varnhagen, New York 1959. Arendt, Hannah, Über das Böse, München 2006, 1. Auflage, 11. Auflage 2016 Barth, Emil, Lemuria, Hamburg 1947. Birnbacher, Dieter, Das sokratische Gespräch, Stuttgart 2002. Böhme, Gernot, Der Typ Sokrates, Frankfurt am Main 1988. Brumlik, Micha, Einführung in die Psychologie C. G. Jungs, Frankfurt am Main 2006, 1. Auflage. Furrer, Walter F., Neue Wege zum Unbewussten, Bern 1970. Hackenesch, Christa, Jean-Paul Sartre, Reinbek bei Hamburg 2001. Heschel, Abraham, Die ungesicherte Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1985. Heschel, Abraham, Gott sucht den Menschen, Neukirchen-Vluyn 1980, 2. Auf­ lage 1985. Jacobi, Jolande, Die Psychologie C. G. Jungs, Frankfurt am Main 2006. Jung, C. G., Anpassung, Individualität, Kollektiv, in: Jung, C. G., Gesammelte Werke. Achtzehnter Band, zweiter Halbband, Zürich 1967. Jung, C. G., Die Beziehung zwischen dem Unbewussten, München 2001. Jung, C. G., Erinnerungen, Träume, Gedanken, Zürich 1985, 15. Auflage. Jung, C. G., Gesammelte Werke, Düsseldorf 1995. Jung, C. G., Gesammelte Werke. Vierter Band, Düsseldorf 2006. Jung, C. G., Gesammelte Werke. Fünfter Band, Düsseldorf 2006. Jung, C. G., Gesammelte Werke. Siebter Band, Zürich 1967. Jung, C. G., Gesammelte Werke. Achter Band, Düsseldorf 2001, 1. Auflage. Jung, C. G., Gesammelte Werke. Neunter Band, Düsseldorf 2006. Jung, C. G., Gesammelte Werke. Zehnter Band, Olten 1976. Jung, C. G., Wirklichkeit der Seele, Zürich 1934. Kampits, Peter, Jean-Paul Sartre, München 2004. Kranz, Walter, Eine Geschichte der griechischen Kultur, Stuttgart 1952. Krohn, Dieter, Das Sokratische Gespräch, Hamburg 1989, 1. Auflage. Platon, Gorgias, in: Platon, Hauptwerke, Stuttgart 1973. Platon, Politeia, Frankfurt am Main 1991. Sartre, Jean-Paul, Den Menschen erfinden, Reinbek bei Hamburg 1982, 35. Auf­ lage. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie. Erster Band, Reinbek bei Hamburg 1986. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie. Zweiter Band, Reinbek bei Ham­ burg 1986. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie. Dritter Band, Reinbek bei Hamburg 1986. Sartre, Jean-Paul, Der Idiot der Familie. Vierter Band, Reinbek bei Hamburg 1986. Sartre, Jean-Paul, Die Troerinnen von Euripides, Hamburg 1991. Sartre, Jean-Paul, Die Wörter, Reinbek bei Hamburg 1982, 35. Auflage. Sartre, Jean-Paul, Schriften zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1986.

89 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Dagmar Berger

Sartre, Jean-Paul, Tagebücher, Sept. 1939–März 1940, Reinbek bei Ham­ burg 1986. Sartre, Jean-Paul, Was ist Literatur, Reinbek bei Hamburg 1986. Stavemann, Gustav, Sokratische Gesprächsführung, Weinheim, Basel 2015, 3. Auflage.

90 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

Begreifen, was es gibt

Um das Einzelne, das Konkrete, womit Menschen im Alltagsleben immer beschäftigt sind, besser zu verstehen, werden allgemeine Begriffe entwickelt und verwendet. Unüberlegt würde man meinen, dass diese Begriffe eine dienende Funktion übernehmen. Sie sol­ len helfen, das Einzelne, das Besondere, das Konkrete in seiner Beschaffenheit und Wirkungsweise zu begreifen, d. h. angemessen zu beschreiben, adäquat zu erfassen sowie handlungswirksam zu erklä­ ren. Begriffe können dann in weiteren Reflexionsprozessen zu Gegenständen des Denkens werden, das somit aufhört, Denken dessen, was es gibt, zu sein und ein Denken über Denken und Begriffe wird. Anhand des Verhältnisses von Mathematik und Philosophie der Mathematik kann man sehen, wie eine solche Entwicklung überhaupt möglich wird. Die Menschen entwickelten Techniken des Rechnens und Messens, die immer abstrakter wurden. Sie operierten ursprüng­ lich mit natürlichen Zahlen, die, wie einige Autoren gern immer wieder betonen, stark an ihre Körperlichkeit gebunden waren. Später führten sie andere Zahlen ein, die komplexer waren und die Funktion hatten, zu ermöglichen, dort weiter zu zählen und zu quantifizie­ ren, wo die alten Rechentechniken versagten. Schnell waren philoso­ phierende Beobachter bzw. Beobachterinnen (rechnende Mathemati­ ker und nicht-rechnende Konstrukteure imaginärer Welten) da, die behaupteten, dass die rechnenden, messenden und quantifizierenden Akteure mit idealen Objekten und Verhältnissen (resp. Strukturen) beschäftigt seien, die in einer transempirischen idealen Welt existier­ ten. Dabei vergaßen sie schnell, dass die mathematische Praxis des Rechnens und Forschens ein intelligenter, kreativer Bereich von Tech­ niken und Operationen ist und kein Aufstieg in ein geheimnisvolles ideales Reich von Entitäten und Gestalten. Aus einem Mittel, einem Instrument, aus einer Praxis, aus einer Reihe von Techniken, Verfah­

91 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

ren und Prozeduren wurde eine Gesamtheit von idealen Objekten, die einige metaphorisch-mystisch die Gehalte des Bewusstseins oder des Geistes Gottes nannten. Was das begriffliche Denken angeht, geschah etwas Ähnliches. Menschen dachten, um Welt und sich selbst zu begreifen. Daraus entstanden die Philosophie, die Wissenschaft, später die hochspe­ zialisierten Einzelwissenschaften. Und schnell waren die klugen, einsichtigen Beobachterinnen und Metadenker da, die sich mit den Resultaten der Philosophie und der Wissenschaften beschäftigten und zwar so, dass die einzelnen Denker, Schulen und Disziplinen, die diese gekonnt und differenziert zu begreifen und zu erklären versuchten, wichtiger als die »Sachen« selbst wurden,. Nicht die Dinge und ihre Ursachen, die materiellen Größen und die idealen Formen, das begriffliche (propositionale und inferenzielle) Denken, das Handeln und Geschichtliches wurden Thema, sondern Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz, Locke, Hume, Kant, Hegel, Frege, Russell, Quine, Davidson und die von ihnen vorgeschlagenen Wege und Methoden. Um die Philosophie und ihre Existenzbedingungen schien es dann primär zu gehen und nicht mehr um das, was Philo­ sophen und Wissenschaftler begreifen wollten. Um die einzelnen Denker und Denkerinnen, ihre Irrungen und Verwirrungen, ihre Leistungen und Einsichten ging es dann. Die »Sachen« verschwanden im Hintergrund und die »gelehrten« Kommentare, Interpretationen und Rekonstruktionen nahmen zu. Um Platon ging es, nicht um die allgemeinen Formen. Um Aristoteles, nicht um Einzeldinge und ihre Eigenschaften. Um Kant, nicht um die Beschaffenheit des begrifflichen Denkens, das auf erfahrene, sinnlich wahrgenommene Dinge bezogen bleiben muss, um überhaupt Erkenntnis zu sein. Im Folgenden geht es um Philosophie und Philosophiegeschichte sowie um ihren Mittelcharakter. Die Philosophie und ihre Geschichte sind wichtig. Allerdings nicht als Zwecke, sondern als Mittel. Letzten Endes wollen wir Welt, Wirklichkeit und uns selbst (d. h. die Lebewe­ sen, die wir sind) begreifen. Von Philosophen und Philosophinnen können wir viel lernen. Aber wir müssen immer bedenken, dass das Sekundäre nicht zum Primären werden darf. Wir wollen Welt, Geschichtliches, Praktisches, menschliches Denken und vieles andere mehr begreifen und erklären. Von einigen Philosophen können wir lernen, wie man dies machen und welche Denkfehler man sich dabei einhandeln kann. Weil dies sich so verhält, ist die Philosophiege­

92 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

schichte äußerst wichtig: als Material und Reservoir von Denkweisen und guten Argumenten.

1. Philosophie als relative Wiederkehr fundamentaler Gegensätze In seinem Beitrag präsentiert Hans Friesen eine beeindruckende Rekonstruktion der Geschichte der westlichen Philosophie. Wie er selbst zu Recht betont, handelt es sich bei dieser überblicksartigen Rekonstruktion um einen möglichen »Hauptpfad« und nicht um »den« Hauptpfad. Friesen unterscheidet »Hauptpfade« und »Neben­ pfade«. Und beide Begriffe verwendet er bewusst in der Pluralform. Außerdem geht Friesen davon aus (was für seine Konzeption der Philosophiegeschichte fundamental wichtig ist!), dass wir es nicht mit einer Fortschrittsgeschichte zu tun haben, sondern mit dem, was er ein »mehrdeutiges, zweigleisiges Verlaufsmodell« mit Wieder­ holungen und Analogien nennt. Ein solches Verlaufsmodell kennt Aufwärts- und Abwärtsentwicklungen, Haupt- und Nebenentwick­ lungen, gegensätzliche und parallele Entwicklungen. Das Modell ist aber dadurch gekennzeichnet, dass einige Gegensätze in variierter Form immer wieder vorkommen. Eine Gegensätzlichkeit privilegiert Friesen. Deren Varianten sind der Gegensatz von Idealismus und Realismus in der antiken Philosophie, der Streit von Rationalismus und Empirismus in der Neuzeit sowie der Kampf von Moderne und Postmoderne in der Gegenwart. Die Autoren, die bei einer solchen Konstruktion der einen fundamentalen Gegensätzlichkeit in den Mittelpunkt rücken, sind: Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolff, Bacon, Locke und Hume, Kant, Hegel, Husserl, Nietz­ sche, Freud und Adorno sowie Habermas und Lyotard u. a. Keine Selbstverständlichkeit ist das Bemühen Friesens, die Philosophie von den Einzelwissenschaften abzukoppeln und die philosophischen Aufgabenfelder und Vorgehensweisen kontrastiv (zu den Einzelwissenschaften) zu beschreiben. Sicher thematisieren sich kritisch die Naturwissenschaften nicht so, wie die Philosophie dies immer getan hat. Und anders als die Philosophie haben sie »bestimmte« Fragen und Objekte, die sie eindeutig charakterisieren. Außerdem ist in den Einzelwissenschaften ein progressiver, kumula­ tiver Wissenserwerb möglich, der angeblich in der Philosophie nicht zu haben ist, auch wenn in dieser Probleme des Öfteren gelöst,

93 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

aufgelöst oder einfach eliminiert werden. Dennoch vermute ich, dass solche berechtigten Kontrastbildungen nicht ausreichen, eine radikale Trennung von Philosophie und Einzelwissenschaften zu etablieren und zu rechtfertigen. Friesen selbst spricht von Wiederho­ lungen bestimmter Fragestellungen in der Philosophie sowie von einer »Wiederkehr« fundamentaler Gegensätze, die in variierter Form immer wieder erscheinen. Besonders gelungen scheint mir die Art und Weise zu sein, in der Friesen erklärt, wie diese Wiederkehr zu verstehen ist, indem er mit der Unterscheidung von »formaler« und »inhaltlicher« Ebene arbeitet: Wiederholung und Wiederkehr des einen Gegensatzes in »formaler« Hinsicht; Weiterentwicklung (als Erneuerung, Ersetzung oder Fortsetzung) der wiederkehrenden Gegensätzlichkeit in »inhaltlicher« Hinsicht. Für mich schwer verständlich hingegen ist, wie die Arbeit der »Auflösung«, die bestimmte Philosophen (wie Jürgen Habermas und Jean-François Lyotard) angeblich geleistet haben, in einem dezidier­ ten Antifortschrittsmodell genau zu denken ist. Schwer verständlich für mich sind ebenfalls die kanonisierende Privilegierung von Haber­ mas und Lyotard sowie die Relevanz, die der Debatte »Moderne-Post­ moderne« in Friesens sonst hervorragender Rekonstruktion philoso­ phischer Denk- und Reflexionsleistungen zugeschrieben wird.

2. Erfahrungsbasierte und lebenssinnbezogene »bedeutsame« Philosophie Für die Vertreter des »klassischen« und des »logischen Empirismus« ist die Erfahrung nicht nur der Ursprung bzw. die Quelle der mensch­ lichen Erkenntnis, sondern auch das Kriterium und der kritische Maß­ stab, an dem die Erkenntnis gemessen wird. In dem Beitrag von Dag­ mar Berger steht die Erfahrung auch im Mittelpunkt, wenn es darum geht zu verstehen, wie das philosophische Denken zustande kommt und was eine gute philosophische Reflexion ausmacht. »Erfahrung« wird von Berger als das reflexive Ergebnis des von den Individuen im konkreten Lebensvollzug Erlebten verstanden. Und dieses Erlebte ist für sie etwas, das sich nicht »szientistisch« reduzieren lässt, sondern die reduktionistischen Formen des Naturalismus transzendiert. Für Berger geht es in der Philosophie, genauso wie im Alltagsle­ ben, um alles. Es geht um das, was wir erleben und empfinden. Es geht um unsere Vorstellungen, Überzeugungen, Sichtweisen, um schwie­

94 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

rige Situationen und Krisen, d. h. um das, was wir glauben, was wir erleben, aber auch um das, was wir schätzen und für wertvoll halten. In der Philosophie wie im Alltagsleben geht es um Einstellungen, die epistemischen (propositionalen) und die praktischen Einstellungen, die uns als geistige, »beseelte«, intelligente Lebewesen ausmachen. Deswegen darf die professionelle Philosophie mit dem Alltag (d. h.: mit unseren konkreten Lebensvollzügen) nicht brechen. In Kontinui­ tät mit diesen Lebensvollzügen und Daseinsweisen sollte die Philo­ sophie stehen. In ihnen soll sie als maßgebende Haltung entstehen und wirken. Mit ihren eigenen Worten ausgedrückt: Philosophie ist Lebenshaltung, Lebensstil und Lebenspraxis, die einen schöpferi­ schen, kreativen Umgang mit den Herausforderungen im Leben der Individuen, Gruppen und Gemeinwesen ermöglicht und fördert. In ihrer konkreten Argumentation verkörpert Sokrates paradig­ matisch den von ihr privilegierten philosophischen »Typ«, der in der Geschichte der Philosophie und des (in einem weiten Sinne) religiösen sowie dichterischen und psychologischen Denkens immer wieder in mehr oder weniger ausgeprägter Form vorkommt. Sokrates (genauso wie Platon, Aristoteles, Sören Kierkegaard, J.-P. Sartre, Hannah Arendt, C. G. Jung u. a.) steht für ein »transzendierendes« sowie »Läuterung« und »Reifung« bewirkendes Denken. Sokrates und all die Instanziierungen seines philosophischen »Typs« werden von Berger als die wertvollen Glieder einer »Lichtkette« bzw. die einzelnen Markierungen der »Spur« dessen, was sie »bedeutsame« Philosophie nennt, vorgeführt und in gelingenden Rekonstruktionen ihrer einzelnen Denkmotive gewürdigt. Die antike Ethik war nicht nur eine Theorie des guten Lebens, sondern auch der Anfang und der praktische Vollzug des guten Lebens. Gemäß einem solchen Modell scheint Berger die Tätigkeit des Philosophierens aufzufassen. Philosophie, so betrachtet, ist nicht nur Denken, Theorie, Begreifen, Erklären, »Orientierung im Denken«, sondern der praktisch-reale Weg des tatsächlichen Klug-, Glück­ lich- und Weisewerdens: ein Weg, der nicht auf beliebige Weise eingeschlagen, sondern nur von bestimmten leidenden Menschen als fruchtbare Lebens- und Krisenbewältigungspraxis gewählt und gegangen wird. Bewunderns- und lobenswert ist die Haltung, die hinter einer solchen Konzeption des philosophischen Denkens steht und sie trägt. Dennoch würde ich bezweifeln, dass die professionelle Tätigkeit der philosophischen Reflexion so viel leisten kann.

95 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

3. Was gedacht wird Philosophie und Philosophiegeschichte sind ohne jeden Zweifel wert­ voll. Eine Welt ohne sie wäre viel ärmer. Dennoch sind die Philosophie und ihre Geschichte nicht deshalb wertvoll, weil es eine Reihe von großen Denkern gegeben hat, deren Texte für kanonisch gehalten und als klassische Texte gelesen und interpretiert werden. Nicht wenige solcher Texte enthalten Behauptungen, die entweder nicht verifizierbar oder schlicht und einfach falsch sind. Der Name und die Reputation der Autoren, die sie geäußert haben, machen sie auch nicht weniger falsch. Wertvoll bleiben solche Texte als Resultate einer kritischen Reflexion, die in einer solchen Gestalt in den Einzelwissen­ schaften selten zu haben ist. In der Hauptsache sind philosophische Texte wichtig wegen der Inhalte, Themen und Fragestellungen, die in ihnen behandelt werden. »Was« in ihnen gedacht worden ist, macht sie wertvoll, relevant und rezeptionswürdig. Um das, was gedacht wird, geht es. Das Gedachte ist das Primäre und nicht, wer es gedacht hat, wann, wo, wie oder womit. Solche Fragen sind auch wichtig. Allerdings sind sie nur sekundär wichtig. Worauf es letzten Endes ankommt, ist das »Was« des Denkens. Und wegen dieses Was sind die Philosophie und die Philosophiegeschichte wichtig. Mit anderen Worten: Es geht primär um Welt (Natur und das Sein), das Denken und das menschliche Handeln, und nicht um die Philosophie, ihre Geschichte und ihre Klassiker. Philosophie­ historisch ausgedrückt: Es geht um »Physik«, »Logik« und »Ethik« im weitesten Sinne dieser Begriffe, sodass die Denkleistungen der Einzelwissenschaften (der Physik, Biologie, Chemie, Mathematik, Ökonomie, Jurisprudenz, Soziologie und Psychologie u. a.) wesent­ lich dazugehören. WELT Es lässt sich nicht mit guten Gründen bestreiten, dass es eine men­ schenunabhängige Welt (ein Sein oder eine Realität) gibt, auf die menschliche Lebewesen Bezug nehmen, wenn sie denken, sprechen und handeln. Der Anfang der philosophischen Reflexion ist mit der Entwick­ lung einer Begrifflichkeit wesentlich verknüpft, die ermöglichen soll, wirklich Seiendes in seiner Beschaffenheit und Dynamik zu erfassen.

96 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

Die entwickelte Terminologie enthielt sowohl Begriffe, die sich auf das Sein bezogen, als auch solche Begriffe, die unsere Erkennt­ nisweisen, unsere epistemischen Einstellungen wiedergaben. Unter den ersten, den ontologischen Begriffen, findet man Termini wie: arché, kosmos, physis, einai, onta, pareinai, ousía. Unter den episte­ mischen Begriffen sind die Termini: eidénai, oida, noeîn, nóos, nus, nóesis, nóema, gignóskein, phroneîn, synesis, syniénai, empeiría, techne, epistéme, istoríe, mechané, doxa, manthánein, mathémata, matheîn, sophía, theoria, logos, mythos, legein, syllogízein, phaínein, phaínesthai, deíknymi, alétheia u. a. zu finden. Die Vielzahl von epistemischen Termen soll nicht darüber hin­ wegtäuschen, dass das von den griechischen Philosophen favorisierte Erkenntnismodell ein realistisches ist. Für die griechischen Denker gehören Sein und Denken, die Seinsstrukturen und die verschiedenen Formen des Denkens bzw. Fürwahrhaltens wesentlich zusammen. Denken ist immer ein Denken von etwas. Und Sein ist grundsätzlich denkbar, intelligibel, epistemisch zugänglich. Unter den aufgeführten ontologischen Begriffen scheinen mir drei besonders wichtig resp. repräsentativ zu sein: die Grundbegriffe »arché«, »physis« und »onta«. Jedem Lehrbuch der Geschichte der Philosophie kann man den Satz entnehmen, dass die sogenannten »Vorsokratiker« die Frage nach der »arché« der »physis« gestellt haben. In dieser Frage kommen zwei fundamentale Grundbegriffe zusammen: »arché« und »physis«. Unter »physis« verstanden die griechischen Philosophen das Natür­ liche als Ineinander von Wachstum und Gesetzlichkeit. Dabei wird an einen Prozess gedacht, an einen Werde- und Produktionsprozess, für den charakteristisch ist, dass er keinen Anstoß von außen erhält, sondern den Ursprung in sich selbst trägt. Die »physis« ist also nicht statisch, sondern ein Wesen und Walten, eine Gewachsenheit, die analog zu Wachstumsvorgängen im Pflanzenbereich gedacht wird. Der Begriff »arché« verweist nicht primär auf einen Urstoff oder eine Urmaterie. Er meint eher den Ursprung, die Genesis und die Herkunft der natürlichen Dinge, ein »Woher« also, anhand dessen man auch das »Wesen« des jeweils Gewordenen bestimmen kann. Und was geworden ist, nach dessen »Woher« man fragt, sind die »onta«, die Seienden, mit denen wir erkennend in einem unmittelba­ ren Kontakt stehen. Mit »onta« bezieht man sich auf alles, was da ist, was vorhanden ist. In der Alltagssprache bezeichnete der Begriff einfach den Hausrat (»meine Sachen«). Terminologisch verwandelt,

97 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

verweist nun der Begriff auf das, was es gibt, das heißt: auf die vorhandenen Dinge, die die Wirklichkeit ausmachen. Es ist die Leistung des Aristoteles, in seiner Kritik der plato­ nischen »Formen« herausgearbeitet zu haben, dass es nur zwei grundsätzliche, kategoriale Weisen von Existenz gibt: durch oder an sich selbst sein oder an etwas anderem sein. Platon selbst hatte von den Schwierigkeiten gewusst, die sich ergeben, wenn man die »Formen« oder »Ideen« als Objekte auffasst. Die »Formen« waren für ihn (eher als hypostasierte Objekte) notwendige Annahmen und Voraussetzungen, von denen man auszugehen hat, soll es Wissen oder Erkenntnis (von Konstantem) geben. Dennoch wurden die platonischen »Formen« als Gegenstand einer Theorie tradiert, die Aristoteles nicht unkritisiert stehen lassen konnte. Aristoteles selbst war der Auffassung, dass es nur Einzeldinge und Qualitäten, Merkmale oder »Akzidenzien« an solchen Einzeldin­ gen gibt. Die Welt besteht demnach in der Hauptsache aus Einzel­ dingen und all jenen Merkmalen, die die konkrete Beschaffenheit der Einzeldinge ausmachen. An sich selbst existierende und persis­ tierende Einzeldinge nennt Aristoteles (»erste«) »Substanzen«, an denen anderes ist. Heute müsste man ontologisch von Einzeldingen ausgehen, die nicht in einem aristotelischen Sinne »Substanzen« sind. Solche Einzeldinge wären weniger als »Substanzen« und mehr als »Akziden­ zien«. Sie wären immer ein bestimmtes Etwas und nicht irgendet­ was, denn irgendetwas ist immer ein Etwas und »etwas sein« und »irgendetwas sein« sind nicht kompatibel. »Etwas sein« ist immer etwas Bestimmtes sein, nicht einfach »irgendetwas« (d. h. etwas Unbestimmtes) sein. Im philosophischen Projekt des Aristoteles ist eine Erforschung der Einzeldinge und all dessen, was sie bewirken, möglich. Ein sol­ ches Projekt beruht auf den kausalen Kräften bzw. Vermögen der Einzeldinge, die in Verhältnissen vorkommen und sich wechselseitig beeinflussen. Philosophie ist für Aristoteles deswegen nicht nur Begriffsanalyse, sondern auch Sacherforschung. Nicht alle Dinge, die es gibt, sind aber Einzeldinge. In der Welt gibt es Dinge wie Wasser, Gold, Silber, die keine Einzeldinge sind. Sie haben wie die Einzeldinge bestimmte Eigenschaften und können in bestimmten Verhältnissen vieles kausal bewirken. Sie sind aber keine Einzeldinge, sondern »Stoffe« oder »Massen«. Würde man diese Dinge zerlegen oder unterteilen, wären die Teilungsprodukte immer

98 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

neue Portionen derselben Art von Masse oder desselben Stoffes. Außerdem gibt es Dinge, die geschehen bzw. der Fall sind. Auf sie beziehen wir uns mit dem Begriff der Ereignisse. Sie sind materiell und individuierbar. Aber sie sind keine »materiellen Einzeldinge« in einem terminologisch präzisierten Sinne. Weil die Einzeldinge »dispositionale« Eigenschaften haben, kön­ nen sie in Verbindung und Interaktion mit anderen Einzeldingen vieles bewirken. »Dispositionale Eigenschaften« sind besonders wichtig, wenn es darum geht zu erklären, wie es in der Welt dazu kommt, dass irgendetwas geschieht. So zum Beispiel »Ladung«, »Masse« oder auch »Kraft« als dispositionale Eigenschaften würden gut erklären können, warum bestimmte Ereignisse oder Sachverhalte zustande kommen. Es ereignet sich immer etwas, wenn es in der Welt zu einer Verän­ derung kommt, weil ein existierendes Einzelding eine Eigenschaft, die es gehabt hat, verliert oder eine neue Eigenschaft erwirbt, oder aber, weil ein Einzelding aufhört zu existieren oder zu existieren anfängt. Was sich ereignet, ist immer etwas Konkretes, etwas Partikulares, das auf der Basis von kausalen Verhältnissen sprachlich individuiert wird. Beispiele für Ereignisse sind einzelne Explosionen, einzelne Eheschließungen, einzelne Kämpfe, einzelne Brände, einzelne Ver­ kehrsstaubildungen, einzelne Wahlen, einzelne Versöhnungen, ein­ zelne Geburten, einzelne Todesfälle oder einzelne Streitgespräche. Mittels bestimmter Beschreibungssätze nehmen wir Bezug auf sie. Es gibt mit anderen Worten einzelne Ereignisse, die verursacht worden sind und selbst unterschiedliche Wirkungen und Effekte verursachen. Ereignisse sind deswegen genauso zählbar und individuierbar wie »materielle Einzeldinge« und folglich sind Ereignissätze genauso wahrheitsfähig wie die Sätze, die auf materielle Einzeldinge refe­ rieren. Ereignisse und Ereignissätze erweisen sich somit als funda­ mentale Weltelemente bzw. als unverzichtbare wahrheitsfunktionale Beschreibungsmittel dessen, was es tatsächlich gibt. Der methodologische Ansatz der Erklärung des Zustandekom­ mens von Ereignissen, der auf die dispositionalen Eigenschaften der Einzeldinge zurückgreift, muss keineswegs eine degradierende Relativierung des ontologischen Stellenwertes von Ereignissen nach sich ziehen. Denn das Zustandekommen und das Verschwinden von Einzeldingen ließen sich ebenfalls von den Ereignissen des Ent­ stehens und Vergehens her erklären, ohne dass die ontologische Fundamentalität und Basalität der Einzeldinge dadurch wesentlich

99 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

tangiert würde. Die Welt, die wir in der Philosophie und in den einzelnen Wissenschaften begreifen und erkennen wollen, besteht in der Tat aus existierenden Einzeldingen und Dingen, die geschehen, aus Einzeldingen und Ereignissen. In der Philosophie und in den einzelnen Wissenschaften ver­ suchen wir Welt, besser: Weltstruktur, zu erfassen und zu begreifen. Mit Sicherheit ist das Vokabular, das in der Philosophie geprägt und gebraucht wird, viel allgemeiner und abstrakter als das einzelwissen­ schaftliche Vokabular. Daraus kann man nicht die These ableiten, dass die Philosophie in Bezug auf Welt und Weltstruktur etwas ande­ res will als die Einzelwissenschaften. Philosophie und Einzelwissen­ schaften wollen Weltstruktur begreifen, Wissen über Welt erzielen. Sie haben dasselbe Ziel, auch wenn die Mittel sehr unterschiedlich sein können. DENKEN Ein besonderes Merkmal charakterisiert geistige Lebewesen, die bewusst ihr Leben vollziehen: das Merkmal der Intentionalität. Ein Bewusstsein zu haben, bedeutet intentional auf Welt bezogen zu sein, auf das, was die Welt ausmacht. »Bewusstsein«, um das bekannte Dik­ tum Edmund Husserls zu wiederholen, ist immer »Bewusstsein von« etwas. Und ein »Geistwesen« zu sein, heißt immer, wahrnehmend, wollend, erlebend, fühlend und denkend auf Welt und Weltdinge bezogen zu sein. Der Weltbezug geistiger Lebewesen kann ein theoretischer, erkenntnismäßiger oder ein praktischer (im weitesten Sinne dieses Begriffes) sein. Der theoretische Weltbezug kommt in Sätzen wie »ich bin über­ zeugt davon, dass …«, »ich halte für sicher, möglich, denkbar, dass …«, »ich glaube, dass …«, »ich halte für wahrscheinlich, dass …«, »ich vermute, nehme an, meine, dass …«, »ich bezweifle, dass …«, »ich halte für unwahrscheinlich, unmöglich, ausgeschlossen, dass …« usw. zum Ausdruck. All diese Sätze enthalten »epistemische« (erkenntnisbezogene) Verben, die Glaubens- oder Überzeugungs­ grade anzeigen. Diese Verben können weiter durch die Hinzufügung von metrischen oder quasimetrischen Ausdrücken wie »halbwegs«, »einigermaßen«, »ziemlich«, »recht«, »sehr« oder »äußerst wahr­ scheinlich« nuanciert werden.

100 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

Glaubens- und Meinungssätze sowie die in ihnen ausgedrück­ ten Überzeugungen erfüllen viele und verschiedene Funktionen im Leben der sie bejahenden bzw. habenden Menschen. Sie dienen dazu, Vergangenes und Gegenwärtiges zu erklären, Annahmen und Mutmaßungen zu begründen. Sie können aber auch eine Inspirationsoder Motivationsquelle sein. Überzeugungen erwerben wir in kognitivem Kontakt mit Welt­ struktur im Laufe unseres Lebens, gleichgültig ob dieser Kontakt perzeptiver, erfahrungsmäßiger oder aber emotionaler Art ist. Über­ zeugungen erwerben wir weiterhin, wenn wir mutmaßen und ver­ suchen etwas zu erklären, oder aber, wenn wir aus dem, was wir schon wissen, etwas anderes ableiten. Unsere Glaubensannahmen und Überzeugungen bewerten wir auf der Basis dessen, was wir erleben, und der Informationen, die wir lebend erhalten. Diese Informationen kommen nie allein und isoliert vor, sondern in Netzwerken oder Systemen, in denen sie sich wechselseitig bedingen und beeinflussen. Traditionell hat man die Überzeugungen (»beliefs«) als Glau­ bensakte, Gefühle (Hume redet von »feelings« resp. »sentiments«) oder Gewohnheiten (Peirce) aufgefasst. Gegenwärtig präferiert man die besseren Begriffe »dispositionale Einstellungen«, »Verhaltensdis­ positionen«, »repräsentative Zustände«, »intentionale Zustände«, »Informationszustände« oder aber »propositionale Einstellungen«. Diesen letzten Begriff würde ich bevorzugen und ihn synonym mit dem Begriff einer »doxastischen Einstellung« verwenden. Ich weiß aber auch, dass er vielerlei Missverständnisse verursachen kann. Der Begriff wurde von Bertrand Russell eingeführt und er würde zu falschen Auffassungen führen, wenn man »Propositionen« als real existierende Objekte idealer Natur denken würde, denen man zustimmen oder die man ablehnen könnte. Der Begriff ist potenziell irreführend. Vorsichtig verwendet braucht er aber nicht wirklich in die Irre zu führen. Die philosophische Logik aber auch die empirische Denkpsycho­ logie, die sich genauso wie die Logik mit der Analyse der Struktur des menschlichen begrifflichen, propositionalen und inferenziellen Denkens beschäftigt, haben eine Reihe von (formalen und empiri­ schen) Fortschritten erzielt, die sich präzise rekonstruieren lassen. Die Mathematisierung der Aussagenlogik, d. h. der Logik der Propositio­ nen, sowie die Funktionalisierung der Prädikatenlogik, durch welche die innere Struktur von Propositionen besser erfasst werden konnte

101 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

und die Defizite der traditionellen Erörterung der Prädikationsfunk­ tion (wie die Fixierung auf Eigenschaften und die Vernachlässigung der Relationen) überwunden werden konnten, lassen sich als eine Fortschrittsgeschichte darstellen, die von der traditionellen Logik zur Logistik oder modernen, mathematischen Logik geführt hat, deren Vorzüge u. a. von Heinrich Scholz systematisch identifiziert und gewürdigt worden sind. Das Alltagsdenken, das des Öfteren als deliberativer Urteilsbil­ dungs- und Entscheidungsprozess in Ungewissheits- und Unsicher­ heitssituationen aufgefasst wurde, ist ein wichtiges Thema der denkund kognitionspsychologischen Forschung, welche sich statistischer (insbesondere bayesianischer) Modelle und diverser Alltagsheuristi­ ken bedient. Wie in jeder empirischen Disziplin werden in der Denkund Kognitionspsychologie Fortschritte erzielt, sowohl in Bezug auf die Begriffsbildung als auch bezüglich der Modellierungsarbeit. Trotz aller Differenzen, müsste man an dieser Stelle festhalten, befindet sich die philosophische Reflexion in keinem Verhältnis der Konkurrenz mit den einzelnen empirischen Wissenschaften, son­ dern eher in einem themenspezifisch genau zu differenzierenden Kooperationsverhältnis, von dem eine anspruchsvolle theoretische Bearbeitung der jeweiligen Themen- und Problemkomplexe nur pro­ fitieren kann. HANDELN Menschen sind lebendige Organismen, die durch ihre Bewegungen in der Welt etwas bewirken können. Sie können Prozesse in Gang bringen, Ereignisse verursachen, Zustandsveränderungen von exis­ tierenden Größen bewirken. Indem sie sich verhalten, tun sie etwas: Sie sorgen dafür, dass irgendetwas entsteht oder geschieht, bzw. verhindern, dass irgendetwas anderes geschieht, was geschehen wäre, wenn sie nichts getan hätten. Das menschliche Verhalten als Gesamtheit von Verhaltenswei­ sen ist keineswegs beliebig. Es hat Ursachen und Motive, die sich wissenschaftlich erfassen lassen, entweder durch Beobachtung oder durch Ableitungen, die immer theoretisch angeleitet vollzogen wer­ den. Manche Verhaltensweisen beschreiben wir als »Handlungen«, indem wir uns dabei eines spezifischen Vokabulars bedienen, das mit Begriffen wie »Wünsche«, »Überzeugungen«, »Gründe«, »Absich­

102 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

ten«, »Ziele« und so weiter arbeitet. Wir sagen dann, dass irgendje­ mand x absichtlich getan hat, weil er oder sie etwas erreichen wollte. An »Handlungsbeschreibungen« sind wir sehr interessiert. Es ist unser Selbstbild bzw. Selbstverständnis, das wir schätzen und pflegen, dass wir freie Wesen sind, die in der Lage sind, frei zu handeln, frei­ willig etwas zu tun. Außerdem ermöglichen uns solche Handlungs­ zuschreibungen, Geschehenes zu attribuieren, d. h. Verantwortung zuzuweisen. Auf die Weise können wir bestimmte Menschen für das Geschehene haftbar machen. Diese Praxis der Handlungszuweisung und überhaupt der Zurechenbarkeit ist uns besonders wichtig. Unsere hochgeschätzte und äußerst funktionale Praxis des Tadelns und Lobens sowie der Schuldzuweisungen, durch die wir das Verhalten von Menschen steuern und gestalten, setzt die Möglichkeit von Handlungen voraus. Damit wir Vorwürfe machen, Lob oder Tadel aussprechen können, ist es erforderlich, dass den Gelobten und Getadelten ein Minimum an Freiwilligkeit zugesprochen wer­ den kann. Erst dann macht es Sinn, sie für Getanes zu belangen. Die Zurechenbarkeit von Verhaltensweisen, an der wir in unseren modernen Gesellschaften äußerst interessiert sind, arbeitet mit der Unterstellung zurechnungsfähiger Subjekte, die verantwortlich für das sein können, was sie tun. Das vorgeworfene Fehlverhalten, sei dieses moralischer, rechtli­ cher oder technischer bzw. pragmatischer Natur, aber auch das ganz normale Handeln setzt voraus, dass wir Freiwilligkeit bzw. Hand­ lungsvermögen attribuieren. Ich kann nur jemandem Grausamkeit oder Täuschungsverhalten vorwerfen bzw. ich kann nur jemanden für etwas haftbar machen, wenn der betreffenden Person in irgendeiner Hinsicht Freiwilligkeit zugesprochen werden kann. Uns ist es sehr wichtig, dass eine solche Praxis des Vorwerfens und Haftbarmachens aufrechterhalten wird, sowohl im privaten Interaktionsbereich als auch im öffentlichen und institutionellen Bereich. Aber was sind genau diese von uns so geschätzten bzw. für uns so funktionalen Handlungen? Handlungen lassen sich als eine bestimmte Klasse von Ereignissen auffassen, die sich in einer spe­ zifischen Weise beschreiben lassen. Man könnte definieren: Eine Handlung ist ein Ereignis, das sich als das Resultat einer absichtlichen Intervention bzw. Tat eines menschlichen Subjektes beschreiben lässt. Handlungen sind demnach Ereignisse. Aber nicht alle Ereignisse lassen sich als Handlungen beschreiben.

103 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Gil

Ereignisse werden dann zu Handlungen, wenn sie auf eine bestimmte Weise beschrieben werden können. Umgekehrt heißt dies: Ereignisse oder Geschehnisse hören auf, Handlungen zu sein, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie mithilfe des Begriffs der Absicht bzw. Intention zu beschreiben. Die Beschreibung eines Ereignisses als Handlung besteht im Ein­ zelnen darin, dass das Ereignis in eine besondere Beziehung (nämlich in eine kausale Beziehung) zu den Überzeugungen, Einstellungen, Wünschen und Präferenzen der Individuen gebracht wird. Diese als Gründe rationalisieren die einzelnen Handlungen. Die Überzeugungen und Einstellungen, zu denen wir die Ereig­ nisse in Beziehung setzen, gibt es nicht isoliert. Sie bilden immer ein System von Überzeugungen und Einstellungen, sodass es angemes­ sen ist, von einem »Holismus des geistigen Bereiches« zu sprechen. Wenn Ereignisse mit solchen Systemen von mentalen Zuständen in Verbindung gebracht werden, erscheinen sie in einem anderen, neuen Licht, nämlich als Handlungen. Gegen diese Sicht der Handlungen als Resultate von bestimmten Beschreibungen von Ereignissen (d. h. gegen die Sicht der Hand­ lungen als Ereignisse) haben einige Autoren die alternative Sicht entwickelt, dass Handlungen keine Ereignisse sind. Da es das Problem der Handlungsindividuation gibt, nämlich das Problem der genauen Bestimmung, welches Ereignis genau eine bestimmte Handlung ist, wann das Ereignis anfängt, wann es endet, wo es stattfindet, und in welcher Beziehung es zu anderen Ereignissen steht, hat man die Handlung als ein (verursachendes) Verhältnis von Handelnden zu Ereignissen definiert und festgelegt, dass Handlungen (anders als die Ereignisse, die sie verursachen) nicht datierbar sind. Handlungen und das menschliche Handeln überhaupt sind das Thema der praktischen Philosophie, die Voraussetzungen, Beschaf­ fenheit und Folgen des menschlichen Handelns zu analysieren und zu erklären versucht. Die Arbeit der praktischen Philosophie bzw. der »Ethik« (im weitesten Sinne dieses Begriffes) wird man heute nur in Zusammenarbeit mit den sogenannten empirischen Sozial- und Humanwissenschaften angemessen leisten können. Sicher sind die Methoden und Vorgehensweisen der rationalen Entscheidungstheo­ rie, der Verhaltensökonomie, der Soziologie, der Jurisprudenz sowie der empirischen und der normativen Ethik sehr unterschiedlich. Wir brauchen aber alle diese Vorgehensweisen sowie deren Überschnei­ dungen, um das menschliche Handeln angemessen zu begreifen.

104 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Begreifen, was es gibt

Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte der Philosophie für die philosophische Reflexion sehr wichtig ist. Nicht weil ich der Mei­ nung bin, dass Philosophie Begriffs-, Ideen- oder Problemgeschichte zu sein hat, sondern weil sich Menschen in der Philosophie genauso wie in den einzelnen Wissenschaften mit mehr oder weniger Erfolg bemüht haben zu begreifen, was es gibt, wie wir denken und was es heißt, dass wir zu handeln vermögen. In der Geschichte der Philoso­ phie sind zu den Themenkreisen »Welt«, »Denken« und »Handeln« rekonstruktionswürdige Positionen entwickelt worden. Es lohnt sich deswegen, sich auf sie einzulassen. Aber es lohnt sich ebenfalls, auf die Einzelwissenschaften einzugehen, um »Welt«, »Denken« und »Handeln« besser zu begreifen.

105 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

Die Philosophie hat ein besonderes Verhältnis zu ihrer Geschichte, das wiederum mit ihrer Genese zusammenhängt. Ursprünglich stellte die »Liebe zur Weisheit« eine Universaltheorie dar, die alle Gegen­ stände menschlichen Wissens umfasste: Natur, Staat, Gesellschaft, Moral, Erkenntnis und Metaphysik. Doch spätestens seit den Anfän­ gen der Wissenschaften in der Neuzeit sind der Philosophie ihre alten Themenbereiche gleichsam abhandengekommen. Es begann mit der Physik und Kosmologie eines Galilei und setzte sich mit der Gravitationstheorie von Newton fort, der das erste Paradigma eines wissenschaftlichen Weltbildes schuf. Während der Aufklärung kamen Biologie und Medizin mit ansatzweise organischen und evo­ lutionären Modellen bis zu Darwin hinzu. Gleichzeitig entstanden die Sozialwissenschaften, namentlich die politische Ökonomie mit Quesnay, Smith und Ricardo sowie die Soziologie seit Montesquieu und Durkheim. Schließlich eroberte die wissenschaftliche Erkenntnis sogar die menschliche Seele, die Freud in einen psychischen Apparat umgedeutet hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien die Philosophie ihre traditionellen Inhalte komplett verloren zu haben. Materie und Geist, Natur und Mensch, Individuum und Gemeinschaft waren in fester Hand der sich immer weiter entwickelnden und etablierenden Einzel­ wissenschaften. Dieser Rückzug schlug sich nicht zuletzt in einem schwindenden Einfluss der Philosophie in den staatlichen Institutio­ nen wie Universitäten und Akademien nieder. Als Auswege aus der Krise boten sich vier Strategien an. Die erste Lösung lieferte der Historismus. Droysen und Dilthey setzten an die Stelle kausalen Erklärens das Verstehen individueller Handlungsmo­ tive und begründeten damit nicht nur eine neue Geschichtswissen­ schaft, sondern generell die Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften. Besonders Wilhelm Dilthey legte die soge­

107 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

nannte Lebenswelt zugrunde, in der die Äußerungen innerer Erleb­ nisse auf hermeneutische Weise gedeutet werden sollten (Dilthey, 99). Daran schloss sich zweitens die ebenfalls lebensweltlich orien­ tierte Phänomenologie Edmund Husserls an, der sich explizit von der Psychologie abgrenzte und die äußeren und inneren Wahrnehmun­ gen mit ihren entsprechenden Bewusstseinszuständen thematisierte (Husserl, Bd. 2, 24 ff.). Im Gegensatz dazu schloss sich drittens der logische Positivismus als Vorläufer der analytischen Philosophie dem Paradigma der modernen Wissenschaften an, indem er sich auf die exakten Methoden einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse konzen­ trierte. Der vierte Versuch, die Philosophie vor ihrem drohenden Bedeu­ tungsverlust zu bewahren, bestand – wiederum im Anschluss an den Historismus – in der Rückbesinnung auf ihre eigene Geschichte. Natürlich gab es bereits seit der europäischen Aufklärung bis Hegel eine ganze Reihe von Philosophiegeschichten. Aber entscheidend ist hier der Unterschied der Perspektive. Bei den Autoren des 18. Jahr­ hunderts wie Johann Jakob Brucker, André-François Boureau-Des­ landes und Friedrich August Carus überwog noch das systematische Interesse, das darin bestand, die im Laufe der Zeit erreichten »Fort­ schritte« der menschlichen Vernunft zu dokumentieren. Explizit wurde das bei Immanuel Kant, der nach einem Leitfaden a priori gesucht hat, um die Philosophiehistorie vom Standpunkt seiner Tran­ szendentaltheorie rational rekonstruieren zu können (Kant, Bd. XX, 341 f.). Noch deutlicher konzipierte Hegel seine Geschichte der Philo­ sophie als »System in der Entwicklung«, in der die historische Abfolge philosophischer Gedanken dem logischen und begrifflichen Fortgang der philosophischen Idee zu entsprechen hatte (Hegel, Bd. 18, 47, 49). In diesem Fall handelte es sich um Philosophiege­ schichte als Philosophie. Doch mit der historistischen Wende verla­ gerte sich das Interesse auf die historische Darstellung. Exemplarisch genannt sei die Geschichte der Philosophie von Eduard Zeller, der Hegels »dialektische Konstruktion« ablehnte und die einzelnen Phi­ losophen mit ihren sukzessiven Einflüssen in den Mittelpunkt einer allgemeinen Kulturgeschichte stellte (Zeller, 416 ff.). Weiter zu nen­ nen sind Adolf Trendelenburg, Kuno Fischer und Wilhelm Windel­ band. Gemeinsam ist ihnen die Umkehrung des Verhältnisses von Systematik und Historik zur Philosophie als Philosophiegeschichte.

108 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

1. Fortschritt und Wiederholung Vor diesem Hintergrund ist Hans Friesen darin zuzustimmen, dass die Philosophie von den Einzelwissenschaften abzukoppeln sei, wobei ich ergänzen möchte, dass diese Trennung schon längst vollzogen worden ist und sich beim besten Willen nicht mehr rückgängig machen lässt. So fehlt der Philosophie ein eigener spezifischer Gegenstand, auf dem sie nachweisbare Erfolge mit verwertbaren Anwendungen vorweisen könnte. Daraus folgt wiederum, dass man in dieser Disziplin keine eindeutigen Fortschritte auszumachen vermag, geschweige denn einen geradlinigen, irreversiblen und zielgerichteten »Fortschritt«. Als Alternative schlägt Friesen vor, die Geschichte der Philoso­ phie als eine Abfolge von »Wiederholungen«, Zyklen oder Wellen zu begreifen. Demnach verläuft das philosophische Denken in Form von Auf- und Abwärtsbewegungen, in denen ähnliche Denktypen, Grundeinstellungen oder Richtungen periodisch wiederkehren. Doch zugleich schließt der Autor nicht aus, dass in dieser Wiederkehr des immer Gleichen auch Variationen, Veränderungen oder gar Erneue­ rungen vorkommen, womit er sich wieder dem anfangs kritisierten Fortschrittsmodell annähert. Ausdrücklich ist von einem »zweigleisi­ gen Entwicklungsmodell« die Rede, das sich aus einer »formalen« Wiederkehr und einer »Fortsetzung mit neuen Inhalten« zusammen­ setzt. Hier stellt sich das Problem, welchen Philosophiebegriff Frie­ sen damit verfolgt. Bereits der Titel signalisiert die Präferenz des historischen Aspekts. Dafür sprechen die Abgrenzung gegen Hegels Systementwurf und die Betonung der Wiederholung philosophischer Positionen im Laufe ihrer Entwicklung. Auch wenn sich der Autor sonst auf keine der oben genannten Standardwerke zur Philosophie­ geschichte beruft, ist doch die Nähe zur Darstellungsweise des His­ torismus spürbar. Das zeigt sich in der Art und Weise, in der die gesamte Geschichte der Philosophie seit der Antike bis zur heuti­ gen Gegenwart skizziert wird. Im Gegensatz dazu könnte man den zweiten Aspekt der »Fortsetzung« philosophischer Inhalte mit einem systematischen Anliegen in Verbindung bringen. Es taucht im zwölf­ ten Abschnitt auf, wo für die Auflösung des aktuellen Gegensatzes »Moderne versus Postmoderne« nach einer Vermittlung gesucht wird. Bevor ich diesen Vorschlag weiter kommentiere, möchte ich mich kurz auf die Kritik von Dagmar Berger beziehen. Zwar betont auch sie die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber den Einzelwissen­

109 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

schaften. Aber sie orientiert sich in erster Linie an der erwähnten Lebensphilosophie von Husserl. Die Alternative leuchtet insofern ein, als es kaum eine andere philosophische Position gibt, die sich derart ausschließlich der individuellen Alltagserfahrung widmet. Bei Berger kommt das besonders emphatisch zum Ausdruck, indem sie von existenziellen Erlebnissen ausgeht, welche »die menschliche Seele fundamental erschüttern« und damit die »Abgründe« menschlichen Daseins offenbaren. Wie authentisch dieser Zugang auch sein mag, so ist doch mit Thomas Gil zu bezweifeln, ob das professionelle Philosophieren tatsächlich zu derart persönlichen Einsichten zu füh­ ren vermag. Für ebenso wenig hilfreich halte ich die Hinwendung zur Tiefenpsychologie von Walter F. Furrer, Abraham Heschel, Sig­ mund Freud und Carl Gustav Jung, weil mit der Fundierung durch das »Unbewusste« die spezifisch philosophische Erkenntnisweise verfehlt wird. Geradezu im Gegensatz zur Geschichte der Philosophie sehe ich Bergers Behauptung, dass »jeder philosophische Ansatz eine völlig eigenständige Sicht auf die Geschichte der Philosophie, Kultur und Wissenschaft darstellt«, die allein »durch die seelische Kraft des einzelnen Philosophen neu gestaltet und entfaltet wird«. Zwar ist ihr darin Recht zu geben, dass jede Wiederholung von Gedankenge­ bäuden »mit neuen Inhalten und Ideen verschiedener Denker und Philosophen gestaltet« wird, die Antworten auf die »Fragen ihrer Zeit« geben. Doch anhand des eigenen Beispiels Hannah Arendt zeigt sie, wie diese Philosophin ihre neuen Gedanken sehr wohl in den historischen Kontext von Sokrates und Aristoteles zu stellen wusste. Aus diesem Grund halte ich Bergers These von der völli­ gen »Neuschöpfung« einer jeden Philosophie für maßlos überzogen. Sie leugnet damit jede historische Kontinuität oder Entwicklung in der Geschichte der Philosophie und damit letztlich die Möglichkeit von Philosophiegeschichte. Thomas Gil stimme ich zu, dass die Geschichte der Philosophie kein »Selbstzweck« sein dürfe, sondern die Aufgabe habe, die sys­ tematische Reflexion zu fördern. Damit wendet er sich gegen die historistische Verkürzung und plädiert für das Primat systematischen Philosophierens. Dabei schätze ich besonders, dass er sich nicht auf Methodenfragen beschränkt, wie es in der analytischen Philoso­ phie der Gegenwart verbreitet ist, sondern ausdrücklich bestimmte Gegenstandsbereiche ins Auge fasst. An die Stelle der Beschäftigung mit verselbstständigten Begriffen setzt er das philosophische Nach­

110 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

denken über bestimmte Inhalte wie »Welt«, »Denken« und »Han­ deln«. Daraus folgt, dass sich die Philosophie wieder stärker auf die Ergebnisse der Einzelwissenschaften einzulassen habe. An diese Grundüberzeugung werde ich anknüpfen und dabei die Position von Friesen noch einmal kritisch betrachten.

2. Fortgang und Kreislauf in Hegels Geschichte der Philosophie Zunächst ist die schroffe Abgrenzung gegenüber Hegel nicht nach­ vollziehbar. Wie erwähnt, hat dieser die Philosophiegeschichte als die historische Entfaltung seines eigenen philosophischen Systems betrachtet, so dass die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie mit dem Hauptwerk Wissenschaft der Logik korrespondieren sollten. Besonders die Anfänge weisen Parallelen auf, wie der Übergang von Parmenides zu Heraklit, dem die logisch aufeinander folgenden Begriffe »Sein« und »Werden« entsprechen (Hegel, Bd. 18, 284 ff., 319 ff.; Bd. 5, 82 f.). Aber nach diesem berühmten Beispiel kommt der Gleichklang bereits ins Stocken. Schon Sokrates und Aristoteles las­ sen sich »logisch« schwer verorten; und die Philosophie der Neuzeit mit Descartes, Spinoza, Locke und Leibniz sowie die Aufklärung von Berkeley, Hume bis Rousseau folgen je eigenen Denkmustern. Allein der letzte Abschnitt »Neueste deutsche Philosophie« mit Kant, Fichte und Schelling kann als direkte Vorstufe des eigenen philosophischen Systems gelten. Doch nirgends ist von einem linearen Fortschritt die Rede, allenfalls von »Entwicklung«, »Fortgang« oder »Fortschrei­ tung« (Bd. 18, 38 f., 47, 52). Diesem Vorgehen entsprechen auch Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in der nicht etwa von Fortschritt, sondern ebenso nur von »Fortgang« und »Fortschreiten« die Rede ist (Bd. 12, 74, 78). In diesem Kontext ist besonders wichtig, dass Hegel die lineare Weltgeschichte mit einer kreisförmigen Figur kombiniert, die das Auf und Ab der einzelnen Nationen und Völker versinnbildlicht. Vor allem die griechische und römische Kultur wird nach dem Muster Entstehung, Aufschwung und Verschwinden konstruiert (ebd., 277, 313, 335, 343, 359, 371, 380). Dieses zwiespältige Modell macht sich natürlich auch in den Vorlesungen über die Geschichte der Philoso­ phie bemerkbar, weil sich diese Geschichte nur in der Kombination von globaler Entwicklung und lokalen Kulturzyklen darstellen lässt. Das kommt beispielsweise in der Philosophie des Mittelalters zum

111 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

Ausdruck, wo Hegel ein »Wiederaufleben der Wissenschaften« kon­ statiert (Bd. 20, 11), wie auch in der Philosophie der Aufklärung, die er als eine »Übergangsperiode« zu Kant charakterisiert (ebd., 267). Auch Begriffe wie »Skeptizismus« wiederholen sich in den Darstellungen der Spätantike (Bd. 19, 249) und Aufklärung (Bd. 20, 269). Damit ist erwiesen, dass in Hegels Philosophiegeschichte keineswegs die Fortschrittsidee dominiert, sondern dass darin das historische Deu­ tungsmuster des Kreislaufs ebenso konstitutiv ist.

3. Wiederkehr und Entwicklung Insgesamt möchte ich die Fixierung auf Wiederholungen in der Geschichte der Philosophie in Zweifel ziehen. Dabei geht es mir weniger um die Beobachtung, dass im Laufe der Epochen bestimmte Grundpositionen wiederkehren, zu denen Friesen »Idealismus und Realismus« in der Antike, »Rationalismus und Empirismus« in der Neuzeit und Aufklärung, »Kritizismus« und »Idealismus« bei Kant und Hegel sowie »Moderne und Postmoderne« in der heutigen Gegenwart zählt. Vielmehr stelle ich die Frage, welche Bedeutung diese Positionen in der Entwicklung der Philosophie haben. Meine erste These lautet, dass die Begriffe für derartige Denkrichtungen derart abstrakt sind, dass sie über die darin enthaltenen philosophi­ schen Inhalte und Methoden kaum etwas aussagen. Daran schließt sich meine zweite These an, dass die Umwandlungen und Erweite­ rungen keineswegs aus der Immanenz der Philosophie resultieren, sondern sich wesentlich den Bezügen zu den Einzelwissenschaften verdanken. Bei aller Distanz zur Wissenschaftsgeschichte ist daran zu erinnern, dass die einzelwissenschaftlichen Errungenschaften auf die Entwicklung der Philosophie einen maßgeblichen Einfluss ausüben. Aus diesen Gründen mag man zwar der Philosophie einen autonomen Fortschritt absprechen, aber zugleich ist anzuerkennen, dass sie an den Fortschritten der sie umgebenden Wissenschaften teilhat. Das werde ich nun am Beispiel der genannten Gegensatzpaare näher erläutern.

3.1 Idealismus und Realismus in der Antike Auch wenn man Platons Philosophie als »idealistisch« und die Posi­ tion von Aristoteles als »realistisch« charakterisieren kann, ist damit

112 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

über die darin steckenden Sachverhalte wenig mitgeteilt. Untersucht man jedoch ein bestimmtes Themenfeld wie die praktischen Philoso­ phie, erweist sich dieser Gegensatz als wesentlich konkreter. »Idea­ listisch« bedeutet dann bei Platon, dass die intellektuelle Einsicht in das Gute die hinreichende Basis dafür bilden soll, dass auf entspre­ chende Weise gut gehandelt werde. – Demgegenüber vertrat Aristo­ teles die »realistische« Position, dass die bloße Erkenntnis in das rich­ tige Handeln keineswegs ausreiche und dass es dazu der tätigen Einübung innerhalb einer Polisgemeinschaft bedürfe. Wesentlich ist hier die sachliche und terminologische Unterscheidung zwischen dem herstellenden Handeln (poiesis) und dem selbstzweckhaften Handeln (praxis). Erst dadurch entstand – zusammen mit der Politik – die neue und eigenständige Disziplin Ethik (Aristoteles, 1 ff.). Die damit ein­ hergehende Ausdifferenzierung in theoretische und praktische Phi­ losophie kann man durchaus als einen »Fortschritt« in der Philosophie beurteilen, der auch für die weitere Entwicklung paradigmatisch sein wird.

3.2 Rationalismus und Empirismus in Neuzeit und Aufklärung Wie erwähnt, spielten die sich nach dem Mittelalter herausbildenden Naturwissenschaften für die Geschichte der Philosophie eine wichtige Rolle. Und ich behaupte, dass sich gerade der Übergang vom Ratio­ nalismus zum Empirismus auf die Entwicklung von Galileis Kinema­ tik zu Newtons Dynamik gegründet hat. Bekanntlich hat Galilei den physikalischen Körpern noch keine Kräfte zugebilligt, so dass er die zu beobachtenden Bewegungen auf rein geometrische Weise beschrieb. Entsprechend hat dann auch René Descartes seine neue wissenschaftliche Methode allein auf die Mathematik und damit auf die menschliche Vernunft gegründet (Methode, 33). Sein Rationalis­ mus hing also unmittelbar mit dem Stand der zeitgenössischen Physik zusammen. – Das änderte sich mit Newton; weil er physikalische Kräfte nur hypothetisch vorausgesetzt hat, kehrte er die Methode so um, dass nun von den Erscheinungen auf die verborgenen Ursachen zu schließen sei. Genau dieses Verfahren findet sich bei John Locke, der die Kraft für eine »undeutliche Idee« hält, die nur durch Erfahrung indirekt erkannt werden könne (Locke, Bd. I, 279). Aus diesem Empi­ rismus zog schließlich David Hume die Konsequenz, dass den Men­ schen eine rationale Erkenntnis von Kräften und Ursachen aus prin­ zipiellen Gründen verwehrt sei (Hume, 77 f.). Das rief wiederum die

113 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

Kritik von Immanuel Kant hervor, der bereits in der Einleitung seiner Kritik der reinen Vernunft die Frage stellte: »Wie ist reine Naturwis­ senschaft möglich?« (Kant, Bd. III, 40). Nicht zuletzt gründete sich die empiristische Methode auf die biologische und medizinische Erforschung menschlicher Sinnesorgane. Wiederum bestätigt sich die Auffassung, dass die Entwicklung philosophiegeschichtlicher Posi­ tionen von den sie begleitenden Einzelwissenschaften vorangetrieben wird.

3.3 Idealismus und Materialismus bei Hegel und Marx Bei diesen Autoren hat sich das Schema Idealismus kontra Materialis­ mus am hartnäckigsten festgesetzt. Nach eigenem Selbstverständnis begriff sich Hegel als Vertreter eines »objektiven Idealismus«: In der Wissenschaft der Logik kulminiert die gesamte Entwicklung von Natur und Geist in der allgemeinen »Idee« (Hegel, Bd. 6, 462), die in der Rechtsphilosophie im entwickelten Staat (Bd. 7, 398) und in der Geschichtsphilosophie im »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« (Bd. 12, 32) besteht. Diese Verortung bestätigt sich in der Kritik von Karl Marx, der ja, wie bekannt, Hegels Philosophie »vom Kopf auf die Füße« stellen wollte (Marx, Bd. 23, 27). An die Stelle einer »spekulativen« versuchte er eine auf Erfahrung gegründete Theorie von Gesellschaft und Geschichte zu setzen (Bd. 3, 27). – Doch jenseits der polemischen Rhetorik handelt es sich inhaltlich um etwas völlig anderes. Denn in Wirklichkeit findet eine Verschiebung thematischer Schwerpunkte statt. Es geht weniger um den abstrakten Gegensatz Spekulation versus Empirie, als um die konkrete Auswahl empirischer Gegenstände. In Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie wirft Marx dem Philosophen Hegel vor, den Staat zur »Voraussetzung« der bürgerlichen Gesellschaft erklärt zu haben. Dagegen kehrt Marx das Verhältnis von Staat und Gesellschaft um und legt das ökonomische System des Kapitalismus zugrunde (Bd. 1, 206). – Dieser Basis widmete Marx seine folgenden Forschungen, die sich auf eine neue wissenschaftliche Disziplin stützte: auf die sich damals herausbilden­ den Wirtschaftswissenschaften, die er in vielfältigen Entwürfen seiner Kritik der politischen Ökonomie verarbeitet und modifiziert hat. Wie­ derum verdankt sich die philosophische Position des Materialismus dem gründlichen Studium einer neuartigen Einzelwissenschaft.

114 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

3.4 Moderne und Postmoderne Nicht zuletzt bedarf auch dieser Gegensatz einer philosophischen Reflexion, die sich an den gegenwärtigen Einzelwissenschaften orien­ tiert. Auf der einen Seite sei daran erinnert, dass Jürgen Habermas als erklärter Anhänger der Moderne kein »reiner« Philosoph ist, sondern ebenso auch Soziologe. Allein die Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann hat sich ja primär auf soziologischem Feld abgespielt. Dabei hat Habermas nicht nur eine Theorie des kommunikativen Handelns vorgelegt, ebenso wegweisend sind seine Beiträge zu den Rechtsund Politikwissenschaften. Allein seine Studien zur Geschichte und Situation Europas spielen in den aktuellen politischen Debatten eine führende Rolle (Habermas 2011). Auf der anderen Seite beschränkt sich auch die Theorie der Post­ moderne nicht auf die reine Diskurstheorie, wie es bei Jean-François Lyotard den Anschein hat. Andere Autoren wie schon Arnold Gehlen haben explizit soziologisch argumentiert, indem sie der technischwissenschaftlichen Zivilisation den Status einer eigenständigen Kul­ tur und Geschichte absprachen (Gehlen, 61 ff.). Auch Günter Anders hat in seiner Antiquiertheit des Menschen eine Soziologie der moder­ nen Technik entworfen, welche die Autonomie der Menschen grund­ sätzlich infrage stellt (Anders, 21 ff.). Erwähnt sei noch Jean Baudril­ lard, der in seiner Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus die Verselbstständigung der Zirkulation, den Verlust sinnvoller Zweck­ setzung und damit das »Ende der Moderne« beklagt hat (Baudrillard, 18). Dazu gehört auch der von den modernen Medien beeinflusste Wandel des Zeit- und Raumbewusstseins. Entscheidend an derartigen Beispielen ist der Umstand, dass die Probleme der Moderne ganz wesentlich mithilfe der Gesellschaftswissenschaften von der Ökono­ mie, Soziologie bis zu den neuen Medienwissenschaften zu lösen sind. Da hilft keine abstrakte Synthese der diskustheoretischen Prinzipien »Konsens und Dissens«, sondern die konkrete Analyse der Krisen­ symptome des gegenwärtigen Kapitalismus: der widersprüchliche Prozess der Globalisierung, die wachsende soziale Ungleichheit sowie die Zerstörung der natürlichen Umwelt (Rohbeck, 192 ff.). Nicht zuletzt in der aktuellen Pandemie macht sich die globale Armut besonders katastrophal bemerkbar. Auch in diesem Fall tragen die einzelwissenschaftlichen Untersuchungen dazu bei, die genuin phi­ losophischen Diskurse über globale und intergenerationelle Gerech­ tigkeit weiter auszuarbeiten.

115 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

4. Über den reflektierten Umgang mit der Philosophiegeschichte Zum Schluss ist es meine Absicht, den Umgang mit der Philosophie­ geschichte noch etwas genauer zu reflektieren. Dazu beziehe ich mich auf den Historiker Jörn Rüsen, der unterschiedliche Typen des Geschichtsbewusstseins definiert hat. Er unterscheidet zwischen einer traditionellen, exemplarischen und genetischen Sinnbildung (Rüsen, 16 ff.). Auch wenn er diese Typen als Entwicklungsstufen vor­ stellt, können sie ebenso auch nebeneinander und ineinander über­ gehend verstanden werden. Im Folgenden versuche ich, diese Typo­ logie auf den Umgang mit der Philosophiegeschichte zu übertragen, wobei nicht nur die philosophische Forschung, sondern auch die aka­ demische Lehre berücksichtigt werden soll. Das traditionelle Geschichtsbewusstsein besteht in der affirmati­ ven Orientierung an einer vergangenen Tradition, die als wahr und gut bewertet wird. Für den Philosophiehistoriker bedeutet das: Aristoteles und Kant gelten als Autoritäten, denen schon dank ihrer langen Wirkungsgeschichte Anerkennung gebührt. In der gegenwärtigen Philosophie dürfte dieser Standpunkt überwunden sein. Kein Dozent und keine Dozentin vertritt mehr eine solche antiquierte Position; und heutige Studentinnen und Studenten würden sich das auch nicht mehr gefallen lassen. Aus diesem Grund sind auch Darstellungen der Philosophiegeschichte aus zweiter und dritter Hand zu vermeiden, weil sie die Gefahr einer einseitigen Konservierung bergen. Das exemplarische Geschichtsbewusstsein ist zugleich kritisch, da es den Geltungsanspruch philosophischer Theorien der Vergan­ genheit und Gegenwart immer wieder neu überprüft. Exemplarisch ist diese Haltung, wenn ein philosophischer Text als Beispiel für eine bestimmte Problemstellung, allgemeine Regel, Argumentati­ onsweise oder Methode dient. Danach betrachtet die Lehrperson die Geschichte der Philosophie als einen Vorrat an philosophischen Texten, aus dem sie je nach thematischem Schwerpunkt und Unter­ richtsituation passende Auszüge auswählt. In diesem Sinn vertritt Aristoteles die Klugheitsethik, Hume die Gefühlsethik, Kant die deontologische Vernunftethik, Mill den Utilitarismus, Scheler die Ethik der Werte und Hare die analytische Ethik. Nach meiner Ein­ schätzung dominiert das exemplarische Verfahren in der aktuellen philosophischen Praxis – und zwar aus guten Gründen. Doch fehlt ihm die spezifisch historische Dimension.

116 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

Das genetische Geschichtsbewusstsein achtet auf die Entwicklung philosophischer Theorien und gewinnt aus deren historischem Wan­ del einen eigenen Sinn. Machen sich die Lesenden diese Veränderun­ gen in der Zeit bewusst, sind sie in der Lage, den Bedeutungsgehalt der Originaltexte zu erweitern und daraus eine zusätzliche Orientie­ rung zu gewinnen. Sofern man die Geschichte der Philosophie nicht teleologisch auffasst, ergibt sich ein vielfältig verzweigter und offener Prozess, über den es nachzudenken lohnt. Um diesen genetischen Aspekt zu realisieren, schlage ich die folgenden Vorgehensweisen vor.

4.1 Kritik in der Zeitenfolge Nur in schlechten Philosophiegeschichten erscheint die philosophi­ sche Tradition wie eine Perlenkette, auf welcher sich die Lehrmeinun­ gen brav aneinanderreihen und ihr Wissen fortschreitend akkumu­ lieren. In Wirklichkeit waren die meisten Philosophen schon zu Lebzeiten in stürmische Debatten verwickelt. Es ist daher Aufgabe philosophischer Forschung und Lehre, derartige Kontroversen wieder lebendig zu machen. Dabei können Positionen und Oppositionen, Thesen und Antithesen, Kritiken und Gegenkritiken sichtbar gemacht werden. Beispiele für derart synchrone Auseinandersetzungen sind: die Kritik von Sokrates an den Sophisten, die Kritik von Rousseau an den Fortschrittsoptimisten der Aufklärung, die Debatte zwischen Heidegger und Cassirer (Wuchterl, 132 ff.). In unserem Zusammen­ hang geht es jedoch darüber hinaus um die diachrone Folge von kri­ tischen Stellungnahmen. In genetischer Perspektive stellt sich die Geschichte der Philo­ sophie als eine Folge von Problemlösungen dar, die infrage gestellt werden, um neue Lösungen zu formulieren, die ihrerseits wieder verworfen werden. Philosophie wird zu einer Kritik, die sich nicht zuletzt als Modell für eine problemorientierte Herangehensweise eignet. So lässt sich die Lektüre philosophischer Texte als eine Sequenz kritischer Rezeptionen organisieren, die häufig in den jeweiligen Tex­ ten expliziert werden. Der jeweils weiterführende Gedanke entwickelt sich aus den Problemen des zuvor Gedachten. Ein solches Verfahren der Kritik hat mehrere Vorteile. Zum einen trägt die Kenntnis späterer Kritiken zum vertieften Verständnis der vorhergehenden Theorie bei. Nicht alle Kritiken können von den Studierenden selbst entwickelt werden, so dass auf diesem Umweg neue Gesichtspunkte einfließen. Zum anderen wird die Kritik auf ein

117 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

höheres Niveau gehoben. Denn die kritische Stellungnahme kommt nicht von außen als bloße Meinung, sondern wird von innen her entwickelt. Auf diese Weise verbindet sich die immanente Kritik mit einer transzendierenden Kritik, die zu alternativen Entwürfen führt. Ein geeignetes Beispiel aus der antiken Philosophie ist die bereits erwähnte Kritik von Aristoteles an der sokratisch-platonischen Tugendlehre. Hatte noch Sokrates die Tugend als rationale Einsicht in das Gute und somit als intellektuell lehr- und lernbar erklärt, ging es Aristoteles um den praktisch erworbenen Habitus tugendhaften Verhaltens. Und identifizierten Sokrates und Platon die Tugend mit dem Nützlichen, differenzierte Aristoteles zwischen zweckrationalem und tugendhaftem Handeln, das er als selbstzweckhaft definierte (Aristoteles, 1). Dies ist eine Position, deren Bedeutung erst in dieser historischen Folge und zugleich in ihrer aktuellen Bedeutung begreif­ bar ist. Ein weiteres Beispiel ist die Auseinandersetzung um den LeibSeele-Dualismus von Descartes, der zwei unabhängige Substanzen voraussetzte, die er kausal miteinander verbunden sah. In der Zirbel­ drüse des Gehirns sollte die geistige Substanz (res cogitans) auf die körperliche Substanz (res extensa) einwirken, eine Hilfskonstruktion, die schon damals nicht überzeugt hat (Meditationen, 64 ff.). Es folgte die Theorie der »Gelegenheitsursachen« von Nicolas Malebranche, der behauptete, dass Gott bei jeder Handlung des Menschen eingreife. Schließlich entwickelte Gottfried Wilhelm Leibniz seine Theorie der »prästabilierten Harmonie«, der zufolge sich Körper und Geist seit der Schöpfung im Einklang befänden. Dieser philosophiegeschichtliche Dreischritt lässt sich mithilfe des Uhrengleichnisses von Leibniz kurz zusammenfassen und leicht veranschaulichen: »Stellen Sie sich zwei Wanduhren oder Taschenuhren vor, die voll­ kommen miteinander übereinstimmen. Das kann nun auf drei Weisen geschehen: die erste besteht in einem natürlichen Einfluß. […] Die zweite Weise bestünde darin, sie immer durch einen geschickten Arbei­ ter überwachen zu lassen, der sie richtet und sie in jedem Augenblick einstellt. Die dritte Weise besteht darin, zunächst diese zwei Pendel mit so viel Kunst und Genauigkeit herzustellen, daß man in der Folge ihrer Übereinstimmung sicher sein kann. Setzen Sie nun die Seele und den Körper an die Stelle dieser beiden Uhren.« (Leibniz, Bd. 1, 239 ff.)

Derartige metaphysische Spekulationen lassen monistische Entwürfe wie die Anthropologie des französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie etwas plausibler erscheinen. Vor diesem historischen

118 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

Hintergrund stellen sich die gegenwärtigen Diskussionen über das Leib-Seele-Problem in neuem Licht dar. Schließlich stellt die politische Philosophie von Hobbes, Locke und Montesquieu eine bekannte Sequenz der Philosophiegeschichte dar. Während Thomas Hobbes von einem kriegerischen »Naturzu­ stand« ausging, auf dessen Basis er einen absoluten Staat rechtfertigte (Hobbes, 94 ff.), war Locke der Begründer der konstitutionellen Mon­ archie. Seine Theorie der Gewaltenteilung wurde von Montesquieu modifiziert und in eine Form – Legislative, Exekutive, Judikative – gebracht, die heute noch aktuell ist (Montesquieu, Bd. 1, 214 ff.). Die Kenntnis dieser Genese kann zur Orientierung in der gegenwärtigen Debatte über die Krise der Demokratie beitragen bei der Frage, ob unsere demokratische Verfassung ein überzeitliches Prinzip oder das Resultat eines historischen Wandels ist, der sich bis in die heutige Gegenwart fortsetzt.

4.2 Historische Formationen Philosophen üben nicht nur Kritik an ihren Vorgängern, sondern schließen sich auch anderen philosophischen Theorien an. Daraus entstehen nicht selten philosophische Schulen, Richtungen und Denk­ strömungen. Bekannte Beispiele sind in der Antike die Epikureer und Stoiker, in Neuzeit und Aufklärung der Rationalismus und Empiris­ mus, danach der Deutsche Idealismus und im 19. Jahrhundert der Historismus, im 20. Jahrhundert Phänomenologie und Existenzialis­ mus bzw. Lebensphilosophie, die Analytische Philosophie und Post­ moderne. Ohne der Gefahr von allerlei Ismen zu erliegen, kann es gleich­ wohl sinnvoll sein, ein Gespür für historische Formationen zu ent­ wickeln. Ein derart genetisches Geschichtsbewusstsein ermöglicht es, die philosophische Bedeutung eines gelesenen Textes und seines Autors besser einzuschätzen. Methodisch sind drei Kriterien wichtig: Erstens sind die genannten Termini mithilfe bestimmter Inhalte und Methoden zu konkretisieren. Zweitens sind Autoren auszuwählen, die einen historischen Umbruch repräsentieren, weil sie neue Gedan­ ken entwickelt haben. Drittens haben die Theorien einiger Autoren eine langfristige Wirkungsgeschichte, durch die eine neue Denkströ­ mung der Philosophie entstanden ist. In der Regel greifen diese Kriterien ineinander.

119 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

So gehört beispielsweise Descartes zu den Begründern der Phi­ losophie des neuzeitlichen Rationalismus; ebenso beispielhaft ist der von Bacon und Locke begründete Empirismus. Locke kritisiert Des­ cartes’ Konzeption der »angeborenen Ideen« und lässt alle Erkenntnis von Wahrnehmung und Erfahrung ausgehen. Darin folgen ihm Hume, Berkeley und die französischen Philosophen, so dass diese Position das gesamte 18. Jahrhundert dominiert hat. Besonders bei Hume ist zu studieren, wie die empiristische Grundlegung sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Moralphilosophie bestimmt hat. Noch in der Kritik von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten an Humes Gefühlsmoral ist spürbar, wie einflussreich und fast unüber­ windbar diese Denkrichtung gewesen ist (Kant, Bd. IV, 393 ff.). Und in der Kritik von Mill an Kant ist sichtbar, wie wirkmächtig diese Moralphilosophie bis ins 19. Jahrhundert war (Mill, 8). Auf diese Weise lässt sich der Personenkult – nach dem Motto »einzelne große Männer machen Philosophie« – eindämmen. In Wirklichkeit ist zu demonstrieren, dass auch die Geschichte der Philosophie ein kollektives Projekt ist, an dem jeder Autor seinen begrenzten Anteil hat. Außerdem lässt sich damit das Ziel des exemplarischen Lernens erweitern. Als exemplarisch gelten dann nicht nur bestimmte Problemstellungen und ihre Lösungen für den aktuellen Diskussionsstand, sondern auch einzelne Autoren mit ihren Positionen für bestimmte philosophiegeschichtliche Strömungen. In diesem Kontext ist eine historische Formation von besonderer Bedeutung: die Epoche der Aufklärung, die zu einem Projekt des 18. Jahrhunderts geworden ist. Auch wenn es in Europa viele Facetten aufklärerischen Philosophierens gab, so lässt sich das gemeinsame Leitmotiv vernünftiger und praktischer Autonomie festmachen, ohne die üblichen Vorurteile zu widerholen. Mit der kleinen Schrift »Was ist Aufklärung?« von Kant ist es möglich (Kant, Bd. VIII, 33 ff.), die Merkmale einer bestimmten Epoche der Philosophiegeschichte zu reflektieren. Ein solch historisches Bewusstsein ist erforderlich, um die Errungenschaften dieser Denkrichtung bis in die Gegenwart zu würdigen. Es ist aber auch nötig, um sich mit späteren Positionen einer Dialektik der Aufklärung oder Postmoderne kritisch auseinan­ dersetzen zu können.

120 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

4.3 Epochenübergreifende Bezugnahmen Die positiven Referenzen auf vorausgegangene Denker beschränken sich nicht nur auf zeitlich direkt anschließende Rezeptionen wie im gerade erwähnten Fall historischer Formationen. Mindestens ebenso verbreitet ist die Bezugnahme auf längst vergangene Philosophien über mehrere Epochen hinweg. Auch die Einsicht in dieses nicht seltene Phänomen der Philosophiegeschichte kann zum historischen Bewusstsein beitragen. Zu erfahren ist dabei eine grundsätzliche Besonderheit der Philosophie, die keinen linearen Fortschritt kennt, in dem frühere Erkenntnisse einfach durch neues Wissen ersetzt werden, sondern in der auch längst vergangene Positionen neu entdeckt und wieder belebt werden können. In der Didaktik der Philosophie ist die Rezeption von Sokrates seit Leonard Nelson das schlagende Beispiel (Nelson, Bd. 1, 271 ff.). Obwohl diese Fachdidaktik kein Unterrichtsstoff ist, bietet es sich an, zur Einführung und Erläuterung des Sokratischen Gesprächs auf den historischen Sokrates zu verweisen. Es ist auch möglich, die Lektüre eines seiner Dialoge mit der praktischen Anwendung zu verbinden. Aufschlussreich sind nicht nur die Differenzen zwischen der im Ori­ ginaltext dargestellten Methode und der heute üblichen Praktizie­ rung. Philosophiegeschichtlich interessant ist auch die Frage, warum das Gesprächsmodell eines solchen Autors, der vor rund 2500 Jahren gelehrt hat, zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine solche Bedeutung erlangt hat. Zieht man eine historische Parallele, entspricht der Kritik von Sokrates an den Sophisten das gegenwärtige Bedürfnis nach einer kritischen Infragestellung des vermeintlich sicheren Wissens. Eine solche philosophiegeschichtliche Reflexion sollte den Lernenden nicht vorenthalten werden, damit sie sich darüber bewusst werden, in welchem historischen Kontext sie die sokratische Methode praktizie­ ren. Eine epochenübergreifende Bezugnahme stellt auch die – von Berger dargestellte – Philosophie von Hannah Arendt dar, die sich explizit auf die praktische Philosophie von Aristoteles beruft und so den Neo-Aristotelismus des 20. Jahrhunderts mitbegründet hat. Was Arendt von Aristoteles übernimmt, ist das Idealbild der antiken Polis und die Idee des selbstzweckhaften Handelns als Modell politischer Tätigkeit (Arendt, 14, 19, 31 f., 78, 130). Stellt sich auch in diesem Fall die Frage, worin die Attraktivität der aristotelischen Philosophie in der heutigen Gegenwart besteht, zeigt sich bei allen Gemeinsamkei­

121 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

ten ein Funktionswandel in der Begründung. Bei Aristoteles diente die kategoriale Unterscheidung zwischen technischem Herstellen und politischem Handeln dazu, die soziale Stellung der Polisbürger gegen­ über den Sklaven und Handwerkern hervorzuheben. Bei Arendt hat dieselbe Unterscheidung die Funktion, das Politische gegenüber der modernen technisch-ökonomischen und damit »instrumentellen« Zivilisation zu bewahren. Für das Verständnis dieser Argumentation halte ich die Einsicht in einen solchen Funktionswandel für wesent­ lich. Wenn von den Studierenden argumentative Kompetenz verlangt wird, gehört dazu das historische Bewusstsein darüber, dass Argu­ mente nicht überzeitlich gültig sind, sondern nur in bestimmten phi­ losophiegeschichtlichen Kontexten Geltung beanspruchen.

4.4 Philosophiegeschichte als Bildungsaufgabe Das Ziel einer derartigen Konzeption philosophischer Bildung besteht in der Fähigkeit zur Orientierung in der modernen Lebenswelt. His­ torisch ist diese Orientierung, wenn es gelingt, die Gegenwart im Rückblick auf die Vergangenheit und mit Perspektive auf die Zukunft zu deuten. Auf diese Weise bildet sich eine historische Identität heraus, in der die vergangenen Ideen in das Selbstbewusstsein eines personalen oder sozialen Subjekts integriert werden. Nach meinen bisherigen Ausführungen lässt sich dieses Ziel gerade auch im Umgang mit der Philosophiegeschichte befördern. Wenn heute von Werten wie Menschenrechten, Freiheit und Demo­ kratie die Rede ist, die neuerdings in Europa und in den USA in Gefahr geraten, dann ist darauf hinzuweisen, dass diese Werte ein Resultat der europäischen Aufklärung sind, zu der die Philosophie wesentlich beigetragen hat. Und wenn gewisse Politiker in diesem Zusammen­ hang ausschließlich das christliche Menschenbild bemühen, ist daran zu erinnern, dass diese Werte im Zeitalter der Aufklärung von einigen Philosophen gegen Absolutismus und Kirche durchgesetzt werden mussten. Historische Identität bedeutet hier, sich dieser Tradition bewusst zu sein. Nur so kann man sich wirksam gegen deren Zerstö­ rung zur Wehr setzen. Noch konkreter wird diese Herausforderung, wenn nach den jüngsten Wahlergebnissen in Deutschland darüber diskutiert wird, welche politischen Parteien noch als »bürgerlich« gelten können. Auch diese Frage lässt sich nur qualifiziert beantworten, wenn man aus der Philosophiegeschichte den Unterschied zwischen einem

122 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Geschichte der Philosophie im Kontext der modernen Wissenschaften

Staatsbürger (citoyen) und einem Privateigentümer (bourgeois) kennt und dabei nicht nur ökonomische Interessen, sondern vor allem auch demokratische Rechte zu verteidigen bereit ist. Nur so kann man erkennen, dass bourgeois und citoyen auch gegensätzliche Interessen haben können. Gegenwärtig kommen noch die Herausforderungen der Klima­ katastrophe und Pandemie hinzu, bei denen Populisten die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Konsenses in Zweifel ziehen. Will man diese Debatte grundsätzlich führen, geht es um den sowohl kognitiven als auch politischen und ethischen Wahrheitswert der Wissenschaften, die während der Aufklärung gegen Widerstände entstanden sind und philosophisch reflektiert wurden. In diesem Fall bedeutet histo­ rische Identität, Begriffe wie »bürgerlich« und »wissenschaftlich« geschichtlich zuordnen, kritisch reflektieren und aktuell legitimieren zu können.

Literatur: G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München 1956. H. Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1985. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. von G. Bien, Hamburg 1985. J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. R. Descartes, Meditationen, hg. von L. Gäbe, Hamburg 1960. R. Descartes, Von der Methode, hg. von L. Gäbe, Hamburg 1969. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. von M. Riedel, Frankfurt/M. 1970. A. Gehlen, Ende der Geschichte? Zur Lage der Menschen im Posthistoire, in: O. Schwatz (Hg.), Was wird aus dem Menschen? Graz, Wien, Köln 1974, 61–75. J. Habermas, Zur Verfassung Europas, Berlin 2011. G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt/M. 1971. T. Hobbes, Leviathan, hg. von I. Fetscher, Frankfurt/M. 1984. E. Husserl, Gesammelte Werke, auf Grund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv Leuven, Berlin 2008. I. Kant, Werke. Akademie-Textausgabe, Berlin 1968. W. G. Leibniz, Philosophische Schriften, Frankfurt/M. 1996. J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Hamburg 1962. K. Marx, F. Engels, Werke, Berlin 1956 ff. J. S. Mill, Der Utilitarismus, hg. von D. Birnbacher, Stuttgart 1976. C. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, hg. von E. Forsthoff, Tübingen 1951. L. Nelson, Gesammelte Schriften, Hamburg 1970.

123 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Johannes Rohbeck

J. Rohbeck, Integrative Geschichtsphilosophie in Zeiten der Globalisierung, Ber­ lin 2020. J. Rüsen, Historische Orientierung, Köln 1994. K. Wuchterl, Streitgespräche und Kontroversen in der Philosophie des 20. Jahrhun­ derts, Bern 1997. E. Zeller, Die Geschichte der Philosophie, in: Kleine Schriften, Bd. I, Berlin 1910.

124 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung? Geschichtstheoretische Überlegungen im Anschluss an Popper und Russell

In den vorausgegangenen vier Beiträgen zu diesem Band wird die Frage nach einem möglichen Fortschritt in der Geschichte der Philo­ sophie ebenso ausführlich wie unterschiedlich beantwortet. Ich selber werde nun in den folgenden vier Abschnitten eine weitere, noch ein­ mal ganz andere Position in dieser Frage entwickeln. Zunächst jedoch will ich in aller Kürze meine Einschätzung der schon vorliegenden Überlegungen skizzieren. Einigkeit scheint darüber zu bestehen, dass bezüglich der Philo­ sophie als solcher nicht in einem schlichten Sinne von einem linea­ ren Erkenntnisfortschritt im Rahmen ihrer Geschichte gesprochen werden kann. Darin, so ist den Überlegungen von Hans Friesen und Johannes Rohbeck zu entnehmen, unterscheidet sich die Philo­ sophie von den empirischen Einzelwissenschaften. Während diese beiden Autoren somit die Grenzlinie zwischen der Philosophie und diesen Wissenschaften betonen, verweist Thomas Gil darauf, dass es einen Fortschritt im Rahmen der philosophischen Entwicklung gerade nur deshalb und auch nur in dem Sinne gibt, dass sich im Wech­ selspiel zwischen der Philosophie und der empirischen Forschung die Erkenntnisse über den Menschen und die Welt doch wirklich verbessern. Nur ist dieser Fortschritt deshalb nicht der Philosophie allein zuzuschreiben. Philosophie, so verstehe ich Gils Überzeugung, macht überhaupt nur Sinn im Zusammenspiel mit den empirischen Wissenschaften. Hier aber ist eine wechselseitige Befruchtung und daher auch ein gemeinsamer Erkenntnisfortschritt durchaus gegeben. Eine ganz andere Position vertritt Dagmar Berger. In meiner Sicht argumentiert sie nicht eigentlich für eine bestimmte Konzep­ tion der Geschichte der Philosophie. Ihr geht es vielmehr um eine

125 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

Geschichte der Philosophen. Sie betont den individuell-existenziellen Grundzug der Auseinandersetzung der Philosophen mit sich selbst und der Welt. Auf der Basis eines solchen Verständnisses von Philoso­ phie ist in meiner Sicht die Geschichte der Philosophie notwendig eine Aufeinanderfolge streng getrennter individueller Denkwege. Was die Philosophie über die Jahrhunderte zusammenhält, ist in einer solchen Sicht wohl nur noch der Dialog zwischen ihren Vertretern. Ein Ansatzpunkt für das Konzert des Fortschritts ist unter diesen Voraussetzungen nur schwer zu finden. Für meine eigenen Überlegungen bieten einige Gedanken im Beitrag von Hans Friesen einen guten Ansatzpunkt. Wenn dieser von der »relativen Wiederkehr des Gleichen« im Rahmen der Geschichte der Philosophie spricht, weist er damit auf einen Grundzug der Beziehung zwischen den verschiedenen historisch manifest geworde­ nen philosophischen Positionen hin, der auch in meinen eigenen Überlegungen von großer Bedeutung ist. Ich selber werde hier von einer Zurückweisung des Konzepts des »radikal Neuen« sprechen. Dennoch vertrete ich ausdrücklich die Vorstellung, es gebe auch im Rahmen der Geschichte der Philosophie als solcher eine bestimmte Art von linearem Fortschritt, allerdings in einem negativen Sinne, nämlich als endgültige Zurückweisung von Irrtümern. Mit diesem am Kritischen Rationalismus orientierten Konzept eines Fortschritts durch Falsifikation betone ich zugleich die Nähe der Philosophie zu den empirischen Wissenschaften, die ja auch Thomas Gil wichtig erscheint. Für mich zeigt sich diese Nähe zudem darin, dass die Thesen der Philosophie den Hypothesen der empirischen Wissen­ schaften ähnlich genug sind, um ihre Entwicklung in Analogie zu den Fortschritten in den empirischen Wissenschaften zu verstehen. Andererseits ist ebenfalls das subjektiv-existenzielle Konzept von Philosophie, das Dagmar Berger vertritt, für meine Überlegungen relevant. Auch hier aber setze ich einen anderen Akzent: Fortschritt lässt sich auch in meiner falsifikationistischen Sicht im Rahmen der Geschichte der Philosophie nur auf der Basis einer zuvor als richtig angenommenen systematischen Position beurteilen. Diese gehört jedoch in den Kontext einer transsubjektiven gemeinsamen Bemühung von Individuen, die über einen bloßen Dialog hinausgeht. Ich vertrete also ein streng institutionalistisches, keineswegs ein subjektiv-expressives Verständnis von Philosophie.

126 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

Im ersten Abschnitt meiner Überlegungen betone ich daher auch, wie Thomas Gil, die Nähe der Philosophie zu den empirischen Wis­ senschaften.

1. Analogien zwischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Philosophiehistorie Die Behauptung, in der Geschichte der Philosophie habe es Fort­ schritte gegeben, wird von ihren Kritikern häufig mit der ironischen Frage beantwortet, wieso die Philosophie dann auch nach mehr als zweitausend Jahren noch immer über die gleichen Probleme nach­ denke wie zu ihren ersten Zeiten. Der tatsächliche Verlauf ihrer Geschichte mache eher den Eindruck, sie sei weder in der Lage noch entschlossen genug, um diese Probleme tatsächlich auch zu lösen. Andererseits ist offensichtlich, dass die Philosophen selber (zu) glauben (scheinen), ihre Arbeit bestünde in der Tat in dem Versuch, gerade diese Probleme endgültig zu lösen. Um zu verstehen, was sich hinter dieser Paradoxie verbirgt, kann man versuchen, die folgende Frage zu beantworten: »Unter welchen Bedingungen wäre es möglich, eine Geschichte der Philosophie als eine Geschichte des philosophischen Fortschritts zu schreiben?« Mein erster Schritt bei der Beantwortung dieser Frage besteht darin, die spezifische Art von Problemen zu benennen, mit denen der Philosoph sich beschäftigt. Ich gehe im Folgenden von der These aus, dass die Philosophie sich mit Fragen beschäftigt, wie sie von Immanuel Kant sehr treffend formuliert worden sind: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« In der Geschichte der Philosophie werden diese Fragen immer wieder behandelt, und wir finden auch eine große Anzahl unterschiedlicher Antworten auf sie. Sehr häufig stehen diese Antworten aber im Widerspruch zueinander. In der Entwicklung der Antworten der Philosophen auf die oben genannten Fragen, die man »die Geschichte der Philosophie« nennen kann, lässt sich zwar eine Auseinandersetzung der jeweils nachfolgenden Philosophen mit ihren Vorgängern feststellen – fraglich aber ist, ob die neuen Antwor­ ten gegenüber den vorhergehenden einen Fortschritt darstellen. In den folgenden Überlegungen will ich nun genau dieser Frage nachgehen, nämlich ob sich der tatsächliche Verlauf der Philosophie­ geschichte (res gestae) innerhalb der Philosophiegeschichtsschrei­

127 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

bung (rerum gestarum historia) als eine Historie des (vielleicht langsamen, aber stetigen) Fortschritts beschreiben lässt. Diese Fort­ schrittsidee werde ich jedoch in einer ganz bestimmten vorsichtigen Variante thematisieren, und zwar als Frage danach, ob sich die Phi­ losophiegeschichte als eine sukzessive Überwindung falscher Ant­ worten durch neue, ihrerseits später wiederum als falsch erwiesene Antworten lesen lässt und so fort. Hinter dieser Fragestellung steht die Hypothese, dass sich in der Geschichte der Philosophie ebenso wie in derjenigen der empirischen Wissenschaften »Fortschritt« nur im negativen Sinne einer fortschreitenden Beseitigung von Irrtümern verstehen lässt. Damit nehme ich ausdrücklich Bezug auf die entsprechende Lehre von Karl R. Popper: Dieser definiert wissenschaftlichen Fort­ schritt als die schrittweise Beseitigung falscher Hypothesen und lehrt entsprechend, dass sich die wissenschaftliche Arbeit im Kern als die Überprüfung und Zurückweisung bisheriger sowie die Formulierung besserer Hypothesen verstehen lässt, die dann ebenso kritisiert und wiederum ersetzt werden. In diesem Modell von Fortschritt erscheint dieser in der negativen Form endgültiger Ablehnung falscher Antwor­ ten, nicht jedoch in derjenigen der dogmatischen Verteidigung von als richtig angesehenen Thesen. Das Fortschreiten auf dem Wege der Erkenntnis zu einer (möglicherweise niemals erreichten) Wahrheit vollzieht sich also ausschließlich darin, dass man falsche Wege nicht noch einmal beschreiten muss. Nur in diesem Sinne findet eine lang­ same, stetige und jedenfalls mühsame Annäherung an die Wahrheit statt. Der hier angenommene Fortschritt besteht somit lediglich darin, dass man nicht noch einmal Positionen verteidigt, die sich bereits end­ gültig als falsch erwiesen haben. Anders gesagt: Fortschritt erscheint hier als die Reduktion von Irrtumsmöglichkeiten. Zwischen uns und der Wahrheit liegen mit jedem Schritt der geistesgeschichtlichen Entwicklung weniger Möglichkeiten des Irrtums. Popper hat dieses falsifikationistische Modell für die Entwicklung der empirischen Wissenschaften vorgeschlagen. Ich will nun fragen, ob auch die Beschreibung der Philosophiegeschichte, die Philosophie­ historie, sich sinnvoll so verstehen lässt und ob sich entsprechend der geschichtliche Verlauf der Arbeit der Philosophen als der Prozess einer kritischen Prüfung und Zurückweisung sowie der Formulierung neuer philosophischer Thesen darstellen lässt. Den methodischen Grundzug einer sich so verstehenden Philosophiegeschichtsschrei­ bung nenne ich daher im Anschluss an Poppers eigene Terminologie

128 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

ebenfalls falsifikationistisch. Meiner Überzeugung nach eignet einem solchen Falsifikationismus ein skeptischer Grundzug: Dem so arbei­ tenden Philosophiehistoriker geht es nicht um die Nachzeichnung eines positiven Wegs zur Wahrheit, sondern vielmehr um die Darstel­ lung der schrittweisen Zurückweisung von Irrtümern. Meine Frage ist also: Ist eine solche falsifikationistisch-skepti­ sche Geschichtsschreibung der Philosophie sinnvoll? Und: Ist der mit ihr verbundene eingeschränkte Begriff von »Fortschritt« zur Beschreibung der Geschichte der Philosophie geeignet? Hinter diesen beiden Fragen steht die dritte, ob nämlich die Analogien zwischen empirischer und philosophischer Wahrheitssuche ausreichen, um auch deren Geschichte in strenger Analogie zueinander zu beschrei­ ben. Die Philosophiehistorie ist in weiten Teilen ein hermeneutisches Unternehmen: Ihre Basis ist die Interpretation von Texten. Demge­ mäß stellt sich zunächst die Frage, ob eine historische Textwissen­ schaft wie die Philosophiehistorie sich sinnvoll in Analogie zu der Historie empirischer und experimenteller Wissenschaften betreiben lässt. Sodann muss genauer geprüft werden, ob sich philosophische Thesen in Analogie zu wissenschaftlichen Hypothesen verstehen las­ sen. In meiner eigenen skeptischen Sicht spricht zunächst nur das eine für eine solche Analogisierung: Weder in den empirischen Wissen­ schaften noch in der Philosophie macht der Anspruch Sinn, endgültig die allein richtige Antwort auf eine Frage, die allgemein verbindliche Lösung eines Problems gefunden zu haben. Ein zweiter Blick aber offenbart eine weitere wichtige Ähnlich­ keit: Sowohl die Philosophie als auch die empirischen Wissenschaften finden die konkreten Fragen, auf die sie jeweils Antworten suchen, fast immer oder jedenfalls zumeist in der Auseinandersetzung mit den bisherigen Überlegungen in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich. Die systematische Bedeutung der historischen Auseinandersetzung der Philosophen und der anderen Wissenschaftler mit ihrer jeweiligen Fachgeschichte liegt demnach also in der Fähigkeit der Wissenschaftsund der Philosophiegeschichte, einen Dialog mit der jeweiligen Vergangenheit zu inaugurieren, welcher die aktuelle Forschung in die Lage versetzt, alte Fragen neu zu stellen und so allererst auch neue Antworten möglich zu machen. – Im Folgenden will ich die Konsequenzen dieser Überlegung – allerdings allein mit Blick auf die

129 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

Philosophiegeschichte – näher darlegen. Dabei werde ich mich vor allem mit der Idee des radikal Neuen beschäftigen.

2. Historische und philosophische Philosophiegeschichtsschreibung. Wider die Idee des radikal Neuen in der Philosophiegeschichte Woher weiß man, ob ein »Dialog mit der Vergangenheit« in der Philosophie überhaupt möglich ist? Ein Zweifel an dieser Möglichkeit wäre etwa wie folgt zu begründen: Die philosophische Vergangenheit ist radikal unterschieden von der jeweils gegenwärtigen Philosophie. Daher sind wir mit zwei verschiedenen Arten von Gefahren konfron­ tiert: Es kann erstens sein, dass wir die vergangene Philosophie nicht wirklich verstehen. Es ist zweitens möglich, dass ein Verständnis der Philosophie der Vergangenheit uns bei der Auseinandersetzung mit unseren gegenwärtigen Problemen wenig nützt, weil diese von denen der Vergangenheit eben radikal verschieden sind. Der Zweifler argumentiert somit in diesem Zusammenhang mit der Konzeption des radikal Neuen. Tatsächlich scheint es nun in der Philosophie ein fatales Dilemma zu geben: Entweder behandeln wir unsere Vorgänger so, als ob sie Zeitgenossen wären, oder wir verwandeln sie, ohne dies zu wissen oder zu wollen, in »Museumsstücke«. Im ersten Falle lehnen wir ohne gute Begründung die Kategorie des »radikal Neuen« ab, im zweiten trennen wir die Arbeit der systematischen Philosophie völlig von derjenigen des Philosophiehistorikers. Diese Alternative ist ein Dilemma, weil keine der beiden Mög­ lichkeiten überzeugend ist. Wenn wir nämlich unsere Vorläufer wie Museumsstücke behandeln, dann betreiben wir ausschließlich Geschichte, nicht Philosophie; behandeln wir sie jedoch wie unsere Zeitgenossen, so scheinen wir einer intellektuellen Sünde zu ver­ fallen: Wir bilden die Vorstellungen unserer Vorläufer in unserem Denken falsch ab, indem wir die Momente, die sich einer solchen Übertragung des traditionellen in modernes Denken widersetzen, gering schätzen oder gar ignorieren. Wenn es nämlich den Bruch tatsächlich gibt, den die Konzeption des radikalen Neuen suggeriert, dann dürfen wir nicht Platon, Aristoteles, Hume und Kant als unsere Zeitgenossen behandeln.

130 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

Die oben entwickelte Vorstellung der Findung neuer Fragen in der Auseinandersetzung mit Positionen aus der Philosophiege­ schichte scheint in genau diese Schwierigkeit zu geraten. Ein mög­ licher Ausweg aus dem Dilemma bietet sich in der Vorstellung an, dass die Anwendung der Konzeption des radikalen Neuen auf die Geschichte der Philosophie nicht erlaubt ist; während sie etwa im Bereich der empirischen Wissenschaften durchaus ihren Sinn haben mag.1 Dies erfordert den Nachweis, dass es zwischen der vergange­ nen und der gegenwärtigen Philosophie zwar Unterschiede, aber keinen radikalen Bruch gibt. Wenn dieser Nachweis gelingt, so folgt daraus, dass wir tatsächlich unsere philosophischen Vorläufer in einem bestimmten Maße als unsere Zeitgenossen behandeln können. Dieser Nachweis würde implizieren, dass wir sie zumindest in einem solchen Maße verstehen könnten, dass wir aus ihrem Denken etwas für die Lösung unserer eigenen Probleme zu lernen im Stande sind. Samuel Beckett beginnt seinen Roman »Murphy« mit der folgen­ den Feststellung: »The sun shone, having no alternative, on the not­ hing new.«2 Im Weiteren möchte ich diesen Satz auf die Geschichte der Philosophie anwenden und also das Folgende behaupten: In der Phi­ losophie gibt es nicht das radikal Neue. Die Philosophen beschäftigen sich daher notwendig und unvermeidlich mit dem immer Gleichen. Deshalb kann man sagen: Die heutigen Philosophen haben bestimmte theoretische Probleme, die sich ihnen aufdrängen. In ihrem Bewusstsein gibt es bestimmte neue Fragen und eine ziemlich vage, aber zielgerichtete Neigung, diese Fragen in einer bestimmten Weise zu beantworten. Wenn sie nun z. B. Descartes lesen, so finden sie wegen der gerade skizzierten Situation des immer Gleichen in sei­ ner Philosophie Gedanken, die ihnen helfen, ihre eigenen Probleme adäquat zu formulieren und sich auf den Weg zu einer erfolgreichen, sie befriedigenden Lösung des Problems zu machen. Solange sie auf diese Weise mit einem Klassiker der Philosophie befasst sind, brauchen sie nicht Descartes’ eigene Problemsituation zu rekonstruieren. Sie müssen nicht Descartes’ Philosophie als Lösung seiner für ihn spezifischen Probleme interpretieren. Was sich in dieser Art von Aneignung der Vergangenheit vollzieht, ist nicht Vgl. hierzu den Begriff des »Paradigmenwechsels« in Thomas S. Kuhns »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«, Frankfurt 1967. 2 Samuel Beckett: Murphy, London 1993, 5. 1

131 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

eine historische Rekonstruktion philosophischer Positionen, es ist vielmehr eine produktive Assimilation geschichtlicher Positionen in der Entwicklung des philosophischen Denkens. Diese produktive Assimilation lässt sich, in meiner Sicht, beschreiben als eine intuitive Einsicht in eine »Familienähnlichkeit« zwischen dem »Denkspiel«, das die heutigen Philosophen spielen, und dem, das Descartes vor einigen Jahrhunderten gespielt hat. Mit dieser Beschreibung einer möglichen Form der Aneignung der Vergangenheit durch die jeweils gegenwärtige systematische Phi­ losophie habe ich jedoch noch kein überzeugendes Argument gegen den historischen Skeptiker gefunden, den ich eben eingeführt habe. Seine skeptische Frage ist vielmehr immer noch in Geltung: Woher wissen wir, dass man zu Recht eine Familienähnlichkeit zwischen dem eigenen Denken und z. B. demjenigen Descartes’ annimmt? Es könnte doch sein, dass man seine Philosophie vollkommen falsch versteht, dass man sie fundamental missversteht. Dagegen lässt sich nur mit der im Anschluss an das Beckett-Zitat entwickelten Zurückweisung der Idee des radikal Neuen antworten. Diese Zurückweisung ist aber ihrerseits nur im Rahmen einer Historie der Philosophie zu begrün­ den. Noch schwerer aber wiegt der folgende Einwand: Ein Skeptiker könnte einen solchen Umgang mit der Geschichte der Philosophie als eine rein subjektive Deformation der historisch genuinen Posi­ tionen, z. B. Descartes’, ablehnen. Jedenfalls aber scheint Philosophie­ geschichtsschreibung die vergangenen philosophischen Positionen gerade nicht völlig aus ihrem geschichtlichen Kontext lösen zu dür­ fen. Es ist demnach prinzipiell zu unterscheiden zwischen einer historischen und einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie: Im ersten Falle wird es dem Autor ausschließlich um die Darstellung der philosophischen Position des behandelten Philosophen als solcher gehen, er wird von seinen eige­ nen philosophischen Fragestellungen und Grundhaltungen abstrahie­ ren. Im zweiten Fall dagegen wird sich seine Beziehung zu den von ihm behandelten philosophischen Lehrmeinungen gerade nicht ganz von seinen eigenen Positionen und Problemformulierungen lösen. Vielmehr wird er – metaphorisch gesprochen – ein »philosophisches Gespräch« mit der von ihm behandelten historisch manifest geworde­ nen philosophischen Position führen, ohne dabei die bloß darstelleri­ schen Aspekte seiner Arbeit ganz aus den Augen zu verlieren.

132 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

Ich werde nun der Frage nachgehen, wie denn ein fruchtbares Verhältnis dieser beiden gegensätzlichen Arten von Philosophiege­ schichtsschreibung aussehen könnte und möchte in Analogie zu einer berühmten Formulierung Kants mit der These beginnen: Produktive Assimilation ohne objektive Rekonstruktion ist leer: Wir finden in ihr nie die gesuchte Philosophie. Objektive Rekonstruktion ohne produk­ tive Assimilation aber ist blind: Sie ist kein Beitrag zur Philosophie, sie ist vielmehr bloß ein Stück Geistesgeschichte. Kann »historische Philosophie« aber, wie es sich hier als mög­ liches Ideal aufdrängt, wirklich eine Integration dieser beiden Tätig­ keitsformen sein? (1) Assimilation kann sehr produktiv sein, ohne im Geringsten einer »objektiven Rekonstruktion« zu ähneln. Die Philosophiege­ schichte kennt hierfür den Terminus »produktives oder fruchtbares Missverständnis«. Vielleicht haben wir hier nicht gefunden, was wir suchten, aber die Suche war doch keineswegs ergebnislos! (2) Umgekehrt mag jemandem eine besonders »objektive« Rekonstruktion einer philosophischen Position nur deshalb gelingen, weil er sie gerade nicht produktiv assimilieren möchte; er könnte sie nämlich etwa für ganz falsch oder gar für unsinnig halten. Ein solcher Philosoph ist nicht blind. Er kann sich vielmehr ziemlich sicher in einem schwierigen Terrain orientieren: in der Geschichte der Philosophie. Offensichtlich hängt die Fruchtbarkeit der zwei unterschiedli­ chen Arten von »historischer Philosophie« somit nicht von ihrer Integration ab. Wie also kann man im Kontext eines Strebens nach der gerade skizzierten Integration von »Assimilation« und »Rekon­ struktion« eine Philosophiegeschichte schreiben, in der sich die Idee des »Fortschritts« (als einem Element der »Assimilation«) mit derje­ nigen der historischen Richtigkeit (als wesentlichem Element von »Rekonstruktion«) verbinden lässt? Meine These hierzu ist: Eine solche Philosophiehistorie müsste falsifikationistisch verfahren. Wie dies möglich ist, will ich nun am Beispiel einer Geschichte der abendländischen Philosophie überprüfen, das sich zugleich als ein klarer Fall von falsifikationistischer Philosophiehistorie beschreiben lässt: In ihr werden nämlich die Elemente Rekonstruktion, Assimila­ tion und Fortschritt ausdrücklich zusammengedacht.

133 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

3. Analyse einer falsifikationistischen Philosophiehistorie: Bertrand Russells »Philosophie des Abendlandes« Meine Darstellung der mit Russells Philosophiehistorie3 verbunde­ nen Vorstellung eines Fortschritts in der Philosophie orientiert sich, wie bereits eingangs formuliert, an Poppers Konzept des Falsifikatio­ nismus und begreift Philosophiehistorie daher im Wesentlichen als eine Dokumentation von Irrtümern im Laufe der geschichtlichen Entwicklung des philosophischen Denkens. In diesem Sinne ist eine solche Philosophiegeschichte als ein Beitrag zum philosophischen Fortschritt in dem Sinne zu verstehen, dass die historischen Irrtümer der Philosophen in Zukunft nicht noch einmal wiederholt werden müssen, weil man sie ja als solche durchschaut hat. Ihrem eigenen Anspruch nach ist das Spezifische an der philoso­ phiehistorischen Arbeit Russells, dass sie sich im Unterschied zu den traditionellen Philosophiegeschichten ausdrücklich darum bemüht, die dargestellten philosophischen Positionen in den politischen und sozialen Kontext zu stellen, in dem diese sich entwickelt haben, und sie aus diesem Zusammenhang heraus zu verstehen. In diesem Sinne versteht sie sich also als historische Form der Betrachtung der Philo­ sophiehistorie, sie ist unter diesem Aspekt vor allem eine historische Rekonstruktion. Das bedeutet in Russells Sicht die Berücksichtigung der Tatsache, dass Philosophien »sowohl Ergebnisse als auch Ursa­ chen« sind oder zumindest sein können: »Ergebnisse ihrer sozialen Umstände, der Politik und der Institutionen ihrer Zeit; Ursachen (wenn sie Glück haben) der Überzeugungen, die der Politik und den Institutionen späterer Zeitalter ihre Form geben.«4 Auf der Basis dieser methodischen Grundsatzentscheidung kri­ tisiert Russell die traditionellen Philosophiegeschichten wie folgt: »In den meisten philosophischen Geschichtswerken steht der Philosoph gleichsam im luftleeren Raum, seine Ansichten werden zusammen­ hanglos dargestellt, bestenfalls wird eine Beziehung zu früheren Philosophen zugestanden. Ich hingegen habe versucht, jeden Phi­ losophen, soweit mit der Wahrheit vereinbar, als Ergebnis seines Milieus, seiner Zeit- und Lebensumstände zu zeigen, als Menschen, in dem sich Gedanken und Empfindungen kristallisierten und ver­ 3 Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der poli­ tischen und sozialen Entwicklung, Köln 2012. 4 A. a. O., S. 9.

134 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

dichteten, die, wenn auch unklar und unkonzentriert, der menschli­ chen Gemeinschaft eigen waren, der er angehörte.«5 Ich werde diesen Anspruch Russells anhand zweier Beispiele, nämlich Hume und Kant, kritisch überprüfen und zugleich darstellen, in welchem Geiste – einem eher historischen oder doch einem domi­ nant philosophischen – Russell sich seinen jeweiligen »verstorbenen Kollegen« annähert. Begreift er sie – wie das gerade beschriebene rekonstruktive Programm dies nahelegt – ausschließlich oder wenig­ stens vornehmlich als Repräsentanten von Gedanken und Empfin­ dungen, die sich aus den sozialen und politischen Umständen ihrer jeweiligen Zeit ergeben oder beginnt er – ausdrücklich oder unaus­ drücklich – zugleich einen »philosophischen Dialog« mit ihnen, in welchem sich die Nähe bzw. die Distanz zwischen der dargestellten und seiner eigenen philosophischen Position zum Ausdruck bringt? Geht es ihm also eher um Rekonstruktion oder um Assimilation? – Wir werden sehen, dass es ihm zumindest in den untersuchten Fällen zentral um eine bestimmte Form von Assimilation, nämlich um Falsifikation geht. Zudem will ich im Kontext dieser Textanalyse zugleich für die Einschätzung plädieren, im falsifikationistischen Denken vollziehe sich eine Integration von Assimilation und Rekon­ struktion. Russell hatte in der oben zitierten Passage den Terminus »Milieu« als Oberbegriff für die historischen Umstände eingeführt, denen sich die Formulierung einer bestimmten philosophischen Grundlehre verdankt. Wir müssen uns somit bezüglich seiner Rekon­ struktion der Philosophie David Humes fragen: Was ist denn das für diesen entscheidende Milieu, und wie wird es in Russells Darstel­ lung thematisiert? Einer traditionellen Einschätzung nach ist Humes Philosophie als Ausdruck einer intellektuellen, sozialen und politischen Bewe­ gung zu verstehen, die in vielen philosophiehistorischen Werken als »Scottish Enlightenment« beschrieben und auf den Zeitraum von 1730 bis 1790 datiert wird. Diese Bewegung hatte zugleich eine dezidiert volkspädagogische Orientierung. Außer Hume sind ihr u. a. zuzurechnen: Adam Smith, Joseph Black und James Hutton.6 Liest man nun das »Hume« überschriebene Kapitel in Russells »Philoso­ A. a. O., S. 9 f. Vgl. hierzu: David Daiches, Peter Jones, Jean Jones (Hg.): A Hotbed of Genius. The Scottish Enlightenment 1730–1790, Edinburgh 1986. 5

6

135 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

phie des Abendlandes«7, so lässt sich bereits auf den ersten Blick feststellen: Der Text ist keine traditionelle doxografische Darstellung der Grundlehre Humes, die sich an allen seinen wichtigen Schriften orientiert. Vielmehr konzentriert Russell seine Auseinandersetzung mit Humes Philosophie nach einer eher beiläufigen Erwähnung der »Untersuchung über den menschlichen Verstand«, der »Dialoge über die natürliche Religion« und der »Geschichte Englands« sowie des Essays über Wunder ausschließlich auf eine Behandlung des ersten Buches des »Traktats über die menschliche Natur«. Schon dies weist in meiner Sicht darauf hin, dass es Russell nicht in erster Linie auf die Darstellung (Rekonstruktion) von Humes Philosophie insgesamt, son­ dern vielmehr nur auf die kritische Auseinandersetzung (Assimilation) mit ihren fruchtbarsten Aspekten ankommt. Russells Begründung für diese radikale Einschränkung seiner Behandlung von Humes umfangreichem (philosophischen) Werk ist nämlich die folgende: »Das Neue und Wichtige an seinen Lehren steht im ersten Buch, auf das ich mich beschränken werde.«8 Mit dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf »das Neue und Wichtige« bindet Russell seine Phi­ losophiegeschichtsschreibung emphatisch an die Vorstellung eines Fortschritts in (der Geschichte) der Philosophie. Auch in der konkreten Durchführung der Auseinandersetzung wird deutlich: Es geht hier gar nicht um die Frage, welche Theoreme Humes in besonderer Weise Ausdruck der intellektuellen, sozialen und politischen Lage seiner Zeit sind. Vielmehr interessiert Russell ausschließlich die Bewertung von Humes Lehre unter dem Gesichts­ punkt ihrer Originalität und ihres Beitrags zum Fortschritt der Phi­ losophie. Auf der Basis einer Auswahl einzelner Theoreme unter diesem philosophischen, nicht historischen Gesichtspunkt setzt sich Russell in seinem Text dann mit insgesamt sechs dieser Theoreme ausführlich auseinander. Er führt also in der oben eingeführten Ter­ minologie sechs verschiedene philosophische Dialoge mit Hume. Diese sind zum Teil affirmativ, zu einem anderen Teil auch kritisch. Ferner: Die historische Verankerung Humes erfolgt im von Russell selbst kritisierten Sinne allein durch dessen Bezugsetzung zu einigen vorausgehenden philosophischen Positionen. Und schließlich: Das intellektuelle Milieu, in dessen Rahmen sich das Werk Humes entfal­

7 8

Russell, a. a. O., S. 668–683. A. a. O., S. 669.

136 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

tet hat, nämlich die »Schottische Aufklärung«, wird von Russell gar nicht erwähnt. Offensichtlich geht es Russell in diesem Kapitel entsprechend nicht darum, Hume aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Vielmehr will er dessen Beitrag zu den Fortschritten in der modernen Philosophie darstellen und kritisch prüfen. In den Auseinandersetzungen mit den genannten, von Russell selber als besonders wichtig eingestuften Theoremen arbeitet er nicht historisch, sondern vielmehr philoso­ phisch: Humes Werk ist ihm sozusagen ein Spiegel, in dem er seine eigenen philosophischen Überzeugungen überprüft und zur Geltung bringt. Er assimiliert Humes Lehren im Kontext einer falsifikationis­ tischen, an der Idee des Fortschritts orientierten Darstellung der unter diesen Gesichtspunkten neuen und wichtigen Lehren Humes. Das einschlägige Kapitel beginnt mit einer positiven Einschät­ zung der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Humes, die Russell erstaunlicherweise zugleich mit einer Art Bankrotterklärung für den klassischen Empirismus verbindet: »David Hume (1711–1776) ist einer der bedeutendsten Philosophen, weil er die empirische Philo­ sophie Lockes und Berkeleys bis zu ihrem logischen Ende fortentwi­ ckelt hat und sie unglaubhaft machte, indem er alle Inkonsequenzen innerhalb des Systems ausmerzte. Er führt uns gleichsam in eine Sackgasse: in der von ihm eingeschlagenen Richtung kommt man keinen Schritt weiter.«9 Das ist ein seltsames Lob. Es scheint zu besagen, dass Humes Hauptverdienst darin besteht, den klassischen Empirismus als ein strukturell irrtümliches philosophisches System präsentiert zu haben. Im Rahmen des Falsifikationismus aber macht dieses Lob einigen Sinn: Hume hat uns den erneuten Umweg über die Hypothesen des klassischen Empirismus für alle Zukunft erspart. Das ist sein wesentlicher Beitrag zum Fortschritt in der Philosophie. Wie Russell selber versteht sich auch Hume als Skeptiker. Insofern ist ein Teil seines philosophischen Bestrebens sicherlich die Zurückweisung unbegründeter dogmatischer Ansprüche. Diese Zurückweisung bezieht sich aber keineswegs hauptsächlich oder gar ausschließlich auf Positionen von Locke und Berkeley. Sie ist vielmehr viel grundsätzlicherer Art. Insofern hat Russell in gewisser Weise Recht, wenn er seine Bewertung der philosophischen Leistung Humes wie folgt fortsetzt: 9

A. a. O., S. 668.

137 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

»Seit er die Feder zur Hand nahm, ist es stets ein beliebter Zeitvertreib der Metaphysiker gewesen, ihn zu widerlegen. Ich für meinen Teil finde keine ihrer Widerlegungen überzeugend; dennoch kann ich nur hoffen, daß sich einmal etwas weniger Skeptisches als Humes System finden läßt.«10 Auch diese Einschätzung lässt sich nun sehr leicht falsifikatio­ nistisch verstehen: Nicht nur der klassische Empirismus hat sich als falsch erwiesen, auch die traditionelle Metaphysik ist an der skeptischen Position Humes gescheitert. Auch dieser gegenüber stellt Humes philosophische Position daher einen Fortschritt dar. Wenn in Zukunft also ein weiterer Fortschritt in der Philosophie angestrebt wird, so wird dieser die wirklichen Schwächen der Position Humes herausarbeiten und durch bessere Thesen ersetzen müssen. Insofern ist diese Einleitung des Hume-Kapitels in Russells »Philosophie des Abendlandes« wirklich ein Musterbeispiel für die von mir »falsifika­ tionistisch« genannte Art von Philosophiegeschichtsschreibung. Ich will dies noch an einem konkreten Beispiel weiter erläutern. Dieses Beispiel erlaubt mir zugleich einen an der Idee des philosophischen Fortschritts orientierten Übergang zu Russells Darstellung der philo­ sophischen Leistung Kants. Auch diesen Abschnitt des Hume-Kapitels leitet Russell mit einem Werturteil ein: »Der wichtigste Teil des ganzen Traktats ist der Abschnitt ›Von der gewissen Erkenntnis und der Wahrscheinlich­ keit.‹“11 Russell weist bei der gründlichen Auseinandersetzung mit Humes einschlägiger Lehre zunächst richtig darauf hin, dass hier nicht mathematische Wahrscheinlichkeit gemeint ist. Vielmehr gehe es Hume um die Unsicherheiten, die mit allen über die unmittelbare sinnliche Gewissheit hinausgehenden Urteilen notwendig verbunden sind. Im Zentrum einer solchen Erweiterung der Erfahrung über die unmittelbar gegebene sinnliche Gewissheit hinaus stehen das Kon­ zept der Kausalität sowie das methodische Verfahren der Induktion. Russells Auseinandersetzung mit diesem zentralen Lehrstück von Humes Erkenntnis- und Wissenschaftslehre kreist daher um den Zusammenhang von Kausalität, Induktion und Wahrscheinlichkeit. Das ist nun tatsächlich ein zentrales Problem aller philosophischen Erkenntnistheorie. In Russells Sicht beruht Humes Psychologisie­ rung der Kausalitätsvorstellung auf seiner eigenen Antwort auf die 10 11

Ebd. A. a. O., S. 672.

138 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

kritische Frage, ob wir kausale Beziehungen wahrnehmen können. Hume bezweifelt das, weil uns in seiner Sicht die verbindende »Kraft« zwischen Ursache und Wirkung niemals sinnlich zugänglich ist. Russell kommentiert die Folgen dieser Argumentation wie folgt: »Nehmen wir zuweilen Beziehungen wahr, die sich als kausal bezeich­ nen lassen? Hume verneint die Frage, seine Gegner bejahen sie, und man kann sich schwerlich vorstellen, wie jede Partei ihre Auffassung stichhaltig begründen will.«12 Diese Bemerkung lese ich nun ebenfalls falsifikationistisch, allerdings zugleich mit einem skeptischen Akzent: Weder die Annahme der Wahrnehmbarkeit kausaler Beziehungen noch deren Negation lassen sich in Russells Sicht widerspruchsfrei begründen. Ein Fortschritt in dieser Frage setzt also eine ganz neue Art voraus, die mit diesem Problem verbundene Frage zu stellen. Russell tut nun genau dies, indem er eine ganz andere Einschätzung des Status der Induktion vorschlägt. Diese ergibt sich aus der von Hume in Russells Sicht nicht ausreichend gewürdigten Verbindung der Methode der Induktion mit seiner eigenen Lehre von Wahrscheinlichkeitsurteilen. Russell argumentiert wie folgt: Aus dem mit der Wahrscheinlichkeits­ lehre verbundenen Induktionsprinzip ergibt sich, dass die von Hume abgelehnten kausalen Schlüsse gültig sind, »da sie zwar nicht wirk­ lich Gewißheit, wohl aber eine für praktische Zwecke ausreichende Wahrscheinlichkeit erbringen.«13 Ohne ein so verstandenes Indukti­ onsprinzip »muß jeder Empiriker bei Humes Skeptizismus enden. […] Soweit hat Hume bewiesen, daß der reine Empirismus keine ausreichende Grundlage für die Wissenschaft ist.«14 Die von mir vorgeschlagene falsifikationistische Lesart dieser Überlegung ist die folgende: Zur Überwindung eines unfruchtbaren Skeptizismus ist eine bestimmte Form von Pragmatismus notwendig; dieser muss sich an der Frage orientieren, mit welcher philosophi­ schen These sich am ehesten ein wissenschaftlicher Fortschritt erzie­ len lässt. Nun kann man diese Schlussfolgerung unterschiedlich bewerten: Man kann sie einerseits, wie Russell dies mit dem Hinweis auf die anzustrebende Bedeutung für die Wissenschaften nahelegt, als eine pragmatische »Einklammerung« (epoché) unwiderlegbarer skep­ 12 13 14

A. a. O., S. 678. A. a. O., S. 682. A. a. O., S. 682 f.

139 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

tischer Einwände deuten. Man kann sie aber auch – wie Russell selbst dies dann tut – als Hinweis darauf ansehen, dass »die Induktion ein unabhängiges logisches Prinzip ist, das sich weder aus der Erfahrung noch aus anderen logischen Prinzipien folgern läßt, und dass ohne dieses Prinzip die Wissenschaft nicht möglich wäre.«15 Die auf diesem falsifikationistischen Wege zu erreichende neue Hypothese ist also die folgende: Induktion ist eine entscheidende Voraussetzung für jede empirische Wissenschaft, ihrerseits jedoch niemals empirisch begründbar. Es liegt nun nahe, die neue Rechtfertigung des Induk­ tionsprinzips in der transzendentalphilosophischen Begründung von Erfahrung bei Kant zu suchen. Das tut auch Russell, nicht jedoch ohne zugleich auch Kants philosophische Theorie ihrerseits in falsifikatio­ nistischer Absicht zu überprüfen – mit negativem Ergebnis. Auch den »Abriß der Kantischen Philosophie« beginnt Rus­ sell mit einer Bewertung der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Kants: »Immanuel Kant (1724–1804) gilt allgemein als der größte moderne Philosoph. Ich selber teile diese Ansicht nicht, es wäre jedoch töricht, seine große Bedeutung nicht anzuerkennen.«16 Nach einer kurzen biografischen Skizze beschreibt Russell zunächst in doxografischer Manier die Grundzüge der theoretischen und praktischen Philosophie Kants. Bald jedoch führt er auch mit Kant »philosophische Dialoge«, in deren Verlauf er dessen in seiner Sicht interessantesten Theoreme auf der Basis seiner eigenen philo­ sophischen Überzeugungen kritisch prüft und zum Teil in falsifika­ tionistischer Manier zurückweist. In diesem Zusammenhang fallen überraschende Bewertungen der Bedeutung einzelner Lehrstücke aus Kants Gesamtwerk auf. So stellt Russell einigermaßen apodiktisch fest: »Der wichtigste Teil der Kritik der reinen Vernunft ist die Lehre von Raum und Zeit.«17 Auch hier macht Russells anschließende Argumentation deutlich, warum er die »Transzendentale Ästhetik« für das wichtigste Lehrstück der ersten »Kritik« hält: Gemäß seiner Auffassung ist es vor allem die »Transzendentale Ästhetik«, in der Kant Fortschritte in der theoretischen Philosophie erreicht hat. Kants Beiträge zur Praktischen Philosophie hält Russell dagegen als ganze für wenig bedeutsam. Sie sind für ihn nämlich keine Beiträge zum Fortschritt in der Praktischen Philosophie. Vielmehr 15 16 17

A. a. O., S. 683. A. a. O., S. 713. A. a. O., S. 720.

140 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

fallen sie hinter die Positionen und Erkenntnisse Humes und der britischen moral sense philosophy insgesamt zurück. Während er den grundsätzlichen Unterscheidungen und Hauptlehrsätzen der theoretischen Philosophie Kants im doxografischen Teil seiner Prä­ sentation zustimmt, erhebt Russell daher maßgebliche Einwände gegen Kants Ethik. Die Implikationen des Kategorischen Imperativs enthalten in seiner Sicht »tatsächlich ein notwendiges, doch kein ausreichendes Kriterium der Tugend«.18 So glaubt Russell etwa, das Verallgemeinerungsprinzip schließe den Selbstmord nicht als mora­ lisch zu rechtfertigende Handlungsweise aus; denn »es wäre durchaus möglich, daß ein Melancholiker den Wunsch hätte, jeder Mensch solle sich umbringen.«19 Kants andere Formulierung des Kategorischen Imperativs, die Lehre, dass man in seinem Handeln alle Menschen – also auch sich selber – immer als Selbstzweck (und niemals nur als Mittel) begreifen und behandeln dürfe, wird von Russell nicht ernst genommen; denn Kants »Prinzip« (der Kategorische Imperativ) scheint »diese Konsequenz nicht einzuschließen.«20 Insofern ist Kant in Russells Sicht kein nennenswerter Beitrag zum Fortschritt in der Praktischen Philosophie gelungen. Es wird im Verlauf von Russells Auseinandersetzung mit Kants Ethik vielmehr sehr deutlich, dass er schon deren gesinnungstheore­ tischen Ansatz für verfehlt hält: »Um ein ausreichendes Kriterium zu gewinnen, müßten wir Kants rein formalen Standpunkt aufgeben und die Wirkungen der Handlungen in Betracht ziehen. Kant stellt jedoch ausdrücklich fest, daß es bei der Tugend nicht auf das beabsichtigte Ergebnis einer Handlung ankommt, sondern nur auf das Prinzip, deren Resultat es ist; und wenn das zugegeben wird, dann ist etwas Konkreteres als seine Maxime nicht möglich.«21 Falsifikationistisch betrachtet ist Kants Ethik somit nahezu bedeutungslos, weil sie für die entscheidenden Probleme keine tragfähigen Lösungen bietet. Man könnte sogar sagen, dass sie gegenüber den konsequenzionalistischen Ansätzen bei Hume einen Rückschritt darstellt. In seiner philosophischen Auseinandersetzung mit Kants theo­ retischer Philosophie erhebt Russell dagegen nicht sogleich solch grundsätzliche Einwände. Allerdings stehen im Zentrum seiner Dar­ 18 19 20 21

A. a. O., S. 719. Ebd. Ebd. Ebd.

141 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

stellung neben der Skizzierung des Grundgedankens der Transzen­ dentalphilosophie – »daß unsere Erkenntnis zwar niemals über unsere Erfahrung hinausgehen kann, trotzdem aber zum Teil a priori besteht und nicht induktiv aus der Erfahrung abgeleitet wer­ den kann«22 – überraschenderweise Kants Urteilstheorie und die Grundzüge seiner »transzendentalen Ästhetik«. Die ebenfalls kurz zusammengefassten Antinomien der »Transzendentalen Dialektik« werden dagegen nur richtig dargestellt, nicht jedoch zum Gegenstand einer ausführlichen Analyse gemacht. Aus Kants kritischer Auseinandersetzung mit Humes skepti­ scher Behandlung der Kausalitätslehre schließt Russell, die Lehre von den synthetischen Urteilen sei das Herzstück von Kants theoreti­ scher Philosophie: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Die Antwort auf diese Frage mit allen ihren Konsequenzen ist das eigentliche Thema der Kritik der reinen Vernunft.«23 Kant behauptet entgegen Humes konsequentem Empirismus ja, die Kategorie der Kausalität sei ein synthetisches Urteil a priori. Nur auf der Basis von solchen Urteilen ist innerhalb der Transzendentalphilosophie daher ein positives Konzept von Kausalität zu begründen. Die Lehre von der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wäre in Russells falsifikationistischer Sicht daher zugleich auch der Ort, an welchem eine nicht-empirische Begründung des Induktionsprinzips zu finden wäre. Hier also könnte Kant die theoretische Philosophie einen entscheidenden Schritt voranbringen. Das aber gelingt ihm nach Russell nicht; denn die Transzendentalphilosophie hängt ihm zufolge ganz entscheidend von der Plausibilität des Begriffs des »Dings-an-sich« sowie derjenigen von Kants Lehre ab, dass Wahr­ nehmungen durch »Dinge an sich« (modern: »Ereignisse in der Welt der Physik«) verursacht werden. Wenn man auf diese logisch nicht notwendige Annahme verzichtet, »dann hören die Wahrnehmungen auf, in irgendeinem wichtigen Sinne ›subjektiv‹ zu sein, da ihnen nichts gegenübergestellt werden kann.«24 Kants Begründung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wird auf diese Weise in Russells Sicht nun ihrerseits fragwürdig, sodass nicht angenommen werden kann, seine transzendentalphilo­ sophische Wende erfülle die in Humes skeptisch infiziertem Empi­ 22 23 24

A. a. O., S. 714. A. a. O., S. 715. A. a. O., S. 725.

142 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

rismus klar zutage tretende Notwendigkeit einer nicht-empirischen Begründung des Induktionsprinzips. Auch dies ist ganz offensichtlich eine falsifikationistische Bewertung der Lehrmeinungen Kants, mit dem negativen Ergebnis, dass Kant zwar die nach Hume gegebene Problemlage richtig verstanden, das sich nun aufdrängende Begrün­ dungsproblem jedoch nicht überzeugend gelöst habe. Nun könnte man, um Kants Problem zu vermeiden, die Wahr­ nehmungen eben nicht als Wirkungen von Ereignissen in der Welt betrachten; dann aber nähert man sich nach Russell in gefährlicher Weise der Position des absoluten Idealismus von Fichte, Hegel und Schelling. Mit dem Terminus »Absolutismus« bezeichnet Russell hierbei offensichtlich solche idealistischen Positionen, die die reine Vernunfterkenntnis jeder Form von erfahrungsbedingtem Wissen überordnen. Ein solches Denken sieht er offensichtlich als problema­ tisch an, obwohl er selber gegen Humes Kritik der Induktion den besonderen Status der Induktion als ein »unabhängiges logisches Prinzip« verteidigt. Diese Einschätzung der Induktion ist in meiner Sicht jedoch nur transzendentalphilosophisch oder aber idealistisch zu begründen. Da Russell jedoch Kants Position ebenso problematisch findet wie diejenige der Deutschen Idealisten, kommt er selber über Hume keinen entscheidenden Schritt hinaus. Er variiert lediglich dessen Skeptizismus – und distanziert sich zugleich von diesem. Hier also führt der Falsifikationismus innerhalb der Philosophie­ geschichtsschreibung offensichtlich in eine Aporie, sodass Russell tatsächlich aus seiner Perspektive nur noch hoffen kann, »daß sich einmal etwas weniger Skeptisches als Humes System finden läßt.«25

4. Über die Notwendigkeit der Idee des Fortschritts in einer philosophisch begründeten Historie der Philosophie Wie die Analysen der zwei ausgewählten Kapitel aus Russells »Philo­ sophie des Abendlandes« gezeigt haben, ist Russell als Philosophie­ historiker eine sehr spezifische Quelle, mit der vorsichtig umgegan­ gen werden sollte. Zwar sind seine Analysen und Kommentare meist sehr scharfsinnig bzw. anregend. Manche seiner Bewertungen wirken jedoch auch ein wenig willkürlich oder zumindest einseitig. In meiner Sicht ist diese Schwäche eine Folge seiner Entscheidung, der Darstel­ 25

Ebd.

143 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

lung der behandelten Werke auch eine philosophische und nicht nur eine historische Perspektive zugrunde zu legen. Das macht den Text zwar sehr »lebendig«, schränkt seine Zuverlässigkeit als Doxografie jedoch ein. In unserem Zusammenhang ist seine »Geschichte der abendländischen Philosophie« hingegen ein wichtiges Beispiel dafür, wie sich eine falsifikationistische Philosophiegeschichte schreiben lässt. Die sich in Russells Art von Geschichtsschreibung manifes­ tierende Anwendung des Falsifikationismus auf die Philosophiege­ schichte zeigt zugleich: Sein Umgang mit der Philosophiegeschichte ist nicht rein rekonstruktiv, vielmehr wählt er dezidiert aus, und zwar unter den Kriterien der »Neuheit« und »Bedeutsamkeit«, wobei er letztere an dem jeweils aktuell erreichten philosophischen Fortschritt misst. Damit aber wird seine eigene philosophische Position zu einem wichtigen Bestandteil seines Verständnisses der Geschichte der Philo­ sophie. In diesem Sinne ist seine Geschichtsschreibung durchgängig assimilierend. Zugleich wird sie nach meinem Empfinden auf diese Weise unvermeidlich auch relativ: Nur aus Russells spezifischer Sicht muss die Entwicklung der Philosophie so erscheinen, wie er sie darstellt. Nur aus seiner Sicht sind bestimmte klassische Lehrmeinun­ gen wichtig, weil sie den von ihm angenommenen philosophischen Fortschritt befördert haben. Diese Feststellung bringt mich nun an den Anfang der Überle­ gungen zurück; und zwar in Gestalt der Frage, ob sich »Fortschritt« in der Philosophie überhaupt unabhängig von einer jeweils als richtig vorausgesetzten philosophischen Position bestimmen lässt. Wenn das nicht möglich ist – und diese skeptische Position vertrete ich – so ergibt sich in meiner Auffassung die folgende Einsicht: Die Frage, ob es in der Geschichte der Philosophie einen Fortschritt gibt und worin dieser im Einzelnen besteht, lässt sich nur aus einer bestimmten phi­ losophischen Position heraus beantworten. Das aber bedeutet: Eine an der Idee des Fortschritts orientierte Historie der Philosophie kann nur einen sehr eingeschränkten Geltungsanspruch erheben; denn sie setzt die Gültigkeit einer bestimmten systematischen Position voraus. In meinem Buch »Wissenschaftliche Methode und historische Bedeutung« habe ich mit Blick auf die philosophische Grundlegung historischer Forschung insgesamt für deren Verankerung in einer Idee des »erstrebten Fortschritts« argumentiert. Dabei habe ich ausführlich die These begründet, dass sich aus der Notwendigkeit einer Auswahl von Ereignissen, Situationen und Personen aus dem unübersehbaren Feld geschichtlicher Tatsachen gemäß dem Kriterium der Bedeutsam­

144 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Falsifikationismus als Muster der Philosophiegeschichtsschreibung?

keit eine Verankerung der historischen Forschung in der Praktischen Philosophie ergibt.26 Mit Bezug auf die Notwendigkeit der Grund­ legung historischer Forschung in jeweils bestimmten praktischen Philosophien – die nämlich erst die Begründung des jeweiligen Krite­ riums der Bedeutsamkeit erlauben – habe ich dort behauptet: »Der Begriff des Fortschritts formuliert den Bezugspunkt der Beurteilung von Bedeutsamkeit. Im Gegensatz zu seiner Verwendung innerhalb metaphysischer Geschichtskonzeptionen ist seine Funktion innerhalb unserer Theorie historischer Erfahrung bloß heuristisch.«27 Analog zu diesen Überlegungen möchte ich nun mit Bezug auf das spezifische Problem einer Historie der Philosophie aus den hier vorgelegten Analysen und Bewertungen die folgenden Schlüsse zie­ hen: (1) Einerseits sollte sich die Philosophiegeschichtsschreibung an der Idee eines Fortschritts in der Geschichte der Philosophie orientie­ ren, weil sie nur so ein sinnvolles Kriterium philosophiehistori­ scher Bedeutsamkeit formulieren kann. Sie sollte hier aber, wie an der gerade zitierten Stelle herausgestellt, von »Fortschrittsre­ levanz« sprechen, um auch wesentliche Rückschritte angemessen würdigen zu können. (2) Die Bewertung einer bestimmten philosophischen Position als fortschrittsrelevant setzt jedoch die inhaltliche Bestimmung des­ sen voraus, was dem Philosophiehistoriker als systematisch über­ zeugend und in diesem Sinne als richtig erscheint. Aus diesen Überlegungen ziehe ich die folgenden Konsequenzen: (1) Eine historische Darstellung aller Philosophie ist schlechterdings unmöglich; deshalb ist Philosophiehistorie notwendig auf eine sehr strenge Auswahl angewiesen. Deren Begründung kann nur im Rahmen einer systematischen Philosophie erfolgen und wird sich an der Vorstellung der Fortschrittsrelevanz orientieren müs­ sen; denn diese ist die sinnvollste Begründung für die Bedeut­ samkeit bestimmter Positionen und Thesen in der Geschichte der Philosophie. 26 Rudolf Lüthe: Wissenschaftliche Methode und historische Bedeutung. Philoso­ phische Untersuchungen zu den Problemen der Geschichtserfahrung, Freiburg 1987, insbesondere S. 331 ff. 27 A. a. O., S. 405.

145 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Rudolf Lüthe

(2) Das führt notwendig zu einer Verankerung aller sinnvoll begrün­ deten philosophiegeschichtlichen Arbeit in bestimmten systema­ tischen Positionen. Insofern sind die Geltungsansprüche aller konkreten Durchführungen von Philosophiehistorie von der Akzeptanz bestimmter philosophischer Grundüberzeugungen abhängig und können auch nur auf dieser Basis bestehen. Auch dies lehrt das oben analysierte Beispiel des philosophiehistori­ schen Hauptwerks von Bertrand Russell. (3) Unabhängig von einer solchen systematischen Verankerung kann der Philosophiehistoriker seine Auswahl nicht sinnvoll begrün­ den. Philosophiehistorie ist daher entweder an der Idee der Fort­ schrittsrelevanz orientiert und deshalb im beschriebenen Sinne in ihren Geltungsansprüchen relativiert; oder aber sie ist in dem ent­ scheidenden Aspekt der Begründung ihrer Auswahl von Personen und Theoremen mangelhaft und daher strukturell fragwürdig. Insofern lässt sich abschließend feststellen: Eine philosophisch begründete Philosophiehistorie ist ohne die Vorstellung eines Fort­ schritts in der Philosophie und damit ohne eine Verankerung in einer bestimmten systematischen Philosophie nicht möglich. Wegen der oben beschriebenen Verwobenheit von systematischer und his­ torischer Arbeit in der Philosophie gilt darüber hinaus aber auch: Systematische Philosophie ist ohne Philosophiehistorie ebenso wenig möglich wie es eine Philosophiehistorie ohne deren Verankerung in der systematischen Philosophie geben kann; denn diese grün­ det unausweichlich in einer Bezugnahme auf »Fortschrittsrelevanz«, welche ihrerseits nur im Rahmen der systematischen Philosophie begründet werden kann.

146 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Wenn die Eule der Minerva zu fliegen beginnt: Philosophiegeschichte als Lernprozess

Wozu und zu welchem Zweck studieren wir die Geschichte der Philo­ sophie? Warum beschränken wir das philosophische Curriculum nicht auf die Gegenwartsphilosophie und die systematischen Disziplinen und ersparen es den Studierenden, die Werke Platons, Aristoteles’ oder Kants zu lesen, was ihnen heutzutage ohnehin zunehmend schwerer fällt? Ein Physikstudent muss ja auch nicht die »Physik« des Aristoteles oder Newtons »Principia« lesen, um sein Examen zu bestehen. In der Mathematik und der Physik kann man ein Problem von seinem historischen und kulturellen Kontext lösen und allein für sich betrachten. Die Geschwindigkeit und die Beschleunigung eines fallenden Steins hängen schließlich allein von den Naturgesetzen und den physikalischen Anfangsbedingungen ab und nicht davon, wann man ihn fallen lässt, wer ihn fallen lässt und warum man ihn überhaupt fallen lässt. Bei philosophischen Problemen hingegen kann man den histori­ schen und kulturellen Kontext nicht ausblenden. Hier macht es durchaus einen Unterschied, wer etwas denkt, warum man etwas denkt und in welchem Zusammenhang und in welcher historischen Epoche etwas gedacht wird. Setzt man sich mit einem philosophischen Problem auseinander, muss man sich fragen, warum dieses Problem so wichtig ist und welche Bedeutung es innerhalb der Philosophie hat. Dieser reflexive Selbstbezug ist konstitutiv für das philosophi­ sche Denken. Man untersucht ja schließlich kein materielles Objekt wie einen Stein, der unabhängig von unserem Denken existiert. Vielmehr verändern sich philosophische Ideen durch das Nachden­ ken. Den Naturwissenschaftler interessiert nur das Ergebnis seiner Überlegungen. Für einen Philosophen ist aber gerade dieser Prozess des Nachdenkens das Entscheidende und dieser Prozess beschränkt sich nicht auf die individuelle Person, die darüber nachdenkt, sondern hat eine Vorgeschichte, die über diese Person hinausgeht. Philosophi­

147 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

sche Probleme wie das Realismusproblem, das Leib-Seele-Problem oder das Problem der Willensfreiheit können nicht deduktiv durch Definition, Satz und Beweis gelöst werden. Sie können nicht ex nihilo angegangen und nach endlicher Zeit gelöst werden, vielmehr handelt es sich um immer wiederkehrende Fragen, die immer wieder aufs Neue durchdacht werden müssen. Man kommt daher nicht umhin, sich mit den Gedanken anderer Philosophen auseinanderzusetzen, weil in der Philosophie vieles schon einmal gedacht wurde und immer wieder neu gedacht wird. Die Philosophiegeschichte nimmt einen besonderen Platz inner­ halb der Philosophie ein, da sie der Ort ist, an dem sie über sich selbst nachdenkt. Man ist in der besonderen Lage, von einer höheren Warte aus auf mehr als zweieinhalb Jahrtausende Ideengeschichte zurückzublicken und das Entstehen, die Blüte und den Niedergang ganzer philosophischer Systeme nachzuerleben. Nach Hegel kommt der Geist erst dadurch zu sich selbst, dass er über seine Geschichte reflektiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nach Hegel auch andere große Denker wie Ludwig Feuerbach, Wilhelm Windelband, Franz Brentano, Bertrand Russell und neuerdings auch Jürgen Haber­ mas bedeutende Werke zur Philosophiegeschichte geschrieben haben. Trotz der teilweise divergierenden Ansichten und der Bildung immer neuer Strömungen und Schulen zeichnet sich die Philosophie­ geschichte durch eine gewisse Kontinuität aus, die sich u. a. in der Wiederkehr immer gleicher Fragestellungen bemerkbar macht. Wil­ helm Windelband (1908, S. 10) spricht von einer »Konstanz in allem Wechsel« und Wolfgang Röd beschreibt in der Einleitung zu seiner Darstellung des Wegs der Philosophie diese Kontinuität wie folgt: »Nicht jedes Teilstück des Wegs der Philosophie folgt der Hauptrich­ tung, nicht jeder Schritt auf diesem Weg führt weiter, aber aufs ganze gesehen zeichnet sich doch eine vorherrschende Richtung ab, und hinter den scheinbaren Diskontinuitäten der Entwicklung lassen sich tieferliegende Zusammenhänge erkennen.« (Röd 2000, Bd. 1, S. 18) Es drängt sich daher die Frage auf, ob es in der Geschichte der Philo­ sophie einen Fortschritt gibt. Anders als in den Naturwissenschaften gibt es in der Philosophie kein kumulatives Wissenswachstum. Die Philosophie ist kein Gebäude, das von Grund auf, Stockwerk für Stockwerk, errichtet wird. Vielmehr baut jeder Philosoph sein eigenes Haus, jeder in einem anderen Stil. Da werden alte Gebäude abgeris­ sen, manche Teile für einen Neubau verwendet. Es bleibt jedem selbst überlassen, in welches Haus er einziehen will.

148 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Ob es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte gibt, wird von verschiedenen Philosophen ganz unterschiedlich beantwortet, so auch von den Autoren der vorangegangenen Beiträge. Ich will daher zunächst diese Beiträge kommentieren, ihre Stärken und Schwächen herausarbeiten, um dann im zweiten Teil den Horizont der Betrachtung zu erweitern, indem ich drei konkurrierende Modelle der Philosophiegeschichtsschreibung vorstelle: das Hegel’sche Fort­ schrittsmodell, das bereits im Beitrag von Hans Friesen zur Sprache kam, das Kuhn’sche Paradigmenmodell und das narrative Modell. Diese drei Modelle haben eine unterschiedliche Auffassung von philosophischem Fortschritt. Hegel spricht von einem Fortschritt im Bewusstsein des Geistes, Kuhn vertritt dagegen eine pragmatische Auffassung von Fortschritt, während das postmoderne Narrations­ modell jeglichen Fortschritt in der Philosophiegeschichte leugnet. Im Anschluss an diese drei Modelle werde ich ein Dependenzmodell vorstellen, das wesentliche Gedanken der anderen drei Modelle, aber auch Überlegungen der vorangegangenen Beiträge aufgreift und eine Antwort auf die Frage nach dem Fortschritt ermöglicht.

1. Hans Friesen: Philosophie als Streit Hans Friesen unterscheidet zwei Modelle der Philosophiegeschichts­ schreibung: 1. das dialektische Fortschrittsmodell von Hegel, der im historischen Entwicklungsprozess das Werk eines Geistes sieht, der im Verlauf der Geschichte zum Selbstbewusstsein gelangt, sowie 2. ein Verlaufsmodell, das Philosophiegeschichte als Wiederkehr von Gegensätzen und Antagonismen begreift. Im Unterschied zum Hegel’schen Modell gibt es hier keinen Fortschritt, vielmehr wird Phi­ losophie als immerwährender Streit zwischen gegensätzlichen Posi­ tionen charakterisiert, sodass man von einem agonalen Geschichtsmo­ dell sprechen kann. Das agonale Modell ist sehr plausibel, da es in der Philosophie­ geschichte immer wieder prägende Kontroversen gab und die kritische Auseinandersetzung ein zentrales Element des philosophischen Dis­ kurses darstellt. Man denke dabei etwa an Platons Kritik an den Sophisten, den Universalienstreit im Mittelalter, den Streit zwischen Luther und Erasmus über Willensfreiheit, die Leibniz-Clarke-Kontro­ verse, den Pantheismusstreit zwischen Lessing, Jacobi und Mendels­ sohn, die Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Spiritua­

149 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

lismus im 19. Jahrhundert, den berühmten Davoser Disput zwischen Heidegger und Cassirer oder den Positivismusstreit in den 1960er und 1970er Jahren. Man kann tatsächlich den Eindruck gewinnen als ob Philosophie in einem endlosen Widerstreit bestünde, der nie­ mals aufgelöst wird. Philosophische Strömungen zeichnen sich durch Gegensätze, Polaritäten und Antagonismen aus und diese Gegensätze kehren in verkleideter Form immer wieder. So haben sich z. B. im Streit um die Willensfreiheit mit dem Kompatibilismus und Inkom­ patibilismus zwei gegensätzliche Positionen herausgebildet, die mit wechselnden Kontrahenten in der Philosophiegeschichte immer wie­ der anzutreffen sind. Luther gegen Erasmus, Hobbes gegen Bramhall, Harry G. Frankfurt gegen Peter van Inwagen: Die Positionen und Argumente sind oftmals die gleichen, nur die Kontrahenten wechseln. Es scheint einen unentwegten Streit um Begriffe, Ideen und Argumente zu geben, der jeden Fortschritt ausschließt. In der Phi­ losophiegeschichte gibt es, wie Friesen konstatiert, nicht nur Auf­ wärts-, sondern auch Abwärtsbewegungen, keinen linearen, sich durch alle Epochen durchziehenden Hauptstrang philosophischen Denkens, sondern viele Abspaltungen, Verzweigungen und Neben­ entwicklungen. Die Philosophiegeschichte ist keine Leiter, auf der es immer weiter nach oben geht, vielmehr gibt es ein scheinbar wildes Durcheinander sich bekämpfender Schulen und Traditionen. Friesen versucht Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen, indem er drei Hauptgegensätze identifiziert, die er den drei Epochen Antike, Neuzeit und Gegenwart zuordnet: Die Antike zeichnet sich seiner Meinung nach durch den Gegensatz Idealismus versus Realismus aus. Die Neuzeit ist der Schauplatz für die Auseinandersetzung zwischen Rationalismus und Empirismus. Und in der Gegenwart ist der Widerstreit durch den Antagonismus Moderne versus Postmo­ derne geprägt. Friesen erhebt sicherlich nicht den Anspruch, alles auf diese drei Hauptgegensätze zurückführen zu wollen. Zweifellos gibt es in jeder Epoche auch andere Debatten, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen. Zumindest bietet es einen Orientierungspunkt in einer unübersichtlichen Ideenlandschaft. Allein schon die Epochen­ einteilung ist willkürlich: So fragt man sich, wo in diesem Schema das Mittelalter bleibt, wann die Neuzeit beginnt und endet und welchen Zeitraum die Gegenwart umfasst. Der Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus wird beispielhaft an Platon und Aristoteles festgemacht. Dieser Gegensatz setzt sich nach ihrem Tod im Streit

150 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

zwischen Platonikern und Aristotelikern fort. Er kehrt in späteren Epochen immer wieder, im Mittelalter beispielsweise in der Kontro­ verse zwischen Universalienrealisten und Nominalisten. In der Neu­ zeit bricht der Gegensatz erneut in veränderter Form hervor: Denn die Empiristen sind überwiegend Realisten, während die Rationalisten zumeist idealistische Positionen vertreten. Auch im Streit zwischen Links- und Rechtshegelianern erkennt man diesen Gegensatz wieder: Hegel und die Rechtshegelianer vertreten einen Idealismus, Marx und die Linkshegelianer einen materialistischen Realismus. Und selbst im 20. Jahrhundert wiederholt sich dieser Streit: In England verteidigen Russell und Moore den Realismus gegen die damals vorherrschenden Idealisten und in der Wissenschaftstheorie entwickelt sich eine heftige Kontroverse zwischen dem »scientific realism« und dem Anti-Realis­ mus. Auch der Streit zwischen der evolutionären Erkenntnistheorie (Realismus) und dem Radikalen Konstruktivismus (Idealismus) lässt sich diesem Gegensatz zuordnen. Im Unterschied zu Hegels Dialektik gibt es zwischen den gegensätzlichen Positionen, zwischen These und Antithese, keine Synthese, die den Gegensatz aufheben oder auf höherer Ebene weiterentwickeln würde. Insofern spricht einiges für Friesens These von der Wiederkehr der Gegensätze, wobei auf inhaltlicher Ebene durchaus eine Weiter­ entwicklung stattfindet. Dennoch stellt die Reduktion auf die drei Hauptgegensätze eine grobe Vereinfachung dar und der Fortschritts­ pessimismus erscheint mir überzogen. Es wäre nämlich zu einfach gedacht, die antike Philosophie nur auf die Auseinandersetzung zwischen Platonikern und Aristotelikern zu beschränken. Daneben gibt es noch viele andere Schulen: die Sophisten, die Kyniker, die Kyrenaiker, die Epikureer, die Stoiker und die Skeptiker, die sich nicht ohne Weiteres der Dichotomie Idealismus – Realismus zuordnen lassen. Ähnliches gilt für den Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalismus, der schließlich von Kant überwunden wird. Und auch für die deutschen Idealisten nach Kant ist dies kein Streitpunkt mehr. Erst im 20. Jahrhundert bricht der Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalismus wieder aus, wie Friesen richtig feststellt, und zwar im Streit zwischen den logischen Empiristen (Carnap, Schlick, Neurath etc.) und dem Kritischen Rationalismus (Popper). Zwischen der Neuzeit, die nach Friesen mit Kant endet, und der Gegenwart, die durch den Konflikt zwischen Habermas und Lyotard gekennzeichnet ist, klaffen zwei Jahrhunderte, bei denen nicht klar ist, unter welchem Gegensatzpaar sie stehen. Die Postmo­

151 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

derne ist eine Entwicklung des späten 20. Jahrhunderts und reicht somit nicht ins 19. Jahrhundert zurück. Man könnte die Moderne, wie Friesen vorschlägt, mit Kant und dem Deutschen Idealismus beginnen lassen, womit der Konflikt mit der Postmoderne zumindest schon vorgezeichnet wäre. Aber die Beschränkung der Gegenwarts­ philosophie auf den Konflikt zwischen Moderne und Postmoderne, hier mit dem besonderen Fokus auf Habermas und Lyotard, blendet wesentliche Entwicklungen und Strömungen des 20. Jahrhunderts aus. Man könnte die analytische Philosophie dem modernen Den­ ken und den Poststrukturalismus und den Postkolonialismus der Postmoderne zuordnen. Aber wie bringt man in dieser Dichotomie die Phänomenologie, den Pragmatismus, den Existenzialismus und den Marxismus unter? Der Antagonismus Moderne – Postmoderne scheint einem längst überwundenen Lagerdenken entsprungen zu sein. Zweifellos spielen sich viele aktuelle Debatten im Spannungsfeld zwischen moderner und postmoderner Philosophie ab. Man denke dabei etwa an die »science wars« in der Wissenschaftstheorie, die Genderdebatte und die Identitätspolitik. Dennoch gibt es keine klare Demarkationslinie, die die Lager voneinander trennt. Sind beispiels­ weise Hannah Arendt, Martha Nussbaum, Dieter Henrich oder John Rawls der modernen oder postmodernen Linie zuzuordnen? Das 20. und 21. Jahrhundert zeichnen sich eher durch die Auflösung der großen philosophischen Schulen und die Aufsplitterung in viele kleine Strömungen und Theorien aus. Diese neue Unübersichtlichkeit macht es schwer, die Gegenwartsphilosophie unter einem einheitlichen Gegensatz zu subsumieren. Die aufgezeigten Gegensätze Realismus – Idealismus, Empiris­ mus – Rationalismus, Moderne – Postmoderne bilden eigentlich nur die Speerspitze philosophischer Debatten, die eine Epoche prägten. Im Schatten dieser Auseinandersetzungen finden eine ganze Reihe anderer Kontroversen statt, die nicht im Scheinwerferlicht akademi­ scher Aufmerksamkeit stehen, die aber dennoch die Philosophie voranbringen. Es wäre zu kurz gegriffen, allein den Streit und die Aus­ einandersetzung in den Vordergrund zu stellen, die Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien zu ignorieren und damit jeden Fortschritt auszuschließen. Denn die Auseinandersetzungen brechen ja nicht jedes Mal neu auf. Vielmehr geht in die neue Debatte jeweils die Erfahrung früherer Debatten ein und es findet ein Lernprozess statt. Die Philosophen kennen die Werke ihrer Vorgänger und können sie aus der zeitlichen Distanz und mit ihren Kenntnissen besser

152 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

beurteilen. Es ist ja nicht so, dass die Ergebnisse und Errungenschaften früherer Epochen vergessen werden, vielmehr werden sie aufgegrif­ fen und produktiv weiterentwickelt. Begriffe werden präzisiert und Argumente werden geschärft. Die Empiristen der Neuzeit kannten die Werke von Aristoteles und der griechischen Atomisten. Während Epikur mit seiner Eidola-Lehre noch eine primitive Abbildtheorie der Erkenntnis vertrat, konnten Thomas Hobbes, John Locke und David Hume mit erheblich verbesserten Erkenntnismodellen aufwarten und auf Einwände zeitgenössischer Kritiker eingehen. Hinzu kommen neue Erkenntnisse der Naturwissenschaften, die in der Antike noch nicht bekannt waren, sodass man von einem relativen Fortschritt in der Erkenntnistheorie sprechen kann. Friesen beharrt dagegen auf der Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften. Aber eine solche Abschottung und Empirieblindheit hat es in der Philosophie nie gegeben und wäre ihr auch nicht zuträglich. Denn die Philosophie muss stets auf der Höhe ihrer Zeit sein. Es gab in jeder Epoche einen fruchtbaren Austausch zwischen der Philosophie und den Fachwissenschaften, von dem beide Seiten profitieren konnten. Man denke an die Fort­ schritte in der Physik, der Biologie und der Hirnforschung, die auf die Philosophie ausstrahlten und die Philosophie von Raum und Zeit, die Philosophie der Biologie und die Philosophie des Geistes beförderten. Berücksichtigt man den Einfluss der Naturwissenschaften auf die Philosophie und betrachtet man den philosophischen Diskurs nicht bloß als einen unproduktiven Disput zwischen gegensätzlichen Posi­ tionen, sondern traut der Philosophie auch eine Lern- und Reflexions­ fähigkeit zu, dann ergibt sich kein ganz so pessimistisches Bild der Ideengeschichte. Vielmehr drängt sich das Bild einer spiralförmigen Höherentwicklung auf, das sich stärker am Hegel’schen Modell als am agonalen Modell orientiert und zumindest einen relativen Fortschritt innerhalb einer Traditionslinie zulässt.

2. Dagmar Berger: Die Verwirklichung des Unbewussten Dagmar Berger entwirft ein völlig anderes Bild der Philosophiege­ schichte. Ihre zentrale These lautet, »dass große und bedeutsame Philosophie immer dort entsteht und entstanden ist, wenn Menschen gezwungen sind, sich ihrer eigenen Abgründe zu stellen oder sie zu überschreiten«. Philosophie ist demnach eine Form der Krisenbe­

153 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

wältigung und eine Reaktion auf die drängenden gesellschaftlichen Probleme ihrer Zeit. Zweifellos kann der biografische und soziale Kontext philosophischen Denkens nicht ausgeblendet werden. Philo­ sophische Texte tragen stets Spuren ihrer Entstehung sowie ihres kulturellen und historischen Umfelds in sich. Boethius schrieb seine »Consolatio Philosophiae« im Kerker, wo er auf seine Hinrichtung wartete. Sein Werk ist ebenso wie Augustinus’ »De Civitate Dei« Ausdruck und Reaktion auf die politischen Wirren seiner Zeit und gibt Trost und Halt in einer Welt, die zugrunde zu gehen droht. Der enge Zusammenhang von Leben und Werk lässt sich auch in Nietzsches Philosophie nachvollziehen: Seine Philosophie der Stärke sowie seine Verachtung der Schwäche und des Mitleids können als Ausdruck seiner eigenen gesundheitlichen Probleme und psychischer Krisen gedeutet werden. Oder man denke an die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno, die als Reaktion auf den Totalitarismus geschrieben wurde. Insofern spricht einiges für die These von der Philosophie als Spiegel persönlicher Schicksale und der Krisen ihrer Zeit. Philosophie entwickelt sich stets in einem historischen und sozialen Kontext. In den letzten Jahren haben sich neue philosophi­ sche Strömungen etabliert, die sich kritisch mit gesellschaftlichen Gegenwartsproblemen auseinandersetzen: z. B. die Klimaethik, die Tierschutzbewegung, Gender Studies, Postkolonialismus und die Critical Race Theory. Sie benennen politische Missstände und tra­ gen zu ihrer Bewältigung bei. Neben dem lebensweltlichen Bezug kommt in Bergers genealogischem Modell auch ein psychologischer Erklärungsansatz zum Ausdruck. Berger erklärt nämlich die Genese philosophischen Denkens tiefenpsychologisch, indem die Gedanken gleichsam aus der Tiefe der Seele und des Unbewussten aufsteigen und unterdrückte Triebe und Affekte in philosophischen Theorien sublimieren. Berger spricht von einem permanenten »Kampf der triebhaften Kräfte gegen die geistigen, geistlichen und seelischen Mächte des Menschen«. Nietzsche verwendete ein ähnliches Modell, um zu erklären, wie Kultur entsteht: Bei ihm sind es die antago­ nistischen Kräfte des Apollinischen und des Dionysischen, die um Vorherrschaft kämpfen. Während das Apollinische das Geistige und Traumhafte symbolisiert, verkörpert das Dionysische das Triebhafte im Menschen. Durch die Zähmung des Triebhaften kann die Triebe­ nergie in geistige Tätigkeit umgewandelt werden. Die Vernunft ist

154 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

nach Nietzsche daher keine eigenständige Macht, sondern ist ein Sklave der Affekte. Diese psychologische Deutung philosophischen Schaffens kann nur die affektive Seite des Denkens erklären, ignoriert jedoch ihre rationale Seite. Philosophie entsteht nämlich nicht nur aus einer affektiven Befindlichkeit und kann nicht auf Traumabewältigung reduziert werden; sie ist auch und vor allem ein Werk der Vernunft. Man mag beispielsweise Kants Philosophie psychologisch deuten, wird damit aber nicht die »Kritik der reinen Vernunft« verstehen können. Kants Idee einer kopernikanischen Wende in der Erkenntnis­ theorie mag zwar wie ein Genieblitz aufgetaucht sein, die eigentliche Arbeit bestand für Kant jedoch darin, diese Idee zu begründen. Dies kann nur der Verstand leisten. Bergers psychologisches Modell mag zwar den Entdeckungszusammenhang philosophischer Ideen erklären, trägt jedoch nichts zum Verständnis ihres Begründungszu­ sammenhangs bei. Berger gibt zu, dass philosophische Ideen auf zwei Weisen geschaffen werden können: durch den Verstand und aus dem Unbe­ wussten. Gleichwohl präferiert sie den zweiten Erklärungsansatz und weist dem Verstand eine untergeordnete Rolle zu. Damit kann sie jedoch keine Antwort auf die Frage geben, warum »die Philoso­ phiegeschichte, die aus dem Unbewussten geschaffen ist, einen weit größeren Radius umfasst als die Tradition, die aus dem Bewussten schafft«. Berger verweist in diesem Zusammenhang auf Sokrates, Platon, Sören Kierkegaard, C. G. Jung und Hannah Arendt, die ihre Philosophie angeblich aus dem Unbewussten schufen.1 Erstens erscheint diese Auswahl großer Namen relativ willkürlich und zwei­ tens folgt daraus nicht, dass die Tradition, die aus dem Unbewussten schöpft, größer oder umfassender ist als die Philosophie, die aus dem Verstand erwächst. Warum sollten z. B. Aristoteles, Leibniz, Hume, Kant oder Hegel keine »bedeutsame Philosophie« hervorgebracht haben, nur weil sie dem rationalen Denken verpflichtet waren und ihre Philosophie nicht aus der Tiefe des Unbewussten entsprang? Nicht jede Philosophie entsteht »am Rand des Todes, des Krieges, der Folter und anderer grausamen Ereignisse«. Die meisten Philosophen Die Zuordnung Platons zur Philosophie des Unbewussten ist nicht nachvollziehbar. In seinem Gleichnis vom Seelenwagen (Phaidros 246 f.) ist es die Vernunft, die die beiden triebhaften Seelenteile unter Kontrolle halten muss, um den Wagen zu lenken. Platons Philosophie ist daher eher der rationalistischen Tradition zuzuordnen als der irrationalen. 1

155 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

konnten ihre Werke in relativer Sicherheit in ihrer Studierstube ver­ fassen und mussten nicht um ihr Leben fürchten. Es wäre daher eine unzulässige Verkürzung, nur die oben erwähnten Philosophen als »große Philosophen« zu bezeichnen und andere bedeutende Denker gering zu schätzen.

3. Thomas Gil: Der Bezug der Philosophie zu den anderen Wissenschaften Eine andere Sichtweise auf die Philosophiegeschichte schlägt Thomas Gil vor. Er richtet den Fokus seiner Betrachtung auf die philosophi­ schen Inhalte und den Begründungszusammenhang und nicht auf die Genese des Denkens und den historisch-kulturellen oder psycho­ logischen Kontext. Gil plädiert für einen Vorrang der systematischen Philosophie vor der Philosophiegeschichte. Klassische Texte seien wegen ihres Inhalts und ihrer Argumente wichtig und nicht, weil sie von bedeutenden Philosophen verfasst wurden. Die Meisterdenker und die wenigen Meisterdenkerinnen werden wie Popstars bewun­ dert, es wird ein Personenkult betrieben und dabei geraten ihre Ideen, Themen und Fragestellungen leicht aus dem Blick. Man kann dies als ein Plädoyer für eine problemorientierte Philosophie verstehen: »Das Gedachte ist das Primäre und nicht, wer es gedacht hat, wann, wo, wie oder womit.« Konsequent umgesetzt würde dies bedeuten, in philosophischen Lehrbüchern nicht die Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihre Ideen und Theorien. Eine Geschichte der abendländischen Philosophie würde dann nicht mit Thales, Anaxi­ mander und Anaximenes beginnen, sondern mit der Frage nach dem Ursprung der Welt und den Antworten, die die Vorsokratiker gegeben haben. Philosophiegeschichte wäre dann eine echte »Denkgeschichte« – eine Geschichte des Geistes, ganz im Sinne Hegels. Gil grenzt sich damit klar von Bergers psychologischem Modell ab und verortet die Philosophie in ihrem Verhältnis zu den anderen Wissenschaften. Ziel und Aufgabe der Philosophie sei es, die Welt und uns selbst zu begreifen und nicht in einer psychoanalytischen Seelenschau zu versinken. Die Philosophie hat nach Gil drei Gegen­ standsbereiche: Welt, Denken und Handeln. Diese Themen bleiben in jeder Epoche gleich, auch wenn sie immer wieder neu problematisiert werden und mit neuen Fragestellungen und Antworten angereichert werden. Es gibt somit eine gewisse Kontinuität in der Philosophie­

156 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

geschichte, da zentrale Inhalte gleich bleiben und sich lediglich die Sichtweisen ändern. Thomas Gil kritisiert die Forderung Friesens, dass sich die Phi­ losophie von den Einzelwissenschaften abkoppeln solle. Gute Philo­ sophie kann sich Gil zufolge nur in Kooperation mit den Fachwissen­ schaften entwickeln. Denn alle haben dasselbe Ziel: sie »wollen Weltstruktur begreifen, Wissen über die Welt erzielen« und sie wollen erklären, wie wir denken und warum wir handeln. Die Philosophie und die empirischen Wissenschaften stehen daher nicht in Konkur­ renz zueinander, sondern in einem Kooperationsverhältnis. Gil nennt als Beispiel die Analyse und Erklärung menschlichen Handelns: dies könne nur in Zusammenarbeit mit den Sozial- und Humanwissen­ schaften gelingen. Zwar wird immer wieder behauptet, dass es die Aufgabe der empirischen Wissenschaften sei, Handlungen zu erklä­ ren, während die Philosophie das Ziel verfolge, Handlungen zu ver­ stehen. Aber die Erklären-Verstehen-Dichotomie kann, wie Apel (1979, S. 274 f.) vorschlägt, auch als Komplementaritätsverhältnis gedeutet werden. Daher ist Gil auch nicht so pessimistisch wie Friesen, was die Möglichkeit von Fortschritt angeht. Denn von den Fortschritten in den Einzelwissenschaften profitiere auch die Philosophie und diese könn­ ten ihr neue Impulse geben. Zum Beispiel können die Psychologie, Hirnforschung, Soziologie und rationale Entscheidungstheorie dazu beitragen, menschliches Handeln besser zu verstehen.

4. Johannes Rohbeck: Die genealogische Methode Ebenso wie Thomas Gil verwirft auch Johannes Rohbeck Friesens Autonomiethese, nach der sich die Philosophie unabhängig von den Einzelwissenschaften entwickelt, und plädiert für eine problemorien­ tierte, systematische Herangehensweise in der Philosophie. Rohbeck verweist auf Kant, der die in seiner Zeit aktuellen naturwissenschaft­ lichen Kenntnisse in seine Philosophie einbezog und auf Habermas, der großen Wert auf einen Dialog der Philosophie mit den Sozialwis­ senschaften legte. Allerdings legt Rohbeck im Unterschied zu Gil den Schwerpunkt auf die genealogische Methode, die er für ebenso wichtig wie die systematische Methode hält. Ein Philosoph muss die histo­ rische Genese eines Problems kennen, um eine Lösung entwickeln zu können. Schließlich bestünde die Geschichte der Philosophie nicht

157 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

in einer kumulativen Anhäufung von Wissen, sondern in der kriti­ schen Rezeption früherer Entwürfe. Rohbeck fordert daher von jedem Philosophen ein historisches Bewusstsein der ideengeschichtlichen Entwicklung und die Kenntnis der Wirkungsgeschichte. Philosophie werde nicht von einzelnen großen Männern gemacht, sondern sei ein »kollektives Projekt«. Man kann also nicht ein einzelnes Werk eines Philosophen herausgreifen und es rein textimmanent verstehen, ohne den historischen Kontext zu kennen. Immanuel Kant schuf seine »Kritik der reinen Vernunft« schließlich nicht aus dem Nichts, sondern setzte sich kritisch mit den Theorien seiner Zeitgenossen und Vorgänger auseinander. Ich kann den Ausführungen Rohbecks fast vorbehaltlos zustim­ men, allerdings ist mir nicht klar, wie die genealogische Methode mit einer problemorientierten Herangehensweise vereinbar sein soll. So behauptet er, »dass Argumente nicht überzeitlich gültig sind, sondern nur in bestimmten philosophiegeschichtlichen Kontexten Geltung beanspruchen«. Leider wird diese These nicht weiter begründet und es ist auch nicht ersichtlich, wie sie begründet werden kann. Rohbeck verweist auf einen Funktionswandel von Argumenten und erläutert dies an einem Beispiel. Es wird gesagt, dass die Unterscheidung von technischem und politischem Handeln bei Aristoteles und Hannah Arendt eine jeweils andere Funktion habe. Was sich ändert, seien nicht die beiden Handlungskategorien, sondern der historische Kontext. Die Argumente von Aristoteles und Arendt könnten auf ihre jeweilige Zeit bezogen durchaus beide richtig sein, weil sie einen anderen Kontext im Blick hatten. Arendt habe ja nicht behauptet, dass die aristotelische Unterscheidung falsch sei und wirft Aristoteles keinen Argumentationsfehler vor. Das von Rohbeck angeführte Beispiel kann allenfalls zeigen, dass sich der pragmatische Kontext des Argu­ ments geändert hat, nicht aber das Argument selbst. Arendt (1994) stellt ja die aristotelische Unterscheidung nicht infrage, sie weist lediglich darauf hin, dass sich das Verhältnis von poiesis und praxis durch die modernen Lebensverhältnisse veränderte. Es gibt ein sehr schönes Buch von Michael Bruce und Steven Barbone über »Die 100 wichtigsten philosophischen Argumente« (2013), in dem 100 Argumente berühmter Philosophen analysiert werden wie z. B. der ontologische Gottesbeweis, Descartes’ Argument von der Verschiedenheit von Körper und Geist oder Wittgensteins Pri­ vatsprachenargument. Das Buch ist für Studierende der Philosophie empfehlenswert, weil es zu einer kritischen Textanalyse anleitet und

158 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

das logische Denkvermögen schult. Bei jedem Argument wird eine zentrale Textpassage zitiert, und der philosophiehistorische Kontext kurz erläutert, dann wird in einem zweiten Schritt das Argument logisch rekonstruiert, indem die Prämissen, Zwischenschritte und Konklusionen angegeben werden. Man kann durchaus darüber strei­ ten, ob die Argumente korrekt wiedergegeben wurden und man kann geteilter Meinung darüber sein, ob sie logisch korrekt und überzeu­ gend sind. Das Problem solcher logischen Analysen besteht darin, dass die Argumente aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und lediglich in systematischer Hinsicht betrachtet werden. Aber ob ein Argument korrekt ist oder nicht, hängt nicht davon ab, von wem und in welcher Zeit es formuliert wurde. Wenn es ein gültiges Argument ist, dann ist es überzeitlich gültig. Die Frage nach der Gültigkeit kann nur systematisch, mit den Mitteln der Logik und des rationalen Argumentierens entschieden werden. Es mag sein, dass sich die Rationalitätsstandards mit der Zeit ändern. Zum Beispiel mag der ontologische Gottesbeweis von Anselm von Canterbury seine Zeitgenossen durchaus überzeugt haben, heute jedoch, da uns die Mittel der formalen Logik zur Verfügung stehen, wird er viel kritischer gesehen (vgl. Bromand, Kreis 2011). Jedoch darf die Frage nach der Richtigkeit eines Arguments nicht mit der Frage nach seiner psychologischen Überzeugungskraft verwechselt werden. Denn sonst würde man einem Psychologismus zum Opfer zu fallen. Die historisch-genealogische Methode und die logisch-systema­ tische Analyse mögen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und Texte unterschiedlich interpretieren. Würde man aber die überzeitli­ che Gültigkeit von Argumenten infrage stellen, wie dies Rohbeck tut, würde man einem genealogischen Fehlschluss, nämlich einer Verwechslung von Begründungs- und Entdeckungszusammenhang, zum Opfer fallen. Man könnte auch keine epochenübergreifenden Vergleiche anstellen und z. B. fragen, ob die heutige Kritik an Descar­ tes’ Substanzendualismus berechtigt ist oder nicht. Beide Methoden, die historisch-genealogische und die logisch-systematische, haben ihre Berechtigung. Beide sind aufeinander angewiesen. Blendet man die systematische Dimension aus, könnte es in der Philosophiege­ schichte keinen Fortschritt geben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet würde ein philosophisches System auf ein anderes folgen, aber es wäre kein systematischer Vergleich möglich. Dies liefe auf einen historischen Relativismus hinaus. Ein Fortschritt lässt sich nur in sys­ tematischer Hinsicht feststellen. Er äußert sich u. a. durch begriffliche

159 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Präzisierungen, eine Verfeinerung von Argumenten oder durch eine verbesserte Erklärungskraft. Durch die Fortschritte auf dem Gebiet der Logik lassen sich die klassischen Argumente etwa von Aristoteles, Descartes und Kant heute viel genauer analysieren und auf ihre Gültigkeit hin befragen. Zum Beispiel stellen die aristotelische Physik und Kosmologie einen Fortschritt gegenüber der vorsokratischen Naturphilosophie dar, weil Aristoteles die Naturprozesse und die Bewegung der Planeten besser erklären konnte als seine Vorgänger.

5. Rudolf Lüthe: Die falsifikationistische Methode Ebenso wie Rohbeck unterscheidet auch Rudolf Lüthe zwei Arten der Philosophiegeschichtsschreibung, die der Rohbeck’schen Unter­ scheidung von einer historisch-genealogischen Methode und einer problemorientierten systematischen Methode entspricht. Das erste Modell zielt auf eine »produktive Assimilation geschichtlicher Posi­ tionen«, während das zweite Modell eine »objektive Rekonstruktion« philosophischer Positionen beabsichtigt. Lüthe glaubt, dass sich beide Modelle gegenseitig ergänzen: »Produktive Assimilation ohne objek­ tive Rekonstruktion ist leer. [...] Objektive Rekonstruktion ohne produktive Assimilation aber ist blind.« Eine kritische Rekonstruk­ tion und Bewertung historischer Positionen lasse sich nur relativ zu und auf der Grundlage von einer systematischen Position durchfüh­ ren. Damit wird eine unhintergehbare Perspektivität philosophischen Denkens eingestanden. Denn wir können die Vergangenheit nur aus der Sicht der Gegenwart beurteilen. Jedes Urteil über einen philoso­ phiegeschichtlichen Fortschritt ist perspektivisch gebunden und rela­ tiv zu einem vorausgesetzten Beurteilungsstandpunkt. Es kann daher keinen absoluten, sondern nur einen relativen Fortschritt geben. Lüthe nimmt einen falsifikationistischen Standpunkt ein und definiert analog zu Popper philosophischen Fortschritt als ein Lernen aus Irrtümern. Eine ideale Historiografie besteht nach Lüthe in einer »Dokumentation von Irrtümern«, die sich im Laufe der Geschichte angesammelt haben. Jede Falsifikation stellt nach Popper einen Fort­ schritt dar, durch die unhaltbare Positionen eliminiert werden. Dass es in den Naturwissenschaften einen solchen Fortschritt gibt, dürfte plausibel sein. Die entscheidende Frage lautet daher, ob es auch in der Philosophiegeschichte solche Falsifikationen gibt. Zur Stützung sei­ ner These verweist Lüthe auf Bertrand Russells »Philosophie des

160 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Abendlandes« (2004) und seine Darstellung der Philosophie David Humes, die aus Russells und Lüthes Sicht einen bedeutsamen Fort­ schritt darstellt. So behauptet Lüthe: »die traditionelle Metaphysik ist an der skeptischen Position Humes gescheitert«. Aber lässt sich hier tatsächlich von einer Falsifikation sprechen und sind metaphysische Hypothesen überhaupt falsifizierbar? Die Metaphysik stellt keine Hypothesen auf, die empirisch überprüft werden können und ist nach Popper daher nicht falsifizierbar, da als potenzielle Falsifikatoren nur empirische Basissätze infrage kommen (Popper 1976, S. 69). Man kann Humes Analyse kausaler Beziehungen und des Induk­ tionsprinzips durchaus als einen philosophischen Fortschritt betrach­ ten. Aber stellt dies auch eine Falsifikation dar? Was wird damit fal­ sifiziert und wie wird falsifiziert? Leider können weder Russell noch Lüthe diese Fragen beantworten. Humes Lösung des Induktionspro­ blems besteht ja bekanntlich im Nachweis, dass das Induktionsprinzip nicht rational begründet werden kann, vielmehr eine Art psychologi­ sche Erwartungshaltung darstellt. Jeder Versuch, das Induktionsprin­ zip zu begründen, gerät in einen methodischen Zirkel, weil es selbst wiederum nur induktiv begründet werden kann (Hume 1982, S. 56). Eine Falsifikation erfolgt nach Popper durch einen Modus-tollensSchluss, indem man von einem empirischen Basissatz auf die Falsch­ heit einer Hypothese schließt. Aber welche Hypothese wollte Hume falsifizieren und mit welchem Basissatz soll die Widerlegung erfol­ gen? Man könnte vermuten, dass Hume die Annahme eines Kausal­ nexus widerlegen wollte, d. h. die Annahme, dass Ursache und Wir­ kung durch einen notwendigen Zusammenhang, eine Art Kraft oder Band, verbunden seien. Eine solche Verbindung lässt sich nicht beob­ achten. Hume schreibt: »Den Stoß einer Billardkugel begleitet eine Bewegung der zweiten. Das ist alles, was den äußeren Sinnen erscheint. Der Geist erlebt keine Empfindung, keinen inneren Eindruck von dieser Folge der Gegen­ stände: Demzufolge gibt es in keinem einzelnen, bestimmten Falle von Ursache und Wirkung etwas, das auf die Vorstellung einer Kraft oder des notwendigen Zusammenhanges hinwiese.« (Hume 1982, S. 85 f.)

Dies stellt keine Falsifikation im Popper’schen Sinne dar. Denn erstens ist nicht klar, welche These Hume damit widerlegen will, ob die unter­ stellte These überhaupt jemals ernsthaft vertreten wurde oder nicht eher einen Strohmann darstellt, der von Hume abgefackelt wird. Zweitens muss eine metaphysische Kausaltheorie gar nicht behaup­ ten, dass es eine beobachtbare Verbindung zwischen Ursache und

161 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Wirkung gibt. Metaphysische Theorien machen ja bekanntlich keine empirischen Aussagen. Und drittens muss ein empirisch überprüfba­ rer Basissatz nach Popper die Form eines singulären Es-gibt-Satzes haben, also eines Satzes, der behauptet, »daß sich in einem individu­ ellen Raum-Zeit-Gebiet ein beobachtbarer Vorgang abspielt« (Popper 1976, S. 69). Hume stellt dagegen ein negatives Urteil auf: Es lässt sich keine Kraft oder eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung feststellen. Kräfte lassen sich anhand ihrer Wirkungen beobachten, »keine Kräfte« lassen sich dagegen nicht beobachten. Russell beurteilt in seiner »Philosophie des Abendlandes« (2004) philosophische Theorien danach, wie gut sie begründet sind, er analysiert Argumente und deckt Begründungsdefizite auf. Aus Sicht der analytischen Philosophie kann er bei Hume durchaus einen Fortschritt gegenüber älteren Auffassungen feststellen. Es ist ein Fortschritt relativ zu seinem eigenen philosophischen Standpunkt. Dennoch spricht er nicht von einer Widerlegung im logischen Sinne. Das zweite Beispiel, das Lüthe herausgreift, ist die angebliche Widerlegung von Kants Ethik durch Gegenbeispiele. Man kann Kants Ethik als rigoristisch, kontraintuitiv und praktisch nicht anwendbar bezeichnen, man kann eine konsequenzialistische Ethik mit guten Gründen als der Kant’schen Ethik überlegen betrachten, aber man kann seine Ethik nicht durch Gegenbeispiele widerlegen. Denn für die Ethik gilt dasselbe wie für metaphysische Theorien: Sie lassen sich nicht falsifizieren, weil sie keine empirischen Theorien darstellen. Ein anderes Beispiel für eine mutmaßliche Falsifikation einer philosophischen Theorie, das von Lüthe nicht erwähnt wird, stellt G. E. Moores »Widerlegung des Idealismus« aus dem Jahr 1903 dar. Moore hat sich zum Ziel gesetzt, Berkeleys idealistische These zu widerlegen, nach der das Sein im Wahrgenommenwerden besteht (esse est percipi). Hierzu hebt er seine rechte Hand und sagt: »Dies ist eine menschliche Hand« und behauptet, dass man nicht bezweifeln könne, dass sie real sei (Moore 1969, S. 178). Jedoch muss man schon ziemlich naiv sein, um zu glauben, dass man mit einer Handbewegung eine metaphysische Theorie einfach beiseite wischen könne. Denn ein Skeptiker kann die Wahrheit von Moores Aussage durchaus bezwei­ feln: Wir könnten z. B. wie in dem Film »Matrix« in einer Computer­ simulation leben, wir könnten »Gehirne im Tank« sein, dann würden die Dinge tatsächlich nur in ihrem Wahrgenommenwerden existieren. Philosophische Theorien lassen sich nicht falsifizieren, weil ein Skep­

162 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

tiker jede Behauptung, inkl. der Behauptung ihrer Falsifikation, in Zweifel ziehen kann.2 Lüthes Beispiele aus Russells »Philosophie des Abendlandes« stellen keine überzeugenden Fälle von Falsifikationen dar. Wohl aber kann eine Argumentationsanalyse recht nützlich sein, weil sie eine kritische Auseinandersetzung fördert. Man kann von einem Fort­ schritt im schwachen Sinne sprechen, wenn historische Positionen aus heutiger Sicht kontraintuitiv und wenig überzeugend erscheinen und wir bessere Theorien zur Verfügung haben. So stellt beispielsweise die Überwindung des scholastischen Dogmatismus oder die gesetzli­ che Verankerung von Menschenrechten in der Aufklärung historisch betrachtet einen großen Fortschritt dar. Es ist ein anderer Fortschritt als wir ihn aus den Naturwissenschaften kennen – ein Fortschritt, der nicht auf Falsifikationen, sondern auf einem kritischen Denkvermö­ gen beruht. Hans Albert (1991, S. 42) charakterisiert die Methode der kritischen Prüfung als »kritische Diskussion aller in Frage kommen­ den Aussagen mit Hilfe rationaler Argumente«. Eine solche Methode stellt zwar keinen Falsifikationismus im Popper’schen Sinne dar, kommt ihm aber recht nahe.

6. Das Hegel’sche Fortschrittsmodell Hegel beschreibt in seinen Vorlesungen die Geschichte der Philoso­ phie als eine Entwicklungsgeschichte des Geistes, deren einzelne Pha­ sen notwendig aufeinander folgen. Die Ideen gehen organisch aus­ einander hervor wie Pflanzen aus einem Keim wachsen, blühen und Früchte hervorbringen (Hegel 1986, Bd. 18, S. 41). Hegel sieht die Geschichte der Philosophie als eine vernünftige Entwicklung, in deren Verlauf sie zu einem Bewusstsein ihrer selbst gelangt. Philosophie­ geschichte ist demnach kein Zufallsprozess, keine Sammlung ver­ streuter Meinungen, sondern es geht vernünftig zu in der Geschichte, es gibt einen notwendigen Zusammenhang der historischen Gestal­ Ich möchte an dieser Stelle ein weiteres Beispiel erwähnen: Als Friedrich Wöhler 1928 erstmals eine organische Verbindung (Harnstoff) aus anorganischen Ausgangs­ stoffen synthetisierte, glaubte man, damit sei der Vitalismus, d. h. die Annahme von Lebenskräften, widerlegt. Aber Egon Friedell warnt in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit« (2007, S. 998) davor, darin eine Widerlegung des Vitalismus zu sehen. Denn auch hier gilt: Der Vitalismus ist eine metaphysische Theorie und metaphysische Theorien lasen sich empirisch nicht widerlegen. 2

163 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

ten. Jede spätere Philosophie setzt die frühere voraus und baut auf ihr auf. Das Ziel der Philosophie ist nach Hegel (1986, Bd. 18, S. 24) die Wahrheit. Hegel vertritt die These, dass philosophische Systeme historisch in der gleichen Reihenfolge wie logische Ideen auseinander hervor­ gehen. Die Ideengeschichte folgt somit einer inneren Logik: »Nach dieser Idee behaupte ich nun, daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee. Ich behaupte, daß, wenn man die Grundbegriffe der in der Geschichte der Philosophie erschienenen Systeme rein dessen entkleidet, was ihre äußerliche Gestaltung, ihre Anwendung auf das Besondere und der­ gleichen betrifft, so erhält man die verschiedenen Stufen der Bestim­ mung der Idee selbst in ihrem logischen Begriffe.« (Bd. 18, S. 49) Diese These gab Anlass für kontroverse Deutungen und kritische Auseinandersetzungen. Michelet (1843, S. 245) glaubte, dass die Geschichte der Philosophie Hegels eigenes System widerspiegelt »und seine Philosophie also der Gipfel und Schlußstein des Ganzen ist«. Nietzsche schloss daraus, »dass für Hegel der Höhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen« (Nietzsche 1999, Bd. 1, S. 308). Und Egon Friedell vermeinte aus Hegels These herauslesen zu können, dass der absolute Geist in der Person Hegels »leibhaftig erschienen und Fleisch gewor­ den« sei (Friedell 2007, S. 1022). Man muss sich also die Frage stellen: Sieht Hegel sein eigenes System als den Schlusspunkt und die Krönung der Philosophiege­ schichte? Markiert er vielleicht sogar das Ende der Philosophie, sodass es nach ihm keine weiteren Fortschritte geben kann? Hegel schreibt am Ende seines Gangs durch die Philosophiegeschichte, nachdem er die Philosophie Jacobis, Kants, Fichtes und Schellings behandelte und in der Gegenwart angekommen war: »Dies ist nun der Standpunkt der jetzigen Zeit, und die Reihe der geistigen Gestaltungen ist für jetzt damit geschlossen. – Hiermit ist diese Geschichte der Philosophie beschlossen.« (Bd. 20, S. 461) Die gegenwärtige Stufe des Wissens bezeichnet Hegel als absoluten Geist (ebd., S. 462). In der »Enzyklo­ pädie der philosophischen Wissenschaften« endet im absoluten Geist das System der Philosophie. Nimmt man Hegels These von der Struk­ turgleichheit von Philosophie und Geschichte ernst, dann könnte man tatsächlich meinen, dass mit der Hegel’schen Philosophie die Bewe­ gung des Geistes und damit auch die Philosophiegeschichte endet und

164 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

es darüber hinaus keine Weiterentwicklung geben könne. Jeffrey Reid (2015, S. 141) schreibt: »the history of philosophy does indeed end in Hegelian philosophy, which he calls science«. Das absolute Wissen ist die »letzte Gestalt des Geistes« (Hegel 1986, Bd. 3, S. 582) und somit der Höhepunkt und Endpunkt der Philosophiegeschichte. Es gab nach Hegel immer wieder Spekulationen, dass der Welt­ geist jetzt endlich zur Ruhe gekommen sei und ein Ende der Geschichte und der Philosophie erreicht sei. Francis Fukuyama erregte 1989 mit seiner These großes Aufsehen, dass mit dem Ende des Sowjetkommunismus und dem Sieg der Demokratie ein »Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit« und damit ein »Ende der Geschichte« erreicht sei (Fukuyama 1992, S. 11). Leider dreht sich das Rad der Geschichte immer weiter und die ideologischen Graben­ kämpfe sind noch nicht zu Ende. Friedrich Engels (1962, S. 268 f.) vermutet hinter der These von der Identität von System und Geschichte einen cleveren Schachzug Hegels, um seine eigene kon­ servative Philosophie zur absoluten Wahrheit zu erklären und damit gleichzeitig revolutionäre politische Bestrebungen zu unterdrücken, weil es ja nach dem Ende der Geschichte keiner Revolutionen mehr bedürfe. Die Vorstellung vom Ende der Geschichte geht davon aus, dass der absolute Geist an diesem Endpunkt die Wahrheit erkennt und die Bewegung des Begriffs damit aufhört. Gegen diese Vorstellung gibt Hegel jedoch zu bedenken, dass das Wahre kein statischer Zustand ist, sondern Entwicklung: das Wahre hat den Drang, sich zu entwi­ ckeln (Hegel 1986, Bd. 18, S. 46). Der Geist kommt erst dann zu sich selbst, wenn er den Prozess der Entwicklung vollständig erfasst. Das Ende der Philosophie wird so zu einem fiktiven zukünftigen Moment, in dem der Geist auf die Geschichte zurückblickt und sich darin selbst erkennt. Unabhängig davon, ob es nach Hegel ein Ende der Geschichte gibt oder nicht, bleibt die Frage bestehen, ob es in der Philosophiege­ schichte tatsächlich vernünftig zugeht und es einen Fortschritt im Denken gibt. Die Philosophiegeschichte stellt nach Hegel eine Geschichte des Fortschritts dar. Johannes Rohbeck wendet dagegen ein, dass in Hegels Vorlesungen über die Philosophiegeschichte nir­ gends von einem Fortschritt die Rede sei, sondern allenfalls von »Ent­ wicklung«, »Fortgang« oder »Fortschreiten«. Eine Volltextsuche in der digitalen Ausgabe von Hegels »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« ergibt für das Stichwort »Fortschritt« jedoch 13 Treffer.

165 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

So spricht er bei der Naturphilosophie des Anaxagoras von einem »großen Fortschritt« (Bd. 18, S. 194), die eleatische Schule vollbrachte gar einen »ungeheuren Fortschritt« (Bd. 18, S. 279) und Kants Tran­ szendentalphilosophie preist Hegel ebenfalls als »großen Fortschritt« (Bd. 20, S. 367). Setzt man Hegels Vorlesungen zur Philosophiege­ schichte in Beziehung zu seiner Geschichtsphilosophie, so wird klar, warum es einen Fortschritt gibt, ja geben muss. Denn die Geschichte wird vom Weltgeist gelenkt. Er bedient sich einer »List der Vernunft«, indem er die Leidenschaften der Menschen für sich wirken lässt, um einen Fortschrittsprozess in Gang zu setzen und die Vernunft in der Geschichte zu verwirklichen. Es ist die Vernunft, die die Welt regiert, daher geht es in der Weltgeschichte auch vernünftig zu. Alles strebt danach, dass der Geist ein Bewusstsein seiner selbst und seiner eige­ nen Freiheit erlangt: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwen­ digkeit zu erkennen haben.« (Bd. 12, S. 32) Wenn es daher in der Weltgeschichte einen Fortschritt gibt, so wäre es sehr seltsam, wenn sich der vom Geist gelenkte Fortschritt auf seinem eigenen Gebiet, der Philosophie, nicht zeigen würde. Kunst, Religion und Philosophie sind nach Hegel Manifestationen des absoluten Geistes, der sich in der Kultur entfaltet. Die Geschichte der Philosophie stellt einen Refle­ xionsprozess des absoluten Geistes dar. Daher sagt Hegel, »daß das Ganze der Geschichte der Philosophie ein in sich notwendiger, kon­ sequenter Fortgang ist; er ist in sich vernünftig, durch seine Idee bestimmt« (Bd. 18, S. 55). Hegel zeichnet ein sehr optimistisches Bild von der Geschichte und nicht jeder wird mit dieser Darstellung einverstanden sein. Wir können davon ausgehen, dass die Geschichte keinem vorgefassten Plan oder einem logischen System folgt. Es gibt keine Zielgerichtet­ heit der historischen Entwicklung. Dennoch ist die Philosophiege­ schichte kein Werk des Zufalls. Indem wir die Geschichte in Epochen einteilen – bei Hegel sind es die drei Epochen Antike, Mittelalter, Neuzeit – bringen wir Ordnung in die zeitliche Folge philosophischer Systeme. Die Gliederung in philosophische Schulen und Strömun­ gen erfolgt nicht willkürlich, sondern liegt in der Ähnlichkeit und Verwandtschaft der Theorien begründet. Philosophen berufen sich gerne auf Traditionen und tragen ihre Ideen von ihrer an die nächste Generation weiter. Ihre Schüler entwickeln die Theorien weiter und reichern sie mit eigenen Ideen an. In der Philosophie gibt es eine Kontinuität der Entwicklung, da sich Philosophen gerne aufeinander

166 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

beziehen. Dadurch sind Familienähnlichkeiten und Traditionslinien erkennbar, sodass man zu Recht von einer idealistischen oder rea­ listischen, empiristischen oder rationalistischen Tradition sprechen kann. Manchmal werden solche Strömungen zu einem späteren Zeit­ punkt wieder aufgegriffen und erneuert und man spricht dann von Neuplatonismus, Neukantianismus, Neohegelianismus oder Neopo­ sitivismus. Innerhalb einer Traditionslinie lassen sich durchaus Ver­ besserungen und Weiterentwicklungen erkennen. Es sind aber auch Abwärtsbewegungen möglich und manchmal lässt sich beobachten, wie eine philosophische Tradition zerfällt und ihr Strom im Lauf der Geschichte versiegt. Auch die Hegel’sche Schule erlitt im 19. Jahr­ hundert ein solches Schicksal. Im britischen Idealismus erlebte der Hegelianismus Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine kurze Renaissance, worauf dann allerdings ein rasches Absterben dieser Tradition erfolgte. Vittorio Hösle (1984) glaubt, im Verlauf der Philosophiege­ schichte Zyklen zu erkennen, wobei jede Phase eines späteren Zyklus Entsprechungen in früheren Zyklen hat. Hösle kommt so zu einer Einteilung in fünf Epochen bzw. Zyklen: »die griechische Philosophie von den Vorsokratikern bis zu Platon/ Aristoteles, die hellenistisch-römische Philosophie von Aristoteles bis zu den Neuplatonikern, die mittelalterliche Philosophie von den Sys­ temen des 13. Jahrhunderts bis zu Cusanus, die neuzeitliche von Des­ cartes bis zu Hegel und die moderne von den realistischen Philosophien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur tendenziellen Ablö­ sung relativistischer Positionen durch freilich noch bloß endliche Tran­ szendentalphilosophien in der Gegenwart (besonders Apel).« (Hösle 1984, S. 141)

Dieses Ordnungsschema lehnt sich an die dialektische Struktur der Hegel’schen Logik an, der sich Hösle verpflichtet fühlt. So lässt sich jeder Zyklus in drei Phasen gliedern, die dem dialektischen Dreischritt Thesis – Antithesis – Synthesis entsprechen. Manchmal kommen noch zwei Übergangsphasen hinzu, die von der Thesis zur Antithesis und von der Antithesis zur Synthesis überleiten. Aber auch hier wird wie bei Hegel die Philosophie in ein vorgedachtes Schema gepresst. Es wird beschrieben, wie die Philosophiegeschichte idealerweise ver­ laufen sollte und die Realität wird diesem Schema angepasst. Der Fortschritt ist somit das Ergebnis einer perspektivischen Wertung. Aber solche Wertungen können manchmal gut begründet werden. Bei

167 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

den Vorsokratikern ist dieser Fortschritt als Entwicklung vom Mythos zum Logos am augenfälligsten. Franz Brentano (1988, S. 2) weist darauf hin, dass es in der Geschichte der Philosophie, im Unterschied zu den Naturwissen­ schaften, neben Phasen des Fortschritts auch Zeiten des Verfalls gibt. Ähnlich wie Spengler glaubt er im Verlauf der Ideengeschichte eine Gesetzmäßigkeit erkennen zu können, nämlich einen Wechsel von Phasen des Aufstiegs und des Verfalls (Brentano 1988, S. 20). Die aufsteigende Periode der antiken Philosophie reicht nach Brentano von den ionischen Naturphilosophen bis zu Aristoteles und ist durch eine Verwissenschaftlichung der Philosophie gekennzeichnet. Nach Aristoteles beginnt in diesem Modell der Verfall der griechischen Philosophie. Die Verfallsphase macht sich durch ein Nachlassen des theoretischen Interesses und eine Hinwendung zur Praxis bemerkbar. Sie beginnt mit den Stoikern und Skeptikern und endet bei den Neu­ platonikern, womit die griechische Philosophie zu Ende geht. Die erste Phase des Verfalls wird durch die Philosophie der Stoa und des Epikureismus dominiert, die Brentano abschätzig als »Populärphilo­ sophie« bezeichnet. Die zweite Phase des Verfalls ist die Zeit des Skeptizismus und Eklektizismus und geht in die letzte Verfallsstufe, den Mystizismus, über, die mit dem Neuplatonismus endet. Die unterschiedliche Bewertung der vier Phasen schlägt sich auch in Bren­ tanos »Geschichte der griechischen Philosophie« (1988) nieder: Die aufsteigende Periode von Thales bis Aristoteles wird besonders aus­ führlich auf 275 Seiten ausgebreitet, während die drei Verfallsphasen, die immerhin über drei Jahrhunderte andauern, auf lediglich 45 Seiten abgehandelt werden. Die Folge von Aufstieg und Verfall wiederholt sich im Mittelalter, wobei die aufsteigende Periode in Thomas von Aquin ihren Abschluss findet und danach in den Verfall übergeht, der wieder im Mystizismus endet. In der Neuzeit beginnt der Kreislauf von neuem. Die Phase des Aufstiegs beginnt mit Bacon und Descartes und endet mit Locke und Leibniz. Der Verfall setzt in der Aufklärung ein, es folgt mit David Hume eine skeptische Phase und das letzte Verfallsstadium wird schließlich im Deutschen Idealismus erreicht. Was für ein Kontrast zur Fortschrittsphilosophie Hegels! Sah Hegel seine eigene Philoso­ phie noch als die höchste Verwirklichung absoluten Wissens, wird sie von Brentano (2019, S. 218) als »die äußerste Entartung menschlichen Denkens« bezeichnet. Es scheint lediglich eine Frage der persönlichen

168 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Wertung und subjektiven Perspektive zu sein, was man als Fortschritt und was man als Verfall betrachtet. Hegel geht implizit von einer Gesetzesartigkeit historischer Ent­ wicklung aus – eine Annahme, die Popper als Historizismus bezeich­ net. Wenn nämlich die Philosophiegeschichte einer inneren Logik folgt, dann gehen die philosophischen Systeme notwendig auseinan­ der hervor so wie bei logischen Schlüssen die Konklusionen aus den Prämissen folgen: Der subjektive Idealismus Fichtes ist die Thesis, der objektive Idealismus Schellings ist die Antithesis und daraus folgt der absolute Idealismus Hegels. Die hier unterstellte Rationalität der Entwicklung ist kein Resultat eines innewohnenden Naturgesetzes, sondern das Ergebnis einer historiografischen Rekonstruktion des Geschichtsschreibers. Die Geschichte folgt logischen Gesetzen, weil Hegel es so sehen will. Er projiziert sein eigenes philosophisches System auf die Geschichte und ordnet die philosophischen Theorien so, dass sie seiner eigenen Logik folgen. Die Gegenstände haben sich nach unserer Erkenntnis zu richten und nicht umgekehrt – so fordert es die idealistische Logik. Bei Hegel und Hösle ist es wohl mehr Wunschdenken als Realität.

7. Das Paradigmenmodell Wolfgang Röd schreibt in der Einleitung zu seiner zweibändigen Dar­ stellung der Philosophiegeschichte, dass es zweifelhaft erscheint, »ob es überhaupt gerechtfertigt sei, von der Philosophie zu reden« (Röd 2000, Bd. 1, S. 17). Vielmehr gebe es eine Vielzahl verschiedener Denksysteme, die sich abwechseln oder in einem direkten Konkur­ renzverhältnis stehen. Neben den Phasen historischer Kontinuität innerhalb einer Tradition gebe es auch Phasen der Diskontinuität, in der eine Traditionslinie aufhört und eine neue philosophische Ent­ wicklung beginnt. Will man ein realistisches Bild der Philosophiege­ schichte zeichnen, darf man die Aufmerksamkeit daher nicht nur auf die Fortschritte innerhalb einer Tradition richten, sondern muss auch die zahlreichen Brüche in den Traditionslinien und die Spannungs­ verhältnisse zwischen den konkurrierenden Schulen im Blick behal­ ten. Ein Modell der Wissenschaftsentwicklung, das sowohl die Kon­ tinuität als auch die Diskontinuitäten der Theoriendynamik berücksichtigt, beschreibt Thomas Kuhn in seinem 1962 erschienenen Buch »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1979).

169 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Obwohl es sich eigentlich um ein wissenschaftshistorisches Werk handelt, das sich mit naturwissenschaftlichen Theorien beschäftigt, lässt sich Kuhns Modell auch auf die Philosophiegeschichte übertra­ gen. Kuhn stellt die Geschichte der Naturwissenschaft als eine Abfolge von Paradigmen dar, innerhalb der es einen kontinuierlichen Fortschritt gibt. Diese Phasen normaler Forschung werden gelegent­ lich von Phasen außerordentlicher Forschung unterbrochen, die in einer wissenschaftlichen Revolution kulminieren, in der ein Para­ digma durch ein anderes abgelöst wird und es dadurch zu einem Bruch kommt, der das Bild eines durchgehenden linearen Fortschritts zer­ stört. Was ist ein Paradigma? Kuhn gibt keine explizite Definition des Begriffs an. Er gibt selbst zu, dass es sich um einen Begriff mit unscharfen Rändern handelt. Ein Paradigma bezeichnet einen ganzen Komplex von Bedeutungen und Merkmalen, die für eine einheitliche Denktradition bzw. einen Denkstil typisch sind. In seinem 1969 erschienenen Nachwort zu seinem Buch rückt Kuhn von seinem ursprünglichen Begriff ab und führt stattdessen den Ausdruck »dis­ ziplinäre Matrix« ein. Dieser Begriff umfasst symbolische Verallge­ meinerungen, Gesetze und andere Darstellungsarten einer Theorie, Analogien und Modelle, aber auch wissenschaftliche Normen und Werte wie Einfachheit, Genauigkeit, Widerspruchsfreiheit, Nützlich­ keit etc. (Kuhn 1979, S. 194 ff.). Ich werde im Folgenden trotzdem am Paradigmenbegriff festhalten, weil im Ausdruck »disziplinäre Matrix« kein neuer Bedeutungsinhalt hinzukommt, der nicht schon im Begriff des Paradigmas enthalten wäre. Ein Paradigma bezeichnet neben einer Theorie auch die Regeln und Methoden, die zur Lösung wissenschaftlicher Probleme ange­ wendet werden. In seiner ursprünglichen Wortbedeutung heißt »Paradigma« so viel wie »Musterbeispiel«. Tatsächlich wird Studie­ renden ein Paradigma anhand von Beispielen gelehrt, in denen typi­ sche Probleme behandelt werden, die durch die zu erlernende Theorie gelöst werden können. Diese Beispiele sind zugleich Vorbilder, »aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher For­ schung erwachsen« (Kuhn 1979, S. 25). Die Studierenden erwerben ihre Kenntnisse von einem akademischen Lehrer oder durch Lehrbü­ cher und werden dadurch Mitglieder in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft. Viele Lehrbücher wurden zu Klassikern ihres Fachs und gelten heute noch als wertvolle Quellen und Nachschlagewerke: so z. B. die »Physik« des Aristoteles, der »Almagest« des Ptolemäus,

170 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Newtons »Principia« oder Darwins »On the Origin of Species«. Diese Lehrbücher stehen stellvertretend für ein Paradigma und haben Wis­ senschaftsgeschichte geschrieben. Neben den hier aufgezählten Bedeutungsvarianten hat der Para­ digmenbegriff bei Kuhn auch noch eine tiefere Bedeutung. Ein Para­ digma kennzeichnet eine Metaphysik und Weltanschauung. Die Metaphysik sagt dem Wissenschaftler, »welche Entitäten es in der Natur gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten« (Kuhn 1979, S. 121). Darüber hinaus gibt uns ein Paradigma eine bestimmte Sicht­ weise der Wirklichkeit vor – ein Schema, nach dem wir die Welt wahrnehmen und interpretieren. Ludwik Fleck (1980, S. 130) ver­ steht unter einem Denkstil ein »gerichtetes Wahrnehmen, mit ent­ sprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrge­ nommenen«. »Denkstil ist nicht nur diese oder jene Färbung der Begriffe und diese oder jene Art sie zu verbinden. Er ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln.« (Fleck 1980, S. 85) Die Wahrnehmung und das Erkennen von Tatsa­ chen ist stets an einen Denkstil gebunden. Mit einer wissenschaftli­ chen Revolution verändert sich daher die Wahrnehmung der Welt. Nach einem Paradigmenwechsel sehen die Wissenschaftler die Welt mit anderen Augen. Es ist, als ob sich die Welt verändert habe (Kuhn 1979, S. 123). Jede Veränderung des Denkstils schafft neue Tatsachen (Fleck 1980, S. 144). Kuhns Theorie scheint auf den ersten Blick einen Fortschritt in den Wissenschaften auszuschließen. Ein Paradigmenwechsel stellt eine disruptive Veränderung dar, bei der nicht nur ein Weltbild durch ein anderes ersetzt wird. Vielmehr ändert sich auch die Bedeutung von Begriffen sowie unsere Wahrnehmung und Interpretation der Welt. Kuhn spricht von einer Inkommensurabilität der Paradigmen. Die Inkommensurabilitätsthese besagt, dass sich bei einem Paradigmen­ wechsel nicht nur der Inhalt einer Theorie, d. h. ihre Axiome, Gesetze und Folgerungen ändert, sondern auch der gesamte begriffliche Rah­ men der Theorie. Begriffe erhalten eine neue Bedeutung. Folglich sind die Paradigmen vor und nach einer wissenschaftlichen Revolution nicht mehr vergleichbar, weil sich ein tiefgreifender Bedeutungswan­ del vollzogen hat, der neben dem wissenschaftlichen Weltbild auch die Sprache zur Beschreibung der Welt verändert. Eine Kommunikation zwischen den Vertretern zweier Paradigmen ist nicht mehr möglich,

171 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Beobachtungen und Experimente werden anders interpretiert, die beiden Parteien reden aneinander vorbei. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Wenn zwei Paradigmen nicht mehr vergleichbar sind, dann kann es auch keine objektiven Kriterien für den wissenschaftlichen Fortschritt geben. Kuhn schreibt: »Folglich ist die Überlegenheit einer Theorie über eine andere in der Diskussion nicht nachzuweisen. [...] Die Verfechter inkommensurabler Theorien sind überhaupt nicht in der Lage, sich zu verständigen; folg­ lich kann es in einer Diskussion über die Wahl von Theorien keine Berufung auf gute Gründe geben; Theorien müssen vielmehr aus letzt­ lich persönlichen und subjektiven Gründen gewählt werden; eine Art mystischer Wahrnehmung ist für die tatsächlich getroffene Entschei­ dung verantwortlich.« (Kuhn 1979, S. 210)

Wissenschaftliche Revolutionen sind nach Kuhn im Grunde genom­ men irrational: nicht gute Argumente zählen, sondern Überredung, Propaganda und letzten Endes die Macht einer Forschungsgruppe und die Zahl ihrer Unterstützer. Kuhn will die Vorstellung eines wissen­ schaftlichen Fortschritts dennoch nicht aufgeben. Allerdings ist seine Vorstellung von Fortschritt kein linearer, zielgerichteter Fortschritt. Er ist am ehesten mit dem biologischen Fortschritt durch Evolution vergleichbar (Kuhn 1979, S. 184). Evolutiver Fortschritt besteht in einer gesteigerten Funktionstüchtigkeit und Tauglichkeit der Orga­ nismen und ihrer Fähigkeit, mit veränderten Umweltbedingungen fertig zu werden. In der Wissenschaft wirken Phasen außerordentli­ cher Forschung wie ein Innovationstreiber, bei der neue Theorien for­ muliert werden. Es entsteht ein Selektionseffekt, bei dem diejenige Theorie überlebt, die die empirischen Daten besser erklären kann als ihre Konkurrenten und damit besser an die Wirklichkeit angepasst ist. Kuhn setzt wissenschaftlichen Fortschritt mit der zunehmenden Pro­ blemlösungskapazität von Theorien gleich und der Fähigkeit, sie für praktische Anwendungen nutzbar zu machen. Wenn wir das Paradigmenmodell auf die Philosophie übertragen wollen, müssen wir uns überlegen, was einem Paradigma in der Phi­ losophie entspricht und ob es in der Philosophiegeschichte Paradig­ menwechsel im Kuhn’schen Sinne gibt. Kuhn sagt selbst, dass viele naturwissenschaftliche Paradigmen mit einem philosophischen Welt­ bild verbunden sind, nämlich einer bestimmten Art und Weise, die Welt zu interpretieren. Das ptolemäische Weltbild war aufs Engste mit der aristotelischen Naturphilosophie verknüpft, die Newton’sche Mechanik ging von einem deterministischen Weltbild aus und der

172 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik liegt die Kant’sche Erkenntnistheorie zugrunde. Philosophische Systeme haben durch­ aus den Charakter von Paradigmen. Sie legen eine bestimmte Inter­ pretation der Wirklichkeit fest und geben an, wie ein philosophisches Problem zu behandeln ist und wie man es innerhalb des Paradigmas lösen kann. Als Beispiele philosophischer Paradigmen können genannt werden: der Platonismus, Aristotelismus, Cartesianismus, Newtonianismus, Spinozismus, Kantianismus, Hegelianismus, Phä­ nomenologie, logischer Empirismus etc. Man kann sagen: Jedem »Ismus« liegt ein Paradigma zugrunde. Auf philosophische Paradig­ men trifft auch zu, was für wissenschaftliche Paradigmen gilt: Zwi­ schen den Vertretern verschiedener Paradigmen kommt es häufig zu Kontroversen und Auseinandersetzungen, für die es keine konsensu­ elle Lösung gibt. Die Philosophen reden aneinander vorbei, sie ver­ wenden unterschiedliche Begriffsschemata und können sich oftmals über die einfachsten Dinge nicht einigen – fast so, als ob sie in ver­ schiedenen Welten lebten. Die philosophische Gemeinschaft teilt sich in einander bekämpfende Lager: »Jede Gruppe verwendet ihr eigenes Paradigma zur Verteidigung eben dieses Paradigmas.« (Kuhn 1979, S. 106) Ein Beispiel für ein solch unversöhnliches Aufeinandertreffen von Repräsentanten konkurrierender Paradigmen stellt die berühmte Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger 1929 dar, die Wolfram Eilenberger in seinem Buch »Zeit der Zaube­ rer« wie folgt beschreibt: »Als Cassirer und Heidegger am 26. März 1929 um zehn Uhr morgens aufeinandertreffen, können sie deshalb mit Recht beanspruchen, mit ihren jeweiligen Philosophien ganze Weltbilder zu verkörpern. Was in Davos auf dem Spiel stand, war also eine Entscheidung zwischen zwei fundamental voneinander abweichenden Visionen vom Entwicklungs­ gang des modernen Menschen. Visionen, deren widersprüchliche Anziehungskräfte unsere Kultur bis heute von innen heraus prägen und bestimmen.« (Eilenberger 2020, S. 31)

Dabei geht es nicht nur um Fragen der richtigen Kant-Interpretation, vielmehr geht es ums Ganze: den Status der Metaphysik und die Frage nach dem Wesen des Menschen. Am Ende des Davoser Wortgefechts stellt Cassirer resignierend fest: »Wir stehen an einer Position, wo durch bloße logische Argumentation wenig auszurichten ist.« (zitiert nach Eilenberger 2020, S. 370) Damit trifft er einen zentralen Punkt des Kuhn’schen Modells: Verschiedene Paradigmen sind jeweils

173 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

inkommensurabel. Sie sind unvergleichbar und es gibt keinen para­ digmenunabhängigen Standpunkt, von dem aus Streitfragen ent­ schieden werden können. Ähnliche Kontroversen wie der Davoser Disput wurden in der Philosophie in der Vergangenheit immer aus­ getragen, wenn rivalisierende Denkschulen aufeinandertrafen: man denke etwa an den Universalienstreit im Mittelalter oder den Positi­ vismusstreit im 20. Jahrhundert. Und auch heute noch kann man sol­ che Auseinandersetzungen auf Philosophiekongressen und -tagun­ gen beobachten. Im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Paradigmen wech­ seln sich philosophische Paradigmen zeitlich nicht ab, sondern können zeitgleich nebeneinander existieren. Gerade im 20. Jahrhundert haben sich nahezu zeitgleich eine Vielzahl unterschiedlicher Strö­ mungen und Denkschulen etabliert, die sich gegenseitig Konkurrenz machen. Es stellt sich daher die Frage, ob es auch in der Philosophie­ geschichte wissenschaftliche Revolutionen gibt, die einem Paradig­ menwechsel nahekommen. Immanuel Kant nahm bekanntlich für sich in Anspruch, mit seiner »Kritik der reinen Vernunft« eine »Revo­ lution der Denkart« in der Metaphysik herbeigeführt zu haben (KrV B xi) und vergleicht sich mit Kopernikus, dem dasselbe in der Astronomie gelungen ist. Kant beabsichtigte, die Metaphysik von einem »bloßen Herumtappen [...] unter bloßen Begriffen« – man könnte in der Kuhn’schen Terminologie von einer vorparadigmati­ schen Phase der Wissenschaft sprechen – auf den »sicheren Gang einer Wissenschaft« zu führen und somit ein neues Paradigma zu begründen. Im alten erkenntnistheoretischen Paradigma nahm man an, »alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen rich­ ten«. Kant kehrt dieses Verhältnis um und behauptet nun: »die Gegen­ stände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten« (KrV B xvi). Heinrich Heine erklärt die kopernikanische Wende Kants wie folgt: »Früher lief die Vernunft, gleich der Sonne, um die Erscheinungswelt herum und suchte sie zu beleuchten; Kant aber läßt die Vernunft, die Sonne stillstehen, und die Erscheinungswelt dreht sich um sie herum und wird beleuchtet, je nachdem sie in den Bereich dieser Sonne kömmt.« (Heine 1997, S. 99 f.) Das Revolutionäre und Umstürzleri­ sche von Kants Philosophie wurde von vielen Philosophen und Kom­ mentatoren hervorgehoben und gewürdigt. Wolfgang Röd (2000, Bd. 2, S. 140) bezeichnet die »Kritik der reinen Vernunft« als einen »Wendepunkt der Philosophie«.

174 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Die Kant’sche kopernikanische Wende ist nicht der einzige Para­ digmenwechsel in der Philosophiegeschichte. Der Übergang von der Philosophie des Mittelalters zur Philosophie der Neuzeit wird oft als Epochenumbruch bezeichnet, der mit der kopernikanischen Revolu­ tion in Verbindung gebracht wird. Aber allein schon die zeitliche Lokalisierung und historische Einordnung dieses Paradigmenwech­ sels wird kontrovers diskutiert. Beginnt die Philosophie der Neuzeit mit Francis Bacon oder René Descartes oder vielleicht schon mit Wil­ helm von Ockham? In der Wissenschaftsgeschichte setzt sich die Ein­ sicht durch, dass die eigentliche Zäsur nicht in der kopernikanischen Revolution zu verorten ist, sondern bereits früher erfolgte, nämlich mit der Übersetzung der Werke Aristoteles’ aus dem Arabischen ins Lateinische, die eine neue Aristoteles-Rezeption und eine neue Naturbetrachtung einleitete. Kopernikus erntete somit die Früchte einer Revolution, deren Grundlage viel früher gelegt wurde (vgl. Blu­ menberg 1965, S. 40). Kurt Flasch (2000, S. 352) sieht in der neuen Aristoteles-Rezeption die eigentliche philosophische Revolution, die den Weg in die Neuzeit öffnete: »Die Rezeption des Aristoteles veränderte nicht nur akademische Usancen; sie schnitt ein in das Welt- und Selbstverständnis der Grup­ pen wie der Einzelnen und berührte damit die sog. ›realen‹ Bedingun­ gen des menschlichen Lebens. Natur und Gesellschaft wurden jetzt nicht mehr nur als Instrument des göttlichen Willens, sondern als geprägter Eigenbestand und als zielstrebige Entwicklung verstanden. Der Begriff von Wissenschaft änderte sich. [...] Man lernte, Erde und Gestirne mit neuen Augen zu sehen.«

Flasch (2000, S. 627 ff.) stellt die gängige Epocheneinteilung in Mit­ telalter, Renaissance und Reformation infrage und führt unser heuti­ ges Geschichtsbild von dieser Zeit auf ein idealistisches RenaissanceBild zurück, das von Jacob Burckhardt verbreitet wurde. Der Wissenschaftshistoriker Alistair Crombie (1977, S. 338) vermag gar keine wissenschaftliche Revolution zu erkennen, stattdessen spricht er von einer »Kontinuität der Naturwissenschaft vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert«. Diese unterschiedlichen Deutungen der Geschichte zeigen, dass sich die Historiker keineswegs einig sind, ob es Paradigmenwechsel in der Philosophie überhaupt gibt und wie sie zeitlich einzuordnen sind. In der Philosophie wird oft von einer »Wende« gesprochen, wenn eine neue wirkmächtige philosophische Strömung auf die Bühne tritt und sich von ihren Vorläufern abgrenzt. So ist im 20. Jahrhundert von

175 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

einem »linguistic turn« die Rede, der den Beginn und den Aufstieg der sprachanalytischen Philosophie markiert und gerne als Paradig­ menwechsel gefeiert wird (Braun 1996). Aber auch hier ist die zeitli­ che Datierung und historische Einordnung umstritten. Wann soll die­ ser Paradigmenwechsel stattgefunden haben? Wer ist der Vater der analytischen Philosophie? Michael Dummett geht in seinem Buch über die »Ursprünge der analytischen Philosophie« (1992) diesen Fragen nach und verortet den Ursprung erstaunlicherweise nicht bei Frege und Russell, wie man das erwarten würde, sondern bei Brentano und Husserl. Er sieht Frege eher als Großvater der analytischen Phi­ losophie und rekonstruiert in seiner genealogischen Analyse die Ver­ wandtschaftsverhältnisse: »Aber Russell und Moore kommen mir eher wie Onkel vor, vielleicht Großonkel. Bolzano müßte man wohl als Urgroßvater bezeichnen.« (Dummett 1992, S. 167) Dieses Beispiel zeigt: Auch Revolutionäre haben ihre Ideen von ihren Vätern geerbt. Daher kann es manchmal ganz aufschlussreich sein, eine historiogra­ fische Ahnenforschung zu betreiben. Richard Rorty ist in seiner Bewertung des »linguistic turn« wesentlich zurückhaltender. Im Vorwort zu einer Textsammlung über die sprachanalytische Wende (Rorty 1992, S. 1) stellt er fest, dass in der Philosophie schon oft Revolutionen ausgerufen worden seien, die jedoch allesamt scheiterten. Die Revolutionäre behaupten, eine neue Philosophie voraussetzungslos quasi aus dem Nichts geschaffen zu haben. Aber jede Philosophie muss von Voraussetzungen ausgehen, die nicht immer expliziert werden. Rorty wirft daher den Revolu­ tionären einen circulus vitiosus vor: »every philosophical revolution­ ary is open to the charge of circularity or to the charge of having begged the question.«(Rorty 1992, S. 2) Selbst wenn man davon ausgeht, dass es in der Philosophie Para­ digmenwechsel gibt, ist damit noch immer nicht geklärt, ob es auch so etwas wie einen philosophischen Fortschritt gibt. Der Kuhn’sche pragmatische Fortschrittsbegriff lässt sich nicht so einfach auf die Philosophie übertragen, weil es hier keine zunehmende Anpassung an die Wirklichkeit gibt. Und auch die praktischen Anwendungen sind in der theoretischen Philosophie in der Regel sehr begrenzt, sodass auch die Anwendbarkeit als Kriterium ausscheidet. Aber vielleicht lässt sich ein philosophischer Fortschritt mit einem Fortschritt in der Kunst vergleichen. Die Philosophie hat wie die Kunst verschiedene Stile hervorgebracht und verschiedene Weisen, die Welt zu sehen und zu interpretieren. Paul Feyerabend (1984) unterscheidet zwischen einem

176 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

quantitativen und einem qualitativen Fortschritt. Der quantitative Fortschritt besteht in einer Anhäufung von Wissen, Erfindungen und Entdeckungen. Dieser Fortschritt ist objektiv und wird verwendet, um progressive Entwicklungen in der Wissenschaft zu charakterisieren. Der qualitative Fortschritt ist dagegen in der Kunst vorherrschend und beschreibt eine Vermehrung ästhetischer Vielfalt, wie sie einem Betrachter bei einem Wechsel von einer Stilepoche zu einer ande­ ren erscheint. Ein solches Werturteil ist subjektiv und hängt vom Betrachtungsstandpunkt ab. Der qualitative Fortschritt lässt sich nicht auf einen quantitativen Fortschritt zurückführen; vielmehr ist nach Feyerabend der qualitative Begriff der grundlegendere. Ob es in der Kunst überhaupt einen Fortschritt gibt, ist umstrit­ ten. Feyerabend erwähnt zwei Kunstauffassungen, die bezüglich der Frage nach dem Fortschritt konträre Positionen einnehmen. Für Vasari gibt es einen Fortschritt in der Kunst: »Es liegt eben in der Eigentüm­ lichkeit und besonderen Natur der Künste, daß sie von einem niedri­ gen Anfang ausgehend sich mehr und mehr verbessern und schließ­ lich zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen.« (zitiert nach Feyerabend 1984, S. 24) Dagegen gibt es Alois Riegl zufolge in der Kunstgeschichte keinen Fortschritt und keinen Verfall. Wohl aber gibt es verschiedene Stilformen, die gleichberechtigt nebeneinanderste­ hen und ihren eigenen Gesetzen gehorchen (Feyerabend 1984, S. 29). Feyerabend überträgt die Riegl’sche Kunstauffassung auf die Wissen­ schaft und meint, dass auch die Wissenschaft verschiedene Stile ent­ wickelt habe und selbst Objektivität als solches Stilmerkmal anzuse­ hen sei. Einen Fortschritt könne es daher weder in der Kunst noch in der Wissenschaft geben und jede Behauptung, nach der eine Theorie besser oder schlechter als eine andere sei, stelle ein rein ästhetisches Geschmacksurteil dar. Alle Werte seien relativ zu bestimmten Tradi­ tionen und historischen Epochen und könnten nicht zu einem abso­ luten Maßstab verallgemeinert werden. Ähnliches gilt auch in der Philosophie. Die Philosophie hat verschiedene Denkstile und Denk­ richtungen hervorgebracht, verschiedene Weisen, die Wirklichkeit zu interpretieren. Letztlich ist es eine Geschmacksfrage, welche Philo­ sophie man bevorzugt, so wie man ein Gemälde von van Gogh als schöner empfinden kann als ein Bild von Picasso. In jüngster Zeit hat Jürgen Habermas das Kuhn’sche Paradig­ menmodell auf die Philosophie übertragen und es zur Grundlage sei­ ner mehr als 1700 Seiten umfassenden zweibändigen Studie über die Genese des nachmetaphysischen Denkens gemacht, die »Auch eine

177 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Geschichte der Philosophie« (2020) sein will. Habermas bezieht sich im Vorwort explizit auf »das Kuhn’sche Bild vom kontingenten Auf und Ab der wissenschaftlichen Paradigmen« (Bd. 1, S. 11). In seiner genealogischen Rekonstruktion der Philosophiegeschichte unter­ scheidet er drei verschiedene Paradigmenwechsel. Den ersten Para­ digmenwechsel identifiziert er mit der nominalistischen Revolution des 14. Jahrhunderts (Bd. 1, S. 766), die Wilhelm von Ockham zuge­ schrieben wird. Diese zeitliche Vorverlegung der Wende zur Neuzeit von der Renaissance in das Spätmittelalter deckt sich mit der Ein­ schätzung Kurt Flaschs, der in Ockhams Philosophie die Formulie­ rung eines neuen Rationalitätsstandards, eine neue Konzeption der Wirklichkeit und eine Individualitäts- und Freiheitserfahrung erkennt, die die Neuzeit geprägt haben (Flasch 2000, S. 502 ff.). Habermas sieht darin eine wesentliche Weichenstellung für die wei­ tere Entwicklung, die zu einem Abschied von der Metaphysik und zu einer neuen erkenntnistheoretischen Fundierung der Philosophie führt. Einen zweiten Paradigmenwechsel verortet Habermas im 17. Jahrhundert in der Wende zur Subjektphilosophie, die mit Des­ cartes beginnt (Bd. 2, S. 126, 132). Er beschreibt diese Wende als einen »Perspektivenwechsel von einem bisher theologisch als selbstver­ ständlich vorausgesetzten absoluten Gottesstandpunkt zu einer refle­ xiv auf das erkennende und handelnde Subjekt gerichteten Perspek­ tive der ersten Person gegenüber der Welt als der Gesamtheit von vorstellbaren und auch wissenschaftlich erforschbaren Objekten« (Bd. 2, S. 112). Dieser Paradigmenwechsel ist eng mit dem Prozess der Säkularisierung und der Entkoppelung von Glauben und Wissen ver­ bunden. Der dritte Paradigmenwechsel findet in der Wende von der Sub­ jekt- zur Sprachphilosophie statt (Bd. 1, S. 33 ff.; Bd. 2, S. 428 ff.). Als Begründer dieser linguistischen Wende werden Herder, Schleierma­ cher und Humboldt genannt. Hier bildet sich das heraus, was Haber­ mas kommunikative Vernunft nennt und in seiner Diskurstheorie und »Theorie des kommunikativen Handelns« (1988) ausführlich beschreibt. Es drängt sich somit der Eindruck auf, dass Habermas seine Geschichtsdarstellung perspektivisch auf seine eigene Philoso­ phie ausrichtet, so wie Hegel sein System als den Höhepunkt einer mehr als zweitausendjährigen Entwicklung sieht. Die Periodisierung bzw. Einteilung der Philosophiegeschichte in streng getrennte und aufeinanderfolgende Paradigmen dient Haber­

178 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

mas dazu, Geschichte zu strukturieren und verstehbar zu machen und sie in hegelianischer Tradition als große Denkbewegung zu begreifen. Paradigmenwechsel sind keine diskontinuierlichen Unterbrechungen eines historischen Entwicklungsprozesses, sozusagen das Ende eines Weges und der Anfang eines neuen Weges. Sie stellen vielmehr Wegetappen dar und leiten eine neue Entwicklung ein. Jeder Paradig­ menwechsel ist verbunden mit bzw. das Resultat von sozialen und politischen Veränderungen.3 Daher gibt es auch kein unverbundenes Nebeneinander oder gar eine Inkommensurabilität der Paradigmen wie bei Kuhn. Paradigmen gehen organisch auseinander hervor. In jedem früheren Paradigma ist bereits der Keim zu einem späteren Paradigma enthalten. Habermas kritisiert die Inkommensurabilitätsthese von Kuhn und Feyerabend, weil sie einen Relativismus zur Folge habe. Inkom­ mensurable Paradigmen würden nämlich zu disparaten Diskursen mit jeweils eigenen Rationalitätsstandards führen. Jedes Paradigma und jede Kultur wäre in ihrer eigenen Weltsicht gefangen; man könnte auch nicht mehr andere Paradigmen kritisieren, was eine Unfähigkeit zu echter Kommunikation und Verständigung bedeuten würde (Habermas 1998, S. 222 f.).4 Habermas (1998, S. 225) hält daher an der »kontexttranszendierenden Kraft von Wahrheits-, allgemein von Geltungsansprüchen« fest, die mit Behauptungen verbunden sind. Dieser Universalismus kommunikativer Vernunft steht in Kontrast zum postmodernen Diskursrelativismus. Habermas verteidigt die philosophischen Errungenschaften der Aufklärung und wirft der post­ modernen Philosophie vor, diese Tradition aufgegeben zu haben. Habermas (2020, Bd. 1, S. 11) ist nicht so pessimistisch wie Fey­ erabend und bezeichnet das »Feyerabend’sche Bild vom zufälligen Auf- und Abstieg der Paradigmen« als falsch. Dem hält er entgegen, »dass Paradigmenwechsel auch in der Philosophie von Lernprozessen angestoßen werden« (ebd.) und eine gewisse Kontinuität der Ent­ wicklung voraussetzen. Habermas sieht im Gebrauch der Vernunft einen geistigen Fortschritt: »Dieser Gebrauch der Vernunft verwickelt die Subjekte, die mit der Welt zurechtkommen müssen, in Lernpro­ zesse: Er führt sie zu Einsichten, die sich in verbesserten Techniken oder in erweiterten soziomoralischen Perspektiven niederschlagen 3 Ähnlich wie Dagmar Berger spricht Habermas (2020, Bd. 1, S. 39) vom philoso­ phischen Denken als einer Reaktion auf Krisenphänomene wie z. B. eines Zerfalls der Solidarität. 4 Zur Kritik am Relativismus siehe auch Zoglauer 2021, S. 45 ff.

179 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

und in Traditionen gespeichert werden, sodass sie Gesellschaft und Kultur verändern.« (Habermas 2020, Bd. 2, S. 583) In den kollektiven Lernprozess gehen neue Erkenntnisse der Einzelwissenschaften ein, weshalb Habermas ausdrücklich die Offenheit der Philosophie für wissenschaftliche Erkenntnisse fordert (Bd. 2, S. 584). Habermas hat dabei das Modell von Peirce vor Augen und verarbeitet es zu einer Diskurstheorie kommunikativer Vernunft, die sich im deliberativen Austausch von Gründen und Argumenten manifestiert. Die Philoso­ phie erzielt so einen diskursiven Erkenntnisfortschritt, indem sie Hypothesen und Interpretationen auf ihre Richtigkeit hin befragt, Irr­ tümer eliminiert und die Diskursgemeinschaft in the long run zu einem Konsens führt (Bd. 2, S. 719 ff.). Das erkennende Subjekt ist nicht ein einzelnes Individuum, sondern die gesamte Kommunikati­ onsgemeinschaft. Daher steht Habermas dem Hegel’schen Modell näher als dem Kuhn’schen Modell, auch was die Frage nach einem Fortschritt angeht. Habermas geht bei seinem Fortschrittsmodell von Vorausset­ zungen aus, die durchaus kritisch hinterfragt werden können: Er überträgt das Peirce’sche Diskursmodell des naturwissenschaftlichen Forschungsprozesses auf die Philosophie und letztlich auf die gesamte Kommunikationsgemeinschaft der Menschheit und setzt dabei vor­ aus, dass Diskursprozesse in der Philosophie genauso rational ablau­ fen wie in den Naturwissenschaften und dass dieser Diskurs langfris­ tig in einen Konsens mündet. In den Naturwissenschaften fungieren die empirischen Tatsachen, die es in der Philosophie nicht gibt, als Korrekturinstanzen für Hypothesen. Philosophische Thesen kön­ nen nicht an der Empirie überprüft werden. Zudem sind Diskurse zwischen konkurrierenden Paradigmen eher von Streit und Dissens geprägt, sodass es sehr unwahrscheinlich ist, dass der philosophische Diskurs jemals zu einem paradigmenübergreifenden Konsens führen wird. Daher scheint das postmoderne Modell inkommensurabler Diskurse eher geeignet zu sein, ein realistisches Bild der Philosophie­ geschichte zu zeichnen.

8. Das narrative Modell Während Habermas noch die Einheit der Vernunft verteidigt, öffnet sich die postmoderne Philosophie für eine Pluralität verschiedener

180 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Diskurse, Sprachspiele und Lebensentwürfe. Wissenschaft ist dem­ nach nur ein Sprachspiel neben anderen, das keine Priorität oder uni­ verselle Gültigkeit und keine exklusive Wahrheit für sich beanspru­ chen kann. Die Postmoderne distanziert sich vom Erbe der Aufklärung und ihrer Vorstellung von Fortschritt. Für Jean-François Lyotard (2019) ist dieses Ideal der Aufklärung nur eine »große Erzählung«, die in der heutigen Zeit keine Gültigkeit mehr habe. Die Kultur im Allgemeinen und die Philosophie im Besonderen zerfallen in eine Vielzahl von Projekten oder »kleinen Erzählungen«, die ihren eigenen Diskursregeln folgen. Die verschiedenen Narrative sind im Kuhn’schen Sinn inkommensurabel, sie haben ihre eigenen Rationa­ litäten und Wahrheitskriterien. Es gibt kein Meta-Narrativ, das alle diese kleinen Erzählungen miteinander verbindet oder einen univer­ sellen Wertmaßstab festlegt.5 Meta-Narrative sind Ideologien, die eine Weltanschauung prägen und die historische Entwicklung beein­ flussen. Philosophische oder politische Strömungen wie z. B. Idealis­ mus, Realismus, Materialismus, Marxismus, Kommunismus, Libe­ ralismus etc. werden als solche Meta-Narrative betrachtet, von denen man sich verabschieden will (Susen 2015, S. 140). Die Philosophie soll von keinem dominanten Paradigma beherrscht werden. Es gibt keine universellen Wahrheiten mehr, sondern nur noch lokale Nar­ rative, die ihre eigenen Wahrheiten haben und sich als Konsens inner­ halb einer Diskursgemeinschaft manifestieren (Sharpe 2019, S. 324). Da die Welt aus vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann, die jeweils inkommensurabel sind, gibt es keinen all­ umfassenden Gottesstandpunkt mehr.6 Es gibt keine Tatsachen, alles ist Interpretation. Christian Baier fasst Lyotards Philosophie wie folgt zusammen:

Simon Susen (2015, S. 140) erklärt ein Meta-Narrativ wie folgt: »A metanarrative is a set of more or less logically interconnected assumptions made in order to provide a coherent and comprehensive account of the underlying mechanisms that shape, or are supposed to shape, both the constitution and the development of human existence in a fundamental way.« 6 Die postmoderne Philosophie beruft sich hier auf Nietzsches Perspektivismus. Nietzsche schreibt: »Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.« (Nietzsche 1999, Bd. 3, S. 627; vgl. auch Zoglauer 2021, S. 39 ff.). 5

181 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

»Aus Lyotards Argumentation ergibt sich, dass in einer postmodernen Gesellschaft kein allgemeingültiger Maßstab mehr existiert, anhand dessen sich bestimmen ließe, was als wahr oder falsch, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht gilt. Stattdessen erscheint sie als ein Flickenteppich kleiner Erzählungen, deren jede ihre eigene diskursive Sphäre konstituiert – und jede einzelne dieser Diskurssphären verfügt über ihre ganz eigenen Maßstäbe, die von den Teilnehmern an dem jeweilig konstitutiven Sprachspiel (und nur von diesem!) als gültig und bindend betrachtet werden.« (Baier 2021, S. 70)

Die postmoderne Philosophie will marginalisierten Stimmen mehr Gehör verschaffen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Ränder der Gesellschaft. Sie will keine Philosophie »von oben« lehren, son­ dern Bewegungen von den gesellschaftlichen Rändern in das Zentrum rücken. Die Postmoderne tritt daher für einen Multikulturalismus ein und unterstützt feministische, antirassistische, postkoloniale Bewe­ gungen. Das Ende der großen Erzählungen hat auch Konsequenzen für unser Bild von der Geschichte. Die Postmoderne betont die Kontin­ genz historischer Entwicklung: »In brief, according to postmodern parameters, history can be interpreted as an open horizon of arbitrary, unpredictable, chaotic, directionless, and irreducible developments.« (Susen 2015, S. 138) Die Vorstellung eines universellen historischen Fortschritts wird aufgegeben. Geschichte ist kein zielgerichteter teleo­ logischer Prozess. Simon Susen vergleicht die postmoderne Auffas­ sung von Geschichte mit einer Vielzahl von Booten, die auf einem unendlichen Ozean in unterschiedliche Richtungen davonsegeln: »Metaphorically speaking, the condition of postmodernity is tan­ tamount to an open sea sailed by an infinite number of boats and explored by inquisitive and broad-minded navigators. These boats sometimes cross each other, sometimes collide, sometimes even sink, but they coexist. The coexistence of multiple vessels floating on the sea, then, is what makes up the picture of the postmodern condition, that is, of a sociohistorical set of circumstances characterized by com­ plete incompleteness. The open sea, with its horizon of projective infinity, represents the sole metanarrative of the postmodern condi­ tion. The multiplicity of journeys, with their exploration of existential diversity, is an illustration of the plurality of postmodern micronarrat­ ives.«(Susen 2015, S. 142)

Die postmoderne Historiografie gibt auch das wissenschaftliche Objektivitätsideal auf: Es gibt nicht die eine wahre Geschichte,

182 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

vielmehr kann Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven erzählt werden. Geschichte wird nicht entdeckt, sondern narrativ konstruiert. Der Historiker Hayden White hat mit seinem Buch »Metahistory« (1973) wesentlich zum »narrative turn« in den Geschichtswissenschaften beigetragen. Er beschreibt, wie ein histo­ risches Narrativ entsteht und wie eine »Story« geschrieben wird. Zunächst werden historische Ereignisse selektiv ausgewählt und in eine zeitliche Reihenfolge gebracht. Aus der Chronik wird schließ­ lich eine Geschichte, indem die Ereignisse erzählerisch verbunden werden, Abläufe strukturiert und den Akteuren Intentionen zuge­ schrieben werden. Jörn Rüsen erklärt den Unterschied zwischen einer historischen Chronik und einer Erzählung wie folgt: »Fakten allein sind jedoch keine Geschichte. Wenn wir sie einfach chronologisch ordnen, erhalten wir keine Geschichtsschreibung, son­ dern Chroniken. Chroniken unterscheiden sich von der Geschichts­ schreibung dadurch, dass sie keine narrative Struktur und ohne sie keine spezifisch historische Bedeutung haben. Die einfache chronolo­ gische Abfolge von Tatsachen hat keine Bedeutung in Bezug auf die Änderung, die sie anzeigen. Nur in einem sinnvollen (und erklären­ den) zeitlichen Zusammenhang mit anderen Tatsachen erhalten die durch Quellenkritik hervorgerufenen Tatsachen eine historische Qua­ lität.« (Rüsen 2020, S. 132)

Die Story wird dramaturgisch gestaltet und die Ereignisse erhalten so eine Bedeutung. Einzelne Ereignisse stehen nicht mehr unverbunden nebeneinander, sondern sind Teil einer kohärenten Erzählung und stehen in einer Handlungsbeziehung. Narrative sind wertgeladen. Jede Geschichte hat ihre Helden und Schurken, Gewinner und Ver­ lierer. Je nachdem, wie die Geschichte erzählt wird, hat sie die Gestalt einer Romanze, Komödie, Tragödie oder Satire (White 1973, S. 7). In Narrativen wird Geschichte moralisierend dargestellt. Sie bieten Ori­ entierung in einer ansonsten chaotisch erscheinenden Welt. Narration ist somit eine Form der Kontingenzbewältigung. Hayden White ist kein Anti-Realist und behauptet nicht, dass historische Narrative erfunden werden. Die Ereignisse, über die berichtet wird, haben tatsächlich stattgefunden: »Unlike literary fic­ tions, such as the novel, historical works are made up of events that exist outside the consciousness of the writer.«(White 1973, S. 6, Fn. 5) Das Narrativ stellt lediglich ein literarisches Gewand dar, in das Ereignisse eingekleidet werden. Durch die Art der Darstellung kann die Geschichte einen ideologischen bias erhalten. Historische Ereig­

183 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

nisse können je nach Erzählweise unterschiedlich dargestellt und interpretiert werden. Rüsen (2002, S. 112 f.) zeichnet historische Narrative durch vier Eigenschaften aus: Retrospektivität, Perspektivität, Selektivität und Partikularität. Hinzu kommt als weiteres charakteristisches Merkmal die Fiktionalität. Historische Narrative haben fiktionalen Charakter (Susen 2015, S. 146 f.). Fiktionalität wird als Gegenbegriff zur Fakti­ zität aufgefasst. Objektivität wird als »intersubjektive Geltung der historischen Interpretation« definiert (Rüsen 2002, S. 117). Der Anspruch postmoderner Historiografie ist es nicht, historische Ereig­ nisse und Prozesse zu erklären, vielmehr sollen sie lediglich interpre­ tiert werden (Susen 2015, S. 148). Allerdings stellt sich hier die Frage, was hier interpretiert werden soll, wenn das Objekt der Interpretation, also die historischen Tatsachen, nicht objektiv existieren, sondern selbst das Ergebnis einer Konstruktion sind. Mit dem fiktionalen Charakter von Narrativen wird der Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit aufgehoben. Geschichtsschreiber, oder besser: Geschichtenerzähler, können willkürlich Geschichten erfinden, die die Realität mehr oder weniger gut erfassen. Im narrativen Modell gibt es keine historische Wahrheit im Sinne einer Korrespondenz von Aussage und Wirklichkeit. Historische Wahrheit ist eine narrativ konstruierte Wahrheit: »Hence it is that truth in history is part ideological, part employment, part aesthetic choice, partly a function of authorial voice and focalisa­ tion, in part the result of the timing of the text, intentionality (of both the agent and the author-historian) and so forth. Put at its simplest truth in history is a function of content/story, narrating and narration and mode of expression as the author-historian poses questions, cre­ ates expectations and offers conclusions.«(Munslow 2007, S. 119)

Narrative müssen nicht wahr, sie müssen lediglich kohärent und kon­ sistent sein. Rüsen (2002, S. 118 ff.) unterscheidet zwischen theore­ tischer und praktischer Kohärenz. Mit theoretischer Kohärenz ist die argumentative Struktur der Erzählung gemeint: Die Geschichte soll in sich stimmig, begrifflich durchsichtig und nachvollziehbar sein. Praktische Kohärenz bedeutet so viel wie Intersubjektivität: Ein Nar­ rativ soll identitätsstiftend wirken und allgemein akzeptiert werden, weil es nur so seine Orientierungsfunktion im menschlichen Leben erfüllen kann (Rüsen 2002, S. 121). Somit ist jede Darstellung der Geschichte möglich, die den historischen Quellen und Dokumenten nicht widerspricht (Danto 1980, S. 176): »Objektivität in der Ge-

184 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

schichtswissenschaft heißt also im erkenntnistheoretischen Sinne: Die in einem anerkannten Verfahren erhärtete Übereinstimmung his­ torischer Aussagen mit bereits geprüftem Wissen – dem Forschungs­ stand – und den verfügbaren Materialobjekten, den Quellen.« (Faber 1975, S. 24) Das narrative Modell richtet den Fokus der Betrachtung auf die literarische Form der Erzählung, nicht auf ihren Inhalt. Es geht daher nicht mehr um die historischen Ereignisse an sich, sondern nur noch darum, wie sie erzählt werden. Damit gerät aus dem Blick, ob es sich um eine wahre oder erfundene Geschichte handelt. Denn der Form einer Erzählung kann man nicht ansehen, ob sie wahr ist. Auch eine in sich stimmige und kohärente Geschichte kann falsch sein. Thomas Zwenger (2008, S. 149) behauptet beispielsweise, dass »objektive Geltung hinsichtlich des Begriffs des Vergangenen ohne Bedeutung ist«. »Das objektiv Faktische des vergangenen Geschehens kann nicht rekonstruiert werden.« (Zwenger 2008, S. 151) Die Narration schafft nach Zwenger eine eigene Wirklichkeit, die »nicht von dieser Welt« ist. Wahrheit bedeutet im Narrativismus lediglich »intersubjektiven Geltungsanspruch« (Zwenger 2008, S. 163). Objektivität gerät unter Ideologieverdacht und wird auf Intersubjektivität reduziert. Diese Auffassung historischer Wahrheit führt unweigerlich zu einem Relativismus. Es gibt nämlich verschiedene Perspektiven und Interpretationsstandpunkte, unter denen Geschichte gesehen werden kann (Munslow 2007, S. 121). Paradoxerweise gibt es aber bestimmte Perspektiven wie z. B. den Eurozentrismus, die im narrativen Modell abgelehnt werden. Der Eurozentrismus gehe davon aus, dass die westliche Kultur allen anderen Kulturen überlegen sei und stelle daher »eine unzulässig verallgemeinerte besondere Perspektive der westli­ chen Kultur dar« (Rüsen 2002, S. 142). Auch wenn postmoderne Phi­ losophen einen epistemischen Relativismus vertreten, nehmen sie doch einen festen moralischen Standpunkt ein. Es gibt anscheinend bestimmte Spielregeln, an die sich die partikulären Diskurse halten müssen: Sie dürfen keine hegemoniale Macht über andere ausüben, sie dürfen andere Diskursteilnehmer nicht unterdrücken und in Dis­ kursen muss es »gerecht« zugehen. Diese Regeln gelten als universell verbindliche Regeln. Somit kommt durch die Hintertür doch noch ein moralischer Universalismus herein, der eigentlich der Vergangenheit angehören sollte. So gibt es eine universelle Auffassung von Gerech­ tigkeit, die offenbar nicht perspektivengebunden ist.

185 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Das narrative Modell lässt sich ohne Weiteres auch auf die Phi­ losophiegeschichtsschreibung übertragen. Denn auch dort gibt es ver­ schiedene Narrative: z. B. das Hegel’sche Fortschritts-Narrativ, das Brentano’sche Dekadenz-Narrativ oder das Habermas’sche Narrativ eines historischen Lernprozesses. Jeder Autor setzt in seiner Darstel­ lung andere Schwerpunkte und hat einen eigenen rhetorischen Stil. Die traditionellen Darstellungen der Philosophiegeschichte fokussie­ ren sich auf die Werke »großer Denker«, die man gelesen haben muss, um mitreden zu können. Die Geschichte der Philosophie wird aus­ schließlich aus eurozentrischer Sicht geschrieben. Bereits Hegel behandelte die islamische Philosophie nur beiläufig ohne die Primär­ quellen zu kennen. Die chinesische und indische Philosophie wird in den meisten Darstellungen gänzlich ignoriert. Und Frauen kommen, zumindest bis zum 20. Jahrhundert, in den Geschichtswerken so gut wie nicht vor. Das postmoderne Denken räumt mit diesen einseitigen Darstellungen auf und eröffnet eine völlig neue Konzeption von Phi­ losophiegeschichte. Es gibt nicht mehr die eine, überwiegend euro­ zentrische und vernunftorientierte Philosophiegeschichte. Die Post­ moderne öffnet den Spielraum für andere Geschichten, die andere Sichtweisen zulassen und nicht nur von weißen alten Männern han­ deln. Es wird die Abwesenheit von Frauen, people of color, indigenen und nicht-heterosexuellen Personen im Kanon klassischer philoso­ phischer Texte beklagt: »Non-Western forms of theory and philoso­ phy are kept out of philosophy canons and, at most, become objects of study in other fields.« (Maldonado-Torres et al. 2018, S. 65) Die Aufmerksamkeit richtet sich auf weniger bekannte Philosophinnen wie z. B. Hypatia, Margaret Cavendish, Émilie du Châtelet oder Mary Wollstonecraft, die in den Geschichtswerken bisher vernachlässig oder gänzlich ignoriert wurden. Viele der großen Philosophen wie Aristoteles, Kant oder Hegel gelten heute als Rassisten. Daher werden Forderungen nach einer Dekolonialisierung der Philosophie laut (Maldonado-Torres et al. 2018). Erst jüngst wurde die Dissertation von Anton Wilhelm Amo, des ersten schwarzafrikanischen Philoso­ phen, der 1734 in Deutschland promovierte, ins Englische übersetzt (Amo 2020). Wie könnte ein dekolonialisierter Kanon philosophischer Werke aussehen? Eine Philosophiegeschichte ohne Platon und Aristoteles, weil sie die Sklaverei verteidigten? Die Sklaverei galt in der Antike als naturgegeben – eine Auffassung, die nicht nur Platon und Aristoteles teilten. Also antike Philosophen gänzlich ignorieren? Im Mittelalter

186 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

war Philosophie ausschließlich eine Männerdomäne. Frauen wie Hil­ degard von Bingen oder Mechthild von Magdeburg werden in Werken der Philosophiegeschichte allenfalls am Rande erwähnt. Muss man die mittelalterliche Philosophie daher als frauenfeindlich betrachten? Und wie steht es mit der Neuzeit? Der Rassismus war bis ins 19. Jahr­ hundert gängige Lehrmeinung und gesellschaftlich akzeptiert. Auf­ grund dieses systemischen Rassismus haben sich auch Philosophen, die sich damals nicht rassistisch äußerten oder sich verächtlich über fremde Kulturen ausließen, in den Augen postkolonialer Denker zumindest einer moralischen Komplizenschaft schuldig gemacht, was sie disqualifiziert. Kann wenigstens Friedrich Nietzsche, der Urvater postmoderner Philosophie, in einen politisch korrekten Kanon auf­ genommen werden? In seiner Schrift »Der griechische Staat«, einer Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch aus dem Jahr 1872, finden sich Sätze wie z. B. »dass zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre« (Nietzsche 1999, Bd. 1, S. 767) oder »daß der Krieg für den Staat eine ebensolche Nothwendigkeit ist, wie der Sklave für die Gesellschaft« (ebd., S. 774). Auch Nietzsche dürfte damit zu einer persona non grata werden. Allzu viele Philosophen werden nach einer solchen Säuberungswelle nicht mehr übrig bleiben. Der Postkolonia­ lismus macht den Fehler, die Geschichte aus der heutigen moralischen Perspektive zu bewerten und diese Sichtweise als überzeitlich gültigen Wertmaßstab anzulegen. Es gehört zu den Aporien der Postmoderne, dass kleine Erzählungen plötzlich einen Absolutheitsanspruch erhe­ ben und zu universellen Wahrheiten werden, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

9. Aporien der Postmoderne Die postmoderne Philosophie befindet sich in einer paradoxen Situa­ tion: Einerseits kritisiert sie die großen Erzählungen der Aufklärung und fordert einen Verzicht auf Metanarrative mit universellem Gel­ tungsanspruch, andererseits beansprucht sie mit ihrer Kritik eine Deutungshoheit, die sie selbst zu einer Meta-Erzählung macht: »Indeed, does not the very concept of postmodernity, or a postmodern condition, presuppose a master narrative, a totalizing perspective, which envisages the transition from a previous stage of society to a new one? [...] Therefore, does not the very concept of ›postmod­ ern‹ seem to presuppose both a master narrative and some notion of

187 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

totality, and thus periodizing and totalizing thought – precisely the sort of epistemological operation and theoretical hubris that Lyotard and others want to renounce?«(Best, Kellner 2003, S. 297) In der Pluralität verschiedener Sprachspiele sollten eigentlich alle philoso­ phischen Strömungen gleichberechtigt nebeneinander existieren. Keine Idee sollte so dominant werden, dass sie andere Diskurse beherrscht. Entgegen dieser Forderung hat sich das postmoderne Denken inzwischen in weiten Bereichen der Philosophie und Kultur­ wissenschaften als vorherrschendes Paradigma etabliert, übt dadurch Diskursmacht aus und marginalisiert andere Strömungen. Jürgen Habermas hat diesen pragmatischen Widerspruch zwischen Relati­ vismus und Geltungsanspruch der Postmoderne richtig erkannt: »Denn die Behauptung der Inkommensurabilität der verschiedenen Paradigmen und der darin eingelassenen ›Rationalitäten‹ ist schwer mit der hyperkritischen Einstellung der postmodernen Theoretiker selbst zu vereinbaren.« (Habermas 1988, S. 222) Denn der Relativismus hat seinen Preis: Es gibt keinen überge­ ordneten Standpunkt, von dem aus man andere Diskurse kritisieren kann (Zoglauer 2021, S. 53 f.). Der Relativist bleibt in seiner eigenen Perspektive gefangen und kann sich kein Urteil über andere philoso­ phische Perspektiven erlauben. Er verfügt nicht über eine objektive Adlerperspektive, sondern kann die Welt immer nur aus seiner sub­ jektiven Froschperspektive betrachten. Der Relativist macht sich damit kleiner als er eigentlich sein will. Foucaults Diskurstheorie läuft auf einen Relativismus hinaus, nach dem Wahrheit ein diskursimmanentes Phänomen und das Pro­ dukt von Machtverhältnissen ist (Prado 2006, S. 82 ff.): »In short, the criterial idea is that truth is discourse-relative; the constructivist idea is that the power relations that generate and define discourses produce truths.«(Prado 2006, S. 84) Außerhalb des Diskurses gibt es keine Wahrheit: »Beliefs and sentences do not match up to anything extra­ linguistic in being true, whether ›nonlinguistic counterparts‹, or reified facts. For Foucault, what determines sentences as true is entirely internal to discourse and consists of the practices that allow certain things to be said and disallow certain other things being said. «(Prado 2006, S. 126) Wahrheit wird so zu einem sozialen Phänomen, das nur innerhalb sozialer Gemeinschaften existiert und durch Dis­ kursregeln und Machtverhältnisse konstituiert wird (Prado 2018, S. 7). Das heißt aber auch: Es gibt nur eine intersubjektive Gruppen­ wahrheit und keine individuelle oder gar objektive Wahrheit (Prado

188 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

2018, S. 5). Ähnlich wie Prado vertritt auch Martin Kusch einen sozia­ len Relativismus und betrachtet die soziale Gemeinschaft als die oberste Instanz und Richterin über Wahrheitsfragen: »The accepted beliefs of a community cannot be false if by ›being false‹ we mean something like ›false independently of what anyone says or thinks‹.« (Kusch 2002, S. 249) Es gibt daher so viele Wahrheiten, wie es Dis­ kurse gibt. Evidenzen und wissenschaftliche Tatsachen spielen keine Rolle, da allein die diskursiven Praktiken innerhalb der sozialen Gruppe festlegen, was als Tatsache anerkannt wird und was nicht. Gelegentlich wird sogar gefordert, die Wahr-Falsch-Dichotomie aufzugeben: »Indeed, one of the conditions of postmodernist sensib­ ility must be the refusal to prescribe some discourses as essentially und unchallengeably True, and to proscribe others as irredeemably False.«(Boyne, Rattansi 1990, S. 34) Aber was soll an die Stelle von Wahrheit treten? Etwa subjektive Meinungen oder gefühlte Wahr­ heiten? Es wird manchmal gesagt, wir lebten in einem postfaktischen Zeitalter, in dem Wahrheit und Fakten keine Rolle mehr spielen und alles sozial konstruiert ist. Im Grunde genommen fördert die post­ moderne Philosophie einen solchen Postfaktualismus (Cosentino 2020, S. 18; D’Ancona 2017, S. 96; McIntyre 2018, S. 150). Wahrheit wird auf Macht zurückgeführt (Susen 2015, S. 43). Ändern sich die Machtverhältnisse, ändern sich auch die Wahrheiten. So schreibt Michel Foucault: »The important thing here, I believe, is that truth isn’t outside power, or lacking in power. [...] Each society has its régime of truth, its ›general politics‹ of truth: that is, the types of discourse which it accepts and makes function as true; the mechanisms and instances which enable one to distinguish true and false statements, the means by which each is sanctioned; the techniques and procedures accorded value in the acquisition of truth; the status of those who are charged with saying what counts as true.«(Foucault 1980, S. 131)

In der postmodernen Erkenntnistheorie wird Wahrheit von der Wirk­ lichkeit abgekoppelt und in das Gehäuse der Sprache verbannt. Eine Aussage ist nicht wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sondern wenn sie im Diskurs als wahre Aussage anerkannt wird. Die Diskursgemeinschaft und insbesondere die Machtverhältnisse innerhalb der Gemeinschaft bestimmen, ob eine Aussage wahr oder falsch ist. So kann eine Aussage im wissenschaftlichen Diskurs wahr, in einem Verschwörungsdiskurs dagegen falsch sein.

189 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Ein Historiker kann somit keinen Objektivitäts- und Wahrheits­ anspruch erheben und erklären, was »wirklich« geschehen ist. Er kann historische Ereignisse immer nur aus der Gegenwartsperspektive und in seinem sozialen und kulturellen Kontext interpretieren und bewerten. Auch Ideologiekritik ist ideologisch kontaminiert, weil sie eine Ideologie immer nur aus der Perspektive einer anderen Ideologie kritisieren kann. Rüsen (2002) glaubt, Objektivität durch Intersubjektivität erset­ zen zu können. Eine Behauptung ist intersubjektiv wahr, wenn sie von einer Gemeinschaft als wahr anerkannt wird. Rüsen (2002, S. 117) schreibt: »Objektivität heißt, daß die historische Erfahrung im Hin­ blick auf diese drei Hinsichten (Konstitution, Adressierung und prak­ tische Funktion) so interpretiert werden kann, daß es gute Gründe dafür gibt, eine historische Erzählung zu akzeptieren und eine andere zurückzuweisen.« Was hier mit Objektivität gemeint ist, ist nichts anderes als intersubjektive Zustimmung. Diese Auffassung von Objektivität führt unweigerlich zu einem Relativismus. Denn eine Erzählung kann von einer Gruppe von Historikern als wahr aner­ kannt, von einer anderen Diskursgemeinschaft dagegen abgelehnt werden. Damit steht ein Urteil gegen ein anderes. Eine Auflösung des Dissenses ist nicht möglich. Auch was »gute Gründe« sind, lässt sich immer nur diskursimmanent entscheiden. Dies kann dazu führen, dass es so etwas wie »alternative historische Fakten« gibt, so als ob die Diskursgemeinschaften in alternativen Wirklichkeiten lebten. So mögen die Trump-Anhänger davon überzeugt sein, dass die US-Prä­ sidentschaftswahl 2020 gefälscht wurde, während nach offizieller Lesart Joe Biden die Wahl gewonnen hat. Die Reduktion von Objek­ tivität auf Intersubjektivität führt zu einer Zersplitterung der Wirk­ lichkeit. Wenn die Welt tatsächlich aus verschiedenen epistemischen und normativen Perspektiven wahrgenommen werden kann, die alle gleichberechtigt sind und keine der anderen überlegen ist, dann ist nicht zu verstehen, warum die eurozentrische Perspektive falsch sein soll. Alison Stone (2017, S. 91) definiert Eurozentrismus »as the view that Europe is more advanced than the rest of the world and stands at the centre und summit of history«. Dieser Überlegenheitsanspruch der europäischen Kultur wird heute nicht mehr geteilt. Im Gegenteil: Der Eurozentrismus wird als überheblich, kolonialistisch, hegemonial und imperialistisch kritisiert. Ihm wird ein falsches Geschichtsbild vorgeworfen, das auf der Vorstellung einer historischen kulturellen

190 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Höherentwicklung beruht. Samir Amin (2009, S. 168) betont die ori­ entalischen Wurzeln der antiken griechischen Kultur. Und Rajani Kanth (2005, S. 53) glaubt, dass alle europäischen Errungenschaften der Aufklärung bereits von anderen Kulturen vorweggenommen wor­ den seien. Aber wenn jede Wertung perspektivisch ist, aus welcher Per­ spektive wird diese Wertung vorgenommen? Die Kritik am Eurozen­ trismus wird zumeist von Vertretern ehemaliger Kolonialstaaten vor­ gebracht, also aus einer anderen kulturellen Perspektive. Ein solches transkulturelles Werturteil ist jedoch nur dann möglich, wenn es kul­ turübergreifende universelle Werte gibt, die für alle Kulturen gelten – eine Annahme, die im postmodernen Denken eigentlich abgelehnt wird. Denn der moralische Universalismus wird als ein Erbe der Auf­ klärung betrachtet und ist somit kolonialen Ursprungs. Damit befin­ det sich die postkoloniale Philosophie in einem Dilemma: Entweder bekennt sie sich zu universellen moralischen Werten wie Gerechtig­ keit, Freiheit von Diskriminierung und Unterdrückung, dann kann sie dem Eurozentrismus diesen Universalismus nicht zum Vorwurf machen und der Aufklärungskritik wäre der Boden entzogen. Oder aber sie beharrt auf einer kulturrelativistischen Position, dann kann man den Eurozentrismus jedoch nicht aus einer anderen kulturellen Perspektive kritisieren. Gerard Delanty (2018) zeigt, dass viele Kri­ tiker des Eurozentrismus an europäischen und US-amerikanischen Schulen und Universitäten ausgebildet wurden und somit selbst euro­ zentrisch sozialisiert wurden. Die Kritik am Eurozentrismus hat ihre Wurzeln in der Aufklärung und kann daher ihre europäische Herkunft nicht verleugnen: »I am arguing, then, that the critique of Eurocen­ trism is already part of the European heritage in so far as this is carried by particular social actors at specific times and places.«(Delanty 2018, S. 80) Delanty (2018, S. 67 ff.) führt weiter aus, dass die Philosophen der Aufklärung schon immer kosmopolitisch und damit kritisch gegenüber der eigenen Kultur eingestellt gewesen seien. Die Werte, die von postkolonialen Kritikern hochgehalten werden, wie Huma­ nität, Toleranz, Gleichheit aller Menschen, sind europäischen Ursprungs. Es ist naiv zu glauben, mit der Überwindung der Aufklärung und der Beseitigung der damit einhergehenden hegemonialen Machtver­ hältnisse werde alles besser. Bereits Nietzsche wies darauf hin, dass mit einer Umwertung der Werte Ungerechtigkeit und Unterdrückung nicht verschwinden. Vielmehr erzeuge ein Sklavenaufstand der Moral

191 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

neue Machtverhältnisse und neue Ungerechtigkeiten. Denn auch die Rebellion im Namen der Moral werde durch einen Willen zur Macht angetrieben: »Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch sie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch ihr›Reich‹ kommen.« (Nietzsche 1999, Bd. 5, S. 283) Nietzsche bezeichnet das Verlangen nach Freiheit, Unabhängigkeit, Gleichge­ wicht und Frieden als eine »maskierte Art des Willens zur Macht« (Bd. 12, S. 275). Die hegemonialen Machtverhältnisse verschwinden nicht einfach, sie verändern sich lediglich und nehmen andere Formen an. Im Zentrum postmoderner Kritik steht eine Meta-Erzählung, die als überkommenes Relikt der Aufklärung betrachtet wird: die Vor­ stellung eines immerwährenden kulturellen Fortschritts. Amy Allen (2016, S. 3) sieht im Fortschrittsnarrativ »the language of oppression and domination for two-thirds of the world’s people«. Allen macht die Annahme einer überlegenen europäischen Kultur, deren Vorbild alle anderen Kulturen zu folgen hätten, für den Kolonialismus und Impe­ rialismus verantwortlich. Sie schreibt: »the notion of historical progress as a ›fact‹ is bound up with complex relations of domination, exclusion, and silencing of colonized and racialized subjects« (Allen 2016, S. 19). Allen unterscheidet einen rückwärtsgewandten histori­ schen Fortschrittsbegriff und einen vorwärtsgewandten moralischpolitischen Fortschrittsbegriff. Vereinfacht gesagt ist nach Allen nur ein moralisch-politischer Fortschritt gut und erstrebenswert, der his­ torische eurozentrisch geprägte Fortschrittsbegriff dagegen schlecht, weil er mit dem kolonialen, rassistischen und imperialistischen Erbe der Aufklärung belastet sei. Allen will die eurozentrische Denkweise überwinden, die Philosophie dekolonialisieren und von der Vorstel­ lung befreien, dass die ganze Welt nur dem westlichen Vorbild nach­ zueifern brauche, um Fortschritt zu erzielen. Jedoch kommt in der postkolonialen Kritik die grundlegende Aporie der Postmoderne wieder zum Vorschein: Einerseits lehnt Allen die Vorstellung eines historischen Fortschritts ab, andererseits ist sie von der moralischen Überlegenheit postkolonialer Theorie so sehr überzeugt, dass sie glaubt, durch sie werde die Welt besser und könne von den Übeln des Rassismus und der Unterdrückung befreit werden. Wenn das postkoloniale Projekt Erfolg hat, wäre damit tatsächlich ein großer historischer Fortschritt erzielt. Das heißt: Allen kann gar nicht auf den historischen Fortschrittsbegriff verzichten. Sie will ihn sogar, sie sehnt ihn herbei. Denn der vorwärts- und rückwärtsgerich­

192 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

tete Fortschrittsbegriff sind untrennbar miteinander verbunden. Der Unterschied ergibt sich lediglich aus der zeitlichen Perspektive. Jede Verbesserung der politischen und sozialen Zustände erscheint rück­ blickend betrachtet als ein historischer Fortschritt. Man kann daher keinen Zukunftsfortschritt ohne Vergangenheitsfortschritt wollen. Allein schon die Kritik am Fortschrittsnarrativ der Aufklärung impli­ ziert einen Überlegenheitsanspruch der eigenen Position. Denn der Anspruch der postmodernen Philosophie besteht ja gerade darin, die Fehler der Moderne zu vermeiden und eine bessere Philosophie zu ver­ treten. Lyotard und Allen können daher einen historischen Fortschritt nicht leugnen, weil sie sich selbst auf der Seite des Fortschritts sehen.

10. Gibt es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte? Trotz ihrer inneren Widersprüche liefert die postmoderne Philosophie einige gute Argumente für eine fortschrittsskeptische Haltung. Denn ein historischer Fortschritt lässt sich immer nur in Bezug auf und rela­ tiv zu einem Wertmaßstab feststellen. Wertungen sind jedoch stets perspektivisch und damit bis zu einem gewissen Grad auch subjektiv. Je nachdem, welches Fortschrittskriterium zugrunde gelegt wird, lässt sich die Frage, ob es einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte gibt, unterschiedlich beantworten. Einschätzungen und Werte können sich ändern. Philosophen, die man früher für bedeutsam gehalten hat, können später in Vergessenheit geraten und wenig bekannte Philosophen, die lediglich ein Schattendasein in der akademischen Aufmerksamkeit fristen, können nach ihrem Tod als Vordenker und Wegbereiter einer neuen philosophischen Strömung gefeiert werden. Wer entscheidet, welche Philosophen, Theorien und Schulen Eingang in philosophiehistorische Lehrbücher finden? Philosophiegeschichte wird nicht fertig vorgefunden, sie wird gemacht und ist das Resultat einer Rezeptionsgeschichte. Ich möchte dies an einem Beispiel erläutern. Als Schopenhauer nach seiner Habilitation an der Berliner Universität zur selben Zeit wie Hegel seine Vorlesungen anbot, erlebte er eine große Enttäu­ schung. Während bei Hegel das große Publikum in den Hörsaal strömte, erschienen bei Schopenhauer nur wenige Studenten, sodass er in den folgenden Semestern seine Vorlesungen ausfallen lassen und seine Lehrtätigkeit aufgeben musste (Fischer 2010, S. 100). Sein Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« fand anfangs nur

193 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

wenige Leser. Von seinem Verleger erhielt er die Auskunft, dass wegen mangelnder Verkaufszahlen ein großer Teil der ersten Auflage eingestampft wurde (Spierling 1998, S. 27 f.). Man könnte sagen, die Zeit sei noch nicht reif für seine Philosophie gewesen. Denn bereits nach Hegels Tod hat sich der Wind gedreht, die Hegel’sche Philosophie wurde zwischen Links- und Rechtshegelianern förmlich zerrieben, die fortschrittsoptimistische Einstellung des Deutschen Idealismus verlor ihre Anziehungskraft, es breitete sich eine pessimistische Grundstim­ mung aus und machte den Weg frei für Schopenhauers Philosophie. Seine Bücher fanden plötzlich reißenden Absatz, sodass er sich schließlich über die Komödie seines späten Ruhms freuen konnte. Das Ansehen und die Karriere eines Philosophen hängen von vielen kontingenten Faktoren ab: z. B. vom wechselhaften Zeitgeist, vom Publikumsgeschmack, vom citation index, welche Philosophie man vertritt, welcher »Schule« man angehört, der Größe der Anhän­ gerschaft, der Anzahl verkaufter Bücher, ob man Förderer hat oder ob man ein Mann oder eine Frau ist. Man könnte mit Foucault sagen: Die Machtverhältnisse bestimmen, wer Karriere macht. In die­ ser wissenschaftssoziologischen Betrachtungsweise wird Fortschritt sozial konstruiert. Aber auch in der analytischen Philosophie werden fortschritts­ kritische Positionen vertreten. Eric Dietrich (2011, S. 332) behauptet, dass die Philosophie seit ihren Anfängen keinen Schritt vorangekom­ men sei: »Philosophy does not even stumble forward. Philosophy does not move forward at all. It is exactly the same today as it was 3000 years ago; indeed, as it was from the beginning.«Nach einer weit verbreiteten Auffassung gibt es nur in den Naturwissenschaften einen Fortschritt, aber nicht in den Geisteswissenschaften. Peter van Inwagen (2004) sieht den zentralen Unterschied zwischen Physik und Philosophie darin, dass physikalische Fragestellungen in der Regel nur eine mögliche Antwort zulassen, während es unter Philo­ sophen große Differenzen und Meinungsunterschiede gebe, die eine Konsensfindung bei Streitfragen erschweren oder verhindern: »Disagreement in philosophy is pervasive and irresoluble. There is almost no thesis in philosophy about which philosophers agree. [...] But there is in physics a large body of settled, usable, uncontroversial theory and of measurements known to be accurate within limits that have been specified.«(van Inwagen 2004, S. 334 f.)

Bereits David Hume (1989, S. 1 f.) beklagte die immerwährenden Streitigkeiten in der Philosophie: »Nichts gibt es, das nicht einen

194 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Streitpunkt bildete oder worüber die Ansichten der Gelehrten nicht auseinandergingen. Die geringfügigste Frage ist Gegenstand von Kontroversen, und in den wichtigsten können wir keinen sicheren Entscheid treffen.« Sextus Empiricus (1993, S. 140 f.) stellte den skep­ tischen Grundsatz auf, dass jedem Argument ein gleichwertiges ent­ gegensteht. David Chalmers (2015, S. 5) greift dieses Argument der Meinungsverschiedenheit auf und vertritt die These: »There has not been large collective convergence to the truth on the big questions of philosophy.«Chalmers begründet seine These empirisch und verweist auf eine Umfrage, bei der Philosophen von verschiedenen Universi­ täten zu den großen Themen der Philosophie, wie z. B. zum LeibSeele-Problem, zur Frage nach der Willensfreiheit, zur Ethik, Erkenntnistheorie und politischen Philosophie, Stellung nehmen mussten. Zu 30 Fragen wurden Multiple-Choice-Antworten vorge­ geben, z. B. ob man Empirist oder Rationalist ist, ob man eine deon­ tologische Ethik, einen Konsequenzialismus oder eine Tugendethik vertritt oder ob man an einen moralischen Realismus oder Anti-Rea­ lismus glaubt. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen: In keiner dieser Fragen gibt es unter den befragten Philosophen Einigkeit oder lässt sich auch nur annähernd ein Konsens ausmachen. Die Philosophen­ gemeinschaft ist in konkurrierende Strömungen und Schulen gespal­ ten, weil philosophische Probleme die Grundlagen menschlicher Exis­ tenz betreffen und derart allgemeiner Natur sind, dass sie nicht eindeutig lösbar sind. Chalmers bezweifelt nicht, dass beispielsweise Platon, Aristote­ les, Hume, Kant oder Russell große Philosophen waren und somit einen Erkenntnisfortschritt im Vergleich zu ihren Vorgängern erzielt haben. Chalmers ist lediglich skeptisch im Hinblick auf den zukünf­ tigen Fortschritt im Sinne einer Wahrheitskonvergenz und wundert sich darüber, warum es nicht mehr Fortschritt in der Philosophie gibt. Wenn es nämlich eine solche Konvergenz in der philosophischen For­ schung gäbe, müssten die Differenzen und Meinungsverschiedenhei­ ten in Zukunft kleiner werden im Sinne von Peirces Approximations­ theorie der Wahrheit, nach der Wahrheit als diejenige Meinung zu verstehen ist, »der es schicksalhaft bestimmt ist, zuletzt von allen Forschern bejaht zu werden« (Peirce 1985, S. 75). Chalmers Argument ist induktiver Natur: Wenn es heute und in der Vergangenheit keine Einigkeit in den zentralen Problemen und Fragen der Philosophie gibt oder gab, könne man auch in Zukunft keine Einigkeit und keine Klä­ rung dieser Fragen erwarten.

195 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Nicholas Rescher (2006, S. 124) sieht den Grund für den unaufhebbaren Dissens im dialektischen Wesen philosophischer Probleme: »philosophical issues are always such that arguments of substantial prima facie cogency can be built up for a cluster of mutually incompatible theses«. Viele philosophische Probleme haben aporeti­ schen Charakter. Dennoch betrachtet Rescher den fehlenden Konsens nicht als Hindernis für einen philosophischen Fortschritt. Vielmehr könnten im philosophischen Diskurs Begriffe geschärft, neue Argu­ mente entwickelt und das Verständnis vertieft werden: »Constant innovations provide new vistas of consideration, new issues and pro­ blems, new and deeper arguments, more subtle distinctions, more adequately elaborated systems, and so on.« (Rescher 1985, S. 206) Gegen Chalmers Überlegung lässt sich einwenden, dass er einen zu strengen Maßstab an den philosophischen Fortschritt anlegt. Denn Philosophie ist keine Naturwissenschaft. Bei ihr gibt es kein empiri­ sches Korrektiv, an dem Vermutungen und Hypothesen überprüft werden können. Philosophische Fragestellungen und Probleme sind daher nicht eindeutig entscheidbar. Es gibt nicht die eine philosophi­ sche Wahrheit, die durch eine Wesensschau entdeckt werden kann. Philosophische Thesen und Theorien zeichnen sich vielmehr durch interpretatorische Mehrdeutigkeit aus. Durch die Philosophie kann man keine Wahrheiten erkennen. Sie hat lediglich eine Orientie­ rungsfunktion, mit deren Hilfe wir uns in einer komplexen Welt zurechtfinden können. Chalmers spricht von einer »convergence to the truth« und bezieht sich dabei auf eine Approximationstheorie der Wahrheit. Demnach gibt es eine feststehende Wahrheit, der wir durch den For­ schungsprozess schrittweise näher kommen können. Popper (1979b) spricht von Wahrheitsähnlichkeit (verisimilitude) und glaubt, den Wahrheitsgehalt bzw. die Wahrheitsnähe einer Aussage bestimmen zu können. Jedoch ist diese Theorie höchst umstritten, weil wir erstens die Wahrheit nicht kennen und damit auch den »Abstand« einer Hypothese zur Wahrheit nicht bestimmen können und zweitens kann Popper nicht überzeugend darlegen, warum unsere naturwissen­ schaftlichen Theorien überhaupt gegen eine »wahre Theorie« kon­ vergieren sollen (Zoglauer 2021, S. 96). Wenn die Approximations­ theorie der Wahrheit schon in den Naturwissenschaften nicht hält, was sie verspricht, so kann sie erst recht nicht auf die Philosophie übertragen werden. Es scheint so, als ob Chalmers die Messlatte für Wahrheitsähnlichkeit so hoch legt, dass die Möglichkeit eines philo­

196 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

sophischen Fortschritts von vornherein ausgeschlossen ist. Zudem haben induktive Argumente den Nachteil, dass sie ihre Schlussfolge­ rung nur plausibel machen, aber nicht beweisen können. Denn wenn zwei Menschen unterschiedlicher Meinung sind, heißt das nicht, dass es keine Möglichkeit gibt, sich zu einigen oder die Wahrheit heraus­ zufinden. Jessica Wilson (2017) argumentiert ähnlich wie Chalmers. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften gebe es in der Philosophie keine festen Standards: »I suggest that the lack of fixed standards in philosophy is the key here. In other argumentative and technical fields, the standards are com­ paratively fixed: the case is closed, the hypothesis is confirmed. In phi­ losophy, however, our standards consist of a fuzzy and diverse array of methodological principles, along with numerous flexibly ranked and weighted theoretical desiderata.«(Wilson 2017, S. 101)

Wilson unterscheidet zwischen einem vertikalen und einem horizon­ talen Fortschritt. Ein vertikaler Fortschritt findet innerhalb eines Para­ digmas statt. Kuhn zufolge folgt die normale Wissenschaft einer durch den theoretischen Rahmen eines Paradigmas vorgegebenen Metho­ dologie des Rätsellösens. Die Regeln des Paradigmas legen fest, was man tun muss, um ein Problem zu lösen und zu bestimmen, wann ein Problem gelöst ist. Daher führt die normale Forschung stets zu einem wissenschaftlichen Konsens. Anders dagegen bei der außerordentli­ chen Forschung. Hier werden neue Paradigmen getestet, neue Theo­ rien entwickelt und die Wissenschaftler können aus einer Vielzahl verschiedener Methodologien und Forschungsansätze wählen. Wil­ son spricht von einem horizontalen Fortschritt, der in einem Zuwachs an Pluralität und Diversität besteht, wobei diese größere Freiheit eigentlich keinen echten Fortschritt darstellt, weil Meinungsverschie­ denheiten bestehen bleiben. Dies entspricht der postmodernen Auf­ fassung von Philosophie und Wissenschaft. Der postmoderne Philo­ soph ist wie ein Seefahrer, der in einem unbegrenzten Ozean der Möglichkeiten navigiert und frei ist, einen beliebigen Kurs einzu­ schlagen und ein Ziel anzusteuern (Susen 2015, S. 142). Aufgrund der Inkommensurabilität der Paradigmen gibt es keine festen Standards und Maßstäbe, um beurteilen zu können, welche von zwei konkur­ rierenden Theorien besser ist. Wilson behauptet nicht, dass es keinen Fortschritt in der Philosophie gibt. Ihrer Meinung nach entwickelt sich die Philosophie sowohl horizontal als auch vertikal. Jedoch sieht sie

197 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

im Fehlen fester Standards ein wesentliches Hindernis für den Fort­ schritt. Wenn wir einen Fortschritt in der Philosophiegeschichte nach­ weisen wollen, sollten wir uns nicht an den Naturwissenschaften orientieren und stattdessen weniger strenge Fortschrittskriterien zugrunde legen. Ich will im Folgenden einige mögliche Kriterien aufzählen, ohne eines davon zu priorisieren. Vielmehr will ich die These vertreten, dass in der Philosophie eine ganze Reihe verschiedener Auffassungen von Fortschritt denkbar sind, wobei jede dieser Auffassungen einen bestimmten Aspekt philosophischen Denkens hervorhebt. Man wird in der Geschichte der Philosophie keinen universellen zielgerichteten Fortschritt nachweisen können, der linear und kontinuierlich voranschreitet, wie er allenfalls in den Naturwissenschaften möglich ist. Als mögliche Fortschrittskriterien kommen infrage: Originalität bzw. Innovationskraft, Spezialisierung, Nähe zu den Fachwissenschaften, begriffliche Präzisierung, Problem­ lösung, Systematizität. Die hier vorgestellten Kriterien werden nicht auf alle Bereiche der Philosophie anwendbar sein. Der Fortschritt wird immer nur ein relativer Fortschritt sein, der auf bestimmte Zeiträume, Traditionslinien und Disziplinen beschränkt ist. Dieser bescheidene Fortschritt wird bestenfalls mehr als ein bloßes Herum­ tappen unter bloßen Begriffen sein, aber er wird die Philosophie nicht wie die Mathematik oder Physik auf den sicheren Gang einer Wissenschaft führen. Nach Stephen Hetherington (2018, S. 6 f.) zeichnet sich ein gro­ ßer Philosoph durch Originalität und Innovationskraft aus. In den Texten bedeutender Philosophen finden sich viele neue Gedanken, Thesen, Theorien oder ganze Systementwürfe. Aristoteles begrün­ dete die Logik, Physik und Biologie als Wissenschaften und leistete zu jedem Teilgebiet der Philosophie (Metaphysik, Erkenntnistheorie, Naturphilosophie, Ethik, politische Philosophie) wichtige Beiträge. Seine Werke wurden in jeder Epoche der Philosophie neu interpretiert und besitzen eine fast zeitlose Aktualität. Die scholastische Philoso­ phie bestand zum großen Teil aus Kommentaren zu seinen Werken. Große Philosophen zeigen neue Wege auf, üben einen prägenden Einfluss auf die weitere philosophische Entwicklung aus und wirken schulbildend. Otfried Höffe (2011, S. 14) schreibt, dass kein Werk das Denken so nachhaltig verändert habe wie Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Der Deutsche Idealismus, die Philosophie Schopenhauers und der Neukantianismus wären ohne Kant nicht denkbar gewesen.

198 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Ähnliches gilt für Ludwig Wittgenstein und seinen Einfluss auf die moderne Sprachphilosophie und analytische Philosophie. Er beein­ druckte bereits als Student seinen Lehrer Bertrand Russell, die Ver­ treter des Wiener Kreises bewunderten ihn und mit den »Philosophi­ schen Untersuchungen« begann die sprachpragmatische Wende (»linguistic turn«), deren Wirkung weit über die Philosophie hinaus ausstrahlte. Die Liste der Philosophen, die in ihrem Denken von Wittgenstein beeinflusst wurden, liest sich wie ein Who’s Who der modernen Philosophie: Elisabeth Anscombe, John Langshaw Austin, Alfred Jules Ayer, Max Black, Donald Davidson, Michael Dummett, Peter Geach, Paul Grice, Peter Michael Stephan Hacker, Richard Hare, Saul Kripke, Willard van Orman Quine, Frank Plumpton Ramsey, Gilbert Ryle, Peter Strawson, Friedrich Waismann, Peter Winch, Georg Henrik von Wright, um nur einige zu nennen. Selbst postmo­ derne Philosophen wie Jean-François Lyotard berufen sich auf Witt­ gensteins Sprachspieltheorie. Die Rezeptionsgeschichte wird, wie bereits gesagt, oftmals von den Launen des Zeitgeists bestimmt und ist daher kein zuverlässiger Indikator für philosophische Größe. Aber die drei genannten Philosophen dürften keine so große Wirkung auf die Nachwelt gehabt haben, wenn sie nicht auch bedeutende Beiträge zur Philosophie geleistet hätten. Die zunehmende Spezialisierung und disziplinäre Auffächerung tragen ebenfalls zu einem Fortschritt bei, durch den die Philosophie neue Anwendungsfelder erschließt und somit an Aktualität gewinnt. Das beste Beispiel für den fortschreitenden Spezialisierungsprozess ist die rasante Vermehrung der sogenannten Bereichsethiken in den letzten Jahrzehnten, wie z. B. Medienethik, Umweltethik, Tierethik, Klimaethik, Neuroethik, Roboterethik oder feministische Ethik. Die Ethik reagiert auf Gegenwartsprobleme und belegt damit ihre Lebens­ nähe und praktische Anwendbarkeit. Dies gilt nicht nur für die Ethik. Eine auf den ersten Blick so »lebensferne« Disziplin wie die Meta­ physik beschäftigt sich mit Konzepten wie Willensfreiheit und per­ sonaler Identität, die in der praktischen Philosophie von grundlegen­ der Bedeutung sind. Ontologische Konzepte wie Haecceitas, Tropen oder das Leibniz’sche Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren finden heutzutage sogar in der Quantentheorie Anwendung (Kuhl­ mann 2010). Andererseits befördert dieser Trend zur Spezialisierung auch eine Nischenbildung, bei der sich jeder Wissenschaftler nur mit seinem Interessengebiet beschäftigt und keinen Überblick über andere Fachgebiete hat (Wilson 2017, S. 94 ff.). Es gibt heute keine

199 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Universalgelehrte mehr wie Leibniz oder Hegel, die noch über einen Gesamtüberblick über den Wissensstand ihrer Zeit verfügten. Der Kontakt zu den Fachwissenschaften war für die Philosophie schon immer wichtig und verlieh ihr neue Impulse für die Forschung. Helmuth Plessner vertritt die These, dass die Philosophie aus eigener Kraft zu keinem Fortschritt fähig sei, sondern nur durch die Berück­ sichtigung fachfremden Wissens »am Fortschritt der Fachwissen­ schaften teilnimmt« (Plessner 2003, S. 189). Philosophischer Fort­ schritt ist demnach stets ein importierter Fortschritt, »weil Gegenstand und Erkenntnisziel der Philosophie einen Fortschritt aus­ schließen«, so Plessner (2003, S. 174). Tatsächlich hat die Philosophie von der Antike bis in die Gegenwart von neuen Erkenntnissen der Psychologie, Soziologie, Anthropologie und den Naturwissenschaf­ ten profitiert. Plessner begründet dies damit, dass es die Fachwissen­ schaften mit echten Problemen zu tun habe, für die es eindeutige Lösungen gebe und eine Methodologie, die zeige, wie man diese Pro­ bleme lösen kann, während die Philosophie sich mit tiefgründigen Rätseln über »die großen Themen des menschlichen Daseins, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, Leben und Tod, Sein und Nichtsein, Natur und Geist« beschäftige (Plessner 2003, S. 180), die nicht eindeutig lösbar seien und für die wir nicht einmal wissen, wie eine Lösung aussehen könnte. Ein Rätsel spricht in einer metaphorischen Sprache, die von Mehrdeutigkeiten lebt. Plessner (2003, S. 188) kommt zu dem deprimierenden Ergebnis, dass Philosophie »resultatlos« sei und »nach dem Maßstab der fortschreitenden Fachwissenschaft eine fruchtlose Mühe« darstelle. Um der Philosophie dennoch zu einem Fortschritt zu verhelfen, richteten die logischen Empiristen die Philosophie streng wissen­ schaftlich aus und übernahmen die Methodologie der Logik und Naturwissenschaften. Moritz Schlick (2013, S. 34 f.) beklagt die »Anarchie der philosophischen Meinungen« und glaubt, dass die wis­ senschaftliche Weltauffassung des Wiener Kreises eine »Wende der Philosophie« herbeiführen könne und über die Mittel verfüge, »die jeden derartigen Streit im Prinzip unnötig machen«. Hierzu müsse die Philosophie jede unklare Ausdrucksweise vermeiden, die Sprache von sinnlosen Sätzen reinigen und sich von der Metaphysik lossagen. »Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und uner­ gründliche Tiefen werden abgelehnt«, heißt es in einem Manifest des Wiener Kreises (Verein Ernst Mach 2013, S. 14). »Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen«, schreibt Ludwig Wittgenstein im

200 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Vorwort zu seinem »Tractatus logico-philosophicus« (1984, Bd. 1, S. 9). Philosophische Fragen, die sich präzise formulieren lassen, las­ sen sich auch eindeutig beantworten und das, was Plessner »Rätsel« nennt, gibt es für Wittgenstein nicht (Tractatus 6.5). Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Wittgenstein (1984, Bd. 1, S. 10) glaubte, »die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben«. Ein Fort­ schritt zeigt sich in der Philosophiegeschichte aber auch darin, dass Wittgenstein (1984, Bd. 1, S. 232) später erkannte, dass das Programm einer Verwissenschaftlichung der Philosophie in eine Sackgasse führt und er »schwere Irrtümer« eingestehen musste, die er im »Tractatus« begangen hatte. Die analytische Philosophie sieht in der Semantik, der Bedeu­ tungsanalyse und einer begrifflichen Präzisierung ein wichtiges methodisches Instrument zur Klärung philosophischer Probleme. Wilhelm Essler (1972, S. 16) sieht »die Verwendung einer Sprache mit möglichst klaren, unzweideutigen und unverwaschenen Begriffen, die intersubjektiv verständlich ist« als eine Voraussetzung des Philoso­ phierens. Ein Philosoph, der nur in Metaphern und Assoziationsket­ ten denkt und dunkel vom »Seyn« und vom »Er-eignis« raunt (Heidegger 2009), ohne erklären zu können, was damit gemeint ist, kann keinen Fortschritt erwarten. Ein Philosoph, der verstanden wer­ den will und andere überzeugen will, muss sich verständlich ausdrü­ cken und seine Aussagen begründen können. Gute Argumente kön­ nen die Philosophie voranbringen. Ein Beispiel, wie ein solcher Fortschritt aussehen kann, liefert die Metaphysik. Die Metaphysik gilt traditionell als schwer verständlich, mystisch und mit Übersinnlichem überfrachtet. Kant (1983, Bd. 5, S. 589) bezeichnete die Metaphysik als »ein uferloses Meer, in wel­ chem der Fortschritt keine Spur hinterläßt, und dessen Horizont kein sichtbares Ziel enthält«. Die Philosophen des Wiener Kreises wollten die Metaphysik sogar abschaffen, weil sie ihnen als Musterbeispiel einer unwissenschaftlichen Disziplin galt, die nur sinnlose Sätze her­ vorbringe. Dennoch kann auch die Metaphysik zu einer begrifflichen Präzisierung philosophischer Positionen beitragen. Ich will dies an einem Beispiel erläutern. Ein immer wiederkehrendes philosophi­ sches Problem ist die Frage nach der Identität von Objekten über zeit­ liche Veränderungen hinweg. Heraklit erkannte als einer der Ersten dieses Problem, als er behauptete, wir könnten nicht zweimal in den­ selben Fluss steigen: »Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben; wir sind und sind nicht.« (Nestle 1922, S. 124) Heraklits

201 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Flussmetapher läuft auf die Frage hinaus, ob ein Fluss nach einer gewissen Zeit noch derselbe ist wie vorher und wie sich die zeitliche Identität von Objekten begrifflich fassen lässt. 2500 Jahre später sind wir einer Beantwortung der Frage zwar immer noch nicht näher gekommen, aber wir können heute das Problem präziser formulieren. Man kann nämlich grundsätzlich zwei Positionen unterscheiden, die in der Metaphysik Perdurantismus und Endurantismus genannt wer­ den. Der Perdurantismus besagt, dass Objekte neben ihrer räumlichen auch eine zeitliche Ausdehnung besitzen und sich über die Zeit erstre­ cken. Sie bestehen somit nicht nur aus räumlichen, sondern auch aus zeitlichen Teilen. Wenn wir einen Fluss betrachten, sehen wir immer nur verschiedene zeitliche Teile des Flusses. Im Endurantismus dage­ gen besitzt ein Objekt keine zeitlichen Teile, sondern ist zu jedem Zeitpunkt dasselbe Objekt (vgl. Tallant 2017, S. 197 ff.). Mithilfe sol­ cher begrifflichen Differenzierungen können wir das Wesen von Raum, Zeit, Identität und Veränderung besser verstehen. Dies stellt einen qualitativen Fortschritt dar, weil die Philosophie damit über ein verfeinertes Begriffsinstrumentarium verfügt, um Phänomene zu beschreiben und den Dingen auf den Grund zu gehen. Plessner sagte, dass es die Fachwissenschaften mit Problemen zu tun haben, die Philosophie dagegen mit Rätseln. Dies entspricht der Auffassung des späten Wittgenstein. Demnach gibt es in der Philo­ sophie nur »puzzles«, die durch einen irreführenden Gebrauch der Sprache entstehen. Im Gegensatz zu Wittgenstein hat Popper eine andere Auffassung von Philosophie. Seiner Meinung nach gibt es echte philosophische Probleme.7 Als Beispiele nennt er das Indukti­ onsproblem, die Frage, ob es aktuale Unendlichkeiten gibt und die Frage nach der Gültigkeit moralischer Regeln (Popper 1979a, S. 176 f.). Man könnte noch das Leib-Seele-Problem, das Realismus­ problem und das Problem der Willensfreiheit hinzufügen, die die Philosophie von der Antike bis heute immer wieder beschäftigt haben. Philosophiegeschichte ist demnach Problemgeschichte und der Fort­ schritt besteht in der Lösung philosophischer Probleme. Dagegen spricht allerdings, dass bis heute keines der erwähnten Probleme end­ gültig gelöst wurde. Vielmehr gibt es eine verwirrende Vielfalt mög­ licher Lösungsvorschläge. Wesley Salmon (1967) zählt allein acht 7 Diese unterschiedliche Auffassung von Philosophie hat auch zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen Popper und Wittgenstein anlässlich eines Vortrags Poppers im Moral Science Club in Cambridge 1946 geführt, über die Popper in seiner Autobiografie (1979a, S. 175–179) berichtet. Vgl. auch Edmonds, Eidinow (2002).

202 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

verschiedene Ansätze zur Lösung des Induktionsproblems auf. John Rawls (2004, S. 46) bemerkt, dass die Lösung eines Problems ver­ schiedene Formen annehmen kann, je nachdem welcher Denkschule ein Philosoph angehört und er schließt daraus: »Also wird es keine einhellig anerkannten Kriterien des philosophischen Fortschritts geben, solange es beim jetzigen Zustand bleibt, in dem verschieden­ artige Systeme philosophischen Denkens existieren.« Jedoch deutet allein die Tatsache, dass einige Probleme in der Geschichte immer wiederkehren, auf eine gewisse Kontinuität philosophischen Denkens hin. Die Themen und Probleme werden immer wieder aus einer ande­ ren Perspektive betrachtet und können auf diese Weise genauer beschrieben werden. Helmut Seiffert (1977, S. 162) wendet gegen eine problemorien­ tierte Rekonstruktion der Philosophiegeschichte ein, dass im Mittel­ punkt philosophischen Denkens keine Probleme, sondern Texte stün­ den. Damit stehen sich zwei konkurrierende Auffassungen von Philosophie unversöhnlich gegenüber: Philosophie als systematische Wissenschaft, die sich mit Problemen beschäftigt, die sie zu lösen versucht, und Philosophie als historische Wissenschaft, bei der es um Texte und deren Interpretation geht. Dem Historiker gehe es um die historisch-hermeneutische Wahrheit und nicht um die systematische Wahrheit, so Seiffert (1977, S. 168 f.). Ob eine Aussage historisch wahr oder falsch ist, kann anhand der vorliegenden Quellen und Dokumente und deren richtiger Interpretation überprüft werden. Seiffert erläutert dies am Beispiel der Frage, ob es synthetische Urteile a priori gibt. Aus systematischer Sicht gibt es zu dieser Frage keine eindeutige Antwort, weil sie davon abhängt, welche philosophische Position man vertritt. Aus historisch-hermeneutischer Sicht steht die Frage in einem historischen Kontext und kann nur in diesem Zusam­ menhang beantwortet werden. Die Antwort ist den Texten zu ent­ nehmen, die sich mit der Frage und ihrer Beantwortung beschäftigen. Kant glaubte, dass es solche Urteile gibt (Kant 1983, Bd. 3, KrV B 14 ff.). Der Satz »Kant schrieb in der ›Kritik der reinen Ver­ nunft‹, dass es in der Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphy­ sik synthetische Urteile a priori gibt« ist historisch wahr. Die logi­ schen Empiristen waren dagegen der Auffassung: Es gibt keine synthetischen Urteile a priori (Verein Ernst Mach 2013, S. 17). Aus historischer Sicht hängt die Antwort davon ab, welchen Text man betrachtet: Kants »Kritik der reinen Vernunft« oder das Manifest des

203 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Wiener Kreises. In gewisser Weise haben beide Schulen im Rahmen ihrer Philosophie recht. Seiffert (1977, S. 164) schreibt: »Denn da es in der Geschichte keinen Fortschritt gibt, kann das, was neuere Philosophen zu dem Thema ›synthetische Urteile a priori‹ sagen, nicht richtiger sein als das, was Kant darüber gesagt hat. Wenn sich hier zwei Philosophen widersprechen, so drücken sie eben jeder die ihrer historischen Situation jeweils adäquate Meinung aus, haben also beide in ihrer Weise recht.«

Nun sind Texte aber nicht immer eindeutig interpretierbar und es ist nicht immer klar, was ein Philosoph mit einer Aussage meint. Das ist der Grund, weshalb so viele Bücher über Kants »Kritik der reinen Vernunft« geschrieben wurden. Jeder Interpret legt den Text anders aus. Selbst wenn man Kant historisch-immanent interpretiert, kommt man nicht umhin, die Bedeutung der zentralen Begriffe »analytisch«, »synthetisch« und »a priori« zu klären. Denn auch Begriffe müssen interpretiert werden. Jonathan Bennett (1966, S. 5 ff.) weist darauf hin, dass Kants Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen keineswegs so klar und eindeutig ist, wie er es darstellt (vgl. Quine 1979, S. 27 ff.). Daher kommt eine historische Interpretation nicht umhin, auch systematische Aspekte zu berücksichtigen. Die Geschichtswissenschaft und die Philosophiegeschichte haben es beide mit Texten und deren Interpretation zu tun. In der Geschichtswissenschaft handelt es sich um historische Dokumente. Der Gegenstand der Philosophiegeschichte sind die Werke und Zeug­ nisse der großen Philosophen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden historischen Disziplinen: Hinter den Quellen der Geschichtswissenschaft stehen reale Ereignisse, auf deren Hintergrund Interpretationen auf ihre Kohärenz und Richtigkeit hin befragt werden können. In der Philo­ sophiegeschichte gibt es kein solches Korrektiv und keine Kriterien für die Richtigkeit einer Interpretation. Oftmals sind philosophische Texte schwer verständlich, sodass sie viele Interpretationsmöglichkei­ ten zulassen. Eine Interpretationseindeutigkeit lässt sich nur herstel­ len, wenn Begriffe präzise definiert, Bedeutungen erklärt, Thesen und Schlussfolgerungen nachvollziehbar begründet werden. Dann und nur dann lässt sich eine historische Wahrheit feststellen. Verweigert sich dagegen ein Philosoph einer verständlichen Sprache, bleiben seine Texte mehrdeutig und beliebig auslegbar. Im Studium der Werke großer Philosophen kann es nicht um his­ torische Authentizität gehen, da wir keinen direkten Zugang zur Ver­

204 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

gangenheit haben. Wir wissen z. B. nicht, was Descartes gedacht hat, als er die »Meditationen« niederschrieb. Bernard Williams schreibt in seinem Buch über Descartes, dass es ihm lediglich darum gehe, »das Denken Descartes’ rational zu rekonstruieren« (Williams 1996, S. ix). Wir können gar nicht anders als Philosophiegeschichte aus der Gegenwartsperspektive zu betrachten und alte Theorien für die heutige Zeit fruchtbar zu machen. Da die meisten Autoren nicht mehr leben, können wir sie nicht nach der historischen Wahrheit fragen. Sie ist ein interpretatorisches Konstrukt. Was uns eigentlich interessiert, ist die systematische Wahrheit. Wenn wir z. B. wissen wollen, ob es eine reale Welt hinter der Welt der Erscheinungen gibt, interessiert uns nicht, was Platon, Kant oder Hegel darüber geschrieben haben. Wir wollen wissen, was wirklich ist. Die Texte der großen Philosophen mögen hilfreiche Hinweise geben, aber die Antwort auf die Frage müssen wir schon selbst finden. Ansonsten würden wir uns in einem historischen Relativismus verlieren, bei dem es zu jeder Frage beliebig viele Antworten gibt, die sich teilweise widersprechen, aber historisch betrachtet alle gleichermaßen wahr sind. Die philosophische Historiografie ist in einem hermeneutischen Dilemma gefangen: Einerseits will man alte Texte möglichst authen­ tisch in ihrem historischen Kontext verstehen, andererseits können wir dies nur aus unserer Sicht, aus der Gegenwartsperspektive, tun und projizieren damit unbewusst unsere Sichtweise in den Text hinein. Laerke (2013, S. 21) plädiert für eine historisch immanente Interpre­ tation: »Developing the meaning of some philosophy ›on its own terms‹ simply means taking departure from an internal perspective. The requirement of understanding past philosophies ›on their own terms‹, or what we can call the requirement of historically immanent reconstruction, implies then that the parameters and guiding principles of the reconstruction must have been formulated from a perspective situated within the historical context of these past philosophers.«

Verstehen ist nach diesem Modell ein Sich-Hineinversetzen in die Gedankenwelt des Autors. Nun können wir in der Zeit nicht rückwärts reisen und erst recht können wir nicht in die Köpfe anderer Menschen hineinschauen. Eine historische Rekonstruktion bleibt daher speku­ lativ. Wir können uns der historischen Wahrheit immer nur unter dem Vorbehalt nähern, dass wir den Text richtig verstehen. Aber um die Wahrheit einer Interpretation zu überprüfen, müssten wir

205 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

die Intention des Autors mit unserer Sichtweise vergleichen, was unmöglich ist. Hans-Georg Gadamer schlägt daher ein anderes Modell histori­ schen Verstehens vor. Für ihn sind zwei Perspektiven maßgebend: der Sinnhorizont des Autors und der Sinnhorizont des Interpreten, die beide unterschiedlichen Zeiten angehören. Was das Textverständnis erschwert, ist der Zeitenabstand (Gadamer 1990, S. 302 ff.). Wir kön­ nen einen historischen Text daher nur dann verstehen, wenn der Ver­ gangenheitshorizont und der Gegenwartshorizont verschmelzen: Verstehen ist »Horizontverschmelzung« (Gadamer 1990, S. 311 f.). Aber auch diese Antwort kann nicht befriedigen. Denn wie soll eine Horizontverschmelzung bewerkstelligt werden, wenn die beiden Horizonte durch einen großen Zeitenabstand voneinander getrennt sind? Das narrative Modell historischen Verstehens wählt den anderen Ausweg aus dem hermeneutischen Dilemma und erweckt gar nicht erst den Anschein, als gäbe es eine objektive historische Wahrheit, weil unsere Interpretationen stets standpunktgebunden sind. Wenn aber die historische Wahrheit ein unerreichbares Ziel ist, bleibt nur noch die Möglichkeit, die systematische Wahrheit zu ergründen. In lehrbuchhaften Darstellungen erhält die Philosophie eine systematische Gestalt, indem sie in verschiedene Teildisziplinen untergliedert wird. Sie wird in theoretische und praktische Philoso­ phie eingeteilt. Die Grundlagendisziplinen Logik, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie bilden gleichsam das Fundament für die angewandten Disziplinen Ethik, Sozialphiloso­ phie, politische Philosophie, Ästhetik etc. Der Bezug zu den Einzel­ wissenschaften wird durch die fachbezogenen Disziplinen hergestellt: Philosophie der Mathematik, Philosophie der Physik, Philosophie der Biologie, Philosophische Psychologie, Philosophische Anthropologie, Technikphilosophie, Religionsphilosophie etc. Und die Bereichsethi­ ken decken die verschiedenen Bereiche menschlichen Handelns ab. In dieser Gliederung drückt sich eine Systematik aus, deren Ordnung und Umfang den Stand der philosophischen Forschung widerspiegelt. Descartes (1992, S. xlii) vergleicht die Philosophie mit einem Baum, »dessen Wurzel die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind«. An den Zweigen hängen die Früchte, die den Nutzen der Philosophie ausmachen. Die Philoso­ phie kann diesen Baum zum Blühen bringen, damit die angewandten Wissenschaften die Früchte ernten können.

206 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Paul Hoyningen-Huene (2013, S. 14) vertritt die These, dass sich das wissenschaftliche Wissen, im Gegensatz zu anderen Wissensfor­ men wie dem Alltagswissen, durch ein hohes Maß an Systematizität auszeichnet. Das Bestreben der Philosophie war schon immer darauf gerichtet, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, unser Wissen über die Welt und uns selbst zu vervollständigen und in eine systematische Ordnung zu bringen. Zwei wesentliche Kennzeichen von Wahrheit sind nach F. H. Bradley (1930, S. 321) Kohärenz (internal harmony) und Vollständigkeit (all-inclusiveness). An anderer Stelle schreibt er: »Truth is an ideal expression of the Universe at once coherent and comprehensive.«(Bradley 1909, S. 492) Je kohärenter und umfassen­ der ein System ist, desto wahrer ist es nach Bradleys Auffassung. Aristoteles war der erste Philosoph, der ein umfassendes philo­ sophisches System entwickelte, das das gesamte damals bekannte Wissen umfasste, und dessen Fundament auf der Logik und Meta­ physik ruhte. Es war die Systematizität seines Werkes, das jahrhun­ dertelang als Vorbild für die philosophische Forschung galt. Die Philosophie ist wie ein Gebäude und Philosophen sind die Architekten und Baumeister, die dieses Gebäude entwerfen und errichten. Imma­ nuel Kant musste einen solchen architektonischen Plan vor Augen gehabt haben, als er die »Kritik der reinen Vernunft« schrieb. In der Einleitung zur transzendentalen Methodenlehre (Kant 1983, Bd. 4, KrV B 735) berichtet er, wie weit dieser Plan gediehen ist. Er gesteht, dass er einen Turm bauen wollte, »der bis an den Himmel reichen sollte, der Vorrat der Materialien doch nur zu einem Wohnhaus zureichte, welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig genug und hoch genug war, sie zu übersehen«. So gibt er sich mit einem bescheidenen Wohnsitz für die Vernunft zufrieden, der eine Metaphysik der Natur und eine Metaphysik der Sitten umfasst. Hegel verfolgte als Architekt und System-Baumeister wesentlich anspruchsvollere Ziele. Das Hegel’sche System sollte uns zum »abso­ luten Wissen« führen. Vittorio Hösle (1998, S. 3) schreibt über Hegel: »Hegels System gehört unbestritten zu den geschlossensten Denk­ entwürfen der Philosophiegeschichte.« In der »Enzyklopädie der phi­ losophischen Wissenschaften« wird dieses System in Umrissen sicht­

207 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

bar.8 Allerdings ist das Hegel’sche System-Gebäude nach seinem Tod wieder abgerissen worden und aus seinen Trümmern gingen neue Systeme hervor, die dem Geist der Zeit besser entsprachen. Die Naturphilosophie Hegels war schon damals nicht mehr auf dem aktu­ ellsten Wissensstand der Naturwissenschaft und gilt heute als anti­ quiertes Relikt einer vergangenen Zeit. Ende des 19. Jahrhunderts war die philosophische Welt vom Streben nach einem umfassenden Wis­ senssystem desillusioniert. Es schien, als ob die Philosophen aus einem Traum erwacht seien und die Fruchtlosigkeit jeder Art von Sys­ tembildung eingesehen hätten. Nietzsche schreibt in der »Götzen­ dämmerung« (1999, Bd. 6, S. 63): »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« Er betrachtet philosophische Systeme als »Erziehungsmethoden des Geistes«, die uns eine bestimmte Denk­ weise aufzwingen wollen und fordern, »die Dinge gerade so und nicht anders zu sehen« (Nietzsche 1999, Bd. 11, S. 504). Im 20. Jahrhundert greift Quine den Systemgedanken wieder auf und vergleicht die Gesamtheit unseres Wissens mit einem von Men­ schen geflochtenen Netz, »das nur an seinen Rändern mit der Erfah­ rung in Berührung steht« (Quine 1979, S. 47). Dieses Netz umfasst nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Philosophie. Ziel ist es, das Gesamtsystem des Wissens in Einklang mit der Erfahrung zu bringen. Tritt ein Widerspruch zwischen Theorie und Erfahrung auf, muss das System entsprechend modifiziert werden. Dabei gibt es keine strikte Trennung zwischen der Philosophie und den Fachwis­ senschaften. Philosophie wird »naturalisiert«, d. h., sie wird zu einem Teil der Naturwissenschaften und geht in ihnen auf. Sie ist nach Quine eine Art Meta-Wissenschaft, deren Aufgabe die Begriffsklärung und die »Analyse der wissenschaftlichen Methoden« ist (Quine 2000, S. 120). Allerdings hat dieses Modell auch seine Schwächen. Quines naturalistisches Systemmodell hat mit dem Problem der empirischen Unterbestimmtheit zu kämpfen. Denn nach Quines Unterbestimmt­ heitsthese können verschiedene Wissenssysteme gleichermaßen gut mit den Erfahrungsdaten übereinstimmen, sodass es keinen Grund gibt, eines von ihnen zu bevorzugen. Die Unterbestimmtheit von Theorien wird damit zu einem Hindernis für den wissenschaftlichen Fortschritt. Walter Jaeschke (2010, S. 320) weist darauf hin, dass die Enzyklopädie lediglich als Kompendium zu seinen Vorlesungen gedacht war und sein eigentliches »System« in den Vorlesungen zu finden ist. 8

208 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

11. Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen Ludwig Wittgenstein hat in seinen zwei Büchern, dem »Tractatus logico-philosophicus« und den »Philosophischen Untersuchungen«, zwei unterschiedliche Auffassungen von Philosophie vertreten. Im »Tractatus« geht es ihm um die systematische Wahrheit und die Lösung philosophischer Probleme. Das Satzsystem des »Tractatus« drückt eine architektonische Ordnung aus, die mit dem Bauplan eines Gebäudes vergleichbar ist. In den »Philosophischen Untersuchungen« fehlt diese Systematik. Hier werden keine Thesen formuliert und Probleme abgehandelt. Vielmehr tauchen wir in einen mäandernden Fluss von Gedanken ein, die manchmal abschweifen, dann wieder zurückkommen, »von einem Gebiet zum andern überspringend« (Wittgenstein 1984, Bd. 1, S. 231). Wittgenstein gesteht im Vorwort, dass es ihm nicht gelungen sei, seine Überlegungen in eine systema­ tische Form zu bringen, sodass sein Nachlasswerk lediglich eine Sammlung von Aphorismen, Bemerkungen und »Landschaftsskiz­ zen« bleibt. Das vorangestellte Nestroy-Motto9 zeigt die Grenzen des philosophischen Fortschritts auf: Er ist nämlich gar nicht so groß, wie er erscheint. Dennoch hat die Philosophie einen Sinn und verfolgt ein Ziel: »Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.« (PU § 309)10 Wenn wir uns im Laby­ rinth des Denkens verirrt haben, zeigt die Philosophie einen Ausweg. Stellen wir uns vor, wir hätten uns in einer großen Stadt verirrt und fänden unser Ziel nicht. Die Stadt ist wie ein Labyrinth von Wegen: »Du kommst von einer Seite und kennst dich aus; du kommst von einer andern zur selben Stelle, und kennst dich nicht mehr aus.« (PU § 203) Wir versuchen uns zu orientieren. Wir suchen einen mar­ kanten Aussichtspunkt, von dem aus wir einen Überblick über die Stadt gewinnen können. Wenn wir die Philosophie als eine Ansamm­ lung von Gebäuden aus verschiedenen Stilepochen betrachten, so wählen wir ein besonders hohes Gebäude, um aus einem Fenster im oberen Stock zu schauen. Von oben betrachtet erkennen wir die Struk­ tur der Stadt: »Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zei­ »Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.« (Wittgenstein 1984, Bd. 1, S. 229). 10 Die Paragrafennummern verweisen auf die Abschnitte des ersten Teils der Philo­ sophischen Untersuchungen (PU) Wittgensteins (1984, Bd. 1). 9

209 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

ten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.« (PU § 18) Die Philosophie bietet viele solcher Aussichtspunkte. Von dort oben können wir die Stadt überblicken und einen Straßenplan erstellen. Auf diese Weise finden wir den Weg zu unserem Ziel. Wittgenstein (1984, Bd. 8, S. 474 f.) zeigt, wie wir uns im Labyrinth der Wege zurechtfin­ den können: »Ich sollte also an allen Stellen, wo falsche Wege abzwei­ gen, Tafeln aufstellen, die über die gefährlichen Punkte hinweghel­ fen.« Ein philosophisches Problem hat die Form: »Ich kenne mich nicht aus.« (PU § 123) Die Philosophie zeigt Auswege auf, bietet Sinn und Orientierung an und kann daher als Orientierungswissenschaft bezeichnet werden. Es geht nicht darum, zeitlose Wahrheiten zu ent­ decken. Philosophie ist keine Sammlung von Faktenwissen, Philoso­ phieren ist vor allem ein Akt geistiger Selbstreflexion. In der Philo­ sophie gibt es, wie Wittgenstein schreibt, nicht eine allgemeinverbindliche Methode, sondern viele verschiedene Metho­ den zur Problemlösung, »gleichsam verschiedene Therapien« (PU § 133). Philosophie hat somit einen sokratischen, therapeutischen Charakter. Orientierungsfähigkeit ist eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung. Um sich orientieren zu können, bedarf es fester Bezugs­ punkte. In der Philosophie erfüllt diese Funktion ein Kanon klassi­ scher Texte. Ernst Gombrich (1991, S. 258) schreibt über die Bedeu­ tung eines Kanons für unser kulturelles Selbstverständnis: »Er gibt uns ein Bezugssystem, eine Sammlung von Beispielen von Größe und Meisterschaft, auf die wir nicht verzichten können, ohne unsere Orientierung zu verlieren. Welchen Gipfeln, welchen indivi­ duellen Leistungen wir diese Rolle zuerkennen, mag unserer Wahl überlassen sein, aber wir könnten keine Wahl treffen, wenn es in Wirklichkeit keine Gipfel gäbe, sondern nur wandernde Dünen, die sich stets verändern.«

Für die Auswahl, welche Texte in den Kanon gehören und welche nicht, gilt kein »anything goes«. Und auch der gegenwärtige Zeit­ geist ist kein guter Ratgeber, weil er von partikulären Sichtweisen und Interessen beeinflusst wird. Wir sollten die Auswahl daher nicht aus der Gegenwartsperspektive treffen, sondern uns fragen, welche Werke in der Vergangenheit immer geschätzt wurden und als »klassisch« galten und sozusagen die obersten Ränge einer »ewi­ gen Hitliste« belegen. Jedem Philosophiehistoriker würden ohne

210 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

lange nachzudenken auf Anhieb einige Titel einfallen: z. B. Platons »Politeia«, Aristoteles’ »Nikomachische Ethik«, Descartes’ »Medita­ tionen«, David Humes »Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand«, G. W. Leibniz’ »Monadologie«, Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Hegels »Phänomenologie des Geistes«, Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« etc. Diese Werke zeichnen sich durch ihre Originalität, Innovationskraft und Wirkmächtigkeit aus. Die Metapher von der Philosophie als einem im Bau befindlichen Gebäude gibt einen Hinweis darauf, was Fortschritt bedeuten kann. Ein Bau macht Fortschritte, wenn ein neues Stockwerk oder ein Anbau errichtet wurde oder ein Fenster eingebaut wurde. Das Neue ruht auf dem Fundament des Alten, weshalb man hierbei von einem Dependenzmodell sprechen kann. Das »Aufruhen« ist nicht nur ein Bezugnehmen auf ältere Autoren und Werke in Form von Zitaten und Literaturverweisen. Es ist ein Abhängigkeitsverhältnis: Ohne die historischen Vorarbeiten würde es keine Gegenwartsphilosophie geben. Wenn man sich zum Ziel setzt, die Philosophie konstruktiv weiterzuentwickeln, Fragestellungen zu vertiefen, die Systematisie­ rung voranzutreiben und wenn man den Anschluss an die Fachwis­ senschaften hält, dann kann daraus ein echter Fortschritt werden. Es ist kein Fortschritt in Richtung »Wahrheit« oder absolutes Wissen, sondern ein Fortschritt in Hinsicht auf ein tieferes historisches Ver­ ständnis und eine verbesserte Reflexionsfähigkeit. Die heutige Philosophie enthält die kumulative Erfahrung von Jahrhunderten. Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergan­ genheit im Blick haben. Dadurch, dass wir auf den Schultern von Rie­ sen stehen, reicht unser Blick weiter. Indem wir uns auf die Geschichte besinnen, erkennen wir, wie wir geworden sind und können damit unsere gegenwärtige Situation besser verstehen. Das macht den Sinn und die Bedeutung des Studiums der Philosophiegeschichte aus. Der Fortschritt besteht darin, an Erfahrung reicher zu werden, aber auch aus den Fehlern von Philosophen vergangener Jahrhunderte zu ler­ nen.11 Dadurch wird unsere Sicht auf die Welt, unsere Mitmenschen und uns selbst differenzierter und reflektierter. Es ist kein teleologi­ scher Fortschritt, der auf ein Ziel, etwa ein absolutes Wissen, ausge­ richtet ist. Philosophiegeschichte ist vielmehr, wie Habermas es aus­ drückt, ein Lernprozess – sowohl in theoretischer als auch in Jonathan Bennett (2001, S. 5) schreibt: »Studying those mistakes can help one to dig deeper into what is true.«

11

211 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

moralischer Hinsicht. Lernen heißt, in der kritischen Auseinander­ setzung mit Ideen, Argumenten und Texten das eigene Denkvermö­ gen zu schulen. Indem wir aus der Geschichte lernen, können wir einen moralischen Fortschritt erzielen. Rolf Zimmermann schreibt in seinem Buch »Philosophie nach Auschwitz« (2005, S. 72): »Die Erfahrung, was Menschen imstande sind, anderen Menschen anzu­ tun, ist in der Lage, die Identifikation mit einem absoluten morali­ schen Standpunkt freizusetzen, der definiert, wie Menschen auf gar keinen Fall miteinander umgehen dürfen.« Wir haben gelernt, die Sklaverei, den Rassismus und den Eurozentrismus zu überwinden. Durch unseren Kampf für Menschenrechte, Frauenrechte und die Rechte für Minderheiten können wir für mehr Gerechtigkeit sorgen. Es ist die Besinnung auf unsere humanistische Tradition, die einen solchen Fortschritt ermöglicht. Zivilisationsbrüche wie der Holocaust ereignen sich dann, wenn die mühsam erkämpften moralischen Errungenschaften in Vergessenheit geraten. Der Holocaust war keine Folge der Aufklärung, sondern wurde erst durch die Missachtung ihrer Ideale wie Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit aller Men­ schen möglich. Die Werte, auf denen unsere Demokratie beruht – Menschenwürde, Freiheitsrechte, Toleranz, aber auch die gewaltfreie Auseinandersetzung auf der Grundlage des Gebens und Einforderns von Gründen –, sind ein Ergebnis dieses Lernprozesses. Philosophie wird nicht in jedem Jahrhundert neu erfunden. Junge Philosophen berufen sich auf ältere Philosophen. Philosophische Theorien werden ständig weiterentwickelt und es findet ein perma­ nenter Ideen- und Wissenstransfer von der Vergangenheit in die Gegenwart statt. Selbst wenn Philosophen die Systeme der Vergan­ genheit verwerfen und einen Neuanfang starten wollen, können sie die Geschichte nicht ignorieren. René Descartes wollte mit der scholastischen Philosophie bre­ chen und mit seinen »Meditationen« die Philosophie von Grund auf neu aufbauen. Sein Grundprinzip lautete, alles, wofür es nur den geringsten Zweifel gibt, zu verwerfen und nur solche Sätze zuzulas­ sen, die absolut gewiss und evident sind. Descartes beruft sich auf das Vorbild der Mathematik, wo alle Sätze auf evidente Axiome zurück­ geführt werden können. Auf diese Weise gelangte er zu dem berühmten Grundsatz »Ich denke, also bin ich« und glaubte, sogar die Existenz Gottes beweisen zu können. Aber auch diese Ideen sind nicht neu. Bereits Augustinus (2007) entwickelte ein Zweifelsargument und kam zu dem Schluss, dass man an allem zweifeln kann, nur nicht

212 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

daran, dass man zweifelt und als denkendes Wesen existiert (De Civ. Dei XI, 26). Und der ontologische Gottesbeweis, den Descartes in der fünften Meditation vorstellt, findet sich in einer ähnlichen Form bereits in Anselm von Canterburys »Proslogion« (Bromand, Kreis 2011, S. 62 ff.). Im 20. Jahrhundert finden wir einen ähnlichen Versuch eines Neuanfangs. Die logischen Empiristen wollten mit der Vergangenheit brechen und die Philosophie als »wissenschaftliche Weltauffassung« neu begründen. Aber auch die Vertreter des Wiener Kreises haben von anderen Philosophen gelernt und berufen sich u. a. auf Ernst Mach, Gottlob Frege und David Hume. Der junge Carnap stand unter dem Einfluss des Neukantianismus und Husserls Phänomenologie (Neu­ ber 2022; Ryckman 2007). Wittgenstein wurde von Schopenhauer beeinflusst (McGuiness 1992, S. 77 f.). Philosophie entsteht nicht in einem historischen Vakuum. Vielmehr gibt es komplexe Dependen­ zen. Nur durch diese Abhängigkeitsverhältnisse kommt ein Fort­ schritt zustande. Unsere Bibliotheken wachsen kontinuierlich. Die Regalreihen philosophischer Werke werden immer länger. Man kann den musea­ len Charakter der Philosophiegeschichte beklagen. Man kann darin aber auch eine Stärke sehen, denn eine Bibliothek kann ein Ort des Lernens und der Besinnung sein. Die »Schädelstätte des absoluten Geistes« ist mehr als eine »Galerie von Bildern« (Hegel 1986, Bd. 3, S. 590 f.), sie kann auch ein lebendiger Ort sein, ein Pantheon des Geistes, in dem die Werke der Vergangenheit zu uns sprechen. Die Schriften mögen verblasst, das Papier grau geworden sein, aber erst durch ein historisches Bewusstsein kann der Geist die zeitlich und kulturell situierte Froschperspektive überwinden und die Philoso­ phiegeschichte aus der Vogelperspektive betrachten: »Wenn die Phi­ losophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechen­ den Dämmerung ihren Flug.« (Hegel 1986, Bd. 7, S. 28)

213 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Literatur Albert, H. (1991): Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl., Tübingen. Allen, A. (2016): The End of Progress, New York. Amin, S. (2009): Eurocentrism, New York. Amo, A. W. (2020): Philosophical Dissertations on Mind and Body, Oxford. Apel, K.-O. (1979): Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendentalprag­ matischer Sicht, Frankfurt/M. Arendt, H. (1994): Vita activa oder Vom tätigen Leben, 8. Aufl., München. Augustinus, A. (2007): Vom Gottesstaat (De civitate Dei), München. Baier, Chr. (2021): »I Reject Your Reality and Substitute My Own!«Zur narra­ tiven Legitimation sogenannter alternativer Fakten. In: A. Weixler et al. (Hrsg.): Postfaktisches Erzählen?, Berlin, S. 65–82. Bennett, J. (1966): Kant’s Analytic, Cambridge. Bennett, J. (2001): Learning from Six Philosophers, Bd. 1, Oxford. Best, S./Kellner, D. (2003): Postmodernism. In: R. Solomon, D. Sherman (Hrsg.): The Blackwell Guide to Continental Philosophy, Malden – Oxford, S. 285–308. Blumenberg, H. (1965): Die kopernikanische Wende, Frankfurt/M. Boyne, R./Rattansi, A. (1990): The Theory and Politics of Postmodernism. In: R. Boyne, A. Rattansi (Hrsg.): Postmodernism and Society, New York, S. 1–45. Bradley, F. H. (1909): Coherence and Contradiction, Mind 18, 489–508. Bradley, F. H. (1930): Appearance and Reality, 2. Aufl., Oxford. Braun, E. (Hrsg.) (1996): Der Paradigmenwechsel in der Sprachphiloso­ phie, Darmstadt. Brentano, F. (1988): Geschichte der griechischen Philosophie, 2. Aufl., Hamburg. Brentano, F. (2019): Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. In: Ders.: Vermischte Schriften, Berlin, S. 199–225. Bromand, J./Kreis, G. (Hrsg.) (2011): Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Ber­ lin. Bruce, M./Barbone, S. (Hrsg.) (2013): Die 100 wichtigsten philosophischen Argumente, Darmstadt. Chalmers, D. (2015): Why isn’t there More Progress in Philosophy?, Philosophy 90, 3–31. Cosentino, G. (2020): Social Media and the Post-Truth World Order, Cham. Crombie, A. (1977): Von Augustinus bis Galilei, München. D’Ancona, M. (2017): Post Truth, London. Danto, A. (1980): Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. Delanty, G. (2018): The European Heritage, Abingdon – New York. Descartes, R. (1992): Die Prinzipien der Philosophie, 8. Aufl., Hamburg. Dietrich, E. (2011): There is no Progress in Philosophy, Essays in Philosophy 12, 329–344. Dummett, M. (1992): Ursprünge der analytischen Philosophie, Frankfurt/M. Edmonds, D./Eidinow, J. (2002): Wittgenstein’s Poker, New York. Eilenberger, W. (2020): Zeit der Zauberer. Die großen Jahrzehnte der Philosophie 1919–1929, 4. Aufl., Stuttgart.

214 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Engels, F. (1962): Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Marx Engels Werke, Bd. 21, Berlin, S. 261–307. Essler, W. (1972): Analytische Philosophie I, Stuttgart. Faber, K.-G. (1975): Objektivität in der Geschichtswissenschaft. In: J. Rüsen (Hrsg.): Historische Objektivität, Göttingen, S. 9–32. Feyerabend, P. (1984): Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/M. Fischer, K. (2010): Schopenhauer, Wiesbaden. Flasch, K. (2000): Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart. Fleck, L. (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsa­ che, Frankfurt/M. Foucault, M. (1980): Power/Knowledge, New York. Friedell, E. (2007): Kulturgeschichte der Neuzeit, München. Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte, München. Gadamer, H.-G. (1990): Wahrheit und Methode, Tübingen. Gombrich, E. (1991): Die Krise der Kulturgeschichte, München. Habermas, J. (1988): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frank­ furt/M. Habermas, J. (1998): Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. Habermas, J. (2020): Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bände, Berlin. Hegel, G. W. F. (1986): Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. Bd. 3: Phänomenologie des Geistes Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts Bd. 8–10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Bd. 18–20: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Heidegger, M. (2009): Das Ereignis (Gesamtausgabe, Bd. 71), Frankfurt/M. Heine, H. (1997): Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutsch­ land, Stuttgart. Hetherington, S. (2018): Philosophical Greatness. In: Ders. (Hrsg.): What Makes a Philosopher Great?, New York, S. 1–11. Höffe, O. (2011): Kants Kritik der reinen Vernunft, München. Hösle, V. (1984): Wahrheit und Geschichte, Stuttgart – Bad Cannstatt. Hösle, V. (1998): Hegels System, 2. Aufl., Hamburg. Hoyningen-Huene, P. (2013): Systematicity. The Nature of Science, New York. Hume, D. (1982): Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Stuttgart. Hume, D. (1989): Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 1: Über den Ver­ stand, 2. Aufl., Hamburg. Jaeschke, W. (2010): Hegel Handbuch, 2. Aufl., Stuttgart. Kahnt, R. (2005): Against Eurocentrism. A Transcendent Critique of Modernist Science, Society, and Morals, New York. Kant, I. (1983): Werke in zehn Bänden (Hrsg. W. Weischedel), Darmstadt. Bd. 3–4: Kritik der reinen Vernunft (KrV) Bd. 5: Schriften zur Metaphysik und Logik Kuhlmann, M. (2010): The Ultimate Constituents of the Material World, Heusen­ stamm.

215 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Thomas Zoglauer

Kuhn, Th. (1979): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 4. Aufl., Frank­ furt/M. Kusch, M. (2002): Knowledge by Agreement, Oxford. Laerke, M. (2013): The Anthropological Analogy and the Constitution of His­ torical Perspectivism. In: M. Laerke, J. Smith, E. Schliesser (Hrsg.): Philosophy and its History, New York, S. 7–29. Lyotard, J.-F. (2019): Das postmoderne Wissen, 9. Aufl., Wien. Maldonado-Torres, N. et al. (2018): Decolonising Philosophy. In: G. Bhambra et al. (Hrsg.): Decolonising the University, London, S. 64–90. McGuiness, B. (1992): Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt/M. McIntyre, L. (2018): Post-Truth, Cambridge (Mass.). Michelet, C. L. (1843): Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philoso­ phie, Berlin. Moore, G. E. (1969): Eine Verteidigung des Common Sense. Fünf Aufsätze, Frank­ furt/M. Munslow, A. (2007): Narrative and History, New York. Nestle, W. (Hrsg.) (1922): Die Vorsokratiker in Auswahl, 2. Aufl., Jena. Neuber, M. (2022): Varieties of Neo-Kantian Influences. In: Th. Uebel, Chr. Limbeck-Lilienau (Hrsg.): The Routledge Handbook of Logical Empiricism, London – New York, S. 43–52. Nietzsche, F. (1999): Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, München. Peirce, Ch. S. (1985): Die Festigung der Überzeugung, Frankfurt/M. Plessner, H. (2003): Gibt es einen Fortschritt in der Philosophie?. In: Ders.: Schriften zur Philosophie, Frankfurt/M., S. 169–191. Popper, K. (1976): Logik der Forschung, 6. Aufl., Tübingen. Popper, K. (1979a): Ausgangspunkte, Hamburg. Popper, K. (1979b): The Growth of Scientific Knowledge, Frankfurt/M. Prado, C. G. (2006): Searle and Foucault on Truth, Cambridge. Prado, C. G. (2018): The New Subjectivism. In: Ders. (Hrsg.): America’s PostTruth Phenomenon, Santa Barbara, S. 1–14. Quine, W. (1979): Von einem logischen Standpunkt, Frankfurt/M. Quine, W. (2000): Naturalismus – oder: Nicht über seine Verhältnisse leben. In: G. Keil, H. Schnädelbach (Hrsg.): Naturalismus, Frankfurt/M., S. 113–127. Rawls, J. (2004): Geschichte der Moralphilosophie, Frankfurt/M. Reid, J. (2015): History of Philosophy. In: M. Baur (Hrsg.): G. W. F. Hegel. Key Concepts, London, S. 140–152. Rescher, N. (1985): The Strife of Systems, Pittsburgh. Rescher, N. (2006): Studies in Metaphilosophy, Heusenstamm. Röd, W. (2000): Der Weg der Philosophie, 2 Bände, München. Rorty, R. (Hrsg.) (1992): The Linguistic Turn, Chicago – London. Russell, B. (2004): History of Western Philosophy, London. Rüsen, J. (2002): Geschichte im Kulturprozeß, Köln. Rüsen, J. (2020): Historische Sinnbildung, Wiesbaden. Ryckman, Th. (2007): Carnap and Husserl. In: M. Friedman, R. Creath (Hrsg.): The Cambridge Companion to Carnap, Cambridge, S. 81–105. Salmon, W. (1967): The Foundations of Scientific Inference, Pittsburgh.

216 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .

Philosophiegeschichte als Lernprozess

Schlick, M. (2013): Die Wende der Philosophie. In: Ch. Damböck (Hrsg.): Der Wiener Kreis, Stuttgart, S. 33–41. Seiffert, H. (1977): Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 2, 7. Aufl., Mün­ chen. Sextus Empiricus (1993): Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, 2. Aufl., Frank­ furt/M. Sharpe, M. (2019): The Demise of Grand Narratives? In: D. Coady, J. Chase (Hrsg.): The Routledge Handbook of Applied Epistemology, London – New York, S. 318–331. Spierling, V. (1998): Arthur Schopenhauer, Leipzig. Stone, A. (2017): Europe and Eurocentrism, Aristotelian Society Suppl. Vol. 91, 83–104. Susen, S. (2015): The ›Postmodern Turn‹ in the Social Sciences, New York. Tallant, J. (2017): Metaphysics. An Introduction, 2. Aufl., London. van Inwagen, P. (2004): Freedom to Break the Laws, Midwest Studies in Philos­ ophy 28, 334–350. Verein Ernst Mach (Hrsg.) (2013): Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wie­ ner Kreis. In: Ch. Damböck (Hrsg.): Der Wiener Kreis, Stuttgart, S. 7–32. White, H. (1973): Metahistory. The Historical Imagination in 19th Century Europe, Baltimore. Williams, B. (1996): Descartes, 3. Aufl., Weinheim. Wilson, J. (2017): Three Barriers to Philosophical Progress. In: R. Blackford, D. Broderick (Hrsg.): The Problem of Philosophical Progress, Malden, S. 91–104. Windelband, W. (1908): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 3. Aufl., Tübin­ gen. Wittgenstein, L. (1984): Werkausgabe in acht Bänden, Frankfurt/M. Zimmermann, R. (2005): Philosophie nach Auschwitz, Reinbek. Zoglauer, Th. (2021): Konstruierte Wahrheiten. Wahrheit und Wissen im postfak­ tischen Zeitalter, Wiesbaden. Zwenger, Th. (2008): Geschichtsphilosophie, Darmstadt.

217 https://doi.org/10.5771/9783495998151 .